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German Pages [525] Year 2016
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EICHSTÄTTER philosophische Beiträge
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Jean-Luc Marion Walter Schweidler (Hg.)
Christentum und Philosophie Einheit im Übergang
VERLAG KARL ALBER
https://doi.org/10.5771/9783495808405
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VERLAG KARL ALBER
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Philosophia christiana? Glaube, der Wahrheit beansprucht, muss sich beziehen auf die Vernunft in ihrer ganzen Weite, damit aber auch auf die rational begründete Reflexion über die Grenzen der Vernunft. An diesen Grenzen stellen sich wiederum die Fragen nach den Voraussetzungen des Vernünftigseins: Natur, Personalität, Transzendenz als Elemente der conditio humana. In dieser wechselseitigen Angewiesenheit auf ihre Bereitschaft zur Grenzüberschreitung fordern der reflektierte Glaube und die ihrer Faktizität bewusste philosophische Reflexion einander ein und heraus.
Die Herausgeber: Jean-Luc Marion ist Professor em. für Philosophie an der Sorbonne und lehrt in Paris sowie an der University of Chicago. Walter Schweidler ist Inhaber des Lehrstuhls für Philosophie an der KU Eichstätt-Ingolstadt.
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Jean-Luc Marion / Walter Schweidler (Hg.) Christentum und Philosophie
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EICHSTÄTTER philosophische Beiträge
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Herausgegeben von Walter Schweidler
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Jean-Luc Marion / Walter Schweidler (Hg.)
Christentum und Philosophie Einheit im Übergang
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495808405 .
Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2014 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48732-7 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-80840-5
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Inhalt
Walter Schweidler: Christentum und Philosophie. Einleitende Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . .
I.
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Die Gottesfrage
Jean-Luc Marion: Die Frage nach dem Unbedingten
. . . . . . .
21
Ludger Honnefelder: »Gott« denken? Überlegungen im Anschluss an den Gottesbegriff des Johannes Duns Scotus . . . . . . . . .
48
Bruce D. Marshall: The Absolute and the Trinity . . . . . . . . .
90
Rolf Schönberger: Der Gottesgedanke. Überlegungen im Blick auf die Philosophie des Mittelalters . . . . . . . . . . . . . . . . .
110
Thomas Rentsch: Transzendenz – konstitutiv für die okzidentale Rationalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
137
Norbert Fischer: Philosophisches Fragen und der Glaube an den »lebendigen Gott«. Im Anschluß an Kants vollständiges System philosophisch begründeter Theologien . . . . . . . . . . . . .
148
II.
Leiblichkeit
Günter Figal: Dualität und Inkarnation. Phänomenologisch-hermeneutische Überlegungen . . . . . . . .
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Inhalt
Emmanuel Falque: Dies ist mein Leib – eine philosophische Lektüre der Eucharistie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Nicola Reali: Philosophie der Eucharistie: die Eucharistie philosophisch denken und/oder die Philosophie eucharistisch denken .
206
Florian Bruckmann: Leib und Zeit – Ein Versuch über die Transzendentalität des Fleisches . . . . . . . . . . . . . . . . .
236
Michael Rasche: Der Johannesprolog – Sprachlichkeit der Inkarnation und Inkarnation der Sprachlichkeit . . . . . . . . . .
256
Martin Hähnel: »Leibhaftige Sprache« – Über den stofflichen Zusammenhang zwischen profaner Dichtung und religiöser Rede .
272
III. Mensch und Religion Walter Schweidler: Der sich noch sich zutragende Ursprung – Zu Ricœurs »Ontologie des Heiligen« . . . . . . . . . . . . . .
287
Pierluigi Valenza: Christentum und Nihilismus . . . . . . . . . .
310
Stefano Bancalari: Drei Schritte zur Transzendenz. Ein Husserlscher Ansatz zur Religionsphänomenologie . . . . . .
331
Jakub Sirovatka: Die Unendlichkeit des Unendlichen. Levinas und die Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
352
Boris Wandruszka: Warum hat der Mensch Religion? Religionspsychologische und religionsphilosophische Überlegungen zum »religiösen Apriori« des Menschen . . . . . .
371
Emilie Tardivel: Die christliche πολιτεία als Problem. Kommentar zur Apologie des Justin . . . . . . . . . . . . . . .
397
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Inhalt
Dirk Lüddecke: Lex libertatis – Überlegungen zu einer paradoxen Denkfigur und ihrer Bedeutung im politischen Denken Wilhelms von Ockham . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
414
IV. Interkulturelle Perspektiven Kogaku Arifuku: Das Berge-Gewässer-Sûtra in Dôgens Shôbôgenzô und die Schöpfung von Himmel und Erde in der Genesis des Alten Testaments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435 Joseph O’Leary: Bedingungen der Möglichkeit einer Begegnung zwischen abendländischer und buddhistischer Philosophie . . . .
454
Reto Luzius Fetz: Hinduistische Nicht-Dualität (Advaita) und christliche Mystik bei Henri Le Saux . . . . . . . . . . . . . . .
469
Rocio Daga: The Relation between Religion and Philosophy in Islam: a Historical Perspective . . . . . . . . . . . . . . . . .
494
Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
517
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Walter Schweidler
Christentum und Philosophie. Einleitende Vorbemerkungen
Philosophia christiana? Wollte man sich diese Frage »vornehmen« und ihr systematisch, womöglich sogar enzyklopädisch »nachgehen«, so hieße das, dem Ozean mit einem Schöpflöffel beikommen zu wollen. Wer sie philosophisch angehen will, muß sie wohl als einen prinzipiell retrospektiven Anstoß begreifen, der sich aus Erkenntnissen und Entwicklungen ergibt, die sich in ihrem Licht als Antworten vernehmen lassen, in denen, auch und gerade wenn sie als solche nicht gedacht und nicht angezielt waren, unversehens eben diese Frage wieder aufgeworfen ist. Es handelt sich also um eine Frage, die ihrer Beantwortung nur nachfolgen kann, und auch dies immer nur in einem inhaltlich wie historisch deutlich zu begrenzenden Raum und Umfang. Aber auch wenn man sie so versteht, erfordert der Versuch, ihr umfassend und systematisch gerecht zu werden, ein großangelegtes akademisches Unternehmen, wie es im deutschen Sprachraum zuletzt vor mehr als einer Generation gewagt worden ist. 1 Von einem derart imponierenden Wagnis ist der Anspruch, der mit der Aufarbeitung der in diesem Band dokumentierten Denkbewegung einhergeht, weit entfernt. Er rechtfertigt sich nicht aus einer Herausforderung, sondern nur aus einer Chance; diese allerdings versucht er so gründlich wie möglich zu nützen. Konkret handelte es sich um das Internationale Symposium »Christentum und Philosophie«, das an der Katholischen Universität EichstättIngolstadt vom 2.–5. September 2012 von Jean-Luc Marion und mir veranstaltet wurde und dessen im Licht der dortigen Diskussionen überarbeitete Beiträge hier vorgelegt werden. Einige kurze persönliche Vorbemerkungen sollen der Chance gewidmet sein, die durch sie geboten wurde – geboten wodurch? Zunächst schlicht durch den Ort, an dem sie wahrgenommen wurEmerich Coreth, Walter M. Neidl, Georg Pfliegersdorffer (Hg.), Christliche Philosophie im katholischen Denken des 19. und 20. Jahrhunderts. 3 Bände. Granz 1987–1990.
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Walter Schweidler
de: der im deutschen akademischen Raum nicht mit gleicher Selbstverständlichkeit wie in praktisch allen anderen Ländern, aus denen die am hier dokumentierten Gespräch beteiligten Persönlichkeiten kamen, verorteten Institution einer Katholischen Universität. Von der Chance, die diese Institution für die Gesellschaft, in der sie wirkt, bieten sollte und hoffentlich kann, ist hier gar nicht zu reden, sondern nur von der Chance, die für die Katholische Universität ihrerseits die Reflexion auf das Verhältnis von Christentum und Philosophie bedeutet. Papst Benedikt XVI. ist so weit gegangen, der Verbindung beider in den geistigen Gründungsereignissen der Kirche providenzielle Bedeutung zuzuschreiben, was nun wiederum eine These mit einigem Herausforderungspotential für beide Seiten ist. Auf dieser Ebene fallen ja tatsächlich Herausforderung und Chance in eins. Denn das Christentum steht und fällt mit dem Anspruch des »vernünftigen Glaubens«, der der Gegensatz zum Glauben an die Vernunft ebenso wie zur Beteuerung einer glaubensfreien Vernunft ist. So sind die großen Vernunftkritiker unter den Philosophen, so sehr sie zugleich Kritiker des Christentums gewesen sein mögen, letztlich immer seine heimlichen Verbündeten. Diese Einsicht kann man übertragen auf die Chance, die der Katholischen Universität durch die untrennbare Verbindung von Kritik und Glaube gegeben und aufgetragen ist. Insofern steht der Ort der hier dokumentierten Denkbemühung ganz für die Sache, um die es in ihr ging und geht. Die Frage nach Christentum und Philosophie ist keine akademische: Im Umgang mit ihr stehen Lebensentscheidungen auf dem Spiel. Sie hat wahrhaft große Geister umgetrieben. Hegel hat mit ihr ein Leben lang nicht weniger gerungen als Nietzsche, Wittgenstein nicht weniger als Heidegger. Und die Fronten des Gefechts verlaufen dabei keineswegs nur einfach zwischen Gläubigen und Ungläubigen oder zwischen Philosophen und Theologen. Das wirklich Aufregende ist nicht, zu welcher dieser Seiten sich einer bekennt, sondern vielmehr, ob er selbst überhaupt begreift, auf welcher er steht. Die schärfste Betonung der Grenzen zwischen Glauben und Wissen und zwischen Philosophie und Theologie kann das Instrument der verhängnisvollsten Vermischung und Verschleierung eben dieser Grenzen sein. Das war der eigentliche und drastische Vorwurf Nietzsches gegen Kant. 2 Kant war für Nietzsche der verkappVgl. Friedrich Nietzsche, Der Antichrist. Fluch auf das Christentum, Kritische Gesamtausgabe, Band 6, 2. Aufl., Berlin/New York 1988, 176.
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Christentum und Philosophie
teste aller sich für die Begründer der objektiven Wissenschaft haltenden, in Wahrheit aber ihre Lebensform anderen als scheinbar objektive Erkenntnis predigenden Theologen. »Woher das Frohlocken, das beim Auftreten Kants durch die deutsche Gelehrtenwelt ging, die zu drei Vierteln aus Pfarrer- und LehrerSöhnen besteht […]? Der Theologen-Instinkt im deutschen Gelehrten erriet, was nunmehr wieder möglich war … Ein Schleichweg zum alten Ideal stand offen, der Begriff ›wahre Welt‹, der Begriff der Moral als Essenz der Welt (– diese zwei bösartigsten Irrtümer, die es gibt!) waren jetzt wieder, dank einer verschmitzt-klugen Skepsis, wenn nicht beweisbar, so doch nicht mehr widerlegbar […] Man hatte aus der Realität eine ›Scheinbarkeit‹ gemacht; man hatte eine vollkommen erlogne Welt, die des Seienden, zur Realität gemacht … Der Erfolg Kant’s ist bloß ein Theologen-Erfolg.« 3 Ist die Philosophie mit dem Dualismus von »wahrer Welt« und »Erscheinung« also schon im Ansatz verkappte Theologie? Zumindest hat Nietzsche, der ja Philosoph blieb und sich als den ersten ehrlichen Menschen seit Jahrtausenden sah, die Philosophie nicht mit diesem Dualismus identifiziert, sondern im Ringen um seine Destruktion die eigentliche Aufgabe der Philosophie gesehen. Für Nietzsche aber war es klar, daß diese Destruktion zu ihrem bestimmenden Motiv auch den Kampf gegen das Christentum haben müsse. Dabei rückte er nun aber einen Begriff ins Blickfeld, der seinen kritischen Schwall gegen den Glauben auch wieder von der anderen Seite her aufschäumt: den der Metaphysik. Das Christentum impliziert ja nach Nietzsche eine Metaphysik, die der eigentliche Gegner rationaler Philosophie ist. Diese These hat am Ende seiner »Ethik« machtvoll-nüchtern auch noch einmal Nicolai Hartmann vorgetragen. 4 Er sprach vom »metaphysischen Übergriff der Religion«, gegenüber dem die Philosophie, insbesondere soweit sie Ethik ist, geradezu um ihr Leben kämpfen muß. Er nennt fünf unüberwindbare Antinomien, die diesen Kampf notwendig machen: (1) Die Antinomie der »Diesseits- und Jenseitstendenz«: Der Sinn des Lebens liegt für den religiösen Menschen im Jenseits, für den Philosophen hingegen in den Werten, die dem menschlichen Handeln
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Ebd., 176 f. Nicolai Hartmann, Ethik, 2. Aufl. Berlin/Leipzig 1935, 735 ff.
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Walter Schweidler
und seiner Bedeutung für die Mitmenschen in ihrer, unserer gemeinsamen Welt zugrunde liegen. (2) Die Antinomie des »obersten Wertsubstrats«: für den Religiösen ist Gott und sein Wille der Grund aller Werte, für den Philosophen hingegen »das Personale in jedem Menschenwesen«. (3) Die Antinomie des »Ursprungs der Werte«: Sittlichkeit besteht für den Religiösen im Leben nach Gottes Gebot, für die Ethik, und zwar gerade die deontologische Ethik, im Eigenwert der menschlichen Handlungen. (4) Die Antinomie der »Vorsehung«: Der finale Determinismus der göttlichen Vorsehung und die ethische Voraussetzung der Freiheit der Person heben einander gegenseitig unwiderruflich auf. (5) Die Antinomie der »Erlösung«: Die Philosophie hat keinen Raum für den Begriff der »Sünde«, der einerseits den Menschen als ein Wesen hinstellt, das von seiner sittlichen Schuld abgetrennt, gereinigt werden könne, ihn aber andererseits im Gedanken der »Erbsünde« als dieser Schuld auch wiederum notwendig ausgeliefert sieht. Viel drastischer kann man den Gegensatz zwischen Metaphysik und Religion kaum zusammenfassen – und damit den Ausgangspunkt jener Denkbemühungen unserer Zeit, für welche die Vermittlung von Philosophie und Religion wesentlich einhergeht mit der Distanzierung zwischen Philosophie und Metaphysik, also mit dem Unternehmen einer »Überwindung der Metaphysik«, das doch, im Gegensatz zu Nietzsche, nicht gegen die Religion gerichtet ist, sondern im äußersten Fall gerade das Gegenteil beabsichtigt. So ist es bei Wittgenstein, in dessen Vermischten Bemerkungen der Satz steht: »Wenn das Christentum die Wahrheit ist, dann ist alle Philosophie darüber falsch.« 5 Der Satz ist wohl bewußt mehrdeutig, aber die ihm zugrunde liegende Gesamtrichtung ist im ganzen Werk Wittgensteins sehr eindeutig. So wie er zu Elizabeth Anscombe einmal sagte, daß sie als Katholikin eigentlich keine Philosophie brauche, weil sie »the real thing« habe, zieht sich die Überzeugung, daß die philosophischen Probleme einem »Streben nach dem Transzendenten« entspringen, das genau durch den Versuch, dieses Streben in Form der Lösung von Problemen zu erfüllen, zum Scheitern verurteilt wird, vom Vorwort des »Tractatus« bis in 5
Ludwig Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen, Frankfurt am Main 1977, 159.
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Christentum und Philosophie
die berühmten Charakterisierungen der Philosophie in den Philosophischen Untersuchungen wie etwa: »Denn die Klarheit, die wir anstreben, ist allerdings eine vollkommene. Aber das heißt nur, daß die philosophischen Probleme vollkommen verschwinden sollen. – Die eigentliche Entdeckung ist die, die mich fähig macht, das Philosophieren abzubrechen, wann ich will. – Die die Philosophie zur Ruhe bringt, so daß sie nicht mehr von Fragen gepeitscht wird, die sie selbst in Frage stellen.« 6 Hier ist implizit Wittgensteins Definition der Metaphysik auf ihre knappste Formel gebracht: Metaphysik ist die Philosophie, die, ohne es zu merken, über sich selbst spricht und dadurch den Sinn der von ihr verwendeten Worte und Sätze aufhebt. Philosophie als Überwindung der Metaphysik verdankt sich allein dem Paradox, daß der Grund der Sprache überhaupt nur als die Überwindung des Versuchs, ihn in Sprache zu fassen, indirekt in der Sprache erscheinen kann. 7 Das Motiv aber, aus dem man sich an diesem Paradox ein Leben lang abarbeitet, muß dann von außerhalb des Philosophierens kommen. »Das Licht der Arbeit ist ein schönes Licht, das aber nur dann wirklich schön leuchtet, wenn es von noch einem andern Licht erleuchtet wird.« 8 Heidegger hat das Paradox in der äußersten Weise zugespitzt: Philosophie, die sich als Überwindung der Metaphysik begreift, endet notwendig in der Überwindung ihrer selbst. »Das Ende der Philosophie und die Sache des Denkens« werden eins: »Sein ohne das Seiende denken, heißt: Sein ohne Rücksicht auf die Metaphysik denken. Eine solche Rücksicht herrscht nun aber auch noch in der Absicht, die Metaphysik zu überwinden. Darum gilt es, vom Überwinden abzulassen und die Metaphysik sich selbst zu überlassen.« 9 Man könnte als den Anstoß, von dem die hier dokumentierte Denkbemühung getragen ist, die so skizzierte Dialektik verstehen, die aus dem Versuch entsteht, Philosophie und Religion in einer Weise zu Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, in: Werke, Band 1, Frankfurt am Main 1984, § 133. 7 Vgl. dazu Walter Schweidler, »Das Menschenunmögliche. Zur Abgrenzung von Phänomenologie und Metaphysik im Ausgang von Heidegger«, in: Archivo di Filosofia / Archives of Philosophy 78/ 1 (2001), 315–326. 8 Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen, 56. 9 Martin Heidegger, Zur Sache des Denkens, Tübingen 1969, 25. 6
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Walter Schweidler
vermitteln, die über das, was ihnen gemeinsam ist, nur totales Schweigen gebietet. Eine Philosophie, die sich als Überwindung der Metaphysik versteht, schlägt um in die Negation ihrer selbst, wenn sie es nicht schafft, über das zu reden, was in einer solchen Überwindung der Metaphysik vor sich geht. Unsere Hypothese im Blick auf die Frage nach der philosophia christiana im uns fassbaren Kontext könnte sein, daß die Philosophie, wenn sie darüber redet, was in der Überwindung der Metaphysik vor sich geht, auch auf das zu sprechen kommen muß, worüber das Christentum nicht schweigen kann: Grund und Wahrheit, Person und Transzendenz, Natur und Geist, Inkarnation und Erlösung, Absolutes und Geschichtliches, Gabe und Offenbarung, schließlich auch die Differenz von Christentum und Religion. Eine Möglichkeit, unser Unternehmen zu begreifen, könnte man in dem Willen sehen, uns dem Schweigegebot zu widersetzen und den Kampf mit der genannten Dialektik aufzunehmen. Wille aber ist das Lebensprinzip nicht von Orten und nicht von Sachen, sondern von Personen. Dass es einen Grund gibt, die Frage nach der philosophia christiana einmal mehr neu zu stellen, ergibt sich aus den – wie gesagt, als solche weder notwendigerweise intendierten noch explizierten – Antworten, die auf sie das Werk großer Denker unserer philosophischen Gegenwart zu bedenken gibt. Leserinnen und Lesern dieses Bandes ihnen begegnen zu lassen, ist wohl das Mindestziel, das man als Herausgeber in Anspruch nehmen darf. Ob und in welchen hier direkt oder indirekt zu Wort kommenden Persönlichkeiten es sich erfüllt, möge jedem offenen Geist, der sich diesem Anspruch stellt, überlassen bleiben. Für mich persönlich sind drei Namen vor allen anderen ausschlaggebend: der von Robert Spaemann, dessen geschichtliche Analyse der Dialektik von Christentum und Philosophie 10 als entscheidender Denkanstoß hinter der Idee wie auch am Ausgangspunkt dieses Symposiums stand, der von Jean-Luc Marion, der wie kein zweiter Denker unserer Gegenwart die Chance verkörpert, die Philosophie und Christentum füreinander bedeuten, und schließlich der von Paul Ricœur, der sie mir vor langer Zeit auf einer sehr persönlichen Ebene wesentlich mit eröffnet hat. Ich hoffe, daß die aus der Vgl. als ein gewisses Resümee der darin freilich niemals einholbaren umfassenden Antwort, die sein Lebenswerk auf unsere Frage beinhaltet: Robert Spaemann, »Christentum und Philosophie der Neuzeit«, in: Das unsterbliche Gerücht. Die Frage nach Gott und die Täuschung der Moderne, Stuttgart 2007, 65–91.
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Christentum und Philosophie
langjährigen guten Verbindung mit dem Verlag Karl Alber erwachsene Chance, die meiner Universität durch die Reihe eröffnet worden ist, in der dieser Band nun erscheinen darf, in der Begegnung mit diesen christlichen Philosophen auf eine ihrem Werk angemessene Weise wahrgenommen wird. Mein großer Dank gilt der Forschungsförderung meiner Universität, durch die das Erscheinen dieses Tagungsbandes möglich gemacht wurde, der langjährigen Unterstützung durch die Hermann und Marianne Straniak-Stiftung, die mir den interkulturellen Horizont eröffnet hat, vor dem dieser Band wesentlich entstanden ist, und natürlich der verständigen Mühe all derer, die an ihm mitgewirkt haben, namentlich Dr. Martin Hähnel, Tobias Holischka und Stina Büchl. Vor allen anderen aber danke ich meinem Mitherausgeber Jean-Luc Marion für den Schatz von Erfahrungen und Erkenntnissen, den er vom Anfang bis zum Abschluß in dieses uns gemeinsame Stück Denkweg eingegeben hat.
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I. Die Gottesfrage
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Jean-Luc Marion
Die Frage nach dem Unbedingten
I. Die Frage bezieht sich auf Gott – oder genauer, auf Gott als solchen, auf Gott als Gott. Es wäre nicht richtig, hier eine einfache Tautologie herauszulesen, eine andere Art und Weise, die Frage nach Gott zu stellen. Es handelt sich ganz klar zunächst um Gott vom philosophischen Standpunkt aus gesehen. So verhält es sich, wenn die Philosophie sich zu einer philosophischen Theologie entwickelt, die dieser oder jener Theologie einer bestimmten Religion, d. h. letztendlich einer Offenbarung nichts schuldet. Niemand hat besser als Feuerbach diese streng philosophische Haltung der Frage nach Gott hervorgehoben: »Gott als Gott, d. h. als nicht endliches, nicht menschliches, nicht materiell bestimmtes, nicht sinnliches Wesen, ist nur Gegenstand des Denkens.« 1 Es geht also darum, von Gott als solchem zu sprechen und ihn als solchen zu denken bzw. – um die Formel Platons wörtlicher zu übersetzen, »οἷοϚ τυγχάνει ὁ θεὸϚ ὤν, wie Gott ist seinem Wesen nach« (Politeia II, 379a). In der Tat erhellt sich bei dieser Formulierung, dass es schon immer und prinzipiell zur Philosophie gehört, ein bestimmtes »als solches« durchzuführen, im Übrigen auf immer radikalere Art und Weise. Wir wollen diesen Punkt schnell präzisieren, da er wesentlich für die Frage zunächst nach Gott »als solchem« werden wird. Die Philosophie beginnt und entwickelt sich aufgrund einer radikalen Überzeugung: die Sache erscheint, erscheint von sich aus (durch sich), aber sie erscheint dennoch nicht als sie selbst, als solche. Sie erscheint nicht aus sich selbst als solche, weil sie nur erscheinen kann, wenn sie auf das zurückgeführt wird, was sie in ihr selbst radikaler bestimmt als ihre äußerste Erscheinung. Platon lässt so die Sache in L. Feuerbach, »Das Wesen des Christentums«, in: W. Schuffenhauer (Hg.), Gesammelte Werke, Berlin 1973, Bd. 5, 79.
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Jean-Luc Marion
seiner idéa zu ihrer Erscheinung kommen, wie Aristoteles in seinem εἶδοϚ, das wir heute von der forma oder vom »Wesen« her bestimmen – kurz, nach der quidditas (»Washeit«), also nach dem, was in der Sache durch einen Durchgang vom Allgemeinen zum Besonderen hin bestimmt werden kann. In diesem Sinne verstanden, nimmt das »als solches« das Individuelle als sein Wesen in den Blick. Oder – nach einer Formulierung, die Husserl nachempfunden ist – es handelt sich um »Individuelles, aber rein als Einzelheit der Wesen im Modus des Überhaupt […] Gerade und Winkel überhaupt oder ›als solche‹«. 2 Die Operation, die das »als solches« ausführt, erlaubt es, indem sie das Individuelle zu seinem Wesen erhebt und indem sie es einer eidetischen Reduktion unterwirft, es in seine Form zu überführen, ihm einen Erkenntnisgegenstand zu übertragen. Dennoch gibt es mehr. Das »als solches« kann sicherlich Dinge überbestimmen und schließlich a priori in ihrem Wesen festlegen. Aber es kann auch Erkenntnisgegenstände freilegen, ja sogar Objekte, die nicht vor diesen erschienen sind und die niemals als solche erscheinen werden. Wenn Aristoteles im Buch Γ des Werkes, das wir die Metaphysik nennen, »eine Wissenschaft, welche das Seiende als Seiendes [τὸ ὂν ᾗ ὂν] untersucht« 3, etabliert, handelt es sich nicht um das Wesen eines bestimmten Seienden, was wir in der Tat im Erscheinen antreffen können; jedes wirkliche Seiende findet sein Wesen in seiner Art und damit in der entsprechenden Wissenschaft. Dagegen löst die allgemeine Wissenschaft, die das Seiende als Seiendes erforscht, es (das Seiende) von keinem dieser seienden Dinge los – und zwar genau deswegen, weil es im allgemeinen keine Seienden gibt, sondern immer nur Dinge, die ohne weiteres nach ihrem jeweiligen Wesen qualifiziert werden: beseelte und unbeseelte Lebewesen, bewegliche und unbewegliche, instinktgeleitete und vernunftbegabte, materielle und immaterielle, akzidentielle und essentielle, zeitliche und ewige – kurz, Steine, Pflanzen, Tiere, Menschen und Götter. Aber es gibt in der ganzen Erscheinungswelt der φύσιϚ keine Dinge, die auf den ersten Blick als Seiende erscheinen. Das Seiende erscheint nur durch ein gesteigertes »als sol2 E. Husserl, Ideen I, § 5, Hua. III, Den Haag 1953, 18. In gewissem Sinne behält Heidegger selbst diese Instanz bei, wobei er sie von Grund auf radikalisiert: »Das ursprüngliche ›Als‹ der umsichtig verstehenden Auslegung nennen wir das existenzial-hermeneutische ›Als‹ im Unterschied vom apophantischen ›Als‹ der Aussage.« (Sein und Zeit, Tübingen 171993, § 33, 158). 3 Aristoteles, Metaphysik Γ 1, 1003a21.
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Die Frage nach dem Unbedingten
ches«, das in der Tat das erste »als solches« der eidetischen Reduktion steigert, wie ein fundierter Akt, der fundierende Akte voraussetzt. Kurz, die »Wissenschaft zweiten Grades« wird vollendet, bevor die Sache festgelegt wird, wenn diese noch anonyme Wissenschaft vom Seienden als solchen den modernen Namen ontologia erhalten wird. »Es gibt eine Wissenschaft, die das Sein betrachtet, inwieweit es Sein ist, das heißt, inwieweit gewissermaßen die Natur einer gemeinsamen Erkenntnis zugeführt werden kann, oder eine Stufe der Natur, die körperlichen und unkörperlichen Dingen, Gott und den Geschöpfen und allen so sehr wie einzelnen seienden Dingen auf ihre Weise innewohnt«. 4 Während die erste, die eidetische Reduktion das erscheinende Ding durch ein erstes »als solches« in sein Wesen umwandelte, ruft diese zweite Reduktion – diejenige, die wir aus Bequemlichkeit die ontologische nennen wollen – das hervor, was sie als einzige sehen lässt, nämlich das Seiende, ohne dass irgendein Erscheinen diesem einen Gegenstand überträgt noch weniger eine vorhergehende Sache. Nichts ist so viel wie das Seiende als Seiendes, da die Macht zweiten Grades des »als solches« es allein in die reine Seiendheit einschreibt. Niemand hat jedoch das Seiende als solches jemals in der φύσιϚ erscheinen sehen, weil das Erscheinende zunächst in seinem Wesen erscheint (mit seinem generischen »als solches«), ja sogar noch vor dem Seienden (gemäß seinem allgemeinen »als solches«). Die Dinge sind, aber sie sind nicht Seiende (noch weniger, als sie nicht direkt ihr Wesen sind). Ebenso wie sie nicht gemäß ihrem Wesen sind, außer durch das »als solches« einer eidetischen Reduktion, sind sie nicht Seiende, außer durch das »als solches«, das sie ihrem »als solches-Seienden« gemäß als Seiende erscheinen (oder eher vielleicht nicht erscheinen) lässt. So entwickelt sich, vermöge der von Anfang an gesteigerten Potenz des »als solches« das allgemeine a priori der Seiendheit von Phänomenen, die ihre abschließende Bestimmtheit im Seienden finden, anders ausgedrückt, abseits von ihrem Erscheinen selbst. Der Moderne bleibt nichts anderes übrig, als das Thema der Seiendheit in der Gegenständlichkeit des Phänomens zu radikalisieren, damit das a priori die
J. Clauberg: »Est quaedam scientia, quae contemplatur ens quatenus ens est, hoc est in quantum communem quandam intelligitur habere naturam vel naturae gradum, qui rebus corporeis et incorporeis, Deo et creaturis, omnibusque adeo et singulis entibus suo modo inest.« Ontosophia, § 1, Opera omnia, Amsterdam, 16911, Hildesheim, 19682, t. 1, 283. 4
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Jean-Luc Marion
Herrschaft des »als solches« in der Philosophie in Schach halte. Anders ausgedrückt, ein »als solches« definiert radikal das metaphysische Wesen der Philosophie, auch wenn es nicht alle Möglichkeiten des Erscheinens in dieser (voll) ausschöpft. Da können wir nunmehr zu der Frage zurückkehren, die uns zusammenführt: Gott als solchen bzw. Gott als Gott zu denken. Sogleich wird die erste Formulierung der Frage in einer anderen gesteigert: Da das »als solches« der Philosophie immer ein a priori aufstellt, das den Bedingungen des Erscheinens jeder Sache, die es als Gegenstand nimmt, vorausgeht und diese bestimmt – können die beiden a priori, nämlich dasjenige des Wesens und dasjenige der Seiendheit, auf das zutreffen, was wir – im Moment ohne Vorsicht – Gott nennen? Können wir Gott – in der Frage nach ihm als Gott – als Wesen oder als Seienden betrachten? Versteht es sich von selbst, dass wir das annehmen können, was Heidegger selbst in einem entscheidenden Satz feststellt: »Denn auch der Gott ist, wenn er ist, ist ein Seiender, steht als Seiender im Seyn und dessen Wesen, das sich aus dem Welten von Welt ereignet.« 5 Können wir dieses »als solches« wieder aufnehmen, um Gott als Gott zu denken, oder brauchen wir ein anderes?
II. Es gibt keine bessere Bestätigung der grundsätzlichen Illegitimität eines jeglichen Versuchs, von Gott »als solchem« zu sprechen, als das grundsätzliche Misslingen eines jeden Gottesbeweises. Ein Misslingen, das umso exemplarischer ist, als es sich ebenso feststellen lässt, wenn der Beweis versagt wie wenn es ihm gelingt, sein Ziel zu erreichen; denn sowohl im einen als im anderen Fall – so mahnt Hegel – geht es darum, zu wissen, ob »[…] Gott […] nicht einmal so reich wäre, um eine so arme Bestimmung, wie Sein ist, ja welche die allerärmste, die abstrakteste, ist, in sich zu enthalten«. Denn wenn es »für den Gedanken dem Gehalte nach nichts Geringeres geben [kann] als Sein« 6, wirft das Gelingen des Beweises, dass dieses Sein sich in den Begriff von Gott einfügt, eine Schwierigkeit bezüglich der Göttlichkeit dieses Begriffs M. Heidegger, Die Kehre, Einblick in das, was ist (Bremer Rede), G.A. 79, Frankfurt a. M. 1994, 76. 6 G. W. F. Hegel, Enzyklopaedie der philosophischen Wissenschaften, § 51, Zusatz. 5
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Die Frage nach dem Unbedingten
auf, die mindestens ebenso schwerwiegend ist wie diejenige, die dessen Existenz ausschließen würde. Der Gottesbeweis setzt in der Tat voraus, dass die Existenz mit vollem Recht und in erster Linie Gott zukommt, das heißt, dass Gott »als solcher« wie ein existierender Seiender verstanden werden muss oder, was auf das Gleiche hinausläuft, dass Gott als existierenden Seienden zu verstehen bedeutet, ihn als solchen zu verstehen. Denn mit welchem Recht können wir behaupten zu wissen, dass das »als solches«, das uns erlaubt, jedes Phänomen als Seiendes zu betrachten, im Falle Gottes seine Gültigkeit behält, dass es irgendeine Befähigung gebe, die es uns gestatte, irgendetwas über das Göttliche auszusagen, geschweige denn über Gott? Und übrigens, einer derartigen Anmaßung gelang es erst sehr spät, sich durchzusetzen, als Suarez wohl zum ersten Mal behauptete, dass »der adäquate Gegenstand dieser Wissenschaft [sc. der Metaphysik, d. h. der Wissenschaft› vom Seienden, insoweit es seiend ist‹, vom ens in quantum ens] Gott umfassen muss sowie die anderen immateriellen Substanzen«. 7 Und in der Tat, es handelt sich hier nicht nur um das »als solches« des a priori eines Seienden als Seiendes, sondern gleichzeitig auch des a priori eines Wesens (eines εἶδοϚ), das einer substantia immaterialis (immateriellen Substanz). Suarez bezweifelt in der Tat nicht, dass »die Prinzipien der Metaphysik sich den theologischen Wahrheiten anpassen und dazu dienen müssen, diese zu bestätigen«. 8 Damit gelte letztendlich das »als solches« nicht für Gott. Der »härteste Schlag gegen Gott« könnte sich damit schon vollziehen, und zwar dadurch, dass Gott der Frage unterworfen wird, ob er überhaupt als ein Seiender, und sei es auch der höchste, bezeichnet werden darf. 9 Die Kritik am ontologischen Argument von Seiten Kants bietet das perfekte Beispiel für die radikale Anstößigkeit des »als solches«, das auf Gott angewendet wird, und noch genauer des ontisch-ontologischen 7 F. Suarez, Disputationes Metaphysicae, I, 1, 26, O.o., t. 25, éd. Vivès, Paris 1866, 11 (Übers. G. S.). 8 F. Suarez, Ad lectorem, ebd., p.I. Sieht auch: »Cum enim inter disputandum de divinis mysteriis haec metaphysica dogmata occurerrent, sine quorum cognitione et intelligentia vix, aut ne vix quidem, possunt altiora illa mysteria pro dignitate tractari, cogebar saepe, aut divinis et supernaturalibus rebus inferiores quaestiones admiscere, quod legentibus ingratum est et parum utile; aut certe, ut incommodum vitarem, in hujusmodi rebus sententiam meam breviter proponere, et quasi nudam fidem in eis legentibus postulare«. 9 M. Heidegger, »Nietzsches Wort ›Gott ist tot‹«, in: Ders., Holzwege, G.A. 5, Frankfurt a. M. 1977, 260 (Hervorhebung durch den Verf.).
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a priori, das es ins Werk setzt. Denn es ist wahr, einer Bemerkung Bruaires zufolge, dass »die ›Widerlegung‹ des ontologischen Beweises wahrhaft der Schlüssel zur ganzen Kritik ist.« 10 Seit 1763 erfüllt und postuliert Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseyns Gottes die metaphysische Bestimmung des »sehr einfachen und wohlverstandnen Begriffs des Daseins«, ein Begriff, »der in der ganzen Weltweisheit so unentwickelt […] vorkommt«, da er mit dem »Begriff der Position oder Setzung […] einerlei« ist. 11 Eine solche Position sagt nichts und gibt nichts zu denken, sie stellt das auf, was gesagt und gedacht wird. Es handelt sich tatsächlich um den armseligsten und abstraktesten Begriff, denn in der Tat handelt es sich gar nicht um einen reellen Begriff (der sich auf eine Sache bezieht), sondern um eine Modalität vom Gegenstand des Begriffs. Modalität – damit ist hier eine Relation gemeint, nicht zwischen einem Begriff (einer Eigenschaft des Gegenstandes) und einem anderen, sondern zwischen einem Begriff und einem Objekt hinsichtlich des Geistes, der ihn erkennt. Eine berühmte Stelle in Kants Reflexionen über die Metaphysik drückt dies folgendermaßen aus: »Durch das Prädikat des Daseins tue ich nichts zum Dinge hinzu, sondern das Ding selbst zum Begriffe. Ich gehe also in einem Existentialsatz über den Begriff hinaus, nicht zu einem anderen Prädikat, als was im Begriffe gedacht war, sondern zu dem Dinge selbst gerade mit denselben, nicht mehr, nicht weniger Prädikaten, nur das die absolute Position über die relative noch dazu gedacht wird (complementum possibilitatis)«. 12 Indem sie diese Lehre des Seienden als Seienden auf Gott als solchen fokussiert, wiederholt die Kritik der reinen Vernunft zunächst lediglich die These vom Seienden als These: »Sein ist offenbar kein reales Prädikat, d. i. ein Begriff von irgend etwas, was zu dem Begriffe eines Dinges hinzukommen könne. Es ist bloß die Position eines Dinges oder gewisser Bestimmungen an sich selbst«. 13 Anschließend wendet die Kritik diese These buchstäblich auf Gott an: während der Begriff der Allmacht demjenigen Gottes wirklich ein Prädikat zuschreibt (mit zwei Begriffen), fügt der Begriff des »Wörtchen ist« dem Begriff von Gott kein wirkliches Prädikat hin-
C. Bruaire, Le droit de Dieu, Paris 1974, 32. I. Kant, Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseyns Gottes (1763), Ak. A., Bd. 2, Erste Abtheilung, erste Betrachtung, 70 u. 73. 12 I. Kant, Reflexionen zur Metaphysik, § 6276, Ak. A., Bd. 18, 543. 13 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 598 / B 626. 10 11
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zu (und es bleibt somit einzig beim Ausgangsbegriff). Wenn ich sage »Gott ist, oder es ist ein Gott, so setze ich kein neues Prädikat zum Begriffe von Gott, sondern nur das Subjekt an sich selbst mit allen seinen Prädikaten, und zwar den Gegenstand in Beziehung auf meinen Begriff«. 14 Es stellt sich somit als unmöglich heraus, die Existenz Gottes (die nichts von einem realen Prädikat hat) aus seinem Wesen (aus seinen realen Prädikaten) heraus durch reine Logik abzuleiten, ohne auf die Erfahrung zurückzugreifen. Dass man dasselbe »als solches« auf Gott ebenso gut wie auf jeden beliebigen anderen Fall anwenden kann, verkündet Kant in dem allzu bekannten Argument von den hundert Talern: Hundert tatsächlich vorhandene Taler beinhalten nicht mehr Wert (Geldwert) als hundert mögliche Taler, die man virtuell besitzt. Ob ich sie besitze oder nicht, diese hundert Taler entsprechen dem gleichen Begriff, dessen Wert vom Wechselkurs, von der Inflation, vom Verkaufspreis etc. abhängt – es handelt sich auch hier durchaus um reale Gegebenheiten. Aber dieser Vergleich zeigt – trotz oder gerade wegen seiner Offensichtlichkeit – die Schwäche der Kritik am ontologischen Argument. Und zwar in zweifacher Hinsicht. Erstens kann und muss man dem entgegenhalten, dass die »effektiven«, also tatsächlich in meinem Geldbeutel vorhandenen hundert Taler nicht die gleiche anwendbare Realität haben wie die möglichen hundert Taler (erträumt, erhofft, am Ende des Monats erwartet etc.), sondern viel mehr. Und dies aus einem Grund, den uns Kant selbst mitgeteilt hat: die effektiven Taler sind nur deshalb effektiv, weil sie intuitiv in Raum und Zeit gegeben werden; in ihrem reinen Begriff erhalten sie keine Existenz. Nun ist es aber so, dass sie im Raum meinen Besitz verlassen, ihren Platz wechseln und sich auf einem BankI. Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 599 / B 627. Diese These kommt wahrscheinlich von Hume: »The idea of existence, then, is the very same with the idea of what we conceive to be existent. […] That idea conjoin’d with the idea of any object, makes no addition to it« (A Treatise of Human Nature, I, 2, § 6, éd. L. A. Selby-Bigge, Oxford, 19782, 66 sq.); und vielleicht vom Gassendis Argument gegen Descartes: »Sed nimirum, neque in Deo, neque in alia ulla re existentia perfectio est, sed id, sine quo non sunt perfectiones« (Vae Objectiones, in Descartes, Oeuvres, éd. Adam & Tannery, t. VII, 323). Descartes antwortete stark und klar: »Hîc non video cujus generis rerum velis esse existentiam, neque quare non aeque proprietas atque omnipotentia dici possit, sumendo scilicet nomen proprietatis pro quolibet attributo, sive pro omni eo quod de re potest praedicari, ut hîc omnino sumi debet. Quin etiam existentia necessaria est revera in Deo proprietas strictissimo modo sumpta, quia illi soli competit, et in eo solo essentiae partem facit« (Responsiones, ebd., 382–383, nous soulignons). 14
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konto wiederfinden können; genau wie in der Zeit, nach einem jährlichen Zinssatz von drei, fünf oder zehn Prozent werden es am Ende eines Jahres in ihrer Eigenschaft als gezählte oder berechnete Dinge (res) nicht mehr 100 Taler, sondern 103, 105 oder 110 Taler sein, je nach den Konditionen, die man mit dem Bankier vereinbart hat. Es handelt sich hier um keinen Sophismus, weder um eine Veruntreuung noch um ein Wunder, sondern um das wirkliche Banksystem. Diese Auswirkungen sind direkt verbunden mit der Position der Taler in der festgelegten zeitlichen Existenz, in diesem Fall als Geldsorte, aufgrund der Darlehenszinsen bei jeder Geldanleihe. Diese Zinsen resultieren aus der »Verzeitlichung« des Erfahrungsgegenstandes, der wahr geworden ist. Denn das Banksystem bewirkt, dass in der Zeit (nach Jahresfrist) die 100 Taler 103, 105 oder 110 geworden sind, weil es noch grundsätzlicher die kantische Definition der Existenz als Position bestätigt, d. h. die »Existenz der Dinge außer mir, als Bedingung der Zeitbestimmung«. 15 In diesem Sinne beweist das Beispiel, das Kant auswählt, um zu verdeutlichen, dass das Sein nicht ein reales Prädikat ist, im Gegenteil, dass diese Position selbst eine Steigerung der Realität im Konzept impliziert, und zwar aufgrund der Zeitlichkeit der Existenz. Schlägt Kant nicht selbst vor, dass die Existenz den Dingen von außen etwas hinzufügt, wenn er die Kritik am Ideal der reinen Vernunft mit dem Hinweis abschließt, dass »… die Erkenntnis der Existenz des Objekts besteht, daß dieses außer dem Gedanken an sich selbst gesetzt ist«? 16 Fügt eine solche Außenposition nicht dem Gedanken selbst etwas hinzu und vervollständigt ihn? Und was bedeutet hier eine irreale Hinzufügung, eine irreale Vervollständigung? Die Kant’sche Kritik am ontologischen Argument kann man also zunächst aufgrund der Bestimmung der Existenz außerhalb des Denkens kritisieren, die Kant selbst vornimmt. Anschließend kann man auf diese Kritik mit einem zweiten Gegenargument antworten: Sogar wenn man über den ersten Einwand, der die Existenz betrifft, hinausginge, müsste man noch zugeben, dass dieser für alle Seienden gelte, seien sie endlich (im Falle der hundert Taler) oder unendlich (Gott); diese offenkundige Eindeutigkeit findet sich dennoch bei Kant niemals erwähnt, geschweige denn gerechtfertigt. Sie erscheint umso problematischer, als die eindeutige These von 15 16
I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 276. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 639 / B 667.
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der irreduziblen Unterscheidung zwischen Begriff und Existenz hier nicht nur von endlichen Seienden stammt, sondern sogar von einem besonders einzigartigen Typ von endlichem Seienden: das Geld ist wie der Ersatz von jedem möglichen Seienden, von einer abstrakten Universalität, die damit auch ausschließt, dass es den Rang eines Seienden im realen Sinn habe; aber würde dieses doppeldeutige Privileg nicht eher den hundert Talern verbieten, als Paradigma zu dienen, zunächst für die endlichen physischen Seienden, danach und noch mehr für Gott, der per definitionem das ens realissimum (realste Seiende) bleibt? Wie sollte man sich nicht auch fragen, ob es sich nur um eine implizite Analogie handelt (ob diese Analogie die gewohnte Ordnung umstößt, die die endliche Analogie auf die ersten unendlichen Analogien bezieht, indem sie im Gegenteil hier die Würde der ersten Analogie, Gott, mit dem Endlichen vertauscht)? Das Rätsel hierbei verbirgt sich in der Blindheit Kants; dennoch steht der Denker des Endlichen vor dem Unterschied zwischen dem Endlichen und dem Unendlichen, der noch größer ist als der Unterschied zwischen dem Begriff und der Existenz. Hegel sieht ihn im Gegenteil sehr klar: »Wenn es nun allerdings seine Richtigkeit hat, daß Begriff vom Sein verschieden ist, so ist noch mehr Gott verschieden von den hundert Talern und den anderen endlichen Dingen. Es ist die Definition der endlichen Dinge, daß in ihnen Begriff und Sein verschieden, Begriff und Realität, Seele und Leib, trennbar, sie damit vergänglich und sterblich sind; die abstrakte Definition Gottes ist dagegen eben dies, daß sein Begriff und sein Sein ungetrennt und untrennbar sind«. 17 Man müsste sogar die Widerlegung Kants umkehren: weit davon entfernt, dass die Existenz dem Begriff des Wesens Gottes nichts Reales hinzufügt, sie bestimmt sehr wohl sein Wesen, ebenso wie die anderen realen Prädikate (Unendlichkeit, Güte, Allmacht, Allwissenheit etc.). Denn wenn das Konzept des Wesens Gottes seine Existenz nicht als notwendig begreifen würde, würde es sich nicht um das Konzept vom nicht existierenden Gott handeln (übrigens ein begrifflicher Widerspruch), sondern um das Konzept von einem Nicht-Gott – der übrigens infolgedessen ebenfalls nicht existiert. Hierbei würde man sich im Übrigen darauf beschränken, die Entgegnungen Descartes’ auf seine Widersacher zu wiederholen, die Kant vorweg nehmen; denn die Anklage wegen Sophismus (das KonG. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik, I, 1,1, éd. G. Lasson, Hambourg, 1934, t. 1, 75 (und auch II,2,1, t. 2, 102 et 105).
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zept und die Existenz verwechseln) ruht selbst auf dem Fundament einer sophismatis species – einer Illusion in der Form eines Sophismus, einem Anschein von Argument –, nämlich zu glauben, man könne Gott als nicht existierend denken: »[…] so rede ich mir leicht ein, daß jenes [sc. die Existenz] auch von der Wesenheit Gottes [ab]getrennt werden könne und so Gott sich als nicht aktuell existierend denken läßt« – »[…] facile mihi persuadeo, illam [sc. existentiam] etiam ab essentia Dei sejungi posse, atque ita Deum ut non existentem cogitari possit«. Aber es genügt, genauer hinzusehen (»Achte ich indessen sorgfältiger darauf […]« – »[…] tamen diligentius attendenti […]«), um zu sehen, dass es nicht weniger widersprüchlich ist, Gott (das in höchstem Maße perfekte Seiende) ohne Existenz (das heißt ohne Vollkommenheit) zu denken, als einen Aufstieg ohne Abstieg zu denken. 18 Aber eine wirklich »aufmerksame« Betrachtung muss gegen die »Gewohnheit« 19 gehen, die überall sonst das unterscheidet, was man einzig und allein im Falle Gottes überhaupt nicht unterscheiden soll: »[…] er die Idee keines anderen Dinges in sich entdeckt, […], [d]ie auf dieselbe Weise die notwendige Existenz enthielte.« – »[…] nullius alterius ideam apud se inveniri, in qua eodem modo necessariam existentiam contineri […].« 20 So stellen Descartes und Hegel das klar, was Kant nicht sieht oder nicht zugeben kann: Keine These über das Sein, nicht einmal die These des Seins als Setzung, kann man eindeutig auf endliche Seiende und auf Gott anwenden. Folglich beweist Kant nur eine Sache, mit den guten Mitteln der Logik: nicht, dass das ontologische Argument R. Descartes, Meditatio V, a. a. O., t. VII, 66 (Meiner, 55). R. Descartes: »Da ich nämlich gewohnt bin, in allen anderen Dingen das Sein (existentia) von der Wesenheit (essentia) zu unterscheiden, so rede ich mir leicht ein, daß jenes [sc. die Existenz] auch von der Wesenheit Gottes [ab]getrennt werden könne […]« – »Cum enim assuetus sim in omnibus aliis rebus existentiam ab essentia distinguere, facile mihi persuadeo illam etiam ab essentia Dei sejungi posse, […]« (a. a. O., t. VII, 66 (Meiner, 55)). Voir »[…] sumus tam assueti in reliquis omnibus existentiamù ab essentia distinguere, ut non satis advertamus quo pacto ad essentiam Dei potius quam aliarum rerum pertineat« (Iae Responsiones, a. a. O., t. VII, 116). Et Principia Philosophiae, I, § 16: »Weil wir aber bei allen übrigen Dingen Essenz (Sein) und Existenz (Dasein) zu unterscheiden gewöhnt sind […]« – »Sed quia sumus assueti reliquis omnibus in rebus essentiam ab existentiam distinguere […]« (a. a. O., t. VIII-1, 10). 20 R. Descartes, Principia Philosophiae, I, § 15, ebd., 10. Voir: »[…] daß das höchste Sein ist, oder daß Gott, dem allein es zukommt, daß das Dasein zu seinem Wesen gehört […]« – »[…] summum ens esse, sive Deum, ad cujus solius essentiam existentia pertinere […]« (Meditatio V, A.T., a. a. O., 69 (Meiner, 58)). 18 19
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nicht a priori die Existenz Gottes beweist, sondern – genau umgekehrt – dass es a priori die Existenz von keinem endlichen Seienden ausgehend von seinem Konzept oder seinem Wesen beweisen kann. Anders gesagt, Kant beweist, dass die Existenz nicht wie ein reales Prädikat im Konzept eines endlichen Gegenstandes inbegriffen ist und dass man die Antwort im Falle Gottes anderen Überlegungen überlassen sollte, da dieser Fall hier nicht als solcher behandelt wird. Kurz, schlussfolgern wir daraus, dass das ontologische Argument niemals Schlüsse zieht, vielleicht abgesehen vom Fall Gottes. In der Tat bleibt Gott per definitionem eine Ausnahme: sein Wesen, wenn er sich eines zusprechen lässt, könnte man nicht in einem Konzept zusammenfassen, das mit den endlichen Gegenständen homogen ist; das heißt, er könnte nicht prinzipiell seine Existenz aus seinem Wesen ausschließen. (Indem er eine wörtlich thomistische Formulierung wieder aufnimmt, »Gott ist sein Sein, Deus est suum esse«, 21 kritisiert Descartes von vornherein die kantische Kritik am ontologischen Argument im Namen seiner ontisch-ontologischen Äquivozität, die absolut unhinterfragt und durchaus problematisch ist.)
III. Diese beiden Einwände gelangen jedoch nicht bis zum Kern der legitimen und sogar unerlässlichen Kritik an der Kant’schen Kritik am ontologischen Argument. Sie beschränken sich in der Tat noch darauf, die logische Gültigkeit der Beweisführung der vermuteten logischen Ungültigkeit des Argumentes zu bestreiten, ohne das von vornherein angenommene a priori zu erreichen, das heißt das a priori, das Gott als solchen definiert. Die Frage besteht im Grunde nicht darin, zu entscheiden, ob Gott existiert oder nicht – a priori kraft seiner Essenz, sondern zu entscheiden, ob es nur eine einzige Art zu existieren und nur ein einziges Konzept vom Sein gibt, und vor allem, ob Gott sich dieser ontisch-ontologischen Eindeutigkeit fügen muss, ja sogar, ob Gott selbst sein muss. Diese Frage(n) scheint Kant niemals zu verstehen (aber in der Tat die ganze moderne Metaphysik mit ihm). Sonst hätte er die Kritik des Ideals der reinen Vernunft so abgeschlossen, wie er die der Paralogis21
R. Descartes, Vae Responsiones, a. a. O., t. VII, 383.
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men der reinen Vernunft abschloss. Ebenso wie sich die Begriffe der Substanz, der Einfachheit, der Persönlichkeit und der Idealität aus Prinzip nicht auf das Ich anwenden lassen, da es »sowenig Anschauung, als Begriff von irgendeinem Gegenstande, sondern die bloße Form des Bewußtseins, welches beiderlei Vorstellungen begleiten« 22, ist, und ebenso wie die Begrifflichkeiten der Existenz und die These von der Position, die sich nur im Rahmen der sinnlichen Anschauung ausüben lassen, keine Relevanz im Fall Gottes haben, der weder existiert noch nicht existiert, noch das eine oder das andere muss. Oder aber Kant hätte die Kritik des Ideals der reinen Vernunft so abgeschlossen, wie er diejenige der Antinomien der reinen Vernunft abschloss: Ebenso wie die Begriffe des Anfangs, der einfachen Teile, der Freiheit und der Kausalität nur für empirisch bestimmte Phänomene gelten können und sich nicht anwenden lassen auf »die Weltidee für den empirischen Regressus, [die] mithin [für] jeden möglichen Verstandesbegriff, entweder zu groß, oder auch für denselben zu klein sei« 23. Ebenso haben – noch einmal – die Begrifflichkeiten der Existenz und die These von der Position, die nur im Rahmen der sinnlichen Anschauung gelten, keine Relevanz in Bezug auf Gott, der weder existieren noch nicht existieren darf bzw. muss, weil er sich nicht in die Anschauung setzen lassen kann. Wenn die Existenz als Position nur im Namen von Forderungen auftritt, die die sinnliche Anschauung spenden, hat sie also keine Relevanz, keine Geltung und kein Recht a priori bezüglich der Frage nach Gott, die sich nur jenseits der sinnlichen Wahrnehmung stellt. Man darf also nicht aus der Kritik an den Gottesbeweisen (und in erster Linie aus dem ontologischen Beweis) den Schluss ziehen, dass man die Existenz Gottes nicht beweisen kann, sondern dass man es sogar nicht, schon gar nicht hier, versuchen darf, weil Gott gemäß dieser Definition der Existenz nicht existieren soll. Die Stellung Gottes in der Existenz erscheint eher als das perfekte Beispiel einer Aussage, die ihres Sinnes beraubt ist, um die Begriffe zu gebrauchen, die Kant selbst in seiner Untersuchung anwendet. Die Frage nach Gott stellt sich mit einem vernünftigen Sinn nur, wenn sie nicht sofort irgendeinem a priori unterworfen wird, das vorgibt, sich Gott als solchem zu nähern. Dass Gott vernünftigerweise nur nach sich fragen lässt, wenn man ihn von jeglichem a priori befreit, hat Kant weder gesehen noch gesagt. 22 23
I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 382. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 489 / B 517.
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Dennoch findet man wenigstens einen Moment, wo er – ohne es zu erkennen – beinahe eine Formulierung dieser Forderung versucht. Tatsächlich ergänzt er, um die These vom Sein als Position zu bestätigen, nach dem (ein wenig unglücklichen) Argument der hundert Taler ein weiteres Argument, das ebenso zweideutig ist. Es handelt sich um ein Argument vom Absurden her: wenn die Existenz ein reales Prädikat darstellte, könnte mein Begriff eines Gegenstandes (an sich, als möglich gedacht) niemals adäquat zur (tatsächlichen) Wahrheit dieses Gegenstandes hinzutreten, da ein solcher tatsächlicher Gegenstand dann eine größere Realität umfassen würde als diejenige eines nicht tatsächlichen Gegenstandes, auch wenn er derselbe oder von demselben Wesen wäre. Kurz, keine adaequatio rei et intellectus (Entsprechung von Ding und Erkenntnis) hätte Bestand, weil die Existenz der res (Sache) in Wirklichkeit ihr einfacher Begriff oder den intellectus rei (die Erkenntnis der Sache) übersteigen würde. »Wenn ich also ein Ding, durch welche und wie viel Prädikate ich will, (selbst in der durchgängigen Bestimmung) denke, so kommt dadurch, daß ich noch hinzusetze, dieses Ding ist, nicht das mindeste zu dem Dinge hinzu. Denn sonst würde nicht eben dasselbe, sondern mehr existieren, als ich im Begriffe gedacht hatte, und ich könnte nicht sagen, daß gerade der Gegenstand meines Begriffs existiere«. 24 Dieses Argument vom Absurden her kann vom Kant’schen Standpunkt aus gesehen ziemlich deutlich für die Erkenntnis der Erfahrungsgegenstände gelten, das heißt für endliche Seiende: die Entsprechung impliziert in der Tat, dass die Existenz des Erkannten mit ihrer Erkenntnis im Begriff nicht die Entsprechung übertrifft bzw. sie nicht aus dem Gleichgewicht bringt. Aber was wird daraus im Fall Gottes? Welche Absurdität wäre es, nicht nur festzustellen, dass es in diesem Fall mehr in der tatsächlichen Sache gibt als in ihrem Begriff, sondern dass dieses »Mehr« nicht der angemessenen Erkenntnis dieser Sache widerspricht, da es sich darum handelt, das zu erkennen, was per definitionem und ex hypothesi alles übersteigen muss, was begrifflich ausdrückbar ist? Ja sogar mehr, indem Kant wie eine Absurdität die seltsame Formulierung heranzieht: »[…] es existiere nicht eben genau dasselbe, sondern mehr, als ich im Begriffe gedacht hatte«, findet Kant wörtlich die Formulierung wieder, die der Hl. AnI. Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 600 / B 628. Sehe auch Religionslehre Pölitz, Ak. A., Bd. 28, 2/2, 1027 und noch einmal 1028). Soeben wie Natürliche Theologie Volckmann, ebd., 1176.
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selm bevorzugte, um rational die unbedingte Positivität Gottes zu umreißen: »Also, Herr, bist Du nicht nur das, worüber hinaus Größeres nicht gedacht werden kann, sondern Du bist ein gewisses Größeres als gedacht werden kann. Denn da etwas Derartiges wert ist, gedacht zu werden: Wenn Du selbst das nicht bist, kann etwas Größeres als Du gedacht werden; dies kann nicht geschehen. – Ergo Domine non solum es quo majus cogitari nequit, sed es quiddam majus quam cogitari possit. Quoniam namque valet cogitari esse aliquid hujusmodi: si tu non es hoc ipsum, potest cogitari aliquid majus te; quod fieri nequit«. 25 Die gleiche Formulierung gewiss, aber in zwei gegensätzlichen Richtungen verstanden. Für Kant muss das, was gedacht wird (in intellectu) also der Sache gleich bzw. angemessen bleiben können, die tatsächlich existiert (in re), sogar im Fall Gottes, der bei der Regel der adaequatio (Übereinstimmung) keine Ausnahme macht. Wie man nun aber in diesem Fall zugeben müsste, dass der existierende Gott das Konzept eines (Nicht-)Gottes nur im Gedanken übersteigt, wird man auf Gott verzichten, um dieses mehr existieren, als im Begriffe nicht zuzugeben. Für den Hl. Anselm dagegen wäre das, was nur gedacht bleibt, ohne auch tatsächlich zu sein (in re), weniger groß oder gut als das, was sowohl gedacht als auch tatsächlich wäre; es kann also Gott nicht bezeichnen, der in diesem Fall weniger als er selbst bliebe: Gott muss man sich vorstellen als maius quam cogitari possit, größeres als gedacht werden kann. Somit muss Gott, um eine Wesenheit zu erreichen, die seiner Würde entspricht, den einfachen Gedanken dieser Wesenheit durch die Feststellung seiner Existenz übersteigen, die dennoch im Gedanken undarstellbar bleibt. Gott ist nur Gott, wenn er seinen eigenen Begriff (seine denkbare Wesenheit) bis in seine Existenz übersteigt. Kant findet somit das wieder, aber als Einwand, was der Hl. Anselm als Lösung bei der Frage nach Gott entdeckt hatte: Gott öffnet sich der Frage, wenn er die Grenzen des Denkbaren übersteigt, d. h. des metaphysischen a priori, das vorgibt, ihn als solchen zu denken.
IV. So kann die Haltung, die dem als solches gemäß denken lässt, das Unbedingte nicht denken, sondern einzig das, was es bedingt. Diese Hal25
Hl. Anselm, Proslogion, XV.
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tung kann also Gott nicht denken, da sie ihn ausgehend von seinem als solches denkt, wobei es unvermeidlich ist, dass sie einen Überhang und eine Transzendentalität a priori dem gegenüber beansprucht, was sie sich als Gott vorstellt und von dem sie prinzipiell die Unbedingtheit bestreitet. Gott als solchen zu denken, schafft somit einen performativen Widerspruch, denn wenn es einen Gott geben muss – und sei es auch nur als Hypothese –, kann er nicht anders, als sich jedem anderen a priori außer ihm selbst zu entziehen. Mag diese Schlussfolgerung auch etwas erstaunlich scheinen, sie drängt sich unweigerlich auf: das als solches führt zu einer transzendenten Idolatrie – Gott den Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung zu unterwerfen, so wie sie a priori ein endlicher Geist, nämlich der unsere, definieren würde. Als oberstes Prinzip der zusammengefassten a priori-Urteile festzulegen, dass »die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt […] zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung [sind]«; 26 dies gilt genau nur für die Gegenstände und betrifft Gott nicht, außer wenn man ihn genau wie ein Objekt behandelt, das den transzendentalen Bedingungen unserer Erfahrung »im allgemeinen« unterworfen ist. Aber ein Gott, der auf die Objektheit (Gegenständlichkeit) reduziert ist, wird ex hypothesi und per definitionem zu einem Nicht-Gott. Es muss also einen Ausweg geben: man muss die Frage nach Gott aus dem endlichen Raum unserer Erfahrung und seiner a priori gegebenen Bedingungen herausnehmen oder uns selber herausnehmen aus diesem markierten, geschlossenen, von vornherein bekannten Raum, den uns die transzendentale Haltung sichert. Der Ausweg, den es geben muss, bringt es mit sich, im Falle Gottes darauf zu verzichten, nicht um uns ihm zu nähern, sondern um zumindest die Frage nach ihm offen zu halten. Dieser Ausweg bringt auch das Paradoxon mit sich, dass, falls zufällig eine Erfahrung dieser Frage möglich bliebe, sie nur außerhalb des Feldes der »Gegebenheiten der Möglichkeit der Erfahrung« zutreffen könnte. Welcher Weg eröffnet sich für einen solchen Ausweg? Ein Ausweg folgt schließlich nicht einem bereits vorgezeichneten Weg, sondern der Weg ergibt sich im Gegenteil erst, wenn der Ausweg in Gang gebracht wird; der Weg wird erst nach und nach beim Vorwärtskommen entdeckt, Schritt für Schritt. Gehen wir also Schritt für Schritt vor. Es geht
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darum, aus der Haltung herauszukommen, die die Erfahrung durch das Ausüben des als solches in den Gegenständen fixiert und festlegt. Und da man sich jeglichen Zugang zu Gott versperrt, wenn man sich anmaßt, ihn als solchen betrachten zu wollen, ist es angemessen, sich mit Gott immer quoad nos zu beschäftigen, niemals absolut, sondern mit Bezug zu uns, nach unserer Endlichkeit, die es uns verbietet, uns anzumaßen, uns mit Gott als solchem zu beschäftigen. Aber wie soll man dieses quoad nos, dieses »was uns betrifft«, verstehen? Definiert ein solcher Bezug zu uns nicht genau das kritische Unterfangen selbst, das seine a priori nur in Bezug zu uns selbst entwickelt? Ja, noch mehr, charakterisiert dieses quoad nos nicht noch genauer die Kategorien der Modalität, und zwar genau diejenigen der Möglichkeit und der Existenz, die in der Tat weder das Objekt selbst beschreiben (wie diejenigen der Quantität und der Qualität) noch die Beziehung zwischen den realen Gegenständen, sondern einzig und allein »das Verhältnis zum Erkenntnisvermögen ausdrücken«. 27 Das quoad nos aufzurufen, würde in diesem Falle bedeuten, dass wir in das als solches zurückfallen würden, von dem wir uns lösen wollten; und wir würden uns dadurch noch tiefer in die Aporie verstricken. Dennoch ergibt sich hier wie so häufig ein Durchbruch, während sich die Aporie verstärkt. Welche Herausforderung bringt tatsächlich das kritische quoad nos mit seinen Prinzipien der Modalität mit sich? Es geht darum, klar zu stellen, dass die Beziehung des Gegenstandes zur Erkenntnisfähigkeit über seine Möglichkeit entscheidet (wenn der Gegenstand den formalen Bedingungen der Erfahrung entspricht), über seine Existenz (wenn es seinen materiellen Bedingungen Genüge tut) und über seine Notwendigkeit (wenn es seinen allgemeinen Bedingungen entspricht). Es geht also um die Möglichkeit, die eventuell um Existenz und Notwendigkeit erweitert wird; und in der Tat zeigt sich im Fall Gottes die Unmöglichkeit, seine Existenz zu beweisen, quoad nos in der Dimension der Modalität. Es versteht sich tatsächlich von selbst, dass für Kant Gott als Objekt nicht die Existenz erreicht, weil er zunächst nicht der Möglichkeit Genüge tut. Die Unmöglichkeit, den a priori gegebenen Bedingungen der Erfahrung als solchen zu genügen, verschließt Gott den Zugang zur Möglichkeit, also zur Existenz. Somit charakterisiert sich das metaphysische als solches durch die Grenzen, die es der Möglichkeit »im all-
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gemeinen« setzt; dabei stellt sich diejenige Möglichkeit Gottes nicht mehr als ein Sonderfall dar. Im Gegensatz dazu würde sich also das quoad nos – zumindest in dem Sinne, in dem dieses »was uns betrifft« dem metaphysischen als solches widersprechen würde – durch die Überschreitung der Grenzen charakterisieren, die der Möglichkeit a priori gesetzt wurden, anders ausgedrückt durch das Niederreißen der Grenze zwischen dem Möglichen und dem Unmöglichen – durch den Ausweg hin zum Unmöglichen. Der Zugang zur Frage nach Gott muss sich für uns von nun an ausgehend von dem, was für uns, und zwar für uns allein, charakteristisch ist, stellen, von der Grenze zwischen dem Möglichen und dem Unmöglichen; auf das hin, was für uns charakteristisch ist, das für uns Unmögliche. Aber für die Metaphysik, die als Objekt nur das für unser Denken Mögliche zulässt (kein logischer Widerspruch, transzendentale Möglichkeit, der Unterschied macht hier nicht viel aus), bleibt die Unmöglichkeit eine unhinterfragte Modalität, die vergessen ist und brachliegt – einfach die Rückseite der Möglichkeit. Für die Metaphysik handelt es sich nur darum, die einzig mögliche Grundlage eines Gottesbeweises zu suchen, und eben diese Unmöglichkeit der Möglichkeit einer Grundlage hebt die Suche nach irgendeinem Beweis auf. Insofern ist dieses Anhalten nur geboten, wenn man es als selbstverständlich ansieht, dass Gott selbst keine Ausnahme macht, dass er existieren muss, dass diese Existenz beweisbar sein sollte, dass diese Beweisführung eine Grundlage haben muss und vor allem dass diese drei Forderungen, die niemals kritisiert wurden, ausschließlich im Bereich der Möglichkeit eingeschrieben sind. Aber um welche Möglichkeit handelt es sich? Offensichtlich um unsere, die endlich und darum durch unsere a priori eingeschränkt ist, welche ein als solches ausüben. Wie kann man nicht sehen, dass ein Gott, der somit durch unsere Möglichkeit eingeschränkt ist, ob er existiert oder nicht, ob er bewiesen ist oder nicht, ob er begründet ist oder nicht, sich auf Anhieb und definitiv als ein Nicht-Gott herausstellt, weil die Frage nach Gott, wenn sie solchermaßen gestellt wird, notwendigerweise zu einem Nicht-Ort gelangt? Hier wird ein Paradoxon von Nikolaus Cusanus verständlich: »Da bei Gott nichts unmöglich ist, müssen wir eben durch das in dieser Welt Unmögliche zu dem hinblicken, bei dem die Unmöglichkeit Notwendigkeit ist. – Unde cum Deo nihil sit impossibile, oportet per ea quae in hoc mundo sunt impossibilia nos ad ipsum respicere, apud quem im-
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possibilitas est necessitas«. 28 Solange wir uns in diesem geschlossenen Bereich des für uns Möglichen bewegen, ohne es über die Unmöglichkeit zu befragen, die darin implizit enthüllt wird, werden wir uns weiterhin in dem Gebiet aufhalten, wo es sich nur um unsere Endlichkeit handeln kann, nur um uns, und daher keineswegs um Gott. Gott stellt nur von dem Moment an eine sinnvolle Frage, in dem unser Ausweg die Grenze zwischen dem für uns Möglichen und Unmöglichen durchbricht, weil das wahrhafte quoad nos, das entscheidende »was uns betrifft«, uns dem gegenüber stellt, was nicht zu uns gehört, was uns vom Wesen her fremd bleibt, was für jedes als solches undenkbar ist – das Unmögliche ebenso wie das nächstgelegene Unbekannte. So kommt einem nur Gott in den Sinn: ansonsten wird sich unsere Vorstellungskraft, wenn sie denkt, Gott näher zu kommen, weiterhin immer neue mögliche Götzen schaffen, die idola possibilitatis (Götzen der Möglichkeit). Nur das unermessliche Feld des Unmöglichen kann das Mindeste von etwas ziemlich Fremden aufnehmen, anders gesagt, von etwas allzu Fremden, um die Bezeichnung »Gott« legitim zu verdienen. 29 Gott kommt nur in genau dem Maße auf uns zu, in dem wir auf das Unmögliche zugehen. Zu dieser Epiphanie (Erscheinung Gottes) kann uns nur das Unmögliche hinführen – wie ein sicherer Stern im allgemeinen Chaos.
V. Das Unmögliche leitet uns in den Ausweg aus der Idolatrie Gottes als solchen. Dieses Paradoxon soll uns jedoch nicht vom Weg abbringen, da es uns buchstäblich auf den Weg zur Frage nach Gott bringt. Ohne einen Gedankengang detailliert wieder aufgreifen zu wollen, den wir anderswo 30 entwickelt haben, wollen wir den Kern der Sache zum Aus28 N. Cusanus, »Dialogus de Possest«, 59, 14–17, in: P. Wilpert (Hg.), Werke, Berlin 1967, t. 2, 66. 29 Über der De-nomination siehe: De Surcroît. Etudes sur les phénomènes saturés, VI, § 2, Paris 20011, 20102, 168 ff. 30 Vgl. »L’impossible pour l’homme – Dieu«, Conférence, no 18, Paris 2004 (oder »The impossible for Man – God«, in J. Caputo & M. J. Scanlon (Hg.), Transcendance and Beyond. A postmodern Inquiry, Indiana U.P., 2007); eine Zusammenfassung in »L’irréductible«, Critique, no 706–707, Paris, Januar 2006; und endlich Certitudes Négatives, ch. II, Paris 2010.
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druck bringen. – Eine Frage wird erst dann zur Frage nach Gott, wenn die Vernunft sich mit dem auseinandersetzt, was zu Gott gehört, ob es ihn gebe oder nicht und wie er auch sei: Gott kann das für die Menschen Unmögliche (so drückten es Homer und die alten Griechen bzw. Römer aus); oder auch Gott kann alles, was seine Allmacht nicht verringert (wie die mittelalterlichen Theologen dachten); oder auch Gott ist das Wesen, das alles kann (nach Descartes und den Cartesianern); oder schließlich Gott nimmt den Platz des Unmöglichen ein, ja, er steht sogar an der Stelle des Unmöglichen (denjenigen zufolge, die das Ende der Metaphysik denken, von Kierkegaard an bis zu Derrida und Levinas). Die Übereinstimmung zwischen diesen Traditionen, die im Gegensatz zum nahezu ganzen Rest philosophischer Traditionen stehen, erscheint darum nur umso eindrucksvoller: in allen Fällen wird eine Frage erst dann zur Frage nach Gott, wenn unser Denken seinen angestammten Bereich verlässt, nämlich das Mögliche, also die Endlichkeit, die durch das Unmögliche eingeschränkt wird, um sich in das undenkbare Gebiet des für uns Unmöglichen vorzuwagen; denn wenn ein Gott vor einem Unmöglichen zurückweichen müsste, würde es sich per definitionem um einen Nicht-Gott handeln. Hieraus folgt ein erstes Ergebnis: Gott, ob er sei oder nicht sei, ob er sein muss oder nicht zu sein brauche, bedeutet der Meister des Unmöglichen, wo er sich selbst eine Absage erteilt. Von da an würde eine Argumentation, die einen eventuellen (und vielleicht sogar einen fakultativen oder illegitimen) Gottesbeweis betrifft, auf ihre eigene Unmöglichkeit hinauslaufen (Gott existiert nicht, weil er keinen Begriff zulässt oder weil sein Wesen widersprüchlich, ja sogar unmoralisch wäre usw.), und würde damit selbst unmöglich werden. Denn wenn Gott durch das für uns Unmögliche charakterisiert wird, steigert die Unmöglichkeit, ihn zu erfassen oder sich ihm zu nähern (offensichtlich eine Unmöglichkeit für uns) nur noch die Tatsache, dass er in dem Bereich wohnt, zu dem wir per definitionem keinen Zutritt haben können, dem Unmöglichen. Es ist vielleicht nicht möglich, die Existenz Gottes zu beweisen (übrigens auch nicht, dass Gott existieren oder sein muss und soll), aber es ist sicher ganz unmöglich, diese Unmöglichkeit für ihn zu beweisen, denn das Unmögliche gilt und drängt sich nur uns auf, den Bewohnern des Möglichen, und hat für ihn, Gott, überhaupt keinen Sinn. Es geht offensichtlich nicht darum, hier unter der Hand das ontologische Argument wieder aufleben zu lassen (das sich mit der Notwendigkeit der Existenz Gottes befasst, ausgehend von der Möglichkeit seiner Existenz), noch 39 https://doi.org/10.5771/9783495808405 .
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handelt es sich um einen skeptischen Fideismus, der folgendermaßen argumentiert: »Die Unmöglichkeit, in der ich mich befinde, zu beweisen, dass Gott nicht existiert, deckt mir seine Existenz auf« 31 (wo die Existenz ohne eine Beweismöglichkeit auskommt), sondern um die Schlussfolgerung, zu der Kant selbst gelangte: »Kurz, es ist unmöglich zu beweisen, daß Gott unmöglich sey«. 32 Nicht dass die Möglichkeit sich phantasmatisch (denkerisch) jenseits der Grenzen des für uns Möglichen wiederherstellen lasse noch dass das für uns Unmögliche verschwinde, da sich im Gegenteil das Unmögliche hier steigert. Aber das, was unmöglich bleibt oder wird, besteht in dem für uns Unmöglichen (das für uns so bleibt), das von einem Standpunkt her aufscheint, der für uns unzugänglich ist, der derjenige Gottes und für ihn möglich ist. Es geht nicht darum, die Grenze zwischen dem Möglichen und dem Unmöglichen aufzuheben, sondern darum, es für uns unmöglich zu machen, dass der Unterschied zwischen dem Möglichen und dem Unmöglichen für Gott noch gilt. Wir heben das Unmögliche nicht in einem eingebildeten für uns Möglichen auf, sondern wir disqualifizieren die Anmaßung, dass das, was für uns unmöglich bleibt, es auch für Gott sei. Es geht sozusagen darum, das quoad nos bzw. das, was uns betrifft, eine Umdrehung um das Unmögliche herum machen zu lassen, um davon ausgehend die Möglichkeit für Gott zu betrachten. Hieraus ergibt sich eine zweite Folgerung. Die Frage nach Gott übersteht eine (eventuelle) Aporie bezüglich der Antwort auf diese Frage. Sogar wenn sich die Existenz Gottes nicht beweisen lässt, sogar wenn sie es nicht darf, entweder weil der Beweis Gott den Bedingungen unserer Erfahrung unterwerfen würde (und damit Platz für einen Nicht-Gott schaffen würde) oder weil Gott nicht sein darf; sogar wenn – von unserem endlichen Standpunkt aus gesehen – »der Tod Gottes« eine unüberwindliche Grenze in dieser Zeit des Nihilismus wäre; sogar wenn wir bestenfalls beim »Tod des Todes Gottes« bleiben müssen – dennoch bleibt die Frage nach Gott offen wie eine Wunde, die nicht verschwinden wird, oder eher wie ein Aufruf zum Auszug, der niemals wieder zurückkommen wird. Wir finden uns in der Situation des postAtheismus wieder (mehr als eine einfache Variante des post-Theis-
La Bruyère, Caractères, »Des esprits forts«, § 13. I. Kant, Vorlesungen über Rationaltheologie, Religionslehre Pölitz, Ak. A., 28, 2/2, 1026.
31 32
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mus), in einem Prozess von Anatheismus (Kearney). 33 Angenommen, dass wir uns nur auf die Lehre des Christentums stützen können (und weniger auf das, was es real gemacht hat, sondern auf das, was es ohne Maß hin zu einer anderen Zukunft überholt, das heißt das ChristusEreignis), die Unmöglichkeit der Unmöglichkeit würde genügen, es (das Christentum) über jede Dekonstruktion zu stellen, besteht es doch selbst genau und von vornherein in einer Dekonstruktion: nämlich derjenigen, die daraus hervorgeht, dass in ihm die Unmöglichkeit verdoppelt wird, und die jegliche Begrenzung des Möglichen auseinandernimmt, was das als solches der Metaphysik versucht hat. Man kann das Christentum nicht beschreiben als »die Religion, die aus der Religion herausführt«, eben weil es keine Religion darstellt. Es stellt keine Religion dar, insofern jede Religion die Menschen mit einem möglichen Gemeinsamen mit den Göttern verbindet, um nicht zu sagen mit einem (Nicht-)Gott, während das Christus-Ereignis die Christen (und in der Tat alle Menschen) mit dem für uns Unmöglichen wie mit dem für Gott Möglichen in Beziehung bringt. Das Heil, das Jesus seinen Namen gibt (und umgekehrt), erhebt sich durch die Konfrontation mit dem Unmöglichen, das aus den Himmeln kommt, wie das Jerusalem unseres Heimgangs, ein Jerusalem, das wir weder erobern noch erbauen können, da es von anderswo an uns herantritt. »Für Menschen ist das unmöglich, aber nicht für Gott; denn für Gott ist alles möglich« (Mk. 10, 27). Oder anders ausgedrückt, τὰ ἀδύνατα παρὰ ἀνθρώποιϚ δυνατὰ παρὰ τῷ θεῷ ἐστιν, »Was für Menschen unmöglich ist, ist für Gott möglich« (Lk. 18, 27) Die Dekonstruktion des Christentums läuft letztlich auf die Zerstörung dessen hinaus, was in der Metaphysik, die sich dessen zumindest teilweise und zumindest zeitweise bemächtigt hat, den Zugang zum wahrhaft Unmöglichen unmöglich gemacht hat: die Gabe Gottes, den niemand gesehen hat, in Jesus Christus, der daraus die einzig mögliche Auslegung (Joh. 1, 18) und Hermeneutik (Lk. 24, 27) gemacht hat.
33 R. Kearney, Anatheism. [Returning to God after God], Columbia U.P., New York 2010.
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VI. Es bleibt ein weiteres Paradoxon. Wie können wir uns aus dem Grunde unseres eigenen Ortes als Sterbliche, dem Möglichen, auf das Unmögliche beziehen? Wahrscheinlich müssen wir zunächst argumentieren, dass wir kein Bewusstsein dieser Möglichkeit hätten ohne ein Vorbewusstsein des Unmöglichen, kraft der Idee des Unendlichen, die allein diejenige des Endlichen denkbar macht, nach strikter cartesianischer Logik; somit berühren wir leicht die Grenze zwischen dem Möglichen und dem Endlichen (und um eine Grenze leicht zu berühren, genügt es, sie zu kennen und ihr Jenseits anzunehmen), sofern wir die Möglichkeit eines Unendlichen in Betracht ziehen, das per definitionem unmöglich ist, was uns betrifft, quoad nos; genauer gesagt, dieses quoad nos erreicht und bestimmt uns nur, weil wir es immer bereits umkehren können und müssen, wie eine für uns unmögliche Möglichkeit, hin zu dem für einen anderen Möglichen als für uns Unmöglichen. Diese grenzüberschreitende Umkehrung erfahren wir von Anfang an in der Bezeichnung (die – um es noch einmal zu sagen – keinen Existenzbeweis impliziert und sogar das geringste nennbare Wesen zurückweist) des id quo majus cogitari nequit (das, worüber hinaus Größeres nicht gedacht werden kann), das selbst radikalisiert wird im majus quam cogitari possit (größer als es gedacht werden kann). Aber es gibt noch mehr: Man kann die Reduktion der Phänomene auf den Rang des Objekts durch Kant nicht bestreiten, wobei man die Möglichkeit von gesättigten Phänomenen in Betracht ziehen muss – sogar und vor allem für uns –, wo sich die Intuition aufgrund eines Übermaßes an seiner Subsumierung unter irgend einen Begriff (oder irgendeine Kombination von Begriffen) als irreduzibel erweist; in etwa so – als Antwort auf die vier Rubriken der apriorischen Kategorien –, dass das Ereignis (angesichts der Quantität), das Idol (angesichts der Qualität), das Fleisch (angesichts der Relation) und die Ikone oder das Gesicht des anderen (angesichts der Modalität). 34 Nun ist es aber so, dass das Übermaß an Intuition hier die transzendentale Möglichkeit zerstört, wobei sie das An-sich der Sache wiederherstellt, die auf ihre eigene Initiative hin und nach ihrer eigenen Dimension erscheint oder erscheinen kann, wobei es unsere Voraussicht und unser Vor-Ver34 Sur ce point, que nous tenons ici pour acquis, voir Etant donné. Essai d’une phénoménologie de la donation, Paris 1997, 20053, IV, §§ 21–23.
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ständnis überschreitet, das heißt unser a priori. Gott, von Kant ignoriert, kann nur, falls er sich jemals zeigen sollte (sich offenbaren, also sich wie ein Phänomen zeigen, so paradox wie man möchte), den Platz einnehmen, und sei es auch nur, um jeden Platz und jede Lokalisierung im Gedanken für uns zu überschreiten. In diesem Sinne skizzieren die gesättigten Phänomene die Erfahrung des Unmöglichen im Möglichen selbst bzw. nehmen diese bereits vorweg. Sie bescheinigen / bestätigen durch ihre essentielle / wesentliche und gemeinsame Ereignishaftigkeit (und im Übrigen besteht die erste Art des gesättigten Phänomens, die alle anderen bestimmt, genau im Ereignis), dass wir alle das Unmögliche erfahren haben, auch wenn wir es nie verstanden haben – und genau deswegen. Der Fortgang zum für uns Unmöglichen vollzieht sich in gewissen Fällen im Inneren des für uns Möglichen selbst, genau wie der Durchgang zum Unendlichen eine intrinsische Möglichkeit des Endlichen bleibt. Sicherlich nicht durch eine Erfahrung des Objektes oder des endlichen Phänomens, das wir synthetisieren (zu einer Synthese zusammenfassen) und in Konformität mit unserem a priori konstituieren könnten, aber nach dem Modus einer Gegen-Erfahrung, die uns festlegt, indem sie uns der transzendentalen Würde des Ich enthebt, um uns in den Status des Zeugen zu überführen. Diese Vertrautheit mit dem für uns Unmöglichen inmitten eines für uns Möglichen, die nunmehr hervorbricht, kann man zumindest ansatzweise in drei privilegierten Fällen beschreiben, drei gesättigte Phänomene, die sich nähern und dabei in sich die Arbeit, die Geduld, das Ernste und den Schmerz über das für uns Unmögliche in Bewegung setzen. Das erste ist verbunden mit Tod, und seine Beschreibung besteht in einer doppelten Errungenschaft der phänomenologischen Tradition, sei es, dass man ihn als Möglichkeit der Unmöglichkeit beschreibe (Heidegger), sei es als Unmöglichkeit der Möglichkeit (Levinas). Den Unterschied zwischen diesen beiden Herangehensweisen kann man sicherlich nicht unterschätzen. Wenn man den Tod ausgehend vom Dasein betrachtet (oder eher wenn das, was man ausgehend von ihm betrachtet, im Dasein besteht), bleibt er zunächst noch eine Möglichkeit, mehr noch, die Möglichkeit des Daseins par excellence, die hier schließlich ihr Sein als Möglichkeit entdeckt und nicht – wie das Sein anderer Seiender – als eine einfache Wirkung. Dennoch bleibt es dabei, dass eine solche Möglichkeit, das Auf-den-Tod-Gerichtetsein, das nur im Modus des Möglichen zugänglich ist, zur absoluten Unmöglichkeit jeg43 https://doi.org/10.5771/9783495808405 .
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licher Möglichkeit führt. Die letztendliche Unmöglichkeit wird also zu Recht zum Ausdruck der Möglichkeit des Daseins selbst, das vorzeitig eben als nicht empfindend empfindet (Gegen-Erfahrung). Umgekehrt, wenn man den Tod ausgehend vom Anderen in den Blick nimmt (oder eher wenn das, was man an ihm betrachtet, im leidenden Antlitz des Anderen besteht), erscheint er (der Tod) wie das Verbotene, das für den anderen die geringste Möglichkeit unterdrückt; weit davon entfernt, eine wirkungslose Möglichkeit zu eröffnen, verschließt sich die Möglichkeit selbst im Allgemeinen. Aber diese Unterdrückung der Möglichkeit behält eine Positivität, und zwar genau, dass sie es erlaubt, direkt die Unmöglichkeit zu empfinden. Direkt? Nein, da es sich um eine Unmöglichkeit handelt, von der nur derjenige Zeugnis geben kann, der sie nicht empfindet, der Überlebende, der sieht, dass der andere und nicht er selbst ihn erträgt (oder eher, dass es keine Zeitdauer mehr gibt, um irgendeine beliebige Möglichkeit zu ertragen). Auch hier kommt die Unmöglichkeit wieder nur durch Gegen-Erfahrung zum Tragen. Der Unterschied zwischen den phänomenologischen Situationen beseitigt also keinen gemeinsamen Punkt: die Unmöglichkeit kündigt sich im Tod an, ohne dass das Unmögliche als solches hier zugänglich würde. Das Unmögliche bleibt außerhalb der Reichweite des für uns Möglichen, sogar wenn und vor allem weil das Unmögliche das Mögliche zum letzten Mal ganz bestimmt. Das Unmögliche kündigt sich wie ein absolut Unmögliches an, das alles für uns Mögliche nichtig macht, sogar die Möglichkeit, es als solches zu erfahren. Dennoch wendet sich dieses Übermaß des Unmöglichen, das sich genau in dem Moment, in dem es unmittelbar bevorsteht, unzugänglich macht, indem es alles für uns Mögliche nichtig macht, und verkehrt sich in die Möglichkeit, die selbst absolut ist: Vom Tod, dieser für das Dasein niemals erreichten Möglichkeit, dieser für den lebenden Zeugen immer unzugänglichen Unmöglichkeit auf dem Antlitz des Sterbenden, weiß ich ganz und gar nichts, denn ich bin dort niemals. Dennoch kann man daraus nicht schließen, dass, wenn ich persönlich dort sein werde, es niemanden mehr geben wird, der den Sterbenden kennt, also dass er mir niemals mehr erscheinen wird. Im Gegenteil, wenn wir davon ganz und gar nichts wissen, da ich nicht dort bin, bleibt der Tod die Instanz des Möglichen par excellence. Und zwar eines Möglichen, von dem wir zugeben müssen – da wir durch Analogie mit oder unter Vorwegnahme der für uns möglichen Erfahrung nichts wissen –, dass es alle Möglichkeiten im Allgemeinen verbirgt, einschließlich dessen, was wir heute 44 https://doi.org/10.5771/9783495808405 .
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das für uns Unmögliche nennen. Sogar als das für uns Unmögliche erlegt der Tod uns die Möglichkeit des Unmöglichen als solches auf, ohne Einschränkung. Das zweite kommt mit der Geburt ans Licht. Es handelt sich auch hierbei um eine Beschreibung, die die neuere phänomenologische Tradition errungen hat (Ricœur, Henry, Romano). Mit der Geburt liefert sich die Möglichkeit par excellence aus, die Möglichkeit aller Möglichkeiten. Nicht nur weil meine Ankunft im Leben die unbestrittene Bedingung dafür darstellt, dass ich Fähigkeiten entwickeln kann, Handlungen ausführen, Ereignissen begegnen, mit den üblichen Seienden umgehen, andere Menschen lieben oder hassen kann, die selbst geboren sind; sondern auch, weil das, was wir – ohne es jemals definieren zu können – das Leben nennen, eben in der offenen oder eher der sich öffnenden Möglichkeit besteht, und wenn sie sich so öffnet, öffnet sie Welt und Zeit, die Welt durch die Zeit. Diese Möglichkeit aller Möglichkeiten geht noch weiter: Als Bedingung der Möglichkeit der anderen Möglichkeiten lässt sie selbst keine Bedingung für ihre eigene Möglichkeit zu, nicht einmal die Instanz, die alle diese anderen zukünftigen spezifizierten Möglichkeiten bestimmen wird, das heißt mich selbst, ein Ich, das diese Möglichkeiten will, plant, entscheidet und ausführt oder erleidet. Die Geburt setzt mich nicht voraus, da sie mich vor sich setzt und sich absetzt; ich bin es, der sie voraussetzt. Die Geburt, die dennoch absolut und unabänderlich meine ist, gehört mir nicht mehr, genau wie das Leben, mein Leben, von dem ich lebe und das mir nicht gehört – denn im Gegenteil lebe ich nur so lange, wie es mir zukommt, als ob es mir nicht gehöre, wie es außerhalb von mir zu mir gehört, mehr von mir ist als ich selbst, der ich nur durch das Leben bin, das ich nicht bin. Meine Geburt gibt mir alles, sogar sie zu empfangen, indem ich mich von ihr empfange, gleichzeitig mit allen anderen Gegebenen, ebenso a posteriori wie sie bin ich gegeben. Meine Geburt verleiht mir meinen Ursprung, insoweit ich nicht mit ihr zusammenfalle – mein Ursprung verweigert mir jeden Zugang zu meiner Abstammung. Sie gibt mir eine Möglichkeit zur Abstammung, zu der ich aus Prinzip nicht zurückgehen kann. Der Ursprung bezeichnet also auch die Unmöglichkeit für mich, zu meiner eigenen Abstammung Zugang zu erhalten. Das Unmögliche erscheint in der Abschottung meiner Abstammung vor dem Ursprung. Das, was mir jede Möglichkeit raubt, vollendet dies nur, indem es mir das Unmögliche aufzeigt: zunächst die Unmöglichkeit, selbst bis zum Ur45 https://doi.org/10.5771/9783495808405 .
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sprung zurückzugehen, sodann die angestammte Unmöglichkeit, den Ursprung, von wo ich herkomme, kennenzulernen. Aus welchem Nichts (oder, was auf dasselbe hinausläuft, aus welchem vorherigen Sein) konnte ich ex nihilo hervorgehen? Die Unmöglichkeit, auf diese Frage zu antworten, ergibt sich – wie ein ontischer und abgeleiteter Hinweis – aus der Unmöglichkeit, zu meinem Ursprung durch die Herkunft Zutritt zu erhalten. Also gewährt mir meine Geburt von Anfang an Zugang zum Unmöglichen. Es bleibt uns, Zutritt zu erhalten – und sei es auch nur von ferne – zu der Unmöglichkeit der Unmöglichkeit, die wir weiter oben als Kennzeichen der Frage nach Gott festgelegt haben. Überschreitet dieser Fall, der die Unmöglichkeit für uns steigert, durch die Unmöglichkeit für Gott nicht entschieden das, was sich nähern könnte, sogar nach dem Modus der Gegen-Erfahrung, das für uns Mögliche? Auch wenn alle Vorsichtsmaßnahmen beibehalten werden, darf man dennoch nicht auf eine solche, sogar entfernte Annäherung schließen. Denn es findet sich ein Phänomen, das keine Unmöglichkeit davor zurückhält, möglich zu bleiben, so unmöglich es auch scheinen mag: die Gabe. Denn die Gabe wird gegeben, und zwar effektiv ohne irgendeine Voraussetzung und ohne die geringste Bedingung von Möglichkeit. Ich gebe nur, wenn ich ohne Grund gebe, und diese Abwesenheit von einem Grund (a fortiori von einer Ursache) qualifiziert eben meine Gabe als Gabe; denn wenn ich aus einem bestimmten Grund geben würde (oder aufgrund einer Ursache), würde ich den Austausch vollziehen, eine meistens löbliche Handlung und sicherlich unerlässlich für den Aufbau eines sozialen Miteinanders, die aber ihrerseits nur gibt, um im Gegenzug eine gerechte Entlohnung zu erhalten; am Schluss ist es nicht so wichtig, ob die Entlohnung real (eine andere Sache, eine Geldsumme) oder irreal (eine Ehre, eine Erkenntlichkeit, ein Dienst) sei – immer habe ich, oder besser gesagt, haben wir gute und manchmal gerechte Gründe, unsere Gaben auszutauschen, die gerade deswegen keine mehr sind, weil wir damit Handel treiben. Die Gabe beginnt dort, wo der Handel aufhört, das heißt wo die Gründe (und die Ursachen) für den Austausch verschwinden. Die Gabe beginnt, wenn ich gebe, ohne eine Gegengabe haben zu wollen, sogar wenn manchmal – nicht immer und auch nicht sehr häufig – eine Gegengabe kommt, mit derselben Abwesenheit von Gründen (und Ursachen), um meine eigene freigiebige Schenkung zu durchkreuzen; ich gebe für nichts, aber auch ohne Ansehen der Personen, und, wenn ich wirklich gebe, ohne nichts – nichts anderes als 46 https://doi.org/10.5771/9783495808405 .
Die Frage nach dem Unbedingten
mich selbst. Demnach ruht die unbedingte Irrealität der Gabe gänzlich auf der Absicht zu geben; nicht weil diese Absicht davon befreit ist, effektiv zu geben (der Glaube ohne die Werke ist gar nicht mehr der Glaube), sondern im Gegenteil, weil die Gabe ohne die Absicht, unbedingt unentgeltlich zu geben, keine mehr wäre, ebenso effektiv wie die Veränderung des Besitzes es gewesen wäre (geben ohne es zu wollen hebt die Gabe auf). Von welcher schwachen Bedingung aus könnte welche Unmöglichkeit die Gabe unmöglich machen, wenn sie nur ohne Grund gibt, nur ohne Gegenseitigkeit und ohne Realität, ohne irgendetwas anderes als sich selbst und ihre Absicht? Nichts bleibt ihr unmöglich, da sie nichts als sich selbst benötigt: bonum diffusivum sui (ein Gut, das sich selbst verteilt), oder anders gesagt donum index sui (die Gabe ist Anzeiger seiner selbst), nicht causa sui (aufgrund seiner selbst), sondern vielmehr gratia sui (dank seiner selbst) – die Gabe gibt aus Liebe zum Geben. Somit bleibt uns – sogar im Bereich des für uns Möglichen – das Unmögliche nicht unmöglich. Das Unbedingte, dieser wesentliche Bestandteil der Frage nach Gott, bleibt uns also nicht fremd. Es wohnt uns inne, ist uns noch vertrauter als wir uns selbst und es ist noch weiter in die Höhe erhoben als unser höchstes Streben. Deutsche Übersetzung von Dr. Gisela Seitschek (München)
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Ludger Honnefelder
»Gott« denken? Überlegungen im Anschluss an den Gottesbegriff des Johannes Duns Scotus
Jeder Versuch, über die Beziehung zwischen »Christentum und Philosophie« nachzudenken, muss an zentraler Stelle auf die Frage stoßen, ob und in welcher Weise wir »Gott« denken können. Denn wenn man unter »denken« die Wege versteht, über unsere Begriffe jene Klarheit zu gewinnen, ohne die wir ihre Bedeutung nicht verstehen und keine Aussagen treffen können und Philosophie die methodische Reflexion auf die Wege unseres Verstehens und Aussagens ist, dann entscheidet die Antwort der Philosophie auf die Frage, ob wir »Gott« denken können, nicht nur darüber, als was der christliche Glaube aus philosophischer Sicht zu verstehen ist. Von ihr hängt auch ab, ob es aus dieser Sicht möglich ist, den Glauben und das Geglaubte (gemäß der biblischen Forderung in 1 Petr 3,15) zu rechtfertigen, und das heißt im expliziten Sinn, Theologie zu betreiben. Unvermeidlich wurde die thematische Auseinandersetzung mit dieser Frage für Theologie wie für Philosophie mit dem Eintritt der christlichen Glaubensverkündigung in den Raum der durch Philosophie geprägten spätantiken Kultur. Denn »Jerusalem« kann – um die Kontrastierung durch Tertullian 1 aufzunehmen und ihr zugleich zu widersprechen – »Athen« nicht abweisen, ohne das vom Selbstverständnis des christlichen Glaubens geforderte »Verstehen des Geglaubten (intellectus fidei)« aufzugeben; und »Athen« kann nicht an »Jerusalem« vorbeigehen, ohne die Möglichkeit aufzugeben, den neu begegnenden religiösen Glaubens jener Prüfung des logon didonai auszusetzen, die unaufgebbar zum Selbstverständnis der Philosophie gehört. Jeder Versuch, die Kontroverse zwischen »Christentum und Philosophie« wieder aufzunehmen, wird deshalb nicht umhin können, auf die Geschichte dieser Kontroverse, vor allem in Gestalt der großen wirkmächtig gewordenen Lösungsversuche, Bezug zu nehmen, bliebe 1
Vgl. Tertullian, De praescriptione haereticorum 7, 9–13.
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»Gott« denken?
er doch sonst dem Verdacht ausgesetzt, hinter das in den früheren Lösungsversuchen erreichte Problemniveau zurückzufallen. Erst recht wird er nicht umhin kommen, die Gründe zu nennen, wenn er Fragestellungen, die tiefe Spuren im überkommenen Problemverständnis hinterlassen haben, für »überwunden« erklärt oder eine Reflexionsgeschichte, die ganz und gar von der Wahrheitsfrage bestimmt ist, für einen Irrtum hält. Die Erinnerung an exemplarische Lösungsversuche, »Gott« zu denken, ist deshalb nicht bloße historische Reminiszenz, sondern Teil der notwendigen Vergegenwärtigung jener Bedingungen und Grenzen, denen jeder Versuch, »Gott« zu denken, der Sache nach ausgesetzt ist. Wenige Lösungsversuche in der Geschichte der Beziehung von »Christentum und Philosophie« sind für eine solche Vergegenwärtigung so geeignet wie der des Johannes Duns Scotus. Sein Lösungsversuch gehört nicht nur in die Reihe der großen Entwürfe, mit denen die lateinischen Theologen des 13. Jahrhunderts auf die seit den Anfängen des Christentums wohl größte Herausforderung antworten, nämlich Theologie zu begründen als den Versuch, den Wahrheitsanspruch des christlichen Glaubens im Denken angesichts des Anspruchs von Wissenschaft zu verantworten, und zwar in einem Denken, das sich als Philosophie begreift. Es ist der scotische Entwurf, an dem sich am entschiedensten zeigt, dass es die Sache der christlichen Theologie ist, die es unverzichtbar macht, nicht nur Kritik an dem (im 13. Jahrhundert wieder bekannt gewordenen) Denken der heidnischen philosophi zu üben, sondern mit allem denkerischen Aufwand, über den die Philosophie verfügt, die Möglichkeit zu prüfen und auszuweisen, ob und wie theologisch überhaupt gedacht und gesprochen werden kann. Denn es ist der Franziskaner Johannes Duns Scotus (1265/66 – 1308), der die Auseinandersetzung mit den philosophi eine Generation nach Thomas von Aquin erneut in Angriff nimmt, und dies – wie schon der biographische Kontext ausweist – im dezidierten Wissen um das unaufgebbare Proprium der christlichen Theologie. 2 Als Jünger des Franziskus weiß er, dass der christliche Glaube eine Geschichte bekennt, deren schöpferischer Ursprung in der unableitbaren Freiheit eines Gottes liegt, der die Liebe (caritas) ist, und deren Ziel das von Gott geschenkte Heil der Menschen ist, das sich in Form einer Praxis Zum biografischen Kontext vgl. L. Honnefelder, Johannes Duns Scotus, München 2005, 11–22.
2
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Ludger Honnefelder
realisiert, deren Vollgestalt wiederum Liebe ist. Keiner der mittelalterlichen Theologen hat die Inkommensurabilität der Transzendenz Gottes, seine in der unableitbaren Freiheit seiner Liebe sich äußernde Souveränität, die in der radikalen Ungeschuldetheit seiner Gnade liegende Kontingenz seines Handelns ad extra, die Absolutheit der Prädestination Christi und die im Handeln seiner Mutter sich manifestierende Gnade Gottes radikaler herausgearbeitet und als Zentrum der Theologie betrachtet als er. Umso mehr muss es interessieren, warum gerade er, der die Gegenfolie zur heidnischen Philosophie in einer solchen Radikalität aufspannt, sich nicht nur auf die Auseinandersetzung mit den philosophi einlässt – was im Sinn einer radikalen Kritik verständlich wäre –, sondern ihre Ansätze aufnimmt und kritisch so über sich hinausführt, dass der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, der Gott des Jesus von Nazareth als der alles umfassende und ermöglichende Ursprung gedacht werden kann und muss. Hieße doch alles andere, den schlechthin universalen und unbedingten Anspruch aufzugeben, der einem Gott zukommt, der als der eine Gott der Schöpfung und der Erlösung zugleich als Wille und Vernunft, Intelligibilität und Freiheit gedacht werden muss. Will man anhand des scotischen Denkens Bedingungen, Grenzen und Möglichkeiten des Versuchs verdeutlichen, »Gott« zu denken, genügt es, die zentralen Stücke seines Denkens anhand ausgewählter Texte zu vergegenwärtigen, lassen sie doch bereits erkennen, ob und inwieweit die von ihm und anderen Autoren vorgelegte »Metaphysik« als eine »zu überwindende« Sichtweise oder nicht vielmehr als notwendige Hermeneutik zu betrachten ist, um »Gott« denken zu können.
I. Bezeichnend ist bereits die Fragestellung, die Scotus zur denkerischen Auseinandersetzung mit den philosophi veranlasst. Seiner systematischen Theologie in Form einer in Quästionen gegliederten Kommentierung der Sentenzen stellt er nämlich eigens einen Prolog voran, der in einer nie zuvor begegnenden Ausführlichkeit die Frage nach der Möglichkeit von Theologie behandelt. Er beginnt mit der Vorfrage, ob und wenn ja, warum der Mensch in seiner gegenwärtigen Verfassung überhaupt einer den Rahmen seines natürlichen Erkenntnisvermögens übersteigenden Offenbarung bedarf. Denn wenn die philosophi, wie 50 https://doi.org/10.5771/9783495808405 .
»Gott« denken?
etwa Avicenna, recht haben, dass dem Menschen der Natur seines Erkenntnisvermögens nach das Seiende als Seiendes in seiner ganzen Fülle einschließlich des göttlich Seienden natürlicherweise erschlossen ist, bedarf es keiner Offenbarung. Denn Gott ist nach dieser Annahme für den Menschen in einem zur Erreichung seines Ziels ausreichenden Maß natürlicherweise erkennbar. 3 Eine mit dem Seienden als Seienden unbegrenzt koextensive Metaphysik macht Theologie, die sich auf Offenbarung stützt, überflüssig. Angesichts dieser Alternative kann Theologie nicht ex creditis ad creditum 4 argumentieren und sich nicht auf »persuasiones« beschränken; sie muss die controversia inter philosophos et theologos 5 aufnehmen. Dazu aber ist mit den philosophi darüber zu streiten, welches Maß an Erkenntnis der menschlichen Vernunft zuzutrauen ist. Denn kein philosophisches Argument zeigt, so Scotus, dass wir Gott natürlicherweise so erkennen können, wie es zur Erreichung unseres Zieles notwendig wäre. 6 Und wenn Avicenna zu sagen scheint, dass wir das »Seiende (ens)« als das erste Objekt unserer Vernunft, d. h. als den positiv alles umfassenden Begriff (secundum totam indifferentiam entis ad sensibilia et insensibilia) 7 erfassen können, dann hat er eine Offenbarungsannahme in seine Philosophie eingeschmuggelt. Es ist der den Menschen kennzeichnende status viatoris, der es nicht zulässt, von der Metaphysik anzunehmen, sie könne im Rahmen der natürlichen Erkenntnis die immateriellen Substanzen in ihrer Besonderheit erkennen. Als ein ad extra aus ursprünglicher Freiheit schaffender Gott, wie ihn die Offenbarung beschreibt, 8 ist Gott zudem als ein »(frei) wollender Gegenstand (obiectum voluntarium)« 9 zu denken, der sich nicht am Leitfaden einer von der kontingenten Faktizität ausgehenden Kausalität erkennen lässt. Es ist für Scotus nicht allein die epistemische und die kosmologische Transzendenz, die der Erkennbarkeit Gottes für den Vgl. Ord. prol. p. 1 q.un. n. 24, ed. Vat. I 15; vgl. dazu und zu dem Folgenden ausführlicher L. Honnefelder, Ens inquantum ens. Der Begriff des Seienden als solchen als Gegenstand der Metaphysik nach der Lehre des Johannes Duns Scotus, 2.A. Münster 1989, 55–98; Honnefelder, Johannes Duns Scotus, 29 f. 4 Ord. ebd. n. 12, ed. Vat. I 9. 5 Ord. ebd. n. 5, ed. Vat. I 4. 6 Vgl. Quodl. q. 14 n. 10, ed. Viv. XXVI 39 (= Anhang Text 1). 7 Ord. I prol. p. 1 q.un. n. 33, ed. Vat. I 19 f. 8 Vgl. Quodl. q. 14 n. 16, ed. Viv. XXVI 54 (= Anhang Text 2). 9 Vgl. Ord. I d. 3 p. 1 q. 1–2 n. 57, ed. Vat. I 39. 3
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Menschen Grenzen setzt, sondern die in Gott selbst liegende Transzendenz seiner unableitbaren Freiheit. Dem Offenbarung erübrigenden Vernunftenthusiasmus Avicennas könnte man nun – so Scotus – die Meinung des Aristoteles entgegenhalten, der als erstes Objekt unseres Intellekts die sinnliche Washeit, genauer gesagt, die von den Sinnesdingen abstrahierbare Washeit (quiditas abstrahibilis a sensibilibus) 10 ausmacht. Doch auch diese Position kann für den Theologen Scotus nicht das letzte Wort sein. Denn wenn mit dem ersten Objekt des Verstandes der Umkreis dessen umschrieben ist, was natürlicherweise in den menschlichen Geist fallen kann, nämlich das, was durch das Zusammenwirken der beiden für das Zustandekommen von Erkenntnis notwendigen Teilursachen, nämlich den tätigen Intellekt und das sinnliche Vorstellungsbild (phantasma) des Objekts, erkannt werden kann und dieses natürlich Erkannte nicht mehr ist als die Washeit der Sinnesdinge, wäre Offenbarung unmöglich, es sei denn, sie würde als Werk einer speziellen Erleuchtung, d. h. als raptus 11 verstanden. Das aber widerspricht nach Scotus dem Selbstverständnis der Offenbarung, denn »sie ergeht nach dem allgemein geltenden Gesetz (d. h. nach der von Gott gesetzten gegenwärtigen natürlichen Verfassung menschlichen Erkennens) nur in solchen (komplexen Erkenntnisinhalten), deren Termini naturhaft von uns erkannt werden« 12. Denn wenn der hinnehmende Intellekt (intellectus possibilis) des Menschen einen Erkenntnisakt nach Aristoteles nur auf natürliche Weise (naturaliter), auf gezwungene Weise (violenter) oder auf unbestimmte Weise (indeterminate) aufzunehmen vermag, 13 dann kann, so Scotus, von einer »übernatürlichen Weise (supernaturaliter)« nur in Bezug auf das zur Erkenntnis, d. h. zum Glauben bewegende Objekt, d. h. den deus relevans die Rede sein. Denn der deus relevans gehört nicht zu den Objekten, die als solche den menschlichen Intellekt zur Erkenntnis bewegen. Würde aber die Offenbarung im Blick auf den aufnehmenden Verstand nicht »natürlich (naturaliter)« geschehen, bliebe sie unverstanden. Für die Rezeptivität der menschlichen Vernunft trifft nach Scotus die aristotelische These zu, dass die Seele alles 10 11 12 13
Vgl. Anm. 7. Ord. I prol. p. 1 q.un. n. 61, ed. Vat. I 37 f. Ord. prol. p. 3 q. 1–3 n. 205, ed. Vat. I 138 (= Anhang Text 3). Vgl. Ord. I prol. p. 1 q.un. n. 57, ed. Vat. I 35.
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ist, oder genauer gesagt, dass der tätige Intellekt »alles zu machen (omnia facere)« 14 vermag, was die (Teil-)Ursächlichkeit der Seele selbst betrifft, nicht aber was die Ursächlichkeit des die Seele aktiv zur Erkenntnis bewegenden Objekts betrifft. Hinsichtlich der erkennbaren Inhalte muss deshalb unterschieden werden zwischen dem begrenzten Bereich dessen, was die menschliche Vernunft aufgrund der sie natürlicherweise aktiv bewegenden Ursachen »berühren (attingere)« kann, und dem weitaus umfassenderen Bereich dessen, wozu sie ihrer Rezeptivität nach »hinneigt (inclinatur)« 15, oder anders ausgedrückt, dem posse moveri und dem posse recipere. Zur natürlichen Rezeptivität der Vernunft gehört die Erschlossenheit der Sprache, in der sie versteht und begreift. Was dies für das Verständnis der Offenbarung in Form des Glaubens heißt, verdeutlicht Scotus an Glaubenssätzen wie denen, dass Gott allmächtig oder dass er dreifaltig ist (deus est trinus). 16 Auf übernatürliche Weise, nämlich durch den Glauben an den deus relevans, wird die Wahrheit des Satzes erkannt, nicht aber die Kenntnis der unverbundenen Termini. Wäre deren Kenntnis nicht schon vorweg zur Offenbarung bekannt, könnte auch die geoffenbarte Wahrheit des betreffenden Glaubenssatzes nicht erfasst werden. Der Hörer des Wortes muss über die Sprache verfügen, in der Gott auf übernatürliche Weise spricht. Das Verhältnis von Offenbarung und menschlichem Erkenntnisvermögen ist für Scotus ein Verhältnis von Natur und Gnade und dafür gilt, dass die Gnade die Natur voraussetzt und vollendet, nicht aber durch besonderen Eingriff verändert. Am deutlichsten macht dies Scotus in Quodl. q. 7 in Bezug auf dasjenige Proprium Gottes, das die Souveränität und Inkommensurabilität des Gottes Abrahams, Isaaks und Jakobs am stärksten zum Ausdruck bringt, nämlich die omnipotentia dei. Dass Gottes Macht unendlich sein muss, kann auch der natürliche Verstand erkennen. Dass er diese Macht in jener Weise besitzt, von der die Offenbarung spricht, nämlich eine jede Wirkung innerhalb des Schaffbaren (creabile) unmittelbar, d. h. ohne jede vermittelnde Ursache hervorbringen zu können, ist eine Wahrheit, die der Glaube der Offenbarung entnimmt. Einer ersten Ursache (prima causa) wäre sie argumentativ nicht zu14 15 16
Vgl. Ord. ebd. n. 72, ed. Vat. I 44. Vgl. Ord. ebd. n. 90, ed. Vat. I 54. Vgl. Ord. ebd. n. 44 und n. 64, ed. Vat. I 26 und 39 f.
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zudenken, was erneut deutlich macht, dass der Begriff der ersten Ursache nicht der Begriff Gottes ist. »Man soll Gott nicht nach der Weise des Averroes denken. (Noli mensurare deum secundum Averroem.)« 17. Denn der biblische Gott ist nicht das göttlich Seiende in der nezessitaristischen Welt der heidnischen philosophi. Doch dies ändert nichts daran, dass dem Glaubenden die einfachen Begriffe, in denen die biblischen Wahrheiten sich ausdrücken, natürlicherweise bekannt sein müssen. »Das Wissen des Glaubens bietet nämlich keinen einfachen Begriff von Gott, sondern macht nur geneigt dazu, gewissen zusammengesetzten (Sätzen bzw. Begriffen) zuzustimmen, die keine Evidenz aufgrund der erfassten einfachen Termini haben. In Konsequenz hieraus erhält man durch den Glauben kein einfaches Erfassen, das jeden einfachen Begriff des Metaphysikers überschreitet.« 18 Begründet wird dies von Scotus mit einem bezeichnenden Gedankenexperiment: Ein ungläubiger Metaphysiker, der den Satz, dass Gott im erwähnten Sinn allmächtig ist, verneint, würde einem gläubigen Metaphysiker, der ihn bejaht, nicht widersprechen, »hätten sie nicht ein und denselben Begriff hinsichtlich dessen, in dem sie einander widersprechen. Denn sie widersprechen sich nicht hinsichtlich des Ausdrucks (nomen), sondern hinsichtlich der Bedeutung (intellectus)«. 19 Im Blick auf die Möglichkeit der Theologie als Wissenschaft erscheint das bislang referierte Resultat der scotischen Analyse desolat: Gott in seiner Göttlichkeit (deus sub ratione dei) 20 kann nur Gegenstand einer Theologie sein, wie sie ein göttlicher Verstand hätte (theologia in se). Und diese Theologie wäre (mit Ausnahme der Diskursivität) Wissenschaft in dem Idealsinn der Zweiten Analytiken des Aristoteles. Die uns mögliche Theologie (theologia nostra) vermag weder den göttlichen Gott zu erfassen noch das Seiende als solches in der Weise zu erfassen, dass mit dieser Erkenntnis auch der göttliche Gott erfasst wäre. Sie vermag von ihrem Gegenstand nur das zu wissen, was die in der Hl. Schrift niedergelegte Offenbarung von ihm zu erkennen gibt. 21 Das aber scheint kein Wissen im Sinn von Wissenschaft zu erMet. V q. 2 n. 42, Opera Philosophica III 425. Quodl. q. 7 n. 11,ed. Viv. XXV 175 (= Anhang Text 4). 19 Ebd. (= Anhang Text 5). 20 Ord. prol. p. 3 q. 1–3 n. 168, ed. Vat. I 111: deum sub ratione dei non cognoscimus; vgl. auch Quodl. q. 14 n. 10, ed. Viv. XXVI 39 (= Anhang Text 1). 21 Ord. prol. p. 3 q. 1–3 n. 168, ed. Vat. I 111. 17 18
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lauben, selbst wenn man wie Aristoteles in der Nikomachischen Ethik VI Wissenschaft im weiten Sinn versteht, nämlich als den Habitus, »in bestimmter Weise die Wahrheit zu erkennen« 22. Denn in bestimmter Weise die Wahrheit des geglaubten Satzes »Gott ist dreifaltig« zu erfassen, setzt nach dem Gesagten voraus, dass wir einen Begriff für »Gott« einsetzen können. Was aber soll der Begriff sein, auf den die geoffenbarten und geglaubten Aussagen über Gott bezogen werden können? Den einzigen Weg, die Möglichkeit von Theologie zu sichern, sieht Scotus darin, auf den Begriff von Gott zurückzugreifen, den wir mit Hilfe unser natürlichen Fähigkeiten erlangen können: »Der Beweis dieses (Satzes, dass Gott allmächtig ist) hängt von der Lösung der Frage ab, auf welche Weise Gott vom Erdenpilger erkennbar ist. Aber jetzt kann (dies) in der Kürze auf folgende Weise gezeigt werden: Der Erdenpilger, der über einen einfachen und vollkommensten Begriff verfügt, zu dem der Mensch aus natürlichen Fähigkeiten gelangen kann, überschreitet nicht das vollkommenste und einfache Wissen, das der Metaphysiker von Gott gewinnen kann.« 23 Dieser vergleichsweise vollkommenste Begriff, den die Metaphysik von Gott zu gewinnen vermag, kann nur im Ausgang von der Tatsache gewonnen werden, dass der menschliche Intellekt das »Seiende als ein in einem Akt (der Abstraktion) erfassbaren Inhalt (ut est quid intelligibile uno actu)« 24 zu erfassen vermag, woraus freilich »nicht die Annahme folgt, dass Seiendes als das erste Objekt anzunehmen ist, das natürlicherweise vom menschlichen Intellekt berührbar ist; denn in diesem Sinn wäre Seiendes nur erstes Objekt, wenn es als das in jedem Objekt durch sich Enthaltene erkannt würde (non tamen potest ens poni primum obiectum naturaliter attingibile, quia est primum obiectum ut includitur in omnibus per se obiectis)« 25, was auf die Annahme der philosophi hinausliefe, dass mit dem Begriff des Seienden auch die immateriellen Seienden erfasst wären. Da die uns mögliche Theologie ihren Gegenstand weder durch einen Begriff des göttlichen Gottes zu erfassen vermag, noch einen solchen Begriff der uns möglichen Metaphysik entnehmen kann, kann 22 23 24 25
Ord. prol. p. 4 1.1–2 n. 212, ed. Vat. I 145 f. Quodl. q. 7, n. 11, ed. Viv. XXV 175 (= Anhang Text 6). Ord. I d. 3 p. 1 q. 3 n. 123, ed. Vat. III 76. Ord. prol. p. 1 q.un. n. 91, ed. Vat. I 55.
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sie nur den vergleichsweise vollkommensten Begriff als Explikation des in den Offenbarungsaussagen gebrauchten Namens »Gott« aufgreifen, den die uns mögliche Metaphysik erreicht – und das ist der Begriff des »unendlichen Seienden (ens infinitum)«. 26 Es ist dieser Begriff, den sie als Stellvertreter ihres eigentlichen Subjektbegriffs verwenden kann, wenn sie diesem Subjekt die Aussagen der Offenbarung, wie die der Dreifaltigkeit oder der Allmacht Gottes, zuspricht. Weil unserer Theologie die unmittelbare Erkenntnis Gottes in seiner Göttlichkeit verwehrt ist, bedarf es nach Scotus also – um die Terminologie Platons zu gebrauchen – einer »zweiten Fahrt (deuteros plous: Phaedo 99c)«, um die Sätze der Offenbarung theologisch so auszulegen, dass wir »in bestimmter Weise (determinate)« 27 ihre Wahrheit erkennen. Um dies zu leisten, ist die Theologie bei der Suche nach dem geeigneten Stellvertreter des ihr verwehrten Subjektbegriffs auf die uns mögliche Metaphysik verwiesen, nicht um diesem Begriff – wie Scotus betont – ihre Aussagen zu entnehmen, sondern um ihm die Aussagen der Offenbarung zuzusprechen. 28 Umso mehr aber ist zu fragen, wie denn die uns mögliche Metaphysik Gott als »unendliches Seiendes« erfasst und was damit gemeint ist.
II. Der Angelpunkt ist für Scotus die Tatsache, dass der Intellekt des Erdenpilgers ungeachtet der Bindung an den Ausgangspunkt der Sinneserfahrung den Begriff »Seiendes« in einem Akt der abstraktiven Erkenntnis zu erfassen vermag und zwar als einen Begriff, der die kategorialen Begriffe »übersteigt (transcendit)« und dessen Bedeutung univok von Gott und den Kreaturen wie auch von Substanz und Akzidens ausgesagt werden kann. 29 Es gibt wohl keine These in der mittelalterlichen Metaphysik, die einen solch innovativen Charakter hat wie diese und die zugleich so missverstanden worden ist. Vgl. Ord. prol. p. 4 q. 1–2 n. 214, ed. Vat. I 146 f.; vgl. auch Quaestio de cogn. Dei, ed. Harris, in: ders., Duns Scotus, Bd. 2 Appendix, Oxford 1927, Ndr. New York 1959, 384. 27 Vgl. Anm. 22. 28 Vgl. Anm. 26. 29 Vgl. Ord.I d. 8 p. 1 q. 3 nn. 113–115, ed. Vat. IV 205 ff. (= Anhang Text 11); vgl. dazu und zum Folgenden ausführlicher: L. Honnefelder, Ens inquantum ens (Anm. 3), 268– 395; ders., Johannes Duns Scotus (Anm. 3), 67–71. 26
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Das Missverständnis beginnt mit der These von der Univozität der Bedeutung der transkategorialen Begriffe. An ihr hängt nach Scotus die Möglichkeit der Theologie. Würden die Theologen davon sprechen, dass der göttliche Logos aus dem göttlichen Erkennen und der Heilige Geist aus dem göttlichen Wollen hervorgehe, wie sie auch von Gott als der Liebe sprechen, dabei aber äquivoke Begriffe verwenden, dann verlöre ihre Rede, so Scotus in Lect. I d. 3 p. 1 q. 1–2 n. 113, die Grundlage ihrer Ernsthaftigkeit. 30 Für die hier in Rede stehende Univozität eines Begriffs genügt freilich eine Einheit der Bedeutung, die im Fall der gleichzeitigen Bejahung und Verneinung eines Prädikats von einem Subjekt einen Widerspruch hervorruft bzw. für den Gebrauch des Begriffs als Mittelterm in einem Syllogismus notwendig ist. 31 Die Einheit des Begriffs bzw. Terms wird also streng auf die Einheit der Bedeutung beschränkt und von der bis dahin üblichen Bindung der univoken Bedeutungseinheit an eine Sacheinheit gelöst, wie dies die Tradition von Aristoteles über Boethius bis Thomas v. A. für die Gattungs- und Artbegriffe annimmt. 32 So verstanden ist die Univozität der transkategorialen Begriffe nicht das Gegenteil der Analogie, sondern deren unabdingbare Voraussetzung. Da die Analogie eine reale Relation – Thomas versteht sie als attributio ad unum im Sinn einer Beziehung unius ad alterum 33 – voraussetzt und von einer Relation nur unter dem Gesichtspunkt eines ihr logisch vorausliegenden Fundaments gesprochen werden kann, ist für die Rede von Gott mit Hilfe transkategorialer Begriffe die skizzierte Einheit der Bedeutung unabdingbar. Was dies ontologisch bedeutet, zeigt erst die Analyse unserer begrifflichen Erfassung von »Welt«, bei der sich Scotus auf die These Avicennas beruft, »Seiendes (ens)« oder »Ding (res)« seien das »Ersterkannte (primum cognitum)«. 34 Die Analyse unserer welterfassenden Begriffe, so erläutert Scotus, zeigt nämlich, dass in allen Begriffen ein Moment miterfasst wird, das sich selbst weiterer »Auflösung« entzieht und nichts als »Seiend« zum Inhalt hat. Es ist das notissimum, das aber Lect. I d. 3. p. 1 q. 1–2, ed. Vat. XVI 266: nisi ens importaret unam intentionem, univocam, periret theologia. 31 Vgl. Ord. I d. 3 p. 1. q. 1–2 n. 26, ed Vat. III 18 (= Anhang Text 7). 32 Vgl. dazu Honnefelder, Ens inquantum ens (Anm. 3), 312, 334 f. 33 Vgl. Thomas von Aquin, Summa contra Gentiles I, 34. 34 Vgl. Met. I prol. nn. 17–18, Opera Philosophica III 8–9 (= Anhang Text 8). 30
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gleichwohl das Verborgenste ist, weil dessen Gehalt als »schlechthin einfach (simpliciter simplex)« gedacht werden muss und »durch nichts noch Bekannteres expliziert werden kann (per nihil notius explicatur)«. Alles wird als seiend erfasst, »seiend« als solches kann aber nicht noch einmal ›als etwas‹ erkannt werden. Will man den Sinn (ratio) des so erkannten Begriffs »Seiend« erfassen, ist ein Blick auf die scotische Epistemologie notwendig, der gemäß ein Begriff das Resultat eines Zusammenwirkens (concurrere) der beiden Teilursachen Gegenstand und Intellekt darstellt, 35 was bei einfachen Begriffen auf eine – wie W. Hoeres es in Anlehnung an die Phänomenologie genannt hat – »blickweisen« bzw. »schlicht hinnehmenden Erkenntnis« 36 hinausläuft. In besonderer Weise gilt dies für einen Begriff, der wie »Seiendes« einen schlechthin einfachen Gehalt hat; denn er kann nur ganz oder gar nicht erfasst werden. 37 Dabei betont Scotus, dass der Begriff »Seiend« nicht der Begriff eines Gegenstandes ist, ein conceptus proprius, dem in Bezug auf das zur Erkenntnis bewegende Objekt ein eigener ontologischer Gehalt (wie etwa die Angabe der Art) zukommt. Während nach Scotus für conceptus proprii ein noetisch-noematischer Parallelismus von Begriff und formalem Gehalt gilt, trifft dies für den transkategorialen, schlechthin einfachen Begriff »Seiend« nicht mehr zu. Denn er erfasst die Bestimmung »Seiend« ohne deren näher bestimmenden Modus, den Scotus als Modus der Intensität versteht. Insofern ist er ein »unvollkommener Begriff (conceptus imperfectus)« 38. Doch ist er durchaus ein »realer Begriff (conceptus realis)« 39, was nach der scotischen Epistemologie heißt, dass er von den realen entia als Teilursache, nicht aber von deren Form oder Natur hervorgerufen wird. Schon dies macht deutlich, dass der Begriff »Seiend« als solcher nicht – wie Gilson (wohl aufgrund der andersartigen thomanischen Epistemologie) irrtümlich annahm 40 – ein Begriff in der Linie des Begriffs der Artnatur (natura Vgl. Ord. I d. 3 p. 113 q. 2 nn. 494-503, Vat. III 292–298; vgl. dazu ausführlicher Honnefelder, Ens inquantum ens (Anm. 3), 175–185. 36 W. Hoeres, Der Wille als reine Vollkommenheit nach Duns Scotus, München 1962, 17 ff. 37 Vgl. Met. VI q. 3 n. 33, Opera Philosophica IV 68. 38 Vgl. Lect. I d. 8 p. 1 q. 3 n. 125, ed. Vat. XVII 44 f.; vgl. dazu L. Honnefelder, Ens inquantum ens (Anm. 3), 376–382. 39 Vgl. Ord. I d. 3 p. 1 q. 1–2 n. 35, ed. Vat. III 21 f. 40 Vgl. L. Honnefelder, Ens inquantum ens (Anm. 3), 426 ff.; ders., »Étienne Gilson et 35
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communis) ist. Das bei der Verdeutlichung von »Seiend« als Seiendes benutzte »in quantum« meint nach Scotus ja gerade, dass mit dem Begriff des »Seienden als Seienden (ens in quantum ens)« nichts erfasst wird als das schlechthin einfache Moment »Seiend«. 41 Dass wir »Seiendes« als solches, d. h. in seinem schlechthin einfachen Gehalt ohne Miterkenntnis einer weiteren Bestimmung erkennen, können wir nach Scotus unserer Erfahrung entnehmen. Unter den Argumenten für eine transkategoriale Univozität des Begriffs »Seiend« führt Scotus an erster Stelle den Hinweis an, dass wir dann, wenn wir Gott und das Geschöpf ein »Seiendes« nennen, durchaus im Zweifel hinsichtlich der Frage sein können, mit welcher Art von Seiendem wir im einen oder anderen Fall zu tun haben, ohne dass dies die Sicherheit (certitudo) berührt, mit der wir von beiden Größen erkennen, dass sie »Seiend« sind. Ein Begriff, über dessen Gehalt wir sicher sind, muss aber von dem Gehalt des Begriffs verschieden sein, über den wir uns im Zweifel befinden. 42 Kurz gesagt, »Seiend« bringt die grundlegende Sicherheit (certitudo) zum Ausdruck, dass unsere Erkenntnis sich auf »Seiendes« und nicht auf Nichts bezieht. Wenn Scotus sich bei der Freilegung dieses grundlegenden Moments mit Avicenna an die Arbor Porphyriana, d. h. an das Schema von Gattung, Art und Differenz hält, dann nur, um es an der maßgeblichen Stelle hinter sich zu lassen. Das in allen Begriffen miterkannte »Seiend« ist in Bezug auf alle washeitlichen Begriffe zwar als ein letztes unbestimmtes Was erfasst. 43 Doch bezeichnet es zugleich auch jene »letzten Differenzen«, durch die ein unbestimmtes Was zu einem Seienden konkreter Natur bestimmt wird, was bei einem generisch aufgefassten Was aufgrund des mit dem begrifflichen Gattung-Art-Differenz-Schemas verbundenen Ausschließungscharakters nicht möglich wäre. Möglich ist es deshalb, weil die univoke Einheit der Bedeutung von »Seiend« es zulässt, auch die letzten Differenzen »Seiend« zu nennen, sofern sie als Bestimmungen eines Seienden washeitlicher Art begegnen. Wie diese Zweiheit der Prädikationsweise von »Seiend«
Jean Duns Scot. ›L’Etre et l’essence‹ et l’histoire de la métaphysique«, in: O. Boulnois et al. (Hgg.), Duns Scot à Paris, Turnhout 2004, 179–194. 41 Vgl. Met. I q. 1 n. 28, Opera Philosophica III 41. 42 Vgl. Ord. I d. 3 p. 1 q. 1–2 nn. 27–29, ed. Vat. III 18 f. (= Anhang Text 9). 43 Vgl. Ord. I d. 3 p. 1 q. 3 n. 133, ed. Vat. III 82 f.; vgl. dazu näher L. Honnefelder, Ens inquantum ens (Anm. 3), 151–160.
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deutlich macht, ist die schlechthinnige Gemeinsamkeit, in der »Seiend« nach Scotus prädizierbar ist, eine Gemeinsamkeit ganz eigener Art. 44 Für wie innovativ und zugleich unabdingbar, und zwar aus theologischen wie aus philosophischen Gründen Scotus die skizzierte Freilegung des Sinns hält, den »Seiend« als der von allem schlechthin gemeinsam prädizierbare Begriff besitzt, zeigt die ausführliche Argumentation, mit der er in Ord. I d. 3 den Einwand widerlegt, mit seiner Deutung aus »Seiend« eine Gattung zu machen, 45 und in Ord. I d. 8 darlegt, 46 dass die Deutung keineswegs Gottes Transzendenz ihrer Inkommensurabilität beraubt. Zur Widerlegung dieses Einwands dreht Scotus den Spieß um und zeigt, dass die These von der vielfältigen Bedeutung von »Seiend«, zu der Aristoteles angesichts der Aporie des Versuchs, »Seiend« in der Art einer Gattung zu verstehen, seine Zuflucht nimmt, notwendigerweise eine Einheit der Bedeutung voraussetzt, die der Beziehung der Relate voraufgeht. Es ist die »übergroße Gemeinsamkeit (nimia communitas)« 47, die den Differenzierungen nach Ursache und Verursachtem, Grund und Folge, quid und quale, Subjekt und Prädikat, Gattung und Differenz logisch voraufgeht, die »Seiend« dem Gattungseinwand nicht nur entzieht, sondern dessen Formulierung allererst möglich macht. Und keineswegs folgt auch aus der transkategorialen Einheit der Bedeutung von »Seiend« die These der Eleaten, alles sei Eines; denn die hier in Rede stehende Einheit der Bedeutung hebt die Vielfalt der Seienden nicht auf; vielmehr ist sie die Voraussetzung, von einer Vielfalt überhaupt sprechen zu können, die nicht völlige Heterogenität ist. Die Erkenntnis von »Seiend« ist die Bedingung der Möglichkeit, dass sich unser Verstand auf eine unité de l’objet de pensée bezieht. Auf den Einwand, dass die These von der gemeinsamen Prädikation des transkategorialen Begriffs »Seiend« von Gott und Geschöpf (wie auch von Substanz und Akzidens) die Transzendenz und die Andersartigkeit Gottes zerstören, antwortet Scotus mit der Herausarbeitung der völligen Unbestimmtheit (indifferentia) des Gehalts des Begriffs »Seiend« in Bezug auf seine Aussagbarkeit von Gott und
44 45 46 47
Vgl. Ord. ebd. n. 151, ed. Vat. III 93 f. (= Anhang Text 10). Vgl. Ord. ebd. nn. 152–166, ed. Vat. III 94–103. Vgl. Ord. I d. 8 p. 1 q. 3 nn. 95–156, ed. Vat. IV 198–229. Vgl. Ord. I d. 3 p. 1 q. 3 n. 158, ed. Vat. III 95 ff.
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Geschöpf. 48 Denn »Seiend« gehe nicht nur der »Einteilung« in die Kategorien, sondern auch der in die disjunktive Bestimmung »endlichunendlich« voraus; seine Gemeinsamkeit hat also nicht nur transkategorialen, sondern transzendentalen Sinn, wobei transzendental (hier in der Bedeutung von transcendens) nicht nur bedeutet, die Kategorien, d. h. jede Gattung zu übersteigen, sondern auch keine Gattung über sich zu haben und insofern »außerhalb jeder Gattung (extra omne genus)« zu sein. Eine solche Gemeinsamkeit schließt keineswegs aus, dass die Bezugsglieder (wie im Fall von Gott und Geschöpf) »ursprünglich verschieden (primo diversa)« 49 sind. Scotus verdeutlicht dies an dem Einwand, dass Gott und Geschöpf einen kontradiktorischen Gegensatz bilden und von zwei kontradiktorisch einander entgegengesetzten Größen kein Begriff ausgesagt werden könne, der weder das eine noch das andere bezeichnet. Das Gegenteil Gottes, so entgegnet Scotus, ist nicht die Kreatur, sondern das »Nichts (nihil)« ebenso wie im Fall der Kreatur. 50 Jeder solche Gegensatz setzt einen gemeinsamen Begriff voraus, der als solcher weder das eine noch das andere besagt und in Bezug auf den allererst von einem Gegensatz (oder welcher Differenz auch immer) gesprochen werden kann. Das Gleiche gilt auch für die Rede von Andersheit (alietas) oder Verschiedenheit (diversitas). 51 Wie aber ist die »übergroße Gemeinsamkeit« von »Seiend« zu verstehen, wenn sie nicht die Gemeinsamkeit einer Gattung ist, aber doch mehr sein soll als eine communitas nominis? Es kann kein Zweifel daran bestehen, so Scotus, dass Gott und Geschöpf als »in der Realität ursprünglich verschieden sind, weil sie in keiner Realität übereinkommen (sunt […] primo diversa in realitate quia in nulla realitate conveniunt)« 52, so dass in der Tat zu fragen ist, wie es einen »gemeinsamen Begriff ohne Übereinkunft in der Sache oder in der Wirklichkeit (conceptus communis sine convenientia in re vel in realitate)« geben kann. Die Lösung liegt für Scotus in der bereits erwähnten Annahme, dass die »Seiendheit« oder Realität als solche erfasst werden kann, ohne den konkret bestimmenden Modus mit zu erfassen, und dass dies
48 49 50 51 52
Vgl. Anm. 29. Ord. I d. 8 p. 1 q. 3 n. 82, ed. Vat. IV 190 (= Anhang Text 12). Vgl. Ord. ebd. n. 80, ed. Vat. IV 189 f. Vgl. Ord. ebd. n. 84, ed. Vat. IV 192. Vgl. Anm. 49.
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möglich ist, wenn ich die »Seiendheit« als eine intensive Größe verstehe, die durch einen jeweiligen inneren Modus näher bestimmt ist. 53 Denn unter dieser Annahme kann zwischen der »Seiendheit« und dem inneren Modus unterschieden werden, ohne damit eine Zusammensetzung in der Sache unterstellen zu müssen. Der Begriff der »Seiendheit« ist als Begriff »negativ unendlich« 54, weil er als solcher weder Endlichkeit noch Unendlichkeit impliziert.
III. Damit stößt die formale Bestimmung des Sinns von »Seiend« nach Scotus an seine Grenze. Denn der Sinn von »Seiend« ist aufgrund der Erstheit dieses schlechthin einfachen Gehalts gewissermaßen nur »indirekt« aus dem epistemischen Kontext zu bestimmen, nämlich indem wir nach der Voraussetzung unserer begrifflich-prädikativen Erfassung von Welt fragen. Hier zeigt sich »Seiend« als die stets implizit miterfasste Bestimmung, die in Bezug auf alle weiteren Bestimmungen gänzlich unbestimmt ist, zugleich aber – wie der frühe Blumenberg es ausdrückt – die »bestimmteste Bestimmtheit« 55 darstellt, weil ohne die prima conceptio der grundlegenden certitudo nichts distinkt erfasst werden kann. Was »Seiend« in diesem Sinn nach Scotus formal zum Ausdruck bringt, ist die allen kategorialen Bestimmungen voraufliegende ratio obiecti als solche, die – so der frühe Heidegger in seiner Scotus-Interpretation – »Bedingung der Möglichkeit von Gegenstanderkenntnis überhaupt« 56 oder – um noch einmal Blumenberg zu zitieren – das »noetische Überhaupt-erscheinen-können« 57 ist. Doch müssen diese formalen Verdeutlichungen der ratio entis aufgrund des Charakters dieser ratio als einer schlechthin bekannten, aber aufgrund ihrer schlechthinnigen Einfachheit durch nichts früheres definierbaren Bestimmung vergleichsweise unbestimmt bleiben. Als weiterer Schritt ist nach Scotus nur eine modale Explikation möglich, woVgl. Ord. ebd. nn. 136–150, ed. Vat. IV 221–227. Ord. ebd. n. 141, ed. Vat. IV 223 f. 55 H. Blumenberg, Beiträge zum Problem der Ursprünglichkeit der mittelalterlichscholastischen Ontologie, Phil. Diss., Kiel 1947, 41 ff., 48. 56 M. Heidegger, Die Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus, Tübingen 1916, 25 (GA I. Abt. Bd. 1, Frankfurt 1978, 215). 57 H. Blumenberg, Beiträge (Anm. 54), 72. 53 54
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durch die tradierte Metaphysik eine entscheidende Erweiterung ihres Arsenals erfährt. Gemeint ist die Verdeutlichung durch das Gegenteil bzw. eine – wie Heidegger es im gleichen Zusammenhang nennt – »Kreisbewegung des Denkens« 58, nämlich eine Verfolgung der ratio entis durch ihre transkategorialen Modi. Schon die Verdeutlichung durch das Gegenteil bedient sich der modalen Explikation: Denn im lebensweltlichen Sprachgebrauch, so stellt Scotus in Quodl. q. 3 fest 59, bezeichnen wir nicht erst die aktuell existierenden Dinge als »seiend«, sondern im allgemeinen Sinn (communiter) das, was nicht nichts ist. Das »Nichts im wahrsten Sinn (verissime nihil)« aber ist das, was einen Widerspruch einschließt und das deshalb ein Sein weder außerhalb noch innerhalb des Verstandes haben kann, weil ein Widersprüchliches, in dem das eine Element das andere aufhebt, nicht einmal gedacht werden kann. Auf diesem Hintergrund erfasst die Metaphysik mit dem Begriff »Sache (res)« oder »Seiendes (ens)« alles, »was eine Seiendheit hat oder haben kann, die nicht aus der Betrachtung des Verstandes stammt (quod habet vel habere potest entitatem non ex consideratione intellectus)«. 60 Die weitere Verdeutlichung der ratio entis mit Hilfe des Begriffs der Möglichkeit (im Sinn der non repugnantia ad esse), findet sich anlässlich der durch Heinrich von Gent nahegelegten Frage, was denn M. Heidegger, Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus, 27 (217). Vgl. Quodl. q. 3 n. 2, ed Viv. XXV 113 ff. (= Anhang Text 13). 60 Die genaue Lektüre dieses (nach den Handschriften korrigierten) Textes (vgl. H. Möhle, »Metaphysica secundum statum viatoris. Anmerkungen zum epistemologischen Ausgangspunkt der scotischen Metaphysik«, in: L. Honnefelder et al. (Hgg.), Johannes Duns Scotus 1308–2008. Die philosophischen Perspektiven seines Werkes. Investigations into his Philosophy, Münster 2010, 49–67) zeigt in Verbindung mit den Ausführungen, die Scotus zur näheren Bestimmung des ens ratum in Ord. I d. 36 macht, dass die Metaphysik es mit dem ens als dem non repugnans ad esse zu tun hat und nicht mit ens als quodcumque conceptibile. Die Deutung der scotischen Metaphysik als Tinologie (vgl. F. Courtine und O. Boulnois) bzw. als eine Wissenschaft von einem supertranscendentale (vgl. Th. Kobusch), auf die sich J.-L. Marion (»L’impossible pour l’homme«, Anm. 71) bezieht, übersieht, dass die für Scotus maßgebliche Auslegung des Sinns von »Seiend« durch die non repugnantia ad esse geschieht; vgl. kritisch in Bezug auf F. Courtine, O. Boulnois und Th. Kobusch den Beitrag von J. Aertsen, »›Res‹ as Transcendental. Its Introduction and Significance«, in: G. F. Vescovini, Le problème des transcendentaux du XIVe au XVIIe siècle, Paris 2002, 139–156. Auch für Kant ist der maßgebliche Sinn von »Seiend« nicht der des »Etwas überhaupt«, sondern der der »objektiven Realität«, die auch er durch Nichtrepugnanz gegenüber der Existenz expliziert; vgl. L. Honnefelder, Scientia transcendens (Anm. 64) 444–450. 58 59
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ein »festes Seiendes (ens ratum)« von jenem bloßen verbalen Figment (res a reor, reris) unterscheidet, das eine semantische Referenz nur vorgibt. Natürlich, so lautet die Antwort, 61 muss das Seiende, »das aus sich ein festes und wahres Sein, und zwar sowohl des Wesens als auch der Existenz besitzt (quod habet ex se firmum et verum esse sive essentiae sive existentiae)«, ein ens ratum genannt werden. Doch im weitesten Sinn ist auch dasjenige, »was sich ursprünglich von einem bloßen Figment unterscheidet, dem nämlich das wahre Sein des Wesens und der Existenz nicht widerstreitet (quod primo distinguitur a figmentis, cui scilicet non repugnat esse verum essentiae vel existentiae)«, ein festes Seiendes zu nennen. Versteht man das ens ratum im ersten Sinn als das aktuell existierende Seiende, dann hat es – wie Scotus hinzufügt – sein wahres Sein nicht aus sich (non ex se), sondern von einem anderen (ab alio). Das ens ratum im weitesten Sinn besitzt dagegen das Seinkönnen nicht von einem anderen, sondern »formal aus sich (formaliter ex se)«. »Seiend« in diesem weitesten Sinn meint also nicht nur kein Generisch-gegenständlich-Sein noch ein Abhängig-sein, Verursachtsein oder Geschaffen-sein, sondern nur jenes Sinnmoment, durch das sich etwas vom Nichts unterscheidet und das sich durch die non repugnantia ad esse explizieren lässt. Die transzendentale Gemeinsamkeit und die damit verbundene Prädizierbarkeit von Gott kann daher modal verdeutlicht werden: Während das Geschöpf ein Seiendes ist, »dem es nicht widerstreitet zu sein, dem es aber widerstreitet aus sich notwendig zu sein«, ist Gott ein Seiendes, »dem es nicht widerstreitet zu sein, dem es aber widerstreitet nicht notwendig zu sein«. Beiden gemeinsam ist die Seiendheit, die sich in der non repugnantia ad esse ausdrückt.
IV. Wie aber kann von der uns möglichen Metaphysik auf dem bislang skizzierten Hintergrund »Gott« gedacht werden? Was ist der angemessenste Begriff von Gott, der dem menschlichen Erkenntnisvermögen erreichbar ist, jenem Erkenntnisvermögen, das Gott in seiner Göttlichkeit nicht zu erkennen vermag? Der Ansatz liegt in der Deutung der »Seiendheit« als einer intensiven Größe, die in verschiedenen Intensi61
Vgl. Ord. I d. 36 q.un. n. 48, ed. Vat. VI 290 (= Anhang Text 14).
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tätsgraden gedacht werden kann. Auf diesem Hintergrund entwickelt Scotus in einer in der mittelalterlichen Metaphysik einzigartigen Weise des Denkens den Begriff des »unendlichen Seienden (ens infinitum)« als den höchsten Begriff, unter dem der Erdenpilger mit natürlichen Mitteln Gott erkennen kann und den die Theologie braucht, um das Subjekt zu denken, dem die geoffenbarten Gottesprädikate zugesprochen werden können. In drei Schritten versucht Scotus den Begriff eines »Seienden« zu entwickeln, der das Kriterium der Unbegrenztheit in doppelter Hinsicht erfüllt, nämlich »vollständig (totum)« und »vollkommen (perfectum)« zu sein. 62 Der Begriff eines »Unendlichen der Ausdehnung der Möglichkeit nach«, wie ihn Aristoteles in seiner Physik einführt 63, erfüllt dieses Kriterium nach Scotus nicht; denn einem solchen Unendlichen – wie etwa der natürlichen Zahlenreihe – kann immer noch etwas hinzugefügt werden, so dass eine Unendlichkeit der Wirklichkeit nach nie erreicht wird. Aber man kann sich vorstellen – so fügt Scotus in einem zweiten Schritt hinzu – dass alle Elemente, die man einem solchen Unendlichen hinzufügen kann, ihm gleichzeitig hinzugefügt sind. Ein solches Unendliches wäre in der Tat vollständig, aber immer noch nicht vollkommen; denn jeder seiner Teile läge außerhalb des anderen. Nichts aber verbietet – so der dritte Schritt –, die Kategorie der Ausgedehntheit zu verlassen und sich die Seiendheit als intensive Größe vorzustellen, und zwar als eine intensive Größe sowohl hinsichtlich der Vollkommenheit als auch der Mächtigkeit nach. Und fügt man dem noch die Eigenschaft der Nichtübertreffbarkeit hinzu, dann ist ein unendliches Seiendes als ein solches zu denken, »dem nichts an Seiendheit fehlt in der Weise, in der es möglich ist, (die Totalität der Seiendheit) in einem einzelnen Seienden zu haben (cui nihil deest, eo modo quo possibile est illud haberi in aliquo uno)«, ja als ein solches, »das jedes endliche Seiende übertrifft, und zwar nicht nur in einem bestimmten Maß, sondern über jedes bestimmte und bestimmbare Maß hinaus (quod excedit quodcumque ens finitum, non secundum aliquam determinatam proportionem, sed ultra omnem determinatam proportionem vel determinabilem)«. Vgl. Quodl. q. 5 n. 2–4, ed. Viv. XXV 198 ff. (= Anhang Text 15); vgl. auch L. Honnefelder, Johannes Duns Scotus (Anm. 3), 91 f. 63 Vgl. Aristoteles, Physica III 6, 207 a7–9. 62
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Mit dieser Analyse ist freilich nur die Möglichkeit des Begriffs rational aufgewiesen. Ob dieser Begriff nicht leer ist, muss eigens nachgewiesen werden. Der Beweis, durch den dies geschieht, sucht nicht – wie die landläufige Kritik der mittelalterlichen Metaphysik unterstellt – für das verursachte Seiende unserer Welterfahrung eine erste Ursache und identifiziert sie mit Gott, sondern versucht – wie das Gebet zu Beginn des Beweises besagt 64 – den Gott zu denken, der sich schon in der Hl. Schrift als »seiend« offenbart und tut dies, indem er die transkategorialen Modi des Seienden als Seienden, insbesondere die, die ihm in Form einer alles Seiende umfassenden Disjunktion zukommen, zu explizieren. Dies ist möglich, weil den – wie in einer detaillierten Argumentation (der ausführlichsten im Mittelalter) dargelegt wird – als kontingent erfahrenen Dingen und Ereignissen unserer Welterfahrung eine notwendige Möglichkeit zugrunde liegt, die nicht ohne ein erstes Notwendig-Seiendes gedacht werden kann. Erweist sich aber die Annahme eines solchen ersten Notwendig-Seienden selbst als notwendig, kann in einem weiteren Schritt gezeigt werden, dass es als erkennend und wollend gedacht werden muss, was die intensive Unendlichkeit der Seiendheit erfordert, die im Begriff des unendlichen Seienden zum Ausdruck kommt. Entscheidend ist, in welcher Weise hier »Gott« gedacht wird. Schon die Explikation der »Unendlichkeit« lässt Gott nicht nur erscheinen als ein Seiendes, von dem ein anderes Seiendes abhängt, sondern als die voll entfaltete, unübertreffbare Fülle des »Seiendseins (esse)« 65, oder anders ausgedrückt, als das Erste, in dem das Ganze enthalten ist. Charakteristisch ist in dieser Hinsicht der in der scotischen Argumentation für die »Unendlichkeit« der Seiendheit des Notwendig-Ersten enthaltene Hinweis (persuasio), der menschliche Verstand empfinde im Blick auf die Annahme, »Seiendheit« könne als »unendlich« gedacht werden, nicht nur keinen Widerspruch, sondern empfinde den Begriff des »unendlichen Seienden« als das »vollkommenste Verstehbare (perfectissiDe primo principio c. 1 n. 1, ed. Kluxen 2: Moysi servo tuo … respondisti: Ego sum qui sum. Tu es verum esse, tu es totum esse, Hoc hcredo hoci si mihi esset possibile, scire vellem.- Zu dem Beweis vgl. ausführlicher L. Honnefelder, Scientia transcendens. Die formale Bestimmung der Seiendheit und Realität in der Metaphysik des Mittelalters und der frühen Neuzeit (Duns Scotus – Suàrez – Wolff – Kant – Peirce), Hamburg 1990, 167–199. 65 Ebd. 64
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mum intelligibile)«, was umso mehr überzeugt, als »Seiend« doch das erste Subjekt des menschlichen Verstandes ist, also das, worin sich die Koextensivität des Verstandes mit der Gesamtheit aller Seienden zeigt. Kurz, der Verstand denkt im Begriff des »unendlichen Seienden« den Inbegriff dessen, was er im abstraktiv gewonnenen Begriff »Seiend« in seinem transzendentalen Minimalmoment erfasst. Ist die Unendlichkeit in der beschriebenen Weise als Intensitätsmodus erfasst, ergibt sich zwingend die schlechthinnige Einfachheit nicht nur im Sinn der Nicht-Zusammengesetztheit, sondern der Nichtzusammensetzbarkeit, was im Gegenzug die Zusammengesetztheit des nicht-göttlich Seienden als Resultat seiner Endlichkeit erweist. Wenn aber unendlich dasjenige zu nennen ist, das die Seiendheit in demjenigen inneren Modus besitzt, in dem die Totalität der Seiendheit in einem einzigen besessen werden kann, dann ist das unendliche Seiende nicht nur das eine Einzige und einzigartige Seiende, es muss sich vom endlichen Seienden über jedes bestimmte oder bestimmbare Maß hinaus unterscheiden. Die Unendlichkeit Gottes ist der Grund seiner Transzendenz ebenso wie der seiner Unbegreiflichkeit von Seiten des Menschen. Nicht ohne Grund heißt es in der entscheidenden 9. conclusio von De primo principio c. IV: »Dass Du unendlich bist und unbegreifbar von einem Endlichen (Tu esse infinitum et incomprehensibilem a finito)«. 66 Nicht zuletzt kann von einem solchen »unendlichen Seienden« einsichtig gemacht werden, dass ihm philosophische und offenbarungstheologische Aussagen zukommen, die einer ersten Ursache nur »von außen« zugeordnet werden können. Ich nenne Beispiele: – Nur wenn Gott als der Inbegriff der Seiendheit verstanden wird, kann Schöpfung aus dem Nichts als die alles Seiende umfassende und tragende Tat verstanden werden, und nur einer unendlich verstandenen Macht kann Schöpfung »aus dem Nichts« zugedacht werden, vermag doch nur eine solche Macht den von Seiten des Ursprungs unendlichen Abstand zum Verursachten überwinden. 67 Wobei der natürliche Verstand nur das Grundverständnis solcher De primo principio c. 4 concl.9 n. 66, ed. Kluxen 86. Vgl. Ord. II d. 1 q. 2 nn. 66–68, ed. Vat. VII 37 f.; vgl. auch De primo principio c. 4 concl.9 n. 86, ed. Kluxen 114.
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Schöpfung einsichtig machen kann, nicht deren von der Offenbarung verkündeten zeitlichen Beginn. Nur einer unendlichen Macht kann Allmacht zugedacht werden, wobei wiederum der natürliche Verstand nur das Grundverhältnis zu erkennen vermag, nicht die von der Offenbarung verkündete Allmacht, die unmittelbar jede Wirkung hervorzubringen vermag. 68 Nur wenn Wollen im Sinn ursprünglicher Selbstbestimmung der Geistseele als Vollkommenheit eines unendlichen Seienden und damit selbst als unendlich gedacht wird, kann dem unendlichen Seienden jenes freie und uneingeschränkte Wollen zugedacht werden, das jene »Liebe (caritas)« ist, von der die Offenbarung (1 Joh 4, 16) spricht. 69 Nur wenn von »Unmitteilbarkeit (incommunicabilitas)« als einer Gott und Geschöpf univok zusprechbaren Proprietät gesprochen wird, die nicht mit Individualität, Substantialität oder Existenz gleich zu setzen ist, aber die »Person« konstituiert, kann in Christologie und Trinitätslehre sinnvoll von »Person« bzw. »Personen« gesprochen werden. 70
V. Was lässt sich der knappen Skizzierung des scotischen Ansatzes in systematischer Hinsicht für das Thema »Christentum und Philosophie« und die Möglichkeit »Gott« zu denken entnehmen? 1. Soll die Vergewisserung des christlichen Glaubens die Gestalt von Theologie annehmen, kann offensichtlich auf das theoretische Potential der Philosophie in heuristischer wie explikativer Hinsicht nicht verzichtet werden. Wenn aber die Offenbarungstheologie zu ihrer Heuristik und Explikation Philosophie fordert, dann kann dieser Forderung Vgl. Ord. I d. 2 p,1 q. 1–2 n. 119; De primo principio c. 4 concl. 9 n. 85, ed. Kluxen 112; vgl. dazu L. Honnefelder, Scientia transcendens (Anm. 64), 184 f. 69 Vgl. Ord. I d. 17 p. 1 q. 1–2 n. 173, ed. Vat. V 221 f.; vgl. auch De primo principio c. 4 concl. 6 nn. 60–62, ed. Kluxen 76–80. 70 Vgl. Ord. III d. 1 q. 1 n. 10, ed. Vat. IX 22 f.; vgl dazu M. Burger, Personalität im Horizont absoluter Prädestination. Untersuchungen zur Christologie des Johannes Duns Scotus und ihrer Rezeption in modernen theologischen Ansätzen, Münster 1994, 82 ff. 68
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nur Genüge getan werden, wenn das dafür in Anspruch genommene theoretische Potential ganz und gar philosophischen Charakter hat. Alles andere wäre ein ›hölzernes Eisen‹. Exemplarisch wird diese Herausforderung von den großen Theologen des 13. Jahrhunderts wahrgenommen. Denn mit dem Wiederbekanntwerden der antiken Vollgestalt der Philosophie und ihren arabischen Weiterentwicklungen steht in einer bis dahin unbekannten Radikalität dem sich seiner Eigenart bewusst gewordene christliche Glauben mit der von Aristoteles als »Erste Philosophie« konzipierten Metaphysik die Vollgestalt einer Philosophie gegenüber, die keine anderen als die von ihr selbst explizierten methodischen Maßstäbe zulässt. Diese Spannung führt die Theologen dazu, die Erste Philosophie kritisch zu transformieren, d. h. auf dem Boden der ihr eigenen Prämissen über den von den philosophi erreichten Stand hinaus zu führen. Im Rahmen dieser kritischen Transformation der Ersten Philosophie kommt es zu einer strukturellen Exposition des Problems, »Gott« zu denken, ebenso wie zur Entwicklung eines strukturellen Anforderungsprofils an eine auf Überzeugung abzielende Antwort, dem paradigmatische Bedeutung zukommt. Denn keine Deutung der Möglichkeit, »Gott« zu denken, wird zu überzeugen vermögen, die hinter dieses Problemniveau zurückfällt. Dies gilt insbesondere für die von Johannes Duns Scotus als scientia transcendens neu begriffene und in Grundzügen ausgeführte Metaphysik. 2. Zu der strukturellen Problemexposition gehört die Unterstellung, dass das mit dem Wort »Gott« Bezeichnete nicht nur nicht zu den Gegenständen unserer Welterfahrung gehört, sondern von allen uns zugänglichen Seienden »ursprünglich verschieden« ist. Es ist nicht nur die Transzendenz eines immateriellen und dem Werden und Vergehen nicht unterworfenen Seienden, wie es die antike Metaphysik unterstellt, die »Gott« von allem anderen unterscheidet, sondern die Transzendenz der Freiheit eines als unendliche Macht (Allmacht) zu denkenden Wesens, das jede Gemeinsamkeit mit allen anderen Seienden ausschließt. Für das menschliche Erkennen ist »Gott« in seiner Göttlichkeit unerkennbar und unbegreiflich. Der god’s eye view bzw. der »Standpunkt Gottes« 71 ist dem Menschen nicht zugänglich. Radikaler kann die Transzendenz Gottes nicht gedacht werden. So die Ausdrucksweise bei J.-L. Marion, »L’impossible pour l’homme – Dieu«, 360, in: Conference XVIII (2004), 329–369.
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3. Soll sich der in dieser radikalen Transzendenz zu denkende Gott »zeigen«, muss es im Modus des Glaubens an Offenbarung geschehen. Aber ist solche »Offenbarung« möglich? Als raptus, d. h. als individuelle Ekstase verstanden, rückte der Glaube nicht nur in die Beliebigkeit subjektiver Erfahrung, er widerspräche dem Anspruch der Offenbarung »offen«, d. h. vernehmbar zu sein. Offenbarung spricht sich in Sätzen aus, deren Wahrheit sich im Glauben erschließt, erschafft aber keine dem Mensch auf andere Weise nicht erschlossene Sprache. Die theologische Explikation unterstellt, dass Offenbarung nicht nur notwendig ist, sondern auch möglich sein muss. Diese Möglichkeit muss scheitern, wenn schon das Wort »Gott« nicht verstanden oder als das nur im raptus Gegebene nicht mitgeteilt werden kann. 4. Ob das Wort »Gott« überhaupt gedacht und Offenbarung ihre Wahrheit glaubend vernommen werden kann, hängt daher davon ab, ob es einen »Raum« des Vernehmens gibt, der das Wort »Gott« denken lässt, d. h. welche Reichweite dem menschlichen Verstand seinem Vernehmen nach unter den gegenwärtigen Erkenntnisbedingungen eröffnet ist. Dass diese Möglichkeit gegen den Einwand radikaler Endlichkeit angenommen werden darf, muss philosophisch gezeigt werden können. Versteht man »Metaphysik« nicht als Eigenname für eine bestimmte Theorie, sondern als scientia transcendens, d. h. als die Frage nach der Weite des dem menschlichen Vernehmen erschlossenen »Raums«, ist Metaphysik für die der Theologie aufgegebene Heuristik und Explikation unverzichtbar. 5. Dies leistet Metaphysik nur, wenn gezeigt werden kann, dass dem Menschen ein »Umfassendes« erschlossen ist, das die radikale Transzendenz Gottes nicht einebnet, mit dem Wort »Gott« gleichwohl eine Bedeutung verbinden lässt, die dem Glauben an eine Rede von Gott Sinn verleiht. Scotus expliziert dieses »Umfassende« als die in allem Erkennen und Sagen miterkannte und mitausgesagte ratio entis, wobei ens im Ausgang von seinem partizipativen Sinn nicht »Seiendes« im Sinn von Gegenstand meint, sondern das Seiendsein als jenes inhaltlich schlechthin einfache Moment der »Gegebenheit«, das sich nicht definieren, sondern nur indirekt durch Abhebung vom schlechthin Nichtseienden bzw. im Durchgang durch die Modi dieser Gegebenheit verdeutlichen lässt. Das »als solches (in quantum)« hat in Bezug auf
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»Seiend (ens)« nicht – wie Scotus betont 72 – reduplikativen (auf das Subjekt als Ursache des Prädikats abhebenden), sondern spezifizierenden, auf das universale Moment des Seiendseins abhebenden Sinn. Mit der Rede vom ens in quantum ens ist die ontologische Differenz kenntlich gemacht, in der die Seiendheit (ratio entis) zu jedwedem näher bestimmten Seienden steht. Die von Scotus neu und anders als zuvor gedachte Univozität dieser ratio verweist auf eine Gemeinsamkeit des »Umfassens«, die jede generische Gemeinsamkeit »übersteigt«. Könnte sie nicht unterstellt werden, wäre die Rede von Beziehungen wie der Differenz zwischen Gott und Geschöpf sinnlos. Denn jede Beziehung – und wäre es der Gegensatz zwischen Gott und Geschöpf – setzt ein »Fundament« voraus. 73 Träfe dies nicht für die »ursprüngliche Verschiedenheit« von Gott und Geschöpf zu, wäre mit »Gott« ein ganz und gar Heterogenes, außerhalb der unité de l’objet de pensée Liegendes gemeint, das nicht einmal gedacht werden kann. Die Alternative wäre eine negative Theologie, die mit dem Wort »Gott« keinerlei Bedeutung zu verbinden vermag. Denn der totale und absolute Gegensatz zu dem Seienden unserer Welterfahrung wäre das »Nichts«. 6. Das durch Rückstieg in die Voraussetzungen unseres Erkennens kenntlich gemachte Seiendsein als das »umfassende« schlechthin einfache Moment des »Gegebenseins« kann aufgrund seiner transkategorialen Weite Gott zugedacht werden, ohne dass Gott unter die Seienden unserer Welterfahrung subsumiert wird. Vollends deutlich wird dies durch die modale Explikation der Seiendheit als einer intensiven Größe. Denn sie gestattet unter dem Wort »Gott« das »unendliche Seiende«, nämlich das Seiendsein in einer unendlichen, nicht übertreffbaren Fülle zu denken. Der »Gottesbeweis«, den Scotus führt, ist die Explikation der ratio entis in der Weise, dass gezeigt wird, dass endliches Vgl. Quodl. q. 3 nn. 7–8, ed. Viv. XXV 127; vgl. dazu L. Honnefelder, Ens inquantum ens (Anm. 3), 102 f. 73 Vgl. Ord. I d. 8 p. 1 q. 3, n. 80, ed. Vat. IV 189 f.; vgl. dazu L. Honnefelder, Ens inquantum ens (Anm. 3), 357 f. Keineswegs ist – wie J.-L. Marion ausführt (»L’impossible pour l’homme«, Anm. 71) – die von Scotus in Ord. I d. 8 p. 1 q. 3 herausgearbeitete transzendentale Gemeinsamkeit von »Seiend (ens)« und die Erkenntnis Gottes als »(unendliches) Seiendes« eine Einebnung der göttlichen Transzendenz. »Gott« als »unendliches Seiendes« zu erfassen heißt nicht ihn zu definieren, sondern ihn als nicht zu übertreffende und unter keine Gattung zu subsumierende Erfüllung des Sinns von »Seiend (ens)« zu erfassen (übrigens ähnlich wie Thomas v. A. mit der Deutung Gottes als ipsum esse subsistens Gott als Erfüllung des esse in communi versteht). 72
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Seiendes nicht abschließend gedacht werden kann, ohne den Begriff des »unendlich Seienden« zu denken. Kann nun gezeigt werden, dass der Begriff eines unendlichen Seienden nicht nur sinnvoll gedacht werden kann (und muss) und nicht leer ist, ist eine »Umkehrung« 74 möglich, insofern nun gezeigt werden kann, dass nach Anselms Annahme ein solches, das als größer nicht gedacht werden kann, die Existenz notwendig einschließt. 75 Ja, die Explikation des »unendlichen Seienden« als erkennend und wollend erlaubt es, eine unendliche Macht zu denken, deren Wollen auf nichts anderes gerichtet sein kann als auf das Gute um seiner selbst willen, was es erlaubt, der biblischen Rede von Gott als der Liebe (1 Joh 4,16) einen Sinn zuzuordnen. Auch das heißt nicht, Gott in seiner Göttlichkeit zu erkennen. »Gott« als »unendliches Seiendes« zu denken, bleibt – philosophisch betrachtet – eine »zweitbeste Fahrt« für ein Erkennen, dem der god’s eye view verwehrt ist. Aber er ist für einen intellectus fidei, der nicht theologia in se sein kann, aber theologia in nobis sein will, der Begriff, auf den sich als »Stellvertreter« des göttlichen Gottes die den Offenbarungsglauben explizierende theologische Rede beziehen kann. 76 7. Mit der »Metaphysik«, wie sie in manchen Texten Heideggers und der ihm darin Folgenden – darunter J.-L. Marion – als zu »überwinden« 77 beschrieben wird, hat die am Beispiel des scotischen Ansatzes skizzierte Metaphysik wenig zu tun. 78 Wie die Herausarbeitung der transkategorialen Bedeutung von »Seiend (ens)« zeigt, ist sein Sinn nicht an der »Hergestelltheit« des ens creatum 79 orientiert, sondern »übersteigt« diesen Modus der Seiendheit. Die im Begriff des ens in quantum ens erfasste und angezeigte ontologische Differenz schließt die Gleichsetzung mit dem geschaffenen Sein völlig aus und nimmt
74 So die Ausdrucksweise bei J.-L. Marion, God Without Being, Preface, Chicago/London 1991, XX. 75 Vgl. De primo principio c. 4 concl.9 n. 79, ed. Kluxen 104 f. (= Anhang Text 16). 76 Vgl. dazu ausführlicher L. Honnefelder, Ens inquantum ens (Anm. 3), 11–22. 77 M. Heidegger, »Zur Seinsfrage«, in: ders., Wegmarken, Frankfurt 2967, 244 f., GA Bd. 9, Frankfurt a. M. 1976, 416. Zu J.-L. Marion vgl. etwa Au lieu de soi. L’approche de Saint Augustin, 2.A., Paris 2008, 317–324. 78 Zur Kritik an Heideggers Kritik der Metaphysik vgl. ausführlicher L. B. Puntel, Sein und Gott. Ein systematischer Ansatz in Auseinandersetzung mit M. Heidegger, É. Levinas und J.-L. Marion, Tübingen 2010, bes. 67–146. 79 M. Heidegger, Sein und Zeit, § 6 und § 20, GA Bd. 2, Tübingen 1977, 33, 123 ff.
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dem Vorwurf der »Seinsvergessenheit« 80 seine Berechtigung. Die transzendentale Bestimmung »Seiend (ens)« mit dem »Seienden« unserer gegenständlichen Erkenntnis gleichzusetzen, entspringt offenkundig dem Fehler, das in quantum reduplikativ statt spezifizierend zu verstehen. Ferner bezieht sich die von Scotus explizierte Frage nach der Bedeutung von »Gott« nicht auf Gott als »Ursache (causa)« 81 von allem, sondern auf Gott als »unendlich Seiendes«, d. h. auf die Erfüllung des Sinns von »Seiend«. Die Frage der Metaphysik zielt darauf ab, wie »Gott« zu denken ist, nicht auf den Nachweis seiner Existenz. Deshalb bestreitet Scotus die Aufteilung der Metaphysik in einen allgemeinen (dem ens in communi gewidmeten) und einen speziellen (auf Gott bezogenen) Teil mit dem Hinweis, dass in der Erkenntnis Gottes die »Erfüllung (consummatio)« der Erkenntnis des ens in communi liegt. 82 Kann und muss aber Gott als »unendliches Seiendes« gedacht werden, ist die Frage nach seiner Existenz mitbeantwortet. »Gott« als causa sui 83 zu verstehen, entbehrt unter diesen Bedingungen jeglichen Sinns. Ist aber nicht die Frage nach dem Grund bzw. das Prinzip des zureichenden Grundes der Leitfaden der Frage nach dem Sinn von »Seiend«, 84 verfehlt auch die Qualifikation der mittelalterlichen Metaphysik (jedenfalls wie sie Scotus entwickelt hat) als »Onto-theo-logik« 85 ihr Ziel. Versteht man unter »Ontotheologie« die These, dass Gott als Ursache eines als verursacht verstandenen Seienden erfasst wird, hat keiner der großen Denker des 13. Jahrhunderts, jedenfalls nicht Duns Scotus und auch nicht Thomas von Aquin, Metaphysik in diesem Sinn verstanden. 8. Deshalb kann auch aus Kants These, dass Sein kein reales Prädikat sei, ebenso wie aus der daran anschließenden Kritik des ontologischen
80 M. Heidegger, Zur Sache des Denkens, Tübingen 1969, 31, GA Bd. 14, Frankfurt a. M. 2007, 37. 81 M. Heidegger, »Die onto-theo-logische Verfassung der Metaphysik«, in: ders., Identität und Differenz, Pfullingen 1957, 70 f., GA Bd. 11, Frankfurt a. M. 2006, 77. 82 Met. I q. 1 n. 161, Opera Philosophica III 71: Sed primo occurrens et notissimum intellectui est ens in communi, et ex ipso probatur primitas et alia, in quibus es consummatio. 83 Vgl. Anm. 81. 84 So M. Heidegger, Der Satz vom Grund, Pfullingen 1957, Ges.ausg. Bd. 10, Frankfurt a. M. 1997, 6 ff. 85 Vgl. Anm. 81.
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Gottesbeweises keineswegs – wie J.-L. Marion meint 86 – das Scheitern der Metaphysik gefolgert werden. Denn dass »Sein« in der Bedeutung von Gesetztsein kein das Seiende »real«, d. h. in seiner Washeit als res bestimmendes Prädikat ist, ist keine neue Erkenntnis Kants. Das Dasein im Sinn des esse extra causas – so stellt bereits Scotus fest – liegt »außerhalb der Wesensbestimmung (praeter coordinationem essentialem)«. 87 Diese Einsicht ist Grund für den kritischen Einwand, dass das ontologische Argument einen unzulässigen Schluss vom Wesen auf das Dasein Gottes impliziert, erledigt aber (auch für Kant) keineswegs das Projekt der Metaphysik. Denn wie Kant in der Transzendentalen Dialektik der Kritik der reinen Vernunft zeigt, kann die Frage nach der »objektiven Realität« (oder in scotischer Terminologie nach der ratitudo) unserer Begriffe wie unserer Ideen nicht abschließend beantwortet werden, ohne den Begriff der omnitudo realitatum zu denken und dies in Gestalt des ens realissimum 88 – ein Gedanke, der die scotische Struktur der Frage, wie »Gott« zu denken ist, durchaus beibehält. 9. Kann aber die Frage, wie »Gott« zu denken ist, nur im Horizont jener ratio entis beantwortet werden, die in aller welthaften Erkenntnis miterkannt ist, in ihrer schlechthinnigen Erstheit und Einfachheit aber alle kategorialen Bestimmungen »übersteigt« und deshalb nicht noch einmal »als etwas« erfasst werden kann, muss dem indirekten Weg zentrale Bedeutung zukommen, auf dem ihr Sinn – und damit auch der Sinn der Rede von »Gott« – über die Modi verdeutlicht wird, in denen sie begegnet. Doch kann dieser Weg nicht zum Ziel führen, wenn der Modus der Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit nicht von dem Begriff der »Möglichkeit in Bezug auf ein Vermögen« (wie ihn Aristoteles beschreibt) 89 abgelöst und in einem transkategorialen Sinn verstanden wird. 90 Betrachtet man wie Marion die »Unmöglichkeit« als den eigent-
Vgl. den Beitrag von J.-L. Marion in dem vorliegenden Band. Vgl. Ord. II d. 3 p. 1 q. 3 n. 63, ed. Vat. VII 419 f.; vgl dazu L. Honnefelder, Scientia transcendens (Anm. 64), 149 ff. 88 Vgl. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft A 571–583/B 599–611; vgl. dazu L. Honnefelder, Scientia transcendens (Anm. 64), 483 ff. 89 Vgl. Aristoteles, Metaphysica V 12 1019b 22 ff. 90 Vgl. ausführlicher L. Honnefelder, Woher kommen wir? Ursprünge der Moderne im Mittelalter, Berlin 2008, 173 f.; ders., Scientia transcendens (Anm. 63), 430 ff. 86 87
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»Gott« denken?
lichen Leitfaden, um »Gott« denken zu können, 91 versteht aber Unmöglichkeit als die Möglichkeit, das quoad nos Unmögliche vollbringen zu können, bleibt der zu Grunde liegende Begriff der eines »Möglichen in Bezug auf ein Vermögen«, nämlich das des Menschen. Diese Möglichkeit zu negieren kann aber nur zu einem Begriff des Unmöglichen führen, der so unbestimmt ist, dass er auch auf einen Willkürgott zutrifft. Vor allem aber kann die »Gegebenheit«, in deren »Raum« Gott gedacht werden kann, vom Nichts nur mit Hilfe des Begriffs eines transkategorial Möglichen abgehoben werden, durch den – wie bei Scotus – das Seiendsein als non repugnantia ad esse verdeutlicht werden kann. 92 Beziehe ich das »Unmögliche«, das Marion als den maßgeblichen Leitfaden betrachtet um »Gott« zu denken nicht auf diese Möglichkeit, hebe ich seine Denkbarkeit auf, denn dann fällt es nicht mehr unter die für das Denken maßgebliche Differenz von Ja/Nein bzw. wahr/falsch und ist vom Unmöglichen des absoluten Nichts nicht mehr unterscheidbar. Der »Raum« der transkategorialen ratio entis schränkt den Versuch »Gott« zu denken nicht ein, sondern eröffnet ihn. Der Versuch, an seine Stelle eine Phänomenologie des »gesättigten Phänomens« zu stellen, verzichtet keineswegs auf den »Umweg« um »Gott« zu denken, bindet diesen Weg jedoch an den Rahmen einer – wenn auch »umgekehrten« – Subjekt-Objekt-Differenz, von deren Überwindung das Gelingen des Versuchs, »Gott« zu denken, aber gerade abhängt.
Vgl. J.-L. Marion, »L’impossible pour l’homme – Dieu« (Anm. 71); zur Kritik vgl. ausführlicher L. B. Puntel, Sein und Gott (Anm. 64), 389–408. 92 Vgl. ausführlicher L. Honnefelder, Scientia transcendens (Anm. 64), 100–108. 91
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Anhang: Ausgewählte Texte (1) Quodl. q. 14 n. 10, ed. Viv. XXVI 39: Omnis talis intellectio, scilicet per se et propria et immediate, requirit ipsum obiectum sub propria ratio obiecti praesens, et hoc vel in propria existentia, puta si est intuitva, vel in aliquo perfecto repraesentante ipsum sub propria et per se ratione cognoscibilis, si fuerit abstractive. Deus autem, sub propria ratione divinitatis non est praesens alicui intellectui creato, nisi mere voluntarie. Jede solche Erkenntnis, die durch sich als besondere und in unmittelbare Weise (erworben wird), erfordert die Gegenwart des Objekts in seiner besonderen Bestimmung, entweder in seiner besonderen Existenz, wie etwa in der intuitiven Erkenntnis, oder in einem Medium, das das Objekt in seiner besonderen und wesenhaften Erkennbarkeit repräsentiert, etwa wenn es abstraktiv erkannt wird. Gott aber ist dem geschaffenen Verstand nicht unter der besonderen Bestimmung seiner Göttlichkeit gegenwärtig, es sei denn durch (freien) Willensentschluss. (Deutsche Übersetzung: L. Honnefelder)
(2) Quodl.q. 14 n. 16, ed. Viv. XXVI 54: Completa vero motione contingente ad intra sequitur motio ad extra illa igitur tota est contingens, et per consequens immediate ipsius voluntatis ut principii. Nullum igitur intellectum creatum movet essentia ut essentia tamquam motivum per modum naturae, sed omnem intellectionem illius essentiae, quam non causat aliquod causat creatum, causat immediate voluntas divina. Nach vollständigem Abschluss der kontingenten Tätigkeit (Gottes) ad intra folgt die Tätigkeit ad extra, die als ganze kontingent ist und folglich unmittelbar auf den Willen als Prinzip zurückgeht. Denn keinen geschaffenen Verstand bewegt die (göttliche) Wesenheit als solche auf die Weise eines naturhaft bewegenden Objekts, vielmehr ist jedwede Erkenntnis jener (göttlichen) Wesenheit, die nicht durch etwas Geschaffenes verursacht ist, unmittelbar durch den göttlichen Willen verursacht. (Deutsche Übersetzung: L. Honnefelder)
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(3) Ord. prol. p. 3 q. 1–3 n. 205, ed. Vat. I 138: [R]evelatioautem secundum communem legem non est nisi de his quorum termini communiter naturaliter possunt concipi a nobis. Offenbarung ergeht nach dem allgemein geltenden Gesetz (d. h. nach der von Gott gesetzten gegenwärtigen natürlichen Verfassung menschlichen Erkennens) nur in solchen (komplexen Erkenntnisinhalten), deren Termini naturhaft von uns erkannt werden. (Deutsche Übersetzung: L. Honnefelder)
(4) Quodl. q. 7 n. 11, ed. Viv. XXV 175: Cognitio enim fidei non tribuit conceptum simplicem de Deo, sed tantummodo inclinat ad assentiendum quibusdam complexis quae non habent evidentiam ex terminis simplicibus apprehensis. Et per consequens per fidem non habetur conceptio simplex transcendens omnem conceptum simplicem apud metaphysicum. Das Wissen des Glaubens bietet nämlich keinen einfachen Begriff von Gott, sondern macht nur geneigt dazu, gewissen zusammengesetzten (Sätzen bzw. Begriffen) zuzustimmen, die keine Evidenz aufgrund der erfassten einfachen Termini haben. In Konsequenz hieraus erhält man durch den Glauben kein einfaches Erfassen, das jeden einfachen Begriff des Metaphysikers überschreitet. (Deutsche Übersetzung: H. Möhle)
(5) Quodl. q. 7 n. 11, ed. Viv. XXV 175: Hoc etiam patet quia metaphysicus infidelis et alius fidelis eandem conceptum habent. Cum iste sic affirmans de Deo, ille vero negans non tantum contradicunt sibi invicem ad nomen sed etiam ad intellectum. Das ist zudem offensichtlich, weil der ungläubige Metaphysiker und der andere, der gläubig ist, ein und denselben Begriff haben. Denn wenn dieser so (etwas) von Gott bejaht, jener aber verneint, dann widersprechen sie sich gegenseitig nicht nur hinsichtlich des (äußeren) Ausdrucks, sondern auch hinsichtlich der Bedeutung. (Deutsche Übersetzung: H. Möhle)
(6) Quodl.q. 7 n. 11, ed. Viv. XXV 175: Cuius probatio dependet ex solutio illius quomodo Deus est cognoscibilis a viatore. Sed nunc breviter potest sic ostendi: Viator habet conceptum simpli-
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cem et perfectissimum, ad quem attingit homo ex naturalibus, non transcendit cognitionem perfectissimam simplicem de Deo possibilem metaphysico. Der Beweis dieses (Satzes, dass Gott allmächtig ist) hängt von der Lösung der Frage ab, auf welche Weise Gott vom Erdenpilger erkennbar ist. Aber jetzt kann (dies) in der Kürze auf folgende Weise gezeigt werden: Der Erdenpilger, der über einen einfachen und vollkommensten Begriff verfügt, zu dem der Mensch aus natürlichen Fähigkeiten gelangen kann, überschreitet nicht das vollkommenste und einfache Wissen, das der Metaphysiker von Gott gewinnen kann. (Deutsche Übersetzung: H. Möhle)
(7) Ord. I d. 3 p. 1 q. 3 n. 26, ed. Vat. III, 18: Et ne fiat contentio de nomine univocationis, univocum conceptum dico, qui ita est unus quod eius unitas sufficit ad contradictionem, affirmando et negando ipsum de eodem; sufficit etiam pro medio syllogistico, ut extrema unita in medio sic uno sine fallacia aequivocationis concludantur inter se uniri. Damit der Begriff »Univokation« nicht missverstanden wird, umschreibe ich ihn näher hin: Er ist in der Weise einer, dass seine Einheit einen Widerspruch ergibt, wenn ich ihn von demselben Subjekt zugleich bejahe und verneine. Er erfüllt ferner die Funktion eines Mittelbegriffes im Syllogismus. Wenn durch ihn die Bezugsbegriffe (nämlich das Subjekt und das Prädikat des Schlusssatzes) durch den Mittelbegriff vereint werden, so kann eine solche Bezugseinheit durch Schluss vollzogen werden, ohne dass ein Trugschluss der Mehrdeutigkeit vorliegt. (Deutsche Übersetzung nach: T. A. Barth, Zur univocatio entis bei Johannes Duns Skotus, in: Wissenschaft und Weisheit 21 (1958), 100)
(8) Met. I prol. nn. 17–18, Opera Philosophica III 8–9: Maxime scibilia primo modo sunt communissima, ut ens in quantum ens, et quaecumque consequuntur ens inquantum ens. Dicit enim Avicenna I Metaphysicae cap. 5 a, quod ›ens et res imprimuntur in anima prima impressione, quae non acquiritur ex aliis notioribus se‹. Et infra b, ›quae priora sunt ad imaginandum per se ipsa sunt ea quae communia sunt omnibus, sicut res et ens et unum. Et ideo non potest manifestari aliquod horum per probationem, quae non sit circularis‹. Haec autem communissima pertinent ad considerationem metaphysicae secundum Philosophum in IV huius in principio: ›Est scientia quaedam quae speculatur ens in quantum ens, et quae huic insunt secundum se‹ etc.
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Cuius necessitas ostendi potest sic: ex qua communissima primo intelliguntur, – ut probatum est per Avicennam -sequitur quod alia specialiora non possunt cognosci nisi illa communia prius cognoscantur. Et non potest istorum communium cognitio tradi in aliqua scientia particulari, – quia qua ratione in una, eadem ratione in alia, (cum ens et unum dicantur aequaliter de omnibus, X huius) et ita idem multotiens inutiliter repeteretur igitur necesse est esse aliquam scientiam universalem, quae per se consideret ista transcendentia. Et hanc scientiam vocamus metaphysicam, quae dicitur a ›meta‹, quod est trans, et ›ycos‹ scientia, quasi transcendens scientia, quia est de transcendentibus. Die im höchsten Maß wissbaren Gehalte der ersten Art sind die allgemeinsten wie das Seiende als solches und die, die ihm als solchem folgen. Avicenna sagt nämlich in Kapitel Va des ersten Buchs seiner Metaphysik »Seiendes und Ding werden der Seele in der Weise eines ersten Eindrucks eingeprägt, was nicht durch etwas Bekannteres als diese Erkenntnisgehalte erreicht werden kann«. Und in Kapitel Vb heißt es: »In der Vorstellung sind diejenigen Gehalte durch sich selbst früher, die allen gemeinsam sind, wie Ding, Seiendes und Eines«. Daher kann nichts von ihnen durch einen Beweis aufgezeigt werden, der nicht ein Zirkel wäre. Diese allgemeinsten Gehalte aber fallen unter die Betrachtung der Metaphysik, wie Aristoteles zu Beginn des IV. Buches seiner Metaphysik sagt: »Es gibt nämlich eine Wissenschaft, die das Seiende, insofern es seiend ist, betrachtet und diejenigen, die dem Seienden durch sich zugehören usf.« Ihre Notwendigkeit kann so aufgezeigt werden: Daraus, dass die allgemeinsten Gehalte zuerst erkannt werden, wie durch Avicenna bewiesen ist, folgt, dass die anderen spezielleren Gehalte nur erkannt werden können, wenn zuvor die allgemeinsten erkannt sind. Die Erkenntnis des Allgemeinen kann aber nicht in einer partikulären Wissenschaft behandelt werden. Denn unter dem Begriff, unter dem sie in einer Wissenschaft betrachtet werden, unter dem werden sie auch in der anderen betrachtet, weil nämlich Seiendes und Eines in gleicher Weise von allen ausgesagt werden, wie es in Kapitel IIIb der X. Buchs der aristotelischen Metaphysik heißt; andernfalls würde dasselbe unnötigerweise mehrfach wiederholt. Daher ist es notwendig, dass es eine allgemeine Wissenschaft gibt, die als solche die übersteigenden Bestimmungen betrachtet. Und diese Wissenschaft nennen wir »Metaphysik«, was sich zusammensetzt aus meta, d. h. »über … hinaus« (trans) und ycos, d. h. Wissenschaft. Sie ist gleichsam übersteigende Wissenschaft, da sie von den übersteigenden Bestimmungen handelt. (Deutsche Übersetzung: M. Burger)
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(9) Ord. I d. 3 p. 1 q. 1–2 nn. 27–29, ed. Vat. III 18 f.: Omnis intellectus, certus de uno conceptu et dubius de diversis, habet conceptum de quo est certus alium a conceptibus; subiectum includit praedicatum. Sed intellctus viatoris potest esse certus de Deo quod sit ens, dubitando de ente finito vel infinito, creato vel increato; ergo conceptus entis de Deo est alius a conceptu isto et illo, et ita neuter ex se et in utroque illorum includitur; igitur univocus. Jeder Verstand, der über einen Begriff sicher und über verschiedene (Begriffe) in Zweifel ist, besitzt einen Begriff, über dessen (Inhalt) er sich im Klaren ist. Der sichere Begriff ist verschieden von jenen anderen, über die er (der Verstand) im Zweifel ist. Was ein Subjekt ist, schließt bereits eine (erste) Aussage ein. Nun aber kann der Verstand des irdischen Menschen zu der sicheren Erkenntnis kommen, dass Gott ein Seiendes ist; er kann aber zweifeln, ob Gott ein endliches oder unendliches Seiendes, ein geschaffenes oder ungeschaffenes Seiendes ist. Folglich ist der Begriff des Seienden, den wir Gott beilegen, verschieden von diesem oder jenem bestimmten Seienden und daher auch von sich aus neutral und in beiden möglichen Aussagen enthalten; also ist er univok. (Deutsche Übersetzung nach: T. A. Barth, Zur univocatio entis bei Johannes Duns Skotus, in: Wissenschaft und Weisheit 21 (1958), 100–102)
(10) Ord. I d. 3 p. 1 q. 3 n. 151, ed. Vat. III 93–94: Ex his apparet quomodo in ente concurrat duplex primitas, videlicet primitas communitatis in ›quid‹ ad omnes conceptus non simpliciter simplices, et primitas virtualitatis – in se vel in suis inferioribus – ad omnes conceptus simpliciter simplices. Et quod ista duplex primitas concurrens sufficiat ad hoc quod ipsum sit primum oiectum intellectus, licet neutram habeat praecise ad omnia per se cognitivus omnium passionum et differentiam coloris in communi et omnium specierum et individuorum, et tamen color non includeretur quiditative in differentiis et passionibus colorum, adhuc visis haberet idem obiectum primum quod modo habet, quia discurrendo per omnia, nihil aliud esset sibi adaequatum; igitur tunc non includeretur primum obiectum in omnibus per se obiectus, sed quodlibet per se obiectum vel includeret ipsum essentialiter, vel includetur in aliquo essentialiter vel virtualiter includente ipsum: et ita in ipso concurreret duplex primitas, scilicet communitatis, ex parte sui, et primitas virtualitatis, in se vel in suis inferioribus, – et ista duplex sufficeret ad rationem primi obiecti talis potentiae.
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Aus dem Gesagten wird offenkundig, wie im Seienden eine zweifache Erstheit zusammenläuft, nämlich die Erstheit der Gemeinsamkeit hinsichtlich des Was in Bezug auf alle nicht schlechthin einfachen Begriffe und die Erstheit des virtuellen Enthaltenseins – sei es in sich, sei es in seinen Unterbegriffen – in Bezug auf alle schlechthin einfachen Begriffe. Und dass diese zusammenlaufende zweifache Erstheit dazu genügt, dass es (das Seiende) das erste Objekt des Verstandes sei, obschon es keine von beiden hinsichtlich aller an sich verstehbaren (Gegenstände) ausschließlich besitzt. (…) Und so liefe in ihm eine zweifache Erstheit zusammen, nämlich die der Gemeinsamkeit von seiner Seite und die Erstheit des virtuellen Enthaltenseins in sich oder in seinen Unterbegriffen; und diese zweifache (Erstheit) würde zum Sinngehalt des ersten Objekts eines solchen Vermögens (wie dem unserer Vernunft) genügen. (Deutsche Übers. nach: H. L. Fäh, Johannes Duns Scotus: Die Erkennbarkeit Gottes. Ordinatio I, d. 3, pars 1, q. 1–3, in: Franziskanische Studien 50 (1968), 275 f.)
(11) Ord. I d. 8 p. 1 q. 3 nn. 113–115, ed. Vat. IV 205 ff.: Ens prius dividitur in infinitum et finitum quam in decem praedicamenta, quia alterum istorum, scilicet ›finitum‹, est commune ad decem genera; ergo quaecumque conveniunt enti ut indiffcrens ad finitum et infinitum, vel ut est proprium enti infinito, conveniunt sibi non ut determinantur ad genus sed ut prius, et per consequens ut est transcendens et est extra omne genus. Quaecumque sunt communia Deo et creaturae, sunt talia quae conveniunt enti ut est indifferens ad finitum et infinitum: ut enim conveniunt Deo, sunt infinita, ut creaturae, sunt finita; ergo per prius convemunt enti quam ens dividatur in decem genera, et per consequens quodcumque tale est transcendens … Respondeo. Sicut de ratione ›generalissmi‹ non est habere sub se plures species sed non habere aliud supraveniens genus (sicut hoc praedicamentum ›quando‹ – quia non habet supraveniens genus – est generalissimum. licet paucas habeat species, vel nullas), ita transcendens quodcumque nullum habet genus sub quo contineatur. Unde de ratione transcendentis est non habere praedicatum supraveniens nisi ens, sed quod ipsum sit commune ad multa inferiora, hoc accidit. Hoc patet ex alio, quia ens non tantum habet passiones simplies convertibiles, – sicut unum, verum et bonum – sed habet aliquas passiones ubi opposita distinguuntur contra se, sicut necesse esse vel possibile, actus vel potentia, et huiusmodi. Sicut autem passiones convertibiles sunt transcendentes qui consequuntur ens in quantum non determinatur ad aliquod genus, ita passiones disiunctae sunt transcendentes, et utrumque membrum illius disiuncti est transcendens quia neutrum determinant suum determinabile ad certum genus.
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Das Seiende wird früher in das Unendliche und das Endliche eingeteilt als in die zehn Kategorien, weil das eine von diesen, nämlich das »Endliche«, gemeinsam ist hinsichtlich der zehn Gattungen. Welche immer also dem Seienden zukommen, sofern es hinsichtlich des Endlichen und des Unendlichen unbestimmt ist oder sofern es dem unendlich Seienden eigentümlich ist, kommen ihm nicht zu, insofern als es zu einer Gattung bestimmt wird, sondern als es früher, und folglich insofern, als es ein Übersteigendes ist und außerhalb jeder Gattung ist. Welche Bestimmungen immer Gott und dem Geschöpf gemeinsam sind, sie sind solche, die dem Seienden zukommen, sofern es unbestimmt hinsichtlich des Endlichen und des Unendlichen ist, sofern sie nämlich Gott zukommen, sind sie unendlich; sofern sie dem Geschöpf zukommen, sind sie endlich. Also kommen sie nach der Weise eines Früheren dem Seienden zu, als das Seiende in die zehn Gattungen eingeteilt wird; und folglich ist jegliches solches ein Übersteigendes … Wie es zum Sinngehalt der allgemeinsten Gattung nicht gehört, unter sich mehrere Arten zu haben, sondern nicht eine andere, darüberstehende Gattung zu haben (so wie die Kategorie »wann« eine allgemeinste ist, weil sie nicht eine darüberstehende Gattung hat, obschon sie wenige Arten oder gar keine besitzt), so hat jegliches Übersteigende keine Gattung, unter der es enthalten wäre. Daher gehört es zum Sinngehalt eines Übersteigenden, nicht eine darüberstehende Aussage zu haben als das Seiende; aber dass es selbst gemeinsam hinsichtlich vieler Unterbegriffe ist, dies kommt hinzu. Dies ist offensichtlich aus einem anderen Grund; denn das Seiende hat nicht nur vertauschbare einfache Eigenschaften, wie das Eine, das Wahre und das Gute, sondern es hat einige Eigenschaften, wo die Beziehungsglieder gegeneinander unterschieden werden, wie das Notwendige gegenüber dem Möglichen, der Akt gegenüber der Potenz und dergleichen. Wie aber die vertauschbaren Eigenschaften übersteigend sind, weil sie auf das Seiende folgen, sofern es nicht zu irgendeiner Gattung bestimmt wird, so sind die paarweisen Eigenschaften übersteigend, und jedes der beiden Glieder jenes Paares ist übersteigend, weil keines der beiden sein Bestimmbares zu einer festen Gattung bestimmt. (Deutsche Übersetzung nach: H. L. Fäh, Johannes Duns Scotus: Die Einfachheit Gottes. Ordinatio I, d. 8, pars 1, q. 1–4, in: Franziskanische Studien 54 (1972), 225 f.)
(12) Ord. I d. 8 p. 1 q. 3 n. 82, ed. Vat. IV 190: Ad tertium patebit in tertio articulo ›quia Deus et creatura sunt primo diversa in conceptibus‹ ; sunt tamen primo diversa in realitate, quia in nulla realitate convenient, – et quomodo possit esse conceptus communis sine convenientia in re vel realitate, in sequentibus dicetur.
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»Gott« denken?
Zum dritten Einwand im dritten Artikel, der davon ausgeht, dass Gott und Geschöpf den Begriffen nach ursprünglich verschieden sind, wird klar werden, dass (Gott und Geschöpf ungeachtet der Gemeinsamkeit der Begriffe) in der Realität ursprünglich verschieden sind; auf welche Weise ein Begriff gemeinsam sein kann, ohne Übereinstimmung in der Sache oder der Realität (zu implizieren), wird im Folgenden gezeigt werden.
(13) Quodl. q. 3 n. 2, ed. Viv. XXV 113 ff.: Communissime (accipitur ›res‹ vel ›ens‹), prout se extendit ad quodlibet, quod non est nihil, et hoc potest intelligi dupliciter. Verissime enim illud est nihil quod includit contradictionem et solum illud, quia illud excludit omne esse extra intellectum et in intellectu. Quod est sic includens contradictionem, sicut non potest esse extra animam, ita non potest esse aliquid intelligibile vel aliquod ens in anima, quia numquam contradictorium cum contradictorio constituit unum intelligibile, neque sicut obiectum cum obiecto, neque sicut modus cum obiecto [neque … obiecto in marg. P]. Alio modo dicitur nihil, quod non est nec esse potest aliquod ens extra animam. Ens ergo vel res [vel res supra lin. P] primo isto modo, ly ens [ens supra lin. P] accipitur communissime et extendit se ad quodlibet quod non includit contradictionem, sive sit ens rationis – hoc est praecise habens esse in intellectu considerante – sive sit ens reale habens aliquam entitatem extra considerationem intellectus. Et accipitur in isto membro minus communiter pro ente quod habet vel habere potest aliquam entitatem non ex consideratione intellectus. Et istorum membrorum duorum (quorum utrumque pertinet ad primum membrum distinctionis) primum videtur valde extendere nomen rei et tamen ex communi modo loquendi satis probatur. Hoc communiter enim dicimus intentiones logicas esse res rationis et generaliter relationes rationis, et tamen non possunt esse extra intellectum. Non ergo nomen rei secundum usum loquentium determinat se ad rem extra animam. Et in isto intellectu communissimo, prout res ut ens, dicitur quodlibet conceptibile, quod non includit contradictionem – sive ista communitas sit analogiae, sive univocationis, de quo non curo modo – posset poni res sive ens obiectum intellectus, quia nihil potest esse intelligibile, quod non includit rationem entis primo modo, quia, ut dictum est prius, includens contradictionem non est intelligibile. Et isto modo quaecumque scientia non solum quae vocatur realis, sed etiam quae vocatur rationis, est de re vel de ente. Intentiones enim logicae de quibus considerat logica et etiam quaecumque intentiones grammaticae vel alia scientia sunt res isto modo. In secundo membro istius primi membri res dicitur quod habet vel ha-
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bere potest entitatem extra animam. Et isto modo videtur loqui Avicenna I Metaphys. 5 quod ea quae sunt communia omnibus rebus sunt sicut res et ens. Im allgemeinsten Sinne (wird der Term »Sache« oder »Seiendes« verstanden), wie er sich auf alles erstreckt, was nicht nichts ist. Und dies kann auf zweifache Weise verstanden werden. Im wahrsten Sinne ist nämlich jenes, und allein jenes, »nichts«, was einen Widerspruch enthält, weil jenes alles Sein außerhalb des Verstandes und innerhalb des Verstandes ausschließt. Was nämlich auf diese Weise einen Widerspruch einschließt, kann nicht, wie es nicht außerhalb der Seele sein kann, so nicht etwas Einsehbares oder ein Seiendes in der Seele sein, weil niemals ein Widersprüchliches mit einem Widersprüchlichen zusammen ein einziges Einsehbares konstituiert, weder wie ein Gegenstand mit einem Gegenstand noch wie ein Modus mit einem Gegenstand. Auf eine andere Weise nennt man »nichts«, was weder ist noch ein Seiendes außerhalb der Seele sein kann. Also »Seiendes« oder »Sache« auf diese erste Weise [aufgefasst]: Der Ausdruck »Seiendes« wird im allgemeinsten Sinne verstanden und erstreckt sich auf alles, was keinen Widerspruch einschließt, sei es ein Gedachtseiendes – d. h. ein solches, das ausschließlich ein Sein im betrachtenden Verstand hat – sei es ein Realseiendes, das eine Seiendheit [entitas] außerhalb der Betrachtung des Verstandes besitzt. Und in diesem [ersten] Einteilungsglied wird [der Ausdruck »Sache«] weniger allgemein für das Seiende verwendet, das eine Seiendheit ohne die Betrachtung des Verstandes hat oder haben kann. Und von diesen zwei Einteilungsgliedern, die beide zum ersten Einteilungsglied der [Haupt]unterscheidung gehören, scheint das erste den Ausdruck »Sache« sehr weit auszudehnen. Und dennoch wird dies aus der üblichen Sprechweise hinlänglich bewiesen. Üblicherweise sagen wir nämlich, dass die logischen Intentionen Gedankendinge und allgemein Relationen des Verstandes sind; und dennoch können sie nicht außerhalb des Verstandes sein. Der Ausdruck »Sache« beschränkt sich also nach der Sprachgewohnheit nicht auf die Sache, die außerhalb der Seele ist. Und in diesem allgemeinsten Sinne, wie man »Sache« als »Seiendes« [versteht], wird jedes ein Begreifbares genannt, was keinen Widerspruch einschließt. Sei jene Allgemeinheit eine der Analogie, sei es eine der Univokation, worum ich mich jetzt nicht kümmere, so kann »Seiendes« als Gegenstand des Verstandes verstanden werden, weil nichts ein Einsehbares sein kann, was nicht den Begriff des Seienden in dieser Weise einschließt, weil, wie zuvor gesagt wurde, dasjenige, das einen Widerspruch einschließt, nicht einsehbar ist. Und auf diese Weise handelt jede Wissenschaft, nicht nur die, die real genannt wird, sondern auch die, die Begriffs[wissenschaft] genannt wird, von der Sache oder vom Seienden. Die Intentionen der Logik nämlich,
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die die Logik betrachtet, und alle Intentionen der Grammatik oder einer anderen Wissenschaft sind auf diese Weise »Sachen«. Im zweiten Glied dieses ersten Einteilungsgliedes wird »Sache« genannt, was eine Seiendheit außerhalb der Seele hat oder haben kann. Und auf diese Weise scheint Avicenna in Metaph. 1 Kap. 5 zu sagen, dass dasjenige, das allen Dingen gemeinsam ist, wie »Sache« und »Seiendes« ist. (Korrektur des lateinischen Textes nach MS Paris Bibl. de la Sorbonne 38 f.272rb und deutsche Übersetzung: H. Möhle)
(14) Ord. I d. 36 q. un. n. 48, ed. Vat. VI 290: Ad primum principale dico quod ens ratum aut appelatur illud quod habet ex se firmum et verum esse, sive essentiae sive existentiae (quia unum non est sine altero, qualitercumque distinguantur), aut ens ratum dicitur illud quod primo distinguitur a figmentis, cui scilicet non repugnat esse verum essentiae vel existentiae. … Si secundo modo intelligatur ens ratum, dico quod homo est ex se ens ratum, quia formaliter ex se non repugnat esse: sicut enim cuicumque aliquid repugnat, repugnat ei formaliter ex ratione eius. Ich sage, dass als »festes Seiendes« entweder dasjenige genannt wird, das aus sich ein festes und wahres Sein hat, sei es der Wesenheit oder der Existenz (denn das eine ist nicht ohne das andere, wie immer sie unterschieden werden mögen) oder ein »festes Seiendes« wird dasjenige genannt, was sich ursprünglich von den Figmenten (sc. den in sich nicht möglichen Dingen) unterscheidet, also demjenigen, dem das wahre Sein des Wesens und der Existenz nicht widerstreitet. … Sofern das feste Seiende in der zweiten Weise verstanden wird, sage ich, dass der Mensch aus sich ein festes Seiendes ist, weil es ihm formal aus sich nicht widerstreitet zu sein: so wie nämlich einem jeden widerstreitet, was ihm formal aufgrund seines Gehalts widerstreitet. (Deutsche Übersetzung: L. Honnefelder)
(15) Quodl. q. 5 n. 2–4, ed. Viv. XXV 198 ff.: Infinitum, secundum Philosophum 3. Physic. est cuius quantitatem accipientibus, id est, quantuncumque accipientibus, semper aliquid restat accipere; et ratio est, quia infinitum in quantitate (sicut loquitur Philosophus) non potest habere esse nisi in potentia, accipiendo semper alterum post alterum, et ideo quantumcumque accipiantur illud non est nisi finitum, et quaedam pars totius infiniti potentialis, et ideo restat aliquid alterum ipsius infiniti accipien-
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dum. Ex hoc concludit, quod sicut infinitum habet esse in fieri et in potentia in quantitate, ita non habet rationem totius, quia totum est, cuius nihil est extra; sed extra illud infinitum, hoc est, extra illud quod habet esse de ipso, semper est aliquid extra, nec est perfectum, quia perfectum est, cui nihil perfectionis deest, si isti semper aliquid deest. Ex hoc ad propositum commutemus rationem infiniti in potentia, in quantitate, in rationem infiniti in actu, in quantitate, si posset ibi esse in actu. Si enim nunc necessario semper cresceret quantitas infiniti per acceptionem partis post partem, sic et imaginaremur omnes partes acceptibiles esse simul acceptas, vel simul remanere, haberemus infinitam quantitatem in actu, quia tanta esset in actu, quanta esset in potential. Et omnes illae partes, quae in infinita succession essent reductae in actum et haberent esse post alias, tunc simul essent in actu conceptae, illud infinitum in actu vere esset totum, et vere perfectum totum, quia nihil sui esset extra; perfectum esset, quia nihil sibi deesset, imo nihil posset addi secundum rationem quantitatis, quia tunc posset excedi. Ex hoc ultra. Si in entibus intelligamus aliquid infinitum in entitate in actu, illud debet intelligi proportionabiliter quantitati imaginatae infinitae in actu, sic ut ens illud dicatur infinitum quod non potest ab aliquo in entitate excedi, et ipsum vere habebit rationem totius et perfecti. Totius quidem, quia licet totum infinitum actu in quantitate nulla parte sui, nec etiam parte quantitatis talis, carerat, tamen quaelibet pars esset extra aliam, et sic totum esset ex imperfectis. Sed ens infinitum in entitate sic nihil entitatis habet extra, quia nec eius totalitas dependet ex aliquibus imperfectis in entitate; sic enim totum est quod nullam habet partem extrinsecam, quia tunc non esset totaliter totum; ita etiam quamvis infinitum in actu esset perfectum in quantitate, quia sibi secundum se totum, nihil quantitatis talis deesset, tamen cuilibet parti eius deesset aliquid quantitatis, quae scilicet esset in altera, nec ipsum esset sic perfectum, nisi quodlibet eius esset imperfectum. Sed ens infinitum sic est perfectum, quod nec sibi nec alicui, eius deest aliquid. Sic ergo ex ratione infiniti posita in 3. Phys. 1. applicando secundum imaginationem ad infinitatem actualem in quantitate, si esset possibilis; ulterius applicando ad infinitatem actualem in entitate, ubi est possibilis, habemus aliqualem intellectum qualiter concedendum est ens infinitum intensive, sive in perfection, vel in virtute. Ex hoc possumus ens infinitum in entitate sic describere, quod ipsum est cui nihil entitatis deest, eo modo quo possible est illud haberi in aliquo uno; et hoc pro tanto additur, quia non potest in se realiter et formaliter per identitatem omnem entitatem habere. Potest etiam describe per excessum ad quodcumque aliud ens finitum sic: Ens infinitum est quod excedit quodcumque ens finitum, non secundum aliquam determinatam proportionem, sed ultra omnem determinatam proportionem vel determinabilem.
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»Gott« denken?
Das Unendliche ist nach dem dritten Buch der Physik des Philosophen das, von dessen Quantität für die, die etwas davon wegnehmen – das heißt, soviel auch immer sie wegnehmen –, stets etwas zum Wegnehmen verbleibt; der Grund [dafür] ist, dass das der Quantität nach Unendliche (so wie der Philosoph [davon] spricht) nur ein Sein der Möglichkeit nach haben kann, [indem] stets eines nach dem anderen genommen wird, und deshalb, so viel auch immer weggenommen wird, jenes nur ein Endliches ist und ein Teil eines potentiell unendlichen Ganzen, und deshalb bleibt ein anderes vom Unendlichen selbst zum Wegnehmen übrig. Daraus schließt er, dass, wie das Unendliche ein Sein im Werden, der Möglichkeit nach und der Quantität nach hat, es so nicht die Bestimmung eines Ganzen hat, weil ein Ganzes das ist, das nichts außerhalb [seiner selbst] hat. Aber außerhalb jenes Unendlichen, das heißt, außerhalb jenes, das Sein aus sich selbst hat, ist stets etwas außerhalb, und [es] ist nicht vollkommen, weil vollkommen ist, dem nichts fehlt; dem Unvollkommenen fehlt aber immer etwas. Aufgrund dessen tauschen wir mit Blick auf das zu verhandelnde den Begriff eines der Möglichkeit nach quantitativ Unendlichen zugunsten eines Begriffes eines der Wirklichkeit nach quantitativ Unendlichen, insofern es in Wirklichkeit sein kann. Wenn jetzt notwendiger Weise die Quantität des Unendlichen ständig zunimmt durch die Annahme eines Teils nach dem [anderen] Teil – so stellen wir uns auch vor, dass alle annehmbaren Teile zugleich angenommen sind, oder dass sie zugleich verbleiben –, dann hätten wir eine unendliche Quantität der Wirklichkeit nach, weil sie in Wirklichkeit so groß wäre, wie sie der Möglichkeit nach wäre. Und alle jene Teile, die in unendlicher Folge in die Wirklichkeit zurückgeführt wären und Sein hätten nach den anderen [Teilen], wären dann zugleich in Wirklichkeit erfasst worden. Jenes Unendliche der Wirklichkeit nach wäre wahrhaft ein Ganzes, und wahrhaft ein vollkommenes Ganzes, weil ihm nichts äußerlich wäre; es wäre vollkommen, weil ihm nichts fehlte, ja nichts könnte dem Begriff der Quantität nach hinzugefügt werden, weil es dann überschritten werden könnte. Aufgrund dessen das Weitere: Wenn wir unter den Seienden etwas denken, das in Wirklichkeit unendlich an Seiendheit ist, muss jenes im Verhältnis zur Quantität des vorgestellten Unendlichen in der Wirklichkeit gedacht werden, wie jenes Seiende unendlich genannt wird, das nicht von irgendetwas hinsichtlich der Seiendheit überschritten werden kann. Und eben dieses wird wahrhaft unter die Bestimmung eines Ganzen und Vollkommenen fallen. Eines Ganzen nämlich, weil, auch wenn das Ganze, das wirklich unendlich hinsichtlich der Quantität ist, keines seiner Teile und keines der Teile einer solchen Quantität entbehren würde, dennoch jeder Teil außerhalb des anderen wäre und so das Ganze aus Unvollkommenem bestünde. Aber das in Bezug auf die Seiendheit unendliche Seiende hat auf diese Weise nichts an Seiendheit außerhalb [seiner selbst], weil seine Ganzheit nicht von irgend-
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Ludger Honnefelder
etwas abhängt, das unvollkommen hinsichtlich der Seiendheit ist. Auf diese Weise nämlich ist das Ganze das, was keinen äußeren Teil hat, weil es dann nicht ein vollständiges Ganzes wäre; Obwohl das in Wirklichkeit Unendliche vollkommen in Bezug auf die Quantität wäre – weil ihm als einem Ganzen nichts in Bezug auf eine solche Quantität fehlte –, fehlte dennoch jedem beliebigen Teil von ihm etwas an Quantität, die nämlich [jeweils] in einem anderen [Teil] wäre. Und es wäre nur so vollkommen, indem jeder seiner [Bestandteile] unvollkommen wäre. Aber das unendliche Seiende) ist auf diese Weise vollkommen, dass weder ihm selbst noch irgendetwas von ihm etwas fehlt. So haben wir ein gewisses Verständnis, wie ein unendliches Seiendes intensiv oder in Bezug zur Vollkommenheit bzw. in Bezug zur Kraft [verstanden] zuzulassen ist, aufgrund des Begriffes des Unendlichen, der im dritten Buch der Physik Kapitel 1 angenommen wird, indem er der Vorstellungskraft gemäß auf das wirklich Unendliche in Bezug auf die Quantität angewandt wird, wenn es möglich ist, und der darüber hinaus angewandt wird auf die wirkliche Unendlichkeit in Bezug auf die Seiendheit, wo dies möglich ist. Aufgrund dessen können wir das hinsichtlich der Seiendheit unendliche Seiende auf diese Weise beschreiben, dass es selbst das ist, dem nichts an Seiendheit fehlt, in einer Weise, in der es möglich wäre, dass jenes irgendeinem zukommen könnte. Und die [Bedingung] »in dem Maße [wie es möglich ist]« wird hinzugefügt, weil es nicht möglich ist, dass es real und formal in sich jede Entität aufgrund von Identität enthält. Es ist ferner möglich, es durch den Überstieg über jedes endliche Seiende hinaus zu beschreiben, [nämlich] auf diese Weise: Ein unendliches Seiendes ist das, das jedes endliche Seiende überschreitet, nicht hinsichtlich irgendeines bestimmten Verhältnisses, sondern über jedes bestimmte oder bestimmbare Verhältnis hinaus. (Deutsche Übersetzung: H. Möhle u. N. Fischer)
(16) De prim. princ. IV c. 9 n. 79, ed. Kluxen 104 f.: Per illud potest colorari illa ratio Anselmi de summo cogitabili … quia in tali cogitabili summo summe quiescit intellecus; igitur est in ipso ratio primi obiecti intellectus, scilicet entis, et in summo Hierdurch kann jenes Argument Anselms vom »höchsten Denkbaren« umgefärbt werden … in solch höchstem Denkbaren kommt der Verstand in höchsten Sinne zur Ruhe; also findet sich in ihm der Wesensgehalt des ersten Gegenstandes des Verstandes, nämlich des Seienden, und zwar im höchsten Sinn. (Deutsche Übersetzung: L. Honnefelder)
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»Gott« denken?
Hinweise: Die Übersetzungen von Honnefelder, Burger, Möhle und Fischer sind nicht in einem zitierbaren Druckwerk veröffentlicht worden, sondern im Rahmen von Seminarveranstaltungen und Studienbriefen entstanden. Sie dürfen aber mit deren Einverständnis hier verwendet werden. Die Werke des Scotus werden aus drei Ausgaben zitiert: der älteren Editio Vivès (Paris 1893 ff.), die 1969 bei Gregg nachgedruckt ist und die man bei den Texten wie den Quodlibeta, die noch nicht kritisch ediert worden sind, verwendet; ferner wird aus der kritischen Editio Vaticana (Rom 1950 ff.) zitiert, in der bislang die beiden Versionen des Sentenzenkommentars (Ordinatio und Lectura) zum größten Teil erschienen sind, sowie aus der kritischen Edition der Opera Philosophica (St. Bonaventure USA 1997 ff.), nach der Texte des Scotus aus seinen Quaestiones super libros metaphysicorum Aristotelis wiedergegeben werden.
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The Absolute and the Trinity 1
I. For nearly two centuries Christian thought about the Trinity has been deeply shaped by modernity’s great philosopher of the absolute, G. W. F. Hegel. To be sure, even those theologians who have engaged Hegel explicitly, and sometimes at length, have rarely developed their own trinitarian theologies by way of an exegesis of his texts. Still less have theologians proceeded by a laborious and perhaps fruitless quest for the ipsissima verba of Hegel’s Lectures on the Philosophy of Religion, though that task has recently absorbed considerable scholarly energy. More often than not, Hegel’s influence on modern trinitarian theology has been implicit and indirect rather than openly acknowledged. Indeed for the most part Hegel’s impact on Christian theology has been not merely indirect, but subterranean. His philosophy is notoriously susceptible of quite divergent interpretations, but few Christian theologians have thought it was possible to be a full-blown Hegelian, even when Hegel was read in a way favorable to Christianity. In the end his celebrated equation of the real with the rational leaves no room, Christian readers have usually objected, for the element of mystery so essential to Christianity, or for the faith needed to embrace the Christian mysteries. His lust for a philosophical conquest of the gospel, the urge to subject the Christian revelation, like everything else, to the mastery of his dialectical scheme of spirit’s logic and history, has seemed equally unappealing to Christian theologians. These overarching features of the way Hegel understands Christianity affect, naturally, his treatment of those central doctrinal topics, such as the Trinity and the incarnation, to which he devotes extended attention. As a result Hegel has deeply influenced modern trinitarian theology, a bit para1
This paper was first published in Pro Ecclesia 23/2 (2014), pp. 147–164.
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doxically, as the chief originator of crucial ideas embraced by thinkers who were almost always openly critical of him. Nonetheless several basic theses endorsed by much modern trinitarian theology seem to originate chiefly with Hegel. These theses have often been taken as essential to a properly theological renewal or renaissance of Christian thought about the Trinity, and their origin traced not to Hegel and other idealist philosophers of his age, but to ancient theologians supposedly neglected in the Western tradition, especially the Cappadocian Fathers. Unaware of, or unconcerned about, the place of these ideas within the Hegelian system, trinitarian theology has generally assumed it could avoid the theologically unhappy consequences they had in Hegel’s own hands. But the confidence of theologians that they could embrace Hegel’s novel trinitarian claims while avoiding his radical revision of central Christian teachings has been, I will suggest, misplaced. Here I am interested in the way Hegel’s ideas have infiltrated modern Christian reflection on the Trinity in one particular area: the way theologians have thought about – or failed to think about – the unity of the triune God. In at least two distinct ways Hegel’s outlook on Christianity has underwritten the widespread neglect of a problem that ancient and medieval trinitarianism thought was utterly basic, namely how the three distinct persons can be identical with the one God, and conversely. For trinitarian theology pursued under the shadow of Hegel, this problem has come to seem easy to solve, if not simply insignificant. When Christian thought about the Trinity emerges from the shadow of Hegel, the importance of this problem once again comes into sharp relief, as does the difficulty of solving it. As we will see, any solution to this ancient problem will need to approach the matter quite differently than modern trinitarian theology has often preferred to do.
II. In some justly famous passages of his De trinitate, Augustine articulates with particular sharpness the Church’s faith in the Father, the Son, and the Holy Spirit, each of whom is wholly God, yet none of whom is the same as either of the other two. As taught by the Church’s interpreters of scripture, Augustine relates, the Catholic faith can be 91 https://doi.org/10.5771/9783495808405 .
Bruce D. Marshall
put this way: »God is the Father, and God is the Son, and God is the Holy Spirit, but nevertheless this Trinity is not three gods but one God.« 2 Augustine readily grants that when some people hear God spoken of in this way, »They are upset … and wonder how they are to understand it.« 3 As he had already underlined, it is precisely these three who »present the divine unity« to us, in »the inseparable equality of one substance.« 4 As a result it is impossible from the start to confound Father, Son, and Holy Spirit with one another. We must count to three here, and refuse to see the members of this triad (whatever common term we use for them, such as »person«) as though we could eliminate their distinction from one another, their primordial »threeness.« »The Father generated the Son, and therefore the Son is not the one who the Father is, and the Son is generated by the Father, so that the Father is not the one who the Son is, and the Holy Spirit is neither the Father nor the Son, but precisely the Spirit of the Father and the Son.« 5 Just these irreducibly distinct three »are not three gods, but one God.« 6 These fundamental trinitarian locutions, and thereby the difficulties they pose, passed into the mainstream Western theological tradition through the extensive reception of Augustine’s De trinitate. Augustine’s great work became the core text, outside the Bible, for trinitarian theology in the medieval universities – though it functioned not only as a source, but also, indeed primarily, as a rich Problemfeld for later Latin trinitarian reflection. 7 Detached from any direct associa2 De trinitate I.v.8 (CCL 50, 36.2–4). All translations are my own. The best available English version is The Trinity, trans. Edmund Hill, O.P., Brooklyn: New City Press, 1991; here 70. 3 De trinitate I.v.8 (CCL 50, 36.2, 4–5; Hill, 70). 4 De trinitate I.iv.7: »Hoc [catholici tractatores] intenderunt secundum scripturas docere, quod pater et filius et spiritus sanctus unius substantiae inseparabili aequalitate divinam insinuent unitatem« (CCL 50, 35.2–6; Hill, 69). 5 De trinitate I.iv.7 (CCL 50, 35.6–10; Hill, 69). 6 This formulation, or some variant of it, recurs often in the De trinitate. See, e. g., I. ix.19 (CCL 50.55–6; Hill, 79), V.viii.9 (215–16; Hill, 195), VI.ix.10 (239.12–24; Hill, 212), VIII.1 (268; Hill, 241), XV.xvii.28 (CCL 50A, 503.52–4; Hill, 419). 7 The reception of the De trinitate in the medieval West is complicated, to be sure, by the fact that the text seems most often to have been known second-hand, in the extensive but fragmented presentation of it offered in various collections of sententiae, especially that of Peter Lombard. See Bruce D. Marshall, »Aquinas the Augustinian? On the Uses of Augustine in Aquinas’s Trinitarian Theology,« in: Aquinas the Augustinian, ed. Michael Dauphinais, Barry David, and Matthew Levering, Catholic University of America Press: Washington, D.C. 2007, 41–61.
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tion with Augustine, trinitarian statements of this kind were also widely familiar by way, for example, of the central place they have in the in the creed Quicumque vult. 8 Steeped in such ways of speaking, theologians and philosophers had long been aware that these elemental statements of Christian faith in the Trinity pose basic logical and metaphysical problems, in particular problems about identity. The trinitarian theology of the medieval schools made these problems explicit and central, and they consistently remained in that position in Protestant theology until the eighteenth century, and in Catholic theology until much more recently. Thus Duns Scotus, to take a characteristic and influential example, begins his very elaborate treatment of the Trinity by observing that it seems to assert the impossible. The claim that there is one divine essence, and so one God, seems flatly incompatible with the claim that this God exists as a plurality of persons. Scotus adduces a number of arguments against the coherence of these two claims, and thereby of Christian faith in the Trinity, of which the first is that it seems impossible given a basic truth about identity already enunciated by Aristotle. If two objects or states of affairs are each the same as a third object or state of affairs, then they are the same as each other. Identity or sameness, in other words, looks to be transitive: if A is identical with B, and B is identical with C, then A is identical with C. Or in Scotus’s lapidary formulation, »whatever things are simply the same as that which is simply one and the same thing are entirely the same as each other.« 9 This principle does more than enshrine an intuitively obvious truth about identity and difference, important as that is. As Scotus notes, »Thus God is the Father, God is the Son, God is the Holy Spirit, and nevertheless they are not three gods, but one God … because just as we are compelled by Christian truth to confess each person individually to be God and Lord, so also we are forbidden by the Catholic religion to say that they are three gods or lords« (Ita Deus Pater, Deus Filius, Deus Spiritus Sanctus; et tamen non tres Dii, sed unus Deus … quia, sicut singillatim unamquamque personam Deum ac Dominum confiteri christiana veritate compellimur, ita tres Deos aut Dominos dicere catholica religione prohibemur). DH 75 (= Denzinger-Hünermann, Enchiridion Symbolorum Definitionum et Declarationum de rebus fidei et morum [43rd edn,: Ignatius Press: San Francisco 2012]). 9 »[Q]uaecumque uni et eidem simpliciter sunt simpliciter eadem, inter se sunt omnino eadem.« Ordinatio I, d. 2, pars 2, q. 1 (no. 191) (Vat. edn., vol. 2, 245.10–246.1); see the quite similar formulation in Lectura I, d. 2, 2, q. 1 (no. 136) (Vat. edn., vol. 16, 159.9– 10). Cf. Aristotle, De Sophisticis Elenchis 6 (168b31–2) for some of the background to the logic of identity proposed by Scotus. 8
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the validity of all syllogistic reasoning depends on it. 10 To give up this principle about identity, if we could, would be to give up on logic, and thus on the validity of elementary inferences upon which our daily life depends, even if we never reflect on what we are doing. Applied to a familiar Augustinian statement about the Trinity such as »God is the Father, and God is the Son, and God is the Holy Spirit, but nevertheless this Trinity is not three gods but one God,« the principle that identity is transitive appears to license syllogisms of the following kind: »The one God is the Father, the Son is the one God, therefore the Son is the Father.« 11 We know with the certainty of divinely given faith that the conclusion of this argument is false, just as we know that the premises are true. So there must be something wrong with the inference; it has to be a sophism, as Scotus observes. But showing it to be a sophism requires upholding the basic truths about identity that give the inference its misleading plausibility – a task, Scotus clearly understands, as important as it is difficult.
III. Two trains of thought in Hegel, I suggested, have greatly contributed to widespread theological disregard for this question about the coherence of faith in the Trinity, which for centuries drew so much attention. One is Hegel’s idea of alienation and reconciliation, the other his disdain for questions about numerical identity and distinction. Both of these come to the fore in Hegel’s own interpretation of Christianity. As Hegel sees it, the genius of Christianity lies in the supreme importance it ascribes to the reconciliation of God and the world, and in the way it believes that reconciliation to have come about. Christianity deserves to be called the completed or perfected religion, because it exhibits in exoteric representational form the deep truth about absolute spirit that philosophy has now come to know in its own right and in its own way. In order to become fully actual, and so to realize itself, absolute spirit must come to exist in concrete and particular, and therefore Ordinatio I, d. 2, pars 2, q. 1 (no. 191) »[P]er eam tenet omnis forma syllogistica« (Vat. edn., vol. 2, 246.6–7). 11 »Hic Deus est Pater, Filius est hic Deus, ergo Filius est Pater« (Ordinatio I, d. 2, pars 2, q. 1 [no. 415]; (Vat. edn., vol. 2, 363.11–12). 10
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finite, forms. Christianity represents this as the creation of the world. Finitude, though, inevitably brings with it alienation or estrangement (Entfremdung), and thereby evil, suffering, and death. This Christianity represents as creation’s fall into sin. Spirit must overcome the alienation brought on by its own finitude. This can only come to pass when finitude, evil, and death explicitly belong to absolute spirit itself, fully and self-consciously recognized as necessary moments within spirit’s own life – as not being genuinely alien to the absolute after all. Christianity represents this reconciliation in its teaching on the full union of the divine and the human in the incarnation, and above all in its depiction of the agony of the cross. In a celebrated passage Hegel recalls the Good Friday hymn »O Traurigkeit, O Herzeleid«: »›God himself is dead,‹ it says in a Lutheran hymn. Thereby is expressed the consciousness that the human, the finite, the fragile, the weak, the negative are themselves a moment of the divine, that they are within God himself, that finitude, negativity, otherness are not outside of God and do not, as otherness, hinder unity with God … In this is contained the highest idea of the spirit.« Spirit’s reconciliation with its own finitude really takes place in history, at just the moment when alienation has reached its outermost limit, and death has entered into the divine – or, more precisely, when the most extreme negativity and otherness »is known to be a moment of the divine nature itself. 12 This reconciliation of spirit with itself, exhibited in the Christian narrative of the death and resurrection of Christ, is at the same time the full realization of spirit’s own absolute and unbreakable unity. Up to this point spirit’s supreme unity had been, like the reconciliation that accomplishes it, only implicit. By embracing, as it were, its own most extreme antithesis, by showing that »it can endure this contradiction,« spirit overcomes the contradiction, and »attains [its own] unity through the negation of the antithesis.« 13 This, and the previous quotation, from Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion: Teil 3: Die vollendete Religion, hg. v. Walter Jaschke, Felix Meiner Verlag: Hamburg 1984, 249–50 (hereafter Vorlesungen). I will generally follow the 1827 version of Hegel’s lectures. For an English translation of the whole see G. W. F. Hegel, Lectures on the Philosophy of Religion: The Lectures of 1827, ed. Peter C. Hodgson, University of California Press: Berkeley 1988); the quoted passages are on 468 (I have, however, frequently modified the translations in Hodgson’s edition). 13 Hegel, Vorlesungen, 233 (Lectures of 1827, 452); cf. 236: the unity of the divine and 12
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Here as elsewhere, few theologians have thought they could take Hegel’s interpretation of Christianity at face value. Hegel’s insistence that creation, sin, and reconciliation are alike necessary for God, inevitable moments in the self-realization of the absolute, has seemed deeply incompatible with a Christian understanding of God. Creation and reconciliation are free and generous acts of the triune God, and as such are wholly contingent. They spring from God’s will, not his nature. As a result creation, while good, is not divine; its nature is in no sense God’s own. Sin, evil, and death, which damage God’s good creation, are not only contingent and entirely non-divine; they are in no sense acts of God. God’s infinite goodness rules out any suggestion of this kind, and requires that sin and death be seen as creation’s opposition to God, creation’s own self-inflicted wound. Christian theology has sharply resisted, moreover, Hegel’s impersonal understanding of alienation and reconciliation, which has seemed at best inadequate to Christian faith in reconciliation as the work of the triune God. What comes to pass in the suffering and death of Jesus, in his resurrection from the dead, in his ascension and glorified life at the heart of God, cannot be simply the inexorable unfolding of a dialectical process. All this comes to pass between persons, who interact with one another in personal ways and with personal freedom: the trinitarian Father and the incarnate Son Jesus, in the mysterious unity of their Holy Spirit. Perhaps most clearly of all, Christian theology has repudiated the idea that the incarnation of the Son of God, in all of its particularity or »determinateness« (in Hegel’s idiom), is »a transitory moment« in either God’s own life or God’s perfecting of creation. 14 The incarnate Son Jesus, and with him all that comes to pass between him and the Father for the reconciliation of the world, cannot be superseded, philosophically or otherwise. He is forever other than the Father and other than us whom he has reconciled to the Father. He, and his work, will not vanish, but abide forever. This, and not the massive negation of both Jesus himself (together with the whole Christian Vorstellung, of
the human »must come to consciousness in infinite anguish« (Lectures of 1827, 454); also 239 (Lectures of 1827, 457). 14 »In the idea, the otherness of the Son is a transitory, vanishing moment, not a true, essentially abiding, absolute moment« (Vorlesungen, 255; cf. 250; Lectures of 1827, 474; cf. 469).
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which he is the apex) and the transcendent God of Christian faith – Hegel’s »Golgotha of absolute spirit« – is what happens on Good Friday and Easter. 15 These wide-ranging demurrals have not, however, prevented other aspects of Hegel’s treatment of Christianity from entering the theological mainstream. One of these is the thought, variously articulated by (for example) Barth, Moltmann, Jüngel, and Balthasar, that in the suffering and death of Jesus death, sin, and even divine rejection and Godforsakenness enter into the very being of God. This idea clearly owes more than a little to some striking passages in Luther and Calvin, but in modern theology it takes on a characteristically Hegelian twist. 16 It was a commonplace of the ancient Church’s conciliar Christology, from Ephesus through Chalcedon, Constantinople II, and beyond, that the suffering and death of Jesus are the suffering and death of God himself, in the person of the incarnate Son. 17 But patristic and medieval tradition (including, for the most part, Luther and Calvin) insisted that suffering and death are true of the eternal Son on account of, and only on account of, the human nature he has freely assumed, and not on account of the divine nature he possesses from all eternity and in an entirely non-contingent way. By marking this distinction of natures, the tradition affirmed that God truly suffers and dies on the cross, but not in a way that disturbs or alters his divinity. The logic of this conciliar Christology (particularly Chalcedon and Constantinople II) also permits sin to be attributed to the person of the »Die Schädelstätte des absoluten Geistes«, from the concluding lines of Hegel’s Phänomenologie des Geistes, hg. v. Hans-Friedrich Wessels u. Heinrich Clairmont, Felix Meiner Verlag: Hamburg 1988, 531. 16 Luther, for example, sometimes speaks in the following way: »Abiding in me and living in me, Christ takes away [from me] and absorbs [into himself] all the evils that torment and afflict me« (Sic Christus in me manens et vivens tollit et absorbet omnia mala quae me cruciant et affligunt. In epistolam S. Pauli ad Galatas Commentarius, 1535; WA 40/I, 284.14–16). Compare Moltmann: »Only if all disaster, forsakenness by God, absolute death, the infinite curse of damnation and sinking into nothingness is in God himself, is community with this God eternal salvation, infinite joy« [Der gekreuzigte Gott, 4. Auflage, Chr. Kaiser Verlag: München 1981], 233; ET The Crucified God, trans. R. A. Wilson & John Bowden, Harper & Row: New York 1974], 246. 17 Perhaps most obviously in Constantinople II’s canon 10, insisting that one of the holy Trinity suffered for us in the flesh: »Our Lord Jesus Christ, who was crucified in the flesh, is true God, and the Lord of glory [I Cor. 2:8], and one of the holy Trinity« (DH 432). 15
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incarnate Son in virtue of his humanity (following II Cor. 5:21 in particular), but not in the same sense in which suffering and death are attributed to him. As one way of making the distinction between the two cases puts it, suffering and death are true of him »in his own person« (in propria persona), as a particular individual, while sin is true of him not in his own person, but »in our person« (in persona nostra), on account of his relation to us as sinless head of the body of which we are the sinful members. Whether the logic of ecumenical Christological dogma further allows divine rejection and God-forsakenness to be attributed to the person of the incarnate Son is another matter. If so, it could only be in something like the sense in which sin is attributable to him, and not the sense in which suffering and death are attributable to him. So Augustine, for example, draws on the distinction between what is true of Christ in propria persona and what is true of him in persona nostra to understand his utterance from the cross of the opening words of Ps. 22. Here it is crucial, Augustine suggests, to distinguish what Christ says on our behalf (ex persona sui corporis) from what he says about himself as an individual, what he says in the voice of the Church from what he says in his own voice. »Christ speaks these words in the person of his body, which is the Church. He speaks as the person in the weakness of sinful flesh, which he transfigured into the flesh he took from the Virgin – the likeness of sinful flesh. The bridegroom speaks these words in the person of his bride because he united her to himself in a certain way … Why, then, do we disdain to hear the voice of the body from the mouth of the head? The Church suffered in him when he suffered for the Church, as he also suffered in the Church when the Church suffered for him [in martyrdom].« 18 Two distinctions, then, were long regarded as basic to a correct understanding of what God incarnate does and suffers, especially in his passion and cross: (1) between what belongs to God incarnate in virtue of his human nature, and what belongs to him in virtue of his divine nature, and (2) between what belongs to belongs to God incarnate in propria persona, as an individual person, and what belongs to him in persona nostra, as the head of the body to which we belong. Theologians now often refuse to mark either of these distinctions Ep. 140.18 (CSEL 44, 168–9); The Works of St. Augustine II/2: Letters 100–155, trans. Roland Teske, S. J., New City Press: Hyde Park, NY 2003, 253 (altered).
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(or have forgotten how to mark them). The result is a massive expansion in the properties the divine nature is now said to include, a vast catalogue of distinctively human characteristics the incarnation introduces into the being of God as such. It has become commonplace to insist that on the cross of God incarnate suffering, death, sin, and abandonment all enter into the divine nature itself. They belong not simply to the person of the Son in virtue of his becoming flesh, but to his divinity, to what it is to be God. With that the traditional doctrine of the two natures in Christ, while often retained in verbo, has effectively been foregone. The possession of human nature by the Son is at best simply the occasion for the introduction of further properties into the divine nature, characteristics that, unsurprisingly, already have to be there at least implicitly in order for the incarnation to bring them into the full light of day. The human nature of Christ is no longer the locus of properties unique to it, which God the Son possesses only because he has assumed that nature. It is now merely the locus of manifestation, the place where properties the Son already has in primordial form – self-emptying, obedience, distance from the Father, and so forth – are actualized or made present to us. In a lot of recent theology the two natures doctrine of Chalcedon and after has become, if not exactly non-functional (a fate Karl Rahner mistakenly suggested the doctrine of the Trinity had suffered in the past that was recent to him), then a shadow of its former self. It does a quite different, and much more modest, work than it was designed to do and for quite a long time actually did. The same goes, a fortiori, for the ancient theological idea that some of what we rightly attribute to Christ in virtue of his human nature he possesses not as an individual human being, but in persona nostra, only by virtue of his relation to us as the head of his mystical body. Having failed to see the work the two natures doctrine is meant to do, recent theology often also fails, naturally enough, to make any distinction between these two quite different ways characteristics can belong to Christ in virtue of his human nature. On this reading of the matter, if it is true to say, for example, »God (the Son) dies« (as ecumenical dogma requires), then it must be true in just the same sense to say, »God (the Son) is Godforsaken.« If the individual human being who is God the Son dies, it now follows with seeming inevitability that the individual human being who is God the Son is Godforsaken. Indeed refusal to affirm this last claim, and others like it, is sometimes taken 99 https://doi.org/10.5771/9783495808405 .
Bruce D. Marshall
as proof that one does not really believe the former – the ecumenical dogma – and has lapsed into a »Nestorian« squeamishness about the reality of the incarnation. We must be bold enough, so this line of thinking goes, to see that on the cross what seems to be most foreign to God actually belongs to God’s own nature. This is just the thought that structures the whole of Hegel’s philosophy of religion, and about which he is quite explicit. 19 Yet only thus, theologians now often suggest, can God really be in earnest about the cross, and the cross really be the reconciliation of the world to God. 20 Erasure of the traditional distinction between what belongs to the Son of God secundum quod homo (in virtue of his birth in time, and so of his human nature) and what belongs to him secundum quod Deus (in virtue of his eternal generation from the Father, and so of his divine nature) thus seems like a necessary condition for the massive expansion we have observed in the list of properties that can belong to the divine nature. This expansion, in turn, seems like a necessary condition for the attribution of some key items from the expanded list to a subject of that nature, that is, to a divine person. So, for example, patristic and medieval readings of Jesus’ agony in the garden or his cry of dereliction from the cross do not take these pivotal episodes of the gospel story to attest an experience of God-forsakenness or abandonment by God on the part of the incarnate Son, for the simple reason that a subject of the divine nature could not actually undergo divine abandonment. In virtue of his humanity a subject of this nature could suffer and die, but even in virtue of his humanity he could not undergo divine abandonment, because he could not cease to be divine. Recent readings of the agony and the dereliction that find in these episodes much more radical events of inner-divine conflict and opposition than traditional readings allow often present themselves as simply taking the biblical witness at its word, rather than drawing back from it out of ill-advised philosophical motives. In fact, however, these readings depend on quite basic semantic and metaphysical assumptions – they constitute, indeed, a recasting of the deep grammar of Christian
See above, note 11. On the issues raised in the last several paragraphs see Bruce D. Marshall, »The Dereliction of Christ and the Impassibility of God,« in: Divine Impassibility and the Mystery of Human Suffering, ed. James F. Keating & Thomas Joseph White, O.P., Eerdmans: Grand Rapids 2009, 246–298.
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faith in the Trinity and the incarnation. By introducing characteristics like suffering and even dereliction into the divine nature itself, they make the attribution of these characteristics to God seem unavoidable, rather than, as was long argued, either contingent (like suffering, undergone by God incarnate secundum quod homo) or impossible (like dereliction, which is incompatible with the possession of the divine nature). With this characteristically Hegelian way of understanding the import of reconciliation for the divine nature often goes another thought in trinitarian theology, closely related to the first and bearing directly on the divine unity. On this account of reconciliation, the incarnate Son accepts into his own person what is most radically opposed to God, in order to overcome it. He does this as God, that is, with respect to his divine nature, and not only as man, with respect to his human nature. But while sin, evil, death, and final abandonment belong to the divine nature on the cross, they do so in the person of the Son, and not in the person of the Father. It is the Son who takes our sin into his own heart, who dies abandoned by God, and so forth, and not the Father. In this way a seemingly open-ended expansion of properties that can belong to the divine nature appears to open up an abyss of separation and distance within God’s trinitarian life. The history of salvation seems to have brought about an unfathomable distance, if not an outright opposition and conflict, between the Son and the Father that threatens the very unity of God. Even if the divine nature can absorb into itself properties that oppose it, such as mortality and death, it is not immediately clear how these anti-divine properties can belong to one possessor of the divine nature, namely the Son, and their divine opposites, immortality and life, can belong to two others, namely the Father and the Holy Spirit. If a property belongs to the divine nature, to what it is to be God, it does not seem possible that this property be possessed by only one of the divine persons. Since they all have the nature, they all have the properties that come with it. Because ex hypothesi the extreme negativity of death and abandonment belongs to the divine nature itself, and not only to one of the divine persons (in virtue of the human nature that he possesses, alone among the three), it seems as though it must in some way belong to the Father and the Spirit as well as to the Son. If dereliction enters into the very being of God, then all three persons must in some sense be derelict, even if not in just the same sense. Perhaps feeling the difficulty 101 https://doi.org/10.5771/9783495808405 .
Bruce D. Marshall
here, trinitarian theology now regularly reflects on the Father’s suffering over his own abandonment of the Son, on the Spirit’s coming to rescue the abandoned Son, and so forth. 21 Here the aim is not, presumably, to deny or soften the opposition between the abandoned Son and the abandoning Father, but to suggest, again in characteristically Hegelian fashion, that even at the point of greatest distance between the Son and the Father, an implicit unity is already at work. In the temporal event of the Son’s abandonment, the unity of God is at once under threat and in the process of being fully realized historically. The abandoned Son and the abandoning Father have the prospect of pooling their resources, as it were – or more precisely, of turning to their supreme and final resource, the Holy Spirit – and overcoming the different forms of abandonment and loneliness that the cross brings upon each. At this point we can see another particularly important way in which the deep grammar of Christian faith is recast by theology after Hegel. By supposing that what happens to the person of the incarnate Son causes human suffering to enter into the divine nature, theologians effectively (even if not deliberately) invert the traditional use of restrictive clauses like »in virtue of« and »on account of« (secundum quod, to recall the standard medieval case). Traditionally these restrictive clauses were used to distinguish between what is true of the person Thus Barth: »It is not the case that God has no share in the suffering of Jesus Christ, even in the mode of being of the Father. No (and this is the particula veri in the teaching of the old ›patripassionists‹): in the first place it is God, precisely God the Father, who suffers in the giving away and the sending of his Son, in his humiliation. This is not his own suffering, but the alien suffering of his creature, of man, that he takes to himself in him. [Here a vestige of the two natures doctrine.] But precisely this suffering he himself suffers in the humiliation of his Son … so that man will not have to suffer as he has suffered in the giving away and the sending of his Son. This fatherly co-suffering of God is the mystery, the ground, of the humiliation of the Son, the reality, the primordial reality (das Eigentliche), that becomes an historical event in his death on the cross«, Kirchliche Dogmatik IV/2 (Zürich: Evangelischer Verlag, 1955), 399 (my translation); cf. Church Dogmatics IV/2, T. &T. Clark: Edinburgh 1958, 357. Compare Moltmann, who characteristically goes several steps further down the same road: »The Son suffers in dying, the Father suffers the death of the Son. The pain of the Father here is just as important as the death of the Son. To the Fatherlessness of the Son corresponds the Sonlessness of the Father, and if God has constituted himself as the Father of Jesus Christ, then in the death of the Son he also suffers the death of his own being as Father.« [Now not even a vestige of the two natures doctrine remains.] – Der gekreuzigte Gott, 230 (ET 243).
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of the incarnate Son with respect to his divine nature from what is likewise true of him, but with respect to his human nature. Rejecting this traditional distinction (or oblivious to it), some theologians now make much of its inverse: they distinguish what is true of the one divine nature in virtue of what the person of the Father (or the Spirit) is and does from what is likewise true of the divine nature in virtue of what the person of the incarnate Son is and suffers. The traditional semantic practice aimed to dispel the appearance of contradiction bound up with Christian faith in the incarnation, that is, with statements such as »The immortal dies« and »The impassible suffers,« by clarifying the different respects in which these opposed properties are true of one and the same person. The post-Hegelian practice aims to create contradictions within one and the same divine nature, which can then be overcome in a dramatic historical reconciliation between the persons who possess these contradictory properties. One might, perhaps, expect theologians to be wary of a trinitarian claim that attributes this sort of diastasis and opposition to the divine persons. On the contrary, however, an exuberant embrace of this idea is now common in trinitarian theology. Hans Urs von Balthasar, for example, argues that in his descent into hell, Jesus undergoes the »second death« that the book of Revelation reserves for those definitively rejected by God. Believing in the incarnation, we must see here that »it is really God who takes upon himself what is, at all events, opposed to God and eternally rejected by God, in the form of the Son’s obedience to the Father all the way to the end.« 22 In this last consequence of the via crucis, »very dimly we can glimpse God’s unity itself put at risk,« to borrow a thought Donald MacKinnon voices approvingly in a slightly different connection. 23 Conceived in this way, the reconciliation of the world to God seems to put God in need of reconciliation with himself. God reconciles the world to himself by making the world’s sin and death, even its GodHans Urs von Balthasar, »Mysterium Paschale,« in: Johannes Feiner, Magnus Löhrer (Hg.), Mysterium Salutis: Grundriss heilsgeschichtlicher Dogmatik, vol. III/2, Benziger Verlag: Einsiedeln 1969, 133–326, here: 160–1: »Somit ist es wirklich Gott, der das auf jeden Fall Widergöttliche, von Gott ewig Verworfene in der Weise des letzten Gehorsams des Sohnes an den Vater auf sich nimmt« (English translation: Mysterium Paschale, trans. Aiden Nichols, O.P., Eerdmans: Grand Rapids 1991, 52). 23 Donald MacKinnon, »Tillich, Frege, Kittel: Reflections on a Dark Theme,« in: Explorations in Theology 5: Donald MacKinnon (London: SCM Press, 1979), 136. 22
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forsakenness, his own in the person of the Son. On the cross God makes the world once again one with himself (or at least opens the way for rational creatures to be reunited with him), at the cost, however, of introducing the world’s alienation and God-forsakenness into the divine nature, and thereby into the relationship between the Father and the Son. There is something stirringly dramatic here. God loves us even to the point of putting his own unity, and with that his very existence, at hazard for our sake. 24 Ultimately, the reconciliation that must take place for the world’s deliverance from evil is not that of the world to God, but of the Father and the Son to one another, at the heart of God’s trinitarian life. On this kind of scenario, the resurrection naturally becomes the point at which the unity of God, put in jeopardy by the cross, is forever restored, or at least definitively reaffirmed. In the resurrection of Jesus, and perhaps also his ascension and exaltation, the alienation of the Son from the Father that was the price of the world’s redemption is once and for all overcome. The Holy Spirit tends to have a decisive role here. The Spirit is not only the immediate agent of the Son’s resurrection (a common enough idea; cf. Rom. 8), he is the ultimate source of the Son’s unity with the Father and, yet more strikingly, of the Father’s unity with the Son. What happens in time once again simply manifests or realizes what is already true in eternity. The Spirit frees the Father and the Son for one another, frees them to be, together with the Spirit himself, the one God. 25 The Holy Spirit thus becomes the bond of unity or love between the Father and the Son in a quite different, and markedly stronger, sense than the Augustinian trinitarian tradition (the original home of this much-discussed idea) ever imagined. Assuming that unity is convertible with being, or, in Quine’s phrase, »no entity without identity.« 25 So, for example, Robert Jenson: The Spirit »liberates Father and Son to love each other. The Father begets the Son, but it is the Spirit who presents this Son to his Father as an object of the love that begot him, that is, to be actively loved. The Son adores the Father, but it is the Spirit who shows the Father to the Son not merely as ineffable Source but as the available and lovable Father« (Systematic Theology, vol. 1: The Triune God, Oxford University Press: New York 1997, 156). »[T]he Spirit liberates the Father for the Son and the Son from and for the Father; the Son is begotten and liberated, and so reconciles the Father with the future his Spirit is« (p. 161). On some of the difficulties presented by the idea that one divine person »liberates,« »frees,« or »opens up« another, see my essay »The Filioque as Theology and Doctrine: In Reply to Bernd Oberdorfer,«, in: Kerygma und Dogma 50/4 (2004), 271–288. 24
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For trinitarian theologies that understand reconciliation in these broadly Hegelian terms, the unity of God – of the persons of the Trinity – is not a de re necessity, a state of affairs which could not be otherwise and, as such, cannot be altered or affected by any historical occurrence. On the contrary, the unity of God is in the final analysis a temporal event, the climax of the historical and dramatic separation and reconciliation of the divine persons across the abyss of evil, death, and nothingness. The »economy« does not simply exhibit an unalterable »immanent« unity of Father, Son, and Spirit (to use the standard language of modern trinitarian theology), a unity wholly actual prior to or (better) apart from this and any possible creation or economy of salvation, and so capable neither of being threatened nor of being brought about by any historical event. Rather the economic action of Father, Son, and Spirit in some way realizes or constitutes their »immanent« unity. At bottom the unity of the triune God is here conceived as an action, event, and temporal outcome accomplished or realized by the three persons themselves. There is no depth in God where any other sort of unity may be found. Here we catch clear sight of one reason, perhaps the principle reason, why trinitarian theology under the shadow of Hegel generally stopped worrying about a question that had so preoccupied the trinitarian theology of the patristic, medieval, and early modern periods: how three divine persons can be distinct from one another yet identical with the one God. The traditional question arises from the conviction, already enshrined in the language of the Nicene Creed, that Father, Son, and Spirit are distinguished as persons by a particular pattern of origination and relation, and united as God by their identity with one and the same divine essence or nature. This complex conviction gives rise to a nest of conceptual problems, both logical and metaphysical, for which it at least makes sense to seek conceptual solutions. These will never be adequate to the supreme mystery they seek to understand, but they may at least shed genuine light on it. For trinitarian theology in the Hegelian vein we have been describing, the unity of God is not, in the end, the sort of thing which could be reckoned with conceptually at all. The divine unity is not a state of affairs, unique to be sure, which might be approached with a conceptual and explanatory strategy. It is not so much the unity given by an essence or nature numerically the same for Father, Son, and Spirit as the unity realized in a unique and unfathomable sequence of temporal ac105 https://doi.org/10.5771/9783495808405 .
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tions and events, the cross and resurrection of the incarnate Son. As such the unity of the triune God is not the sort of thing that can be conceptualized, and so poses no conceptual problem to be solved. It can only be told of, narrated or depicted as the climax of creation’s great drama of alienation and reconciliation, now espied in the innermost life of God. This brings us to the second Hegelian idea that has encouraged theologians to think they could set aside the traditional question as to how three distinct persons can be one God. On this score the theological influence of Hegel is less direct, and we can be briefer. Even when theologians have come to think of the unity of God primarily or wholly as the outcome of decisive temporal actions of the divine persons, they have generally been reluctant to abandon entirely the thought that possession of one and the same essence or nature unites the divine persons. This idea is too deeply embedded in the creedal language of the Church (especially the Nicene homoousion) and in centuries of formative theological tradition simply to be dismissed. What the creed says on this score is true, theologians have more typically held, but it poses no intellectual challenge worthy of sustained attention. At least implicitly there seem to be two reasons for this assumption, both of which are openly on display in Hegel’s treatment of »the [Christian] idea of God in and for itself,« or what earlier editions of the Lectures on the Philosophy of Religion call »The Kingdom of the Father.« 26 One such reason is that the existence of three divine persons in one essence, apart from or prior to their actions of creation and reconciliation, has come to seem like a thin, even religiously impoverished idea, to which we can assign little or no definite content. The Trinity so conceived is, in just Hegel’s sense, an »abstract« idea, which may contain implicitly all that will unfold in creation and reconciliation, but is no more than the starting point for those actions in which the unity of Father, Son, and Spirit is enacted and sustained in the face of all that opposes it, and in that way manifested to us. Seen in this way the traditional problematic comes to seem essentially counterfactual, and so as a problem that does not really need a solution, if it admits of a solution at all. Counterfactual reasoning, so trinitarian theologians
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Hegel, Vorlesungen, 200–215 (Lectures of 1827, 417–32).
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now often suppose, can teach us nothing worth knowing about who the triune God actually is, or what he has actually done. A second reason comes to the fore in the way Hegel actually treats unity and distinction in the »abstract idea« of God »in and for himself,« or what theologians often call the »immanent Trinity.« To become ensnared at this point in the question how three x’s can be one and the same y exhibits, he argues, an inferior mode of thinking inadequate to what one is actually attempting to think about, a kind of numerical or arithmetical fetishism. The truth of the matter is that »God in his eternal universality is the one who distinguishes himself, determines himself, posits an other to himself, and likewise sublates the distinction,« remaining wholly one with himself. 27 »Reason« gets this, sees that unity and distinction in God are perfectly coherent, because it grasps »the concept.« »Understanding,« which trades not in concepts but in »representations,« does not get it. Befuddled, »understanding enters in and counts one, two, three,« insists that »two cannot be one,« and so sees a deep problem in the doctrine that three distinct persons are one God. 28 But the problem is illusory. The logic of identity, a plausible application of which was long thought to be at the heart of a coherent trinitarian theology, is here dismissed as a problem in need not of solution but of dissolution, a result of the inability to get beyond Verstand to Vernunft. In this theology after Hegel has often been quite happy to follow him, even if it did not always know it was doing so.
Hegel, Vorlesungen, 209 (Lectures of 1827, 426–7). Hegel, Vorlesungen, 209–10 (Lectures of 1827, 427). Philipp Marheineke’s version of this passage in the early published editions of Hegel’s Lectures on the Philosophy of Religion is even more dismissive and ad hominem: »For the understanding, God is the one, the essence of essence. This vacuous identity, lacking all distinction, is the false construction of the understanding, and of modern theology … The understanding enters in with its categories of finitude, and counts one, two three, mixing in the unfortunate form of number. But here we have nothing to do with number. Counting is utterly lacking in thought; by bringing in this form, we introduce the lack of the concept« (Für den Verstand ist Gott das Eine, das Wesen der Wesen. Diese unterschiedslose, leere Identität ist das falsche Gebilde des Verstandes und der modernen Theologie […] da kommt der Verstand hinzu, bringt seine Kategorien der Endlichkeit dazu, zählt eins, zwei, drei, mischt die unglückliche Form der Zahl hinein. Von der Zahl ist aber hier nicht die Rede; das Zählen ist das Gedankenloseste; bringt man also diese Form hinein, so bringt man die Begrifflosigkeit hinein.). – Hegel’s Werke, Bd. 12, 2. Auflage, Duncker & Humblot: Berlin 1840, 236 f.
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Bruce D. Marshall
IV Why should we not embrace this post-Hegelian form of trinitarian theology, which seems to many of our contemporaries both religiously potent and philosophically attractive? I will conclude by reflecting on one reason why we should not, and on the corresponding need to take up again the traditional trinitarian problem of how the one God can be identical with three distinct persons. Theologians who have embraced this post-Hegelian paradigm for trinitarian theology have almost always agreed, against Hegel, that creation and reconciliation are not necessary for God. They cannot be necessary, because they are gifts, the second an even greater gift than the first, and a gift precisely to the creature who has already received the first. As gifts creation and reconciliation must be free acts of the triune God, and as free acts they must be contingent. Creation and reconciliation are free, and so contingent, not only as to whether they happen, but as to how they happen. The triune God might not have created a world, and having created one might not have reconciled it to himself when it fell away from him; this God might have created a different world than this one, and reconciled that world – or the world he did in fact create – quite differently than he has. That creation and reconciliation are free and contingent acts of God has important, though often unrecognized, consequences for the way we think about the distinction of the three divine persons and their unity as the one God. Having parted with Hegel on the contingency of creation and reconciliation, it will not be possible to suppose, with him, that the unity of the triune God poses no genuine problems about identity, or that God’s unity can be thought of as a temporal act and event, rather than a necessary and unalterable state of affairs. In particular, the contingency of creation and reconciliation entails that neither the distinctions among the divine three, nor their unity as the one God, can be a mere abstract starting point or background for their temporal acts. Since all such actions are contingent, neither the distinctions among the three persons nor their unity as God can depend, in even the slightest degree, on any such action, nor be its term or outcome. 29 No action or event in creation or the economy of salvaUnless, of course, the identity of God is itself contingent. But even at their most Hegelian Christian theologians have been understandably reluctant to go that far.
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tion, in other words, can be at all constitutive either of the personal uniqueness of Father, Son, and Spirit or of their essential unity. Both the individuating characteristics unique to each person, what the scholastic tradition called their propria, and the numerical identity of the essence and existence of the three, must, on the contrary, constitute the unalterable presupposition of all that comes to pass in creation and reconciliation. We may come to know that the one God is a Trinity of persons from the revealed economy of salvation, and perhaps even from creation itself, but nothing in the contingent history of creation or salvation realizes, perfects, intensifies, or otherwise alters the divine persons in either their distinction or their unity. Post-Hegelian theology had made it seem as though the unity of the three persons somehow depends on what comes to pass in creation or the saving economy, but if the temporal acts of the triune God are genuinely contingent, the opposite is the case: what happens in creation and reconciliation wholly depends on the unity of the divine persons. 30 Patristic and scholastic reflection on processions, relations, and persons in God, deliberately shorn of all reference to the contingent events of salvation history, is neither conceptually empty nor religiously impoverished. It locates the fixed point from which creation freely comes forth, and to which, in grace and reconciliation, it freely returns. In so doing it takes us not to an emptiness that creation and reconciliation need to fill up, but to the philosophical and religious heart of the matter: the triune God himself, in the infinite richness, the superabundance, of his being, knowledge, and love. It also takes us back to the question with which we began, and which theology after Hegel has often thought it could easily dispense with. Scotus once again puts the issue very clearly. How can the one divine essence be possessed by a person who proceeds, or is produced? 31 How, more broadly stated, can the three persons be the one God? The forgoing remarks are simply meant to suggest that this is very much the right question to ask, and that the long patristic and scholastic tradition of reflection on this question is a good place to begin thinking once again about how to answer it.
Regarding the issues touched on in this paragraph, see Bruce D. Marshall, »The Unity of the Triune God: Reviving an Ancient Question«, in: The Thomist 74/1 (2010), 1–32. 31 Vgl. Lectura I, 2, 2 (no. 148): »[U]trum cum ratione essentiae divinae in aliquod stet ipsum posse produci« (Vat. edn, vol. 16, 162.14–15). 30
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Rolf Schönberger
Der Gottesgedanke. Überlegungen im Blick auf die Philosophie des Mittelalters
1. Die Problemstellung Der Begriff »Gottesgedanke« sei hier zunächst nicht in alternativer Absetzung von Gottesglaube, Gotteserfahrung, Gottesliebe verstanden, sondern als dasjenige, was in diesen enthalten ist, sofern jeder Glaube und jede Erfahrung einen Inhalt hat und jede Liebe sich auf etwas oder jemand richtet. Denken als das Haben bzw. Sich-Beziehen auf solche Inhalte ist auch nicht bloß eine Fähigkeit, die der Mensch neben anderen zur Verfügung hat und die er zu bestimmten Zwecken gebrauchen kann. Alles, was der Mensch hat oder tut, hat in irgendeiner Weise mit dem Denken zu tun. 1 Denken – dies fasst zum einen die Grundbestimmung des Menschen, zum anderen dasjenige, worauf der Mensch alles, was ihm begegnet und was er selbst ist, sein kann und sein soll, beziehen kann. Man beschreibt Dinge durch ihre Eigenschaften und Fähigkeiten. Der Mensch ist kein Lebewesen, das über die Fähigkeiten hinaus, über die er als Angehöriger einer einzelnen Spezies verfügt (aufrechter Gang; »physiologische Frühgeburt«; Charakter der Hand etc.), eben auch noch das Denken besitzt. Genauso wie bei der Sprache ist der Mensch in alledem, was ihn ausmacht, von seinem Denken bestimmt. In keiner Hinsicht existiert der Mensch, ohne sein Dasein in irgendeiner Weise zu deuten. Denken in diesem Sinne ist also nicht etwas neben Erfah-
1 Thomas von Aquin, De ver. 2, 2 (ed. Leon. XXI, 44, 126–129): haec est ultima perfectio ad quam anima potest pervenire secundum philosophos ut in ea describatur totus ordo universi et causarum eius; Hegel, Enz. § 2 (Ges. Werke, XX, ed. W. Bonsiepen u. H.-Ch. Lukas, Hamburg 1992, 40 f.): »Indem nur dem Menschen Religion, Recht und Sittlichkeit zukommt, und zwar nur deswegen, weil er ein denkendes Wesen ist, so ist in dem Religiösen, Rechtlichen und Sittlichen – es sei Gefühl und Glauben und Vorstellung – das Denken überhaupt nicht untätig gewesen.«
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Der Gottesgedanke
rung, Glaube etc., sondern umgekehrt: All das steht in einem notwendigen Bezug auf das Denken. Was heißt Denken? Das Denken nun umfasst wenigstens zwei Leistungen: Denken heißt zum einen, etwas als etwas auffassen können, d. h. eine Bestimmung haben, ohne von ihr bestimmt zu sein; wir sind ja nicht das, worauf wir uns primär im Denken beziehen. Denken heißt zum anderen, verschiedene Inhalte zugleich haben zu können, d. h. imstande sein, sie in ein Verhältnis zueinander zu bringen. Die einzelne Vorstellung verdrängt andere Vorstellungen, die einzelne Wahrnehmung alle übrigen Wahrnehmungen. Aber das Denken vermag diese verschiedenen Inhalte in unterschiedliche Beziehungen zu bringen: Einzelfall-Allgemeinbegriff, Grund-Folge, Identität, Gegensätzlichkeit, usw. Diese Beziehung ist sogar die notwendige Voraussetzung dafür, denkerische Akte überhaupt zu vollziehen. Die jetzt zu erörternde Frage ist nun, wie Gott im Denken präsent ist. Man wird sagen: Alles ist im Denken als Gedanke präsent. Also ist unvermeidlich der Gottesgedanke als Gedanke oder als Vorstellung ein Gedanke neben anderen, seine Vorstellung eine unter vielen. Menschen denken in Situationen tiefer Dankbarkeit, großer Not oder auch überwältigender Freude an Gott. Es gibt sogar Handlungen, die dem Menschen diese Art von Denken – im Deutschen spricht man von »An-dacht« – erleichtern: nämlich symbolische und deshalb zugleich rituelle Handlungen. Psychologisch gesehen ist jedoch die Vorstellung Gottes kein anderes Ereignis, als sich die Dämpfe der Solfatara oder ein Beethoven-Portrait vorzustellen. In diese Richtung geht wohl auch eine Warnung Meister Eckharts, der in einer seiner frühesten Schriften schreibt: Der Mensch soll sich nicht genügen lassen an einem gedachten Gott; denn wenn der Gedanke vergeht, so vergeht auch der Gott. Man soll vielmehr einen wesenhaften Gott haben, der weit erhaben ist über die Gedanken des Menschen und aller Kreatur. 2
Aber auch ein wesenhafter Gott muss ja gedacht werden. Den Gottesgedanken nun kennzeichnen, wenn man so sagen darf, zwei Anomalien. Zum einen gehört es wohl zu den primären Momenten des Got2 Die rede der underscheidunge, 6 (DW V, p. 205, 5–9; Übers. J. Quint): »Der mensche ensol niht haben noch im lâzen genüegen mit einem gedâhten gote, wan, swenne der gedank vergât, sô vergât ouch der got. Mêr: man soll haben einen gewesenden got, der verre ist obe den gedenken des menschen und aller crêatûre.«
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tesgedankens, sich selbst nicht als bloßen Gedanken zu verstehen. Erst in der nachträglichen Reflexion, die sich auf alle Inhalte des Denkens richten lässt, kann der Gedanke aufkommen, der Gottesgedanke sei nichts als ein Gedanke. Ungeachtet seiner strengen Kritik am ontologischen Gottesbeweis hat Thomas von Aquin dies doch ausdrücklich als einen Inhalt des Wissens beansprucht, dass das Sein zum Wesen Gottes gehört. Eine zweite Anomalie betrifft den allgemeinen Charakter des Gedankens. Wie bei jedem Begriff meinen wir darin etwas. Aber inhaltlich ist dies kein Gedanke wie jeder andere, im Hinblick auf andere Gedanken ist es sogar ein ganz unvergleichlicher Gedanke. Seine Einzigartigkeit gehört wiederum zum Gedanken selbst. Es wäre nicht der Gottesgedanke, wenn man ihn als einen Gedanken wie jeden anderen nähme. Damit aber wird ein Problem unausweichlich. Aller Anspruch auf Einzigartigkeit hebt doch den Charakter des Gedanklichen selbst nicht auf. Wie bei allen Gedanken kann man, wie eben schon bemerkt, auch hier fragen, ob es nicht tatsächlich nur ein Gedanke sei. Manche haben denn auch behauptet, Gott sei ein bloßer Gedanke; die Wirklichkeit Gottes habe ihren einzig unbestrittenen Ort ausschließlich im menschlichen Bewusstsein. Jener Status ist aber auch offen gegenüber dem umgekehrten Bedenken: Andere nämlich haben die Gegenbewegung ins Extrem radikalisiert und behauptet, Gott sei etwas, das sich im Ernst gar nicht wirklich denken lasse; Gott sei fern, »transzendent«, kein räumliches, aber doch ein Jenseits des Denkens; an diese Transzendenz reiche das Denken eines sterblichen oder kulturell verfassten Wesens seiner Natur nach nicht heran. Und außerdem hat Denken sicherlich etwas mit Bestimmtheit zu tun. Kann man bei dem Wort Gott tatsächlich etwas Bestimmtes denken? Und was wäre der Grund, das Fundament für diese Bestimmtheit? Das Unendlichkeitsgefühl der vorromantischen Aufklärung wollte alle Bestimmtheit gerade zurückdrängen. Auf die berühmte »Gretchenfrage« (»Nun sag: wie hast dus mit der Religion?«) sagt Faust aufrichtig und irreführend zugleich: »Und wenn du ganz in dem Gefühle selig bist, / Nenn es dann, wie du willst: / Nenns Glück! Herz! Liebe! Gott! / Ich habe keinen Namen / Dafür! Gefühl ist alles; / Name ist Schall und Rauch, / Umnebelnd Himmelsglut.« 3
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Goethe, Faust, 3452–3458.
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Dass aber Gott, wie man mitunter sagt, »das ganz Andere« sei, ist genau betrachtet, d. h. im Blick auf den unmittelbaren Wortsinn, ein widersprüchlicher Gedanke: Wenn Andersheit sich immer auf Hinsichten bezieht, dann kann »ganz anders« nur heißen: in jedweder Hinsicht anders. Man kann nicht wirklich von etwas sagen, es lasse sich in keiner Hinsicht denken; allenfalls kann sich im Denken zeigen, dass es sich – wie etwa im Fall des hölzernen Eisens – um kein Etwas handelt. In der Leugnung der Denkbarkeit jedoch haben wir das angeblich Undenkbare längst schon gedacht. Augustinus hat die darin liegende Inkonsequenz hervorgehoben: Habe ich nun etwas gesagt oder verlauten lassen, was Gottes würdig wäre? Nein, im Gegenteil: ich fühle recht wohl, daß ich den guten Willen hatte, nur etwas solches zu sagen: habe ich aber einmal etwas gesagt, so ist es nicht das, was ich eigentlich hätte sagen wollen. Woher weiß ich das anders, als weil Gott unaussprechlich ist? Sollte aber nicht dadurch, daß ich sage, Gott sei unaussprechlich, das Unaussprechliche schon ausgesprochen worden sein? Und daher darf Gott nicht einmal das Unaussprechliche genannt werden, weil ja doch schon dadurch, daß er nur so genannt wird, etwas von ihm ausgesagt wird. Es entsteht dadurch wirklich ein gewisser Widerspruch der Worte, weil es, wenn das unaussprechlich ist, was nicht genannt werden kann, nichts Unaussprechliches geben kann, das auch nur unaussprechlich genannt werden könnte. 4
Eine weitere Besonderheit hat der Gottesgedanke mit einigen anderen Begriffen gemein. Darin unterscheidet sich das Denken von jeder Art von Wahrnehmung. In dieser kann etwas auch dann präsent sein, wenn ich es falsch bestimme. Dies ist aber bei einem Inhalt, der keine sinnliche Qualität und keinen vorstellungsmäßigen Gehalt hat, von dem es also kein »Bild« und damit keine Wahrnehmung geben kann, eben nicht möglich. Wir müssen Gott denken; dies tut auch der Atheist, sofern er nur wirklich sich klar macht, was er sagt. Natürlich folgt aus der Unumgänglichkeit, Gott zu denken, nicht, dass alle Menschen dasselbe bei dem Wort »Gott« denken. Dies ist De doctr. Christ. I, 6, 6 (CCSL 32, p. 9, 1–9): Diximusne aliquid et sonuimur aliquid dignum deo? Immo uero nihil me aliud quam dicere uoluisse sentio; si autem dixi, non hoc est quod dicere uolui. Hoc unde scio, nisi quia deus ineffabilis est? quod autem a me dictum est, si ineffabile esset, dictum non esset. Ac per hoc ne ineffabilis quidem dicendus est dues, quia et hoc cum dicitur, aliquid dicitur et fit nescio qua pugna uerborum, quoniam si illud est ineffabile, quod dici non potest, non est ineffabile, quod uel ineffabile dici potest. (Übers. S. Mitterer).
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sogar offensichtlich nicht der Fall. 5 Damit stehen wir vor der Alternative: Entweder ist die Bedeutung dieses Wortes, die sich ja auch aus verschiedenen Erfahrungen und sprachlichen Möglichkeiten ergibt, völlig beliebig. Dann wäre die Erörterung schon zu Ende. Wenn sie aber nicht beliebig ist, entsteht die höchst schwierige Frage: Lässt sich etwas angeben, was wir denn bei diesem Wort denken müssen? Anders gefragt: Welches ist der Maßstab für einen angemessenen Gottesbegriff und von welcher Verbindlichkeit ist dieser Maßstab? Sicherlich ist vieles und am Ende wohl deutlich mehr als wir vermuten mit einem allzu konventionellen und vordergründigen Gottesbegriff nicht vereinbar. Aber woher wissen wir, was im Einzelnen nicht vereinbar ist? Was ist zwar ein Grund für eine Korrektur, aber noch nicht Grund für die Aufhebung des Gedankens? Ich nenne nur kurz einige Beispiele: Ist die Allmacht und die Güte Gottes mit den Übeln in der Welt vereinbar? Ist die Gnade Gottes mit der menschlichen Freiheit verträglich? Ist die Unendlichkeit Gottes mit der Endlichkeit der Welt vereinbar? Ist insbesondere der Begriff der Person mit der Unendlichkeit Gottes verträglich? Wäre es völlig beliebig, dann bliebe nur die sarkastische Umschreibung aus einer Geschichte Heinrich Bölls: »jenes höhere Wesen, das wir verehren« 6. Robert Spaemann hat auf das schon im 17. Jahrhundert erörterte Problem hingewiesen, dass das Wort »Gott« in manchen Sprachen ein Äquivalent hat, dann also als Prädikator fungiert, in anderen dagegen ein so unzulängliches, dass das Wort »Gott« dann als Eigenname eingeführt und verwendet werden muss. 7 Diese Tatsache wird für Thomas zu einem seiner Argumente gegen den ontologischen Gottesbeweis: Die Bestimmung quo nihil cogitari nequit bedarf einer Rechtfertigung, da selbst in der Philosophie unterschiedliche Gottesbegriffe kursieren: ScG I, 11 (67): Primo quidem, quia non omnibus notum est, etiam concedentibus Deum esse, quod Deus sit id quo maius cogitari non possit: cum multi antiquorum mundum istum dixerint Deum esse. 6 H. Böll, »Doktor Murkes gesammeltes Schweigen«, in: Kölner Ausgabe, IX, ed. J. H. Reid, Köln 2006, 303–326. 7 R. Spaemann, »Die Frage nach der Bedeutung des Wortes ›Gott‹«, in: ders., Einsprüche. Christliche Reden, Einsiedeln (Johannes) 1977, 13–35; hier: 21; das Problem nochmals grundsätzlicher aufgenommen in: »Was ist das, ›quod omnes dicunt deum‹«?, in: Gottesbeweise als Herausforderung für die moderne Vernunft, T. Buchheim et al. (Hg.), Tübingen (Mohr Siebeck) 2012, 33–45; hier: 34 ff.; vgl. ders., »Das unsterbliche Gerücht«, in: Das unsterbliche Gerücht. Die Frage nach Gott und die Täuschung der Moderne, Stuttgart (Klett-Cotta) 2007, 11–36; hier: 15: »Wir können das Wort ›Gott‹ gebrauchen, wie wir wollen. Aber wenn es uns auf die Eindeutigkeit der Referenz an5
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Alle Debatten darüber, was man Gott zuschreiben und von ihm glauben soll, wären völlig überflüssig, stünde von vornherein der Ausweg offen, den Begriff Gottes eben so zu bestimmen, dass alle diese Spannungen, Widersprüche oder Probleme erst gar nicht auftreten oder doch glattweg behoben werden können. Auch dann freilich wäre übrigens eine, wenn auch negative Notwendigkeit statuiert; Gott wäre dann dasjenige, was all diese Erfordernisse in konsistenter Weise erfüllt. Wenn sich das Denken in ein ausdrückliches Verhältnis zu Gott bringt, dann kann, so scheint es, nicht bloß der Inhalt ein besonderer sein – diese Besonderheit muss dann auch für das Verhältnis zu ihm gelten. Sonst tritt der oben angedeutete Widerspruch auf zwischen der Form des Gedankens, die gänzlich unspezifisch ist, und seinem Inhalt, der völlig einzigartig ist. Aber jeder Gedanke unterscheidet sich von anderen Gedanken. Daher kann die Besonderheit nicht allein im Inhalt liegen. Das Nachdenken über die Mittel des Identifizierens und Klassifizierens hat ein ganzes Arsenal von Begriffstypen zu unterscheiden gelehrt. Über die Form des Gedankens hat die Philosophie des Mittelalters mit allem Aufwand nachgedacht. Dieser Zugang, der hier versucht wird, soll ohnehin nicht rein systematisch bleiben. Es hätte wenig Sinn, über die mögliche oder notwendige Stellung des Gottesgedankens zu räsonieren und gleichzeitig völlig davon abzusehen, in welcher Weise Gott in der Philosophie gedacht wurde. Étienne Gilson 8 hat aus der französischen Aufklärung einen besonders strengen Kritiker herangezogen: Condorcet. Er hat aber über die mittelalterlichen Denker geurteilt: Nous devons à ces scolastiques des notions plus précises sur les idées que peut se former de l’Être suprême et de ses attributs; sur la distinction entre la cause première et l’univers qu’elle est supposée gourner; sur celle de l’esprit et de la matière; sur les différents sens que l’on peut attacher au mot liberté; sur ce que l’on entend par la création; sur la manière de distinguer entres elles les diverses opérations de l’esprit humain et de classer les idées qu’il se forme des objets réels et de leurs propriétés. 9
kommt, dann sind wir nicht so frei. Bestimmtheit der Referenz gibt es nur, wo wir uns nicht auf etwas, sondern auf jemanden beziehen.« 8 L’esprit de la philosophie médiévale, Paris (Vrin) 1932, I, 45. 9 Tableau historique des progrès de l’esprit humain, Paris 1900, 87.
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Ein scharfer Kritiker der Aufklärung, Hegel, hat ebenfalls neben den bekannten Herablassungen dem mittelalterlichen Denken gegenüber doch versucht, diese Epoche auf den Begriff zu bringen. Dieser Begriff hat nun gerade damit zu tun, den Ausgang vom Gedanken – als dem Gegensatz zum Sein – hervorzuheben. 10 Auch wenn man dies nicht für alle Formen und Traditionen des mittelalterlichen Denkens bestätigen kann, so ist diese Diagnose nicht nur angesichts des Anselmischen Argumentes, auf das es gemünzt ist, sondern auch angesichts der intensiven Debatten über Glaube und Wissen, über den Status des Gottesgedankens und den Beweisanspruch bei den anderen Argumenten nicht von der Hand zu weisen. Abgesehen von den vielfältigen Kontroversen der Scholastik darüber, welche Aussagen über Gott der Philosophie und welche der Theologie zuzuweisen sind, scheint es ja einen Vorbegriff von dem geben zu müssen, dem diese Prädikate zugeschrieben werden. Wenn etwas nur über seine Prädikate und nicht kraft seiner unmittelbaren Gegebenheit einen Bezug auf sich erlaubt, dann muss dieser Bezug auch unabhängig von ganz bestimmten Prädikaten möglich sein, wenn man nicht Gefahr laufen soll, am Ende doch schlicht von Verschiedenem zu reden. 11 Die vom Christentum bestimmte Philosophie des Mittelalters 12 hat auf eine erstaunliche Weise Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Teil 4, hg. v. P. Garniron u. W. Jaeschke, Hamburg (Meiner) 1986, 34: »Der einfache Inhalt dieses Beweises hscil. des ontologischen Gottesbeweises Anselmsi enthält den Gegensatz von Denken und von Sein, und es ist merkwürdig, daß wir sehen, daß erst jetzt und nicht früher das Denken, das Allgemeine, und das Sein in dieser Abstraktion einander entgegengesetzt werden und so der höchste Gegensatz zu Bewußtsein gekommen ist. Es ist die höchste Tiefe, den höchsten Gegensatz zum Bewußtsein zu bringen.« 11 R. Spaemann, »Christentum und Philosophie der Neuzeit«, in: Das unsterbliche Gerücht. Die Frage nach Gott und die Täuschung der Moderne, Stuttgart (Klett-Cotta) 42007, 65–91; hier: 68: »Erst im Mittelalter wird die Philosophie zu dem, was sie in gewisser Weise heute noch ist, zu einer fundamentalen Disziplin im Rahmen eines Universitätsstudiums, einer Disziplin, die als Basiswissenschaft auch für die Theologie unerläßlich wird. Man kann sagen, daß die Entideologisierung der Philosophie das Resultat des Christentums ist. Es gibt im Mittelalter große Philosophie, es gibt aber nicht eigentlich ›Philosophen‹, d. h. Menschen, die ihre Existenzweise durch Philosophie definieren.« 12 Dies war für nicht wenige, auch durchaus theoretisch weit voneinander entfernte Philosophen der Grund, dem Denken des Mittelalters den philosophischen Charakter abzusprechen, etwa B. Russell, Wisdom of the West, ed. P. Foulkes, London (Macdonald) 21960, 153; History of Western Philosophy [1946], New York (Routledge) 1961, 427; Belege zu M. Heidegger: Vf., »Antiqui – Philosophi – Philosophantes. Die Philoso10
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Konzepte entwickelt, die gerade nicht das Christentum als Prämisse voraussetzen. Man versuchte Klarheit darüber zu gewinnen, welches die Bedeutung des christlichen Glaubens ausmacht und dies kann man nur, wenn man bereit ist, diese Voraussetzung dahinzustellen.
2. Gott als letzter und als erster Gedanke a) Es scheint nun zwei Formen zu geben, wie das Denken sich zum Absoluten – denkend – verhalten kann. Die erste Möglichkeit lautet: Der Begriff des Absoluten wird gewonnen als ein letzter Gedanke, als »Abschlussgedanke«. 13 Dazu gelangt alles Denken, insofern es nach Gründen fragt und dabei von der Überzeugung getragen ist, dass das Fragen nach Gründen nur dann Sinn hat, wenn sich ein letzter Grund angeben lässt, ein Grund also, der das Fragen abschließt und zwar daphie als Problem im 13. Jahrhundert«, in: Albertus Magnus und die Anfänge der Aristoteles-Rezeption im lateinischen Mittelalter. Von Richardus Rufus bis zu Franciscus de Mayronis, hg. v. L. Honnefelder u. a., Münster (Aschendorff) 2005, 795–819; hier: 795 n. 1. Allerdings hat Heidegger auch die neuzeitliche Philosophie mit dem Christentum in eine enge Verbindung gebracht, Der Satz vom Grund, Pfullingen (Neske) 51978, 123 (GA X, ed. P. Jaeger, Frankfurt, Klostermann, 1997, 105): »Obwohl das Denken von Leibniz und Kant nach der historisch gerechneten Zeitferne uns um vieles näher liegt als das Denken des Griechentums, ist das neuzeitliche Denken in seinen Grundzügen weit schwerer zugänglich; denn die Schriften und Werke der neuzeitlichen Denker sind anders gebaut, vielschichtiger, mit Überlieferung durchsetzt und überall in die Auseinandersetzung mit dem Christentum eingelassen.« 13 Dies ein Begriff von Dieter Henrich, der ihn allerdings nicht allein auf den Gottesgedanken bezieht, sondern auf die Metaphysik insgesamt: »Was ist Metaphysik – was Moderne? Zwölf Thesen gegen Jürgen Habermas«, in: ders., Konzepte, Frankfurt (Suhrkamp) 1987, 11–43; hier: 13; 27 f.; so auch R. Spaemann, Über Gott und die Welt. Eine Autobiographie in Gesprächen, Stuttgart (Klett-Cotta) 2012, 281: »Die Idee Gottes ist ein ›Abschlussgedanke‹«; vgl. »Wie praktisch ist die Ethik?«, in: ders., Grenzen. Zur ethischen Dimension des Handelns, Stuttgart (Klett-Cotta) 2001, 2637; hier 27: »Die Philosophie wird so zum unabschließbaren Diskurs. Dessen Inhalt sind zwar, nach einem Wort von Dieter Henrich, ›Abschlußgedanken‹. Aber diese Abschlußgedanken schließen nichts ab, sondern werden zu Momenten in einem Diskurs, der weitere Abschlußgedanken hervorbringt.« – Kein Zufall, dass auch Spaemann gleichzeitig des Öfteren (auch im genannten Buch, 225) die berühmte Stelle aus Hegels Phänomenologie zitiert, die lautet: »Sollte das Absolute durch das Werkzeug uns nur überhaupt näher gebracht werden, ohne etwas an ihm zu verändern, wie etwa durch die Leimrute der Vogel, so würde es wohl, wenn es nicht an und für sich schon bei uns wäre und sein wollte, dieser List spotten.« Ges. Werke, IX, ed. W. Bonsiepen u. R. Heede, Hamburg (Meiner) 1980, 53, 31–34.
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durch, dass es das Weiterfragen sinnlos macht, der also dadurch Grund für alles andere ist, dass er selbst den Grund dafür enthält, keinen Grund haben zu können. Der Begründer dieser Auffassung ist Aristoteles und wichtige Denker des Mittelalters haben sich auch darin an ihm orientiert. Er hat es nicht bloß behauptet, sondern darüber hinaus ausdrücklich begründet, wieso der Grund, der den Kosmos insgesamt in Bewegung hält und also ein erster und universeller Grund ist, nicht auch für uns Menschen der erste Gedanke ist und sein kann: Dies gilt nämlich nach Aristoteles grundsätzlich und generell für alle Erkenntnis. Was für uns das Naheliegende und Offensichtliche ist, bedarf zu seinem Verständnis der Beziehung auf das, worin es begründet liegt. 14 Gründe sind nun aber in aller Regel – weil allgemeiner Natur – nicht so offensichtlich wie das, was uns als Ereignis oder als Phänomen vor Augen tritt. Die Suche nach Gründen ist eine Tätigkeit, die das Denken durch seine Reflexion auf sein eigenes Nichtverstehen in Gang bringt und in Gang hält. Dieses erfahrene Nichtverstehen ist nicht notwendig ein Staunen, sondern wohl eher ein Sich-Wundern, ein Verwundert- oder Irritiert-sein. Das Denken muss also erst zu diesen Gründen gelangen, um dann dank dieser Gründe sein Verstehen wiederherzustellen. Thomas von Aquin, der sich auch in dieser Hinsicht an Aristoteles orientiert hat, hat dies denn auch ausdrücklich und sogar mehrfach ausgesprochen: Allen Menschen ist von Natur aus das Verlangen eingeboren, die Gründe dessen, was sie sehen, zu erkennen: Deshalb begannen die Menschen mit dem Philosophieren zuerst wegen des Sich-Wunderns darüber, welche Gründe dasjenige, was sie sahen, wohl habe. Und sie kamen hersti zur Ruhe, als sie den Grund gefunden haben. Die Nachforschung hört nicht eher auf, bis man zum ersten Grund gelangt. 15 Phys. I, 1; 184 a 1–184 b 5; von diesem Kapitel hat M. Heidegger geurteilt. Der Satz vom Grund [n. 12], 112 (GA X, 94): »Dieses kurze Kapitel ist die klassische Einführung in die Philosophie. Es macht auch heute noch ganze Bibliotheken philosophischer Literatur überflüssig.« 15 Summa contra gentiles III, 25 (2065): naturaliter inest omnibus hominibus desiderium cognoscendi causas eorum quae videntur: unde propter admirationem eorum quae videbantur, quorum causae habebant, homines primo philosophari coeperunt, invenientes autem causam quiescebant. Nec sistit inquisitio quousque perveniatur ad primam causam [Übers. K. Allgaier]; Lect. s. Evangelium S. Matth. V, 2 (ed. R. Cai, Turin/ Rom, Marietti, 1951, nr. 434): Naturale autem desiderium est, quod homo videns effectus inquirat de causa unde enim admiratio philosophorum fuit origo philosophiae, 14
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Thomas ist daher der Auffassung, dass die philosophische Erkenntnis auf die Gotteserkenntnis zielt – also gerade nicht von ihr ausgeht. 16 Diese Ausrichtung auf das Verstehen durch Gründe hat übrigens auch dazu geführt, dass im klassischen Aufbau des Studiums die Logik an die erste Stelle, die Metaphysik an die letzte Stelle gesetzt wurde. 17 Erst bei Descartes wird die prima philosophia auch im genetischen Sinne »erste Philosophie«. b) Diese andere Form des denkenden Gottesverhältnisses gibt dem Gedanken auch als Gedanken einen ersten Rang. Anders als im Aristotelismus ist Gott nach dieser Tradition nicht nur in der Wirklichkeit, sondern auch für das menschliche Denken das Erste. 18 Dieses lässt sich in mehrfacher Weise denken, immer aber im Ausquia videntes effectus admirabantur et quaerebant causam. Istud ergo desiderium non quietatur, donec perveniat ad primam causam, quae Deus est; Sum theol. I, 12, 1: Inest enim homini naturale desiderium cognoscendi causam, cum intuetur effectum; et ex hoc admiratio in hominibus consurgit. Si igitur intellectus rationalis creaturae pertingere non possit ad primam causam rerum, remanebit inane desiderium naturae; Sum. theol. I, 21, 1. 16 ScG II, 4 (876): Exinde etiam est quod non eodem ordine utraque doctrina procedit. Nam in doctrina philosophiae, quae creaturas secundum se considerat et ex eis, in Dei cognitionem perducit, prima est consideratio de creaturis et ultima de Deo. In doctrina vero fidei, quae creaturas non nisi in ordine ad Deum considerat, primo est consideratio Dei et postmodum creaturarum. Et sic est perfectior: utpote Dei cognitioni similior, qui seipsum cognoscens alia intuetur. 17 In Eth. Nic. VI, 7 (ed. Leon. XLVII/2, 359, 204): logica docet modum totius philosophiae; In Boethium De Trin. 5, 1 ad 3 (ed. B. Decker, Leiden, E. J. Brill, 1955, 168; ed. Leon. L, 139, 216–220); als solche steht sie daher am Anfang der philosophischen Bildung – die Metaphysik am Ende, da auf ihr Thema, die Erkenntnis der ersten Gründe, die intentio philosophorum gerichtet ist: Super librum De causis, prooem. (Sancti Thomae de Aquino Super librum de causis expositio, ed. H. D. Saffrey Fribourg/Louvain 1954, [Textus Philosophici Friburgenses, 4/5]; ScG I, 4 (23): Ad cognitionem einim eorum quae de Deo ratio investigare potest, multa praecognoscere oportet: cum fere totius philosophiae consideratio ad Dei cognitionem ordinetur; propter quod metaphysica, quae circa divina versatur, inter philosophiae partes ultima remanet addiscenda; zur Stellung der Metaphysik im Lehrprogramm: Duns Scotus, Ord. I d. 3 p. 1 q. 1–2 n. 77 (ed. Vat. III, 53); dieser beruft sich auf Avicenna, der wohl auch die Vorlage für Thomas gewesen ist: Met. I, 3 (Liber de philosophia prima sive scientia divina, ed. S. Van Riet, Louvain/Leiden 1977, 20 f.): Ordo vero huius scientiae est ut discatur post scientias naturals et disciplinales. 18 M. Laarmann, Deus, primum cognitum. Die Lehre von Gott als dem Ersterkannten des menschlichen Intellekts bei Heinrich von gent (ßetßs_cruxm; 1293), Münster (Aschendorff) 1999 [BGPhMA, NF 52]; W. Goris, Absolute Beginners. Der mittelalter-
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gang von allgemeinen Grundbestimmungen des Denkens. Die interessanteste Variante ist diejenige, wonach Gott etwas wie ein erster und sozusagen unvordenklicher Gedanke ist. Sie besteht in Folgendem: Das Denken ist sich selbst seiner Endlichkeit, aber zugleich seiner Kraft des Erkennens bewusst. Insofern sich diese Kraft jedoch nicht aus der materiellen Welt begreifen und damit auch nicht aus den wechselseitigen Einwirkungen erklären lässt, gebraucht das Denken formale Kategorien wie wahr und falsch, gut und schlecht. Formal nennt man diese Kategorien, weil wir damit umgehen können, ohne in jedem Einzelfall schon entscheiden zu können, was wahr oder falsch, was gut oder schlecht ist. Anselm von Canterbury rechnet in seiner ersten Schrift Monologion (aus dem Jahre 1076) diese Unterscheidungsfähigkeit nicht zu Leistungen der Vernunft, sondern zu dem, was Rationalität wesentlich ist: Schließlich bedeutet Vernünftigsein für das vernünftige Wesen nichts anderes, als das Gerechte vom Nicht-Gerechten, das Wahre vom NichtWahren, das Gute vom Nicht-Guten, das Bessere vom weniger Guten unterscheiden können. 19
Damit ist dem endlichen Denken zwar keine Garantie gegeben, das Wahre als das Wahre auffassen zu können. Dies ist schon deswegen unmöglich, weil angesichts einer solchen Leistungsfähigkeit das Denliche Beitrag zu einem Ausgang vom Unbedingten, Leiden/Boston (Brill) 2007 [STGMA 93]. 19 Anselm von Canterbury, Monol., c. 68 (Opera omnia I, 78, 21–23): Denique rationali naturae non est aliud esse rationalem, quam posse discernere iustum a non iusto, verum a non vero, bonum a non bono, magis bonum a minus bono [Übers. F. S. Schmitt]. Dies ist kein für eine eng umgrenzte Tradition spezifisches Lehrstück, wie sich an folgenden Texten noch belegen ließe: Aristoteles, De part. anim. II, 10; 656 a 5–8; Bonaventura, Sent. II d. 35 p. 1. q. 1 (Opera omnia II, 593 b); Thomas von Aquin, De spir. creat., a. 10 (ed. Leon. XXIV/2, p. 107, 325–332); Sum. theol. I-II, 19, 1; 91, 2. Vielleicht kommt einem dies typisch mittelalterlich vor. Aber der Begründer der neuzeitlichen Philosophie, René Descartes, schreibt in einem ganz ähnlichen Sinne, Descartes, Disc. III (AT VI, p. 27): »Gott hat jedem von uns ein Licht gegeben, Wahres und Falsches zu unterscheiden.« Der Gedanke lässt sich aber auch ganz unabhängig von der Tradition des Christentums belegen. Seneca, Ep. 66, 35: »Über Gut und Schlecht urteilt die Sinneswahrnehmung nicht: was nützlich ist, was nicht nützlich ist, weiß sie nicht. Nicht kann sie abgeben ein Urteil, wenn sie nicht vor eine unmittelbare Situation geführt worden ist. Nicht sieht sie die Zukunft voraus noch erinnert sie sich der Vergangenheit: was folgt weiß sie nicht. Daraus aber wird die Ordnung der Dinge und Reihenfolge gewoben und die Einheit eines Lebens, das den rechten Weg gehen will. Die Vernunft also ist die Richterin über Gut und Schlecht.«
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ken sich nicht mehr als menschliches identifizieren könnte, d. h. als die Tätigkeit eines sterblichen Wesens. Aber das Wahrsein als solches hat den Charakter von Absolutheit. Eine andere Variante geht vom Begriff des Seins aus. Bonaventura schreibt in einem berühmten Text, dem Itinerarium mentis in deum, das im Jahre 1259 entstanden ist, dem Sein eine absolute Gewissheit zu. 20 Diese – zunächst merkwürdig anmutende – Aussage betrifft nicht allein den Inhalt des Begriffes »sein«, sondern auch die Affirmation seiner Existenz. Vom Sein kann gar nicht gedacht werden, dass es nicht ist. Dies geht nach Bonaventura aus dem absoluten Gegensatz von Sein und Nichts hervor. Das Nichts enthält nichts, was im Begriff des Seins enthalten ist, und so enthält umgekehrt der Begriff des Seins nichts, was in irgendeiner Weise eine Negation einschließt. 21 Es handelt sich allerdings nicht um eine symmetrische Relation, denn der Begriff des Nichts-Seins setzt den des Seins voraus, umgekehrt jedoch setzt der Begriff des Seins den des Nicht-Seins nicht voraus. »Sein« für sich genommen besagt nun reine Wirklichkeit: illud esse est quod est purus actus. 22 Was soll das heißen? Welche Wirklichkeit ist damit gemeint? Da es sich um eine reine, alle Negation ausschließende Wirklichkeit handelt, kann es kein einzelnes Seiendes sein, denn dieses ist gerade ein beschränktes und zugleich veränderliches Sein, das in dieser Beschränkung und Wandelbarkeit notwendig eine Negation enthält. Es kann sich aber auch nicht um das allgemeine, aber vielfältig ausgesagte Sein handeln, weil dessen Sein nur im Gedacht- bzw. eben im Ausgesagtsein liegt, es also nur Sein in seinem geringsten Grade darstellt. Es ist also das reine Sein selbst. 23 Aber wird nicht gleichwohl das NichtSein Gottes verschiedentlich behauptet und also auch gedacht? Das scheint sich ja nicht bestreiten zu lassen und Bonaventura bestreitet dies auch nicht, aber er hält es für Blindheit. Es wird alles überhaupt nur durch das Sein gedacht, so dass gerade dieses nicht eigentlich beItin. V, 3 (Op. omn. V, 308 b): ipsum esse adeo in se certissimum, quod non potest cogitari non esse. 21 Itin. V, 3 (Op. omn. V, 308 b): Sicut igitur omnino nihil nihil habet de esse nec de eius conditionibus; sic econtra ipsum esse nihil habet de non-esse, nec actu nec potentia, nec secundum veritatem rei nec secundum aestimationem nostram. 22 Itin. V, 3 (Op. omn. V, 308 b). 23 Itin. V, 3 (Op. omn. V, 308 b-309 a): Sed hoc non est esse particulare, quod est esse arctatum, quia permixtum est cum potentia, nec esse analogum, quia minime habet de actu, eo quod minime est. Restat igitur, quod illud esse est esse divinum. 20
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stritten werden kann. Es ist eher vergleichbar damit, dass Menschen zwar alles nur sehen, weil es vom Licht erhellt ist, aber das reine Licht selbst nicht sehen. 24 Der Grund für das Offenkundige ist an sich im höchsten Maße offenkundig, aber nicht für uns. Es handelt sich freilich um keine psychologische These von einem im genetischen Sinne ersten Gedanken. Es scheint, dass gerade im Blick auf allgemeine und zugleich normative Ideen nicht von ungefähr die Überzeugung ausgebildet wird, dass derlei sich keinem gedanklichen Prozess verdanken kann, weil dieser gar nicht in Gang kommt oder doch sich selbst nicht verstehen kann, wenn er solche Ideen nicht voraussetzt.
3. Die Unvollständigkeit dieser Alternative All dies sind noch abstrakte, d. h. aus einem rein systematischen Prinzip aufgefächerte Konzeptionen, wie man an Vertretern der mittelalterlichen Denkgeschichte wiedererkennen kann. Es ist nun aber besonders interessant, dass diese Positionen durchaus mehr Berührungspunkte haben, als man durch die vorgeführte Entgegensetzung vermuten könnte: Gott gilt zwar immer als erste Wirklichkeit; für die eine, die aristotelische Tradition, ist er gerade deswegen ein letzter Gedanke, während für die andere, die platonisch-augustinische Tradition, die erste Wirklichkeit auch der erste Gedanke des Menschen sein muss. Gewiss werden in den Texten, welche diese meine Überlegungen im Auge haben, die Fragen nicht auf dieser Ebene diskutiert – oder doch nur partiell. Thomas kritisiert die Lehre vom primum cognitum, 25 aber deren Vertreter kritisieren nicht ausdrücklich die Konzeption des Abschlussgedankens. Aber gleichwohl scheint mir dieser Aspekt aufschlussreich, weil man auf diese Weise gerade zeigen kann, dass diese Alternative, Erstgedanke oder Abschlussgedanke zu sein, selbst in geItin. V, 4 (Op. omn. V, 309 a): Mira igitur est caecitas intellectus, qui non considerat illud quod prius videt et sine quo nihil potest cognoscere. Sed sicut oculus intentus in varias colorum differentias lucem, per quem videt cetera, non videt, et si videt, non advertit; sicut oculus mentis nostrae, intentus in entia particularia et universalia, ipsum esse extra omne genus, licet primo occurit menti, et et per ipsum alia, tamen non advertit. 25 In Boethium De Trin. 1, 3 (ed. Leon. L, 86–88); das Thema hat er ein Jahrzehnt später nochmals aufgegriffen: Sum. theol. I, 88, 3. 24
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Der Gottesgedanke
wisser Weise limitiert bleibt. Gewiss kann man sagen, diese Zuordnung besage niemals nur eine Einordnung in einer Reihe. Denn der erste Gedanke ist der in allen anderen vorausgesetzte bzw. der anders als alle anderen nichts voraussetzende 26 und der letzte Gedanke ist derjenige, auf den alle anderen zielen. Aber wenn dies nicht bloß eine Behauptung und ein leerer Anspruch bleiben soll, dann muss sich dies auch eigens zeigen. a) Auch Aristoteles muss nun aber ein primäres Verhältnis des Denkens zum Absoluten zulassen. Insofern nämlich Gott als Ziel des Strebens der Natur gedacht wird, bezieht er sich auf eine Wirklichkeit, deren Bewegtheit sich nicht der menschlichen Initiative verdankt. Aber selbst die Realisierung des Denkens verdankt sich einem Streben. Auch der Verstand ist nicht schon das, was er sein kann. Da aber zugleich diese Realisierung im Verhältnis zur Möglichkeit nicht gleichgültig ist, wird diese als Erlangen eines Zieles und nicht als Resultat einer beliebigen Aktivierung verstanden. Aber als menschliches Denken weiß sich auch bei Aristoteles das Denken als abhängig vom göttlichen. Platon hatte Erkenntnis als Erinnerung (ἀνάμνησιϚ) bestimmt. Dies hat Aristoteles aufgegeben. Aber nichtsdestoweniger bleibt dieser ursprüngliche (wenn auch nicht bewusste) Bezug, den das menschliche Denken zu seinem Ursprung hat, auch innerhalb der Philosophie des Aristoteles bestehen – wenn auch an einer eher selten zitierten Passage. Sie steht in der Eudemischen Ethik und war im Mittelalter präsent als ein Buch, das den Titel trug De bona fortuna. Es heißt dort: Was setzt den Anfang der Bewegung in der Seele? Nun, es ist klar: so wie es in der Gesamtheit der Dinge Gott ist (der bewegt), so bewegt er auch alles jene (in der Seele). Denn in gewisser Weise setzt das Göttliche in uns alles (in uns) in Bewegung: des Denkens Anfang ist ja nicht das Denkende, sondern etwas Stärkeres. Was wäre nun sowohl dem Wissen wie der Denkkraft überlegen außer Gott? 27 Leibniz, Nouv. ess. I, 1 (AA VI/6, 76); vgl. die Reflexionen, die Augustinus im 8. Buch von De trinitate darlegt. 27 Eudemische Ethik VIII, 14; 1248 a 25–29: τίϚ ἡ τῆϚ κινήσεωϚ ἀρχὴ ἐν τῇ ψυχῇ. δῆλον δή ὥσπερ ἐν τῷ ὅλῳ θεόϚ, καὶ κἀν ἐκείνῳ κινεῖ γάρ πωϚ πάντα τὸ ἐν ἡμῖν θεῖον λόγου δ᾽ ἀρχὴ οὐ λόγοϚ, ἀλλά τι κρεῖττον τί οὖν ἃν κρεῖττον καὶ ἐπιστήμηϚ εἴη καὶ νοῦ πλὴν θεόϚ; (Übers. F. Dirlmeier). – Dieses Kapitel VIII, 2 wurde gesondert übersetzt und überliefert (in ca. 155 Handschriften!); Aegidius Romanus hat den Text sogar kommentiert. Autor, Ort und Zeit der Übersetzung sind unbekannt; vgl. Th. De26
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Auch Thomas von Aquin hat diesen Text wiederholt angeführt. 28 Er hat darüber hinaus trotz seines Insistierens darauf, dass die Existenz Gottes eines Beweises fähig, aber auch bedürftig ist, durchaus anerkannt, dass der Gottesgedanke in einer gewissen Hinsicht, nämlich implizit, vorhanden sein muss: »Alles Erkennende kennt Gott implizit in allem Erkannten. So wie nämlich nichts das Wesen des Erstrebenswerten hat, so ist nichts erkennbar, außer durch die Ähnlichkeit mit der ersten Wahrheit.« 29 Auch die Kraft des Denkens verdankt sich nicht sich selbst. So haben auch Aristoteliker wie Thomas von Aquin die Kraft des Denkens mit dem göttlichen Verstand in Verbindung gebracht, 30 die Denkprinzipien als natürlichen, also geschaffenen Habitus interpretiert, 31 und alle gedankliche Transparenz auf ein göttliches Licht zurückgeführt. 32 Auch das Gute, von dem der Psalmist gefragt hat, wer dieses noch zeiman, »Le ›Liber de bona fortuna‹ dans la théologie de S. Thomas d’Aquin«, in: RSPhTh 17 (1928), 38–58; C. Fabro, »Le Liber de bona fortuna de l’Ethique à Eudème d’Aristote et la dialectique de la providence chez saint Thomas«, in: Revue thomiste 88 (1988), 556–572. 28 Contra doctrinam retrahentium a religione, c. 9 (ed. Leon. XLI, p. C 57, 265–275), wo er es schon ausdrücklich der ›Eudemischen Ethik‹ zuordnet: solum sacrorum doctorum auctoritatibus assertionis eorum convincitur falsitas, sed etiam philosophicis documentis. Dicit enim Aristotiles in quodam capitulo Eudimicae Ethic. quod intitulatur de bona fortuna: quod autem quaeritur quid est motus principium in anima, palam quemadmodum in toto Deus; rationis enim principium non ratio, sed aliquid melius. Quid igitur utique erit melius scientia et intellectu, nisi Deus?; Sum. theol. I-II, 9, 4: necesse est ponere quod in primum motum voluntatis voluntas procedeat ex instinctu alicuius exterioris moventis, ut Aristoteles concludit in quodam cap. Eth. Eudemicae; Sum. theol. I-II, 68, 1; Sum. theol. I-II, 109, 2 ad 1 De malo, q. 6 (ed. Leon. XXIII, p. 149, 406–413); De sortibus, c. 4 (ed. Leon. XLIII, p. 235, 260–266). 29 De ver. 22, 2 ad 1 (ed. Leon. XXII, 617, 72–74): quod etiam omnia cognoscentia cognoscunt implicite Deum in quolibet cognito. Sicut enim nihil habet rationem appetibilis nisi per similitudinem primae bonitatis, ita nihil est cognoscibile nisi per similitudinem primae veritatis [Übers. T. A. Ramelo O.P.]; M. Laarmann, Deus, primum cognitum [n. 18] sagt zu dieser Stelle, sie sei »zum ›Credo‹ für den Transzendentalthomismus im Gefolge Maréchals geworden« (284 f.). 30 ScG II, 84 (1688): non potest concludi quod anima sit aeterna, sed quod veritates intellectae fundentur in aliquo aeterno, fundantur enim in ipsa prima veritate, sicut in causa universali contentiva omnis veritatis. 31 Sum. theol I, 18, 3. 32 In Boethium De Trin. 1, 1 (ed. Leon. L, p. 82, 178–179): in omni cognitione veritatis indiget mens humana divina operatione [»In jeder Wahrheitserkenntnis bedarf der menschliche Geist der göttlichen Wirksamkeit«]. 1, 3 ad 1 (ed. Leon. L, p. 88, 153–154): nec hoc lumen habet aliquam efficaciam nisi ex prima luce.
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Der Gottesgedanke
ge, hat Thomas im Sinne der praktischen Vernunft gedeutet. 33 Dieses Bestimmtsein muss freilich immer erst als solches erkannt werden. b) Umgekehrt muss aber auch die Position, die Gott zu einem ersten und unvordenklichen Gedanken erklärt, ihre Begriffe klären. Sie kann dies nicht tun, ohne zu wissen, was der Fall ist. Die These, dass der Mensch in seinem Bewusstsein eine bereits vollständig bestimmte Gottesidee vorfinde, ist ein bloßer Wunschtraum. Es gehört gerade zur Endlichkeit des Menschen, dass er sich auf die Gegebenheiten der Welt einlassen muss. Der Gottesgedanke kann zudem gar nicht in seiner Universalität gedacht werden, wenn nicht der Bezug auf die Welt insgesamt mit gedacht wird. Nicht zufällig ist hierfür wohl die Bedeutung des Guten, das ohnehin nicht auf das Moralische reduziert, sondern in seiner transzendentalen Bedeutung in Anspruch genommen wird. Es ist gewiss auch kein Zufall, dass Platon das Gute zugleich als das »erste Geliebte« 34 bestimmt und die Lehre von der Idee des Guten als das höchste Lehrstück an das Ende der Ausbildung der Wächter setzt. Nicht wenige haben die Besonderheit dieser Lehre hervorgehoben, in der ein Grund für das Sein und die Erkennbarkeit angegeben wird. 35 Die Alternative eines Erst- und Abschlussgedankens ist für das Denken aber auch noch in anderer Hinsicht nicht erschöpfend. Diese beiden Bestimmungen sind gar nicht ganz klar. Denn es handelt sich um formale Bestimmungen, die sich vordergründig nur durch die darin angegebenen Stellungen zum menschlichen Denken insgesamt zu unterscheiden scheinen. Es ist aber gar nicht gesagt, dass Gedanken, die sich dadurch und nur dadurch unterscheiden, ansonsten dieselben Gedanken sein können. Denn es handelt sich ja, wie man gerade an den Sum. theol I-II, 19, 4. Lysis 219 c. 35 Werner Jaeger, Paideia, III, Berlin (de Gruyter) 1949, 5, bezeichnet es als »das höchste Prinzip seiner Philosophie«; Martin Heidegger nennt es die »Spitze seiner Philosophie«: Vom Wesen der Wahrheit. Zu Platons Höhlengleichnis und Theätet, GA XXXIV, ed. H. Mörchen, Frankfurt, Klostermann, 21997, 96; Wolfgang Wieland, Platon und die Formen des Wissens, Göttingen (V & R) 1982, 196, sagt, der Serie der drei Gleichnisse in Platons Politeia komme »eine Schlüsselstellung in Platons geschriebenen Werk« zu und sein Antipode, Hans Joachim Krämer, Arete bei Platon und Aristoteles. Zum Wesen und Geschichte der platonischen Ontologie, Heidelberg (Winter) 1959, 473 nennt Pol. 508– 509 »anerkanntermaßen die philosophisch belangvollste Partie des ganzen dialogischen Werkes«; Raffael Ferber, Platos Idee des Guten, St. Augustin (Richarz) 1984, 60, nennt es »den Höhepunkt der Republik und damit des platonischen Schrifttums überhaupt«. 33 34
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mittelalterlichen Kontroversen sehen kann, nicht so sehr um als solche bereits identifizierbare Gottesgedanken. Vielmehr ist ja gefragt worden, in welcher Weise sie dies sind. Thomas hat gegen die Argumente des Bonaventura eingewandt, dass es sich nur um allgemeine und eben implizite Gottesgedanken handelt; ihre Affirmation ist also nicht identisch mit der Affirmation des Gottesgedankens als solchem. 36 Aber gäbe es eine explizite Affirmation ohne eine voraufgehende implizite Präsenz?
4. Die Relativierung des Gedankens Die eben kursorisch typisierten Positionen sind also im Hinblick auf die gedanklichen Erfordernisse einander doch ein Stück näher, als die rein systematische Auffächerung und auch die ausgetragenen Kontroversen zunächst haben vermuten lassen. Wenn sich in der angedeuteten Weise die zunächst diametral entgegengesetzten Theorien einander näher stehen als zunächst vermutet, dann kann man vermuten, dass es auch noch in einem anderen Sinne weitere Möglichkeiten in dem denkerischen Raum gibt, der durch die eingangs skizzierte Alternative nicht ausgeschöpft war. Die Fassung des Gottesgedankens als eines Erst- oder Letztgedankens fasst ihn als einen im Verhältnis zu den anderen Gedanken. Man kann auf diese Weise einsichtig machen, dass es sich nicht um einen Gedanken wie andere, sondern um einen uniken Gedanken handelt. Warum muss es das? Offenbar deswegen, weil andernfalls diese Idee nicht als die Idee Gottes identifiziert werden könnte. Dergleichen hat manche Denker dazu geführt, den Gottesgedanken als einen der Natur des menschlichen Geistes bereits immanenten und nicht durch dieses Denken allererst gewonnenen Gedanken aufzufassen. Dieser Aspekt kann aber nur einer von mehreren sein, weil eben doch auch vom Begriff Gottes das gelten muss, was für alle Begriffe gilt, andernfalls wäre die Rede von so etwas wie Begriff, Gedanke, Idee durch nichts gerechtfertigt, sondern ein bedauerlicher Fall von äquivokem Wortgebrauch. Daher muss auch noch davon die Rede sein, wie sich der Gedanke zu dem verhält, was mit ihm gemeint ist. Denn wenn Sum. theol. I, 2, 1 ad 3: dicendum quod veritatem esse in communi est per se notum; sed primam veritatem esse, hoc non est per se notum quoad nos.
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es sich um einen uniken Gedanken handelt, dann kann auch dieses Verhältnis gerade nicht in allen Hinsichten so sein wie bei Begriffen von endlichen Gegebenheiten. Durchweg, wenn auch in verschiedener Form und Intensität wird die Unzulänglichkeit von Denken und Sprechen gedacht und ausgesprochen. Gemessen woran handelt es sich um ein Defizit und wie wird dieses Defizit bemerkbar? Dies ist in den verschiedenen Formen der negativen Theologie des Mittelalters reflektiert worden, die sich zugleich an verschiedenen Typen solcher Selbstbeschränkung und Selbstaufhebung orientieren (Augustinus; Dionysius Areopagita; Maimonides). Die Unbestimmtheit wird hier gerade nicht als Defizit gefasst, sondern, da unvermeidlich und in ihrer Unvermeidlichkeit auch einsichtig, als gerade angemessen. Thomas versteht in diesem Sinne die göttliche Selbstaussage »Ich bin der ich bin« bzw. »Ich bin der, der ist.« 37 Gerade die Philosophie hat daher zwar die Sprache der antiken Philosophen gesprochen, aber die in anderen Fällen ja ganz verpönte metaphorische Sprache verteidigt. Es wird hier also ein Bezug sichtbar, der gerade nicht allein durch den Begriff hergestellt wird. Wir können nur etwas meinen, weil Worte eine entsprechende Bedeutung haben. Hier aber meinen wir etwas, worauf man gerade nicht allein und ausschließlich durch derlei Bedeutungen gerichtet ist. Vielmehr wird das Gemeinte nur dann gemeint, wenn diese Bedeutungen auch wieder zurückgenommen oder doch korrigiert werden. Wenn dies keine Revision wie die Negation eines zuerst zugesprochenen Prädikates sein soll, dann muss offenbar der Gedanke noch durch andere Beziehungen aufrechterhalten werden und werden können. Es scheint, dass dies nur durch eine gegenüber dem Meinen andere Form des Anzielens, nämlich des Strebens, möglich ist. Dies wird denn auch in vielen Texten des mittelalterlichen Denkens deutlich – freilich wird es dort nicht in der Weise verständlich gemacht, wie das hier behauptet wird, wo eine Bedingung für die Referenzeindeutigkeit als erforderlich behauptet wird. Aber es ist doch auffällig, dass überall dort, wo von der Ursprünglichkeit der Gottesidee die Rede ist, immer auch vom Streben nach dem Guten, an einer natürlichen Orientierung am höchsten Gut gesprochen wird. 38 Das Streben wird trotz und ungeachSum. theol. I, 13, 11. Boethius, Philos. cons. III pr. 2, 4 (CCSL 94, p. 38, 11–13): est enim mentibus hominum ueri boni naturaliter inserta cupiditas; u. a. zitiert bei: Bonaventura, De myst. Trin. 37 38
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tet seiner verschiedenen Inhalte und Intensitäten als kommensurabel angesehen und daher (!) auf ein höchstes Gut bezogen. Dieser Bezug scheint den Terminus präsent zu halten, der allein durch den gedanklichen Bezug nicht erhalten bliebe. Grenzen des Denkens und Sprechens sind von grundsätzlich anderer Art als Grenzen der Wahrnehmung und der physischen Kraft. Der kognitive Bezug könnte auch in seiner Unzulänglichkeit gar nicht verständlich gemacht werden. Thomas zitiert wiederholt 39 einen Ausdruck, den er aus Dionysius entnimmt, der von einem gewissen Hierotheus gesagt hat, er habe das Göttliche nicht nur »gelernt«, sondern auch »erlitten«: patiens divina. 40 Dies meint kein völlig passives Erleiden, in dem der Mensch einer uninterpretierbaren Erfahrung ausgesetzt würde, sondern ist nach Thomas ein Affiziertwerden, ein Angetansein, wie es die Liebe ist. Der Gottesgedanke bliebe aber in der Tat doch trotz aller ihm zugesprochenen und mit Konsequenz berücksichtigten Einzigartigkeit nur ein Gedanke, wenn alle anderen grundlegenden Weisen des Menschen, sich auf etwas Wirkliches zu beziehen, von diesem Gottesgedanken gänzlich isoliert blieben. So ist das Defizit, das im Gedanken liegt, kein bedauerlicher und eigentlich aufzuhebender Mangel, sondern gerade angemessen. Das I, 1 arg. 3 (Op. omn. V, 45 b); Thomas von Aquin, Super Sent., lib. 4 d. 49 q. 1 a. 3 qc. 1 s. c. 1. 39 Sum. theol. I, 1, 6 ad 3; II-II, 45, 2; In De div. nom. II, 4 (ed. C. Pera, Turin/Rom 1950, nr. 191–192): Tertius modus habendi est, quod doctus est ista quae dixit ex quadam inspiratione diviniore, quam communiter fit multis, non solum discens, sed et patiens divina, idest non solum divinorum scientiam in intellectu accipiens, sed etiam diligendo, eis unitus est per affectum. Passio enim magis ad appetitum quam ad cognitionem pertinere videtur, quia cognita sunt in cognoscente secundum modum cognoscentis et non secundum modum rerum cognitarum, sed appetitus movet ad res, secundum modum quo in seipsis sunt, et sic ad ipsas res, quodammodo afficitur. Sicut autem aliquis virtuosus, ex habitu virtutis quam habet in affectu, perficitur ad recte iudicandum de his quae ad virtutem illam pertinent, ita qui afficitur ad divina, accipit divinitus rectum iudicium de rebus divinis. Et ideo subdit quod ex compassione ad divina, idest ex hoc quod diligendo divina coniunctus est eis (si tamen dilectionis unio, compassio dicit debet, idest simul passio; De ver. 26, 3 arg. 18; Bonaventura scheint (laut Bougerol: J. G. Bougerol, »Saint Bonaventure et le Pseudo-Denys« [1968], in: ders., Saint Bonaventure: Etudes sur les sources de sa pensée, Northampton (Variorum Reprints) 1989, I, 33– 123 diese Passage nicht zu zitieren; bei Albertus Magnus wohl nicht zitiert – außer in seinem Kommentar: Super Dion. De div. nom. II n. 76 (ed. Col. 37/1, 91, 58–92–36). 40 De div. nom. II, 9 (PG 3 848 B; Corpus Dionysiacum I, 134, 1–2): μόνον μαθὼν ἀλλὰ καὶ παθὼν τὰ θεῖα.
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menschliche Streben macht als Streben nach Erkenntnis einerseits deren Defizit überhaupt erst merklich – andernfalls würde es sich von allem Unverständlichen einfach abwenden – und hält andererseits die Beziehung auch dann aufrecht, wenn alle rein begrifflichen Bestimmungen als unzulänglich eingesehen werden. Es ergibt sich also, wenn man sich erlaubt, die in Frage kommenden Texte nicht ausschließlich im Blick auf ihre Intention und deren Realisierung zu lesen, ein mehrfacher Bezug: Der Gedanke im Verhältnis zu anderen Gedanken, der Gedanke im Verhältnis zum Gemeinten, der Gedanke im Verhältnis zu anderen Formen der Bezugnahme. Aber weil es sich um einen solch umfassenden Bezug handelt, kommt das mittelalterliche Denken immer wieder darauf zurück, nicht nur einen Bezug herzustellen, sondern diesen als einen Bezug zu fassen, in dem es immer schon steht. Das Denken versteht sich als ein endliches und daher als ein geschaffenes. Diese Endlichkeit macht auch verständlich, dass es zu den Grunderfahrungen des menschlichen Denkens gehört, selbst einen Weg beschreiten zu müssen. Man denke an die metaphorischen Begriffe wie »Erfahrung«, »Irrtum«, »Methode«, »Prozess«, »Denkschritte« usw. Das Denken ist darin ein Abbild des menschlichen Lebens, dessen Bewegung niemals an denselben Ort unter denselben Bedingungen und Umständen zurückkehrt. Nun wäre es jedoch eine rationalistische Verkürzung, läge diese Veränderung des Denkens nur in seinen Inhalten. Eine Veränderung dieser Art bliebe ja auch ganz beliebig und gegenüber der Zeitlichkeit des Bewusstseins als einer Form des Lebendigseins auch ganz äußerlich. Einen strukturellen und also denkerisch interessanten Bezug muss man so denken, dass sich das Verhältnis auf eine nachvollziehbare (also nicht beliebige!) Weise ändert. Man kann wohl sagen, dass der Platonismus in all seinen Varianten genau diese Form der Selbstmodifikation des Denkens durch das Sich-Aussetzen diesem besonderen und zuletzt einzigartigen Gehalt des Denkens realisiert hat. Insofern sich das Denken in einen ursprünglichen Bezug auf das Absolute eingelassen weiß, zugleich aber diesen Bezug sich klar machen kann, verändert dies auch die Kategorien, mit denen wir die Welt zu verstehen und zu deuten suchen. Dabei wird etwa ersichtlich, dass das Absolute kein »Gegenstand« ist wie jeder andere. In einer angemessenen Sprache ist es gar nicht in die Kategorie der Gegenständlichkeit einzuordnen. Wenn Gott kein Ding, kein Ereignis, kein Etwas usw. ist, dann lässt sich nur in Analogien und Gleichnissen von ihm 129 https://doi.org/10.5771/9783495808405 .
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reden. Eine solche Analogie darf freilich nur die Bedeutungsweise betreffen, soll der Begriff nicht äquivok werden und damit die Folge haben, dass man nicht mehr angeben kann, was man sagt. Nur von einem ganz konkreten Sachverhalt könnte man sagen, man wüsste über ihn schon Bescheid oder er sei ein erst noch zu erreichendes Ziel. Aber auch ein noch so fernes Ziel muss in gewisser Weise schon da sein – nämlich als mein Streben zu ihm. Gott muss also in gewisser Weise immer auch anwesend sein. Worin liegt diese Anwesenheit und wie ist sie beschaffen?
5. Ein absolutes Verhältnis (!) zum Absoluten? a) Die erste Antwort klingt zunächst so trivial wie unausweichlich: Das Absolute kann nur auf eine wiederum selbst absolute Weise anwesend sein. Was besagt dies? b) Dies ist nun zugleich ein Beispiel für jene eingangs skizzierte Verschlingung verschiedener Denkmöglichkeiten. Denn wenn der Aristotelismus in dieser Frage darin sein Recht hat, dass wir von dem auszugehen haben, was nicht Gott ist, welches aber in sich Züge trägt, die diesen Gedanken Gottes unausweichlich machen, dann scheint sich eben just im Verlauf des Denkens selbst eine Modifikation der Ausgangsposition zu ergeben. Auch die vorneuzeitliche Denkgeschichte kennt solche Erfahrungen des Denkens: Ich greife ein Beispiel aus Augustinus heraus; in klassischer, weil in wirklich ununterbietbarer Kürze führt er folgende Umkehrung vor: Somit hast Du, Herr, sie [nämlich die Geschöpfe] gemacht. Du, der Du schön bist, denn sie sind schön; der Du gut bist, denn sie sind gut; Du, der Du bist, denn sie sind. Nicht als wären sie so schön und so gut und so seiend wie Du, neben Dich gehalten sind sie weder schön noch gut, noch seiend. 41
Wenn die Welt und ihre Beschaffenheit (schön, gut, seiend) der Grund dafür ist, Gott als den Grund der Welt zu denken, dann kann dies offensichtlich nicht so geschehen, dass der Gottesgedanke einfach ein 41 Confessiones XI, 4, 6 (CCSL 27, p. 197, 7–10): Tu ergo, domine, fecisti ea, qui pulcher es: pulchra enim sunt; qui bonus es: bona sunt enim; qui es: sunt enim. Nec ita pulchra sunt nec ita bona sunt nec ita sunt, sicut tu conditor eorum, quo comparato nec pulchra sunt nec bona sunt nec sunt.
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Resultat eines Argumentes ist und mit ihm das Denken an sein Ende kommt. Wenn das Denken diesen Gedanken bildet, dann kann es gewissermaßen nur dann damit umgehen, wenn es auf diesen Gedanken in irgendeiner Weise vorbereitet, zu ihm disponiert ist. Deshalb relativiert Augustinus im zweiten Schritt genau jene Prädikate, die den Ausgang gebildet haben. Im dritten Schritt werden diese Prädikate sogar negiert. Dies geschieht in einem relativen Sinne (»neben dich gehalten«), andernfalls zerstörte er am Ende die Basis, von der er ausgegangen ist. Es ist jedoch dessen Modifikation. Dies lässt sich natürlich auch auf das Denken selbst anwenden. Denn dieses hat sich seine Kraft der Erschließung, sein Licht, nicht selbst gegeben. Bewusstsein ist ja schon der Ort des Transparentwerdens, dasjenige, worin sich etwas zeigt. Also ist zu Ende gedacht auch Gott der letzte Grund seines Gedachtwerdens. 42
6. Die Etablierung des Gottesgedankens Vielleicht möchte man einwenden: Dieses Problem ist eines, das nur auftritt, wenn man nicht an Gott glaubt. Im anderen Fall besagt beispielsweise das Fundament, auf das sich der Glaube stützt, nämlich die Offenbarung, was Gott ist. Doch hebt auch die zuzugestehende Möglichkeit der Offenbarung die Notwendigkeit eines »natürlichen«, d. h. eines allein mit den Mitteln des menschlichen Denkens entwickelten Gottesbegriffes nicht auf. Dies kann man sich durch folgende Überlegung klar machen: Wenn wir uns nichts, aber auch buchstäblich gar nichts von Gott denken könnten, dann könnten wir auch eine Offenbarung überhaupt nicht verstehen. Sollen wir die Konkretisierung, die Steigerung und natürlich auch die Korrektur, die in einer Offenbarung liegen, über-
H. Deku, »Quod deus sit«, in: Wahrheit und Tradition. Kritische Reflexionen, Ges. Schriften, I, hg. v. W. Beierwaltes u. R. Schönberger, Regensburg (Pustet) 2012, 65– 103; hier: 89: »So drängt sich einem Gott ständig auf – und zwar nicht erst als Beweisresultat, sondern schon auf allen Wegen dorthin«; 73 n. 34: »ebenso Beweisgrund wie Beweisresultat«, dies mit Berufung auf Thomas, ScG III, 54 [»… denn die göttliche Substanz ist das zuerst Erkennbare und ist Prinzip aller Verstandeserkenntnis«] und auf Duns Scotus, Ord. I d. 2 q. 2 n. 137–138; zu diesem berühmten Text vgl. ders., Possibile logicum, im selben Band 35–63; hier: 41 ff.
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haupt verstehen – oder gar ihr zustimmen –, dann müssen wir wissen, worauf sie sich bezieht. In diesem Wissen besteht der natürliche Gottesbegriff. Dasselbe gilt übrigens auch für den Begriff der Offenbarung. Die Behauptung, dass Gott sich zeigt, sich bekundet – mit einem Wort; dass er sich offenbart – können wir nur verstehen, wenn wir zuvor schon einigermaßen einen Begriff davon haben, was es heißt, dass jemand sich mitteilt. Kurz gesagt: Die Offenbarung Gottes kann weder den Begriff der Offenbarung noch den elementaren Begriff Gottes zum Inhalt haben. Also sind wir doch wiederum darauf angewiesen, uns zu fragen, was wir uns bei dem Wort Gott denken müssen. Wir können keine unmittelbare Anschauung von Gott haben. Es bleibt also ein indirekter Zugang unumgänglich. Wie können wir einen solchen gewinnen? Nur dadurch, dass Gott unter die Kategorie des Grundes gebracht wird. Der Mensch fragt aber nach einem Grund nicht allein für dieses und jenes, sondern auch nach einem Grund des Ganzen. Diese Frage ist der gemeinsame Grund für Philosophie und Religion. Damit ist wohl auch dem Bedenken Rechnung getragen, wonach Gott in keine Kategorie fällt, denn ein solcher Grund ist offenkundig von anderer Art als diejenigen Gründe, die wir sonst suchen oder angeben. Nun kann man, auch wenn es in der Moderne nahe liegt, nicht ausschließlich von der menschlichen Subjektivität ausgehen (religiöse Erfahrungen, letzte Hoffnungen, Gewissen etc.). Dies könnte sich niemals ganz des Verdachtes erwehren, dass der Gottesgedanke bloß eine Funktion dieser Subjektivität ist und mit dieser – es sei nochmals an das anfängliche Eckhart-Zitat erinnert! 43 – auch wieder verschwindet. Dass überhaupt etwas ist, wird nicht dadurch verständlich, dass Dinge etwas hervorzubringen vermögen. Dies ist genauso wenig selbstverständlich wie ihre Existenz auch. Kein endliches Ding kann für das Sein aufkommen. Einmal hat es dies selbst, es müsste sich also selbst verursachen können, was absurd ist; zum anderen verbindet das Sein alle einzelnen Wirklichkeiten miteinander. 44 Es scheint, wenn man erst auf diesen Aspekt aufmerksam geworden ist, sich nichts mehr angeben lässt, was ein irgendwie endliches Sein hat, denn solches gehört zur Welt; es war aber die Frage, warum die Welt überhaupt ist.
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Vgl. 2. Diesen Gedanken hat Thomas von Aquin öfters expliziert, z. B.: ScG II, 15.
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Was nun gehört wesentlich zu dem, was wir mit dem Wort Gott meinen? Ich weiß, es gibt eine gewisse Reserve dagegen, wenn die Philosophie sich solchen Fragen zuwendet. Aber mir scheint, diese Fragen sind unausweichlich. Von ihrer Beantwortung könnte ja schließlich auch abhängen, ob es sinnvoll ist, andere Fragen, die uns bewegen, zu stellen. Die Wissenschaft setzt in einem gewissen Sinne die Verständlichkeit der Welt schon voraus. Sie kann also nicht der Frage nachgehen, ob diese Voraussetzung berechtigt ist. Wenn es aber keinen letzten Grund gibt, dann könnte alles noch einmal von außen betrachtet, alles noch einmal in ein anderes Licht getaucht werden. Es wäre so, wie wenn jemand etwas tut (etwa Hilfe leistet), weil er einen bestimmten Grund dazu hat (Anerkennung der Hilfsbedürftigkeit und die momentane Unersetzlichkeit des Helfenden). Bei solchen Zusammenhängen können wir immer wieder von außen fragen: Und warum war dies für ihn ein Grund? Dies könnte eine schlichte psychologische Regel sein. Der Handelnde leistet aber nicht Hilfe, weil er die Geltung jener Regel (etwa der Sozialisation) kennt und anerkennt. Diese ist nicht sein Grund. Auf die Welt als ganze übertragen heißt das: Die Voraussetzung der Verständlichkeit könnte, wenn es keinen letzten Grund der Wirklichkeit und ihrer Verständlichkeit gäbe, sich als doch noch vordergründig erweisen: etwa eine bloß unausweichliche Voraussetzung der Selbstbehauptung. Damit ist zunächst der Weg, auf den die Frage weist, frei geräumt. Wenn wir ihn gehen, müssen wir uns, in aller Kürze wenigstens, die verschiedenen denkerischen Möglichkeiten vor Augen führen. Entweder ist das, was wir mit dem Wort Gott meinen, etwas gänzlich Beliebiges. Dann lässt sich darüber aber gar nichts aussagen. Dies führt jedoch genau in jenes faustische Dilemma der Beliebigkeit, von dem schon die Rede war. Wenn es hingegen einen Zusammenhang mit anderem gibt, was wir denken (oder wollen), dann schließt dies ein, dass das Denken diesen Zusammenhang auch verfolgen kann. Das heißt, es muss eine Relation der Notwendigkeit herrschen. Wenn A, dann B. Dies ist jedoch nur eine äußere Notwendigkeit. Zum Begriff eines Wesens gehört aber auch eine innere Notwendigkeit. Davon sprechen wir immer dann, wenn etwas gelungen ist. Von einer solchen inneren Notwendigkeit sprechen wir etwa bei schönen Dingen. Soweit Schönheit nicht bloß in spontanem Gefallen, sondern in einer bestimmten Konstellation ihrer materiellen Elemente beruht, wird sie verständlich. 133 https://doi.org/10.5771/9783495808405 .
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Aber keine noch so herrliche Musik ist von einer Notwendigkeit, dass man sinnvoll sagen könnte, es muss sie geben. Im Gegenteil, nichts ist so fragil wie das Gelungene. Tausend Dinge hätten sein Zustandekommen vereiteln können. Dieses Gelungensein ist in der antiken Philosophie gefasst worden als das Gute, später als das Vollkommene. Bei einem ersten Grund kann es aber nichts geben, wovon dessen innere Vollendung abhängig wäre. Nur dieser Vollendungscharakter übrigens macht alles endliche Gelingen, sei es im Lebendigen, sei es im Geschichtlichen oder Individuellen, darauf positiv beziehbar. Und umgekehrt bleibt nur durch diesen Maßstab reiner Vollendung das Misslingen oder gar die bewusste Zerstörung davor bewahrt, etwas rein Faktisches zu sein, also eben kein Misslingen oder keine Bosheit mehr.
7. Die bleibende Ungewissheit Am Ende dieser Überlegungen seien aber noch zwei abschließende Gedanken vorgebracht, die genau mit jener Indirektheit zu tun haben, die das Verhältnis des Denkens zu Gott kennzeichnet. Genau diese Indirektheit ist nämlich auch der Grund, warum man darauf verzichten kann, den Gedanken Gott zustimmend zu denken. Für Menschen, die es erreicht haben, jenseits der religiösen Konventionen einen persönlichen und dauerhaften, man möchte fast sagen: intimen Kontakt zu Gott aufzubauen, für solche Menschen ist die Bestreitung oder schlimmer noch die Gleichgültigkeit gegenüber den hier verfolgten Fragen etwas zutiefst Unverständliches. Die Tradition der Philosophie hat sich bemüht, nicht nur die Welt aus Gott verständlich zu machen, sondern auch die Bestreitung dieser Verständigung oder die Indifferenz ihr gegenüber selbst noch einmal einsichtig zu machen. Für Kant hat diese Indirektheit sogar ihren Sinn, in dem, was den Menschen ausmacht. Wenn Gott, so schreibt er auf der letzten Seite der Kritik der praktischen Vernunft, wenn Gott und Ewigkeit »mit ihrer furchtbaren Majestät uns unablässig vor Augen liegen« würden, dann geschähe zwar der göttliche Wille, aber die Sittlichkeit des Menschen bliebe hohl, denn das Motiv des richtigen Handelns wäre bloße Furcht, nicht der Verpflichtungscharakter selbst. Also möchte es auch hier wohl damit seine Richtigkeit haben, was uns das Studium der Natur und des Menschen sonst hinreichend lehrt, dass
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Der Gottesgedanke
die unerforschliche Weisheit, durch die wir existieren, nicht minder verehrungswürdig ist, in dem, was sie uns versagte, als in dem, was sie uns zu teil werden ließ. 45
Blaise Pascal, ein Denker von ganz anderer Couleur, stellt ebenfalls auf den Willen ab. Völlige Klarheit in diesen Fragen zu erreichen, so schreibt er, käme nur dem Verstand, nicht aber dem Willen zugute. Gäbe es keine Dunkelheit, würde der Mensch seine Verderbtheit nicht fühlen; gäbe es kein Licht, würde der Mensch auf kein Heilmittel hoffen. Darum ist es nicht nur gerecht, sondern für uns nützlich, dass Gott zum Teil verborgen und zum Teil offenbar ist. Ist es doch für den Menschen ebenso gefährlich, Gott zu erkennen, ohne sein Elend einzusehen, wie sein Elend einzusehen, ohne Gott zu erkennen. 46
Ähnlich hat es aber auch die mittelalterliche Philosophie bereits gesagt: Bei Thomas von Aquin heißt es in seinem Kommentar zum Buch Hiob: Keinem fehlt es in solchem Maße an Weisheit, dass er nicht irgendwelche der göttlichen Werke wahrnimmt. Und wiederum ist keiner in solchem Maße weise, dass seine Erkenntnis von der überragenden Herrlichkeit nicht übertroffen würde. 47
Auch Augustinus sagt: Dies ist nämlich die Kraft der wahren Gottheit, dass sie der vernünftigen Kreatur, die ihre Vernunft bereits gebraucht, nicht überhaupt und vollständig verborgen bleiben kann. 48
Bonaventura zitiert mehrfach 49 zustimmend einen Satz aus dem großen Theologen des 12. Jahrhunderts, Hugo von St. Viktor, der gesagt hat: Gott hat von Anfang an die Erkenntnis seiner so gemäßigt, dass niemand das, was er im Ganzen ist, zu begreifen vermochte, aber auch so, dass niemand dies, dass er ist, vollständig unbekannt bleiben kann. 50
Kant, KpV, A 266 (AA V, 148, 1–5). Pascal, Pensées, Frg. 599 (ed. J. Chevalier, Paris 1954, 1278 [Übers. H. U. v. Balthasar]. 47 Lectura in Iob 36, 25 (ed. Leon. XXVI, p. 191, 271–274): nullus enim adeo in sapientia deficit quin aliqua divinorum operum percipiat. Et rursus nullus est adeo sapiens cuius cognitio non multum vincatur ab excellentia claritatis divinae. 48 Tract. in Ioh. 106, 4 (CCSL XXXVI, 610, 12–14): Haec est enim vis verae divinitatis, ut creaturae rationali iam ratione utenti, non omnino ac penitus possit abscondi. 49 Sent. I d. 8, 1, 1, 2 concl. (Op. omn. I, 154 b); De myst. Trin. I, 1 arg. 2 (Op. omn. V, 15 a). 50 De sacramentis I, 3, 1 (PL 176, 217 A; ed. R. Berndt, Münster, Aschendorff, 2008, p. 74, 9–10). 45 46
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Rolf Schönberger
Wir sind gewohnt, Ungewissheit als einen Mangel anzusehen. Dies hat ja auch eine unbestreitbare Berechtigung. Aber wenn das Denken bei der Gottesfrage nicht zu einer völlig fraglosen und selbstverständlichen Gewissheit führen kann, dann zeigt sich – und hier schließt sich unser Kreis – nochmals etwas von der Universalität des Denkens. Man kann zwar alles auf das Denken beziehen, der Mensch ist aber nicht reines Denken. Er kann seine sonstigen Einstellungen (Glaube, Dankbarkeit usw.) und vor allem und erst recht sein Handeln nicht in reines Denken überführen. Der Mensch hat Geist, er ist aber nicht reiner Geist. Und es ist eine alte Überzeugung, dass es Handlungsweisen gibt, die das Bewusstsein vom Dasein Gottes klarer und eindringlicher werden lassen, wohingegen andere dieses Bewusstsein verdunkeln. Welches jene förderlichen Handlungen sind, ist wohl nicht so furchtbar schwer zu sagen. Sie erzeugen natürlich nicht den Gedanken Gottes, können aber doch geeignet sein, eine erreichte Vergegenwärtigung beständig werden zu lassen. Umgekehrt gelingen uns diese Handlungen aber umso leichter und beständiger, je mehr sie im Bewusstsein Gottes geschehen. 51
51 H. Deku, »Quod deus sit«, in: Wahrheit und Tradition [Nr. 41], 90: »Gewiß ist die Idee Gottes kein bloßer Begriff, d. h. ein Erzeugnis unseres Verstandes, sondern das Bild Gottes selber in unserem Geiste – nur leuchtet sie nicht von selber.«
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Transzendenz – konstitutiv für die okzidentale Rationalität
In konzentrierter Form will ich im Folgenden auf zentrale Aspekte europäischen Denkens und ihren Transzendenzbezug eingehen, die irreduzibel und konstitutiv für die Genese der okzidentalen Rationalität waren und sind, mit denen die europäische Vernunftgeschichte somit steht und fällt. Die Grundzüge europäischen Denkens speisen sich im Kern aus zwei Quellen: aus der antiken Philosophie und Wissenschaft und aus dem Christentum sowie aus den Verbindungen beider großer okzidentaler Paradigmen in den unterschiedlichsten Formen. Die Paradigmen werden gemeinhin vielfach unter den Überschriften Vernunft und Glaube thematisiert. Auf diese Weise erfolgt bereits von Anfang an eine subkomplexe, dualistische, konträre bzw. oft sogar kontradiktorische Konstruktion der europäischen Großtraditionen, insbesondere, wenn Vernunft mit Wissen und Wissenschaften (vielleicht sogar mit den Naturwissenschaften) und Glauben mit subjektiv-beliebigem Fürwahrhalten von geoffenbarten, höheren Wahrheiten gleichgesetzt wird. Die gesamte diskutable europäische philosophische, theologische und wissenschaftliche Kultur seit der Antike ist aber gegen eine solche prekäre, ihre Seiten wechselweise depotenzierende Kontradiktion gerichtet. Die Stärke der europäischen Philosophie, Anthropologie und Theologie besteht vielmehr darin, die wechselseitige, komplexe Bezogenheit von empirischen Verstandesorientierungen und deren spezifischen Wahrheits- und Geltungsansprüchen einerseits und transempirischen, das normative Lebensverständnis insgesamt betreffenden Vernunftorientierungen andererseits, diese wechselseitige Bezogenheit auf allen Ebenen der Theorie und der Praxis, der Reflexion und der Institutionalisierung durchgearbeitet zu haben. Das wird zunächst daran deutlich, daß die griechische Philosophie in den kurzen goldenen Jahrzehnten Athens von Sokrates bis Aristoteles ständig intensiv an der Fundamentalunterscheidung von Verstand 137 https://doi.org/10.5771/9783495808405 .
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und Vernunft, griechisch von dianoia bzw. episteme und nous, lateinisch ratio und intellectus arbeitet, an einer Fundamentalunterscheidung, die für die europäische Vernunft und Aufklärung grundlegend wird, und zwar bis heute. Wie läßt sich die Fundamentalunterscheidung erläutern? Gegenüber der Ebene des Verstandes, die zeitlich empirisch und formal kategorial konstituiert ist, ist die Ebene – besser: die Dimension und die Perspektive der Vernunft, des nous – ganzheitlich, transempirisch, transkategorial und reflexiv. Diese Reflexivität zeigt sich bereits in der revolutionären Erkenntniskritik und Methodologie des Sokrates. Die Aporetik und Dialektik der frühen und mittleren Dialoge zeigt dies auf einzigartige Weise: Wir gelangen in den orientierungsrelevanten Diskursen jeweils bald auf Grenz- und Grundbegriffe wie »Mensch«, »gut«, »gerecht«, »tugendhaft«, »wertvoll«, »begründet«, »wahr«, »schön« usf., die nicht einfach und unstrittig definierbar sind, die aber dennoch alle Menschen ständig im Munde führen, vor allem solche in Führungspositionen. Diese Grundbegriffe sind strittige, dialektische, ambivalente, problematische Reflexionsbegriffe, später so genannte Ideen. Sie sind keineswegs etwas Abstraktes, Abgehobenes, so Sokrates, sondern sie sind gerade das uns letztlich Nächste. Es ist nun entscheidend, daß Sokrates die Aporetik und Dialektik in seiner philosophischen Frageaktivität auf die Spitze und an die Grenze treibt. Mit dieser fragenden Aktivität, mit der das Philosophieren als ein dynamischer Prozeß der gemeinsamen Klärung lebensorientierender begrifflicher Perspektiven beginnt, sind die zwei weiteren zentralen Innovationen des Sokrates verbunden: Diese fragende Aktivität ist existentielle, an den einzelnen Gesprächspartner gerichtete Aufforderung zur Erinnerung (Anamnesis), zur Arbeit an der Erinnerung an das Selbstverständliche, aber Vergessene und Verdrängte. Es ist auch eine therapeutische, auf jeden Fall eine kritische Aufgabe, die unauflöslich mit Selbsterkenntnis verklammert ist. Die Vernunfttradition ist auf diese Weise mit der früheren Weisheitstradition verbunden, mit dem Weisheitswort: gnothi seauton – Erkenne dich selbst – nosce te ipsum. Die Weisheitstradition setzte aber hinzu: meden agan – nicht zu sehr, nicht zu viel, und hier beginnt ein weiterer Strang der europäischen, vernunftkritischen Anthropologie, der sich bei Sokrates zu seiner Lehre, besser: zu seiner praktischen Einsicht in das Nichtwissen, entfaltet. Klassisch wird das vernunftkritische Diktum des Sokrates: Ich weiß, daß ich nichts weiß. Genau bezieht sich das Diktum ganz existentiell138 https://doi.org/10.5771/9783495808405 .
Transzendenz – konstitutiv für die okzidentale Rationalität
praktisch übrigens erstens auf die ungewisse Stunde des Todes jedes Menschen – lange Zeit weiß niemand, wann er stirbt; und zweitens bezieht sich das Diktum auf die unbeantwortete Frage nach dem Sinn und der Bedeutung des Todes für das Leben. Es steht keine tragfähige Antwort auf diese Frage zur Verfügung. Das Nichtwissen erstreckt sich aber des Weiteren auf alle existentiell relevanten Fragen und Begriffe, die die Grundlagen unserer praktischen, existentiellen, ethischen, moralischen und politischen Orientierungen betreffen. Mit dieser vernunftkritischen Negativitätsreflexion ist mit einem Schlag im Ansatz eine irreduzible Freiheitsdimension eröffnet: die Freiheit der Wissenschaften und der Forschung, die Freiheit der praktischen und poetischen Gestaltungsformen, die Freiheit der existentiellen Selbsterkenntnis. Platon und Aristoteles setzen diese sokratische Negativitätsreflexion in ihrer Ideenlehre bzw. in ihrer Tugendlehre fort. Die Ideen Platons sind keineswegs etwas abstrakt Jenseitiges, in diesem Sinne weltfern, sondern die Orientierungen des Wahren, des Guten und des Schönen sind in Wirklichkeit, recht verstanden, gerade in ihrer Transzendenz Kern und Zentrum der intersubjektiven humanen Lebenspraxis. Dieser Kern, dieses Zentrum, ist aber nicht dogmatisch vorgegeben und verfügbar, wie noch in mythischen Narrativen und Herrschaftslegitimationsideologien vor der Entstehung der Philosophie. Die Philosophie entsteht in einer tiefgreifenden Krisen- und Umbruchssituation, in der neben der kritischen Vernunft- und Wissenschaftsreflexion nahezu gleichzeitig auch alle paradigmatischen Formen der politischen Rhetorik, der Sophistik, des Materialismus, des Skeptizismus, des Kynismus und des Nihilismus entstehen. Das negativ-kritische Potential wie auch der existentiell-praktische Sinn der verschiedenen von Platon entwickelten Formen der Ideenlehre versuchen, diesen epochalen Umbruch vernünftig zu reflektieren. Diese Intention setzt sich auch in Aristoteles’ Tugendlehre fort. Es gilt im Ansatz für Sokrates, Platon und Aristoteles: Mit der Vernunftperspektive ist ein Freiheitsraum der kommunikativen Selbsterkenntnis eröffnet, der die differenzierten Bereiche der ethisch zu qualifizierenden Alltagspraxis und die Bereiche der Wissenschaften mit einer komplexen Bandbreite von Sinnkriterien sowie die Bereiche von Recht, Staat und Politik freisetzt. Entscheidend ist, daß die Vernunftperspektive im Ansatz universal und egalitär ist – sie schließt alle Menschen ein. Diese Urstiftung der vernünftigen Selbsterkenntnis enthält das Potential für den technischen, den wissenschaftlichen und 139 https://doi.org/10.5771/9783495808405 .
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den ethisch-praktischen Fortschritt, der sich – bei allen Retardationen und angesichts aller katastrophalen Fehlentwicklungen und Zivilisationsbrüche des letzten Jahrhunderts – dennoch in normativ-rekonstruktiver Perspektive für die europäische Geschichte behaupten läßt. Im Zentrum dieser Urstiftung der Vernunft stehen aber keine Allmachtsphantasien des hochpotenten Menschenwesens, sondern im Zentrum stehen negativ-praktische und kritische Einsichten in die Grenzen unserer Erkenntnis, in das Nichtwissen, das stets größer ist als das Wissen, in die technische Unverfügbarkeit der Ideen, die gleichwohl das Fundament unserer Orientierungspraxis bilden, in die schematische Unverfügbarkeit unserer einsichtsbezogenen Orientierungen, an der sich zeigt, daß Klugheit eigentlich an Weisheit zurückgebunden sein müßte, soweit irgend möglich. Das heißt, Transzendenz wird praktisch begriffen. Daß ein solcher voraussetzungsreicher Ansatz die griechische Urstiftung charakterisiert, wird auch daran deutlich, daß Aristoteles zwei Bereiche aus der theoretisch oder praktisch zu bewältigenden Vernunftdimension ausgrenzt, freilich, ohne sie aus der Vernunftreflexion zu verdrängen: Es ist zum einen der Bereich unlösbarer Konflikte und ethisch inkommensurabler Schuld. Dieser Bereich kann dennoch dem kommunikativen Selbstbewußtsein zugänglich gemacht werden, und zwar durch die ästhetischen Gestaltungspotentiale der Tragödie. Durch die öffentliche Aufführung der Tragödien werden die unlösbaren Konflikte vergegenwärtigt und dienen so einer gemeinsamen, reinigenden Selbsterkenntnis, der Katharsis. Der zweite Bereich, der besonders ausgegrenzt wird, ist der der Lyrik, in der sich die individuelle Subjektivität zum Beispiel der Liebeserfahrung ästhetisch artikuliert, wie in den Gedichten der Sappho. Die Bereiche der Tragödie und der Lyrik sind somit nicht als irrational ausgegrenzt, sondern durch ihre ästhetischen Vergegenwärtigungsweisen als transrational freigesetzt. Neben diesem antiken, für die europäische Kultur und Rationalität konstitutiven Paradigma ist das Christentum als zweite Quelle auszuzeichnen. Auch hier will ich die Aspekte herausstellen, die nach meinem Urteil systematisch spezifisch und irreduzibel sind für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft einer tragfähigen Kultur der Vernunft. Auch in der biblisch-christlichen Tradition werden Negativität, Transzendenz, Sinnkonstitution und Universalismus verbunden. Die christliche Botschaft wendet sich an alle Menschen. Das biblische Bilderverbot besagt, daß die Gottesebenbildlichkeit des Menschen darin 140 https://doi.org/10.5771/9783495808405 .
Transzendenz – konstitutiv für die okzidentale Rationalität
besteht, daß Gott bildlos und unverfügbar bleibt und begründet so die universale Menschenwürde. Der praktische Sinn der konstitutiven Verbindung von Negativität und Transzendenz artikuliert sich christlich in der Botschaft von der Menschwerdung Gottes, vom Tod Gottes und vom Bleiben der Gemeinde in der Liebe. Mit diesen Urstiftungen ist die definitive Nichtobjektivierbarkeit Gottes und des Menschen religiös artikuliert. Das praktische Geltungspotential dieses religiösen Transzendenzbewusstseins, der unendliche Wert des einzelnen Menschen als eines einmaligen Individuums, dieses Potential wirkt weiter in der europäischen Geschichte, auch über die christliche Tradition hinaus. Das Christentum enthält, kurz gesagt, transreligiöse Vernunftpotentiale, die auch über die Religion i. e. S. hinauswirken, und die zu Neuzeit und Aufklärung führen – Menschwerdung, Diesseitigkeit, Transzendenz in der Immanenz. Die Geltung des unendlichen Werts des Individuums eröffnet eine transreligiöse, politisch-praktische und ethische Dimension, die letztlich mit zur Abschaffung der Sklaverei und zu den bürgerlichen Revolutionen führte. Ebenso enthält die Botschaft vom Tod Gottes (aus Liebe) ein Element religionstranszendierender Religiosität, das in seiner Wirkung weit in die Wirklichkeit der Profanität, der Immanenz und der Säkularisierung weist. Bilderverbot, Nichtwissen und Tod Gottes aus Liebe lassen sich mithin als Urstiftungen der okzidentalen Rationalität auszeichnen. Sie konstituieren sinnkriterial die okzidentale Rationalität, die Kompatibilität von Wissenschaft, Ethik und Religion, ihre wechselseitige Verwiesenheit und die Potentiale ihrer Ausdifferenzierung. Von Sokrates, Platon und Aristoteles bis zu Kant und Hegel besteht hier ein klarer faktischer und normativer systematischer Zusammenhang von Wahrheits- und Geltungsansprüchen. Die Orientierung an Gott wird als praktische, universale Lebensform verstanden. Die revolutionäre Entwicklung des Abendlandes ist ohne den philosophischen, wie auch später den religiösen ethischen Monotheismus und sein Transzendenzbewusstsein unmöglich und unverständlich, alle Fehlformen und Instrumentalisierungen eingeschlossen. Drei Beispiele sollen dies noch verdeutlichen. So entfaltet sich im okzidentalen Paradigma eine reiche und radikal sinnkritische negative Theologie, deren große Entwürfe im Verbund mit der rationalen Mystik in Aufklärung und Moderne weisen, ohne den Gedanken absoluter Transzendenz preiszugeben, so bei Meister Eckhart und Cusanus. Bei Cusanus präfiguriert die ars coniecturalis, die Kunst der Vermutung, 141 https://doi.org/10.5771/9783495808405 .
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als diskursive Erkenntnisleistung der wissenschaftlichen Rationalität die transzendentale Analytik Kants, während die docta ignorantia, die gelehrte Unwissenheit, die transzendentale Dialektik antizipiert. Das rationale, erkenntniskritische Potential dieser Tradition besteht in der Einsicht, daß die Sinnbedingungen aller Theorie und Praxis gerade aufgrund ihrer instrumentellen Unverfügbarkeit sinnkonstitutiv fungieren. Der Geltungssinn des Wahren und Guten kann letztlich nur transfunktional, transsubjektiv und transempirisch bestimmt werden. Der Neuplatonismus (Proklos, Plotin) hatte in diesem Zusammenhang bei der Vermittlung der antiken mit der christlichen Tradition mit seiner radikalen Transzendenzreflexion eine zentrale Bedeutung. Das universalistische und revolutionäre Potential der philosophisch-theologischen Tradition wird zweitens auch in der Naturrechtskonzeption deutlich, wie sie in der spanischen Barockscholastik vor allem von de Vitoria und Suarez entwickelt wurde. Sie bereitete der Sache nach die bürgerlichen Revolutionen vor. Suarez bestreitet das göttliche Recht der Könige. Er legitimiert das Widerstandsrecht, den Tyrannenmord und die Volkssouveränität. Das revolutionäre Naturrecht enthält die Kerngehalte, die zu den Transformationsprozessen von Aufklärung und französischer Revolution führten. Die Grundidee des Naturrechts ist ein göttliches Schöpfungsrecht: Gott der Gesetzgeber (deus legislator) verteilt das Recht völlig gleich auf alle Völker und Nationen. Dabei sind ausdrücklich die nichtchristlichen Völker eingeschlossen. Es braucht nicht viel ethische Phantasie, um sich die Aktualität dieses universalistisch-egalitären Schöpfungsdenkens für die gegenwärtige und unsere Zukunft bestimmende ökologische Problematik der Nutzung der endlichen natürlichen Ressourcen auf unserem Planeten klarzumachen – insbesondere im Blick auf die arme Weltbevölkerung. Ein drittes Beispiel für die spezifisch europäische Vernunftreflexion und ihre Verbindung von Transzendenz, Negativität und Sinnkonstitution bilden die Philosophien Kants und Hegels. In der Tradition Platons unterscheidet Kant die noumenale Welt, mundus intelligibilis, von der phänomenalen Welt, mundus sensibilis. Unerkennbar ist die intelligible Welt, unbegründbar die ihr entstammende menschliche Freiheit, unbegründbar auch die eben unbedingte Geltung der Moral, der kategorische Imperativ. Kants Grundeinsicht hinsichtlich der Grenzen der Vernunft besagt: Unbedingter Sinn ist nicht weiter erklärbar, sondern selbst – in seiner Terminologie: transzendental-praktisch – 142 https://doi.org/10.5771/9783495808405 .
Transzendenz – konstitutiv für die okzidentale Rationalität
Bedingung der Möglichkeit aller weiteren Erklärungen und Zielsetzungen. Die Grenzen der theoretischen Vernunft führen bei Kant zu ihrem Fundament, der praktischen Philosophie der Freiheit. Seine Philosophie mündet in die Konzeption einer Weltrechtsgemeinschaft und eines Weltfriedens (in seiner Schrift Zum ewigen Frieden). Diese Konzeption weist bereits 200 Jahre voraus auf die Entwicklungen des Völkerbundes, der UNO und der EU. Auch für Hegel ist entscheidend, daß die Vernunftentwicklung sich zeitlich-geschichtlich, kulturell und institutionell, auch durch Rückschläge und Brüche hindurch, entfalten und entwickeln muß. Er betont am stärksten die geschichtliche, rechtliche und praktische Bedeutung des Prinzips der Individualität für die europäische Entwicklung. Die Basis für Freiheit und Recht, Sittlichkeit und Moralität ist der unendliche Wert des einzelnen, einzigartigen Individuums. Die Geschichte des Individuationsprinzips mit dem von Goethe reformulierten Grundsatz individuum est ineffabile zeigt wiederum, wie die europäische Reflexion von Beginn an sowohl in der antiken Philosophie als auch in der christlichen Tradition die praktische Bedeutung dieses Fundamentalprinzips theoretisch-erkenntniskritisch reflektiert hat. Es ist nun meine weiterführende These, daß die aufgewiesene Transzendenz- und Negativitätsreflexion auch die Entwicklung der Moderne noch ermöglichte und bestimmte, daß sie wesentliche Quelle auch der Bewältigung und Klärung der gegenwärtigen und zukünftigen Weltsituation bilden muß. Im Kern der aufgewiesenen Urkonstitution durch Transzendenz, durch Entzogenheit und Unverfügbarkeit, lassen sich Selbsterkenntnis, Selbstbewußtsein, unendlich konkret individuierte Freiheit und ein praktisches Bewußtsein des Nichtwissens, der Grenzen der Vernunft und der Erkenntnis freilegen. Nur mit diesem Bewußtsein der Negativität verklammert, also kritisch, ist der Vernunftbezug tragfähig. Wenn in der klassischen Moderne Theoretiker wie Marx, Nietzsche und Freud Vernunftansprüche und die Perspektive von Ideen als theoretische und praktische Wahrheits- und Geltungsansprüche in Zweifel ziehen und mit weitreichender Ideologiekritik destruktiv zu analysieren beanspruchen, sind sie de facto Gesprächspartner von Sokrates und Platon, Kant und Hegel, bei aller Kritik Gesprächspartner auch der normativen Ansprüche der christlichen Tradition. Und genau das waren Marx, Nietzsche und Freud. Das bedeutet: Die europäische Tradition ist von Beginn an eine Tradition kritischer Selbstreflexivität, die sich nicht mit ihren erreichten institutionalisier143 https://doi.org/10.5771/9783495808405 .
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ten Formen begnügt, sondern die produktive Potentiale der Transformation entwickelt: Transformation, Reformation, Revolution. Immer neu kann die Frage gestellt werden: Ist der gegenwärtige Umgang mit den normativen Geltungsansprüchen in der Tat begründet und glaubwürdig? Hinzu tritt in der Genese der okzidentalen Rationalität das Bewusstsein der interpersonalen Transzendenz und Alterität. Die innere Alterität bei engster Nachbarschaft auf relativ kleinem Raum mit ihren reichen Potentialen zeigt sich bereits in der griechischen Geschichte. Wissenschaft, Kunst, Politik, Recht, Medizin und Philosophie konnten sich dort nur so einzigartig entfalten, weil sich die Griechen das Wissen der Anderen aneigneten. Die Bewältigung des Pluralismus mit all seinen problematischen wie produktiven Potentialen ist Kennzeichen der europäischen Geschichte seit Beginn und bis heute. Wiederum gilt: Nehmen wir die vernunftkritische Tragweite des Nichtwissens, des Bilderverbots, der Menschenwürde, der Reflexion auf die Grenzen der Vernunft und der negativen Theologie praktisch ernst, dann erschließt sich das Potential transkultureller Selbstverständnisse, das Potential einer Kultur der Transzendenz und Differenz, die allerdings die wechselseitige Achtung und Anerkennung der Anderen zur unbedingten Voraussetzung hat. Hannah Arendt weist darauf hin, daß das Verzeihen und Vergeben allein in der Botschaft Jesu im Zentrum steht, und in anderen Ethiken übersehen wird. Die antike und die christliche Tradition verbinden sich, wenn die praktische Bedeutung der Personalität, der irreduziblen Individualität als konstituiert gedacht wird durch – mit Hegel formuliert – das »Andere ihrer Selbst«, also durch den und die Anderen. Personen sind »Zwecke an sich selbst« (so Kant) in ihrer jeweiligen Andersheit. Die Transzendenz des und der Anderen – theoretisch-negativ ihre Unerkennbarkeit, negativ-praktisch ihre Unverfügbarkeit –, sie konstituiert erst vernünftige Gemeinsamkeit. Erst die unersetzliche Singularität und damit Transzendenz der Individuen ermöglicht höherstufige kulturelle Praxisformen in Wissenschaft, Politik, Kunst, Religion und Alltagsleben. Diese Perspektive konstituiert letztlich Kern und Zentrum einer demokratischen Zivilgesellschaft und ihrer diskursiven Öffentlichkeit, in der Konflikte offen ausgetragen werden können und müssen. Demgegenüber kann keine Wissenschaft und keine Form von Dogmatismus über das Gemeinwohl und die Zwecke und Ziele von Gesellschaft und Lebenspraxis abschließend befinden. 144 https://doi.org/10.5771/9783495808405 .
Transzendenz – konstitutiv für die okzidentale Rationalität
Ich habe folgende Aspekte europäischer Rationalität seit der antiken Philosophie und der christlichen Tradition bis zu Aufklärung und Moderne herausgearbeitet: Es ist erstens die Fundamentalunterscheidung von Verstand und Vernunft, von Rationalität und selbstreflexivem Beurteilen, von kategorialem Bestimmen und dem kritischen Denken und Nachdenken über solche Bestimmungen. Mit dieser Fundamentalunterscheidung sind Dialogizität, Dialektik und die normative Perspektive der Selbsterkenntnis konstitutiv verbunden. Sie bilden das Fundament eines theoretischen wie praktischen Universalismus. Die Vernunft hat mit den Ideen irreduziblen Transzendenzbezug. Es ist zweitens die fundamentale Einsicht in die Grenzen des Erkennens, die Grenzen der Vernunft, die Grenzen des Wissens – die Einsicht in das Nichtwissen. Mit dieser Einsicht ist die Befreiung von allen Formen des Dogmatismus und die Freisetzung aller theoretischen (wissenschaftlichen) und praktischen (politischen) Gestaltungsmöglichkeiten verbunden. Die Vernunft gehört niemandem – und nur so allen, die prinzipiell an ihr teilnehmen können. Die christliche Tradition akzentuiert den fundamentalanthropologischen Aspekt der Singularität und des unendlichen Werts jedes einzigartigen menschlichen Individuums. Die kritische Tradition setzt sich in ihr mit dem Bilderverbot und der negativen Theologie fort. In Renaissance, Humanismus und Reformation, in Aufklärung und Moderne werden die Perspektiven der Freiheit und Selbstbestimmung wie auch die der Vernunftkritik und Selbstkritik weiter entfaltet und radikalisiert. Ich möchte nun abschließend einige systematische Konsequenzen der konstitutiven Bedeutung des Transzendenzbewusstseins für die okzidentale Vernunftgeschichte aufzeigen. Meine weiterreichende These ist: Aufklärung und Transzendenz sind unlöslich verklammert; wird diese Verklammerung einseitig aufgelöst und getilgt, dann ergibt sich eine negative Dialektik von Nihilismus und Fundamentalismus. Aufklärung muß mithin den Transzendenzbezug und die negative Theologie des Absoluten sinnkriterial festhalten und praktisch transformieren, und dies hat sie in ihren besten Kernbestrebungen auch getan. Religion muß diese negative Theologie des Absoluten bildlich indirekt vergegenwärtigen und so meditativ und kongregativ konkret zugänglich und bewußt machen und zugänglich halten und sie ebenfalls praktisch transformieren. Aufklärung und Religion, Philosophie und Chri145 https://doi.org/10.5771/9783495808405 .
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stentum machen und halten so – je auf ihre Weise – ein Wissen vom konstitutiven Konnex von Negativität und Sinn bewußt. Das macht ihre tiefe Entsprechung wie auch ihre topische Differenz aus, die es wiederzuentdecken und neu zu beleben gilt. Weder bedeutet dies eine rationalistische Einholung und Verkürzung christlicher Verkündigung und Praxis, die einen autonomen Bereich von Sprache und Leben bildete und bildet, eine Lebensform sui generis. Noch bedeutet es ein Christlichwerden philosophisch-kritischer Reflexion, denn das wäre eine verhängnisvolle kategoriale Vermengung ganz verschiedener Ebenen. Wohl jedoch lassen sich in der philosophischen Reflexion die zentralen Rationalitätspotentiale herausstellen, die in der biblischen und christlichen Tradition – ganz unabhängig von Philosophie – angelegt waren und sind, so zum Beispiel in Jesu Leben und Lehre. Im Zentrum dessen, was ich als tiefe Aufklärung (gegenüber einer oberflächlichen) bezeichne, steht die Reflexion bzw. das Bewußtsein und die Einsicht noch in die transpragmatischen Sinnbedingungen von Vernunft und aller unserer Praxis. Der Gesichtspunkt der transpragmatischen Sinnbedingungen nimmt die Dimension der Negativität, der pragmatischen Unverfügbarkeit und Entzogenheit, ganz in die Perspektive der humanen Sinnkonstitution mit hinein – und dies scheint mir das proprium dessen zu sein, was wir zu Recht biblische Aufklärung nennen können. Entscheidend scheint mir zu sein, dass die biblische Tradition durchweg ihre praktisch-rationalen Elemente in dauerndem Rückbezug auf unverfügbare Sinnbedingungen dieser praktischen Rationalität, religiös gesprochen: mit Bezug auf Gott, durchdenkt und verkündet: die Ethik der zehn Gebote schon im Alten Testament, die Ethik der Bergpredigt im Neuen Testament, aber auch bei Paulus. Zu den unverfügbaren, transpragmatischen Sinnbedingungen all unserer Vernunft und Praxis gehört zunächst fundamental das, was die Bibel Geschöpflichkeit, Kreatürlichkeit nennt. Die grundlegende praktische Einsicht, die sich hier philosophisch reformulieren lässt, ist die Einsicht, daß wir uns nicht selbst geschaffen, gemacht, hergestellt haben, sondern daß wir – bei allen wissenschaftlichen Erklärungsmöglichkeiten – auf letztlich unerklärliche Weise da sind. Und dies ist eine untilgbare Differenz. Aber diese Negativität reicht viel weiter. Die Unerklärlichkeit der Sinnbedingungen unserer humanen Existenz, die im Zentrum biblischer Aufklärung steht, erstreckt sich auf alle Menschen aller Zeiten, die in ihrer Kreatürlichkeit verbunden sind. Sie erstreckt 146 https://doi.org/10.5771/9783495808405 .
Transzendenz – konstitutiv für die okzidentale Rationalität
sich auf die Existenz des Lebens auf der Erde und das Phänomen der Evolution. In unserer Kreatürlichkeit sind wir mit den Tieren und allen Lebewesen tief verbunden, und zwar materiell, real, leiblich. Und diese kreatürliche Verbundenheit ist selbst etwas uns Vorgegebenes, sie gehört zu den unvordenklichen Sinnbedingungen unserer Existenz. Die gemeinsame Kreatürlichkeit und die mit ihr verbundene negativ-praktische Einsicht in die unverfügbaren Sinnbedingungen unserer Existenz erstreckt sich weiter: auf unsere Erde als materielle Lebensbasis für alle Geschöpfe. Wir haben die Erde nicht technisch hergestellt, sondern fanden sie mitsamt den materiellen, realen Bedingungen von Wasser, Luft und allen Lebensvoraussetzungen vor. Das Schöpfungsparadigma der Kreatürlichkeit erstreckt sich schließlich universal und unbedingt auf das gesamte Universum. Auch hier gilt: welche empirischen, wissenschaftlichen, kosmologischen Erkenntnisse auch immer wir noch gewinnen werden: die Existenz des Universums mit seinen Milliarden Galaxien bleibt unerklärliche, unableitbare Sinnbedingung auch unserer Existenz und allen Lebens. Die biblische Kreatürlichkeitsperspektive einer göttlichen Schöpfung enthält die tiefe Aufklärungsperspektive einer Aufklärung über die letztlich absolute Unverfügbarkeit und Unerklärlichkeit aller natürlichen Sinnbedingungen unserer Existenz, des Universums selbst als Ganzem. Augustinus wie auch Luther haben dies klar und insbesondere auch erkenntniskritisch gesehen. Das wird noch in Luthers Antwort auf die Frage deutlich, was denn Gott vor der Schöpfung getan habe. Er sei an die Elbe gegangen, Ruten zu pflücken, um diejenigen damit zu prügeln, die solche dummen Fragen stellen. Die durch die Dimensionen der Kreatürlichkeit, der Unverfügbarkeit und der konstitutiven Nichtobjektivierbarkeit eröffneten Perspektiven der transpragmatischen Sinnbedingungen des humanen Lebens, der irreduziblen Personalität und Würde, der Freiheit und Fehlbarkeit gehören zur tiefen Aufklärung. Sie berühren sich mit dem Sokratischen, ebenso sinnkonstitutiven Nichtwissen und mit der Aufklärung der Grenzen der Vernunft bei Kant. Leben in praktischer Anerkennung der Transzendenz der Welt, der Anderen und meiner selbst ist Voraussetzung noch aller vernünftigen gemeinsamen Praxis. Das heißt: Aufklärung und Transzendenz (Gottes) sind eigentlich verklammert. Somit sind Transzendenz, Transzendenzbewusstsein und Transzendenzreflexion konstitutiv für die okzidentale Rationalität, für deren Genesis und Geltung. 147 https://doi.org/10.5771/9783495808405 .
Norbert Fischer
Philosophisches Fragen und der Glaube an den »lebendigen Gott«. Im Anschluß an Kants vollständiges System philosophisch begründeter Theologien Thomas von Aquin wußte gut um den Unterschied zwischen einer philosophischen und einer religiösen Zugangsweise zur Beziehung der Menschen zu Gott, was aber selten beachtet wird. 1 Wer die Themen der frühen Schriften Kants betrachtet, gewinnt sogleich den klaren Eindruck, daß Kant sich zunächst recht wenig um die ›großen Fragen‹ der Metaphysik gekümmert hat. 2 Eine deutliche Hinwendung zur Metaphysik und auch zur Theologie scheint dann aber das Jahr 1763 geNicht beachtet wird meistens, daß Thomas festhält (S.th.I 3 (introductio): »de deo scire non possumus quid sit«. Wer nicht wissen kann, was Gott ist, kann auch nicht ›beweisen‹, daß er ist. Das war Thomas von Aristoteles her geläufig (De anima I, 402b25 f.: πάσηϚ γάρ άποδείξεωϚ άρχή τό τί έστιν). Alle fünf Wege (S.th. I 2,3c) enden mit einer Formel der Art: »et hoc omnes intelligunt [nominant; dicunt o. ä.] Deum.« Thomas zielt auf ein ›probare‹. Bedeutungslos ist insofern: Was ist Gott? Das Buch der 24 Philosophen (übers. und komm. von Kurt Flasch). Da Thomas zusätzlich in einer Weise argumentiert, die später bei Kant wieder zu finden ist (KpV A 265 f.), darf es auch nach seiner Einsicht gar keine eigentliche ›Demonstration des Daseins Gottes‹ geben, womit Thomas gleichsam von vornherein den antikantischen Thomismus ad absurdum geführt hat (vgl. S.th. I 82,1c; I 82,2c). 2 Die frühen Schriften behandeln z. B. Fragen der Naturwissenschaften und der Logik; zu nennen sind: Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte (1747; AA 1); Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels (1754; AA 1); Die falsche Spitzfindigkeit der vier syllogistischen Figuren (1762; AA 2). Als ›Cardinalsätze‹ oder ›Cardinalfragen‹ bezeichnet er später ›Gott‹ und ›Unsterblichkeit‹, z. T. zusätzlich ›Freiheit‹. Darin folgt er der abendländischen Tradition, die Augustinus prägnant auf den Punkt gebracht hat. Er sagt in den Soliloquia (sol. 1,7): »deum et animam scire cupio.– nihilne plus? – nihil omnino.« Augustinus und Kant sind sich näher, als oft angenommen wird; z. B. Norbert Fischer (Hg.), Die Gnadenlehre als ›salto mortale‹ der Vernunft? Natur, Freiheit und Gnade im Spannungsfeld von Augustinus und Kant. Ders., Augustinus und Kant. Ders., ›Glaubenslehren sind Gnadenbezeigungen‹. Ansätze zur Gnadenlehre in der Philosophie Immanuel Kants. Zur metaphysischen KantAuslegung vgl. Norbert Fischer (Hg.), Kants Metaphysik und Religionsphilosophie. Ders., Kant und der Katholizismus. Stationen einer wechselhaften Geschichte. Ders.: 1
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bracht zu haben, vielleicht auch angeregt durch die Frage der ›Königl. Akademie der Wissenschaften zu Berlin‹ für das Jahr 1763. 3 In der Vorrede zu Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes betont Kant jedoch (BDG A 1 f. = AA 2,65): Ich habe keine so hohe Meinung von dem Nutzen einer Bemühung, wie die gegenwärtige ist, als wenn die wichtigste aller unserer Erkenntnisse: Es ist ein Gott, ohne Beihülfe tiefer metaphysischer Untersuchungen wanke und in Gefahr sei. Die Vorsehung hat nicht gewollt, daß unsre zur Glückseligkeit höchstnöthige Einsichten auf der Spitzfindigkeit feiner Schlüsse beruhen sollten, sondern sie dem natürlichen gemeinen Verstande unmittelbar überliefert, der, wenn man ihn nicht durch falsche Kunst verwirrt, nicht ermangelt uns gerade zum Wahren und Nützlichen zu führen, in so fern wir desselben äußerst bedürftig sind.
Nachdem Kant trotz seiner Geringschätzung von Beweisen den ersten eigenen Versuch gemacht hatte, einen Beweis für das Dasein Gottes auszuarbeiten, geriet er in eine skeptische Krise, die ihn auf den langen Weg der mühsamen Ausarbeitung der kritischen Philosophie geführt hat. 4 Die kritische Metaphysik ebnete ihm den Weg zur Ausarbeitung der praktischen Philosophie, die auch als ›praktische Metaphysik‹ bezeichnet werden kann 5 – und schließlich zum Bedenken der ›Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft‹. Die Religionsschrift ist keine Beigabe, sondern das zentrale Thema Kants. Schon in den Träumen eines Geistersehers, die von ›Träumen der Metaphysik‹ handeln, hatte er erklärt, daß »die Metaphysik« es sei, in die ich »das Schicksal habe verliebt zu sein, ob ich mich gleich von ihr nur selten einiger Gunstbezeugungen rühmen kann« (TG A115 = AA2, 367). Er nahm damals zwar an, daß die Metaphysik nicht dazu tauge, die großen Aufgaben der Vernunft zu lösen, meinte aber, daß sie als »Wissenschaft von den Grenzen der menschlichen Vernunft« große und bleibende Bedeutung besitze (ebd.). Kants Grundlegung einer kritischen Metaphysik. Einführung in die ›Kritik der reinen Vernunft‹. 3 Kants Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral (1764; AA 2) bezog sich auf die Frage dieser Akademie von 1763. In das Jahr 1763 fällt auch schon Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes (1763; AA 2). 4 Vgl. I. Kant, Träume eines Geistersehers, erläutert durch die Träume der Metaphysik (1766; AA 2). 5 Vgl. dazu Norbert Fischer, Kants Metaphysik der reinen praktischen Vernunft.
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Kants eigenständiger Weg in die Philosophie begann jedoch mit der Kritik der reinen Vernunft. Dieser Weg wird hier in fünf Abschnitten nachgezeichnet: erstens geht es um das Verhältnis der kritischen Philosophie zur ›metaphysischen Theologie‹ ; zweitens um Kants Stellung zur Gottesfrage von der vorkritischen Philosophie bis zur ›Kritik der reinen Vernunft‹ ; drittens um die Kritik aller Theologie aus speculativen Principien der Vernunft (dort wird das vollständige System der Möglichkeiten philosophisch begründeter Theologien dargestellt); viertens ist die Lehre vom Dasein Gottes als ›Postulat der reinen praktischen Vernunft‹ ins Auge zu fassen; fünftens wird vom ›Primat der reinen praktischen Vernunft in ihrer Verbindung mit der speculativen‹ gehandelt. 6 Kant hat sich in seinen Fragen nach Metaphysik und Theologie ein eigenes Denken erarbeitet, das in positivem Einklang mit der älteren Philosophie gesehen werden kann. 7
1. Das Verhältnis der kritischen Philosophie zur ›metaphysischen Theologie‹ Kant war überzeugt, daß die kritische Philosophie für die Sache der Metaphysik und ebenso der Theologie von Nutzen sein werde. Als die drei Hauptaufgaben der Philosophie, die er auch die ›drei Cardinalsätze‹ nennt (z. B. KrV B 826 f.), bezeichnet er in der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft bekanntlich »Gott, Freiheit und Unsterblichkeit« (KrV B XXX), an anderer Stelle spricht er von ›zwei Cardinalsätzen unserer reinen Vernunft‹, »nämlich: es ist ein Gott, es ist ein künftiges Leben« (KrV B 831). Allerdings war er zugleich auch Dieses Primat wird in der ›Kantforschung‹ oft vernachlässigt. Umso bemerkenswerter ist, daß Emmanuel Levinas, der sich nicht als ›Kantforscher‹ verstanden hat, in diese Richtung gewiesen hat; vgl. Le primat de la raison pure pratique / Das Primat der reinen praktischen Vernunft. Er tat der Kantforschung damit einen ähnlich wichtigen Dienst, wie ihn Martin Heidegger mit seinem Kant-Buch geleistet hat (Kant und das Problem der Metaphysik). Allerdings werden diese Auslegungen in der Kantforschung immer noch wenig wahrgenommen. 7 Vgl. die Stellungnahme des Neukantianers Paul Natorp: Platos Ideenlehre, XII: »Für mich steht schon seit langem die Arbeit an Plato in genauem Zusammenhang mit der an meiner eigenen Philosophie. Ich vermöchte nicht zu sagen, ob mehr das tiefere Durchdenken der Systemfragen mir zum reineren Verständnis Platos geholfen hat, oder umgekehrt. Mein Glaube ist, daß dies das Schicksal nicht bloß meiner, sondern der Philosophie ist.« 6
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überzeugt, auf diesem Gebiet »das Wissen aufheben« zu müssen, »um zum Glauben Platz zu bekommen« (KrV B XXX). Diese Tatsache mag viele Fehldeutungen der kritischen Philosophie, die selbst nichts anderes als eine ›kritische Metaphysik‹ ist, hervorgerufen haben. Einem Mißverständnis unterlagen zunächst die Verfechter einer Metaphysik, die dogmatische Beweise für das Dasein Gottes und die Unsterblichkeit der Seele vorzutragen die Absicht hatten. An dieser Stelle kann vor allem Moses Mendelssohn genannt werden, der den Autor der Kritik der reinen Vernunft wegen der Widerlegung der drei möglichen theoretischen Beweise für das Dasein Gottes und für die Unsterblichkeit der Seele den ›alleszermalmenden Kant‹ genannt hat. 8 Nach Kant gibt es nur drei theoretische Beweisgründe für das Dasein Gottes (KrV B 618): der erste Beweis fange mit einem bloßen Begriff an und werde ›ontologischer Beweis‹ genannt; der zweite Beweis beginne mit einer ›unbestimmten Erfahrung‹ und lege dabei »irgend ein Dasein« empirisch zum Grunde; er wird von Kant als ›kosmologischer Beweis‹ bezeichnet; der dritte Beweis beginne mit einer »bestimmten Erfahrung und der dadurch erkannten besonderen Beschaffenheit unserer Sinnenwelt«; konkret fängt er an mit der »Mannigfaltigkeit, Ordnung, Zweckmäßigkeit und Schönheit« der Welt, die uns nach Kant dazu führt, »daß sich unser Urtheil vom Ganzen in ein sprachloses, aber desto beredteres Erstaunen auflösen muß« (KrV B 650); diesen dritten Beweis nennt Kant den ›physikotheologischen‹. Daraus ergibt sich folgendes vollständiges Schema für die drei möglichen Gottesbeweise aus spekulativer Vernunft: 1. Ontologischer Beweis: Grundlage ist ein bloßer Begriff: Gedanke des allerrealsten Wesens. 2. Kosmologischer Beweis: Grundlage ist eine unbestimmte Erfahrung: etwas überhaupt, das einer Ursache bedarf. 3. Physikotheologischer Beweis: Grundlage ist eine bestimmte Erfahrung: das Dasein von Zweckmäßigem, das einer ordnenden Ursache bedarf.
8 Moses Mendelssohn: Morgenstunden oder Vorlesungen über das Dasein Gottes, 3. Kants These, es seien drei theoretische Gottesbeweise möglich, stimmt Thomas zu: die drei ersten Wege sind im Sinne des ›kosmologischen‹ Beweises zu denken, der vierte Weg weist auf den ›ontologischen‹, der fünfte auf den ›physikotheologischen‹. Der antikantische Thomismus hat seine Kräfte zum Schaden der Einsicht in die Vernünftigkeit des Glaubens vergeudet.
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Kant beurteilt die Beweiskraft dieser drei möglichen Argumente ganz unterschiedlich. Besonders gegen den ersten ›cartesischen‹ Beweis bemerkt er, daß die Vernunft »das Idealische und bloß Gedichtete einer solchen Voraussetzung viel zu leicht« bemerke, »als daß sie dadurch allein überredet werden sollte, ein bloßes Selbstgeschöpf des Denkens sofort für ein wirkliches Wesen anzunehmen« (KrV B 611 f.). Immerhin betont er auch, der Gedanke, »daß das höchste Wesen als Urgrund aller Dinge schlechthin nothwendiger Weise da sei«, nicht ohne »eine gewisse Gründlichkeit« sei (KrV B 615). Kant sieht im ›Begriff‹, der dem ›ontologischen Beweis‹ zugrunde liegt, »das einzige eigentliche Ideal, dessen die menschliche Vernunft fähig ist, weil nur in diesem einzigen Falle ein an sich allgemeiner Begriff von einem Dinge durch sich selbst durchgängig bestimmt und als die Vorstellung von einem Individuum erkannt wird« (KrV B 604). Er nennt es »ein Ideal ohne Gleichen, weil der allgemeine Begriff dasselbe zugleich als ein Individuum unter allen möglichen Dingen auszeichnet« (KrV B 639 f.). Dennoch richtet sich die schärfste Kritik gegen dieses erste der Argumente aus theoretischer Vernunft. 9 Bei dem zweiten (also dem ›kosmologischen‹) Beweis führt er zunächst ein berechtigtes »Bedürfnis unserer Vernunft« an, »zur Existenz überhaupt irgend etwas Nothwendiges (bei dem man stehen bleiben könnte) anzunehmen« (KrV B 631). Der Grundgedanke dieses Beweises lautet (KrV B 632): »Wenn etwas existirt, so muß auch ein schlechterdings nothwendiges Wesen existiren. Nun existire zum mindesten ich selbst: also existirt ein absolut nothwendiges Wesen.« Dennoch erklärt Kant abschließend, »daß in diesem kosmologischen Argumente sich ein ganzes Nest von dialektischen Anmaßungen verborgen halte, welches die transscendentale Kritik leicht entdecken und zerstö-
Zunächst ist zu beachten, daß der kosmologische und der physikotheologische Beweis nach Kant den ontologischen Beweis voraussetzen (vgl. KrV B 637–641; B 655 f.). Vgl. bes. KrV B 647; »Das Ideal des höchsten Wesens ist nach diesen Betrachtungen nichts anders, als ein regulatives Princip der Vernunft, alle Verbindung in der Welt so anzusehen, als ob sie aus einer allgenugsamen nothwendigen Ursache entspränge, um darauf die Regel einer systematischen und nach allgemeinen Gesetzen nothwendigen Einheit in der Erklärung derselben zu gründen, und ist nicht eine Behauptung einer an sich nothwendigen Existenz.« In der Formulierung der Kritik am ontologischen Beweis folgt Kant, ohne das zu erwähnen, den Argumenten von Johannes Bering: Prüfung der Beweise für das Dasein Gottes, aus den Begriffen des höchstvollkommenen und nothwendigen Wesens, bes. 79 f. 9
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ren kann« (KrV B 637). 10 Am wenigsten destruktiv trägt Kant seine Kritik am ›physikotheologischen‹ Argument vor. Zunächst erklärt er sogar zustimmend (KrV B 650): Die gegenwärtige Welt eröffnet uns einen so unermeßlichen Schauplatz von Mannigfaltigkeit, Ordnung, Zweckmäßigkeit und Schönheit, man mag diese nun in der Unendlichkeit des Raumes, oder in der unbegrenzten Theilung desselben verfolgen, daß selbst nach den Kenntnissen, welche unser schwacher Verstand davon hat erwerben können, alle Sprache über so viele und unabsehlich große Wunder ihren Nachdruck, alle Zahlen ihre Kraft zu messen und selbst unsere Gedanken alle Begrenzung vermissen, so daß sich unser Urtheil vom Ganzen in ein sprachloses, aber desto beredteres Erstaunen auflösen muß.
Dieser Beweis verdient nach Kant, »jederzeit mit Achtung genannt zu werden«, weil er »den Glauben an einen höchsten Urheber bis zu einer unwiderstehlichen Überzeugung« vermehre (KrV B 651 f.). Dennoch, so betont Kant kritisch, beweise er »höchstens einen Weltbaumeister«, nicht einen »Weltschöpfer« und er führe zu keinem bestimmten Begriff des höchsten Wesens (KrV B 656). Moses Mendelssohn hat Kant mißverstanden: Kant war kein Alleszermalmer und wollte auch in der Kritik der reinen Vernunft keineswegs der ›alleszermalmende‹ sein. Einem Mißverständnis unterlagen aber auch ›Atheisten‹ wie Karl Marx und Ludwig Feuerbach. Karl Marx beruft sich in dem oft zitierten ›Brief an seinen Vater vom 10. November 1837‹ auch auf Kant. Als seinen Ausgangspunkt nennt Marx dort den »Gegensatz des Wirklichen und Sollenden, der dem Idealismus eigen« sei (Frühschriften, 5). Nach seinem Studium, das sich (wie er berichtet) besonders auf Kant und auf Fichte bezogen hatte, nennt er die Erfahrung (Frühschriften, 7): »Ein Vorhang war gefallen, mein Allerheiligstes zerrissen, und es mußten neue Götter hineingesetzt werden.« Er sah sich so vor der Aufgabe, »im Wirklichen selbst die Idee zu suchen« (ebd.). Seine Lösung ist die umstürzlerische, jedoch Kant nicht treffende These (ebd.): »Hatten die Götter früher über der Erde gewohnt, so waren sie jetzt das Zentrum derselben geworden.« Wie sich zeigen wird, gerät Marx damit sogar in schärfsten Gegensatz zur
Vgl. dazu vor allem den Abschnitt Entdeckung und Erklärung des dialektischen Scheins in allen transscendentalen Beweisen vom Dasein eines nothwendigen Wesens (KrV B 643–648).
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Selbstdeutung Kants. Marx hat auf diesem Weg die weithin verfehlte Wirkungsgeschichte Kants mitbefördert. Auch Ludwig Feuerbach hatte zuweilen gemeint, sich auf Kant berufen zu können und wollte sein Hauptwerk (Das Wesen des Christentums) zunächst im Anklang an Kants Hauptwerk mit dem Titel einer Kritik der unreinen Vernunft bezeichnen. 11 Wie sich zeigen wird, hätte er seine Theorie höchstens auf die ›Onto-Kosmo-Theologie‹ beziehen können, die Kant aber einer scharfen Kritik ausgesetzt hat. Friedrich Nietzsche hingegen spricht ambivalent zu Kant. Einerseits habe Kant den Atheismus befördert und Gott zum ›Ding an sich‹ verhunzt, 12 andererseits sieht er auch die positive Bedeutung, die Kants kritische Metaphysik für die Möglichkeit eines vernünftigen Glaubens an Gott hat. Er sagt in Der Antichrist (KSA 6,176): Woher das Frohlocken, das beim Auftreten Kants durch die deutsche Gelehrtenwelt gieng, die zu drei Viertel aus Pfarrer- und Lehrer-Söhnen besteht woher die deutsche Überzeugung, die auch heute noch ihr Echo findet, dass mit Kant eine Wendung zum Besseren beginne? Der Theologen-Instinkt im deutschen Gelehrten errieth, was nunmehr wieder möglich war …
Kant schloß in Wahrheit an die beste Tradition der abendländischen, metaphysisch orientierten Philosophie an und arbeitete an der GrundVgl. die Vorbemerkung der Bearbeiter (Werner Schuffenhauer und Wolfgang Harich) von Ludwig Feuerbach, Das Wesen des Christentums, V: Dort wird berichtet, das Werk sei »als eine ›Kritik der unreinen Vernunft‹« 1839 »erstmals öffentlich genannt« worden. 12 Vgl. Friedrich Nietzsche, Der Antichrist 17 (KSA 6,183 f.): »Der gute Gott, ebenso wie der Teufel: Beide Ausgeburten der décadence. – Wie kann man heute noch der Einfalt christlicher Theologen so viel nachgeben, um mit ihnen zu dekretiren, die Fortentwicklung des Gottesbegriffs vom Gotte Israels, vom Volksgotte zum christlichen Gotte, zum Inbegriff alles Guten sei ein Fortschritt? […] Selbst die Blassesten der Blassen wurden noch über ihn Herr, die Herrn Metaphysiker, die Begriffs-Albinos. Diese spannen so lange um ihn herum, bis er, hypnotisirt durch ihre Bewegungen, selbst Spinne, selbst Metaphysicus wurde. Nunmehr spann er wieder die Welt aus sich heraus – sub specie Spinozae –, nunmehr transfigurirte er sich ins immer Dünnere und Blässere, ward Ideal, ward reiner Geist, ward absolutum, ward Ding an sich … Verfall eines Gottes: Gott ward Ding an sich …«. Vgl. auch Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches I, 16 (KSA 2,38): »Vielleicht erkennen wir dann, dass das Ding an sich eines homerischen Gelächters werth ist: dass es so viel, ja Alles schien und eigentlich leer, nämlich bedeutungsleer ist.« Nietzsches Überlegungen sind nicht nur als Bosheiten aus Enttäuschung zu lesen, sondern leben auch von religiösen Impulsen, die manchen ›Metaphysikern‹ in verquerem Wissensstolz abhanden gekommen zu sein scheinen. 11
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legung einer ›kritischen Metaphysik‹ und Theologie. Philosophie ist schon vom Wortsinn her ›Liebe der Weisheit‹, nicht der ›Besitz der Wahrheit‹. Nach Kant hat Philosophie die Kraft, »dem Materialism, Fatalismus, Atheism, dem freigeisterischen Unglauben […], zuletzt auch dem Idealism und Scepticism« die Wurzel abzuschneiden (KrV B XXXIV). 13 Sofern die Kritik der reinen Vernunft dies leistet, ist sie selbst eine ›kritische Metaphysik‹. Kant will in der ›kritischen Metaphysik‹ 14 »allen Einwürfen wider Sittlichkeit und Religion auf sokratische Art, nämlich durch den klärsten Beweis der Unwissenheit der Gegner, auf alle künftige Zeit ein Ende« machen (KrV B XXXI). Weil Kants Philosophie fast durchweg, aber irrig, als Kritik der Metaphysik aufgefaßt wurde, mußte Max Wundts Buch von 1924 mit dem Titel Kant als Metaphysiker wie ein Paukenschlag gegen die gängige Kantdeutung erscheinen. 15 Nicht nur Feinde der ›Metaphysik‹ bekämpfen Kants Kritik; auch Liebhaber der ›dogmatischen Metaphysik‹ blasen in ein Horn, mit dem sie Kant eher verunglimpfen als auslegen. 16
Der ›Materialismus‹ nimmt das stofflich Gegebene als Grundlage aller Wirklichkeit, z. B. der marxistische Materialismus, der sich dabei also keineswegs auf Kant berufen kann; vgl. dazu Norbert Hinske, Das Stichwort ›Materie‹ und seine verschiedenen Bedeutungen bei Kant, bes. 483: »Die in der marxistischen Kantinterpretation so verbreitete Rede von den »materialistischen Gedanken« des vorkritischen Kant bewegt sich also auf brüchigem Eis. Vermutlich haben die Kantinterpreten marxistischer Provenienz über die genannten Probleme – die begriffsgeschichtlichen wie die sachlichen – nie ernsthaft nachgedacht.« Für den ›kritischen Kant‹ gilt (a. a. O., 486): »Materialismus als Weltanschauung, so kritisch er sich auch gebärden mag, ignoriert die Grenzen der menschlichen Vernunft.« – Der ›Fatalismus‹ leugnet nach Kant die Freiheit und Verantwortlichkeit des menschlichen Willens. Der ›Atheismus‹ … // der freigeisterische ›Unglaube‹ …, der ›Idealismus‹ … // der ›Scepticismus‹ … 14 Vgl. dazu Norbert Fischer (Hg.), Kants Grundlegung einer kritischen Metaphysik. Einführung in die ›Kritik der reinen Vernunft‹. 15 Vgl. Max Wundt, Kant als Metaphysiker. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Philosophie im 18. Jahrhundert. Beachtenswert ist immer noch die Einleitung (a. a. O., 1–11). 16 Vgl. z. B. Giovanni B. Sala, Das Reich Gottes auf Erden. Kants Lehre von der Kirche als »ethischem gemeinen Wesen«; vgl. dazu Norbert Fischer: »Einleitung des Herausgebers«, bes. XX, Fn 10. 13
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2. Kants Stellungnahmen zur Gottesfrage von seiner vorkritischen Philosophie bis zur ›Kritik der reinen Vernunft‹ Kant dachte in seiner frühen Zeit im Ausgang von seiner christlich geprägten Glaubenshaltung, auch wenn der Anlaß Hindernisse enthielt, wie in der Geschichte und Naturbeschreibung der merkwürdigsten Vorfälle des Erdbebens, welches am Ende des 1755sten Jahres einen großen Teil der Erde erschüttert hat. Dabei erschüttert auch die Nachricht von furchtbaren Katastrophen nicht sein Vertrauen in die göttliche Weltregierung. Er sagt (AA 1,431): Die Natur hat nicht vergeblich einen Schatz von Seltenheiten überall zur Betrachtung und Bewunderung ausgebreitet. Der Mensch, welchem die Haushaltung des Erdbodens anvertraut ist, besitzt Fähigkeit, er besitzt auch Lust sie kennen zu lernen und preiset den Schöpfer durch seine Einsichten. Selbst die fürchterliche Werkzeuge der Heimsuchung des menschlichen Geschlechts, die Erschütterungen der Länder, die Wuth des in seinem Grunde bewegten Meers, die feuerspeienden Berge, fordern den Menschen zur Betrachtung auf und sind nicht weniger von Gott als eine richtige Folge aus beständigen Gesetzen in die Natur gepflanzt, als andre schon gewohnte Ursachen der Ungemächlichkeit, die man nur darum für natürlicher hält, weil man mit ihnen mehr bekannt ist. // Die Betrachtung solcher schrecklichen Zufälle ist lehrreich. Sie demüthigt den Menschen dadurch, daß sie ihn sehen läßt, er habe kein Recht, oder zum wenigsten, er habe es verloren, von den Naturgesetzen, die Gott angeordnet hat, lauter bequemliche Folgen zu erwarten, und er lernt vielleicht auch auf diese Weise einsehen: daß dieser Tummelplatz seiner Begierden billig nicht das Ziel aller seiner Absichten enthalten sollte.
Mit zwei größeren Arbeiten hat Kant sich jedoch schon auch in der vorkritischen Zeit auf Fragen der Metaphysik und insbesondere die Frage nach Gottesbeweisen eingelassen, ihr aber – wie in dem eingangs vorgetragenen Zitat aus Der einzigmögliche Beweisgrund ausgedrückt – keine besondere Bedeutung zugestanden. Sein erstes Werk zu den Gottesbeweisen enthält nicht nur einen eigenen Beweis, den er damals für gültig gehalten hat, sondern auch schon die Grundlage der Gottesbeweiskritik, die er dann in der Kritik der reinen Vernunft entfaltet hat. 17 Bereits in dem 1766 folgenden Werk Träume eines Geistersehers, 17
In der Kritik der reinen Vernunft ist der ›ontologische Beweis‹ schließlich der ent-
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erläutert durch Träume der Metaphyik wendet Kant sich auch von den metaphysischen Versuchen ab, wie er sie selbst in Der einzigmögliche Beweisgrund vorgelegt hatte. Damit bereitet er die kritische Stellungnahme der Kritik der reinen Vernunft vor, sofern diese durch die ›skeptische Methode‹ bestimmt ist und bestimmt bleibt. 18 In Träume eines Geistersehers betont er zwar, daß er »das Schicksal habe«, in die Metaphysik »verliebt zu sein«, sieht aber schon, daß die Metaphysik keinen Blick auf die »verborgenern Eigenschaften der Dinge durch Vernunft« erlaubt, sondern eher eine »Wissenschaft von den Grenzen der menschlichen Vernunft ist« (vgl. TG A 115 = AA 2,367 f.). In der Vorrede zur Kritik der reinen Vernunft betont Kant, daß es schon in der theoretischen Philosophie um die Möglichkeit geht, »Gott, Freiheit und Unsterblichkeit zum Behuf des nothwendigen praktischen Gebrauchs meiner Vernunft« anzunehmen und sagt, daß er zu diesem Zweck »das Wissen aufheben« mußte, »um zum Glauben Platz zu bekommen« (KrV B XXX). Dies gelingt ihm schließlich, indem er »allen Einwürfen wider Sittlichkeit und Religion auf sokratische Art« begegnet, »nämlich durch den klärsten Beweis der Unwissenheit der Gegner«, um so auch dem Atheismus »auf alle künftige Zeit ein Ende zu machen« (KrV B XXXI). In der ›transzendentalen Elementarlehre‹ der Kritik der reinen Vernunft, in der Kant die Möglichkeit und die Grenzen der Leistungs-
scheidende, weil die beiden anderen Beweise nicht zur Ausbildung eines ›Gottesbegriffs‹ taugen und gelangen. Diesem Argument entzieht Kant aber schon in der ›Ersten Abteilung‹ von BDG gleichsam die Grundlage (vgl. besonders die »1. Betrachtung«, A 1–16 = AA 2,70–77). Zur Auslegung von BDG vgl. Giovanni B. Sala, Kant und die Frage nach Gott, hier bes. 95–199. 18 Die ›skeptische Methode‹ hat nichts mit ›Skeptizismus‹ zu tun. Vgl. dazu KrV B 451: »Diese Methode, einem Streite der Behauptungen zuzusehen, oder vielmehr ihn selbst zu veranlassen, nicht um endlich zum Vortheile des einen oder des andern Theils zu entscheiden, sondern um zu untersuchen, ob der Gegenstand desselben nicht vielleicht ein bloßes Blendwerk sei, wornach jeder vergeblich hascht, und bei welchem er nichts gewinnen kann, wenn ihm gleich gar nicht widerstanden würde: dieses Verfahren, sage ich, kann man die sceptische Methode nennen. Sie ist vom Scepticismus gänzlich unterschieden, einem Grundsatze einer kunstmäßigen und scientifischen Unwissenheit, welcher die Grundlagen aller Erkenntniß untergräbt, um wo möglich überall keine Zuverlässigkeit und Sicherheit derselben übrig zu lassen.« Vgl. dazu Norbert Hinske, Die Rolle des Methodenproblems im Denken Kants. Zum Zusammenhang von dogmatischer, polemischer, skeptischer und kritischer Methode (KGkM 343–354), bes. 349–351: Die skeptische Methode.
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fähigkeit der theoretischen Vermögen der menschlichen Vernunft untersucht, kommt zunächst das ›untere Erkenntnisvermögen‹ (die ›Sinnlichkeit‹) in den Blick, sodann das ›obere Erkenntnisvermögen‹, bei dem Kant ›Verstand‹, ›Urteilskraft‹ und ›Vernunft‹ unterscheidet. Diese Erkenntnisvermögen können allesamt als Vermögen der Einigung von gegebenem Mannigfaltigen ausgelegt werden. In der Sinnlichkeit wird das sinnlich Gegebene (die ›Empfindungen‹) durch ›Raum‹ und ›Zeit‹ als den Formen der Anschauung geeinigt und als ›Erscheinungen‹ betrachtet. Die ›Erscheinungen‹ werden sodann durch den ›Verstand‹ unter die Einheit der ›Begriffe‹ gebracht und als ›Gegenstände‹ gedacht. In der ›Analytik der Grundsätze‹ reflektiert Kant über die Möglichkeit der ›analytischen‹ und der ›synthetischen Urteile‹ und bestimmt diesen Bereich abschließend als das »Land der Wahrheit« (KrV B 294). Damit schließt sich der Kreis, innerhalb dessen menschliche Erkenntnis möglich ist. Er war zu Beginn der ›transzendentalen Logik‹ so umrissen worden (KrV B 74): Unsre Erkenntniß entspringt aus zwei Grundquellen des Gemüths, deren die erste ist, die Vorstellungen zu empfangen (die Receptivität der Eindrücke), die zweite das Vermögen, durch diese Vorstellungen einen Gegenstand zu erkennen (Spontaneität der Begriffe); durch die erstere wird uns ein Gegenstand gegeben, durch die zweite wird dieser im Verhältniß auf jene Vorstellung (als bloße Bestimmung des Gemüths) gedacht.
Nach dieser Erklärung besitzen wir keine ›intellektuelle‹, sondern nur ›sinnliche Anschauung‹. Kant sagt (KrV 75): »Unsre Natur bringt es so mit sich, daß die Anschauung niemals anders als sinnlich sein kann, d. i. nur die Art enthält, wie wir von Gegenständen afficirt werden.« Das aber heißt (ebd.): »Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben und ohne Verstand keiner gedacht werden. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.« Diese Erklärung führt am Ende zur Einsicht (KrV B 297): daß der bloß mit seinem empirischen Gebrauche beschäftigte Verstand, der über die Quellen seiner eigenen Erkenntniß nicht nachsinnt, zwar sehr gut fortkommen, eines aber gar nicht leisten könne, nämlich sich selbst die Grenzen seines Gebrauchs zu bestimmen und zu wissen, was innerhalb oder außerhalb seiner ganzen Sphäre liegen mag.
Die Einigungstätigkeit der menschlichen Vernunft bezieht sich indessen nicht nur auf sinnlich Gegebenes, sondern auch auf die Urteile, die Kant als die Produkte dieser Einigungstätigkeit des Verstandes und der 158 https://doi.org/10.5771/9783495808405 .
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Urteilskraft begreift. Auf der höchsten Ebene der Reflexion des Gegebenen versteht Kant die menschliche Geistestätigkeit als Versuch, ihre eigenen Vollzüge als Einigungstätigkeit zu begreifen. Dem höchsten Vermögen gibt er den Namen der ›Vernunft‹, die er das höchste der drei oberen Erkenntnisvermögen nennt (›Verstand‹, ›Urteilskraft‹, ›Vernunft‹). Logisch gesehen ist der Verstand folglich als das ›Vermögen der Begriffe‹ zu denken, die Urteilskraft als das ›Vermögen der Urteile‹, die Vernunft als das ›Vermögen der Schlüsse‹. 19 Das Verfahren der ›Vernunft‹ in der Hervorbringung ihrer Begriffe ist nach Kant also darauf gerichtet, die mannigfaltigen, objektiv erkennbaren Urteile zu systematischer Einheit zu bringen. Eine Leistung der ›Vernunft‹ ist es, die Bereiche verschiedener Wissenschaften (z. B. Geometrie und Mathematik) zusammenzufassen und zu unterscheiden. ›Geometrie‹ wäre eine Meßkunst im Blick auf räumlich Ausgedehntes, ›Mathematik‹ eine Wissenschaft im Blick auf die Verhältnisse von Zahlen (vgl. z. B. KrV B 754). Im Abschnitt Von der Vernunft überhaupt erklärt Kant (KrV B 355): »Alle unsere Erkenntniß hebt von den Sinnen an, geht von da zum Verstande und endigt bei der Vernunft, über welche nichts Höheres in uns angetroffen wird, den Stoff der Anschauung zu bearbeiten und unter die höchste Einheit des Denkens zu bringen.« Die Leistung der Vernunft ist es, die Verstandeserkenntnis als bedingte zu erkennen und nach Bedingungen für dieses Bedingte zu suchen. Als Beispiel kann das Schlußverfahren gelten, auf das Kant sich bezieht. Der Schluß lautet wie folgt (vgl. KrV B 378): Alle Menschen sind sterblich (Obersatz). Cajus ist ein Mensch (Untersatz). Cajus ist sterblich (Konsequenz). Die Hauptleistung der Vernunft ist es gewiß, zu einem gegebenen Bedingten (Cajus ist ein Mensch; Cajus ist sterblich), die allgemeine Bedingung zu denken (den Obersatz: Alle Menschen sind sterblich). Als Einigungsvermögen hat die Vernunft in ihrem ›logischen Gebrauch‹ zunächst das Ziel, »den Verstand mit sich selbst in durchgängigen Zusammenhang zu bringen« (KrV B 362). Dabei versucht die Vernunft, »die allgemeine Bedingung ihres Urtheils« zu finden (KrV
Die Terminologie Kants ist im Blick auf die Bezeichnung der Erkenntnisvermögen nicht immer konsistent (vor allem ›Verstand‹ und ›Vernunft‹ werden gelegentlich als Bezeichnung für die ganze obere Erkenntnis genommen; vgl. aber KU B XLIV; KU B 145; KrV B 386.
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B 364). Insofern ist der »Vernunftschluß […] selbst nichts andres als ein Urtheil vermittels der Subsumtion seiner Bedingung unter eine allgemeine Regel«. Kant folgert (ebd.): Da nun diese Regel wiederum eben demselben Versuche der Vernunft ausgesetzt ist, und dadurch die Bedingung der Bedingung (vermittelst eines Prosyllogismus) gesucht werden muß, so lange es angeht, so sieht man wohl, der eigenthümliche Grundsatz der Vernunft überhaupt (im logischen Gebrauche) sei: zu dem bedingten Erkenntnisse des Verstandes das Unbedingte zu finden, womit die Einheit desselben vollendet wird.
Aus diesen grundsätzlichen Überlegungen folgt nun, daß »der transscendentale Vernunftbegriff kein anderer« ist, »als der von der Totalität der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten«, die stets auf Prosyllogismen beruht (KrV B 379). Im Blick auf den ganzen Bereich der möglichen theoretischen Erkenntnis gibt es (gemäß den drei Kategorien der Relation; vgl. KrV B 106) drei Klassen von Vernunftbegriffen (KrV B 391): davon die erste die absolute (unbedingte) Einheit des denkenden Subjects, die zweite die absolute Einheit der Reihe der Bedingungen der Erscheinung, die dritte die absolute Einheit der Bedingung aller Gegenstände des Denkens überhaupt enthält.
In den ›Vernunftbegriffen‹, die Kant auch ›Ideen‹ nennt, werden keine ›Gegenstände‹ erkannt, weil sie nicht auf gegebene Anschauung bezogen werden können. Das in den ›Ideen‹ Gedachte ist dennoch »ein reines und ächtes Product oder Problem der reinen Vernunft« (KrV B 392). Zwar ist es, wie Kant sagt, gewiß verfehlt, ein »bloßes Selbstgeschöpf des Denkens sofort für ein wirkliches Wesen anzunehmen« (KrV B 611 f.). Aber diese Idee ist nicht nur ein bloßes Produkt des Denkens, sondern auch eine notwendige Aufgabe des Denkens, weil das Ganze, solange Gott nicht angenommen wird, ohne Halt und letzten Grund bleibt. Die Annahme des Daseins Gottes ist nach Kant deswegen auch schon im Rahmen der theoretischen Philosophie nicht ohne »eine gewisse Gründlichkeit« (KrV B 615). Kant erklärt in der Methodenlehre (im Abschnitt Vom Meinen, Wissen und Glauben) demnach ganz mit Recht (KrV B 854 f.): daß ich viel zu wenig sage, wenn ich mein Fürwahrhalten bloß ein Meinen nennen wollte; sondern es kann selbst in diesem theoretischen Verhältnisse gesagt werden, daß ich festiglich einen Gott glaube; aber alsdann ist dieser Glaube in strenger Bedeutung dennoch nicht praktisch,
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sondern muß ein doctrinaler Glaube genannt werden, den die Theologie der Natur (Physikotheologie) nothwendig allerwärts bewirken muß.
Zwar können keine dogmatischen theoretischen Beweise für die Existenz Gottes erstellt werden. Aber der Atheismus ist selbst im Rahmen der theoretischen Philosophie eine schwache Position, deren Vertreter mehr zu erkennen vorgeben, als endliche Vernunftwesen erkennen können. Denn die Kraft der theoretischen Vernunft reicht zwar nicht zur Ausbildung einer dogmatischen Metaphysik, aber doch zu einer kritischen ›Metaphysik der Probleme‹, wobei ein ›Problem‹ stets als notwendige Aufgabe des theoretischen Denkens zu verstehen ist, die nicht mit Mitteln der theoretischen Vernunft gelöst werden kann. Die Gottesbeweiskritik der ›transzendentalen Dialektik‹ zerstört also zwar die ›dogmatische Metaphysik‹, läßt aber »zum Glauben Platz« (KrV B XXX). Kant verschärft die Kritik der Theologie aber noch einmal von einer anderen Seite her. Diese andersartige Kritik soll im folgenden betrachtet werden.
3. Zu Kants »Kritik aller Theologie aus speculativen Principien der Vernunft« Das ›dritte Hauptstück‹ des ›zweiten Buchs der transzendentalen Dialektik‹, das unter dem Titel »Das Ideal der reinen Vernunft« steht, ist vor allem durch den dritten bis sechsten Abschnitt bekannt geworden. Im dritten Abschnitt handelt Kant zunächst allgemein ›von den Beweisgründen der spekulativen Vernunft, auf das Dasein Gottes zu schließen‹ (KrV B 611–619) und kommt zum Ergebnis, daß »nur drei Beweisarten vom Dasein Gottes aus speculativer Vernunft möglich sind« (KrV B 618), nämlich der ontologische, der kosmologische und der physikotheologische. Im vierten bis sechsten Abschnitt legt er die Unmöglichkeit dieser drei Beweise dar (KrV B 620–658). Dieser Teil gehört zu den berühmtesten und vielleicht auch berüchtigtsten Texten der Kritik der reinen Vernunft. Weitaus weniger beachtet wird der wesentliche siebente und letzte Abschnitt des dritten Hauptstücks des ›zweiten Buchs der transzendentalen Dialektik‹ (KrV B 659–670), der keineswegs geringere Bedeutung beansprucht, wie schon der Titel zeigt. Er lautet: Kritik aller Theologie aus speculativen Principien der
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Vernunft (KrV B 659). Von der kritischen Betrachtung ausgenommen ist dort zunächst die Offenbarungstheologie. 20 Dieser Abschnitt bietet zu Beginn eine vollständige Disjunktion des Begriffs der ›Theologie‹, sofern unter dieser »die [theoretische] Erkenntniß des Urwesens« verstanden wird; sie könne entweder »aus bloßer Vernunft (theologia rationalis) oder aus Offenbarung (revelata)« vorgetragen werden (ebd.). Die Offenbarungstheologie wird jedoch im Rahmen der Kritik der reinen Vernunft nicht weiter verfolgt, der Blick im weiteren also nur auf die ›rationale Theologie‹ gerichtet. Diese aber werde »entweder bloß durch reine Vernunft vermittelst lauter transscendentaler Begriffe (ens originarium, realissimum, ens entium)« vorgetragen und werde deswegen »transscendentale Theologie« genannt (ebd.). Oder sie gründe sich auf »einen Begriff, den sie aus der Natur (unserer Seele) entlehnt« und denke Gott aus dieser Herkunft »als die höchste Intelligenz und müßte die natürliche Theologie heißen« (ebd.). Zu den ›Gläubigen‹ dieser zwei möglichen Grundarten von rationaler Theologie erklärt Kant (KrV B 659 f.): Der, so allein eine transscendentale Theologie einräumt, wird Deist, der, so auch eine natürliche Theologie annimmt, Theist genannt. Der erstere giebt zu, daß wir allenfalls das Dasein eines Urwesens durch bloße Vernunft erkennen können, wovon aber unser Begriff bloß transscendental sei, nämlich nur als von einem Wesen, das alle Realität hat, die man aber nicht näher bestimmen kann. Der zweite behauptet, die Vernunft sei im Stande, den Gegenstand nach der Analogie mit der Natur näher zu bestimmen, nämlich als ein Wesen, das durch Verstand und Freiheit den Urgrund aller anderen Dinge in sich enthalte. Jener stellt sich also unter demselben bloß eine Weltursache (ob durch die Nothwendigkeit seiner Natur, oder durch Freiheit, bleibt unentschieden), dieser einen Welturheber vor.
Kant unterscheidet im Anschluß an diese Grundunterscheidung noch einmal jeweils zwei Unterarten von transzendentaler und natürlicher Theologie. Die ›transzendentale Theologie‹ unterscheidet er in Kosmotheologie und Ontotheologie, die ›natürliche‹ in Physikotheologie und Moraltheologie (KrV B 660). Die größte Brisanz enthält diese Unterscheidung durch die nachfolgende Überlegung, die Martin Heidegger Die hier fehlende kritische Betrachtung folgt später in RGV (dort ist zur hier nur angedeuteten Frage Kants These von den ›konzentrischen Kreisen‹ besonders zu beachten).
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später in vergleichbarer Weise vorgetragen hat. Die transzendentale Theologie, die kurz als Onto-Kosmo-Theologie charakterisiert werden kann, zielt nach Kant nur auf »eine blindwirkende ewige Natur als Wurzel der Dinge«, die jedoch nichts mit dem zu tun hat, was Kant unter Gott versteht. Unter ›Gott‹ versteht Kant das, was man »unter dem Begriffe von Gott […] zu verstehen gewohnt ist«, nämlich »ein höchstes Wesen, das durch Verstand und Freiheit der Urheber der Dinge sein soll« (KrV B 660 f.). Kant bekundet hier, ohne es noch einmal eigens zu erwähnen, eine größere Nähe zur Offenbarungstheologie (›theologia revelata‹), die ein personales Gottesverständnis lehrt und die er zu Beginn des Abschnitts nur beiläufig – aber nicht despektierlich – erwähnt hatte. Gegen die Vertreter der Onto-Kosmo-Theologie, die er als ›Deisten‹ bezeichnet, wendet er sich hingegen scharf und erklärt, man könne »nach der Strenge dem Deisten allen Glauben an Gott absprechen und ihm lediglich die Behauptung eines Urwesens oder obersten Ursache übrig lassen« (KrV B 661). Allerdings mildert Kant dieses scharfe Urteil durch eine Nachbemerkung, weil er wohl die Möglichkeit einer Korrektur dieser Art von Theologie durch einen ›Glauben‹ in Rechnung setzt. Er erklärt (ebd.): »Indessen da niemand darum, weil er etwas sich nicht zu behaupten getrauet, beschuldigt werden darf, er wolle es gar leugnen, so ist es gelinder und billiger, zu sagen: der Deist glaube einen Gott, der Theist aber einen lebendigen Gott (summam intelligentiam).« Eine Untersuchung zur Verknüpfung von ›Gott‹ und ›lebendig‹, die Kant für geboten hielt und die doch selten beachtet wird, wirft erhellendes Licht auf Kants Gottesverständnis. 21 Ähnlich wie später Heidegger hat er einen Gottesgedanken im Sinn, der nicht auf eine bloße ›Ursache‹, sondern auf ein Wesen mit »Verstand und Freiheit« zielt (ebd.). Der Bibelleser Kant könnte klassische Stellen der Schrift im Sinn gehabt haben. 22 Zudem hat Kant mit Einige signifikante Stellen seien genannt: KU B 392 Fn; SF (AA 7,43); weiterhin OP (AA 22,48): »Beylage V // Der Mensch indem er sich seiner selbst bewust (ihm selbst Object) ist, denkt // Unter dem Begriffe von Gott denkt man sich eine Substanz die allen Zwecken mit Bewustseyn angemessen d. i. eine Person wobey der tavtologisch verstarkte Ausdruck der lebendige Gott nur die Persönlichkeit dieses Wesens zu bezeichnen dient: als allvermögendes Wesen (ens summum) als allweises (summa intelligentia) und allgütiges Wesen (summum bonum). – Die Thatigkeit desselben ist nach der Analogie der technisch practischen Vernunft«. 22 Vgl. z. B. Psalm 42,3: »Meine Seele dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott.« 21
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der Rede vom ›lebendigen Gott‹ keine Bestimmung Gottes im Sinn, sondern eine lebendige Beziehung des Menschen zu Gott. In einer frühen Vorlesung fragt Kant zum Beispiel: »Was heißt Gott loben?« Auf diese Frage antwortet er (Moralphilosophie Collins (1774/75 bzw. 76/ 77); AA 27,336): »Die Größe Gottes sich lebendig vorstellen als einen Bewegungsgrund unseres Willens, dem göttlichen heiligen Willen gemäß zu leben.« Die Vorstellung einer lebendigen Beziehung zwischen Gott und Mensch scheint Kants Rede vom ›lebendigen Gott‹ zu bestimmen.
4. Das Dasein Gottes als ›Postulat der reinen praktischen Vernunft‹ Von den beiden Arten rationaler Theologie bietet nur die ›natürliche Theologie‹ einen Zugang zum ›lebendigen Gott‹, der uns aber nach Kant allein interessiert. Die transzendentale Theologie, die nach Kant als Onto-Kosmo-Theologie ausgeführt werden kann, handelt gar nicht eigentlich von Gott als Schöpfer oder Welturheber, sondern von einer unpersönlichen Weltursache, zu der Menschen, sofern sie sich als Personen verstehen, nicht in Beziehung treten können. Die beiden Ausgestaltungen der natürlichen Theologie (Physikotheologie und Moraltheologie) werden von Kant am Ende unterschiedlich beurteilt, obwohl er zunächst erklärt, daß beide zum Gedanken des ›lebendigen Gottes‹ führen. Zwar behält die Physikotheologie auch am Ende noch Bedeutung als Propädeutik, sofern »eine physische (eigentlich physisch-teleologische) Theologie doch wenigstens als Propädeutik zur eigentlichen Theologie dienen kann« (KU B 482). 23 Oder die Antwort des Petrus auf Jesu Frage (Mt 16,15): »Du bist der Sohn des lebendigen Gottes.« 23 Vgl. dazu KU B 309 (dort wird sie »zur Theologie als Propädeutik oder Übergang« gerechnet); B 366; B 410: »Also ist Physikotheologie eine mißverstandene physische Teleologie, nur als Vorbereitung (Propädeutik) zur Theologie brauchbar und nur durch Hinzukunft eines anderweitigen Princips, auf das sie sich stützen kann, nicht aber an sich selbst, wie ihr Name es anzeigen will, zu dieser Absicht zureichend.«; B 482 (dort heißt es abschließend: »Eben so würde eine theologische Physik ein Unding sein, weil sie keine Naturgesetze, sondern Anordnungen eines höchsten Willens vortragen würde; wogegen eine physische (eigentlich physisch-teleologische) Theologie doch wenigstens als Propädeutik zur eigentlichen Theologie dienen kann: indem sie durch die Betrachtung der Naturzwecke, von denen sie reichen Stoff darbietet, zur Idee eines Endzweckes,
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Nach Kant ist der Weg zu einer rationalen Theologie also allein über die Moraltheologie oder die Ethikotheologie möglich. Dort ist er aber auch unausweichlich. Zwar erklärt er zu Beginn der Vorrede der Religionsschrift (RGV B III = AA 6,3): »Die Moral, so fern sie auf dem Begriffe des Menschen als eines freien, eben darum aber auch sich selbst durch seine Vernunft an unbedingte Gesetze bindenden Wesens gegründet ist, bedarf weder der Idee eines andern Wesens über ihm, um seine Pflicht zu erkennen, noch einer andern Triebfeder als des Gesetzes selbst, um sie zu beobachten.« Dennoch führt der Gedankengang schon im Rahmen der Vorrede zur Einsicht in die Notwendigkeit der Annahme des Daseins Gottes (RGV B IXf. = AA 6,6): »Moral also führt unumgänglich zur Religion, wodurch sie sich zur Idee eines machthabenden moralischen Gesetzgebers außer dem Menschen erweitert, in dessen Willen dasjenige Endzweck (der Weltschöpfung) ist, was zugleich der Endzweck des Menschen sein kann und soll.« Die Grundlage dieser Einsicht hat Kant in der Lehre von den ›Postulaten der reinen praktischen Vernunft‹ entwickelt, durch die »unser Erkenntniß […] durch reine praktische Vernunft wirklich erweitert« wird, obwohl die erlangten Erkenntnisse theoretisch transzendent (also objektiv unerkennbar) bleiben (KpV A 240). Denn nach Kant erkennen wir durch die Postulate der reinen praktischen Vernunft zwar »weder unserer Seele Natur, noch die intelligibele Welt, noch das höchste Wesen nach dem, was sie an sich selbst sind, sondern haben nur die Begriffe von ihnen im praktischen Begriffe des höchsten Guts vereinigt, als dem Objecte unseres Willens, und völlig a priori durch reine Vernunft, aber nur vermittelst des moralischen Gesetzes und auch blos in Beziehung auf dasselbe, in Ansehung des Objects, das es gebietet« (ebd.). Obwohl wir durch diese Postulate weder uns selbst, die intelligible Welt noch auch Gott erkennen, ist die ›praktische Absicht‹ keineswegs als eine mindere Art von Erkenntnis abzutun. Dies macht Kant in der Darstellung moralisch relevanter Situationen deutlich, deren Verständnis durch theoretische Erkenntnis nicht möglich ist, obwohl sie zweifellos höchste Bedeutung für das praktische menschliche Leben den die Natur nicht aufstellen kann, Anlaß giebt; mithin das Bedürfniß einer Theologie, die den Begriff von Gott für den höchsten praktischen Gebrauch der Vernunft zureichend bestimmte, zwar fühlbar machen, aber sie nicht hervorbringen und auf ihre Beweisthümer zulänglich gründen kann.«).
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besitzen. Solch eine moralisch relevante Situation stellt Kant sich unmittelbar vor der Formulierung des ›Grundgesetzes der reinen praktischen Vernunft‹ vor Augen. Dort erwägt er, wie ein Mensch antworten würde, »wenn sein Fürst ihm unter Androhung der […] unverzögerten Todesstrafe zumuthete, ein falsches Zeugniß wider einen ehrlichen Mann, den [der Fürst] gerne unter scheinbaren Vorwänden verderben möchte, abzulegen, ob er da, so groß auch seine Liebe zum Leben sein mag, sie wohl zu überwinden für möglich halte« (KpV A 54). Nach theoretischen Erwägungen wäre die Antwort klar, weil gilt (KpV A 45): »Glücklich zu sein, ist nothwendig das Verlangen jedes vernünftigen, aber endlichen Wesens und also ein unvermeidlicher Bestimmungsgrund seines Begehrungsvermögens.« Die Beurteilung moralisch relevanter Situationen durch die praktische Vernunft setzt sich aber über diesen Grundsatz der theoretischen Vernunft hinweg und erlaubt Personen, ihr Glücksstreben nicht zum höchsten Maßstab des Handelns zu machen – und im äußersten Fall sogar, ihre »Liebe zum Leben« zu vernachlässigen. Aus dem Bewußtsein des moralischen Gesetzes folgt die Pflicht zur Achtung der ›Menschheit‹ in der eigenen ›Person‹ und »in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel« (GMS BA 66 f. = AA 4,435). Diese Pflicht ist nach Kant die Pflicht zur Liebe, 24 die – wie er eigens betont hat (KpV A 147) – mit der Möglichkeit des biblischen Liebesgebots übereinstimmt. Daher legt Kant den »Begriff der Heiligkeit« als die »praktische Idee« aus, »welche nothwendig zum Urbilde dienen muß, welchem sich ins Unendliche zu nähern das einzige ist, was allen endlichen vernünftigen Wesen zusteht« (KpV A 58). Vor diesem Hintergrund wird die Lehre von den ›Postulaten der reinen praktischen Vernunft‹ unausweichlich, einerseits im Blick auf die sogenannte »Unsterblichkeit der Seele« (KpV A 219–223), andererseits aber auch im Blick auf das »Dasein Gottes« (KpV A 223–237). Beide Postulate setzen zudem die Freiheit des Willens voraus, 25 da ohne ›Freiheit‹ verantwortliches Handeln endlicher Wesen überhaupt nicht gedacht werden kann. Mit ›Unsterblichkeit der Seele‹ meint Kant keine Insofern ist es sachgemäß, als Äquivalent für ›Achtung‹ im Lateinischen das Wort ›caritas‹ zu sehen, mit der eine nichtsinnliche Liebe aus reinem Wohlwollen gemeint ist. 25 Zwar gilt (KpV A 240): »Wie aber auch nur die Freiheit möglich sei, und wie man sich diese Art von Causalität theoretisch und positiv vorzustellen habe, wird dadurch nicht eingesehen, sondern nur, daß eine solche sei, durchs moralische Gesetz und zu dessen Behuf postulirt.« 24
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ontische Eigenschaft eines Seienden, sondern den »ins Unendliche gehenden Progressus« vernünftiger Wesen mit dem Ziel der Heiligkeit (KpV A 220); die Möglichkeit dieses Ziels setzt wiederum das »Dasein Gottes« voraus, weil »das höchste Gut in der Welt nur möglich« ist, »so fern eine oberste Ursache der Natur angenommen wird, die eine der moralischen Gesinnung gemäße Causalität hat« (KpV A 225).
5. Zum »Primat der reinen praktischen Vernunft in ihrer Verbindung mit der speculativen« Die ›Postulate der reinen praktischen Vernunft‹ sind keine Hirngespinste, die unabhängig von den notwendigen Aufgaben der theoretischen Vernunft aufträten. In der theoretischen Philosophie treten nämlich notwendige Fragen auf, die auf »Gott, Freiheit und Unsterblichkeit« verweisen (KrV B XXX), ohne daß diese Fragen allein mit Mitteln der theoretischen Vernunft beantwortet werden könnten. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach dem »Primat der reinen praktischen Vernunft in ihrer Verbindung mit der speculativen« (KpV A 215–219). Kant erklärt zu Beginn des Abschnitts von dem »Primat der reinen praktischen Vernunft in ihrer Verbindung mit der speculativen« (KpV A 215): »Unter dem Primate zwischen zwei oder mehreren durch Vernunft verbundenen Dingen verstehe ich den Vorzug des einen, der erste Bestimmungsgrund der Verbindung mit allen übrigen zu sein.« Das Primat der reinen praktischen Vernunft tritt im Leben dann besonders deutlich hervor, wenn eine Person, die das schon erwähnte Grundverlangen aller vernünftigen, aber endlichen Wesen nach Glückseligkeit klug zu befördern sucht, in Widerstreit zu Maximen gerät, die aus dem Bewußtsein des moralischen Gesetzes ohne jede Rücksicht auf das eigene Glück folgen. In diesen Situationen wissen Personen um ihren ›Vernunftwillen‹, »der hier nicht wählt, sondern einem unnachlaßlichen Vernunftgebote gehorcht« (KpV A 258). Weil sich Pflichten, die auch das Leben kosten können, auf Gott als moralischen Weltherrscher beziehen, müssen »alle wahren Pflichten, mithin auch die ethischen, zugleich als seine Gebote vorgestellt werden« (RGV B 138 f. = AA 6,99). 26 Vgl. KpV A 233: »Auf solche Weise führt das moralische Gesetz durch den Begriff des höchsten Guts, als das Object und den Endzweck der reinen praktischen Vernunft,
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Der Gedanke der ›autonomen Moral‹ ist für Kants Philosophie so zentral, wie es die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten sagt (GMS BA 88 = AA 4,440): »Allein daß gedachtes Princip der Autonomie das alleinige Princip der Moral sei, läßt sich durch bloße Zergliederung der Begriffe der Sittlichkeit gar wohl darthun. Denn dadurch findet sich, daß ihr Princip ein kategorischer Imperativ sein müsse, dieser aber nichts mehr oder weniger als gerade diese Autonomie gebiete.« Dennoch hat das Prinzip der ›Autonomie‹ nichts mit ›Anthroponomie‹ zu, wie manche Interpreten Kant auszulegen versuchen. 27 Wer Kants Autonomie-Gedanken zutreffend auslegen wollte, müßte zum Beispiel zur Religion, d. i. zur Erkenntniß aller Pflichten als göttlicher Gebote, nicht als Sanctionen, d. i. willkürliche, für sich selbst zufällige Verordnungen eines fremden Willens, sondern als wesentlicher Gesetze eines jeden freien Willens für sich selbst, die aber dennoch als Gebote des höchsten Wesens angesehen werden müssen, weil wir nur von einem moralisch vollkommenen (heiligen und gütigen), zugleich auch allgewaltigen Willen das höchste Gut, welches zum Gegenstande unserer Bestrebung zu setzen uns das moralische Gesetz zur Pflicht macht, und also durch Übereinstimmung mit diesem Willen dazu zu gelangen hoffen können.« Und in diesem Zusammenhang (in einer Fußnote zur »Lehre des Christenthums« (KpV A 229 Fn) weist Kant auch auf die Notwendigkeit der Annahme der göttlichen Gnade. 27 Zu nennen wären hier – mit unterschiedlichen, einander widerstreitenden Interessenlagen – die Stellungnahmen von Uwe Justus Wenzel und Giovanni B. Sala. Wenzel, Anthroponomie. Kants Archäologie der Autonomie; Vf. zitiert zwar zutreffend Kants These, daß Moral keine Religion voraussetzt, übergeht aber die ebenso wesentliche, daß sie unausbleiblich zur Religion führt (72, Anm. 111). In anderer Intention, treffend aber eher gegen Interpreten wie Wenzel als gegen Kant (es geht ja nicht um Selbstgesetzgebung des Menschen, sondern der Vernunft!) erklärt Sala in: Das Reich Gottes auf Erden. Kants Lehre von der Kirche als »ethischem gemeinem Wesen«, 11: »In der Tat ist die Spannung unlösbar, solange die Autonomie des Menschen gilt. Warum sollte Gott die der Sittlichkeit proportionierte Glückseligkeit verwirklichen, wenn die Verbindlichkeit des moralischen Imperativs nicht von ihm abhängt? Wenn der Mensch sich völlig autonom ein Gesetz gibt, so soll er auch dafür sorgen, daß er auf seine Rechnung kommt.« Sala versucht in seinem verbissenen Kampf gegen Kant, den Offenbarungsglauben zu retten. Wenzel will mit seiner gleichsinnigen Umdeutung der ›Autonomie‹ die Fragen der Religion ganz ausschalten: offenbar eine seltsame und schlechte Art von ›coincidentia oppositorum‹. Ebenso verfehlt ist die Auffassung der ›Autonomie‹, die Reinhard Brandt gelegentlich vorgetragen hat. Brandt sagt (»Der Gott in uns und für uns bei Kant«, 295): »Die Instanz, die uns verpflichtet, kann nicht mehr Gott sein, sondern wir sind es selbst. Deus est in nobis. Alle Pflichten überhaupt sind in der Selbstverpflichtung begründet, oder sie sind nur ein hochgeschraubter Name fur die Unterwerfung unter eine höhere externe Gewalt, sei dies nun ein vorausgesetzter externer Gott oder, später, die menschliche Gesellschaft. Wenn ich mich nicht selbst verpflichten kann, wenn nicht jede obligatio eine obligatio sibi contracta ist, dann beruht die gesamte Aufklärung dieser zweiten Epoche und besonders der kantische Autonomiegedanke auf
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zeigen können, warum Kant sich gegen die ›Versinnlichung‹ und gegen ›Anthropomorphismen‹ wehrt (z. B. KpV A 246) und (wie oben schon erwähnt) betont, daß der reine Vernunftwille »hier nicht wählt, sondern einem unnachlaßlichen Vernunftgebote gehorcht« (KpV A 258). Das ›Primat der reinen praktischen Vernunft‹ führt also zur Annahme des Daseins Gottes, obwohl diese Annahme für die spekulative Vernunft transzendent bleibt. Das genannte Primat führt also erstens zur Notwendigkeit, einen »ins Unendliche gehenden Progressus« im Streben nach der Heiligkeit des Willens anzunehmen, wobei dieser Progressus nach Kant »nur unter Voraussetzung einer ins Unendliche fortdaurenden Existenz und Persönlichkeit desselben vernünftigen Wesens (welche man die Unsterblichkeit der Seele nennt) möglich« ist (KpV A 220). Zweitens führt das Primat der reinen praktischen Vernunft zur Annahme der »Existenz Gottes, als zur Möglichkeit des höchsten Guts (welches Object unseres Willens mit der moralischen Gesetzgebung der reinen Vernunft nothwendig verbunden ist) nothwendig gehörig« (KpV A 224). Die Tatsache, daß diese Postulate der theoretischen Vernunft »als ein ihr fremdes Angebot« begegnen, »das nicht auf ihrem Boden erwachsen«, macht den ›Glauben‹ einerseits erst glaubwürdig (sofern seine Inhalte nicht als ›Projektionen‹ eines endlichen Bewußtseins denunziert werden können, wie Ludwig Feuerbach dies getan hat). 28 Gott muß, wenn er als wahrer Gott gedacht werden soll, als ›transzendent‹ gedacht werden. Diese Tatsache macht den Glauben aber andererseits zu einem ›Angebot‹ an vernünftige Wesen, das ihnen Entscheidung abverlangt und sowohl Glauben als auch Unglauben ermöglicht. Das ›Primat‹ der praktischen Vernunft zwingt vernünftige Wesen nicht zum Glauben an Gott oder an die Fortdauer ihrer Existenz über den Tod hinaus; die Beurteilung des Ergebnisses der spekulativen Vernunft zwingt sie aber auch nicht zum Unglauben. Schon in der Kritik der reinen Vernunft hatte Kant, wohl in Anknüpfung an die ›Wette‹ Pascals, 29 erklärt (KrV B 853): »Wenn man sich in Gedanken vorstellt, einem spektakulären Irrtum.« Zur Kritik dieser Kant-Auslegung Brandts vgl. Norbert Fischer, Kants Verhältnis zum christlichen Glauben, bes. 33–39. 28 Vgl. Ludwig Feuerbach, Gedanken über Tod und Unsterblichkeit, 384: »Gott ist nur dein eignes Ich, / Aufgeputzt und geschmücket säuberlich.« 29 Vgl. dazu Albert Raffelt, »Fragmente zu einem Fragment: Die Wette Pascals«, in: Albert Raffelt (Hg.), Weg und Weite: Festschrift für Karl Lehmann. Freiburg: Herder, 2001, 207–220.
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man solle worauf das Glück des ganzen Lebens verwetten, so schwindet unser triumphirendes Urtheil gar sehr, wir werden überaus schüchtern und entdecken so allererst, daß unser Glaube so weit nicht zulange.« Für sich selbst aber hatte er dort erklärt (KrV B 854 f.), »daß ich festiglich einen Gott glaube; aber alsdenn ist dieser Glaube in strenger Bedeutung dennoch nicht praktisch, sondern muß ein doctrinaler Glaube genannt werden, den die Theologie der Natur (Physikotheologie) nothwendig allerwärts bewirken muß.« Und zum Weiterleben nach dem Tod fügt er an (KrV B 855): »In Ansehung eben derselben Weisheit, in Rücksicht auf die vortreffliche Ausstattung der menschlichen Natur und die derselben so schlecht angemessene Kürze des Lebens kann eben sowohl genugsamer Grund zu einem doctrinalen Glauben des künftigen Lebens der menschlichen Seele angetroffen werden.« Kants vollständiges System der Möglichkeiten philosophisch begründeter Theologien, das in einem wichtigen, aber wenig beachteten Abschnitt der Kritik der reinen Vernunft vorliegt, weist auf seinen weiteren Weg voraus und bezeugt sein Streben, die genuine Aufgabe der christlichen Theologie zu übernehmen, nämlich sich um die Vernünftigkeit ihrer Aussagen zu sorgen. 30
Literatur Bering, Johannes, Prüfung der Beweise für das Dasein Gottes, aus den Begriffen des höchstvollkommenen und nothwendigen Wesens. Gießen: Krüger 1780. Friedrich Delekat: Immanuel Kant. Historisch-kritische Interpretation der Hauptschriften. Heidelberg: Quelle & Meyer 1969. Feuerbach, Ludwig, Gesammelte Werke. Band 5. Berlin: Akademie 1984. –, Gedanken über Tod und Unsterblichkeit. In: Ludwig Feuerbach: Gesammelte Werke. Band 1. Hg. von Werner Schuffenhauer. Berlin: Akademie 1981, 1981– 1989. Fischer, Norbert (Hg.), Kants Metaphysik und Religionsphilosophie. Hamburg: Meiner 2004. –, Kant und der Katholizismus. Stationen einer wechselhaften Geschichte. Freiburg: Herder 2005.
30 Vgl. dazu Augustinus: De vera religione 8: »sic enim creditur et docetur, quod est humanae salutis caput, non aliam esse philosophiam, id est sapientiae studium, et aliam religionem.« Vgl. Friedrich Delekat, Immanuel Kant, 149; Delekat erklärt dort mit Grund, Kants Intention bei der Abfassung der Religionsschrift sei »ein wissenschaftlicher, wenn man will, seelsorglicher Dienst an den Gebildeten« gewesen.
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Philosophisches Fragen und der Glaube an den »lebendigen Gott« –, »Natur, Freiheit und Gnade. Systematische Überlegungen im Anschluß an Augustinus und Kant«, in: Natur. Dimensionen und Bedeutung eines philosophischen Grundbegriffs. Hg. von Hanns-Gregor Nissing. Darmstadt: WBG 2009, 67–82. –, »Augustinische Motive in der Philosophie Immanuel Kants«, in: Augustinus. Spuren und Spiegelungen seines Denkens. Band 2: Von Descartes bis in die Gegenwart (Schriftenverzeichnis Nr. 25), 89–110. –, Kants Grundlegung einer kritischen Metaphysik. Einführung in die ›Kritik der reinen Vernunft‹. Hamburg: Meiner 2010 (= KGkM). –, »Augustinus und Kant«, in: Spiritus et littera. Festschrift für Cornelius Mayer zum 80. Geburtstag. Hg. von Guntram Förster; Andreas E. J. Grote; Christof Müller. Würzburg: Echter 2010, 577–596. –, Die Gnadenlehre als ›salto mortale‹ der Vernunft? Natur, Freiheit und Gnade im Spannungsfeld von Augustinus und Kant. Freiburg/München: Karl Alber 2012. –, »Kants Verhältnis zum christlichen Glauben«, in: Theologie und Glaube 102 (2012), 25–44. Flasch, Kurt (Hg.), Was ist Gott? Das Buch der 24 Philosophen. München: Beck 2011. Heidegger, Martin, Kant und das Problem der Metaphysik (1929), in: Martin Heidegger Gesamtausgabe Band 3: I. Abt., Veröffentlichte Schriften 1910– 1976. Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann 1991. Hinske, Norbert, Die Rolle des Methodenproblems im Denken Kants. Zum Zusammenhang von dogmatischer, polemischer, skeptischer und kritischer Methode (KGkM 343–354). Sala, Giovanni B., Das Reich Gottes auf Erden. Kants Lehre von der Kirche als »ethischem gemeinen Wesen«, in: Norbert Fischer (Hg.): Kants Metaphysik und Religionsphilosophie, 225–264. Wundt, Max, Kant als Metaphysiker. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Philosophie im 18. Jahrhundert. Stuttgart: Enke 1924. Raffelt, Albert, Fragmente zu einem Fragment: Die Wette Pascals. In: Albert Raffelt (Hg.): Weg und Weite: Festschrift für Karl Lehmann. Freiburg: Herder, 2001, 207–220.
Weitere Hinweise Siglen zu den Schriften Kants nach Norbert Fischer, Kants Metaphysik und Religionsphilosophie. Hamburg: Meiner 2004, 695 f. (dieses Siglenverzeichnis ist mit der Redaktion der Kant-Studien (Berlin: de Gruyter) vereinbart).
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II. Leiblichkeit
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Günter Figal
Dualität und Inkarnation. Phänomenologischhermeneutische Überlegungen
Der zu Beginn des Johannes-Evangeliums ausgesprochene Gedanke oder Sachverhalt, dass der λόγοϚ Fleisch geworden sei, ist in seiner eigentümlich philosophischen Bedeutung erst in der Moderne entdeckt worden. Zu dieser Entdeckung bedurfte es der Rehabilitierung – oder besser: der Habilitierung des Fleisches im Sinne des leiblichen und leibhaften Lebens, die zunächst Nietzsche und dann Husserl zu verdanken ist; was Nietzsche betrifft, so ist das gewiss nicht ohne Paradoxie. Es bedurfte einer Aufwertung des Sinnlichen, des Wahrnehmbaren und des Wahrnehmens, damit der λόγοϚ nicht mehr nur als denkbar und verständlich erscheint, sondern wesentlich auch als sichtbar und hörbar. Der Gedanke und Sachverhalt der Fleischwerdung des λόγοϚ erlaubt es damit, λόγοϚ nicht allein als Vernunft, Weltsinn oder kosmische Ordnung zu denken, sondern als das wahrnehmbar Vernünftige – als das Einsehbare und Verständliche in einer für es selbst wesentlichen leibhaften Anwesenheit. Fleischwerdung ist ja nicht Erscheinung im platonischen Sinne, also nicht die mehr oder weniger getrübte, mittelbare Präsenz von etwas, das angemessen nur an ihm selbst, erscheinungslos im reinen Denken erkannt werden kann. Doch Fleischwerdung ist auch nicht die Verwandlung des λόγοϚ ins Leibliche und Leibhafte, derart, dass der λόγοϚ nun ausschließlich vom Leiblichen und Leibhaften her, als dessen Erscheinung im Denken verstanden werden müsste. Das Wort Inkarnation deutet vielmehr auf ein Geschehen, in dem der λόγοϚ als solcher leibhaft wird. Im Sinne der Inkarnation muss das Leibliche oder Leibhafte deshalb an sich selbst als leibliche und leibhafte Wirklichkeit eines λόγοϚ verstanden werden können, der gleichwohl von ihm unterschieden ist. So deutet das Wort Inkarnation auf einen eigentümlichen Sachverhalt, der sich weder als Dualität von Sein und Erscheinung, noch als Identität eines allein leiblichen und leibhaften λόγοϚ verstehen lässt. Weder bleibt der λόγοϚ in seinen Erscheinungen unverändert er selbst, noch geht er, mit Nietz175 https://doi.org/10.5771/9783495808405 .
Günter Figal
sche gesagt, in einer »großen Vernunft« des Leibes auf, die die kleine Vernunft des Geistes einschließt. Das Wort Inkarnation deutet auf etwas Einfaches, das gleichsam zwei Seiten hat, von denen die eine über es hinausweist. Es ist klarer Weise eine theologische oder religionsphilosophische Aufgabe, diesen Gedanken im christlichen Kontext zu entwickeln, wie er durch den Prolog des Johannes-Evangeliums vorgegeben ist. Doch wenn die Figur der Inkarnation darüber hinaus deskriptiv gehaltvoll ist, zeigt sich, wie Leben und Welt sich von einem theologisch bedeutsamen Sachverhalt her erschließen, ohne dass man sie theologisch beschreiben müsste. Das wiederum bekräftigt die Vernünftigkeit der Theologie, zumal dann, wenn die philosophischen Beschreibungen dazu beitragen, die Struktur des Inkarnationsgedankens zu klären – dies umso mehr, je weniger theologische Absicht dabei im Spiel ist. Die Figur der Inkarnation ist vor allem von drei Philosophen der Moderne aufgenommen und auf je verschiedene Weise entwickelt worden. Am ausführlichsten hat sich Michel Henry auf die Figur eingelassen; in einer umfangreiche Studie hat er seine Phänomenologie des Lebens vom Inkarnationsgedanken her neu formuliert. 1 Dagegen erscheinen die anderen beiden Konzeptionen, die sich auf den Gedanken beziehen, als vergleichsweise marginal. Hans-Georg Gadamer nimmt den Inkarnationsgedanken allein auf, weil er sich von diesem einen Aufschluss über das Wesen der Sprache erhofft, der in der griechischen Tradition des Denkens, die das Sein der Sprache zwischen Bild und Zeichen einzwänge, 2 nicht zu finden sei. Maurice Merleau-Ponty hat – im Vergleich mit Henry sehr skizzenhaft, aber vor ihm – in seiner weiterdenkenden Modifikation von Husserls Phänomenologie der Leiblichkeit vom »Fleisch« (chair) als von einem inkarnierten Prinzip (principe incarné) gesprochen, das etwas zwischen raumzeitlichem Individuum und Idee sei, 3 und er hat mit diesem Gedanken das Verhältnis von »Fleisch und Idee«, von Sinnlichem und Denkbarem neu zu bestimmen versucht. Doch obwohl, vielleicht auch weil Henry den Inkarnationsgedanken als Zentrum seiner Lebensphänomenologie begreift, wird er dem herausfordernden Charakter dieses Gedankens sehr viel weniger als Gadamer und Merleau-Ponty gerecht. Das Leben, wie 1 2 3
Michel Henry, Incarnation. Une philosophie de la chair, Paris 2000. Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, GW 1, Tübingen 1990, 422. Maurice Merleau-Ponty, Le visible et l’invisible, Paris 1964, 182.
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Dualität und Inkarnation
Henry es versteht, ist als solches inkarniert, und entsprechend erscheint der im Johannes-Prolog genannte Sachverhalt der göttlichen Inkarnation als originäre Möglichkeit eines umfassenden und unmittelbar erscheinenden Lebens. Damit aber geht das absolut Besondere der göttlichen Inkarnation verloren; diese ist für Henry Leben – wie das intuitiv erfahrene menschliche Leben auch. Demgegenüber nehmen Gadamer und Merleau-Ponty den Sachverhalt der Inkarnation gerade darin ernst, dass sie ihn nicht als Urevidenz des Lebens verständlich machen, sondern vielmehr sein deskriptives Potential erkunden wollen. Gadamer und Merleau-Ponty denken im Licht dieses Sachverhalts; sie sehen die Phänomene, die sie beschreiben wollen, in diesem Licht. Deshalb führt ihre Erkundung der Inkarnationsfigur weiter. Gadamer, um mit ihm zu beginnen, nimmt den Inkarnationssatz des Johannes-Prologs wörtlich. Dass der λόγοϚ Fleisch wird, heißt für ihn, das gesprochene, je in einer besonderen Sprache individuell gesprochene Wort sei nicht die Bezeichnung oder Abbildung eines Gedankens, sondern komme vom Wort her, das zugleich die in ihm gegenwärtige Sache sei. Das »innere Wort« als welches Gadamer mit Augustinus und Thomas von Aquin den λόγοϚ versteht, ist so gesehen keine Vorstellung die dem Sprechen vorangeht, sondern, wie Gadamer, Thomas übersetzend, sagt, »der bis zu Ende gedachte Sachverhalt«, 4 der, als solcher schon sprachlich sei. Das »größere Wunder« der Sprache liege nicht darin, dass das Wort Fleisch werde und so »im äußeren Sein« heraustrete, sondern darin, dass das so Heraustretende »immer schon Wort« sei. 5 Was in der gesprochenen Sprache zur Erscheinung kommt, ist nicht verschieden von dieser, aber schon Sprache. Während Gadamer den Inkarnationsgedanken derart unter dem Aspekt des Hervortretens des λόγοϚ ins Fleisch versteht, setzt Merleau-Ponty beim gegebenen sinnlich Erscheinenden an, um in ihm den λόγοϚ aufzuspüren. 6 Am Beispiel eines musikalischen Motivs, der petite phrase aus Prousts Du côté de chez Swann, zeigt er, dass die dem sinnlich Wahrnehmbaren zugehörige »Idee« anders als in der Wissenschaft in der Kunst nicht ablösbar sei und sich deshalb nicht als zweite Positivität etablieren lasse. Die Idee eines musikalischen Motivs zum 4 5 6
Gadamer, Wahrheit und Methode, 426. Ebd., 424. Merleau-Ponty, Le visible et l’invisible, 193–194.
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Günter Figal
Beispiel sei ohne die »Bildfläche« (écran) ihrer wahrnehmbaren Erscheinung gar nicht da; die Erscheinung biete nicht nur den Anlass für eine eidetische Erfahrung, sondern die Idee gewinne ihre Autorität, ihre faszinierende und unzerstörbare Kraft gerade daraus, dass sie hinter dem Sinnlichen oder in seinem Herzen transparent sei. 7 Man sieht, wie es Gadamer und ebenso Merleau-Ponty auf das Ineinander von λόγοϚ und Erscheinung ankommt; inneres und gesprochenes Wort, Idee und Erscheinung sind eines Wesens und dennoch so voneinander verschieden, dass das innere Wort ins äußere heraustreten und die Idee hinter oder in der Erscheinung transparent werden kann. Aber wie Wesensgleichheit und Verschiedenheit in ihrem Verhältnis zueinander zu verstehen sind, wird in beiden Konzeptionen nicht klar. Aus Gadamers Überlegungen zum inneren Wort geht nicht hervor, wieso zum inneren Wort, das als solches schon Sprache ist, mit seiner Veräußerlichung Wesentliches hinzukommt. Wenn das innere Wort für sich schon sprachliches Denken ist, »innere Selbstaussprache«, 8 wie Gadamer es nennt, so kommt mit dem äußeren Wort nichts Wesentliches hinzu. Das äußere Wort ist demnach eine unwesentliche Erscheinung; es ist sekundäre Gegebenheit im platonischen Sinne. Das ist bei Merleau-Ponty entschieden anders; im Gegensatz zu Gadamer nimmt er vor allem die äußerliche, wahrnehmbare Erscheinung ernst. Gerade deshalb ist es jedoch erstaunlich, dass er die Idee, zu der es doch keinen wahrnehmungsfreien Zugang geben soll, als »unsichtbar« versteht und von ihr mit Proust sagen kann, sie sei »von Dunkelheiten verschleiert« und erscheine nur »in Verkleidung«. 9 Wenn es so ist, dann ist die Idee nicht in der Erscheinung da, und entsprechend können die Ideen allgemein als das »Abwesende alles Fleisches«, l’absente de toute chair bestimmt werden, 10 als das, was hinter dem Fleisch als sein »Futterstoff«, doublure, ist. 11 Ideen solcher Art sind nicht inkarniert, sondern das verborgene Wesen des Fleisches. Dennoch führt Merleau-Pontys Konzeption weiter. Merleau-Ponty nennt die Ideen nicht nur den Futterstoff des Fleisches, sondern auch 7 Ebd., 194: »Ce n’est pas seulement qu nous y trouvions l’occasion de les penser; c’est qu’elles tiennent leur autorité, leur puissance fascinante, indestructible, de ceci précisement qu’elles sont en transparence derrière le sensible ou en son cœur.« 8 Gadamer, Wahrheit und Methode, 426. 9 Merleau-Ponty, Le visible et l’invisible, 195. 10 Ebd. 11 Ebd., 193.
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Dualität und Inkarnation
seine Tiefe, profondeur. 12 Das bleibt zwar unausgeführt, aber es gibt zu verstehen, dass das von der Erscheinung Verschiedene weniger eine hinter dieser stehende Idee als vielmehr deren eigentümliche Räumlichkeit ist: die Äußerlichkeit und damit der Abstand ihrer Momente, die je eigentümliche Weise, in der diese Momente einander freigeben und verdecken, das Offene, Zugängliche, das eine Erscheinung zu einem möglichen Ort ihrer Erfahrung macht. Die Räumlichkeit der Erscheinung ist die Erscheinung selbst, genauer die mit der Erscheinung erfahrbare Möglichkeit der Erscheinung – diese Möglichkeit überhaupt jeweils besonders. Das Ergebnis lässt sich auf den von Gadamer beschriebenen Sachverhalt übertragen. Auch das gesprochene und darin erscheinende Wort ist räumlich im erläuterten Sinne. Bedeutung hat das Gesagte – und ebenso das Geschriebene – nur, weil es anderem Sagbarem oder Schreibbarem äußerlich und darin von diesem verschieden ist. Ein Wort gehört außerdem mit anderen zusammen, indem es diesen Sinn gibt und Sinn von ihnen empfängt. Und ein Wort ist als dieses besondere, in einer besonderen Sprache gesprochene Wort zugleich ein Ort, an dem sich das Bezugsnetz der Sinnbezüge erfahren lässt. Ein gesprochenes Wort ist keine Emanation des inneren sprachlichen Gedankens; was Gadamer das »innere Wort« nennt, ist vielmehr, mit einer Formulierung Heideggers, die »Weite des Sagbaren«, in die jedes besondere Wort gehört, in der es mit anderem, was gesagt werden kann, zusammengehört und deshalb auch durch anderes zu ersetzen ist. Die Weite des Sagbaren ist mit jedem gesagten Wort da. Sie erscheint nicht so, wie das je besondere Wort erscheint, indem es gesprochen oder geschrieben wird. Aber sie erscheint mit und in jedem besonderen Wort, wie überhaupt der Raum als die Möglichkeit von Erscheinungen in jeder Erscheinung mit da ist. Jede Erscheinung in ihrer Räumlicheit lässt den Raum, in und durch den sie Erscheinung ist, mit erscheinen – als das Unscheinbare, das, um erfahren zu werden, die Erscheinung braucht, so wie umgekehrt die Erscheinung nur in diesem Unscheinbaren möglich ist. Das ist so, weil der Raum und die Erscheinung in ihrer Räumlichkeit wesensgleich sind und in ihrer Wesensgleichheit von einander verschieden. Wenn das eine Auslegung der Inkarnationsfigur ist, die deren Eigentümlichkeit gerecht wird – jenseits der Dichotomie von Idee und 12
Ebd.
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Günter Figal
Erscheinung, jenseits auch von jeder wie auch immer vorgestellten Materialisation – so wird man auch den im Johannes-Prolog artikulierten Sachverhalt in ihrem Sinne verstehen dürfen. Dass der λόγοϚ Fleisch geworden ist, heißt dann, die absolute Weite, aus und in der alles ist, sei leibhaft da, derart, dass sie in einem besonderen leibhaften Leben in ihrem Wesen eröffnet wird und eröffnet werden kann, weil dieses leibhafte Leben unmittelbar aus der Weite des λόγοϚ kommt. Aber dieser Sachverhalt lässt sich nicht als Anwendungsfall der phänomenologischen Zusammengehörigkeit von Raum und räumlicher Erscheinung oder der hermeneutischen von Sagbarem und Gesagtem verstehen. Gerade weil die phänomenologisch-hermeneutische Formulierung der Inkarnationsfigur in allgemeine, formale Strukturen erfassende Begriffe gefasst ist, reicht sie an den im Johannes-Prolog artikulieren Sachverhalt bestenfalls heran.
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Emmanuel Falque
Dies ist mein Leib – eine philosophische Lektüre der Eucharistie
»Selig diejenigen, die zum Hochzeitsmahl des Lammes geladen sind […] Lasst uns freuen und jubeln und ihm die Ehre erweisen, denn gekommen ist die Hochzeit des Lammes […]; seine Frau hat sich bereit gemacht, sie durfte sich kleiden mit strahlend reinem Leinen […]; Kommt, sammelt euch für das große Fest des Herrn« (Offb. 19,9; 5,6; 19,7–8; 19,17). Der Appell des Heiligen Johannes in der Apokalypse genügt als Einladung zum Festmahl. Ein Lamm ist dort, unschuldig, bereit, gesehen zu werden und angebetet, aber auch gegessen zu werden. Die Brüder Eyck haben dazu in der St.-Bavo-Kathedrale in Gent eine Abbildung geschaffen, auf einem flandrischen Altaraufsatz, der genauso bekannt wie umstritten ist: den »Altaraufsatz des mystischen Lammes« (1432). Dort wurden die Vor-Reformatoren John Wyclif und Jan Hus kurz vor der Realisation ihres Werkes darin bestärkt, dass »Christus in seiner eigenen leiblichen Person nicht identisch und nicht real mit dem Sakrament des Altares ist« (J. Wyclif), die Brüder Eyck fanden Beweise dieser Realität, sogar über ihre Substantialität, sie zeigten Christus demonstrativ auf dem Altar unter dem Bildnis des Lammes, dessen Wirklichkeit der Präsenz so überraschend ist wie gleichermaßen gefordert. Eine wirkliche, »reale« Präsenz erwartet dort der Mensch, die sicherlich von Neuem hinterfragt wird, aber nicht weniger notwendig und unzweifelhaft ist auf den Wegen der Zeiten, die sie durchschritten hat. Man erinnert sich an die Eröffnungsrede von Papst Johannes XXIII. anlässlich des II. Vatikanischen Konzils (1962), in der er seine Erwartung formuliert, die katholischen Denker sollten eine Lehre darlegen »in einer Art, die den Ansprüchen unserer Zeit gerecht wird«, sogar »folgend den Methoden der Forschung und der Darstellung, wie sie das moderne Denken gebraucht« 1. Es ist hier keine Frage und unnötig 1
Discours d’ouverture au concile Vatican II (Jean XXIII), mit der Hinzufügung der
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Emmanuel Falque
zu betonen, dass die Tradition nicht abgelehnt werden soll, ganz im Gegenteil. Man wird nicht etwas Neues finden, das sich auf das Alte stützt, vielmehr ist Erneuerung Interpretation, basierend auf dem Dogma und auf älteren Formulierungen. Das hoc est corpus meum oder das »Dies ist mein Leib« ist zunächst eine Frage des Glaubens, und damit der persönlichen Bindung. Aber es kennzeichnet auch ein »Geschäft der Kultur« (J.-L. Nancy), umso mehr ergibt sich heraus die Dringlichkeit des Christentums, »glaubwürdig« und nicht nur »glaubhaft« zu sprechen. Das Christentum besitzt in sich selbst die kulturellen wie auch konzeptionellen Mittel, den Kern des Menschlichen zu treffen und vom Inneren her umzugestalten. Die Apologetik ist weder eine Bekehrung, noch eine bloße Frage der Vernunft. Zunächst zielt sie darauf, »den Grund zu berühren«, anzuerkennen, dass kein Mensch »umgewandelt wird« (métamorphosé), wenn er sich nicht zuerst den Menschensohn angezogen hat: »Alles, was nicht angenommen wird, wird auch nicht erlöst«, sagt Gregor von Nazianz, »und nur derjenige, der eins mit Gott ist, wird gerettet« (Brief an Cledonios). Es ist angemessen, von diesem Spruch aus Maß zu nehmen und nach der Gesamtheit der Erfahrungen des Menschen zu fragen, die in der Eucharistie eingeladen sind, sich von Gott verändern zu lassen: die Animalität (das Erbe der Eucharistie [die Gestalt des Lammes]), der Leib (der Inhalt der Eucharistie [Dies ist mein Leib]), der Eros (die Modalität der Eucharistie [ein gegebener Leib]), und schließlich die Permanenz (die Zielgerichtetheit der Eucharistie [bleibt in mir und ich bleibe in euch]). Der Akt »das Fleisch zu essen, sogar zu kauen« und »das Blut zu trinken, sogar hinunter zu schlucken« – »Wer mein Fleisch isst (trôgôn mou tên sarka) und mein Blut trinkt (pinôn mou to aima)« (Joh 6,56) – stellte in jener Zeit einen Skandal dar. Wir dürfen nicht vergessen, dass er das auch heute ist, auch wenn man schon seit langer Zeit zur Kommunion geht. Charles Péguy sagt, es gibt »noch etwas Schlechteres, als eine abartige Seele zu haben, nämlich eine Seele, die sich daran gewöhnt hat« 2. Weder die Philosophie noch die Theologie, weder die Phänomenologie noch die Sakramentenlehre ist einzig eine Sache von Worten. Sie bezeichnen eine »Erfahrung«, die verschwindet, wenn sie ersten italienischen Version; zitiert, übersetzt und kommentiert von B. Sesboüé und Ch. Theobald, La parole du salut, Histoire des dogmes, Bd. 4, Paris, Desclée, 1996, 479. 2 Ch. Péguy, Note conjointe sur M. Descartes, Paris, Pléiade, 1992, 1307.
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Dies ist mein Leib – eine philosophische Lektüre der Eucharistie
nicht ausgesprochen werden kann (Intuition ohne Konzept), und die sich entleert, wenn sie nicht gelebt werden kann (Konzept ohne Intuition). Dies gilt auch für andere Arten der Existenz, die philosophisch zu übersetzen sind, wie den Karfreitag oder den Ostersonntag (das »Leiden« in Passeur de Gethsémani / Der Leidende von Gethsémane oder die »Geburt« in Métamorphse de la finitude / Metamorphose der Endlichkeit), es gilt noch mehr für den Gründonnerstag, der für die Wegzehrung steht und für die Alltäglichkeit unseres Seins hier unten, der man verpflichtet ist (der Leib in Les noces de l’agneau / Die Hochzeit des Lammes). Auf das philosophische Triptychon – Leiden, Geburt, Leib – antwortet das theologische Triduum: Passion, Auferstehung, Eucharistie. Es gilt die Einheit des Menschseins festzuhalten, die gleichermaßen übertragen wird durch ihre radikale Annahme wie auch durch ihre Veränderung durch das Göttliche. Die Erfahrung des Menschen und das Mysterium Gottes in der Figur des Menschensohnes sind derart miteinander verwoben, dass man sich selbst betrügen würde, wenn man sie trennen wollte 3.
Die Philosophie an der Grenze Tritt man ein in das theologische Mysterium der Eucharistie, gelangt man paradoxerweise zu den Fragen an den Grenzen der Philosophie, oder vielmehr einer bestimmten Form der Phänomenologie. Seien es die Analysen des Leids (Lévinas) oder des Todes (Heidegger) [Passeur de Gethsémani], wie auch des Fleisches (Henry), der Gabe (Marion) oder der Geburt (Romano) [Métamorphose de la finitude]: sie alle können Licht in das bringen, was unter Passion oder Auferstehung zu verstehen ist. Es gibt keine Zusicherung, dass diese ausreichend sind oder nur sie es wert sind, genannt zu werden, wenn es darum geht, was der »Leib« als solcher ist oder was die Eucharistie ist. Eine Gegenreaktion tritt auf, dieses Mal von der Theologie zur Phänomenologie, wenn es um das »eucharistische Mysterium« geht, genauso beim »organischen
Wir erinnern hier unsere Trilogie: E. Falque, »La passeur de Gethsémani, Angoisse, souffrance et mort, Lecture existentielle et phénoménologique«, Paris, Cerf, in: La nuit surveille, 1999; »Métamorphose de la finitude, Essai philosophique sur la naissance et la resurrection«, ibidem 2004; »Les noces de l’agneau, Essai philosophique sur le corps et l’eucharistie«, ibidem 2011.
3
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Emmanuel Falque
Leib«. Die gegenwärtige phänomenologische Praxis läuft darauf hinaus, in einer im Übrigen schönen Pracht, das Gegebene von der Offenbarung her zu erhellen (das Gebet [J.-L. Chrétien], die Fleischwerdung [M. Henry], die Gabe [J.-L. Marion], die Liturgie [J.-Y. Lacoste] usw.), ohne zu hinterfragen, oder fast ohne zu hinterfragen, welche Effizienz ihre Instrumente haben, heißt: danach, was in ihnen aus der Theologie ist – dergestalt, dass die Theologie selbst mitunter völlig phänomenologisch wird. Dennoch untersucht man weniger die Relevanz dieser Werkzeuge, wie wir es getan haben und auch weiterhin tun werden, und zwar auf ihre Möglichkeit, alles auszusagen, oder vielmehr auf die Möglichkeit, alles zu sagen, das die Erfahrung des Menschlichen wie auch des Göttlichen betrifft. Die Theologie selbst lässt die Phänomenologie ihre »Grenzen« erkennen, ihren hegemonialen Anspruch, irrtümlicherweise jede andere Denkform abzulehnen, besonders die »Metaphysik«. Ein aus unserer Sicht vorbildliches Beispiel hat Tertullian in seiner authentischen und anti-gnostischen Interpretation geschaffen. In ihr disqualifiziert er jeden Versuch, phänomenologisch über das »Fleisch« oder über »gelebte Körper« (Leib [i. Orig. dt.]) zu sprechen, oder über »Körper« oder über die »Materialität in seiner Ausgedehntheit« (Körper [i. Orig. dt.]). »Christus hatte ganz einfach keinen anderen Grund, Mensch zu werden, als den, die menschliche Realität des Leibes zu zeigen (humana substantia corporis)«, sagt der Karthager, »So nehmen die Muskeln die Stelle der Erdschollen ein, die Knochen vertreten die Felsen, die Brustwarzen sind wie Kiessteinchen. Blicke hin auf die Verflechtungen der Sehnen, sie gleichen den Verzweigungen von Wurzeln; die Adern wie sie sich durcheinander verästeln, sie gleichen dem gewundenen Lauf der Bäche; das Flaumhaar entspricht dem Moos, das Haupthaar dem Rasen und das verborgen liegende Knochenmark sind die Metalladern des Fleisches.« 4 Also kann man sagen: Der Leib des inkarnierten Sohnes, weit davon entfernt, simples »Fleisch ohne Leib« zu bewohnen, hier verweisen wir besonders auf Tertullian und Irenäus (M. Henry), wird auch gegeben als »Leib ohne Fleisch«, um dieses Mal Tertullian, Das Fleisch Christi (De carne Christi), Paris, Cerf, 1975, SC Nr. 216, 1975, IX, 4, 253 [Die menschliche Realität des Körpers], und IX, 3, 253 [Muskeln, Knochen, Nerven usw.]. Vgl. dazu meine Analyse und den Kommentar zu De Carne Christi in: Dieu, la chair et l’autre, Paris, PUF, coll. »Epiméthée« ch. V, 251–258; »La consistance de la chair« (Tertullien); bes. 269–286: »ma sœur la chair« (§ 35) und »l’hypothèse d’une chair pour la mort« (§ 36).
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Dies ist mein Leib – eine philosophische Lektüre der Eucharistie
eine inkarnierte Menschlichkeit glaubhaft zu vertreten, oder besser »in-korporiert«, um sowohl im Horizont von »Welt« als auch von »Materialität« zu sein. Der Mensch ist nicht zuerst aus »Fleisch (chair)« (Leib [i. Orig. dt.]), sondern auch »Körper (corps)« (Körper [i. Orig. dt.]). Besser noch ist die überraschende Umkehrung der Begriffe im Deutschen: der Begriff »Körper« heißt hier in der Sakramententheologie – der Leib Christi. 5 Dies heißt nichts weniger, als dass Christus in einem einfachen Leib gelebt hat und wirklich präsent war, den er uns zu essen und zu trinken geben wird, zu dem wir zurückkehren werden, wenn das Organische bereits in einem historischen Sinne nicht mehr identifizierbar ist (die Unterscheidung zwischen dem historischen Jesus und dem auferstandenen Christus). 6 Die Gegenreaktion der Theologie auf die Phänomenologie, die Frage nach dem Gewicht des Körpers als »Inkorporation« (Verkörperung [i. Orig. dt.]) oder nach der gelebten »Inkarnation« (Verleiblichung [i. Orig. dt.]), fragt nach der Grenze von Philosophie. Diese Frage beginnt bei der wesenhaften Inkarnation Christi, die eine Herausforderung für die Wahl der Phänomenologie darstellt, ob sie jetzt den »corps propre« (Leib [i. Orig. dt.]) über den »corps matière« (Körper [i. Orig. dt.]) stellen soll, heißt: den belebten Leib über die Organizität des Körpers. Allerdings wird sie die Substantialität des ganzen Menschen in seiner Körperlichkeit nicht reduzieren auf eine reine und einfache Materialität. Zwischen dem »ausgedehnten Körper« (Descartes) und dem »erlebten Körper« (Husserl) setzen wir den »verbreitenden Körper« (corps épandu), dessen organische Wirklichkeit ihm weder gestattet, ins Nichts zu gehen, noch die Materie, sich »länger, tiefer, höher« (objektiver Körper) auszudehnen, noch im Erleben des Fleisches in einer Art der Selbstliebe sich diesen anzueignen (subjektiver Körper). So ist es auch bei »Pochen, Atmen und Zittern«, wie sie noch immer bei 5 In diesem Text wird das französische »chair« mit »Leib« ins Deutsche übersetzt, das franzöische »corps« mit »Körper«. Ein Ausnahme bildet nur die feste Formulierung »Leib Christi« (fr.: corps du Christ), um den biblischen bzw. liturgischen Bezug deutlich zu machen bzw. die Stellen, in denen das Wort »corps« in einem engen biblischen Bezug genutzt wird. (Anm. d. Übers.) 6 Vgl. M. Henry, Incarnation, Paris, Seuil, 2000, § 24, 180–189 (»Les problématiques fondamentales d’Irénée et Tertullien«), und meine Rezension: »Y a-t-il une chair sans corp?« in: Ph. Capelle (Hg.), Phénoménologie et christianisme chez Michel Henry, Paris, Cref, 2004, 95–133. Ital. Übersetzung: »Si dà carne senza corpo? Discussione con Michel Henry«, in: Filosofia e Teologia, Edizione Scientifiche Italiane 3, 2010, 527–558.
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Emmanuel Falque
»Verdauung, Sekretion, Vernarbung oder Atmen« (das unbewusste Körperliche bei Nietzsche) vorkommen. Der »verbreitende Körper« markiert eine Art Grenzgebiet oder Mittelstufe des Körpers, zwischen dem »ausgedehnten Körper« auf der einen Seite (einfache Materialität) und dem »belebten Leib« auf der anderen Seite (reine Subjektivität). Ausgebreitet auf einem ellenbreiten Bett, um in den Schlaf zu sinken, ausgebreitet auf dem Operationstisch, gerade betäubt, sogar ausgebreitet auf dem Kreuz, im Todeskampf, selbst dieser Körper hört nicht auf, Mensch zu sein, er hat eine Bedeutung, die ihn in seinem Anderssein vom Anderen unterscheidet, er besitzt Eigenschaften, die für ihn spezifisch sind: Zweifüßigkeit, eine feine Haut, ein Sensibilität der Berührung, eine Sexualität gegenüber dem anderen usw. Wenn nicht sogar ein Beweis, so sind sie doch zumindest ein »Zeichen«. 7 Zur gleichen Zeit besitzt der Körper einen »Teil Wildheit«, den er nie verleugnen konnte, noch ihn völlig zurücknehmen konnte: »Gesetzt, dass nichts Anderes als real gegeben sei als unsere Welt der Begierden und Leidenschaften […]«, empfiehlt Nietzsche radikal in Jenseits von Gut und Böse, »als eine Art von Triebleben, in dem noch sämtliche organische Funktionen, mit Selbst-Regulierung, Assimilation, Ernährung, Ausscheidung, Stoffwechsel, synthetisch gebunden in einander sind; als eine Vorform des Lebens?« 8 Dann dem »Gewinde des Körpers« folgend, und wie um »den primitiven Text, den rauen Text, den natürlichen Menschen« (Nietzsche) wiederzufinden, gelangen wir zurück – bis in die Eucharistie hinein – zum Abgrund unseres eigenen Menschseins, in sein Chaos und sein Tohuwabohu, das nie ganz überwunden wurde. Hierdurch kann dem »Dies ist mein Leib« des Christentums ein glaubwürdiger Inhalt (leiblich, menschlich, kosmisch und seelisch) gegeben werden. Sowohl für Nietzsche als auch für uns, und vielleicht auch für das Christliche, gilt zuerst: »der Leib philosophirt« 9.
Vgl. P. Ide, »L’homme et l’animal. Une altérité corporelle significative«, in: L’humain et la personne (collectif), Paris, Cerf, 2009, 281–299 (bes. 287). 8 F. Nietzsche, »Par delà le Bien et le Mail« (dt.: »Jenseits von Gut und Böse«), in: Œuvres complètes, Paris, Gallimard, 1971, Bd. VII, § 36, 54–55. 9 F. Nietzsche, »Fragments posthume«, [in: Œuvres complètes, Paris, Gallimard, 1976, Bd. IX], bzw. 1884, 26 (374) [»le fil conducteur de corps] Par de là le Bien et le Mal, § 230, 150 [»le texte primitif de l’homme naturel«], und 1882, 5 (32) [»le corps qui philosophe«]. 7
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Dies ist mein Leib – eine philosophische Lektüre der Eucharistie
Das Ostern der Animalität Sicherlich wurde Gott in seiner Inkarnation nicht als ein Tier animalisch. Das Trullanische Konzil in Konstantinopel (692) hat mit Recht verlangt, »das Lamm durch das menschliche Bild des Erlösers zu ersetzen«, um das inkarnierte Wort von einer simplen, heidnischen Animalität und von einem jüdischen Verständnis des Opferlammes zu befreien. 10 Es bleibt, dass Gott selbst nicht unberührt und zugleich fremd von diesem Chaos im Inneren bleiben kann, diesem Abgrund oder diesem Graben der Leidenschaften und Triebe, die eine gewisse Form der zeitgenössischen Phänomenologie ansonsten ablehnt oder zumindest zu einem großen Teil vergeistigt (ausgenommen wohl Maurice Merleau-Ponty). »Körper ohne Bewusstsein«, so definiert er das Animalische. Aber »Bewusstsein ohne Körper« ist die Definition des Engels. Das zweite (die »Engelheit« / l’angélisme) ist nicht mehr zu beneiden als das erste (»Animalität« / l’animalité), weit entfernt. Der Satz von Pascal ist hinlänglich bekannt, dass es ausreicht, ihn kurz zu nennen: »Der Mensch ist weder ein Engel noch ein Tier« (L. 678 / B. 358) und er ist »genauso sehr im Elend, wie er von Oben gefallen ist« (L. 122 / B. 416). Das Schweigen über die »Animalität«, insbesondere seitens der Theologen, die sich anscheinend an dieser Frage erschöpft haben (mit erwähnenswerten Ausnahmen wie beispielsweise Johannes Scottus Eriugena oder Franz von Assisi), erstaunt angesichts der Tatsache, dass sich die Philosophie seit über einem Jahrhundert intensiv damit beschäftigt (Husserl, ausgehend von Uexküll, dann Heidegger, Derrida, Deuleuze, Henry usw.). Philosophisch von der »Animalität« (l’animalité) zu sprechen, hat nichts mit dem »Tier« (l’animaux) zu tun, unnötig zu sagen, dass ein mehr als einfacher Unterschied zwischen Mensch und Tier besteht. Die Animalität zeichnet die Umrisse einer Zugangs-Art zu unserer eigenen Körperlichkeit, in der sich etwas vom Menschsein in seiner Inkarnation befindet, das die Philosophie, wie Trullanisches Konzil, auch Quinisext-Synode genannt, gehalten in Konstantinopel 692, »unter der Kuppel« (Trullum). Canon 82, in Acta conciliorum, Paris, Typographie Royale, 1714, t. III, can. 82, col. 1690–1691: »Wir legen fest […], dass anstelle des mystischen Lammes auf den Ikonen und gemäß dem menschlichen Antlitz (kata antropinon kharaktèra) das Bild von dem angebracht werden soll, der die Sünde der Welt auf sich genommen hat, Christus, unser Gott« [Christi Dei nostra humana forma characterem etiam in imaginus deinceps pro veteri agno erigi ac depingi jubemus (col. 1691].
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auch die Theologie, zu finden hat. Die Tiere bedeuten wenig und es zählt nur das Chaos der Leidenschaften und Triebe, die Gott selbst ihnen zumutet. In einem eucharistischen Leib-zu-Leib warten sie darauf, vollständig verwandelt zu werden, einschließlich »dem Gebiet, über das man nicht mehr sagen kann« (Heidegger über Nietzsche) oder den »gemischten Empfindungen«, die absolut resistent sind gegen jede Subsumtion (Kant). 11 Die Furcht vor dem Animalischen kommt in der Wirklichkeit meistens aus der Verwechslung mit dem Bestialischen. Während das erste (das Animalische) im tiefen Grund des Menschen wohnt, wodurch wir leibliche, oder besser körperliche Wesen sind, markiert das zweite (das Bestialische) die Möglichkeit des Menschen, aus der bloßen Animalität herauszufallen. So ist er gefordert mit dem traurigen Privileg, wählen zu können zwischen der Animalität selbst und dem Herabfallen aus dieser (Prostitution, Pornographie, Völlerei usw.). Die »Bestie, die dich begehrt, lauert« heißt es im Buch Genesis (Gen 4,7) über die Versuchung des Kain, genauso heißt es auch ein letztes Mal im Buch der Apokalypse (Offb 17,3): »Eine scharlachrote Bestie, die mit gotteslästerlichen Namen bedeckt« war. Aber die Bestialität, oder mit anderen Worten der Sündenfall des Körpers, disqualifizieren nicht das Animalische als solches, ob es sich jetzt um die belebte Welt handelt (Kosmologie) oder um unsere eigene Belebtheit (Anthropologie). Man gewinnt nicht seine Leiblichkeit in der Animalität, noch weniger in der Bestialität. Gott selbst hat nicht weniger als die Last »unserer« ganzen Menschlichkeit auf sich genommen. Da ihm nichts Menschliches fremd ist (P. Terentius Afer), nimmt er all das an, was er erlöst – unsere Animalität, um durch sie zur Menschlichkeit zu gelangen (durch die Solidarität), und unsere Bestialität, um sie vollständig zu reinigen (durch die Erlösung). »Hier ist das Lamm Gottes« [Kurzform] betont der Evangelist Johannes mehrfach und lässt Johannes den Täufer sprechen (Joh 1,36): »Seht das Lamm Gottes, das hinwegnimmt die Sünde der Welt«, wie er es bereits an einer früheren Stelle geschrieben hat Vgl. M. Heidegger, Nietzsche I, Paris, Gallimard, 1971, »Le concept des Chaos«, 438; und E. Kant, Critique de la raison pure / Kritik der reinen Vernunft, Paris, PUF, 1980, »Déduction trascendentale, Principe de la possibilité de l’experience (recognition du concept)«, 124 [A. 111]. Übersetzung »Das Gemisch der Empfindungen (Heidegger [Klossowski], Nietzsche I, »Das Chaos«, 138), hier bevorzugt »Die Menge der Phänomene« (PUF) oder »Die Masse der Phänomene« (G-F), notwendigerweise erneuert für das Werk der »Synthese«.
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Dies ist mein Leib – eine philosophische Lektüre der Eucharistie
(Joh 1,29). Die Animalität in der Gestalt des Lammes wie auch die Bestialität, die im für unsere Sünden geopferten Lamm dargestellt wird, sind vollständig Teil der Heilsgeschichte, erstens, weil es all das annimmt, was Teil unserer leiblichen Existenz ist (Leidenschaften, Triebe, innere Unruhe usw.), zweitens, damit es die Dinge verwandelt, die von unserer Existenz abweichen (Laster, Sünde, Luxus usw.). Die leibliche Existenz bedeutet also, an erster Stelle für den leiblichen Menschen, nicht unabhängig vom Organischen zu sein, aus dem er ja besteht, bis hin zur Animalität, sogar bis zur Bestialität, aus der er sich nicht leicht befreien kann. Dies ist mein Leib – hoc est corpus meum – es ist eine Formel, die in der Lage ist, alles auszudrücken, das Menschliche, aber auch »seinen« Anteil am Animalischen, sogar am Bestialischen. Mehr noch, die Eucharistie zielt nicht nur darauf ab, uns durch die Teilnahme am Mysterium der Gottheit zu vergöttlichen, sondern – um darauf zu insistieren – es lässt uns die Grenzen unseres geschaffenen Seins überschreiten. Gleichzeitig mit dem Überschreiten des Menschlichen zum Göttlichen hin (Divinisation), lässt uns der Akt der Kommunion von unserer eigenen Animalität zum Menschsein gelangen (Humanisation), mittels der Sohnschaft (Trinität). Wir finden keinen »Humanismus« in der Perspektive, in der nichts mehr zu fürchten ist als das Bekenntnis eines Glaubens, das der Politik entspringt, wie es am häufigsten der Fall ist. Nur die Integration in das Mysterium der Dreifaltigkeit kann uns erlösen (Kol 1,16). Als Sohn im Sohn – nicht in der Art einer Quaternität (IV. Laterankonzil 1215) – verbleibt der Mensch als Mensch, bis in sein ganzes Menschsein hinein, von seiner körperlichen Menschwerdung bis zur Vollendung in Herrlichkeit. Die Vergöttlichung des Menschen ohne ihn zu überschreiten, das ist die Herausforderung der Eucharistie als organische Gabe an ein organisches Wesen, das die Verzögerung des Fleisches nicht so leicht vergessen kann: »Wenn der Mensch danach strebt, reiner Geist zu sein und das Fleisch in Bezug auf sein animalisches Erbe ablehnt«, sagt Benedikt XVI. in seiner Enzyklika Deus est caritas, »dann verlieren sowohl Körper als auch Geist ihre Würde.« 12
12 Benedikt XVI., Enzyklika Deus est caritas (Dieu est amour), Paris, Ed. du Cerf, 2006, § 5, 22.
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Dies ist mein Leib Die phänomenologische Beschreibung des Leibes (chair) hat korrekterweise und notwendigerweise zur Reflexion über die Auferstehung geführt [Métamorphose de la finitude]. Sie hat sich in der Lebendigkeit des Körpers geoffenbart, der Auferstandene zeigt die Seinsart seines inkarnierten Leibes und lässt sich wieder erkennen. Der Geist, der nicht »aus Fleisch oder Knochen ist«, ist nicht so zu verstehen, als dass der Auferstandene aus Fleisch und Knochen bestehe, sondern vielmehr, dass er es ist, der gelitten hat und auferstanden ist: »Ich bin es. Fasst mich an, und schaut: kein Geist hat Fleisch und Knochen, wie ihr es bei mir seht« (Lk 24,39). Er erschien am Ufer des Sees, er wurde von seinen Jüngern erkannt an der Art seines Essens (Joh 21,1–14), als Gärtner verkleidet wurde er von Maria Magdalena an der »Stimme« erkannt, mit der er sprach (Joh 20,11–18), er erschien im Abendmahlsaal und zeigte Thomas die Wunden, die ihm beigebracht worden waren, und ließ ihn mehr an die Zeichen glauben als an Gründe von gesuchten Beweisen (Joh 20,24–29). »Sie gehen aus den Gräbern« (Joh 5,29), die Körper rühmen sich mehr ihrer Organizität als der Aufnahme in das Absolute, das ihnen in der Auferstehung zuteil wird: »Auch wenn sie jetzt nicht benutzt werden«, präzisiert Thomas von Aquin am Ende seiner Summa contra Gentiles, »alle Organe (Glieder, Darm, Zeugungsorgane usw.) werden da sein, um die Integrität (integritatem) des natürlichen Körpers wiederherzustellen« 13. Die Organe selbst bedeuten also nicht viel, wichtiger ist, wofür sie stehen – für das Lebendige, durch das wir selbst uns ausdrücken. Es bleibt also die entscheidende Frage – wodurch ist die Eucharistie verbunden mit unserer Wegzehrung und unserem Dasein im Jenseits [Hochzeit des Lammes]. Wie verhält es sich mit der Materialität – des Leibes Christi wie auch unserer – dergestalt, dass die Auferstehung ihre Ausdruckskraft heiligt? Anders gesagt, wird in der Überbetonung der Selbst-Affektivität des Leibes in der Philosophie (Leib [i. Orig. dt.]) nicht eine fundamentale Dimension des organischen Körpers [i. Orig. dt.] weggelassen oder im Ausdruck seiner Lebendigkeit in der Theologie (Symbolismus) seine Dichte und sein »Realismus«? Weit davon entfernt, die Begründetheit des lebendigen Körpers oder die Manifes13 Thomas von Aquin, Somme contre les Gentils/Summa contra Gentiles, Paris, Garnier-Flammarion, Bd. 4 [La révélation], Kap. 88 (»Le sexe et l’âge des ressuscités«), 401.
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Dies ist mein Leib – eine philosophische Lektüre der Eucharistie
tation des Leibes zu negieren, um darauf hinzuweisen, dass dies der auferstandene Körper ist – »Das eine ist der Glanz der Sonne, das andere der Glanz des Mondes, das wiederum andere der Glanz der Sterne […], so ist es auch mit der Auferstehung der Toten« (1 Kor 15,41– 42) –, stellt sich die Frage, wie sich diese Selbst-Affektivität mit der Realität verbinden lässt, mit der Substantialität dieses Leibes? Der Übergang vom Tod zur Auferstehung hebt das »Körperliche« (leidend) vom »Leiblichen« (auferstanden) hervor, und der Übergang von der Auferstehung zur Eucharistie das »Leibliche« (auferstanden) gegenüber dem »Körperlichen« (gegeben). Vom »leiblichen Körper« (vom Leiden zur Auferstehung gerichtet) und vom »körperlichen Leib« (von der Auferstehung zum Lichte der Eucharistie) ist es eine gute Abfolge. Der in Betlehem in einen »Körper« geborene Menschensohn ist, wie jeder Mensch, aufgerufen, in seiner Auferstehung »Leib« zu werden; aber nebenbei: durch das »Körper-zu-Körper« in der doppelten Erzählung von Abendmahl und Passion wird der Leib geheiligt, weil er immer die Spuren trägt, die ihn zu seinem »Körper« machen (Stigmata). Das Leiden und der Tod zeigen, dass der »Körper« bereit ist zu verfaulen [Passeur de Gethsémani]; die Auferstehung weist auf den »Leib« als die Wieder-Geburt von dem, was hinübergegangen ist [Métamorphose de la finitude]; und die Eucharistie bezeichnet das »Organische«, ohne das der Menschensohn niemals wirklich inkarniert wäre [Noces de l’agneau]. Der Skandal der heiligen Eucharistie rührt gerade aus dem Fehlen einer gerechtfertigten Begründung: »Darauf begannen die Juden, heftig miteinander zu streiten: ›Wie kann er uns seinen Leib zu essen geben?‹« (Joh 6,52) An Vermeidungsstrategien, um sich an dieses Ungewohnte des eucharistischen Mahles »zu gewöhnen«, hat es in den verschiedenen Spielarten nie gefehlt: (a) sowohl als Teil der Exegese, (b) als auch der Theologie, (c) und der Pastoral. (a) Die Exegese: sie weist zu Recht auf die hebräische Wurzel von »Fleisch/Leib« hin, also auf den »ganzen Menschen« und auf das »Blut«, die auf unsere Teilhabe am Leben Gottes hinweisen (wie der Rauch des geopferten Lammes aufsteigt zur Nase Gottes). Diese Argumentation ist sicherlich tragend, aber sie verschafft der ersten Überraschung der Juden kein Recht, noch gibt sie die Notwendigkeit, heute das Sakrament in der griechischen (soma) oder lateinischen Tradition (corpus) zu lesen, und auch nicht in der ursprünglich jüdischen (basar). Wir lesen die Schrift nicht außerhalb einer bloßen Übersetzung oder Übertragung in einer 191 https://doi.org/10.5771/9783495808405 .
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Tradition, vor allem im Übergang vom Semitischen zum Hellenischen. (b) Die Theologie: sie beruft sich oft auf das »Symbolische« um das eucharistische Sakrament zu begründen. Das berühmte Bild von den »Scherben einer Flasche«, vom Zeichen und vom Bezeichneten, erlauben es, vom Sinnhaften zum Intelligiblen zu gelangen, und vom Brot auf die Nahrung hinzuweisen, oder vom Wein auf das Leben. Die Symbolik betreibt jedoch häufig eine Argumentation, um den Sprung zu rechtfertigen, oder mehr noch die Versöhnung von Sinnhaftem und Intelligiblem, von Menschlichem und Göttlichem, indem sie das schrecklich Dichte alles Geschaffenen in einer gewissen Art und Weise verringert. In der Philosophie jedoch ist das »Symbol« nicht nur das Vereinende, sondern auch dasjenige, das das sinnhafte Dichte abstößt und uns daran erinnert, dass wir wir selbst sind. Das würde die Theologie folgende Frage gewinnen lassen: »Wenn die Mauer ein Symbol ist«, betont Maurice Blanchot, »dann ist sie wie diese Wand, weit davon weg, offen zu sein, nicht nur undurchsichtig geworden, sondern auch einer Dichte, einer Dicke, einer Wirklichkeit, die so mächtig und exorbitant ist, dass wir selbst uns ändern.« 14 Das eucharistische Symbol verweist zuerst auf die Dichte des Leibes Christi, auf die Frage seiner Organizität wie auch unserer, vor allem gegen das »Schlingern des Leibes«, zu dem sowohl die Philosophie (zeitgenössische Phänomenologie), als auch die Theologie (symbolische Sakramentenlehre) neigen. (c) Die Pastoral schließlich: Die Symbolik des »Mahles« muss sicherlich noch wiedergefunden werden, dergestalt, dass wir »uns selbst« auch wieder erkennen, wenn wir das Brot teilen. Bleibt noch darauf hinzuweisen, dass die Versammlung, in ihrer katholischen Art, sich nicht damit begnügt, die Menschen zu versammeln, sondern gleichermaßen am eucharistischen Tisch die »Realpräsenz« dessen zu finden, der dort verspeist wird. Dieses Mahl rechtfertigt nicht nur die daran Beteiligten, sondern alle, denen es gegeben ist, zu »trinken« oder zu »essen«. Es gibt zu viel, dass uns vergessen lässt, dass wir allmählich vom zentralen Argument auf dem Weg unseres Christentums abgewichen sind: hoc est corpus meum – »Dies ist mein Leib«. Weitergeleitet von einer patristischen und mittelalterlichen Tradition wird man nicht aufhören, auch heute nicht, sich über den »Leib« zu wundern, der am Tisch des Abendmahls angeboten wird. Was gesM. Blanchot, »Le secret du Golem« in: Le Livre à venir, Paris, Gallimard, 1959, 130– 131: »L’expérience symbolique«.
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Dies ist mein Leib – eine philosophische Lektüre der Eucharistie
tern ein Skandal der jüdischen Kultur war (Joh 6,52), bleibt auch einer in der lateinischen Kultur. Der Heilige Augustinus erinnert uns daran: »Es schien, als wäre es ein Wahnsinn (furor) und eine Torheit (insania), den Menschen seinen Leib zu essen und sein Blut zu trinken gegeben zu haben«, spricht der Lehrer von Hippo in seinem Werk Enarationes in psalmos, »[…] Ist es nicht ein Wahnsinn, zu sagen: Esst meinen Leib und trinkt mein Blut? Und zu sagen: ›Wer mein Fleisch nicht isst und mein Blut nicht trinkt, der hat das Leben nicht in sich‹ (Joh 6,54)? Scheint Jesus nicht zu phantasieren (quasi insanire videtur)?« 15 Eine Art »Streit über das Fleisch« verstörte auch die Philosophie über die Eucharistie nicht völlig grundlos, ausgehend von dem grellen Maler Francis Bacon und seinem Bild »Kreuzigungen in den Schlachtereien« (Logique de la sensation [Deleuze]), bis hin zur Position des Problems, das durch Karl den Kahlen im 9. Jahrhundert angeregt und dann gelöst wurde: »Was der Mund des Gläubigen in der Kirche empfängt«, fragt sich der Monarch in seinem Palast, »ist es Mysterium oder Wahrheit?« »Im Mysterium« (in mysterio): Der Leib Christi wird sofort symbolisiert und das war auch die Position des Ratrammnus von Corbie und des Bèrenger von Marseille. Es zählt nur die innere Haltung des Menschen, der kommt, um am Mahl teilzuhaben, aber nicht die Konsistenz dessen, das ihm zu essen gegeben wird. »In Wahrheit« (in veritate): In diesem Glauben ist es voll und ganz verdinglicht, wie Ratbert von Corbie sich festgelegt hat, oder auch Lanfrank. Es sind einfache »Schleier« des Leibes und Blutes Christi, die Gestalten von Brot und Wein verbleiben nur in ihnen, weil ihre Abwesenheit uns verstören würde. Über das »Nicht-erschrecken« der Verwandlung von Brot in den Leib und von Wein in das Blut kommt es zum »Nicht-dumm-aussehen wie die Heiden«, wie Thomas von Aquin als Reaktion auf Einwände in seiner Summa Theologica präzisiert. Bei ihm verbleiben die Gestalten von Brot und Wein, die konsekriert werden, und diese sind unmittelbar der Anbetung gegeben, nicht der Verdauung, als Leib (Fleisch) und das Blut (Hämoglobin) des Herrn. 16 Wir werden sicherlich die anderen Gründe diskutieren, mindestens
Augustinus, »Enarrationes in psalmos I«,33, § 8, in: Œuvres complètes de Saint Augustin, Paris, Vivès, 1871, Bd. XVI. 16 Thomas von Aquin, Somme théologique / Summa theologica, Paris, Ed. du Cerf, 1986, IIIa q. 75, a. 5, resp. (»Les accidents du pain et du vin subsistent-ils dans ce sacrament?«), 577. 15
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die fundamentalsten, um die Beständigkeit der Materien festzuhalten, besonders die Dichte und Vermittlungsfähigkeit des Geschaffenen. Es bleibt, dass die progressive Unterscheidung von »wahrem Körper« (corpus verus) und »wirklichem Körper (corpus vere) gelöst wird, bevor sich darüber ein Streit erhebt. Vom »wahren Körper« (corpus verus) als historischem Körper des gekreuzigten Jesus können wir natürlich nicht essen, wir wären in der Gefahr, in einen Kannibalismus zu versinken, der dumm und nicht zu ertragen wäre. Aber den »wirklichen Körper« (corpus vere) des auferstandenen Christus sollen wir dieses Mal kommunizieren, ohne allerdings die pathologischen Markierungen einer leibhaften Existenz zu verlieren. Die drei Körper des Amalarius von Metz – aktualisiert von Henri de Lubac in seinem Werk »Corpus Mysticum«: »Der makellose Leib im Blut« (Hostie im Kelch), »Der pilgernde Leib, auferstanden und gegessen« (Brot der Gläubigen) und »Der auferstandene und bewahrte Leib« (eucharistischer Vorrat, Anbetung, Tabernakel) – treten einem einzigen Körper bei, um den »ganzen Christus« (Christum totum) zu bilden, und zwar in einer Ablösung jener Kontinuität, die mit einem kannibalischen Verschlingen des Fleisches zu tun hat, das auf uns abstoßend wirken muss. 17 Der eucharistische Symbolismus erwartet also, heute wie gestern, seinen Gegenpol im Realismus. Um noch einmal über das Bewusstsein zu insistieren, aus dem heraus kommuniziert wird, über eine andere Version des »geteilten Mahles«: Wahrscheinlich verliert man den Sinn und die Konsistenz dessen, was gegessen und gleichermaßen zur Verehrung gestellt wird. Weit davon entfernt, die »Transsubstantiation« abzulehnen, oder ihre falschen Freunde wie die »Transsignifikation« oder »Transfinalisation« neu zu taufen: durch sie wird die Dichte wiedergegeben, um derentwillen es begonnen hat: »Durch die Konsekrierung von Brot und Wein wandelt sich die ganze Substanz des Brotes in die Substanz des Leibes Christi, unseres Herrn, und die ganze Substanz des Weines in sein Blut. Diese Wandlung nennt die katholische Kirche richtig und exakt ›Transsubstantiation‹.« 18
17 Vgl. H. de Lubac, Corpus mysticum, L’eucharistie dans l’Eglise au Moyen Age, Paris, Aubier, 1941, 305 ff.: »Le corps triforme d’Amalaire et ses destinées«. 18 IV. Laterankonzil (1215), wieder aufgegriffen im Konzil von Trient (1551), »Décret sur le sacrement de l’eucharistie«, in: G. Dumeige, La foi catholique, Nr. 739 (Dz 1642), Kap. IV, 407: »La transubstantiation«.
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Dies ist mein Leib – eine philosophische Lektüre der Eucharistie
Die Kraft des Leibes Was ist dann die »Kraft des Leibes«, oder besser seine Möglichkeit, auch heute von diesem »Von Leib zu Leib« sprechen zu können, von der Gabe des Organischen, vom Organischen auf der einen Seite und ihrer erotischen Art auf der anderen Seite? Es muss das »eucharistische Mahl« nie gegeben haben, auch nicht eine »erotische Szene«; gemäß einem Wortspiel halten wir uns jedoch daran, auszuführen, dass das erste (die erotische Szene) auch das zweite (das eucharistische Mahl) erleuchtet, auch wenn weder darauf reduziert werden darf noch etwas darüber in der Fülle ausgesagt werden kann. Weder die Äquivozität (Nygren) noch die Univozität (Marion) von Eros und Agape, wie wir sehen werden, sind ausreichend, alles auszusagen über die erotische Liebe, wenn sie sich nicht in der gleichen Zeit in die Barmherzigkeit verwandelt (Metamorphose): »In Wirklichkeit lassen sich éros und agapê – die aufsteigende und die absteigende Liebe – niemals vollständig trennen«, unterstreicht die Enzyklika Deus est caritas, »Es gibt den Moment, in der die agapê sich in sich selbst einfügt; sonst würde der Eros verfallen und seine eigene Natur verlieren (§ 7); aber zugleich ist der éros gereinigt, bis er mit der Nächstenliebe verschmilzt (§ 10)«. So konsekriert die Transsubstantiation, dies gilt auch für die Transformation des Menschlichen im Göttlichen, in der gleichen Zeit das Brot, um daraus einen »Leib« zu machen, und den Wein, um ihn in »Blut« zu verwandeln. Die »Transsubstantiation« enthält in sich den Begriff »Substanz« und mit ihm die falschen Beschuldigungen einer Präsenz (Heidegger, Derrida usw.). Aber um gut zu verstehen, was »Substanz« ist, werden wir uns auf den »Akt des Seins« bei Thomas von Aquin beziehen und die »lebendige Kraft« sowie das »substantielle Prinzip« bei Leibniz 19. Eine Umkehrung findet statt, vollzogen durch das »Transsubstantierte«, nicht als Resultat einer Operation, die ein Körper betrieben hat, sondern als das Prinzip einer Kraft, die sich selbst »verkörpert«. Das naive Prinzip, nach dem »der Körper die Kraft gibt«, wird ersetzt durch die Entdeckung Spinozas, der gemäß »die Kraft den Körper herstellt«. Das conatus oder der »Trieb, im Sein zu verharren« ist nicht nur der Trieb, zu überleben, wie man gemeinhin glaubt, sondern zugleich und vor allem der Trieb zu variieren, zu adaptieren oder sogar selbst neu zu 19
Vgl. auch Thomas von Aquin, Summa theologica.
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schaffen. Wir wissen nicht, »was der Körper kann«, insofern als wir nie im Körper die dem Körper »eigene Kraft« (Spinoza) verlassen haben. Die Kraft des Lebens schafft das Lebende, nicht umgekehrt. Der Pflanzenfresser erlangt seine Stärke ebenso aus dem Fressen des Grases wie der Fleischfresser wieder Kraft erlangt durch seine Beute. Weit davon entfernt, die Natur oder die geschaffene Welt zu leugnen, zeigt eine solche Sicht im Gegenteil, wie sehr unsere Körper teilhaben an der »treibenden Kraft« von dem, der uns gewollt hat, wie er uns auch wünscht 20. Wenn ein »Primat des Leibes über den Körper« die Verwirrung der zeitgenössischen Philosophie begründet hat, haben wir einen anderen Primat festgestellt, den der »Schwäche über die Stärke«, der bislang nicht hinterfragt wurde. Sicherlich lässt die Aufnahme des Anderen, sein Angesicht und seine Gegen-Intentionalität, sich nicht mehr vollständig bändigen, und die Macht des authentischen Daseins [i. Orig. dt.] lässt sich nicht mehr kontrollieren. Es bleibt, dass die Kraft der »Passivität« die »Aktivität« vergessen lässt, und um auf den Wohltaten der Schwäche und der Verwundbarkeit zu beharren, wurde nach und nach die Tugend der Aktivität genauso weggelassen wie die übernommene Stärke. Weit davon entfernt, den ausgerufenen Übermenschen zu übertreffen oder gar sich selbst zu übertreffen, blieb der Christ weniger stark als derjenige, der zu ihm kam und der ihm an Pfingsten seine eigene Kraft verliehen hat: »Ihr werdet eine Kraft (dynamis) erhalten, jene des Heiligen Geistes, der über euch kommen wird«, vertraut Christus seinen Jüngern bei seiner letzten Erscheinung an, »und ihr werdet meine Zeugen sein« (Apg 1,7). Und: »Mit ihm seid ihr auferstanden durch den Glauben an die Kraft Gottes (energeias tou theou), der ihn von den Toten auferweckt hat«, schreibt Paulus an die Kolosser (Kol 2,12). Der »Leib zu Leib« des eucharistischen Sakraments bleibt nicht indifferent zu einer »Teilung der Macht«, sondern ist weit davon entfernt. Wie wir betont haben und wieder darauf zurückkommen, vollzieht sich die eucharistische Agape im ehelichen Eros – dieser erhält seine volle Bedeutung erst in der eucharistischen Agape. Die Einheit der Körper ist nicht weiter die Vereinigung in der Erotik, sie ist die 20 Vgl. B. Spinoza, Ethique, Paris, Vrin, 1983, Livre III, prop. VI, 261 [»L’effort pour persévérer dans son être« (in suo esse persevare conatur)]; vgl. auch L. III, prop. II, scholie, 251 [»Personne, il est vrai, n’a jusqu’à présent déterminé ce peut le Corps»].
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Dies ist mein Leib – eine philosophische Lektüre der Eucharistie
einfache Einung in der Eucharistie. Das Gebot »ein Fleisch« (Gen 2,24) bestreitet nicht, dass es immer noch »zwei Körper« sind, im Gegenteil. Die Liebe ist nicht entstanden in einer Differenz, die dann aufgehoben wird, sondern sie »ist die Differenzierung von zwei Wesen, die noch nicht absolut verschieden voneinander sind« 21. Mit anderen Worten: die Stärke des einen verschwindet nicht in und durch die Stärke des anderen. Im Gegenteil wird er wieder stärker, er findet in der Differenz die Dimension seiner Andersheit und im gleichen Augenblick die Notwendigkeit seiner Identität. Die Vereinigung von Mann und Frau »vermännlicht« sie durch die Kraft, die ihm eigen ist, und durch die Frau wird der Mann »verfraulicht« in dem Widerstand, dem sie ihm entgegenbringt. Die Vereinigung des Fleisches vollzieht sich nicht ohne die Differenz der Körper. Mehr noch, sie bestätigt sie. Hier ist wahr, dass die Andersheit im fleischlichen Eros noch mehr Differenzierung darstellt als die eucharistische Agape: Ego do corpus meum – Accipio: »Ich gebe dir meinen Leib – Ich nehme ihn an«, wurde sehr dramatisch im Hochzeitsritual im 15. Jahrhundert in Avignon gesagt, um in der erotischen Vereinigung der Körper das vorwegzunehmen, was im hoc est corpus meum, im »Dies ist mein Leib« ist, dem Sakrament der Eucharistie. 22
Der Eros der Eucharistie Man kann nicht genug darauf hinweisen, dass uns hier, mit Recht, etwas überraschen sollte: aber wer gibt uns niemals, oder fast niemals, ein Zeichen? Christus setzte paradoxerweise den sechsten Tag auf den ersten Tag, und brachte so »die Schöpfung von Mann und Frau« im Christentum an Ort und Platz der jüdischen »Schöpfung von Himmel und Erde«. Die Pharisäer fragen Jesus, um ihn »auf die Probe zu stellen«: »Ist es einem Mann erlaubt, seine Frau zu verstoßen« »aus jedem beliebigen Grund« (Mt 19,3) oder »gemäß dem Gesetz des Mose« (Mt 10,3–4)? Christus antwortet: »Habt ihr nicht gelesen, dass der Schöpfer im Anfang (ap’ archês) Mann und Frau geschaffen hat« (Mt 19,4) oder G. F. W. Hegel, Leçons sur la philosophie de la religion (Philosophie der Religion), Paris, Vrin, III, 1 (»La religion absolute«), 77. 22 Zitiert und kommentiert X. Lacroix, »Connaître au sens biblique«, Christus, Januar 2007, 13. 21
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weiter, »dass im Anfang der Welt (apô de arkês ktiseôs) Gott Mann und Frau erschaffen hat« (Mc 10,6)? Wenn es nicht gerade schwerwiegende hermeneutische Fehler sind, was nicht der Fall sein wird, höchstens durch eine nicht-intentionelle Weise, dann gibt es eine tatsächliche Umkehrung vom Neuen zum Alten Testament. Wo das Buch Genesis sagt: »Im Anfang (bereshit) schuf Gott Himmel und Erde« (Gen 1,1) und er nur am sechsten Tag »Mann und Frau nach seinem Bild schuf, nach dem Bild Gottes schuf er Mann und Frau« (Gen 1,27), setzen die Synoptiker »in den Anfang« (en archê) den sexuellen Unterschied, so wie im Christentum der sechste Tag den ersten Tag ersetzt, dergestalt, dass »Mann und Frau sich offenbaren als ontologischen Teil der Schöpfung und dazu bestimmt sind, über die jetzige Zeit hinaus zu bestehen, in einer offensichtlich veränderten Form.« 23 Diese Umkehrung, oder besser: diese Umwertung des Wochenkalenders oder des Hexaemerons, das die sechs Tage der Schöpfung geregelt hatte, verleiht dem sexuellen Unterschied, wie es das Christentum versteht, eine Rolle, die man nicht untertreiben kann. Der »originäre Unterschied« beginnt im Ursprung. Und das ist nicht der Punkt, der die Intention des wahren Eros begründet, wie bei der Agape. (a) Es ist die »Bedeutung der Grenze« einzufordern, als hauptsächliche Dimension unseres geschaffenen Seins, (b) Es ist die »menschliche Bedeutung des Begehrens« zu zeigen, (c) lassen Sie es mich mit Sorgfalt sagen: »die Störungen des Fleisches«, korrekterweise begründet in der sexuellen Andersheit – in einem erotischen Sinn, der niemals ohne Konsequenz für die eucharistische Agape sein kann. (a) In der Vereinigung des Fleisches, haben wir gesagt, verstärkt sich die Unterschiedenheit der Körper. Alles hängt ab von der »Grenze«, die Gott dem Adam gesetzt hat um ihn zu lehren, sich selbst in der Unterschiedenheit zu lieben – daher die Erschaffung Evas und der sexuelle Unterschied: »Adam lebt im Rahmen dieser Grenzen«, sagte Dietrich Bonhoeffer in bemerkenswerter Weise, »aber es war noch nicht möglich, dieses Leben in seinem begrenzten Charakter zu lieben […]. Dies führte Gott herbei, um dem menschlichen Sein eine Hilfe zu geben, welche dieses Mal die Materialisierung der Grenze des Adam sein musste und Objekt seiner Liebe […]. Die andere Grenze ist diejenige, die Gott für mich vorbereitet hat, die Grenze, die ich liebe J. Ratzinger, Lettre au évêques de l’Eglise catholique sur la collaboration de l’homme et de la femme dans l’Eglise (31. Mai 2004), § 12.
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Dies ist mein Leib – eine philosophische Lektüre der Eucharistie
und die ich nie überschreiten werde wegen meiner Liebe.« 24 Weit davon entfernt, die »Grenze« und das »Unbegrenzte« zu verwechseln, über die wir eigentlich sprechen müssten bei der Entstehung der Sünde [»Ihr werdet sein wie Gott« (Gen 3,5)], konstituiert die Grenze mein geschaffenes Sein und muss daher als erwünscht oder auch ersehnt angezeigt werden, unter der Gefahr, dass im Gegensatz zum Nicht-Sehen und Nicht-Verstehen nichts mehr zu fürchten ist, als die Grenzsteine zu überschreiten, die Gott selbst gesetzt hat. Der Mann liebt seine Frau als seine Grenze, das Ureigenste und das Nächste [»Dies ist Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch« (Gen 2,23)], die Frau ist wie ihr Mann gezeugt und nicht nur das ist der Ursprung, aus dem sie stammen: »Wie die Frau vom Manne stammt, so ist der Mann aus der Frau geboren. Alles aber kommt aus Gott« (1 Kor 11,12). So verhält es sich aber mit dem Sakrament der Eucharistie – und wir haben es bisher angedeutet – es ist nicht zusammengeführt zu uns gekommen, sondern »vereint in der Differenz«, das heißt in der Liebe. Eine paradoxe »Liebe der Grenze« lädt uns zur Kommunion ein. Und das Wort des Diakons: »Wie das Wasser sich mit dem Wein verbindet zum Sakrament des Bundes, so können wir mit der Göttlichkeit vereint sein, die unsere Menschennatur angenommen hat« (Liturgie der Eucharistie, Bereitung der Gaben), kann die allgemeine Beschaffenheit des Menschen weder überschreiten noch vergessen machen, eher das Gegenteil. Es verstärkt sie und übernimmt sie gleichzeitig bis zum Chaos der Welt und unseres Menschseins, bis zu unserer Animalität. Die »phänomenologische Endlichkeit« tritt hier zur »theologischen Grenze«, wie beim Aquinaten beispielsweise. Festgestellt auch als eine Seite (Endlichkeit bei Heidegger), ist die Grenze das vom Anderen gewünschte (die Schöpfung des Menschen als Sein, das dem Status gemäß eingeteilt ist, wie bei Thomas von Aquin): »Alles, was an einer Sache teilhat, ist in dieser Sache durch die Art des Teilhabenden (est in eo per modum participantis)«, sagt ein Zitat von Thomas von Aquin über die begrenzte Proportion, wie auch »nichts über das hinausgehen kann, was über das eigene Maß hinausgeht (quia nihil potest recipere ultra mensuram suam)« 25. D. Bonhoeffer, Création et chute (cours de Berlin de 1932), Paris, Petite bibliothèque protestante (reprise Bayard), 1999, 78. 25 Thomas von Aquin, I. Sent., d. 8, q. 1, a. 2, contra 2. Vgl. unseren Artikel: »Limite théologique et finitude phénoménologique chez Thomas d’Aquin«, in: Revue des sci24
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Weit entfernt von einer reinen Offenbarung, wie auch von der Grenzenlosigkeit, die von der zeitgenössischen Phänomenologie oft unhinterfragt benutzt wird, werden wir sehen, was uns in der Liebe der Grenze aufruft zur ehelichen Erotik wie auch zur eucharistischen Agape. Wir haben es bereits gesagt: Der Mann ist umso mehr »Mann« oder »maskulin«, wenn er der Frau begegnet, die Frau ist umso mehr »Frau« oder »feminin«, je mehr sie mit dem Mann vereint ist. So verhält es sich, paradigmatisch, aber auf dieselbe Weise, auch mit der eucharistischen Kommunion. Diejenigen, die sich dem »Tisch des Herrn« nähern, haben durch die Annahme ihres geschaffenen Seins mehr Anteil am Menschsein, das Gott geschaffen und als Aussonderung seines »unbegrenzten« Seins zu unserer »Begrenztheit« zugeteilt hat, das wir ihm zu unserem Besten zurückgeben. Die Liebe ist die Differenzierung, die durch die Kommunion vorgenommen wird, in vollstem Sinn des Begriffs (Einheit und eucharistische Speise). Sie ist nicht mit Gott in sich gleichzusetzen – mit all den falschen Vermutungen eines menschlichen Gefäßes, das in der Lage wäre, jeden Inhalt in sich wegzusperren –, aber es gibt darin eine Art »Eingegliedert in ihn«, wie es sich beim Priester als »essender Mensch« verhält (Abbe Chatrier). (b) Das »Begehren«, in der Annäherung im Abendmahl, ist nicht nur eine »Leidenschaft« – in dem Sinne, dass jeder mindestens passiv am »Pathos« des Leidens und der Todesverlassenheit im Tod teilhat (Karfreitag [Passeur de Gethsémani]). Es ist auch und vor allem eine »Leidenschaft« im Sinne einer aktiven Spannung oder einer Suche nach Einheit, wie beim Eros der Liebende in der Suche nach der Geliebten danach sucht, sich in besserer Weise mit ihr zu vereinen und gleichzeitig in der Unterschiedenheit wahrzunehmen: »Ich habe mich sehr danach gesehnt, dieses Paschamahl vor dem Leiden mit euch zu essen« (Lk 22,15). Der passiven Annahme des »Leidens« (Karfreitag) geht chronologisch die aktive Leidenschaft des »Begehrens« (Gründonnerstag) voraus. Eine Verdopplung dieses Begehrens ist auch das, was Hegel in der Phänomenologie des Geistes »anthropogen« nennt: »Das Begehren ist anthropogen (oder mensch-schaffend) und unterscheidet sich vom animalischen Begehren«, schreibt der Philosoph. Für A. Kojève, der dies kommentiert, bezieht sich dieses Begehren nicht auf ein reales Objekt, etwas Positives, Gegebenes, sondern auf ein anderes Beences philosophiques et théologique, Revue du Centenaire, Juli-Sept. 2008, 527–536 (bes. 549–551: »L’adage de proportion limitée«).
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gehren. In der Beziehung von Mann und Frau, zum Beispiel, ist das menschliche Begehren nicht das körperliche Begehren, sondern das Begehren des Anderen, wenn es das Begehren als Begehren »will« oder »sich ihm angleicht« […]: Die Geschichte der Menschheit ist eine Geschichte des begehrten Begehrens.« 26 Was wahr ist an der Differenzierung »Mann – Frau« (Begehren des Begehrens des Anderen statt dem Wunsch, den anderen zu konsumieren oder zu zerstören), gilt auch, oder sogar noch mehr, für den Abstand und die Differenz von »Mensch – Gott«. Das »Begehren des großen Begehrens« (Verdopplung des Begehrens) im Paschamahl mit den Jüngern am Abend des Gründonnerstags zeigt in Christus und seiner eucharistischen Agape ein Begehren »theogener« Art, sich dem Menschen auszuliefern, wie wir es auch über die Liebe im »anthropogenen Begehren« benannt haben, dem Sich-dem-anderen-geben. Durch das Begehren, gut zu verstehen, kommt jeder zu sich: der Mann als »Mann« im Angesicht der Frau (und umgekehrt), und Gott wird insofern Gott im Angesicht der Schöpfung (und umgekehrt). Vom Eros zur Agape ist die Struktur nicht nur parallel, auch nicht analog, sondern die einer »Einverleibung«, dieses Mal von der menschlichen Liebe zur göttlichen Liebe. Der Zusatz des Begehrens in der eucharistischen Kommunion versetzt nicht die Erotik in die Liturgie, gemäß den ekstatischen Umsetzungen, die mindestens schwefelhaltig sind. Im Gegenteil, er fügt ein und integriert in ihn, unter Berücksichtigung ihrer Unterschiedenheiten, dergestalt, dass die Liebenden eins sind, als Christen in der »Hand Gottes« sind, wie auch bei der Skulptur von Auguste Rodin: »Die Ehegatten küssen sich, enthalten in dem, der sie umarmt« 27. (c) Das Wort wird also nicht befreit sein, weder vom erotischen Akt noch von der eucharistischen Handlung. Sicherlich fixiert ein »Versprechen« die Union der Gatten, um ihnen die eheliche Vereinigung A. Kojève, Introduction à la lecture de Hegel (1947), Paris, Tel Gallimard, 1993, 13. Commentaire de G. W. F. Hegel, Phénoménologie de l’esprit, Paris, Aubier, t. I, (B) »conscience de soi«, début de la »dialectique du maître et de l’esclave«, [»Indépendance et dépendance de la conscience de soi : domination et servitude«], 155–157: »la conscience de soi est en soi et pour soi quand et parce qu’elle est en soi et pour soi pour une autre conscience de soi ; c’est-à-dire qu’elle n’est qu’en tant qu’être reconnu […]. Chaque extrême est à l’autre le moyen terme à l’aide duquel il entre en rapport avec soimême […]. Ils se reconnaissent comme se reconnaissant réciproquement«. 27 Noces de l’agneau, vgl. 100 und 229. 26
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zu schenken. Ein fixierter (eingefrorener) Vertrag verbleibt in dem »Eid«. Dieser reicht nicht aus, die Treue zu nähren, wenn er zur gleichen Zeit zu einer »Treue des Fleisches« führen soll, sich aber nur selbst verewigt. Die »geschlossene Ehe« (matrimonium ratum) entspricht immer der »vollzogenen Ehe« (matrimonium consummatum), damit sie mindestens in der Kirche gültig ist. Was am Tag der Union der Ehegatten wahr ist, muss an allen Tagen wahr bleiben, auch unter dem Risiko, dass sich das ursprüngliche »Ja« umkehrt zu einem bloßen Vertrag, aber nicht mehr die Erfüllung der körperlichen Anteils der Ehe beinhaltet: »Die Realisierung der Ehe unterscheidet sich von ihrem Vollzug in dem Punkt, dass bei einem Fehlen dieses Vollzugs«, so Johannes Paul II. in seinem Kommentar des Kanons, »die Ehe nicht mehr in ihrer vollen Wirklichkeit konstituiert wird. Die Feststellung einer Ehe, die juristisch geschlossen, aber nicht vollzogen ist (ratum – non consommatum) ist gleichbedeutend mit der Feststellung, dass sie als Ehe nicht vollständig konstituiert ist.« 28 Das Wort wird nicht nur vor dem erotischen Akt gegeben, wie auch bei der eucharistischen Agape. Sicherlich ist das »gesprochene Ja« dieses einvernehmlichen Siegels der Union der beiden Ehegatten performativ, wie ja auch das »Dies ist mein Leib« der Konsekration eine eucharistische Verwandlung bewirkt (die Sakramententheologie gründet auf der Performativität von Sprache). Aber der Sprachakt spielt seine volle Rolle danach oder sogar zur gleichen Zeit, wie auch der körperliche Akt, über den es gestattet ist zu sagen, dass der sexuelle Eros oder die eucharistische Agape nicht ausdrückbar sind. Es handelt sich phänomenologisch um ein »glückseliges Scheitern des Leibes« in dem Maß, dass man nie »fühlen kann, was der andere fühlt oder verspürt« (Rätsel des Berühren-Berührt bei Husserl oder Merleau-Ponty). In diese »Verwerfung« fügt sich präzise der Sprachsinn ein – die Notwendigkeit zu sprechen und sich gegenüber dem anderen auszudrücken, was mein Körper, und der Körper des anderen, nicht sich selbst als Bedeutung zusprechen können. »Die Gefühle Christi« (Phil 2,5) an sich zu
28 Vgl. Johannes Paul II, Homme et femme il les créa, Une spiritualité du corps, Paris, Cerf, 2004, 568 [Ansprache vom 5. Januar 1983]. Vgl. auch Codex des kanonischen Rechts (CIC) c. 1142: »Die nicht vollzogene Ehe zwischen Getauften oder einem getauften und einem ungetauften Partner kann aus einem gerechten Grund auf Bitten beider Partner oder eines Partners, selbst wenn der andere dem widerstrebt, vom Papst aufgelöst werden.«
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haben oder »Christus auf dem Sakrament des Altares zu heiraten« führt präzise in diese neue Dimension einer Sprache, die direkt mit der Körperlichkeit verbunden ist, die es unmöglich macht, Sprache vom inkarnierten Sein zu trennen und deren Pathos mit ihr notwendigerweise verbunden ist. 29
Die Permanenz Wir sprachen von ihr. Eine dreifache Hypertrophie markiert in unseren Augen die Versuche der aktuellen Phänomenologie, dergestalt, dass wenn man von der Eucharistie spricht, man sich nicht damit begnügen darf, auf den Boden unseres Abgrunds hinabzugehen und dort das zu suchen, was es auszudrücken gilt: den Zuwachs des »Sinn über den Nicht-Sinn« (wegen des Primats der immer vorhandenen Intentionalität), die Erhöhung des »Leibes über den Körper« (den belebten, aber ohne das Gewicht seiner Organizität zu messenden [das »Unbewusste« bei Nietzsche]), das Lob der »Schwäche im Vergessen der Stärke« (abgeleitet aus der Aufnahme des Anderen, derart systematisiert, dass sie instrumentalisiert wird). Sowohl an die Union der Körper, als auch an die eucharistische Kommunion ist unser inneres Chaos anzuschließen, das hervorgerufen wird durch Leidenschaften und Triebe (das eucharistische Erbe [Animalität], die Macht der Körper, die alles verwandeln kann (der eucharistische Gehalt [Körperlichkeit]) und die Eintracht der Herzen in dem Ausmaß, dass sie zu geben in der Lage sind (die eucharistische Modalität [Eros]) – das sind die drei Merkmale der Wegzehrung, die es zu entwickeln gilt. Es bleibt jetzt ihre Zielgerichtetheit und wahrscheinlich wird sie in der letzten Instanz gegeben: »Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, der bleibt (meinein) in mir und ich bleibe in ihm« (Joh 6,56).
Vgl. J.-J. Olier (Bezug auf Johannes Eudes): »Memoires« (1642–1652), Traité des Saints Ordres, 1984, Bd. 4, 123: »notre Seigneur n’est pas seulement hostie au saint Sacrement, mais il est aussi communion, en tant qu’il vient nous communiquer ses sentiments religieux et respectueux qu’il porte à son Père […]. Comme notre Seigneur a formé son Eglise par le saint Esprit et par l’esprit vivifiant, notre Seigneur maintenant veut réformer son Eglise en prenant les qualités et les dispositions de l’esprit qui est son état au très saint Sacrement de l’autel.»
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Emmanuel Falque
»Bleiben«, die Permanenz, sie hat nichts zu tun mit einem bloßen »Verbleiben« oder dem Vorwurf eines »Präsentsein«. Die »reale« Präsenz besteht nicht darin, dass sie verdinglicht ist, sondern dass sie geschenkt und darauf angelegt ist, konsumiert zu werden, oder besser: ersehnt zu werden. In der Entfernung zum Begehren, durch Gott selbst, erhält der Tabernakel einen Sinn, in der Erwartung des eucharistischen Leibes, der anzubeten und zu essen ist. »Die Liebe erschafft den Leib«, mehr als dass »der Leib die Liebe erschafft«. Man muss auf die Liebe warten, die von uns nach wie vor begehrt wird und auf die wir lauern. Erst muss der Sinn der »Gabe seiner Gegenwart« verstanden werden, einer ständigen Gegenwart, in der Erwartung, dass wir aufgerufen sind: »In der eucharistischen Gegenwart folgt jede Gegenwart aus der Barmherzigkeit der Gabe«, gilt es mit Jean-Luc Marion zu sagen, »Alles, was übrig bleibt, erscheint durch den Blick ohne Barmherzigkeit: die sinnhaften Arten, die metaphysische Konzeption der Zeit, die Reduzierung auf das Bewusstsein, alles erniedrigt sich zu einer Figur (oder Karikatur) der Barmherzigkeit.« 30 Ich habe gelernt die Welt »zu bewohnen«, sowohl für mich selbst, als auch für den Nächsten, dies ist die Ambition der Eucharistie wie auch der Erotik. Weit davon entfernt, von meiner Menschlichkeit abzusehen (Angelismus) oder etwas zu wählen, das abseits der ihr auferlegten Grenze ist (Bestialität). Ein »eucharistischer Enthusiasmus« zielt etymologisch auf den Akt der Kommunion, in dem Sinne, dass ich vollständig in Gott (en theos) aufgenommen werde, dass ich gewandelt werde in meiner Animalität, in meiner Körperlichkeit und auch in meinem Begehren. Das »Bleiben« des menschlichen Körpers, so ist der christliche Glaube, vollzieht sich als ein Leib Gottes, im Sinne eines Aufstiegs. Dazu sagt Romano Guardini: »Das Christentum hat es gewagt, den (menschlichen) Körper in den verborgensten Tiefen Gottes zu platzieren.« 31 Es ist eschatologisch wahr und es gilt sowohl für die Eucharistie in ihrer Form als Antizipation des Eschatologischen als auch vorgebildet in der erotischen Vereinigung der Gatten und wird vollständig in der eucharistischen Wegzehrung erfüllt: »Brüder, bittet Gott, dieses neue Paar zu segnen, das zusammen den Leib und das Blut
30 J.-L. Marion, »Le présent et le don«, in: Dieu sans l’être (1982), PUF, Quadrige, 1991, 251–252. 31 R. Guardini, Le Seigneur, Paris, Ed. Alsatia, 1954, Bd. 2, 126.
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Dies ist mein Leib – eine philosophische Lektüre der Eucharistie
des Herrn empfangen will«, sagt der »Trausegen« in prächtiger Weise am Tag der Hochzeit, »… und gib ihnen den Leib deines Sohnes, durch das ihre Einheit Wirklichkeit wird, damit sie einander beschenken und ein Fleisch und ein Geist werden.« 32 Deutsche Übersetzung von Michael Rasche
»Rituel du mariage« (édition française), 4. Trausegen, Manuel des Paroisses, Ed. Tardy, 1992, 140.
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Nicola Reali
Philosophie der Eucharistie: die Eucharistie philosophisch denken und/oder die Philosophie eucharistisch denken I. Der Abschnitt des Symposiums, zu dem ich – als Theologe (und nicht als Philosoph) – um einen Beitrag gebeten worden bin, bezieht sich auf das Thema Philosophie der Eucharistie. Offensichtlich soll dabei das Verhältnis zwischen der Philosophie und dem Sakrament der Eucharistie beleuchtet werden. Ich glaube, es wird niemandem entgangen sein, dass schon der Titel dieser Tagungssektion methodisch mindestens zwei verschiedene Ansätze nahelegt, dieses Verhältnis zu bestimmen. Philosophie der Eucharistie kann nämlich zum einen bedeuten, danach zu fragen, wie die Philosophie über das Sakrament der Eucharistie reflektieren kann, aber zugleich kann Philosophie der Eucharistie auch bedeuten, sich danach zu fragen, von welcher Art eine Philosophie sein kann, die aus der Eucharistie als Phänomen sui generis hervorgeht. Je nach dem, wie man den Genitiv »der Eucharistie« versteht, kann man einen Denkweg beschreiten, der entweder dasjenige verdeutlichen will, was man philosophisch über das Sakrament der Eucharistie sagen (bzw. nicht sagen) kann, oder dasjenige, was das Sakrament der Eucharistie über die Philosophie (und zur Philosophie) sagen bzw. nicht sagen kann. Im ersteren Fall haben wir es mit dem Versuch zu tun, die Eucharistie philosophisch zu denken, im letzteren Fall dagegen mit dem Versuch, die Philosophie eucharistisch zu denken. Die so dargestellte Frage der Philosophie der Eucharistie lässt sich jedoch weder auf den Versuch reduzieren, die theologische Wahrheit über die Eucharistie in die philosophische Begrifflichkeit zurück zu transkribieren (im ersteren Fall), noch auf den Versuch, die Lücken philosophischen Denkens eucharistie-theologisch zu schließen (im letzteren Fall). Eine derartige Alternative würde nämlich auf dem Dilemma beruhen, mit dem Philosophie und Theologie seit Jahrhunderten konfrontiert sind und für das kein Ausweg gefunden wurde (und in 206 https://doi.org/10.5771/9783495808405 .
Philosophie der Eucharistie
gewisser Hinsicht auch nicht gefunden werden kann): soll die Frage der Philosophie der Eucharistie – so wie jede andere die beiden Disziplinen betreffende Frage – im Horizont einer philosophischen Fragestellung bleiben, welche die Frage der Glaubenswahrheit, die ausschließlich Kompetenz der Theologie bleibt, in keiner Weise präjudiziert? Oder ist sie intrinsisch darauf ausgerichtet, den »Beweis« der Notwendigkeit des Glaubens durch eine Art philosophischer Theologie anzutreten? Am Ursprung dieser Alternative, welche zur Wahl stellt, entweder die Philosophie auf einen Formalismus zu reduzieren um der Ursprünglichkeit des Glaubens willen, oder aber die Theologie in die Philosophie zu absorbieren um der Notwendigkeit des Glaubens willen, steht eine rigide und aprioristische Konzeption des Verhältnisses von Philosophie und Theologie, die letztlich auf einem einheitlichen Verständnis von Rationalität beruht, welches für die Tradition der modernen Metaphysik typisch ist. Nur dann nämlich, wenn man im Horizont einer (sei es philosophisch oder theologisch dominierten) einheitlichen Rationalität denkt, deren Form bereits vor der Begegnung mit den Phänomenen, auf die sich sowohl Philosophie als auch Theologie beziehen sollen, determiniert ist, ist es möglich, a priori festzulegen, ob der Versuch, die Eucharistie philosophisch zu denken bzw. die Philosophie eucharistisch zu denken, der Sphäre philosophischer oder theologischer Untersuchungen angehört. Wie jeder von uns weiß, besteht das Problem nicht etwa darin, auf Rationalität oder gar auf Wahrheit zu verzichten (denn was bliebe dann von der Philosophie und von der Theologie?), sondern darin, darauf zu verzichten, (den Status der) Rationalität (und somit die Frage, was zur Philosophie und/oder was zur Theologie gehört) für etwas zu halten, was geklärt werden muss, noch bevor man versucht, irgendeine Realität zu denken, die beide Disziplinen gleichzeitig angeht. Eben daher steht man bei dem Versuch, die Eucharistie philosophisch zu denken bzw. die Philosophie eucharistisch zu denken, nicht vor der soeben angesprochenen Alternative. Vielmehr kann man sagen, dass gerade das Ausweichen vor dieser Alternative beiden Ansätzen am Herzen liegen muss. Wer versucht, die Eucharistie philosophisch zu denken, wird nicht a priori festlegen können, bis wohin die Eucharistie philosophisch gedacht werden kann und wo hingegen das theologische Denken beginnt (das folglich außerhalb seines Denkens bleibt); wer umgekehrt versucht, die Philosophie eucharistisch zu denken, wird 207 https://doi.org/10.5771/9783495808405 .
Nicola Reali
die theologische Wahrheit der Eucharistie nicht philosophisch absorbieren können, und auf diese Weise dem Altarsakrament philosophische Dignität zusichern. Man könnte sagen, dass man es im ersteren Fall vermeiden muss, hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Philosophie und Theologie Grenzen festzulegen, und dass man im letzteren Fall Sorge dafür tragen muss, eben diese Grenzen nicht zu beseitigen. Es scheint daher, dass die Frage der Grenze entscheidend ist und dass diese Frage sich in paradoxer Weise stellt: nämlich als etwas, was man beseitigen muss, ohne dass man darauf verzichten kann, bzw. als etwas, worauf man verzichten muss, ohne dass man es beseitigt. Von einer Philosophie der Eucharistie zu sprechen, heißt daher, von der Beziehung zwischen Philosophie und Theologie zu sprechen, aber dies führt offensichtlich dazu, eine bedeutsamere und wichtigere philosophische Frage in Betracht zu ziehen: nämlich die Frage nach den Grenzen philosophischen Denkens. Anders gesagt, wenn es darum geht, über Offenbarungsphänomene nachzudenken, kommt die Philosophie nicht darum hin, sich zugleich die Frage nach ihren Grenzen zu stellen. Genauer gesagt: sie kommt nicht umhin, die Frage zu entscheiden, was von ihr erkannt werden kann. Noch genauer gesagt: sie kommt nicht umhin, eine Entscheidung darüber zu treffen, was von ihr gedacht werden kann, ob es von ihr erkannt werden kann oder nicht. Folglich ist die Frage der Philosophie der Eucharistie (bzw., allgemeiner gesagt, jedes Offenbarungsphänomens) aus der Perspektive der Philosophie eine Frage über die Grenze zwischen Philosophie und Theologie, welche unausweichlich die Frage nach den Grenzen des Denkens und mithin nach der Identität der Philosophie selbst mit sich bringt. In der Geschichte der Philosophie hat die Eucharistie immer die Aufmerksamkeit der Philosophen auf sich gezogen, und obgleich es hier nicht am Platze ist, dies zu dokumentieren, so lohnt es sich doch, daran zu erinnern, dass der Versuch, die Eucharistie philosophisch zu denken, zweifellos gegenüber dem Versuch überwogen hat, die Philosophie eucharistisch zu denken. Die Liste derjenigen Philosophen, die sich um ersteren Versuch mühten, würde verschiedene Namen enthalten, während man Mühe hätte, Philosophen zu nennen, die den letzteren Versuch unternahmen (auch wenn es sehr wohl Versuche dieser Art gab, die alles andere als unbedeutend sind 1). 1 Vgl. diesbezüglich X. Tilliette, Philosophies eucharistiques de Descartes à Blondel, Cerf, Paris 2006.
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Philosophie der Eucharistie
Diese Tatsache ist vielleicht eben mit Blick auf die Konvergenz zwischen der Frage nach dem Verhältnis von Philosophie und Theologie einerseits und der Frage nach den Grenzen des philosophischen Denkens andererseits erklärlich, zumal die Philosophie im Verlauf ihrer Geschichte immer nahezu einmütig versucht hat, einen »transzendentalen« Standpunkt einzunehmen und beizubehalten. Mit anderen Worten: die Philosophie wollte die Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis der Erfahrungsgegenstände bestimmen, ohne diese Gegenstände selbst zuvor zu kennen (und um sie zu erkennen). Aus diesem Grund erschien die Eucharistie der Philosophie immer wie ein »Gegenstand«, den sie nicht a priori als Erkenntnisgegenstand voraussehen kann, weil er de jure und de facto über die Grenzen dessen hinausgeht, was Philosophie rezipieren und ertragen kann. Gleichwohl ist es eine Tatsache, dass die Philosophie seit über einem Jahrhundert – d. h. seit Husserls Logischen Untersuchungen, die im Jahr 1900 eine philosophische Strömung einläuteten, die sich seitdem konstant und kontinuierlich weiterentwickelt hat – diesen transzendentalen Standpunkt radikal in Frage stellt und den Versuch unternimmt, neue Wege zu eröffnen, um ihre eigene Identität und die Grenzen des Denkbaren zu denken. Obgleich dies ein genuin und in erster Linie philosophischer Ansatz ist, hat er doch auch die Theologie miteinbezogen, da der Versuch, die Grenzen des philosophischen Denkens zu überdenken, mit dem Versuch einherging, die Grenzen des Verhältnisses von Philosophie und Theologie zu überdenken. Indem sie somit die enge Korrelation beider bestätigte, betonte die Phänomenologie aber gleichermaßen, dass die Eucharistie dasjenige Offenbarungsphänomen ist, das den besten Zugang zur Frage, wie sich Philosophie und Theologie aufeinander beziehen sollen, gestattet, womit sich zugleich die Frage nach den Grenzen des Denkens stellt. Beweis dafür ist meines Erachtens das Interesse, das viele Phänomenologen gegenüber dem Phänomen der Eucharistie bekundet haben. Dieses Interesse beabsichtige ich heute an zwei Denkentwürfen zu belegen, die im Kontext der gegenwärtigen Phänomenologie über die Frage der Philosophie der Eucharistie reflektieren und dabei eine Sicht auf das Verhältnis von Philosophie und Theologie zu entwickeln versuchen, die explizit die Grenzen der Philosophie selbst problematisiert. Ich beziehe mich dabei auf das Denken zweier bekannter Philosophen: Jean-Luc Marion und Emmanuel Falque. Obgleich sich sowohl Marion als auch Falque auf die Phänomenologie zurückbeziehen, ha209 https://doi.org/10.5771/9783495808405 .
Nicola Reali
ben sie doch autonome und unterschiedliche Wege bei dem Versuch eingeschlagen, sich (als Philosophen) mit dem Sakrament der Eucharistie und folglich mit der Frage nach den Grenzen der Philosophie (d. h. hier: der Phänomenologie) auseinanderzusetzen.
II. In einem mittlerweile bereits einige Jahre zurückliegenden Aufsatz über die Frage der Eucharistie – »La phénoménalité du sacrement – être et donation« 2 – beansprucht Marion mit viel Nachdruck und auf hoch stimulierende Weise die Legitimität einer philosophischen Untersuchung über das Sakrament der Eucharistie, und betont, dass die vom Trienter Konzil 3 gegebene theologische Definition das Verhältnis von Sichtbarem und Unsichtbarem ins Spiel bringt: ein Problem, das die Phänomenologie seit ihren Anfängen unablässig beschäftigt, indem sie sich fragt, auf welche Weise das Sichtbare die Sache selbst (res) manifest werden lassen kann bzw. wie der Schein (apparence) Vehikel einer vollständigen und endgültigen Erscheinung (apparition) sein kann 4. Jede mögliche Trennung von Philosophie und Theologie wird daher sofort durch die Betonung der Tatsache verworfen, dass ein methodologisches Problem existiert, welches mit der Struktur des Denkens als solchem zu tun hat und welches im theologischen Moment ihrer radikalsten Provokation begegnet, weil es darin auf das paradoxeste Paradox trifft: dass nämlich Gott – der per se unsichtbar ist – in einem Phänomen sichtbar wird, welches Sichtbares und Unsichtbares – sinnlich – zusammenhält. 5 Es ist daher nötig, dass sich das philosophiJ.-L. Marion, »La fenomenalità del sacramento: essere e donazione«, in: N. Reali (Hg.), Il mondo del sacramento. Teologia e filosofia a confronto, Paoline, Milano 2001, 134–154. 3 »Commune hoc quidem est sanctissimae Eucharistiae cum caeteris sacramentis symbolum esse rei sacrae et invisibilis gratiae formam visibilem«: Concilium Tridentinum, Decretum de sanctissimo eucharistiae sacramento, Sessio XIII, Cap. III (DS 1639). 4 Marion, »La fenomenalità del sacramento«, a. a. O., 134–136. 5 Vgl. »Bei dem ausgesprochenenen Sonderfall, den das Sakrament darstellt, würde es sich aber um eine ganz und gar neue Korrelation handeln, da sie zwischen einem sichtbaren Wahrnehmungsgegenstand und einem ›intentionalen Gegenstand‹ (ein zweifellos bereits inadäquater Ausdruck, der hier nur unter Vorbehalt benutzt wird) bestünde, der dazu bestimmt ist, definitiv unsichtbar zu bleiben. Diese beiden Aspekte des Sakraments verbleiben daher innerhalb keiner Phänomenalität des Sichtbaren, da diese nur 2
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Philosophie der Eucharistie
sche Denken von dem Problem, das die tridentinische Definition aufwirft, stimulieren lässt und sich die Phänomenologie so auf die theologische Herausforderung einlässt, dass das Verständnis der Eucharistie von einer Bedingung der Möglichkeit abhängt, die dem Sakrament selbst angehört und nicht dem Verständnis, welches das Denken davon zu erlangen versucht: dass nämlich die res des Sakraments »als Unsichtbares sichtbar gegebenen ist, kurz gesagt: dass sie unwiderruflich gegeben ist, bis hin zur Selbstaufgabe« 6. Da einer der methodologischen Eckpfeiler von Marions Phänomenologie in dem Bemühen besteht, jeglichen Versuch zu vermeiden, das Erscheinen der Phänomene auf eine vorgängige Bedingung der Möglichkeit ihres Erscheinens zurückzuführen – weil nämlich die Phänomene ansonsten ausgehend von etwas anderem als von ihrer Gegebenheit verstanden würden –, wird verständlich, wieso das Sakrament der Eucharistie zum privilegierten Anlass für das Denken wird, auf den Anspruch auf ein Modell zu verzichten, mit dem sie diese Paradoxie (mit ein)begreifen kann. Nur die Eucharistie selbst kann ihr Verständnis entfalten, nur sie lässt die Gnade sichtbar werden, die doch unsichtbar bleibt, und dies ist deshalb so, weil sie ausgehend von dem und als Verlängerung dessen gegeben ist, wie Gott in Christus gegeben ist: ein kenotisches bzw. absolutes Geben, bis hin zur Selbstaufgabe. Niemand hat sich jemals so hingegeben, wie sich Christus hingegeben hat, und die Verbindlichkeit dieser Hingabe leistet Gewähr für das, was Christus uns gegeben hat, darunter das Brot und den Wein der Eucharistie. Die Ansicht, dies alles dadurch untermauern zu können, dass man von der Anerkennung der Gabe Christi zur Erkenntnis von etwas fundamentalerem (wie z. B. dem Sein) übergeht, bedeutet für Marion letztlich, der idolatrischen Versuchung der Metaphysik zu erliegen, insofern im vom ersten Aspekt vollzogen wird, während sich der zweite Aspekt ihr dezidiert und definitiv entzieht. Während nämlich der noematische Kern inmitten der verschiedenen Erfüllungen, die ihn auf immer verschiedene Weise umkränzen und dabei umso mehr als sichtbar bestimmen, immer wieder identisch hervortritt, wird die res sacramenti, die Gnade Christi, niemals als solche im Licht der Welt erscheinen; sie wird selbst dann niemals eines der Phänomene der Welt werden, wenn seit unserer Taufe in jedem Augenblick unseres Lebens sakramentale Akte vollzogen werden – denn ihre Sichtbarkeit wird sich niemals über die innerweltlichen Dinge hinaus hin zu dem erstrecken, ›was kein Auge gesehen hat‹ (1. Kor 2,9)«: ebd., 138. 6 Ebd. 140, 142, 143. Diesbezüglich erlaube ich mir, auf mein Buch zu verweisen: N. Reali, Fino all’abbandono. L’eucaristia nella fenomenologia di Jean-Luc Marion, Città Nuova, Roma 2001.
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Bereich der Metaphysik die Möglichkeit des Erscheinens niemals dem angehört, was erscheint. Die Metaphysik bezeichnet also nicht diese oder jene Denkrichtung, diese oder jene geschichtliche Epoche: sie ist vielmehr das Kennzeichen all jener, faktisch modernen und post-modernen Versuche, die auf die ein oder andere Weise ein aprioristisches Vorverständnis dem Feld von Phänomenalität zugrunde legen, und beanspruchen, Phänomene ausgehend von etwas anderem als ihrer Gegebenheit (mit ein-)zu (–)begreifen. So sehr solche Versuche auch legitim sein mögen, so sind sie doch aus Sicht Marions gefährlich und begrenzt. Auch im Falle des Seins wäre ein solcher Versuch riskant, denn das Sein selbst manifestiert sich nicht und ist dem Menschen nicht aufgrund von etwas fundamentalerem als seiner Gegebenheit zugänglich: man kann das Gegebene (le don) nicht ausgehend vom Sein verstehen, weil das Sein selbst nur ausgehend von seiner Gegebenheit (donation) zugänglich ist. Das Sein hat für den Menschen nur deshalb Sinn, weil es gegeben ist, und das Gegebene bedarf des Seins nicht, um gegeben zu sein, während umgekehrt das Sein der Gegebenheit bedarf, um zu sein. In Marions Kritik an der Metaphysik geht es daher lediglich darum, der Manifestation der Phänomene das Recht zu belassen, die Regeln und das Maß ihres Verständnisses selbst zu setzen, denn diese Regeln und dieses Maß überwältigen jede Erwartung seitens des erkennenden Subjekts, so dass es darauf verzichten muss, sie selbst (mit ein-)zu(-)begreifen, um wirklich begreifen zu können. Aus diesem Grund stellen die Phänomene der Offenbarung, besonders aber die Eucharistie, für Marion die »letzte Möglichkeit der Phänomenologie« 7 dar: sie sättigt sowohl den Horizont der Welt, innerhalb dessen sie erscheint, als auch die Intentionalität des Menschen, aber sie gestattet es gleichwohl, darin die Dynamik der menschlichen »Subjekti(vi)tät (subjecti[vi]té)« 8, die dazu berufen ist, sich ekstatisch über die ontische Bestimmung des Realen hinaus zu protendieren, in ihrem authentischen Charakter wiederzufinden. Die Gegebenheit liegt nämlich für Marion jenseits jeder Erklärung und jenseits der transzen-
J.-L. Marion, »Le phénomène saturé«, in: M. Henry – P. Ricœur – J.-L. Marion – J.-L. Chretien, Phénoménologie et théologie, Criterion, Paris 1992, 128. Vgl. hierzu auch J.-L. Marion, Étant donné. Essai d’une phénoménologie de la donation, (Épiméthée) PUF, Paris 1997, 325–335. 8 Ders., Étant donné, a. a. O., 373. 7
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dentalen Subjektivität (mithin jenseits der Metaphysik), aber sie führt doch gleichwohl nicht zu einem Philosophieren ohne Subjekt und ohne Erklärung; vielmehr eröffnet sie umgekehrt den Weg für eine neue Form des Verstehens, die von der Gegebenheit der Phänomene eingeläutet, aber nicht davon de-finiert wird. Diese Möglichkeit wird von der Gegebenheit selbst bereitet, insofern »sich nichts zeigt, was sich nicht zuvor gibt« 9, d. h. wenn für die nur von sich selbst ausgehende und durch sich selbst geschehende Phänomenwerdung des Phänomens gilt: »das Erscheinen (l’apparaître) gibt Erscheinendes (l’apparaissant), und Erscheinendes gibt sich, indem es sich ans Erscheinen bindet« 10. Die res des Phänomens gibt sich daher vollständig in seiner Gegebenheit, und indem sie sich völlig darin gibt, stellt sich zugleich auch das Verständnis ihrer selbst heraus. Dieses ist es daher, was dem erkennenden Subjekt die Möglichkeit des Verstehens eröffnet, wobei signifikanterweise zu beachten ist, dass all dies a posteriori zum Sich-Geben des Phänomens eintritt. Das Verständnis dessen, was man nicht anders denn ausgehend von seiner Gegebenheit verstehen kann, setzt daher die Anerkenntnis voraus, dass das a posteriori des anthropologischen Moments einfach im a priori der Gegebenheit eingeschlossen ist, so dass das Subjekt – das immer in der Position des Empfangenden ist – sich durch das empfangen muss, was es empfängt: »durch das Gegebene gegeben, dem Gegebenen gegeben« 11, mithin »hingegeben (adonné)«. Marion zweifelt daher nicht daran, dass Offenbarungsphänomene und insbesondere die Eucharistie für die »letzte Möglichkeit der Phänomenologie« zu halten sind, und lässt somit – um an die Worte anzuknüpfen, von denen wir ausgegangen waren – eine Tendenz erkennen, jede Grenze zwischen Philosophie und Theologie zu beseitigen. Diese Schlussfolgerung muss jedoch präzisiert werden, zumal sich Marion selbst in eben dem Moment, in dem er diese »letzte Möglichkeit der Phänomenologie« anerkennt, sogleich zu präzisieren beeilt, dass dies ausgehend von einer klaren Unterscheidung zwischen der Offenbarung als Möglichkeit und der Offenbarung als Wirklichkeit geschieht: »unter Offenbarung verstehen wir hier einen rein phänomenologischen Begriff: eine Erscheinung, die rein sich selbst zum Erschei-
Ders., »La fenomenalità del sacramento«, a. a. O., 148. Ebd. 11 Ders., Étant donné, a. a. O., 373. 9
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nen bringt und rein von sich selbst ausgeht, deren Möglichkeit keiner vorangehenden Bestimmung unterliegt« 12. Diese Unterscheidung, die gewiss den Skrupel des Philosophen erkennen lässt, der sich nicht auf ein Gebiet einlassen will, in dem er nicht zu Hause ist, hat ihren Ursprung jedoch hauptsächlich in einer sehr klaren und nachdrücklichen methodologischen Entscheidung, nämlich derjenigen, die Phänomenologie auf der Grundlage der im Gegensatz zur Wirklichkeit verstandenen Möglichkeit zu entwickeln. Dieser Gegensatz wird von einem anderen Eckpfeiler der phänomenologischen Methode Marions gefordert: die Ablehnung jeglicher Form einer ontologischen Reduktion im Bereich von Phänomenalität. Es sei nämlich daran erinnert, dass Marion im Zuge seiner scharfsinnigen und überaus wertvollen Auseinandersetzung mit Heidegger so weit geht, Heideggers Ansinnen, in der »Phänomenologie die Methode der Ontologie« zu sehen, radikal zu kritisieren, weil der deutsche Philosoph – indem er die Realität aller Phänomene (Gott eingeschlossen) unter die Hypothek des Seins gestellt hat – die Phänomene schließlich ausgehend vom Apriori des D a s e i n s denkt, das als Seiendes verstanden wird, dem es nicht nur um sein eigenes Sein geht, sondern um das Sein als solches und um sein Verständnis. Nicht einmal das Sein kann daher den Horizont darstellen, innerhalb dessen sich die Manifestation der Phänomene vorher verstehen lässt, und es wird daher erforderlich, jede unrechtmäßige phänomenologische Identifikation des Erscheinens als solchem mit seiner ontischen Bestimmung bzw. des Erscheinens mit dem, was darin erscheint, zu verneinen. Für Marion nämlich ist das Zurückweisen der Grenze, auf die Heideggers Denken stößt, nur auf der Grundlage einer Nicht-Äquivalenz von Erscheinen und Erscheinungsinhalt möglich. Das Erscheinen ist nicht auf eine univoke formale Bedeutung reduzierbar, einschließlich der des Seins; daher muss dasjenige, was die universelle Bedingung jedes Phänomens darstellt (das Erscheinen als solches), vor jedem Versuch seiner partiellen oder regionalen Reduktion verteidigt werden. Die Absicht, das Erscheinen der Phänomene zu erfassen, bedeutet daher für Marion, die Reduktion der Phänomene auf ihre ontische Wirklichkeit abzulehnen, weil in diesem Fall die Gegebenheit der Phänomene immer einen Empfangshorizont voraussetzen würde, innerhalb dessen sie sich manifestieren.
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Ders., Le phénomène saturé, a. a. O., 127.
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Dies würde zudem mit sich bringen, dass das außerhalb ontischer Charakterisierungen nicht zu denkende Ich eine vorausgehende Erkenntnis dieses Horizontes hätte, so dass die Gegebenheit der Phänomene immer ausgehend von diesem anthropologischen Vor-Verständnis gedacht werden könnte. Die Antwort, die Heidegger bezüglich der Anwendung der phänomenologischen Methode auf die ontologische Fragestellung bietet, führt also für Marion zu einem unbefriedigenden Ergebnis, und diese Unzulänglichkeit ist besonders dann evident, wenn es darum geht, die Gottesfrage zu denken. Um es mit einem Slogan zu sagen (der jedoch sehr treffend ist): der Versuch, Gott auf der Grundlage des Seins zu denken, führt in jedem Fall (d. h. sowohl dann, wenn man sagt, dass Gott ist, als auch dann, wenn man sagt, dass Gott nicht ist) dazu, Gott in Schranken und a priori im Seinshorizont verhaftet bleiben zu lassen: wenn Gott da ist, dann wird er zwangsläufig auch dasein müssen. Es gilt daher anzuerkennen, dass die Manifestation Gottes nicht auf ihre eigene ontische Spezifizierung, auf die Wirklichkeit ihrer ontischen Form reduzierbar ist. Dies ist für Marion umso nötiger, als die gegenteilige Hypothese dazu führen würde, die theologische Transzendenz des Offenbarungsphänomens voreilig auszuschließen, so dass sich erneut die Heideggerschen Aporien bezüglich des Verhältnisses von Philosophie und Theologie einstellen würden. Dies geschieht eben dort, wo Heidegger (Luther folgend) die Theologie nicht als Wissenschaft von Gott, sondern als Wissenschaft vom Glauben 13 denkt und sie ebenso wie die Chemie und die Mathematik als eine ontische Wissenschaft definiert, eben weil ihr einziges Interesse das positum der Christlichkeit ist: der Glaube des Menschen an das Ereignis des Todes von Jesus. Der Weg der Wirklichkeit – wie Heidegger ihn gegangen ist – ist also zu verwerfen: Marion geht es dagegen um »keine Wirklichkeit, kein[en] Übergang, sondern [um] eine bloße Möglichkeit – die Möglichkeit des Unmöglichen. Und diese Möglichkeit des Unmöglichen, die sich notwendig gibt, behält auch bis zuletzt die Möglichkeit, sich nicht zu zeigen, nichts zu zeigen« 14. Eben auf dieser Grundlage entsteht die
Ders., Dieu sans l’être, PUF, Paris 1991, 98–103. Marion bezieht sich dabei auf die berühmte Vorlesung aus dem Jahr 1927: M. Heidegger, »Phänomenologie und Theologie«, in: Wegmarken, GA, Bd. IX, 1976, 45–78. 14 J-L. Marion, »L’événement, le phénomène et le révélé«, in: Transversalités 70 (1999), 13. 13
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Möglichkeit (man entschuldige das Wortspiel), die Offenbarung als »letzte Möglichkeit der Phänomenologie« zu denken. Man sieht hier, dass die Logik, die der Ablehnung der ontologischen Reduktion zugrunde liegt, zu Ende gedacht werden muss, so dass sie sich methodologisch in der Umkehrung der Begriffe Heideggers vollzieht: nicht mehr Wirklichkeit auf Kosten der Möglichkeit, sondern Möglichkeit auf Kosten der Wirklichkeit 15. Die Möglichkeit – und nicht die Wirklichkeit – bleibt in der Phänomenologie die Regel, so dass der Offenbarung rechtmäßig eine Legitimität als bloße Möglichkeit zuerkannt wird, die behauptet werden kann, ohne dabei ihre Wirklichkeit vorauszusetzen: »Die Phänomenologie könnte nicht entscheiden, ob sich eine Offenbarung jemals geben kann oder muss, aber sie (und nur sie allein) kann festlegen, dass sich ein solches Offenbarungsphänomen gegebenenfalls als Paradoxie der Paradoxie zu gestalten hätte: wenn es irgendwann einmal etwas mit einer Offenbarung auf sich hätte bzw. gehabt hätte (worüber zu entscheiden die Phänomenologie nicht ermächtig ist), dann würde sie nach einem phänomenologischen Wesensgesetz die Gestalt der Paradoxie der Paradoxien annehmen bzw. angenommen haben« 16. Die Konsequenzen für das Verhältnis von Philosophie und Theologie sind leicht auszumachen: nachdem die Phänomenologie in der Offenbarung »ihre letzte Möglichkeit« erkannt hat, tritt der Theologe auf den Plan, der nicht darum umhinkommt, seinen Ausgangspunkt in der konkreten Tatsache der Offenbarung zu finden, da er die Offenbarung – wenn sie erst einmal stattgefunden hat – ausgehend von der wirklichen, phänomenalen Form studiert, die sie angenommen hat. Man könnte daher sagen, dass das, was die Grenze der phänomenologischen Forschung bezeichnet (die Möglichkeit, das Unmögliche zu denken), den Ausgangspunkt der Theologie konstituiert; man könnte Nebenbei gilt es hier, darauf hinzuweisen, dass Marion in Heidegger selbst das Prinzip wiederfindet, durch das das Heideggersche Projekt umgekehrt werden soll: »Höher als die Wirklichkeit steht die Möglichkeit. Das Verständnis der Phänomenologie liegt einzig im Ergreifen ihrer als Möglichkeit«: M. Heidegger, Sein und Zeit, § 7, HGA, Bd. II, 1977, 38. Zitiert u. a. in J.-L. Marion, »Filosofia e Rivelazione«, in: Studia Patavina 36 (1989), 428. 16 Marion, Étant donné, a. a. O., 327 f. Siehe auch: »wenn Gott sich manifestiert (oder sich manifestiert hat), dann wird dazu er ein Paradox zweiten Grades benutzen; wenn Offenbarung (d. h. die theo-logische Offenbarung Gottes durch sich selbst) stattfindet, dann wird sie die phänomenale Gestalt des Offenbarungsphänomens, des Paradoxes der Paradoxe, der Sättigung zweiten Grades annehmen«: ebd., 329, Anm. 1. 15
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jedoch auch sagen, dass sich die Theologie als eine Wissenschaft der phänomenalen Wirklichkeit der Offenbarung konfiguriert, die nichts (oder nur wenig) mit Phänomenologie zu tun hat, da letztere die Offenbarung nur als mögliches Phänomen in Betracht zieht: die Wirklichkeit der Offenbarung ist Sache derjenigen Wissenschaft, die – so kann man in gewisser Weise sagen – jenseits der phänomenologischen Methode angesiedelt ist, nämlich der Theologie. 17 Wenn dem so ist, so ist – um zu unserer Ausgangsfrage zurückzukehren – offensichtlich, dass wir einem Versuch begegnen, die Eucharistie philosophisch zu denken, sobald ihr im Ausgang der indefiniten Erweiterung von Phänomenalität, welche durch die Gegebenheit der Phänomene bezeugt wird und welche nur über eine Phänomenologie der Gegebenheit rechtmäßig gedacht werden kann, eine vollkommene und vollendete Phänomenalität bescheinigt wird. Diese Erweiterung verwirklicht sich in dem Moment, in dem die Philosophie ihren eigenen transzendentalen Erkenntnisstatus überdenkt, und dabei a priori auch demjenigen Raum zugesteht, dessen Möglichkeit keiner vorhergehenden Bestimmung unterliegt, womit sie – abermals a priori – die Möglichkeit anerkennt, das Unerkennbare zu kennen bzw. das Unverstehbare zu verstehen, kurz: die Möglichkeit des Unmöglichen. 18 Wodurch widerfährt der Philosophie diese ihre letzte Möglichkeit? Durch die Tatsache, dass »das Phänomen die Souveränität seiner Erscheinung somit einzig dadurch absichert, dass es sich von sich aus und durch sich selbst phänomenalisiert, dass es sich von sich selbst ausgehend zeigt; dieses Sich bezeugt es dabei aber nur dadurch, dass das Erscheinende sich an sein Erscheinen bindet; es bindet sich nur dann im und ans Erscheinen, wenn es gegeben ist. Nichts zeigt sich, was sich
Vgl. »die Tatsache (wenn es denn eine ist) der Offenbarung übersteigt die Reichweite jeder Wissenschaft, einschließlich der Phänomenologie; nur eine Theologie könnte unter der Bedingung, dass sie sich allein ausgehend von dieser Tatsache konstruieren ließe, eventuell dazu Zugang finden«: ebd. 18 Es ist nötig, hier darauf hinzuweisen, dass für Marion das Aufstellen der Hypothese der Möglichkeit des Unmöglichen nicht dem Versuch gleichkommt, sich auf einen Schlag aller Grenzen zu entledigen: die Grenze bleibt prinzipiell unwiderlegbar und unerlässlich, aber dies bedeutet nicht, dass sich das, was ihr zuwiderläuft, nicht doch paradoxerweise als Phänomen konstituiert werden kann. Ganz im Gegenteil kann sich das Phänomen der Eucharistie – indem es sich an den Grenzen der Phänomenalität abspielt – nicht nur dort in Erscheinung treten, sondern dort sogar besser in Erscheinung treten (auch die Phänomenologie kann es nur als bloße Möglichkeit behaupten). 17
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zuvor nicht gegeben hat« 19. Dies ist für Marion die goldene Regel der Phänomenalität, deren repräsentativste Gestalt die gesättigten Phänomene sind, d. h. all jene Phänomene, die sich – indem sie die ideale Norm von Evidenz (Gleichheit von Anschauung und Begriff) aufgrund ihres Überschusses an Anschauung außer Kraft setzen – nur von sich aus und durch sich selbst phänomenalisieren können, indem sie sich von sich selbst ausgehend zeigen. Von dort her lässt sich grundsätzlich auch eine Untersuchung legitimieren, die sich auf jenes gesättigte Phänomen sui generis richtet, welches die Eucharistie ist. Im Falle der Eucharistie ist jedoch – im Unterschied zu allen anderen gesättigten Phänomenen (Ereignis, Idol, Fleisch und Ikone) – das Brot Leib Christi (und nicht bloß Brot) nur kraft der Autorität Christi, der die Eucharistie im letzten Abendmahl als Ort seiner völligen Hingabe, bis hin zur Selbstaufgabe, stiftet. Daher hat man von der Eucharistie im Gegensatz zu anderen gesättigten Phänomenen keine Erfahrung und auch – um mit Marion zu sprechen – keine Gegen-Erfahrung. Tatsächlich liegt im Falle des Ereignisses, des Fleisches etc. das Unbehagen, hier gesättigte Phänomene anzunehmen, ursprünglich nicht an der Schwierigkeit, Erfahrungen zu machen (wer hat nicht Ereignisse, das eigene Fleisch, Idole und das Antlitz des Anderen erfahren?), sondern am Überfluss an Anschauung, womit der Begriff, seine begrenzende Wirkung und endliche Rationalität unwirksam wird. Diese Phänomene verbergen sich in dem Nebel, der durch ihren Überschuss an Anschauung entsteht, und daher spricht man diesbezüglich von der Erfahrung von etwas, was den Bedingungen der Erfahrung widerspricht und daher in der Weise einer Sättigung dieser Bedingungen in einer Gegen-Erfahrung erscheint. Im Falle der Eucharistie hat dagegen die Schwierigkeit ihren Ursprung nicht nur im Übergang von der Erfahrung zur Gegen-Erfahrung, sondern in der Tatsache, dass wir davon niemals eine Erfahrung gemacht haben. Oder besser gesagt, wir haben gewiss den alltäglichen Gebrauch von Brot und Wein erfahren, auf die die Eucharistie nicht reduziert werden kann, aber in diesem Fall beruht die Irreduzibilität nicht auf der Tatsache, dass es um Leib und Blut Christi geht, sondern nur darauf, dass es um Brot und Wein geht: zwei Dinge, die – wie immer es sich auch damit verhält – mehr sichtbar werden lassen als bloße Materialität. Während also die anderen gesättigten Phänomene den Möglichkeitsbedingungen von Erkenntnis 19
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und Erfahrung widersprechen, widerspricht die Eucharistie ihnen nicht, und zwar nicht deswegen, weil sie auf irgendeine Möglichkeitbedingung reduzierbar wäre, sondern weil sie etwas radikal Neues ist, das nichts hat, dem es widersprechen könnte. Daher versteht sich mit Blick auf die Eucharistie die Behauptung nicht von selbst, diese widerspräche den Möglichkeitsbedingungen von Erkenntnis und Erfahrung, denn es gibt keine Erkenntnis und Erfahrung, der sie widersprechen könnte. Gleichermaßen versteht sich auch die Behauptung nicht von selbst, sie widerspreche der Bedingung der Möglichkeit der Nichterkenntnis und der Gegen-Erfahrung, denn auch in diesem Fall gibt es nichts, dem sie widersprechen könnte. Vielleicht wäre es richtiger zu sagen, im geweihten Brot und Wein den Leib und das Blut Christi zu erkennen, bedeute die Anerkenntnis, dass es unmöglich ist, die Bedeutung von Brot und Wein auf Erkenntnis und Nichterkenntnis bzw. auf Erfahrung und Gegen-Erfahrung einzuschränken, die wir davon nicht haben. All dies eröffnet jedoch in Marions Phänomenologie der Gegebenheit ein Problem, das alles andere als irrelevant ist und dessen sich Marion vollkommen bewusst ist, wenn er im letzten Paragraphen seines Buches Étant donné das »aufgegebene Phänomen« (phénomène abandonné) 20 in Betracht zieht. Das Problem ist folgendes: wenn wahr ist, was bisher herausgestellt worden ist, dann müsste man daraus schließen, dass es unmöglich ist, dass ein Phänomen wie dasjenige der Eucharistie zu einem Phänomen wird, da es von nichts und niemandem als dasjenige erfasst werden könnte, was es wirklich ist (oder besser: als was es sich gibt). Mit anderen Worten, es ist unmöglich, eine Gegebenheit zu erfassen, die sich ohne alle Anschauung gibt und das Erkenntnis- und Erfahrungsvermögen desjenigen sättigt, der es empfängt. Wenn man sie aber nicht empfangen kann, dann heißt das so viel wie, dass sie sich niemals zeigt, genauer gesagt: dass sie sich gibt, ohne sich zu zeigen. Das Sich-phänomenalisieren, das Sich-zeigen ist nämlich vom Empfang und von der Aufnahme desselben seitens des Hingegebenen (l’adonné) nicht zu trennen, da sich das, was sich gibt, nur dann zeigt, wenn es vom Hingegebenen vernommen wird. Folglich besteht die dem Hingegebenen eigene Funktion darin, dem Gegebenen wieder zurückzugeben, dass es sich zeigt. Obwohl die gesättigten Phänomene weder die Möglichkeitsbedingungen der Erfahrungsgegenstände noch 20
Ders., Étant donné, V, § 30, 424–438.
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die der Erfahrung selbst respektieren, bestellen sie doch den Hingegebenen dazu ein, ihre Gegebenheit zu bezeugen und sie so zu Phänomenen werden zu lassen, so dass sie sich durch die unüberwindliche und wesentliche Endlichkeit des Hingegebenen zeigen können. 21 Es ist jedoch Marion zufolge nötig, zwei Ausnahmen von dieser Regel zuzulassen: eine aufgrund eines Mangels, die andere aufgrund eines Überschusses. In diesem Fall nimmt das Gegebene die Gestalt des »aufgegebenen Phänomens« an, d. h. eines Phänomens, das sich der Gefahr aussetzt, aufgegeben zu werden, weil es sich dem Risiko aussetzt, dass kein Hingegebener bereit ist, es zu vernehmen, um es sichtbar werden zu lassen. Die Gegebenheit bleibt daher suspendiert, weil sie auf keinen Hingegebenen trifft, der gewillt wäre, sie zu vernehmen, um sie dahin zu bringen, sich als Phänomen zu zeigen. Aufgrund eines Überschusses oder eines Mangel muss die Gegebenheit manchmal darauf verzichten, in Erscheinung zu treten, und sich aufgeben, obwohl sie jederzeit vollkommen gegeben bleibt. Das aufgegebene Phänomen ist also mit einem solchen Überschuss an Anschauung gegeben, dass niemand es aufnehmen kann, so dass es zu seiner Gegebenheit selbst aufgegeben ist. Gehören Offenbarungsphänomene – und allen voran die Eucharistie – zu dieser Art von Phänomenen, die sich geben, ohne sich zu zeigen? Zunächst einmal gälte es, diese Frage zu bejahen und die Eucharistie mithin als eine Gegebenheit anzuerkennen, die aufgrund ihres Überschusses an Anschauung ohne Anschauung bliebe (Sättigung der Sättigung) und als ein aufgegebenes Phänomen gelten könnte, so dass sie einzig als bloße Möglichkeit zu denken wäre. Es bleibt jedoch die Frage, warum es ungeachtet dessen, dass die Gegebenheit der Eucharistie soweit geht, diese Paradoxie der Sättigung der Sättigung zu geben, gleichwohl wahr bleibt, dass sich in der Eucharistie die Gabe Christi zeigt: was immer sie ist, so zeigt sie sich doch und ist sichtbar. Wenn daher ein Phänomen, das gegeben ist, ohne sich zu zeigen, nur als eine bloße Möglichkeit gedacht werden kann, so kann ein Phänomen wie die Eucharistie nur in »Analogie« (ein Wort, das Marion nicht sehr mag) zu anderen Phänomenen (nämlich mit Phänomenen, die nicht nur gegeben sind, sondern sich auch zeigen, sei es als einfach gegebene oder als gesättigte Phänomene) und mithin wiederum als bloße Möglichkeit, als bloße Hypothese gedacht werden: 21
Ebd., IV, § 22, 296–309.
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[A]usgehend vom Prinzip, dass sich nichts zeigt, was nicht zuvor gegeben ist, wird eine Analogie möglich […] Könnte man nicht per Analogie einen Fall ins Auge fassen, bei dem das, was sich gibt, sich mit solcher Radikalität gäbe, dass es eben durch sein Engagement unserem Bewusstsein gegenüber gewährleistet, dass sich wirklich alles zeigt, was es zu sehen zu geben behauptet, – alles Unsichtbare, das dadurch ja, dass es gegeben wird, zu sehen zu geben verspricht? Muss man nicht die Hypothese ins Auge fassen, dass das, was sich gibt, sich so definitiv gäbe, dass alles, was es zu zeigen verspricht, sich auch wirklich zeigt?« 22
Wir begegnen hier also quasi einer Verdoppelung der Möglichkeiten und der Hypothesen: einerseits ist da das aufgegebene Phänomen, andererseits das Phänomen der Eucharistie (das wir als Offenbarungsphänomen bezeichnen können). Das erstere gibt sich, ohne sich zu zeigen (und es unterscheidet sich daher sowohl von den einfach gegebenen als auch von den gesättigten Phänomenen, weil es sich nicht zeigt); das letztere gibt sich, indem es sich zeigt, aber sein Sich-zeigen ist verschieden von dem aller anderen Phänomene, die sich geben, indem sie sich zeigen (und es unterscheidet sich daher nicht nur von den einfach gegebenen und den gesättigten Phänomenen, sondern vor allem auch von den aufgegebenen Phänomenen). Für Marion kann dieses letztere Phänomen daher eigentlich nur »per Analogie« zu den anderen Phänomenen gedacht werden. Man könnte also sagen, dass die Eucharistie den Fall eines Phänomens bezeugt, das sich gibt, ohne sich zu zeigen, indem es sich zeigt. Es stellt sich somit obligatorisch die Frage, wie ein Phänomen, das sich gibt, ohne sich zu zeigen, indem es sich zeigt, auch nur als Hypothese gedacht werden kann. Hatten wir nicht bisher lediglich gezeigt, dass die äußerste Möglichkeit der Phänomenologie darin besteht, ein Phänomen zu denken, das sich gibt, ohne sich zu zeigen? Dies umso mehr, als sich das Sich-zeigen immer ausgehend von einem Hingegebenen verwirklicht, der unerbittlich endlichen Charakters ist. Damit sich ein Phänomen zeigen kann, das sich gibt, ohne sich zu zeigen, wäre daher ein Hingegebener nötig, der dessen Phänomenwerdung bezeugt. Tatsächlich zögert Marion nicht das Folgende anzufügen: In diesem Kontext würde sich das Sakrament zeigen (das Unsichtbare in ihm manifestieren) kraft der Autorität dessen, der sich in ihm gibt: nichts weniger als der Geist, wie ihn Christus ausliefert, indem er sich 22
Ders., »La fenomenalità del sacramento«, a. a. O., 148, 153.
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am Kreuz dem Menschen, den er bis hinein in seine Liebesverlassenheit geliebt hat, überlieferte: ›er sprach: Es ist vollbracht! und neigte sein Haupt und verschied (überlieferte seinen Geist)‹ (Joh. 19,30). Nur diese Gabe seiner selbst – die Kenose als Selbstaufgabe, die verpflichtet, ohne Umkehrung oder Rückzug zu gestatten, erlangt nämlich unmittelbar die Autorität, Wasser und Blut zu mehr als zu alltäglichen Utensilien zu machen, nämlich zur Materie der Sakramente des Geistes. 23
Dies ist das phänomenologisch Neue der Eucharistie, das auf keinen philosophischen Versuch, sie zu denken, reduzierbar ist: nur die Autorität Christi garantiert, dass der Phänomenalität der Eucharistie der Charakter einer vollständigen und vollkommenen Phänomenalität zukommt. Gleichwohl jedoch wurde auf die soeben gestellte Frage noch keine Antwort gefunden: durch den Bezug auf die Autorität Christi wird nur verständlich, wieso sich das Sich-zeigen der Gegebenheit Gottes in der Eucharistie nur durch das Zeugnis vollzieht, das das ChristusBewusstseins gibt, und dies tut der Tatsache genüge, dass ein Phänomen sich nur ausgehend vom Empfang zeigt, bei dem es sich einem Bewusstsein gibt. Dies genügt jedoch noch nicht, um die Frage zu klären, wie ein Phänomen, das gegeben ist, ohne sich zu zeigen, indem es sich zeigt, gedacht werden kann (nur als Hypothese). Müsste man sich nicht vielmehr darauf beschränken, ein Phänomen zu denken, das sich gibt, ohne sich zu zeigen? Nur in diesem Fall wäre die Behauptung erlaubt, dass die Phänomenologie nicht sagen kann, ob es sich wirklich zeigt. Wenn man umgekehrt die Phänomenologie soweit treibt, jene Phänomene in Betracht zu ziehen, die sich geben, ohne sich zu zeigen, indem sie sich zeigen, dann lässt sich nicht erkennen, wie dabei von ihrer Wirklichkeit abgesehen werden kann. Mit anderen Worten: Marions Phänomenologie verdeutlicht, dass die Eucharistie ein Phänomen ist, welches so sehr sui generis ist, dass es erforderlich wird, die Phänomendefinition zu überdenken. Ein Phänomen ist nicht nur »das, was sich entsprechend dem zeigt, wie es sich gibt«, sondern auch »das, was entsprechend dem, wie es sich gibt, sich offenbart« 24. Dann aber ist die äußerste Möglichkeit der Phänomenologie nicht mehr das aufgegebene Phänomen (d. h. das, was gegeben ist, ohne sich zu zeigen), sondern das Offenbarungsphänomen, welches, da es ein Phänomen ist, das sich zeigt bzw. sich phänomenalisiert, nicht gedacht werden kann, ohne sei23 24
Ebd., 147 f. Ders., Étant donné, 342.
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ne Wirklichkeit, d. h. die konkrete und wirkliche Weise, in welcher es sich zeigt, zu berücksichtigen. Wenn dem so ist (was noch zu überprüfen sein wird), dann kann man (wiederum nur als bloße Hypothese) annehmen, dass sich in Marions Phänomenologie der Gegebenheit der Raum für ein anderes Verhältnis zwischen Theologie und Philosophie eröffnet, und zwar gerade ausgehend von der Frage nach der äußersten Grenze philosophischen Denkens. 25 Marions eigene Worte paraphrasierend gesagt: die Phänomenologie kann sich nicht darauf beschränken zu sagen, dass eine Offenbarung, wenn sie stattfände, gemäß dem Wesensgesetz von Phänomenalität die Gestalt der Möglichkeit des Unmöglichen annähme, sondern sie muss sagen, dass aufgrund der Tatsache, dass Offenbarung wirklich stattgefunden hat, das Wesensgesetz der Phänomenalität überdacht werden muss. Daraus ergeben sich auf diese Weise gleichsam die Bedingungen dafür, dass sich der Versuch, die Eucharistie philosophisch zu denken, in den Versuch umkehrt, die Philosophie eucharistisch zu denken. In diesem Sinne treffen wir also wieder auf das, was als das Paradox der Grenze zwischen Philosophie und Theologie scheinen konnte: die Eucharistie philosophisch zu denken, führt dazu, diese Grenze zu beseitigen, ohne auf sie zu verzichten (denn die Beseitigung des voreiligen Ausschlusses der Offenbarungsphänomene aus dem Feld der Phänomenalität verhindert es nicht, dass hinsichtlich des Verhältnisses von Wirklichkeit und Möglichkeit ein Unterschied zur Theologie festgelegt wird); die Philosophie eucharistisch zu denken, führt dazu, auf die Grenze zu verzichten, ohne sie zu beseitigen (denn die eucharistische Neuinterpretation des Wesensgesetzes von Phänomenalität beseitigt nicht die Tatsache, dass nur die Autorität Christi die Wirklichkeit des Brotes und des Weins der Eucharistie garantiert). Auf diese Weise trifft man also sozusagen wieder auf die Reziprozität zwischen dem Versuch, die Eucharistie philosophisch zu denken, und dem Versuch, die Philosophie eucharistisch zu denken, eine Reziprozität, von der wir gesehen haben, dass sie aus der Konvergenz des Grenzproblems philosophischen Denkens mit dem Problem des Verhältnisses von Philosophie und Theologie entsteht. »Wenn die Offenbarung Gottes als eines Sich-Zeigenden, das von sich selbst ausgeht, jemals tatsächlich stattfinden kann, dann muss die Phänomenologie ihre eigenen Grenzen neu definieren und lernen, sie nach einem klaren und strengen Vorgehen zu überschreiten«: ebd., 336.
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III. Jetzt geht es darum zu überprüfen, ob sich diese enge Korrelation auch im Denken von Emmanuel Falque ausmachen lässt, insofern dessen Reflexion über die Grenze wesentlich zu seiner Untersuchung zur Eucharistie mit dem Titel Les Noces de l’Agneau 26 gehört, in den Überlegungen dort das Verhältnis von Philosophie und Theologie konzipiert wird. Der als dritter Band einer Trilogie gedachte Band Les Noces de l’Agneau hat mit den beiden anderen Bänden 27 die Absicht gemein, Philosophie und Theologie ausgehend von dem Bewusstsein in Dialog zu bringen, dass es zwar einerseits keine rigide und vollkommen geschlossene Grenze zwischen diesen beiden Disziplinen gibt und geben darf, dass aber andererseits eine Unterscheidung zumindest methodologischer Art zwischen diesen beiden Disziplinen beibehalten werden muss. Man könnte sagen, dass sich hier der Versuch vorfindet, philosophierend Theologie zu betreiben, dem jedoch die Überzeugung zugrunde liegt, dass das Betreiben von Theologie nicht umhinkommt, auch eine Art Initiation in die Philosophie zu sein. Philosophie und Theologie unterscheiden sich nämlich nicht so sehr inhaltlich, sondern sie besitzen einen notwendig methodologischen Unterschied, d. h. vor allem einen Unterschied hinsichtlich ihres Weges. Schematisierend könnte man sagen, dass es sich dabei um einen Weg von unten bzw. von oben handelt. Zunächst einmal gilt es für Falque anzuerkennen, dass es von unten (d. h. philosophisch) keinen Weg, keine Öffnung zur Transzendenz, kein Gottesbegehren gibt: es gibt nur den geschlossenen Horizont unserer Endlichkeit. Von oben (d. h. von der Theologie) wird es solange, wie man darauf beharrt, über das Verhältnis von Gott und Mensch so zu sprechen, als sei dieses Verhältnis schon von vornherein (auf Grundlage gegebener Dogmen) geklärt, niemals gelingen, den Eindruck auszulöschen, das anthropologische Moment in der Theologie sei im wesentlichen irrelevant. 28 Dieser Sachverhalt, welcher Theologie 26 E. Falque, Les noces de l’Agneau. Essai philosophique sur le corps et l’eucharistie, Cerf, Paris 2011. 27 Ders., Le passeur de Gethsémani. Angoisse, souffrance et mort. Lecture existentielle et phénoménologique, Cerf, Paris 2004; Ders., Métamorphose de la finitude. Essai philosophique sur la naissance et la résurrection, Cerf, Paris 2004. 28 »Dass der Mensch zum Ebenbild Gottes geschaffen worden ist: es mag so sein. Dass
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und Philosophie (und Gott und den Menschen) zur radikalsten Trennung zu verbannen scheint, ist jedoch nicht endgültig. Das Ereignis der Inkarnation Gottes und vor allem seiner Auferstehung »verändert alles« 29, und es verändert somit auch das Verhältnis von Philosophie und Theologie. Wie geschieht dies? Kurz gesagt so: auf der Grundlage der Voraussetzung, dass »wir keine andere Erfahrung von Gott haben als die vom Menschen« 30, gilt es anzuerkennen, dass der Mensch (und mithin die Philosophie), eben weil Gott Mensch geworden ist und sich auch bei seiner Auferstehung als Mensch gezeigt hat, durch die Menschlichkeit des Menschen (des Menschen Jesus Christus) von jeher die Möglichkeit hat, in Ihm Zugang zu Gott zu haben. Dementsprechend könne jeder Mensch in Gott selbst (und somit auch die Philosophie in Theologie) verwandelt werden. 31 Das Ereignis der Auferstehung Christi verändert also wirklich alles! Der Mensch entdeckt in sich selbst eine unvorstellbare und undenkbare Möglichkeit: er entdeckt, dass er fähig ist, Gott aufzunehmen, und zwar nicht etwa dadurch, dass er Gott auf das Niveau unserer Endlichkeit herabsetzt, sondern dadurch, dass Gott selbst diese unsere Endlichkeit in sich aufgenommen und verwandelt hat. Dadurch dass der dreieinige Gott sich des Menschen und der Endlichkeit desselben annimmt, vollzieht sich eine Konversion und Verwandlung des Menschen in Gott, die mit der Konversion und Verwandlung der Philosophie in Theologie einhergeht. Die durch die Theologie verwandelte Philosophie entdeckt nämlich, dass sie des Unvorstellbaren fähig ist: wir davon noch ein Zeichen tragen wie dasjenige, ›mit dem der Künstler sein Werk signiert‹ : warum nicht. Aber dass unser Unbefriedigtsein oder unsere Veranlagung zum Glück solcherart sind, dass der Mensch niemals eine andere ›Seinsweise‹ hat als die, sich (dem somit notwendig gewordenen) Gott zu öffnen, und dass Gott niemals eine andere ›Seinsweise‹ hat als die, sich dem Menschen hinzugeben (so dass er sich als unzugänglich erweist), das versteht sich heute nicht mehr von selbst«: ders., Métamorphose de la finitude, 40 f. 29 Ebd., Kap. V: La résurrection change tout, a. a. O., 111–140. 30 Ebd., 37, 49 etc. 31 »Übrig bleibt jedoch, dass in der durch den Gottmenschen verwirklichten Überlappung bzw. Einbeziehung von Menschen und Gott (und mithin von Philosophie und Theologie in der Christologie) zugleich eine Konversion des Menschen in Gott stattfindet, nämlich durch die Auferstehung als Einverleibung des Menschlichen ins Göttliche (und mithin der Philosophie in die Trinitätstheologie)«: Ders., »Tuilage et conversion de la philosophie par la théologie«, in: E. Falque – A. Zielinski (Hg.), Philosophie et théologie en dialogue 1996–2006. LIPT une trace, L’Harmattan, Paris 2005, 53.
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nämlich das, was sie stets gedacht hat, auf andere Weise zu denken. Die Philosophie, so könnte man sagen, findet sich durch die Theologie verwandelt bzw. konvertiert, weil sie in der Auferstehung ihren Sinn und ihren letzten Zweck wiederfindet, obgleich sie sich dessen bewusst bleibt, dass sie dies nicht einmal erwartet hat. 32 Man kann sagen, dass ein vollkommener Parallelismus in der Weise besteht, in welcher der Mensch wie auch die Philosophie durch das Ereignis der Auferstehung Christi eschatologisch überrascht werden: beide werden verwandelt und konvertiert, indem sie die Möglichkeit erhalten, zu demjenigen Zugang zu bekommen, was ihnen ansonsten verschlossen bliebe. Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet ist Falques Idee also klar: die Philosophie wird durch den Kontakt mit der Theologie verwandelt und konvertiert, insofern »nicht etwa die Philosophie den Weg der Theologie wählt, sondern die Theologie selbst vielmehr die Philosophie zu der Ehre erhebt, an ihre Seite geladen zu werden« 33. Und diese aus der Einladung seitens der Theologie stammende Konversion erlaubt es der Philosophie, die Möglichkeit wiederzufinden, dasjenige anders und neu zu denken, was sie als solche zum Gegenstand hat: die Angst und das Leiden (Le passeur de Gethsémani), die Geburt und die Endlichkeit (Métamorphose de la finitude). An dieser Stelle gilt es jedoch, eine Frage zu stellen: Worin besteht in diesem Modell das Spezifikum der Eucharistie? Ist sie Bestandteil des eben dargestellten Schemas oder besitzt sie eine Originalität, die Falques Projekt noch stärker und eindringlicher werden lässt? Anders gesagt: zu welcher Art von Konversion ist die Philosophie berufen, wenn sie in ein Verhältnis zur Eucharistie tritt? Handelt es sich um die gleiche Konversion wie in Le passeur de Gethsémani und in Métamorphose de la finitude, oder gibt es da etwas Besonderes, ein Spezifikum? Die Antwort darauf gibt Falque selbst: »Im ›Leiden‹ nämlich sind wie auch in der ›Auferstehung‹ die philosophischen Existenzialien direkt in ihren dogmatischen Entsprechungen gegeben, um sodann transformiert zu werden […] Im Falle der Eucharistie dagegen (Les Noces de l’Agneau) harrt die sich darauf beziehende Erfahrung noch »Der Philosoph verspürt kein unmittelbares Verlangen nach dem Absoluten, sondern danach, schlicht und einfach sein Bedürfnis nach Menschlichkeit im bloßen Respekt vor dem Menschen zu befriedigen. Allein der Theologe verlangt mehr, indem er ihn zu einer ebenso unerwarteten wie radikal neuen Konversion hinzieht und darin über ihn hinausgeht: gemeint ist damit die Auferstehung selbst«: Ebd., 54–55. 33 Ebd., 50. 32
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einer Formulierung« 34. Dies ist es also, worin Falque zufolge die Besonderheit, die Eigentümlichkeit der Eucharistie und somit einer Philosophie der Eucharistie besteht. Es handelt sich nicht nur darum, von der Theologie die Möglichkeit zu erhalten, dasjenige neu zu denken, was bereits gedacht worden ist, sondern die Möglichkeit entgegen zu nehmen, dasjenige zu denken, was noch nicht gedacht worden ist, was in gewisser Hinsicht daher ungedacht geblieben ist. Dies wird von Falque auf der Grundlage der Tatsache bestimmt, dass die Eucharistie »dasjenige untersucht, was der Sphäre der Animalität in der Gestalt des Opferlamms angehört« 35. Wie man sieht, besteht die Herausforderung, der sich Falques Philosophie der Eucharistie stellt, also tatsächlich darin, den schwierigeren Versuch zu unternehmen, die Philosophie eucharistisch zu denken, da die eucharistische Gestalt des Opferlamms der Philosophie die Möglichkeit bietet, das zu denken, was philosophisch ungedacht geblieben ist. Während also Passion und Auferstehung Christi der Philosophie die Möglichkeit geben, Angst, Leiden, Geburt und Endlichkeit neu zu denken (alles Themen, über die die Philosophie schon von sich aus nachgedacht hat), dann bietet die Eucharistie Falque zufolge die Möglichkeit, das zu denken, was noch nicht gedacht worden ist: die Animalität des menschlichen Körpers. Damit stellt sich aber zwingend die Frage, ob es Falque zufolge ungedacht ist, weil es noch nicht gedacht worden ist oder weil es philosophisch undenkbar ist. Es ist sehr wichtig, diese Frage zu beantworten, denn sie erlaubt es auch zu verstehen, inwieweit Falques Denkentwurf ein philosophischer Denkentwurf ist und somit einem Versuch gleichkommt, die Eucharistie philosophisch zu denken. Wenn nämlich das Ungedachte deswegen ungedacht ist, weil es philosophisch undenkbar ist, dann gibt es keinen Raum dafür, um philosophisch über die Eucharistie nachzudenken; wenn es dagegen deswegen ungedacht ist, weil es noch nicht gedacht worden ist, dann kommt Falques Denkentwurf dem Versuch gleich, der Philosophie (auf theologischem Weg) einen eigenen Raum zu eröffnen, um die Eucharistie zu denken. In dem Kapitel, in dem er die methodologischen Koordinaten seiner Untersuchung über die Animalität herausarbeitet, stellt sich Falque diese Frage nicht in den von mir gewählten Worten. Er behauptet, der 34 35
Ders., Les noces de l’Agneau, a. a. O., 36. Ebd.
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Versuch, die Animalität zu denken, bedeute bis an die Grenze zu philosophieren, d. h. »weder ›im strengen Sinne zu philosophieren‹ noch ›außerhalb der Philosophie zu philosophieren‹, sondern im Gegenteil nur ›die Grenzen der Philosophie zu berühren‹, indem man sich zu dem hinbewegt, was sie [die Philosophie] nicht gesehen hatte, um dann all das anders zu sehen, was sie nicht gesehen hatte« 36. Mit Falques Worten gesagt besteht die theologische Konversion der Philosophie bei ihrem Kontakt mit der Eucharistie also darin, zu sehen, was man bisher nicht gesehen hat, um dasjenige neu zu sehen, was man bereits gesehen hat, einen Bereich, den Falque anschließend – in heideggerschen Worten 37 – als ein Sich-Hinneigen zum »Bezirk des Nichtmehrzusagenden (le district de ce que l’on-ne-peut-plus-dire)« 38 charakterisiert: dorthin, wo Chaos und Abgründiges (gegeben) ist, das irreduzibel ist und unmöglich gesehen oder zum Ausdruck gebracht werden kann. Dies ist es, was Falque die wahre und eigentliche Grenze der Phänomenologie nennt, nämlich jenen Bezirk, der, weil er irreduzibel ist und unmöglich zum Ausdruck gebracht werden kann, nicht einmal von der Phänomenologie wahrgenommen werden kann, da er von der Phänomenologie jederzeit zum Gegenstand einer Reduktion gemacht würde, die sich auf seine Bezeichnung als Gegenstand, Seiendes, Bewusstseinserlebnis, aber auch und vor allem als bloße Gegebenheit ausrichtet. Die Phänomenologie kann daher Falque zufolge diesen Bezirk nicht nur deshalb nicht anvisieren, weil ihr das Anvisieren dieses Phänomens (la visée de ce phénomène) verschlossen ist, sondern auch deshalb nicht, weil das Phänomen des Anvisierens selbst (le phénomène même de la visée) sich ständig der Invasion des Chaos entzieht. Sich dem Bezirk des Chaos hinzuneigen besteht für Falque von diesem Gesichtspunkt aus gesehen weder in dem Versuch, das Undenkbare zu denken, noch in dem Versuch, das Unsichtbare zu sehen, und auch nicht in dem Versuch, das Unausdrückbare zum Ausdruck zu bringen, da all diese Versuche gleichsam den Anspruch implizieren, das begrenzte Phänomen (Chaos) in die Grenzen (man entschuldige mir das Wortspiel) einer Bezeichnung zurückzuführen (und somit zu reduzieEbd., 39–40. »[…] Oder beginnt hier der Bezirk des Nichtmehrzusagenden und jenes Verzichts, wo über seiend, unseiend und nichtseiend nicht mehr oder noch nicht entschieden werden kann?«: M. Heidegger, Nietzsche, Bd. I. Abteilung: veröffentliche Schriften 1910– 1976, GA, Bd. 6.1, 1996, 508. 38 Falque, Les noces de l’Agneau, 52, 54, 60, 68. 36 37
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ren), – einer Bezeichnung, die zwar mit umgekehrten Vorzeichen arbeitet, aber gleichwohl – unmögliche, unsichtbare, undenkbare – Bezeichung bleibt: »Chaos ist dagegen Invasion, Unmöglichkeit, das ›Gewirr von Empfindungen‹ zu ertragen, und zwar nicht nur deshalb, weil es den Rahmen des Erträglichen sprengt, um es auf andere Weise zu bezeichnen (das ›gesättigte Phänomen‹), sondern dadurch, dass es umgekehrt offenbart, dass es nicht dazu gelangt, sich formulieren zu lassen (das ›begrenzte Phänomen‹)« 39. Das Neue in Les Noces de l’Agneau gegenüber den beiden anderen Bänden von Falques Triptychon besteht also hierin: die Eucharistie gewährt der Philosophie die Möglichkeit, vom Bezirk des Nichtmehrzusagenden zu sprechen, von dem, was ungedacht geblieben ist. Wie ich zuvor gesagt habe, geht es jedoch nicht darum, das Undenkbare zu denken, weil dadurch der Bezirk des Nichtmehrzusagenden in den Bereich des Bezeichnens zurückgeführt würde. Wie kann man also Falque zufolge von diesem Bezirk sprechen? Nur auf eine Weise, die theologisch und philosophisch zugleich ist, oder besser: auf eine Weise, die philosophisch ist, weil sie theologisch ist, da das methodologische Kriterium hierzu vorzüglich theologischer Art ist: die biblische Gestalt des Opferlamms als Ort und Bereich unserer von Gott angenommenen und konvertierten Animalität, d. h. die Tatsache, dass sich Gott unserer Animalität angenommen hat. Tatsächlich betont Falque in allen Teilen seines Werks immer wieder, dass es bei Animalität um diejenige Dimension des Menschen geht, die – insofern sie Falque zufolge von der Philosophie niemals in Betracht gezogen worden ist – dazu berufen ist, in dem die Eucharistie stiftenden Akt Christi angenommen und konvertiert zu werden. Das begrenzte Phänomen deutet daher eben auf diesen Bezirk, in dem die Philosophie durch die Theologie eine neue Identität erhält. Aus diesem Grund ist die Grenze zwischen diesen beiden Disziplinen radikal beseitigt: es gibt keinen Punkt, wo die Philosophie aufhört und die Theologie anfängt, aber es gibt sozusagen einen Punkt bzw. eine Grenze, wo (diesseits oder jenseits) 40 neues Denken anfängt, das eine Wertigkeit besitzt, die zuEbd., 57. Diesbezüglich ist eine Anmerkung zu einem Detail in Falques Text nötig, das vielleicht eine signifikante Unentschlossenheit offenbaren könnte: auf Seite 52 heißt es anknüpfend an Frank, dass das begrenzte Phänomen ein »Jenseits« der Phänomenologie darstellt, während auf Seite 61 behauptet wird, dass das Erreichen der Grenzen des Phänomens bedeute, »das Feld eines Diesseits der Phänomenologie zu eröffnen«.
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gleich theologischer und philosophischer, aber radikaler noch eucharistischer Art ist, da nur der die Eucharistie stiftende Akt etwas über seinen Bezirk aussagt. Wir stehen so vor einem Denken, das, indem es über die Grenze der Philosophie nachdenkt, die Grenze zwischen Philosophie und Theologie beseitigt, da es sich in einem Bezirk entfaltet, in dem das Problem der Grenzen zwischen Philosophie und Theologie abwesend ist, das aber nur theologisch, d. h. genauer gesagt: eucharistisch erreicht werden kann. Es handelt sich also um einen radikalen Versuch, die Philosophie eucharistisch zu denken, wobei das Problem der Grenze eben gerade durch unsere Eingangsformulierung gegeben ist: man verzichtet darauf, eine Grenze zu denken, aber paradoxerweise beseitigt man die Grenze nicht, denn erklärt wird, dass der Zugang zu dem Bezirk nur streng theologisch und also eben nicht philosophisch möglich ist. An dieser Stelle scheint es somit, um die zuvor von uns gestellte Frage zu beantworten, dass das Ungedachte, das der Philosophie von der Eucharistie dargeboten wird, deswegen ungedacht ist, weil es philosophisch undenkbar ist; dementsprechend scheint Falques Projekt immer mehr die Form eines Versuchs anzunehmen, die Philosophie eucharistisch zu denken, und sich ipso facto vielleicht von der Suche nach einem philosophischen Denken der Eucharistie zu entfernen. Dieses Ergebnis gilt es jedoch zu präzisieren, da Falque bislang den Bezirk des Nichtmehrzusagenden nicht als philosophisch undenkbar, sondern nur als phänomenologisch undenkbar dargestellt hat und somit offenbar zu verstehen gibt, dass vielleicht eine sozusagen post-phänomenologische (bzw. prä-phänomenologische) Möglichkeit besteht, diesen Bezirk (philosophisch?) zu denken. Wenn dem so wäre, dann könnte Falques Denkentwurf vollständige Zugehörigkeit zur Philosophie beanspruchen und müsste sich nicht auf eine bloß philosophische Theologie reduzieren lassen. Wir sind der Auffassung, dass dieser Anspruch in Falques Text präsent ist und wir glauben, dies eben der Art und Weise entnehmen zu können, wie die Untersuchung des begrenzten Phänomens für Falque nicht nur die eucharistische Einverleibung des Menschen in Gott, sondern auch den Versuch eines genuin philosophischen Denkens zugänglich macht. 41 Nebenbei bemerkt gilt es zu berücksichtigen, dass diese genuin philosophische Wendung von Falque explizit gewollt ist, da ja im Titel davon die Rede ist, dass Les noces de l’Agneau ein »philosophischer Essay über den Leib und die Eucharistie« (Essai philoso-
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Abgesehen davon gilt es jedenfalls über die Tatsache nachzudenken, dass Animalität in Falques Denken Teil des Bezirks des Nichtmehrzusagenden ist und somit in gewisser Weise ein instabiles Element im phänomenologischen Denken darstellt: sie ist immer unausweichlich chaotisch und erreicht daher nie die Permanenz eines Phänomens, d. h. die Permanenz dessen, was Phänomenologie an sich im Ausgang von einer gegebenen Anschauung erfassen will. Daher kann man sagen, dass die Chaotizität der Animalität dasjenige ist, was erfordert ist, um die Animalität selbst von allen anderen, möglichen und unmöglichen Phänomenen unterscheiden zu können. All dies stellt für Falque nicht nur keinen Einwand dar, sondern konstituiert vielmehr eine Ressource, die ihm die Behauptung gestattet, Christologie nehme sich dieser Animalität an, und die Legitimierung dafür gibt, in der Eucharistie den Schlüssel zu sehen, der den Zugang zum Chaos, d. h. zu demjenigen, was außerhalb jeglichen (möglichen oder unmöglichen) phänomenologischen Bezeichnens liegt, ermöglicht. Folglich besteht für Falque die einzige Art und Weise, die Chaotizität der Animalität philosophisch zu denken, darin, die Animalität selbst zur Sprache kommen zu lassen, d. h. »zu sehen, was das biologische Leben in uns und nahezu ohne uns verwirklicht« 42, bzw. – mit den Worten Nietzsches gesagt – von der Tatsache auszugehen, »dass zunächst einmal der Leib philosophiert« 43: der Leib leibt. All dies ausgehend von der »absolut unausweichlichen Evidenz« 44, dass ich Tier bin. Somit jedoch versteht es sich von selbst, dass die Möglichkeit, die Chaotizität der Animalität philosophisch zu denken, nur in zweierlei Weise verwirklicht werden kann: entweder man schreibt (wiederum theologisch) die Animalität auch Gott, dem chaotischen Schöpfer, zu, oder aber man animalisiert das philosophische Denken. Falque oszilliert meiner Meinung nach zwischen diesen beiden Positionen: Er insinuiert die Idee eines chaotischen Schöpfers, wenn er von der Liebe zur Grenze spricht, und er animalisiert die Philosophie vor allem mit
phique sur le corps et l’eucharistie) ist und nicht etwa ein leiblicher (verleiblichender) und eucharistischer Essay über die Philosophie. Falque selbst versteht sein Buch also als einen Versuch, die Eucharistie philosophisch zu denken, andernfalls müsste er den Titel seines Buches ändern. 42 Falque, Les noces de l’Agneau, a. a. O., 62. 43 Ebd., 63. 44 Ebd., 129.
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der Idee, dass der Leib philosophiert. Diese beiden Aspekte verweisen aufeinander. Angesichts der zuvor herausgestellten Tatsache, dass der Zugang zum Bezirk des Nichtmehrzusagenden vorzüglich theologischer Art ist, ist die Aussage, »zunächst einmal philosophiere der Leib«, unausweichlich funktional zur Behauptung, die Eucharistie nehme das Chaos an. Dann aber versteht es sich von selbst, dass die Idee, dass der Leib philosophiert, Gefahr läuft, das Chaos nicht an sich zu erfassen, sondern es ausgehend von der Reduktion der Chaoserfahrung auf die Kriterien der Eucharistie zu rekonstruieren. Dies zu vermeiden ist nur dann möglich, wenn man das, was Chaos an sich ist, mit dem identifiziert, in was es durch die Eucharistie verwandelt wird. Beweis dafür ist meiner Ansicht nach die Tatsache, dass Falque die Frage, warum Gott die Welt und den Menschen derart erschaffen hat, dass sie in der Eucharistie wiedererschaffen und rekapituliert werden müssen, dahingehend beantwortet, dass nicht nur der Mensch, sondern vor allem auch Gott die Grenze liebt. 45 Es ist daher offensichtlich, dass auf diese Weise das chaotische und begrenzte Phänomen tatsächlich von Gott als chaotisch und begrenzt gewollt ist, und nicht umsonst wird die Tatsache, dass sich die Eucharistie dessen annimmt, als ein Wiedererschaffen bezeichnet. Für Falque erfasst daher die Philosophie des Leibes, in der die von Gott erschaffene und wiedererschaffene chaotische Animalität des Menschen zur Sprache kommt, wirklich die res des Chaos; daher gilt es, das Denken selbst zu animalisieren durch die Erklärung, dass zu erkennen bedeutet, animalisch zu erkennen, so dass man, wann immer man versucht, einen Bereich des Chaos zu erkennen, so vorgehen muss, wie der Leib philosopiert, d. h. auf solche Weise, dass man hinsichtlich seiner »Inhalte« nichts voraussetzt, was durch Bezeichnen gedacht werden kann. Mit anderen Worten, es handelt sich stets darum, das Bezeichnen zu unterdrücken und eine Weise der Erkenntnis zu entwickeln, die vom Bezeichnen abstrahiert und die dadurch hervorgerufene (mögliche oder unmögliche) Bestimmung überwindet. Man legt also a priori die Parameter dessen fest, was in der animalischen »Warum also erschaffen, was Gott selbst bereits gemacht hatte, wenn die Handlung der Eucharistie in gewisser Weise wiedererschafft oder vielmehr rekapituliert? […] Darauf gibt es nur eine Antwort. Im Hinblick auf die Liebe zur und den Respekts vor der Grenze«: Ebd., 248 f. 45
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Erfahrung des Chaos schon vorher (a priori) die Forderung der Chaotizität erfüllt, die schließlich ins Chaos selbst übergeht. Gelingt es aber der Philosophie des L e i b e s auf diese Weise, das Chaos an sich zu erfassen, oder wird es nicht vielmehr durch eine Rekonstruktion ersetzt, die durch die Kriterien der Chaotizität vorgegeben wird, die epistemologisch denen des Bezeichnens entgegen stehen und theologisch aufgrund der Voraussetzung eines chaotischen Schöpfergottes definiert worden sind? Es ist nicht leicht, auf diese Frage zu antworten, vor allem für mich als Theologen nicht. Ich kann nur versuchen, die zuerst gestellte Frage zu beantworten, ob dies der Weg ist, der Falque zufolge beschritten werden muss, damit die Philosophie den Bezirk des Nichtmehrzusagenden autonom denken kann. Ich glaube ja: die Philosophie des L e i b e s ist jenes post-phänomenologische (bzw. prä-phänomenologische) Denken, das Falque zufolge geeignet ist, um auf authentisch philosophische Weise den Bezirk des Nichtmehrzusagenden zu denken. Ist aber dies auch das geeignete Instrument, um auf streng philosophische Weise all dasjenige zu denken, was diesem Bezirk angehört, also auch die eucharistische Rekapitulation? Auf diese Frage weiß ich nicht zu antworten, und zwar auch deswegen nicht, weil Falque diesen Ansatz nicht explizit weiterverfolgt hat, sondern ihn meiner Ansicht nach im Hintergrund gelassen hat. Sein Denkentwurf erscheint daher meiner Einschätzung nach eher als ein Versuch, die Philosophie eucharistisch zu denken, denn als ein Versuch, die Eucharistie philosophisch zu denken: ein Versuch, der vortrefflich die Tatsache bestätigt, dass die Philosophie, wenn sie die Eucharistie in Betracht zieht, immer dazu aufgerufen ist, die Frage des Verhältnisses zwischen Philosophie und Theologie zu überdenken, und dabei vor allem durch die Eucharistie dazu provoziert wird, auch die eigenen Grenzen zu bedenken.
IV. An diesem Punkt meiner Ausführungen angelangt, glaube ich, dass allen offensichtlich sein dürfte, dass mein Vortrag den Fragen gegenüber den Antworten den Vorrang einräumt. Die Fragen, die gestellt worden sind, sind jedoch nicht bloß rhetorischer Art. Indem sie das Phänomen sui generis der Eucharistie in Betracht ziehen, wird der Theologie seitens der Philosophie und besonders der Phänomenologie 233 https://doi.org/10.5771/9783495808405 .
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vieles geboten, über das sie nachdenken und meditieren muss. Gleichfalls glaube ich, dass auch die Philosophie viel Gewinn daraus schöpfen kann, wenn sie der Theologie Gehör schenkt. Ich beziehe mich dabei insbesondere auf dasjenige, was die zeitgenössische Theologie nahezu einmütig mit Nachdruck heraushebt: der Zugangspunkt zur Eucharistie ist die liturgische Handlung. Die Eucharistie ist noch vor den Definitionen, die das Lehramt und die Theologie davon im Lauf der Jahrhunderte gegeben haben, vor allem eine zelebrative Handlung mit rituellen und symbolischen Charakteristiken. Könnte dies nicht ein guter Ausgangspunkt sein, um eine Philosophie der Eucharistie zu denken? Ich glaube, dass man dann, wenn man diese Provokation akzeptiert, nicht auf philosophische Strenge verzichten und sich dem Vorwurf aussetzen muss, weder Philosophie noch Theologie (überhaupt) zu betreiben. Auch glaube ich nicht, dass man dadurch, dass man vom Handlungscharakter der Eucharistie ausgeht, die Philosophie dazu verpflichtet, eine hermeneutische Haltung anzunehmen. Von der liturgischen Handlung zu sprechen, bedeutet lediglich, den rituell-symbolischen Modus zu beteuern, in dem die (theologische) Transzendenz des dreieinigen Gottes durch ihre Offenbarung das von Christus bewirkte Heil dem Menschen wirklich teilhaftig werden lässt. Mit einem Sakrament hat es nur dann etwas auf sich, wenn man die Handlung Gottes und des Menschen berücksichtigt, da der einzigartige Modus, in dem Gottes Heil dem Menschen durch die sakramentale Handlung teilhaftig wird, menschliche Freiheit nicht nur nicht suspendiert, sondern die ihr innewohnende Notwendigkeitsdimension bewahrt: die Selbstmitteilung Gottes impliziert nicht, menschliche Kontingenz einzuklammern oder in Misskredit zu bringen, weil der eigentliche Ort von Aussagen über Gott die geschichtliche Erfahrung ist, welche in der Zelebration den privilegierten Ort findet, um sich in Form ritueller und symbolischer Handlung auszudrücken. Wenn dies wahr ist, dann bewahrt die sakramentale Manifestation Gottes – also die sich in der Handlung manifestierende Herrlichkeit Gottes – dasjenige in sich, was dem Menschen gestattet, sich in Form einer Freiheit um sich selbst zu kümmern, die dazu berufen ist, die authentische Gestalt der eigenen Menschheit frei zu bestimmen. Daher wird es nicht mehr nötig sein, sich zu fragen, was der Mensch (oder die Philosophie) von der Eucharistie denken oder nicht denken kann oder was die Eucharistie dem Menschen (oder der Philosophie) sagen oder nicht sagen kann. Eucharistie bedeutet, diejenige 234 https://doi.org/10.5771/9783495808405 .
Philosophie der Eucharistie
Handlung zu beteuern, bei der die Elemente – die es kontinuierlich in ihrer Einheit ohne Aufgabe ihres Unterschiedes zu denken gilt – Gottes Transzendenz und die freie Selbstbestimmung des Menschen sind, also wenn wir so wollen, Theologie und Philosophie.
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Florian Bruckmann
Leib und Zeit – Ein Versuch über die Transzendentalität des Fleisches
Für Georg W. F. Hegel ist klar, dass nur die Philosophie freies Denken ist, weil nur sie sich mit dem Denken an sich beschäftigt, wohingegen alle anderen Wissenschaften sich das Nachdenken von dem bestimmen lassen müssen, worüber nachgedacht wird. 1 Das Christentum denkt gerne nach, weil es auf die Selbstoffenbarung Gottes in menschlichen Worten verwiesen ist. Diese gibt zu denken. Religion ist somit ein Reflexionsprozess, ein Nachdenken und Antworten auf ein zuerst Gehörtes, Gesehenes, Erfahrenes. Auch wenn sich das Christentum selbst als einen Nachhall, als das Echo der Offenbarung versteht, bleibt die Frage, ob nicht nur es selbst nachdenkt, sondern ob es selbst zum Denken anregt. Zweifelsohne haben sich fast unzählig viele Menschen Gedanken über die Offenbarung gemacht, was aber nicht von der Frage dispensiert. Sie konkretisiert sich in drei Teilfragen: Was gibt das Christentum zu denken? Wie verändert das Christentum das Denken? Lässt sich Christentum denken? Leider können die gestellten Fragen im vorliegenden Zusammenhang nicht annähernd befriedigend behandelt werden. Deshalb soll nur ein Gedanke des Christentums in den Blick genommen werden, der allerdings zentral für die christliche Weltsicht ist. Dieser Gedanke wird vom Johannesevangelisten in sehr einfache Worte gekleidet: »ὁ λόγοϚ σὰρξ ἐγένετο – Das Wort ist Fleisch geworden.« (Joh 1,14) Mit diesen schlichten vier Worten wird im Prolog des Johannesevangeliums der Gedanke der Inkarnation, also der Fleischwerdung des göttlichen Logos ausgedrückt. Dieser Gedanke ist ungeheuerlich; ihn in Worte zu fassen
1 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philophie, hg. v. Walter Jaeschke, (Philosophische Bibliothek 439), Hamburg 1993, 279: »Nur die Philosophie ist das freie, unbeschränkte, reine Denken […] Die Philosophie hat also den Gedanken selbst zum Gegenstand. Es ist also der Geist frei, indem das Denken mit sich beschäftigt, also bei sich ist.«
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Leib und Zeit – Ein Versuch über die Transzendentalität des Fleisches
ist fast noch ungeheuerlicher. Leider wird dies (in unseren Tagen und in unseren Breitengraden) fast nicht mehr wahrgenommen. Entweder sprechen Denkerinnen und Denker nicht (mehr) über das Christentum oder sie sprechen nur (noch) über die Soziologie des Christentums, aber nicht mehr über seine Inhalte. Oder man spricht vor allem als Christin und als Christ über das Christentum, dann aber meist über medienwirksame Themen. Die Inkarnation gehört selten zu den Dingen, nach denen man gefragt wird, wenn man sich als Theologe oder Christ zu erkennen gibt. Dies ist eigentlich verwunderlich, weil es wirklich nicht auf der Hand liegt, zu denken, dass der göttliche Logos Mensch geworden ist und deshalb in Jesus von Nazareth sowohl die göttliche als auch die menschliche Natur unvermischt und ungetrennt erkannt werden können. 2 Die gerade gewählte Formulierung der Verhältnisbestimmung zwischen göttlicher und menschlicher Natur in der einen Hypostase Jesus Christus entstammt dem Konzil von Chalkedon (451) und sie macht deutlich, dass es sich hier um einen Erkenntnisvorgang handelt: Die zwei Naturen sind in Jesus Christus erkennbar (γνωριζόμενον) und deshalb und nur deshalb bezeug- und aussagbar. 3 Sofort stellt sich an diesem Punkt die Frage, was Menschen von Gott erkennen können und wie sie von Gott sprechen können, ohne ihn dadurch auf ihr menschliches Sprach- und Denkniveau zu depotenzieren: Denkt das Christentum Gott »nur« als den Inkarnierten, ohne damit etwas über Gott selbst auszusagen, weil er nur im menschlichen Gewand gedacht wird? Wie kann der inkarnierte Logos als Selbstoffenbarung Gottes verstanden werden, so dass er weder als bloßer Mensch noch als auf Erden wandelnder und mit menschlichem Fleisch ummantelter Gott gedacht wird? Wie kann also ein konkretes menschliches Leben als Selbstaussage Gottes gedacht werden? Mit dem angedeuteten Problem der Depotenzierung hängt wiederum das biblische Bilderverbot zusammen und aufgrund des Erkenntniszusammenhanges die Frage, ob Gott sich selbst dem Menschen so offenbaren kann, dass dieser ihn verstehen kann. Kein Mensch kann Gott sehen und am Leben bleiben, weil die Herrlichkeit Gottes jedes menschliche Denk- und Erkenntnisvermögen übersteigt und sprengt (Ex 33,20). Wie also kann
COD dt. 86. Henry George Liddell / Robert Scott, A Greek-English Lexicon, Oxford 1968, 355: »γνωρίζω, … make known … gain knowledge of«.
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der Mensch Gott selbst als Menschen erkennen? Liegt hier keine Selbstdepotenzierung Gottes vor, die es dem Menschen verunmöglicht, ihn als ihn selbst zu erkennen und zu denken? Der Gedanke der Inkarnation steht vor zwei zentralren Herausforderungen: Weder darf er Gott auf Menschenmaß reduzieren, noch darf er gegen das Bilderverbot verstoßen. Bei all dem muss Gott als er selbst erkannt werden können, damit sichergestellt ist, dass man keinem Irrglauben aufruht, und gleichzeitig darf menschliches Denk-, Erkenntnis- und Sprachvermögen nicht überfordert werden. Um den Gedanken der Inkarnation trotz dieser Denkschwierigkeiten dennoch zu ermöglichen, will ich im Folgenden zuerst (1.) mit Thomas von Aquin auf die Sinnlichkeit menschlichen Erkennens zu sprechen kommen. Danach werde ich (2.1) den Menschen als leiblichen Geist verstehen, der durch die Komponenten von Materie, Geist und Zeit bedingt ist. Dies führt mich (2.3) über die Phänomene von Altern, Hunger und Durst, Schlaf und Liebe (3.) zu der These, dass die Leiblichkeit des Menschen gerade in ihrer Materialität der Erkenntnisgrund seiner Transzendentalität ist, aufgrund derer es möglich ist, in Jesus Christus die göttliche und menschliche Natur unvermischt und ungetrennt zu erkennen und zu bekennen, so dass sich der Gedanke von Inkarnation intellektuell vertreten lässt.
1. Sinnliche Erkenntnis Gott offenbart sich dem Menschen und dieser ist offen für die Erfahrung des sich selbst offenbarenden Gottes. Die biblische Spiritualität mit ihrem doppelten Ausgang ist von der Idee geprägt, dass sich einerseits Gott dem Menschen zuwendet und dass dieser andererseits gottfähig ist: Der Mensch kann Gottes Wirken in der Welt verstehen und deuten und er versteht auch die Welt selbst als von Gott Gewirktes; deshalb wird in biblischer Tradition Gott als Schöpfer und Herr der Geschichte bekannt. Dabei fällt auf, dass die Offenheit des Menschen auf Gott hin normalerweise als geistig-geistliche Fähigkeit verstanden wird und sehr eng mit der Sprach- bzw. Erkenntnisfähigkeit des Menschen zusammenhängt. In seinem wissenschaftlichen Erstlingswerk Hörer des Wortes schreibt Karl Rahner:
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Leib und Zeit – Ein Versuch über die Transzendentalität des Fleisches
Der Mensch ist Geist, der wesentlich vor dem unbekannten Gott steht. 4
In einer Fußnote in der von ihm bearbeiteten zweiten Auflage von Rahners Werk erklärt Johann Baptist Metz die zwei Aspekte, die dem Offenbarungsgedanken nach Rahner zu Grunde liegen: Von der faktischen christlichen Offenbarung her ist das konkrete Hörenkönnen der göttlichen Offenbarung durch zwei Momente konstituiert: durch die geistige Transzendentalität des Menschen (seine ›Subjektivität‹) und durch deren gnadenhafte ›Erhöhung‹ bzw. ›Auflichtung‹ (das sogenannte ›übernatürliche Existential‹). 5
Es zeigt sich sehr klar: (1.) Als Geist ist der Mensch auf Gott hin offen. Diese Offenheit ist aber (2.) keine Tat des Menschen, sondern dem Menschen von Anfang an geschenkte, gnadenhafte Erhöhung, weil sich sonst das Problem der Selbsterlösung bzw. Werkgerechtigkeit ergeben würde. Durch die Identifizierung von menschlicher Existenz mit der Begnadung durch Gott vermeidet Rahner den klassischen Dualismus von Natur und Gnade: Schon die natürliche, von Anfang an gegebene, dem Menschen eingesenkte Offenheit auf die Welt und damit letztlich auf Gott hin ist von Gott her ermöglicht und getragen. 6 Welchen Stellenwert hat in dieser geistig-geistlichen Erkenntnisund Offenbarungsordnung die Materialität und Leiblichkeit des Menschen und der Welt? Ist der Mensch gleichsam nur aus Versehen ein Leibwesen und wäre er besser ein materieloser Engel? 7 Ist die Materialität der Welt sekundär, so dass sie (wie es die Gnosis nahelegt) überwunden werden muss, weil sie schuld ist an Veränderung und damit an 4 Karl Rahner, Hörer des Wortes. Zur Grundlegung einer Religionsphilosophie, neu bearb. von Johann B. Metz, München 31985, 29. 5 Ebd., 23 Anm. 8. 6 Karl Rahner, »Art. Existential, übernatürliches«, in: LThK 3 (21959), 1301: »[I]m voraus zur Rechtfertigung durch die sakramental oder extrasakramental erworbene heilmachende Gnade steht der Mensch immer schon unter dem allgemeinen, infralapsarischen, Erbschuld u[nd] persönliche Schuld umgreifenden Heilswillen Gottes, ist er erlöst, dauernd Subjekt der Heilsseelsorge u[nd] des Gnadenangebotes Gottes, absolut verpflichtet auf das übernatürliche Ziel.« 7 Oliver Dürr, Der Engel Mächte. Systematisch-theologische Untersuchung: Angelologie, Stuttgart 2009, 166. Rahner, Geist in Welt, beschreibt, dass die Erkenntnisweise der Engel nicht wie die der Menschen über die Materie vermittelt ist: »Der ›Engel‹ hat keinen intellectus possibilis. Es kann die endliche intellektuelle intuitive Erkenntnis nicht intellectus possibilis genanntn werden, weil ein solches Sein von sich aus bei sich selber ist und nicht erst durch die Hinnahme eines von sich aus sich zeigenden andern zu sich selber kommt.«
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den Leidenschaften und dem Leid? Ist also die Materie das Mühlrad des christlichen Geistes, das ihn in die Fluten zwingt und ertrinken lässt, obwohl er sich doch so gerne von allem Weltlich-Materiellen befreien würde? Rahner unterzieht in seinem Werk Geist in Welt den articulus 7 der quaestio 84 der Summa theologiae I des Thomas von Aquin einer intensiven Lektüre. In diesem Artikel geht es um die Frage, ob der menschliche Geist zur Erkenntnis notwendig auf sinnlich wahrnehmbare phantasmata angewiesen ist, also auf das, was erscheint, 8 oder ob Erkenntnis auch rein geistig ablaufen könne. Die These von Thomas ist eindeutig: Es ist unmöglich, daß unser Intellekt in der Verfassung dieses Lebens, in der er mit hinnehmender Leiblichkeit geeint ist, etwas aktuell erkennen könne ohne Hinkehr zu den phantasmata. 9
Menschliche Erkenntnis ist ohne sinnlich erfahrbare Materialität nicht möglich. 10 Weil Offenbarung eine, wenn auch besondere Art von ErLudwig Schütz (Thomas-Lexikon. Sammlung, Übersetzung und Erklärung der in sämmtlichen Werken des h. Thomas von Aquin vorkommenden Kunstausdrücke und wissenschaftlichen Aussprüche, Paderborn u. a. 21895) versteht phantasma unsinnlich: »phantasma = a) Erscheinung, Seingestalt, Gespenst, synonym mit phantasia […] und visio […] b) Einbildung, Phantasiebild, d. i. Vorstellung eines Dinges in dessen Abwesenheit, synonym mit imaginatio […], phantasia« (596). Die Unsinnlichkeit von phantasma bei Schütz zeigt sich auch an dessen Verständnis von visio »b) Gesicht, Erscheinung, synonym mit phantasia und phantasma« (869) Dagegen Rahner, Geist in Welt, 279: »Die species ist in erster und grundlegender Bedeutung nicht ein bildhaftes, im modernen Sinn ›intentionales‹ Doppel des äußeren Gegenstandes, sondern gehört als Selbstvollzug des sensibile im materiellen Medium der Sinnlichkeit zum Sein des Gegenstandes selbst«. 9 Karl Rahner, Geist in Welt. Philosophische Schriften, (Sämtliche Werke 2), Solothurn u. a. 1996, 19 f.: »Respondeo dicendum quod impossibile est inellectum nostrum, secundum praesenti vitae statum, quo passibili corpori conjungitur, aliquid intelligere in actu, nisi convertendo se ad phantasmata.« Thomas rezipiert hier Aristoteles, De anima, G 7, 431a 16 f.: »οὐδέποτε νοεῖ ἄνευ ϕαντάσματοϚ ἡ ψυχή.« (Ebd., 77, Anm. 23) 10 Ebd., 44: »Erst die Hinbeziehung des Gewußten auf die materia gibt gegenständliche Erkenntnis. Insofern jeder Erkenntnis diese ›Hinwendung‹ wesentlich ist, ist auch jede menschliche Erkenntnis conversio ad materiam, und insofern diese materia nur im phantasmata der menschlichen imaginatio erreichbar ist, ist jede Erkenntnis eine conversio ad phantasmata.« Materia ist dabei das Ungeformte, das noch geformt werden muss (84; 184); vgl. ebd., 118 f.: »Raum und Zeit sind Ausdrücke der leeren Unbestimmtheit der materia, ihres ›Nichts‹. Diese materia, und damit Raum und Zeit, kommt zu Sein und Erkenntnis in der Sinnlichkeit als eines actus materiae, gerade insofern sie eingegrenzt ist auf ein bestimmtes Dieses, auf ein Hier und Jetzt.« 8
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Leib und Zeit – Ein Versuch über die Transzendentalität des Fleisches
kenntnis ist, kann sie nicht ohne phantasmata, also ohne etwas, das sinnlich erscheint, vonstatten gehen. 11 Erkennender Geist ist somit nach Thomas in der Interpretation von Rahner immer auf Materialität und auf Leiblichkeit angewiesen – keine Erkenntnis ohne Materie, keine Offenbarung ohne Leib. Wir gehen davon aus, daß die conversio ad phantasma Bedingung der Möglichkeit eines geistigen Erfassens als solchen ist und diesem darum logisch vorausgeht. Anima non potest intelligere sine phantasmate [Fn: In III. de anima lect. 12, n. 772]. 12
Diese Einsicht wird dadurch vertieft, dass der Geist seinerseits dazu tendiert, sich ein vorauswissendes Bild vom anderen zu machen. Kann anderes als anderes erkannt werden, wenn der Geist schon von ihm weiß, bevor er ihm erkennend begegnet? Es zeigt sich, dass der auf das allgemeine Sein vorausgreifende Geist in der Erkenntnis auf die Widerständigkeit der Materie 13 des je konkret Erscheinenden, dem Geist gleichsam Widerfahrenden stößt, so dass echte Erkenntnis eines anderen auf Materialität und Leiblichkeit angewiesen ist: 14 Anderes wird nur dann in seiner Andersheit erkannt, wenn es nicht auf die eigene Geistigkeit reduziert und in diese hineinverselbigt werden kann. 15 Damit sind Materie und Leib die Garanten für echte Erkenntnis eines anderen als anderen. Wie kann es aber unter solcher Voraussetzung eine Erkenntnis eines andern als solchen geben, in der dieses andere objectum proprium der Erkenntnis ist, d. h. in der dem anderen nicht eine Erkenntnis vorausgeht, durch deren mit dem Erkennen identischen Gegenstand das andere erkannt wird? … Hinnehmende Erkenntnis ist somit wesentlich nur als Sein eines Materiellen denkbar, ist Sinnlichkeit. 16 Ebd., 58; 300. Ebd., 201. 13 Ebd., 109: »Der Intellekt ist denkend bei sich gegen ein anderes […] Er ist aber nur in dieser Abhebung gegen ein anderes bei sich selbst.« 14 Ebd., 107: »Aber menschliches Erkennen ist zunächst Bei-der-Welt-Sein, ein Beieinem-andern-Sein in der Sinnlichkeit, und Erkenntnis dieses anderen in seinem Ansich als des objectum proprium ist darum nur möglich in einem Gegensetzen des anderen und Hinbeziehen des Wissens auf dieses entgegengesetzte, an sich seiende andere.« 15 Ebd., 70: »Hinnehmende Erkenntnis ist somit wesentlich nur als Sein eines Materiellen denkbar, ist Sinnlichkeit.« 70: »Mit dem bisher Gesagten sollte nur gezeigt werden, daß eine Erkenntnis, die als solche hinnehmend ist, d. h. das andere zum objectum proprium hat, notwendig materiell ist, also Sinnlichkeit besagt.« 16 Ebd., 69 f. 11 12
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Echte Erkenntnis eines anderen kann es nur geben, wenn sie sich nicht aus dem herrschaftlich ausgreifenden Wissen des Geistes, sondern aus der hinterherhinkenden Reaktion des leiblichen Geistes auf die materiellen Dinge dieser Welt ergibt. Damit die widerständige Materie gewusst wird, bedarf es eines zusätzlichen Urteiles, 17 weil es nicht im Vermögen der Sinnlichkeit steckt, sich über das Materielle zu erheben und sich in einem Bewusstseinsakt von ihm zu unterscheiden. 18 Das ist die Aufgabe eines zusätzlichen, von der Sinnlichkeit zu unterscheidenden Aktes des Geistes. 19 In diesem Sinne rezipiert Rahner auch in thomanischer Diktion die kantische Einsicht, dass alles Erkennen und alles Erkannte a priori räumlich und zeitlich ist, weil der Mensch nur in Raum und Zeit denken kann. 20 Aus der Räumlichkeit und Zeitlichkeit menschlichen Denkens und Erkennens ergibt sich, dass alle Erkenntnis am Einzelding ansetzt und deshalb die materielle Konkretheit an einem Raum-Zeit-Punkt Ursprung der universellen Seinsschau ist. 21 Daraus Rahner beschreibt dieses Hinterher als Urteil; ebd., 107: »In der Sinnlichkeit hat die Erkenntnis nichts für sich allein, weil sie mit der Sache identisch ist. Erst im Denken kehrt sie mit ihrem Wissen zu sich selbst zurück in einer Trennung von der res extra animam, und kann dadurch ihr Wissen auf die Sache beziehen und des Gelingens dieser Hinbeziehung sich bewußt sein, ein wahres Urteil fällen.« Rahner bringt dieses Urteil in Verbindung mit dem Vermögen der abstractio, die im Konkreten das Allgemeine erkennen kann (147). 18 Ebd., 175: »Hinnehmendes Beim-andern-Sein sagt Sinnlichkeit, und dieser ist es wesensmäßig unmöglich, sich von diesem andern abzuheben.« Vgl. ebd., 177: »Denn die Sinnlichkeit weiß nicht um sich selber als vom anderen verschiedene […] Der Geist selbst als solcher muß also um das andere wissen.« 19 Durch das verallgemeinernde Urteil wird ein Gegenstand als gegenständlicher und damit materieller be- und gewusst; ebd., 126: »[O]hne dieses sinnlich gegebene ens ist schlechterdings keine Kenntnis dessen möglich, was esse heißen soll. Aber dies auch ausdrücklich betont, erhebt sich doch die Frage, wie dieses ens als wirkliches denkend, d. h. gegenständlich gewußt werden könne, was die Sinnlichkeit nicht zu leisten vermag. Dazu ist die abstractio nötig.« 20 Ebd., 96: »Sinnlichkeit zeigte sich als Habe eines anderen, weil sie actus materiae ist, weil sie die Seinswirklichkeit ist, deren Wesen so Bewußtsein ist, daß sie darin Wirklichkeit der leeren, unbestimmten Grenzlosigkeit der materia ist. Damit ist Sinnlichkeit immer schon in Zeit und Raum, weil selbst Zeit und Raum bildend. Das andere, das Sinnlichkeit als Welthabe immer schon hat und ist, ist zeitlich und räumlich. Solches allein ist ihr in seinem Selbst gegeben, solches allein kann sie anschauen. Imaginatio tempus et continuum non transcendit.« 21 Ebd., 105: »So erkennt Sinnlichkeit ›materialiter et concrete‹ und ist darum nur Erkenntnis des Einzelnen. Visus nullo modo potest in abstractione cognoscere id, quod in concretione cognoscit.« Vgl. ebd., 86: »Durch die materia wird eine Seinswirklichkeit 17
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Leib und Zeit – Ein Versuch über die Transzendentalität des Fleisches
folgt für Rahner ebenso, dass Erkenntnis weniger aktive Intention als passive (hinnehmende bzw. leidende) Impression ist. 22 »So hat also die Sinnlichkeit keine intelligibile actu bei sich, sie ist die Hingegebenheit an die vielen Diesda der materia als solche.« 23 Natürlich gibt es also das vorausgreifende Vorwissen, aber dieses ist nach Rahner als die allgemeine Offenheit des Menschen auf das gesamte Sein hin zu verstehen. 24 Dabei hält Rahner (in platonisierender Tradition des Erkenntnis- bzw. Geistprimates) an der thomistischen Einheit von Erkennen und Sein fest, 25 weswegen er betont, dass die Sinnlichkeit ein Vermögen des Geistes ist, der diese als ein Vermögen seiner selbst aus sich hervorkommen lässt, 26 weil »die Sinnlichkeit als von der menschlichen Eigenart des Geistigen her gefordert« ist. 27 Gerade in der Offenheit auf alles hin bleibt allerdings eine gewisse Widerständigkeit des Materiellen, das immerhin so verschieden von der Intellektualität ist, dass dieses nicht auf jene reduziert werden kann. Sinnliche, hinnehmende Erkenntnis muss materiell sein, 28 wes›quantitativ‹ einzelnes unter vielen seinesgleichen, ein unum in genere quantitatis, unum principium numeri.« 22 Ebd., 79: »Wenn die Sinnlichkeit Anschauung des andern als solchen sein soll, dann versteht sich unter der Voraussetzung des Satzes von der Identität des Erkennens mit dem Erkannten von selbst, daß die Sinnlichkeit ›passiv‹ sein muß.« 23 Ebd., 112. 24 Ebd., 184: »Menschliche Erkenntnis ist urteilendes Aussagen eines Allgemeinen über etwas und zeigt sich so als getragen und ermöglicht durch den Vorgriff auf das esse schlechthin«. 25 Z. B. ebd., 83: »Erkennen ist Beisichsein, Insichreflektiertheit des Seins selber. In dem Maß wird Erkennen etwas erkennen, in dem es dieses etwas ist.« 26 Ebd., 164 f.: »Überdies ist die Sinnlichkeit Sinnlichkeit des Geistes, da der Intellekt die Sinnlichkeit als seine Potenz aus sich herausstellt und so deren Leistung als seine bei sich behält.« Vgl. ebd., 183: »Der menschliche Geist entläßt die Sinnlichkeit so aus sich, daß er sie auch schon immer wieder eingeholt hat, daß sie ihr eigenes Werk als das des Geistes vollbringt.« Vgl. ebd., 197; 280. 27 Ebd., 189. 28 Ebd., 77 Anm. 23: »oportet quod sensus corporaliter et materialiter recipiat similitudinem rei quae sentitur (In II. de anima lect. 12, n. 377).« Vgl. ebd., 187 f.: »Der erste Abschnitt des zweiten Kapitels hat nun gezeigt, daß eine Erkenntnis, die als ihr erstes und unmittelbar (also intuitiv) erfaßtes Objekt das andere von sich empfangend hinnimmt, wesentlich Sinnlichkeit ist, nur als actus materiae begreifbar ist. Daraus folgt demnach, daß der intellectus possibilis sich selbst in die reale Möglichkeit, Geist zu sein, nur dadurch stellen kann, daß er Sinnlichkeit wird […] Dementsprechend heißt es auch: species intelligibilis non accipitur a re nisi mediante phantasmate [Fn: II. Sent. dist. 3 q. 3a. 1 ad 2.] – hinnehmende Erkenntnis ist wesentlich sinnlich.«
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wegen Rahner sein Werk »Geist in Welt« genannt hat oder auch »conversio ad phantasmata« hätte nennen können, 29 wobei es gerade um die Art sinnlicher Erkenntnis geht. Phantasmata darf nicht als ein ›Ding‹ betrachtet werden. Es ist das Stichwort für die sinnliche Erkenntnis als solche […] Conversio ad phantasma bedeutet also nicht intellektuelle Erkenntnis ›in Begleitung von Phantasmen‹ […], sondern ist der Titel dafür, daß sich sinnliche Anschauung und intellektuelles Denken zur einen menschlichen Erkenntnis eint. 30
Trotz des Primates der Erkenntnis kann sie sich nur »a rebus exterioribus«, 31 am konkreten Einzelding »entzünden«, so dass Räumlichkeit und Zeitlichkeit nur allgemeine apriorische Strukturmomente der Erkenntnis sind. Der Geist erinnert sich so gesehen im Erkenntnisakt nicht an das, was er schon erkannt hätte und dann jeweils wieder neu aktualisieren muss. 32 Erkenntnis ergibt sich vielmehr aktuell aus dem, was dem Geist ganz konkret im Hier und Jetzt entgegensteht. In transzendentalphilosophischer Manier betont Rahner damit einerseits die universale Offenheit des Erkenntnisaktes 33 und andererseits die konkrete Materialität der Erkenntnis 34: Und insofern der Geist immer schon Offenheit des Seins im Ganzen besagt, steht die geistgewirkte Welt als sinnlich offene immer schon in der geistigen Offenheit des Seins im Ganzen. Wenn aber die Sinnlichkeit selbst empfangender Ursprung des Geistes ist, dann ist die bewußte Wirklichkeit des Geistes bewußt als Wirklichkeit der Sinnlichkeit. 35
Aus all dem ergibt sich für Rahner, dass sich die Theologie notwendig der sinnlich-materiellen Welt zuwenden muss. Was kann festgehalten werden? Zwei Thesen sind für den Fortgang der Überlegungen wichtig. Ebd., 14 f. Ebd., 181. Die Einheit von Geist und Sinnlichkeit ist in der cogitativa zu finden; vgl. ebd., 204. 31 Ebd., 191. 32 Vgl. ebd., 233–235. 33 Ebd., 213: »Es wurde aber gezeigt, daß der Geist in seinem Akt jeden Gegenstand in einem Vorgriff auf das Sein schlechthin erfaßt, daß dieses also sein objectum formale ist. So hat der Geist vorgreifend schon immer in jedem Akt das Sein im Ganzen und sucht durch den Gegenstand eines jeden Aktes die formale Leere des im Vorgriff gegebenen Seins zu erfüllen.« Vgl. ebd., 288. 34 Ebd., 279: »Sinnliche Erkenntnis setzt als hinnehmende […] die Sinnlichkeit als materielles Sein voraus.« Vgl. ebd., 255; 289. 35 Ebd., 215. 29 30
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1. Metaphysik ist nur an der »physica« möglich, weil das »Wissen um die ›Welt‹ […] die wahre und ganze Metaphysik« ist. 36 2. betont Rahner, dass »der freie Geist Sinnlichkeit wird und werden muß, um Geist zu sein.« 37 Die folgenden Ausführungen setzen bei diesen Grundeinsichten von Rahners Geist in Welt an und führen sie (vielleicht noch konsequenter als dieser) fort. Rahner betont einerseits in all seinen Ausführungen die Materialität des sinnlich Wahrnehmbaren. Andererseits scheint er sich zumindest auf sprachlicher Ebene noch manchmal damit schwer zu tun, gerade die Materialität als den Ausgangspunkt der Wahrnehmung im Vergleich mit der Sinnlichkeit als einem Vermögen des Geistes, das sich an der Welt entzündet und diese in den Selbstvollzug des Geistes einbezieht, in ihrer Eigenständigkeit zu würdigen. 38 Hier zeigt sich entweder eine gewisse Verbundenheit mit der Philosophie- und der scholastischen Schultradition oder vielleicht doch noch mehr eine Vorsicht vor der Lektüre durch den designierten Doktorvater M. Honecker, der Rahners Arbeit allerdings auch so nicht für promotionswürdig hielt.
2. Der Leib als Ort der Transzendenzerfahrung Vor dem Hintergrund der Eingangsfrage, ob das Christentum zu denken gibt und ob speziell die Inkarnation des göttlichen Logos denkbar ist, und des danach mit Rahner umrissenen Gedankens, dass alle menschliche Erkenntnis sinnlich-materiell sein muss, ergeben sich für den Fortgang der Untersuchungen eine theologische und eine philosophisch-phänomenologische Frage. 1. War die Inkarnation des göttlichen Logos für die Selbstoffenbarung Gottes notwendig, wenn der Mensch auf die Materialität desEbd., 289. Ebd., 299. 38 Ebd., 283: »Der Geist läßt in der Begierde zu sich selbst die Sinnlichkeit aus sich entspringen, indem er sich selbst in die materia einbildet, und indem er als freibleibender Ursprung der Sinnlichkeit diese in sich hält als sein Vermögen und durch sie das phantasma als übernommene Bestimmung der Sinnlichkeit selbst erwirkt, hat er immer schon abstrahiert, weil er in dieser Einbildung frei geblieben ist, und hat sich doch immer auch schon den Bedingungen der materia, den Gesetzen von Raum und Zeit unterworfen, weil er zum Ende seiner Freiheit nur kommt, wenn er sich in das andere der materia einbildet in der conversio ad phantasma.« 36 37
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sen angewiesen ist, der als wirklich anderer erkannt werden soll? Wenn nämlich jegliche Erkenntnis auf die Materialität ihrer Erscheinung angewiesen ist, dann musste der göttliche Logos Mensch werden, damit der Mensch ihn in seiner Leiblichkeit als ihn selbst erkennen konnte. 2. Kann die Leiblichkeit des Menschen nicht nur als die Bedingung der Möglichkeit geistig-geistlicher Erkenntnis verstanden werden, sondern in ihrer grundlegenden Materialität als Raum-Zeit-Ort des Ereignisses von Transzendenz bzw. Transzendentalität? Weil die Antwort auf Frage 1 von der Antwort auf Frage 2 abhängt, gehe ich im Folgenden zuerst auf Frage 2 ein, um mich dann der Frage 1 zuzuwenden.
2.1 Definition: Der Mensch als leiblicher Geist Phänomenologisch betrachtet ist der Mensch gewiss kein leibloser Engel, sondern leiblicher Geist. Hierbei ist die konkrete Formulierung von größter Wichtigkeit. Der Mensch ist leiblicher Geist und nicht geistlicher Leib. Geistlicher Leib werden die Menschen nach dem heiligen Paulus im Eschaton sein: In der Auferweckung wird der Leib des Menschen verwandelt, so dass aus dem irdisch-materiellen, ein geistlicher Leib wird, ein soma pneumatikon (1. Kor 15,44: σῶμα πνευματικόν). Für das Jenseits ist demnach mit aller Vorsicht ein geistlicher Leib anzunehmen, während der Mensch im Diesseits ein leiblicher Geist ist – die Leiblichkeit ist dabei die Eigenschaft, die die irdische Existenz des Menschen als Geistwesen grundsätzlich bestimmt und formt. Der Mensch ist niemals ohne Leib und fast könnte man sagen, dass die Leiblichkeit der Geistigkeit vorausgeht. Dies trifft besonders auf das Selbstbewusstsein zu, weil der Mensch erst in einem längeren Prozess des Sich-selbst-gewahr-Werdens feststellt, dass er existiert. Ganz am Anfang seiner irdischen Existenz lebt der Mensch noch ohne eigenes Selbstbewusstsein und erst im Laufe der Jahre wird er sich selbst reflexiv bewusst. Diesem Phänomen der Entwicklungspsychologie soll an dieser Stelle nicht weiter nachgegangen werden. Deutlich bleibt aber, dass der Mensch zuerst existiert und sich erst im Nachhinein bewusst wird, dass er existiert und dass er als er selbst existiert. Vor seiner Existenz war der Mensch nicht, so dass er auch nicht gefragt worden ist, ob er existieren will. Der Mensch lernt sich selbst als sich selbst kennen, findet sich gewissermaßen einfach vor und er entdeckt sich nicht als 246 https://doi.org/10.5771/9783495808405 .
Leib und Zeit – Ein Versuch über die Transzendentalität des Fleisches
reinen Geist, sondern als Leibwesen. Als solches unterliegt der Mensch der Zeit und der Entwicklung. Das Neugeborene ist dabei vollständig auf die Hilfe der Eltern angewiesen, ist fast reine Leiblichkeit und sozusagen auf die Materialität der eigenen Existenz beschränkt. Dies ändert sich im Laufe der Jahre. Phänomenologisch spannend bleibt dabei z. B. die Phase des Kleinkindes, weil dieses noch nicht sprechen kann. Trotzdem verfügt es mit der Zeit immer mehr über die Möglichkeit, sich auszudrücken und anzuzeigen, was es will oder nicht will. Dabei bleibt klar, dass es noch nicht über seine Muttersprache verfügt und deshalb erst mit der Zeit lernt, sprachlich, also in der Sprache und mit der Sprache zu denken. Über welche Gedankenmöglichkeiten verfügt ein Neugeborenes oder ein Kleinkind? Diese Frage muss wohl offen bleiben. Folgendes kann festgehalten werden: Das In-der-Welt-Sein des Menschen ist besonders in der Säuglings- und Kleinkindphase von seiner Körperlichkeit geprägt. Diese scheint anfangs fast reine Materialität zu sein, entwickelt sich mit der Zeit aber zur Leiblichkeit, weil das Kind lernt, sich selbst von seiner Mutter und der Welt zu unterscheiden und sich auf die Eltern und die Welt aktiv zu beziehen. Bei dieser Entwicklung der Leiblichkeit spielt die Zeit einen entscheidenden Faktor, weil sie die Bedingung der Möglichkeit des Wachstums ist – des körperlichen und des geistigen. Besonders im Blick auf das Kleinkind ergibt sich so für den Menschen ein unzertrennbarer Zusammenhang von Materialität und Zeitlichkeit, wofür im vorliegenden Zusammenhang die Ausdrücke Leib bzw. Leiblichkeit verwendet werden. Der Leib ist dabei der gealterte Körper eines Menschen, der mit der Zeit zu (Selbst)Bewusstsein gelangt ist. So setzt sich der Leib zusammen aus Materie, Zeit und Geist.
2.2 Die Phänomene Altern, Hunger und Durst, Schlaf, Liebe Über den Hinweis auf das Wachsen und Erwachen des Kleinkindes hinaus will ich auf vier Phänomene verweisen, um die Leib-Matrix zu beschreiben, die aus Materie, Zeit und Geist besteht. Im Prinzip können die Phänomene Altern, Hunger, Schlaf und Liebe alle als Explikation des gerade beschriebenen, grundlegenden Phänomens Wachsen und Erwachen gelten, weil sie alle auf die Matrix von Materie, Geist und Zeit aufbauen. Allerdings weisen diese Beispiele über das Phänomen des wachsenden Kleinkindes hinaus, weil sie auch Erwachsene betreffen. 247 https://doi.org/10.5771/9783495808405 .
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a) Altern: Der Mensch altert ohne sein Zutun. Die Zeit zerrinnt zwischen seinen Händen, ohne dass er ihr Verstreichen oder Vergehen aufhalten könnte. Selbst wenn man seine Gedanken von aller Gegenständlichkeit befreit, altert man. Das Altern ist nicht aufzuhalten, so dass der Mensch nicht Herr seiner Zeit ist. Zeit ist flüchtig, weil sie sich nicht umkehren lässt, und Zeit ist herrisch, weil der Mensch nicht über sie, sondern vielmehr diese über ihn verfügt. Die Zeit zeigt den Menschen als demütiges und abhängiges Wesen. Emmanuel Levinas beschreibt diesen Vorgang in Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht folgendermaßen: Der Zeitverlust ist keines Subjektes Werk […] Die Zeit vergeht. Und die Synthese, die geduldig sich vollzieht und passiv im tiefsten Sinne heißt, ist Altern […] Im Bewußtsein des Sich ist nicht mehr Präsenz des Sich gegenüber dem Sich, sondern Seneszenz. 39
b) Hunger und Durst: Nichts braucht der Mensch so dringend wie seine tägliche Nahrung, er kann sich nicht selbst am Leben erhalten. Nur über den Atem steht der Mensch in einem ähnlich intensiven Austausch mit seiner materiellen Umwelt wie im Hinblick auf die Nahrung. Der Mensch ist abhängig davon, dass ihm gegeben wird, dass ihm ständig gegeben wird, weil der Bedarf an Sauerstoff und an Nahrung immer nur vorübergehend gestillt werden kann. Die Bedürftigkeit nach anderem und die Angewiesenheit auf anderes zeigt sich wohl am deutlichsten an der Nabelschnur, über die Fötus und Mutter verbunden sind und die eine lebenslange Narbe hinterlässt. Diese Narbe zeigt an, dass der Mensch sich nicht selbst am Leben erhalten kann, sondern offen sein muss für anderes, das in ihn gelangt und ihn belebt. Der Mensch ist notwendig ein konsumierendes Wesen – er kann nicht anders. Während der Bauchnabel phänomenologisch auf die Tatsache der materiellen Abhängigkeit und Angewiesenheit verweist, deutet der Adamsapfel die symbolische Dimension der Nahrung an, weil hier die Symbolbehaftetheit von Essen und Trinken aufscheint. Nicht jeder Genuss ist gut und erlaubt, weil nicht alles, was nach Nahrung aussieht, auch nahrhaft ist; es könnte giftig oder verdorben sein. Nicht jede Speise kann roh gegessen, sondern muss gekocht werden. Manche NahEmmanuel Levinas, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, übers. v. Thomas Wiemer, Freiburg u. a. 1998, 125.
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rung ist bestimmten Volksgruppen verboten, weil sie so exklusiv ist, dass sie besonderen Funktionsträgern in der Gemeinschaft vorbehalten bleibt. Weil der Mensch täglich mit Nahrung umgeht, weist er sie in seinen deutend-symbolischen Weltzugang ein: Diese kulturelle Überformung zeigt sich besonders dort, wo sie in einen rituellen Zusammenhang eingeordnet oder erst innerhalb dessen »gewonnen« wird (Schlachten im Tempel bzw. Jagd). Vor allem zeigt sich die kulturelle Überformung dort, wo viel Arbeit und Wissen zur Herstellung einer Speise oder eines Getränkes investiert werden müssen. Bei all dem bleibt deutlich, dass der Mensch die Materie zwar formen, niemals aber selbst herstellen oder sich von ihr frei machen kann: Der Mensch ist angewiesen auf das, was er vorfindet, und darauf, dass ihm gegeben wird. So bleibt der Mensch abhängig und muss lernen, dass er nur ein Teil des fast unendlichen und unbegrenzten Kosmos ist, mit diesem aber über die Materialität, die ihn als abhängigen kennzeichnet, zusammenhängt und womöglich mit ihm ein organisches Ganzes bildet. c) Schlaf: Um seinen Leib und seinen Geist zu erholen, muss der Mensch schlafen. Schlafentzug ist eine »bewährte« und grausame Foltermethode, die nur in Zeiten der Kleinkindversorgung einen Sinn zu haben scheint. Gleichzeitig gibt es Momente, in denen der Schlaf den Mensch flieht und meidet und er keinen Schlaf finden kann. Das quälende Hin- und Herwälzen im Bett verdeutlicht, dass der Mensch darauf angewiesen ist, dass er sein eigenes Bewusstsein bewusst deaktiviert, dass er die Herrschaft über sich selbst aufgibt und sich von einem anderen ergreifen lässt, den er – auf natürliche Weise – nicht herbeizwingen kann. Das Verhältnis von Empfindendem und sinnlich Empfundenem ist vergleichbar dem des Schläfers zum Schlaf: der Schlaf kommt, indem eine bestimmte willentlich eingenommene Haltung plötzlich von außen eine Bestätigung erfährt, die sie erwartete. Ich atme langsam und tief, um den Schlaf herbeizurufen, und plötzlich ist es, als kommuniziere mein Mund mit einer riesigen äußeren Lunge, die mein Atem anzieht und zurückdrängt, der soeben noch von mir gewollte Rhythmus meines Atems wird mein Sein selbst, der Schlaf, zuvor als Bedeutung vermeint, verwandelt sich jäh in Situation. 40
40 Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung. Phänomenologischpsychologische Forschungen, übers. u. eingef. v. Rudolf Boehm, Berlin 1966, 249.
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In der bewussten Aufgabe der Selbstkontrolle ähneln sich Schlaf und Rausch. Allerdings ist der Rausch kein Grundphänomen des Menschen als leiblicher Geist, weil er im Gegensatz zum Altern, zu Hunger und Durst und zum Schlaf aktiv durch die Aufnahme von Stoffen herbeigeführt werden muss, die nicht überlebensnotwendig sind. Der Rausch wird durch Zusatzstoffe herbeigeführt. Interessant wäre an diesem Punkt ein Vergleich von Rausch und Ekstase. Letztere kann nämlich nicht nur durch Aufnahme von bestimmten Stoffen, sondern ebenso durch körperliche Bewegung herbeigeführt werden. Aber auch hier zeigt sich, dass der Mensch von sich aus aktiv werden muss, während sich zumindest das Bedürfnis nach Schlaf und vor allem Hunger und Durst von selbst ergeben und dem Menschen aufdrängen, ohne dass er sich dagegen wehren kann. Hunger und Durst müssen gestillt werden, damit der Mensch leben kann. Ebenso muss er schlafen, um zu leben. Der Rausch dagegen ist ein Luxus, ein Surplus, und auch die Ekstase wird willentlich hervorgerufen. d) Liebe: Die Wehrlosigkeit gegenüber einem Phänomen, das sich ihm aufdrängt, ohne dass er sich dagegen erfolgreich zur Wehr setzen könnte, ist dem Menschen besonders von der erotischen Liebe zwischen Erwachsenen her vertraut. Nicht umsonst kann man Eros als die Königin der Göttinnen und Götter bezeichnen, weil ihr alle unterliegen und niemand gegen sie gefeit ist. Dabei muss Eros noch einmal von der reinen Begierde unterschieden werden, weil diese die lediglich hormonelle Basis für die körperliche Anziehung darstellt. Dahingegen ruht das Begehren zwar auf der körperlichen Begierde auf, ist allerdings nicht ohne ihre geistige Überformung zu verstehen. So gesehen ist die Liebe in ihrer Unwiderstehlichkeit ein körperlich-materielles Phänomen, das allerdings auch als Übergangsphänomen bezeichnet werden muss, weil es auf das komplizierte Zusammenspiel von Leib und Geist angewiesen ist. Maurice Merleau-Ponty berichtet dementsprechend von einem Kranken, der auf körperlich-materieller Ebene sexuell erregt werden konnte, der aber mit diesen Reizen (geistig) nichts anzufangen wusste, so dass sofort nach Beendigung des Reizes jegliche Begierde erlosch – ihm fehlte jeder Sinn für Erotik. 41 Weil eine Begierde schnell befriedigt werden kann (durch Essen und Trinken oder den Sexualakt) unterscheidet Emmanuel Levinas von dieser das Begehren, das in der Nähe zum anderen wächst: Das Begehren kann 41
Ebd., 186 f.
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im Unterschied zur Begierde nicht befriedigt werden und findet somit auch kein Ende. Mit Jean-Luc Marion kann darauf verwiesen werden, dass das Erotische kein selbstloses Phänomen ist, sondern die beiden Sexualpartner immer auch an die Befriedigung der eigenen Begierde denken (müssen). 42 Levinas hingegen hatte in seinem ersten Hauptwerk Totalität und Unendlichkeit darauf verwiesen, dass sogar die Berührung des anderen von einer Uneinholbarkeit bzw. Unerfüllbarkeit gekennzeichnet ist, die mit einer Art von Selbstvergessenheit oder gar Selbstentfremdung durch die Nähe des anderen zusammenhängt, weil das Ich zum Besitz des anderen wird und nur in der selbstvergessenden Selbstaufgabe durch den anderen zu sich selbst kommt. Die Liebkosung besteht darin, nichts zu fassen […] sie besteht darin, das anzustreben, was entschwindet, als wäre es noch nicht. Die Liebkosung sucht, sie ist auf einer Spur […] Sie hat Hunger nach diesem Ausdruck, wobei der Hunger beständig wächst. 43
3. Der Leib als der Raum-Zeit-Ort der Erfahrung der Transzendenz Was ergibt sich nun, wenn man die beiden Ergebnisse der bisherigen Überlegungen zusammenträgt? Alle menschliche Erkenntnis ist auf sinnlich erfahrbare Materialität angewiesen und der Mensch ist ein alterndes Leibwesen, das sich dessen und seiner selbst bewusst geworden ist. Wenn man diese beiden Tatsachen miteinander in Verbindung bringt, ergibt sich folgende These: Als Vertiefung der platonischen Tradition, (nahezu ausschließlich) den Geist als Offenheit auf den ganz Anderen hin zu verstehen, muss in phänomenologischer Sicht der Leib in seiner Verknüpfung aus Ma-
Jean-Luc Marion, Le phénomène érotique: six méditations, Paris 2003; Das Erotische: Ein Phänomen. Sechs Meditationen, übers. v. Alwin Letzkus, Freiburg u. a. 2010. Mădălina Diaconu, Tasten, Riechen, Schmecken. Eine Ästhetik der anästhesierten Sinne, (Orbis Phaenomenologicus 12), Würzburg 2005, 81: »Ich spüre den anderen und spüre dabei auch mich als tastend, und der andere spürt mich und spürt dabei auch sich selbst als tastend.« 43 Emmanuel Levinas, Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, übers. v. Wolfgang Nikolaus Krewani, Freiburg u. a. 1987, 375 f. 42
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terie, Zeit und Geist als der Raum-Zeit-Ort der Erfahrung der Transzendenz verstanden werden. Die These geht auf die Phänomene Altern, Hunger und Durst, Schlaf und Liebe ein und reduziert sie nicht nur bis auf ihre geistigen, sondern bis zu ihren materiellen Ausgangspunkten. Hier zeigt sich, dass der Mensch grundsätzlich von etwas gekennzeichnet ist, das er selbst nicht in der Hand hat, das er selbst nicht herstellen oder beherrschen kann: Der Mensch wird älter ohne sein Zutun; er bekommt nach kürzester Zeit wieder Hunger und Durst und muss diese Begierden stillen, wenn er am Leben bleiben will; er wird müde und muss schlafen, um sich zu erholen; er wird zu einem anderen Menschen hingezogen und kann sich der Anziehungskraft nicht erwehren – gleichzeitig braucht er Liebe, Zuwendung und Kommunikation, um Mensch zu sein. Der andere drängt sich ihm gleichsam auf, er rückt ihm auf die Haut und geht ihm sogar unter die Haut. Gegen diese Annäherung des anderen kann man versuchen, sich einen Schutzpanzer anzulegen, aber dieser wird niemals perfekt sein, da die anderen in mir wohnen, schon allein, weil ich in ihrer Sprache denke und rede. So ist der Mensch nie allein und für sich, so sehr er sich auch auf sich selbst zurückzieht. Dergestalt weist der Mensch notwendig immer über sich selbst hinaus: Er ist offen auf die Welt hin und er ist offen auf den anderen hin. Diese Offenheit für Erkenntnis und Begegnung kann der Mensch nicht ablegen. Gleichzeitig ist diese Offenheit auf Welt und Mitmenschen in der körperlichen Materialität des Menschen grundgelegt, weil das Subjekt noch vor dem Erwachen des reflexiven Selbstbewusstseins von Phänomenen geprägt ist, die es nicht bestimmen oder beherrschen kann: Das Neugeborene wird älter, es hat Hunger und Durst, es muss schlafen und es verlangt nach Liebe und Geborgenheit. Gerade als materielles Wesen ist der Mensch beherrscht und Zwängen unterworfen. Aufgrund seiner Geistigkeit kann es ihm möglich werden, diese Begierden in Zaum zu halten, aber er kann sie nicht beseitigen oder ablegen. Das bedeutet, dass der Mensch nicht daran wächst, seine Begierden zu unterdrücken, sondern sie zu kultivieren. In der Anerkennung der eigenen Passivität und Ausgeliefertheit kann die Begierde in Begehren umschlagen, weil jede Begierde im Letzten auf einem unstillbaren Begehren aufruht. Dieses Begehren strebt nicht nach der materiellen schnellen Befriedigung, die genauso schnell wieder vergeht, sondern ist das gerade auch materielle Bedürfnis nach dem Anderen, dessen ich bedarf, um ganz zu sein. Aber auch in der unio mystica, der das Escha252 https://doi.org/10.5771/9783495808405 .
Leib und Zeit – Ein Versuch über die Transzendentalität des Fleisches
ton vorwegnehmenden Vereinigung mit dem Anderen, bleibt dieser gerade auch in seiner Leiblichkeit ein anderer und wird mit dem Subjekt nicht so eins, dass diese verschmelzen, weil ja die Andersheit des Anderen die Bedingung der Möglichkeit der Einheit mit ihm ist. So lebt der Mensch auf Erden eine verwundete Differenz zum Anderen, die im Eschaton dadurch geheilt zu sein scheint, dass man sie nicht mehr als Wunde, sondern als heilsame Offenheit auf den Anderen hin versteht. In phänomenologischer Reduktion kann somit gezeigt werden, dass der Mensch in dieser Erdenzeit aufgrund seiner falsch verstandenen leiblichen Verfasstheit danach strebt, nicht mehr zu altern, nicht mehr zu hungern und zu dürsten, nicht mehr ruhelos zu sein und nicht mehr nach Liebe zu lechzen. Der Gedanke der himmlischen Erfüllung dieser Ursehnsüchte des Menschen ist Ausdruck dafür, dass sie irdisch nicht gestillt werden können, weil in ihnen etwas von dem angezeigt ist, woraufhin der Mensch geschaffen ist. Irdisch können diese leiblichen, also materiell-zeitlich-geistigen Sehnsüchte nicht gestillt werden, weil ihre Beruhigung das Ereignis bzw. die Erfahrung der Transzendenz, also des ganz Anderen bedeutet. Auf Erden ist die erstrebte Ruhigstellung der leiblichen Ursehnsucht nur augenblickshaft als geheilte Offenheit erfahrbar und der Mensch wird nur dann zum wahren Menschen, wenn er sich in aller Demut den Ereignissen des Angewiesenseins und Unterbrochenwerdens hingibt. Der medizinische Jungbrunnen, Überversorgung, Schlaftabletten und käufliche Liebe sind die menschengemachten Versuche, sich aus den leiblichen Zwängen und materiellen Nöten dieser Erdenzeit selbst zu befreien. All diese Versuche sind zum Scheitern verurteilt, weil der Mensch sich nicht selbst erlösen kann, sondern immer auf materiell anderes oder einen leiblichen anderen verwiesen ist, um er selbst zu werden oder er selbst zu sein. In der Reduktion der nicht-stillbaren Begierden hin auf das leibliche Begehren zeigt sich, dass zwar auch dieses in dieser Erdenzeit nicht gestillt werden kann, dass hier aber augenblickshaft etwas von dem aufleuchtet, was den Menschen gerade in seiner Ausgeliefertheit an seinen Körper und damit an Vergänglichkeit und Bedürftigkeit kennzeichnet und ihn öffnet auf echte Begegnung mit dem anderen: Anderes kann in mich hineinstehen, ich kann es als anderes wahrnehmen und erkennen, wenn ich gewahr werde, dass nicht ich über es herrsche, sondern ich von ihm abhängig bin. Zeigt sich hier nicht eine starke Analogie zum Gedanken der Kenose, also der Selbstentäußerung oder Selbsterniedrigung, der notwen253 https://doi.org/10.5771/9783495808405 .
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dig mit dem Gedanken der Inkarnation in Verbindung steht? Levinas spricht in seinem Aufsatz Un Dieu Homme – Ein Gott-Mensch von der verfolgten Wahrheit und weist darauf hin, dass Wahrheit mit Demut und Kenose zu tun hat, nicht mit dem Sieg über einen anderen. 44 Das Subjekt kann sich eine Zeit lang der Angewiesenheit auf anderes verweigern, aber es kann diese Angewiesenheit nicht auslöschen, weil es der Nahrung bedarf, weil es des Schlafes bedarf, weil es der Zuwendung bedarf, weil es die Zeit nicht aufhalten kann und immer älter werden wird. So zeigt sich, dass der Mensch aufgrund seiner leiblichen Verfasstheit, also als materielles Wesen, das die Zeit zeitigt und anderes als solches erkennen kann, offen ist auf die Erfahrung von anderem, worin sich die Offenheit auf den ganz Anderen hin andeutet. Deshalb kann schon die Materieverhaftetheit des Menschen mit der so grundsätzlich angezeigten Passivität als der Raum-Zeit-Ort verstanden werden, an dem der Mensch für die Erfahrung der Transzendenz offen ist. Das materiell andere wird hier nicht einverleibt, was einer Herrschaftsgeste gleich käme; vielmehr ist das Subjekt vom anderen abhängig und ist darauf angewiesen, dass sich ihm anderes gibt und schenkt. Auf Erden wird die Offenheit und Abhängigkeit als schmerzende Wunde erfahren; eschatologisch dürfen wir auf eine heilsame Offenheit auf den anderen hin hoffen. 45 Vor dem Hintergrund dieser These – die Leiblichkeit ist gerade in ihrer Materialität der Raum-Zeit-Ort der Erfahrung der Transzendenz – wird nicht nur die Tatsache verständlicher, dass Gottes Wort in der Selbstoffenbarung niemals unmittelbar ergeht, sondern immer sinnlich erfahrbar vermittelt – vermittelt auch durch Subjektivität und damit Materialität dessen, der die Offenbarung empfängt (oder durch den sie ergeht). 46 Dies lässt dann in der Rückschau auf die Heilsgeschichte den Gedanken der Inkarnation noch einmal – auch aus philosophischer Sicht – verständlicher erscheinen: Wenn der Mensch gerade in seiner 44 Emmanuel Levinas, »Un Dieu Homme?«, in: Qui est Jésus-Christ?, (Recherches et débats 62), Paris 1968, 185–214; »Menschwerdung Gottes?«, in: ders., Zwischen uns. Versuche über das Denken an den Anderen, übers. v. Frank Miething, (Edition Akzente), 1995, München u. a. 73–82. 45 Spirituell darf diese heilsame Offenheit auf den andern hin vielleicht über den hl. Thomas mitvollzogen werden, der seine Hand in die offene Seite des Auferweckten gelegt hat, was ihn zum Bekenntnis »Mein Herr und mein Gott« herausgefordert hat (vgl. Joh 20,27 f.). 46 Levinas, Jenseits des Seins (s. Anm. 6), 341.
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Leib und Zeit – Ein Versuch über die Transzendentalität des Fleisches
Leiblichkeit passiv ist und deshalb auf die Selbstgabe von anderem angewiesen ist, so dass er in seiner materiellen Leiblichkeit die Offenheit auf Transzendenz hin ist, dann wird verständlich, dass der göttliche Logos Fleisch werden konnte. Gottes Hinwendung zum Menschen musste von Gott selbst ausgehen, weil sich nicht der Mensch auf Gott hin öffnet und dessen Selbstoffenbarung erzwingt. Gott schafft den Menschen vielmehr als leibliches materielles, sinnlich erkennendes Geistwesen, so dass er der Raum-Zeit-Ort der Offenbarung und Selbsterkenntnis Gottes ist und zur innigsten Einheit von Gott und Mensch werden konnte. Wenn Offenbarung an das leibliche Geistwesen Mensch möglich sein soll, dann nur aufgrund der materiellen Existenz des Menschen bzw. aufgrund der Möglichkeit der Fleischwerdung des göttlichen Logos, aus der die hypostatische Union resultiert – die unvermischte und unzertrennbare Einheit von göttlicher und menschlicher Natur im konkret geschichtlichen Menschen Jesus von Nazareth.
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Der Johannesprolog – Sprachlichkeit der Inkarnation und Inkarnation der Sprachlichkeit
Die Intention des Prologs Der Prolog des Johannesevangeliums ist einer der Schlüsseltexte des Christentums. In ihm wird die Fleischwerdung des göttlichen Logos berichtet: Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott. Im Anfang war es bei Gott. Alles ist durch das Wort geworden und ohne das Wort wurde nichts, was geworden ist. […] Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt« (Joh 1,1–3.14a).
Die philosophische Reflexion dieses Textes war oft versucht, den Prolog für einen originär philosophischen Text zu halten – oder zumindest so zu tun, als wäre er einer. Das ist er nicht – trotz des Logosbegriffs, der ihn für die philosophische Diskussion verführbar macht. Die Intention des Prologs bestand nicht darin, den Logosbegriff zu reflektieren oder den Verbleib des göttlichen Logos zu erläutern, sondern zu erklären, wer dieser Jesus von Nazareth war, und die auf den Prolog folgende Biographie Jesu in einen bestimmten theologischen Rahmen zu stellen. Die philosophische Relevanz des Textes mag sich im Laufe der Zeit in seiner Wirkungsgeschichte erwiesen haben, die Intention des Textes war eine ausschließlich religiöse. Diese Sicht auf den Entstehensgrund des Prologs ist notwendig zum Verständnis des Textes, der auf den ersten Blick als eine sperrige, sich im Kreise drehende Spekulation um einen abstrakten philosophischen Begriff erscheint. Der Johannesprolog war für die damaligen christlichen Leser oder Hörer jedoch keineswegs sperrig, weil ihnen die Bilder und Traditionen zur Verfügung standen, die zum unmittelbaren Verständnis des Textes nötig waren. Wenn die griechische Bibelübersetzung der Septuaginta immer wieder vom Logos Gottes sprach, dem Wort, das sich den Menschen offenbart, und wenn die jüngeren Schriften des Alten Testaments von der gött256 https://doi.org/10.5771/9783495808405 .
Der Johannesprolog – Sprachlichkeit der Inkarnation und Inkarnation der Spra-
lichen Weisheit als einem Wesen, das bei Gott wohnt, berichteten, 1 dann war dem damaligen Hörer des Johannesprologs unmittelbar einsichtig, dass davon berichtet wird, dass dieses geheimnisvolle Wesen in Jesus von Nazareth Mensch geworden ist – unabhängig von aller Relevanz, den der Logosbegriff in der platonischen, aristotelischen oder stoischen Philosophie besessen hat. Verbindungen zum philosophischen Logos-Begriff werden zumindest dem gebildeten Hörer des Johannes-Prologs – wie auch seinem Autor – offensichtlich gewesen sein. Der Jude Philon von Alexandrien (ca. 15 v. Chr. – 40 n. Chr.) hatte mehrere Jahrzehnte vor dem Johannesprolog bereits einen Versuch vorgelegt, den biblischen Logos auf seine philosophische Bedeutung hin zu lesen und die philosophische Tradition für die jüdische Theologie fruchtbar zu machen. Die Christen konnten bei ihrer Interpretation des Logos-Begriffs an diesen Versuch anknüpfen und spätestens mit Justin dem Märtyrer im 2. Jahrhundert bemühte sich auch die christliche Theologie um eine philosophische Durchdringung des Logos-Begriffs. Trotz dieser zahlreichen Verbindungen des biblischen mit dem philosophischen Logos darf jedoch nicht außer acht gelassen werden, dass die Intention des Johannes-Prologs eine ausschließlich religiöse ist: der Prolog will von der Fleischwerdung des biblischen Logos in Jesus von Nazareth erzählen und jede Philosophie – insofern sie Philosophie ist –, ist nicht in der Lage, den Wahrheitsgehalt der erzählten Handlung zu beurteilen. Die Philosophie muss aber prüfen, ob in diesem Prolog Aussagen getroffen werden, die relevant sein können für den philosophischen Diskurs. Die Frage der Philosophie an den Prolog ist nicht diejenige, ob er eine wahrheitsgemäße Erzählung ist, sondern welche Wahrheit sich darin ausdrückt, dass sie überhaupt erzählt worden ist.
Die Leiblichkeit im antiken Kontext Die erste und historisch auffälligste Aussage des Prologs ist diejenige der Fleischwerdung des Logos, der Mensch- und Leibwerdung des Göttlichen. Das Auffällige an dieser Aussage besteht weniger in der Vorstellung eines Gottes in Menschengestalt – die damals durchaus in den verschiedenen Kulturen vertraut war –, sondern in der Neubewer1
Vgl. Spr 8, Sir 24,9, Weish 7,22; 9,9.
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tung der Leiblichkeit. Der Johannesprolog ist seiner Intention nach kein Mythos über ein bestimmtes Handeln Gottes, sondern eine Aussage über einen bestimmten Menschen, Jesus von Nazareth. Damit erzählt der Prolog nicht aus der Perspektive eines Gottes, der Mensch wird, sondern aus der Perspektive eines leiblichen Menschen, in dem Gott ist, und wertet auf diese Weise jede Leiblichkeit auf. Dies ist beachtlich in einer Zeit, in der die Leiblichkeit des Menschen äußerst kritisch gesehen wurde. Die großen philosophischen Schulen des Hellenismus lehnten die Leiblichkeit ab und suchten nach Wegen, wie der Mensch sich zu seiner Leiblichkeit zu verhalten habe: die Epikureer sprachen davon, ihn anzunehmen, weil man ihn ja nicht abstreifen kann; die Stoiker lehrten, die Bedürfnisse des Leibes zu missachten; der Platonismus orientierte sich an der Geistigkeit des Menschen, mit der er seine Leiblichkeit überwinden soll. Die Verachtung des Leiblichen war nicht Alleinstellungsmerkmal der Philosophie, sondern stellte das damalige Lebensgefühl des Hellenismus – gerade im Orient – dar, dessen extremste Ausformung die Gnosis war, die das Leibliche und Materielle zum Gegenpol des Guten erniedrigt und zum Bösen erklärte. H. Jonas hat in seinem Werk Gnosis und spätantiker Geist diese Mentalität des Hellenismus beschrieben als Ausdruck der »Fremdheit« in der Welt: […] hat das Wort seinen Eigengehalt als unmittelbarer Ausdruck eines elementaren Erlebnisses des Daseins. […] Das Fremde ist das Anderswoher-stammende, nicht Her-gehörige. Als solches ist es für das Hiesige das Fremdartige, Befremdliche, Unheimliche. […] Sich-ängsten und Heimweh gehören wesenhaft zum Los des Fremdlings. 2
In diese zeitgenössische Mentalität – wenn nicht der Fremdheit, so zumindest des Unbehagens vieler Menschen angesichts ihrer Körperlichkeit und ihres Lebens in dieser Welt – trifft der Johannesprolog die Aussage, dass ein bestimmter Leib Inkarnation des Göttlichen ist. Die Leib- und Weltfeindlichkeit ist auch in verschiedenen Texten des Neuen Testaments durchaus präsent; dem steht der Johannesprolog gegenüber, der jede Leiblichkeit heiligt durch die Erzählung der Inkarnation. In der Spätphase des Hellenismus, ab dem 2. Jahrhundert, nahm auch in der Philosophie die Ablehnung der Leiblichkeit religiöse Züge an, die
2 Hans Jonas, Gnosis und spätantiker Geist, Erster Teil: Die mythologische Gnosis, 92, Göttingen (4. Aufl.) 1988.
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Der Johannesprolog – Sprachlichkeit der Inkarnation und Inkarnation der Spra-
von einem Hindernis des Geistigen zu dessen Gegenpol und zum Hort des Bösen wurde, wie es etwa Plotin in seinen Enneaden beschrieb: Sie [die Seele] ist einem Leibe eingegeben, und der hat Materie. Sodann wird aber auch das Denkvermögen, wenn es Schaden nimmt, am Sehen verhindert durch die Leidenschaften, durch Überdunkelung mit Materie, durch Neigung zur Materie hin, überhaupt dadurch, dass es nicht zum Sein, sondern zum Werden hinschaut, dessen Ursprung aber ist die Materie; und diese ist so böse, dass sie schon ein Ding, das gar nicht in ihr ist, sondern lediglich auf sie hinblickt, erfüllt mit der ihr eignen Bosheit. 3
Die Lehre von der Inkarnation musste aus dieser Perspektive als verachtenswerte Phantasterei abgelehnt werden. Entsprechend scharf waren die Angriffe der Philosophen auf die Christen. Bezeichnend ist die Auseinandersetzung zwischen dem Philosophen Kelsos und dem Christen Origenes (die in Origenes’ Schrift Contra Celsum überliefert ist). So schrieb Kelsos, gemäß dem Zeugnis des Origenes: Gott ist gut, schön und glücklich und befindet sich in dem schönsten und besten Zustand. Steigt er nun zu den Menschen hernieder, so muss er sich einer Veränderung unterziehen, und zwar einer Veränderung vom Guten zum Schlechten, vom Schönen zum Hässlichen, vom Glück zum Umglück und von dem besten zum schlimmsten Zustand. 4
Origenes geht in seiner Widerlegung sehr genau diesem Vorwurf nach und verweist darauf, dass Gott unwandelbar bleibt, auch wenn sein Logos Fleisch wird. Ähnlich wie ein Arzt »schreckliche Dinge sieht und sich mit widrigen Sachen befassen muss«, sei der Logos in die Welt eingetreten, um sie zu heilen, ohne ihr allerdings zu verfallen. Interessant ist hier, dass Origenes mit dieser Argumentation zwar die Einwände des Kelsos mit dem Hinweis auf die Erlösungsrolle des Logos entkräften kann – wie er es auch in seinem Werk De principiis 5 tut –, er selbst aber auch an der Abwertung des Leiblichen festhält. So steht der Johannesprolog sowohl innerhalb als auch außerhalb des Christentums für eine Höherwertung der Leiblichkeit bzw. Materialität. Wenn die Mysterienreligionen genauso wie die Philosophie jener Zeit lehrten, dass der Mensch vom Leib erlöst werden muss, betonte der Prolog – auch gegen innerchristliche Tendenzen –, dass der Plotin, En. I 8,4 (Übers. v. Richard Harder, Hamburg 1960). Origenes, C. Celsum IV,14 (BKV 52). 5 Vgl. Origenes, De princ. II 10,1 (Hg. und übers. v. H. Görgemanns, H. Karpp, Darmstadt 1985). 3 4
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Mensch im Leib erlöst worden ist. Der Prolog erzählt von der Sprachlichkeit der Inkarnation, verweist auf eine geistige Ebene, die Teil des Leiblichen ist und von der man das Leibliche nicht isolieren darf.
Die Entdeckung der Ursprünglichkeit des Leiblichen Erst ab dem 19. Jahrhundert gelangte die Philosophie nach und nach zu einer positiveren Haltung gegenüber der Leiblichkeit – vielleicht als Folge einer immer mehr um sich greifenden Vernunftkritik. 6 Vor allem Schopenhauer und Nietzsche stehen am Anfang dieser Neubewertung des Leiblichen. Für Schopenhauer ist der Wille des Menschen die alles bestimmende Größe, die allerdings mit dem Leib verbunden und ohne ihn nicht denkbar ist: »Der Wille ist die Erkenntnis a priori des Leibes und der Leib die Erkenntnis a posteriori des Willens.« 7 Leiblichkeit und Geistigkeit des Menschen existieren in einem Verhältnis gegenseitiger Abhängigkeit. Die Differenzierung zwischen beiden ist eine erkenntnistheoretische, keine wirkliche: »In der Reflexion ist Wollen und Tun verschieden: in der Wirklichkeit sind sie eins. Jeder wahre, echte, unmittelbare Akt des Willens ist sofort und unmittelbar auch erscheinender Akt des Leibes.« 8 Nietzsche schließlich radikalisiert diesen Gedanken, wenn er die Leiblichkeit nicht nur als dem Geist gleichberechtigt gegenüberstellt, sondern den Geist der Leiblichkeit unterwirft. Rückblickend kritisiert Nietzsche in Die fröhliche Wissenschaft die bisherige Philosophiegeschichte, diese sei ein »Missverständnis des Leibes« gewesen. 9 Das Leibliche, so Nietzsche weiter, sei einer Objektivität und Idealität geopfert worden, die diesem nicht angemessen sei. Nietzsche sieht das Leibliche erwachen und dieses Leibliche, so führt er in seinem Zara-
Vgl. Stephan Grätzel, Die philosophische Entdeckung des Leibes, Stuttgart 1989. Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 158 (in: Sämtliche Werke, Bd. 1, Darmstadt 2004). 8 Ebd. 9 Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft (KSA 3), 348: »Die unbewusste Verkleidung physiologischer Bedürfnisse unter die Mäntel des Objektiven, Idealen, ReinGeistigen geht bis zum Erschrecken weit – und oft genug habe ich mich gefragt, ob nicht, im Grossen gerechnet, Philosophie bisher überhaupt nur eine Auslegung des Leibes und ein Missverständnis des Leibes gewesen ist.« 6 7
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Der Johannesprolog – Sprachlichkeit der Inkarnation und Inkarnation der Spra-
thustra aus, erkennt sich als die »große Vernunft«, welcher der Geist als »kleines Werk- und Spielzeug« untergeordnet ist. Aber der Erwachte, der Wissende sagt: Leib bin ich ganz und gar, und Nichts außerdem; und Seele ist nur ein Wort für ein Etwas am Leibe. Der Leib ist eine große Vernunft, eine Vielheit mit Einem Sinne, ein Krieg und Frieden, eine Herde und ein Hirt. Werkzeug deines Leibes ist auch deine kleine Vernunft, mein Bruder, die du ›Geist‹ nennst, ein kleines Werk- und Spielzeug deiner großen Vernunft. 10
Im 20. Jahrhundert knüpft Merleau-Ponty in seiner Phänomenologie der Wahrnehmung vielleicht am konsequentesten an Nietzsche an, wenn er die menschliche Existenz von seiner Leiblichkeit her entwirft, die nicht objektivierbar ist, »da er (erg.: der Leib) sich nicht vor meinem Blick entfalten kann, vielmehr immer am Rand meiner Wahrnehmung bleibt und dergestalt mit mir ist«. 11 Auf diese Weise ist der Leib immer Subjekt, kann aber nie Objekt der eigenen Wahrnehmung sein, »vermag er selbst nie Gegenstand, niemals ›völlig konstituiert‹ zu sein.« 12 Die Leiblichkeit ist der Ort, an dem das Sein entsteht, und bildet daher, so Merleau-Ponty – im Wortgebrauch an Nietzsche anknüpfend – eine »Genealogie des Seins«. 13 An anderer Stelle spricht er von einer »Schöpfung«, 14 und hier werden die Anklänge an die biblische Schöpfung – und damit auch an den Johannesprolog – überdeutlich. Hat die Philosophiegeschichte das Leibliche als Hindernis der Erkenntnis gesehen, so erkennt Merleau-Ponty gerade in der Leiblichkeit die einzig mögliche Grundlage menschlicher (Selbst-)Erkenntnis. B. Waldenfels spricht in diesem Zusammenhang treffend von der Leiblichkeit als einem »Grundphänomen«, »das heißt ein Phänomen, das an der Konstitution anderer Phänomene beteiligt ist« 15 und dessen Durchdringung Aufgabe der Philosophie sein muss. Die traditionelle Perspektive der Schöpfung – auch in ihrer philosophischen Deutung – kehrt sich um: nicht mehr das Leibliche erkennt im Geistigen seinen Ursprung, sondern das Geistige im Leiblichen. Wenn der Johannesprolog von der Inkarnation des Geistigen 10 11 12 13 14 15
Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra (KSA 4), 10. Vgl. Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1974, 115. Vgl. a. a. O., 117. Vgl. a. a. O., 78. Vgl. a. a. O., 50 f. Vgl. Bernhard Waldenfels, Das leibliche Selbst, Frankfurt am Main 2000, 9.
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spricht, so weist er nicht nur auf einen zufälligen Schöpfungsakt hin, sondern darauf, dass das Geistige nur Wirklichkeit gewinnt, insofern es Leib angenommen hat. Die Verbindung des Geistes mit dem Leib, von der der Prolog erzählt, ist aus der Perspektive Nietzsches oder MerleauPontys eine notwendige. Der Johannesprolog erzählt auf diese Weise nicht nur von der Sprachlichkeit der Inkarnation – der geistigen Ebene des Leiblichen –, sondern auch von der Inkarnation der Sprachlichkeit: der Leiblichkeit des Geistigen.
Die Inkarnation des Sprachlichen Die Geistigkeit wird im Prolog ausdrücklich als eine sprachliche geschildert: es ist der Logos, der Fleisch wird. Im Hintergrund steht die jüdische Tradition, dass die Sprache das wesentliche Medium der Offenbarung Gottes ist: sprechend erschafft Gott den Kosmos, sprechend wendet Gott sich an seine Propheten. Die Fixierung des Gesprochenen in der Heiligen Schrift ist die Grundlage der Religiosität des Judentums, das sich als Hörer des zu ihm sprechenden Gottes erweist (»Höre Israel!«, Dtn 6,4). So schreibt der Exeget W. Schmidt: »Die Selbstoffenbarung Gottes in seinem Wort kennzeichnet wesentlich alttestamentliches Gottesverständnis. Sie erfasst in besonderer Weise den Unterschied zwischen Gott und Mensch: Gott redet, der Mensch hört.« 16 Das dialogische Wesen des Menschen, damit seine Sprachlichkeit, ist begründet im Angesprochensein von Gott. 17 Wenn nun der Johannesprolog vom Wort Gottes spricht, das in Jesus von Nazareth inkarniert ist, so verweist er darauf, dass in diesem bestimmten Menschen in all seiner Leiblichkeit Gott selbst präsent ist und dass diese Präsenz eine sprachliche ist, weil Gott sich vorrangig in der Sprache den Menschen mitteilt. Diese Präsenz der Sprachlichkeit ist nach jüdischer Tradition keine dem Menschen zufällig hinzukommende, sondern Konsequenz Werner H. Schmidt, Alttestamentlicher Glaube in seiner Geschichte, 7. Aufl., Neukirchen 1990, 63. Vgl. auch Johannes Lindblom, »Die Vorstellung vom Sprechen Jahwes zu den Menschen im Alten Testament«, in: ZAW 75 (1963), 263–288. 17 Vgl. Hans Waldenfels, Einführung in die Theologie der Offenbarung, Darmstadt 1996, 11: »Wo das Verhältnis von Gott und Mensch vom Verhältnis zwischen Gottes Wort und dem Hören des Menschen, in der Folge danach auch von der menschlichen Antwort und Verantwortung, von Glauben und Handeln bestimmt ist, ist das menschliche Grundverhältnis fundamental als dialogisch gekennzeichnet.« 16
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Der Johannesprolog – Sprachlichkeit der Inkarnation und Inkarnation der Spra-
der Sprachlichkeit und Dialogizität eines jeden Menschen: der menschliche Leib ist sprachlich, und dieser besondere Mensch Jesus von Nazareth ist sogar in besonderer Weise Ort der göttlichen Sprachlichkeit, so der Johannesprolog. Indem der Prolog von der Materialisierung des Wortes erzählt, setzt er einen Akzent, der in der Geschichte der Philosophie oft kritisch gesehen wurde. Indem die Philosophie das Leibliche abwertete, suchte sie auch das Geistige – und das Wort als Ausdruck des Geistigen – von diesem zu befreien. Indem sich die Sprache von ihren Bindungen an die Materie löst, kann sie möglichst reiner Ausdruck des Inneren werden, des Geistes, den sie eigentlich ausdrücken will. Hier liegt die Wurzel der platonischen Verurteilung der Schrift, die ja gegenüber dem Geist nur eine noch schlimmere Verfestigung der mündlichen Sprache darstellt. Indem nun das Christentum die Lehre der Inkarnation des Wortes formuliert, so interpretiert es Gadamer, setzt es einen dauernden Akzent gegen die Auflösung der Sprache in die reine Geistigkeit und hat auf diese Weise eine gegenüber der Philosophie sehr wichtige Funktion. So schreibt er in Wahrheit und Methode: »Es gibt aber einen Gedanken, der kein griechischer Gedanke ist und der dem Sein der Sprache besser gerecht wird, so dass die Sprachvergessenheit des abendländischen Denkens keine vollständige werden kann. Es ist der christliche Gedanke der Inkarnation.« 18 Worin genau liegt laut Gadamer die besondere Stärke dieses Gedankens? Sie liegt in der Tatsache begründet, dass das Wort nicht Gestalt gewinnt, sondern immer schon eine Gestalt besitzt und somit »immer schon Wort ist«: »Das größere Wunder der Sprache liegt nicht darin, dass Wort Fleisch wird und im äußeren Sein heraustritt, sondern dass das, was so heraustritt und sich in der Äußerung äußert, immer schon Wort ist.« 19 Auf diese Weise stellt die Inkarnation des Wortes für die hermeneutische Philosophie ein wichtiges Fundament dar, verankert es doch die geistige Dimension des Begriffs unauflöslich mit seiner Materialität, seiner Geschichtlichkeit, seiner Gebundenheit an den konkreten Menschen, der es ausspricht und dem es bereits immer Wort gewesen ist.
18 19
Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, 6. Aufl., Tübingen 1990, 422. Ebd., 424.
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Die Ursprünglichkeit des Sprachlichen Die Leiblichkeit des Geistigen, spezieller des Sprachlichen, hat noch eine weitere Dimension, auf die Derrida aufmerksam macht. Er spricht nicht nur von einer Gebundenheit des Sprachlichen an das Materielle, sondern er macht die sprachliche Materialität in ihrer Form als Schrift zum Ursprung des Sprachlichen. Derrida wirft der traditionellen Philosophie einen »Logozentrismus« vor, eine Fixierung auf das gesprochene Wort als Ausdruck der eigenen Innerlichkeit. Dieser Abkünftigkeit des Wortes vom Bewusstsein, der Abhängigkeit von der menschlichen Subjektivität, setzt Derrida die Abhängigkeit des Wortes von der Schrift entgegen. Die Sprachlichkeit hat ihren Ursprung nicht als Äußerung, sondern als Reaktion auf eine Äußerung, sie ist weniger eine Aktion als vielmehr eine Reaktion. Die Schrift ist für Derrida daher nicht – wie für die traditionelle Philosophie – eine Entwertung dessen, was eigentlich gesagt worden ist, sondern die Quelle dessen, was man sagen kann. Und so entwirft er seine »Grammatologie« auf dem Fundament der Aussage, dass »die Schrift selbst als der Ursprung der Sprache« zu betrachten ist: »Man wird gewahr, dass die des Landes verwiesene, die von der Linguistik geächtete, heimatlos gemachte Schrift die Sprache als ihre erste und innerste Möglichkeit immerfort heimgesucht hat.« 20 Die Schrift, betrachtet als die Fähigkeit der Sprache, sich zu verstetigen und dauerhaft zu machen, gehört zur Sprache selbst und ist nicht von ihr zu trennen. Umso kritischer blickt Derrida auf die Abwertung der Schrift, die eine Fremdheit gegenüber dem gesprochenen Wort suggeriert, die es nicht gibt: Äußeres und Inneres sind nicht zu trennen, sie sind ein System. 21 Dieses sprachliche System entsteht immer neu an der Fixierung seiner selbst: der Schrift. In diesem Sinne ist die Schrift der Sprache ursprünglich: nicht im Sinne eines chronologisch Früheren, aus dem dann die Schrift erwächst, sondern im Sinne eines permanenten Schöpfungsaktes, in einer Gleichzeitigkeit von Äußerung und Wahrnehmung des Geäußerten, von Sprechen und der Wahrnehmung des Gesprochenen, so Derrida in Die Vgl. Jacques Derrida, Grammatologie, Frankfurt am Main 1974, 77. Vgl. Ebd., 75: »Das System der Schrift im allgemeinen ist dem System der Sprache im allgemeinen nicht äußerlich, außer man lässt zu, dass die Teilung zwischen Äußerem und Innerem Inneres von Innerem oder Äußeres von Äußerem scheidet, und zwar so, dass die Immanenz der Sprache wesensmäßig dem Einbruch ihrem eigenen System scheinbar fremder Kräfte ausgesetzt ist.«
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Stimme und das Phämonen in der Auseinandersetzung mit Husserl. 22 Diese Äußerung des Bewusstseins, das Nach-außen-Treten der Innerlichkeit, macht es unmöglich, ein reines Inneres zu denken, das unabhängig von seiner Äußerung ist. 23 Diese Verbindung, so Derrida, ist originär: Genauso wie der Ausdruck nicht kommt und sich als eine ›Schicht‹ der Gegenwärtigkeit eines vor-ausdrücklichen Sinnes hinzufügt, genauso auch kommt nicht das Draußen der Anzeige und affiziert akzidentiell das Drinnen des Ausdrucks. Ihre Verflechtung ist originär, sie ist keine kontingente Verknüpfung. 24
Dieses Äußere ist der Ort der Sinns: der Ort also, an dem das Innerliche seinen Sinn und seine Relevanz erhält. Die Bedeutung der Sprache liegt nicht in der Tatsache, dass sie Äußerung des Inneren ist, sondern in der Möglichkeit des wiederholten Bezugs auf sie, in der Verfestigung und Objektivierung ihrer Äußerung. Gewendet auf den Johannesprolog bedeutet dies, dass das Wort erst in seiner Inkarnation Bedeutung und Relevanz findet und aus seinem Wesen heraus bereits immer auf die Inkarnation hinstrebt. Die Inkarnation ist Teil des Logos, der erst in der Inkarnation wirklich zum Logos wird, zum Ausdruck seiner selbst und zu einer Äußerung, welche das Innere des Wortes erst relevant macht. Für die christliche Dogmatik ist die Inkarnation ein Akt des freien göttlichen Willens, der auf keinem im Wesen Gottes begründeten Zwang beruhen kann. Derrida eröffnet dieser Sicht auf das göttliche Handeln eine neue Dimension, die sich für ihn daraus ergibt, dass sich das Göttliche – in der Bibel allgemein und im Johannesprolog speziell – sprachlich offenbart hat. Aus der sprachlichen Dimension, aus der Tatsache des Nach-außenTretens und der Offenbarung des Göttlichen, ergibt sich für Derrida die Konsequenz der Notwendigkeit dieser Handlung. Dass dieses Geschehen für Derrida eine religiöse Dimension hat, wird offensichtlich in seiner Beschäftigung mit dem Dichter Edmond Jabès und seinem Werk Das Buch der Fragen, dem er in Die Schrift und Vgl. Derrida, Die Stimme und das Phänomen, Frankfurt am Main 2003, 108 f. Vgl. ebd., 116: »[…] gibt es keine absolute Innerlichkeit mehr, hat sich das ›Draußen‹ in die Bewegung eingeschlichen, durch die das Drinnen des Nicht-Raumes, das, was den Namen ›Zeit‹ hat, sich erscheint, sich konstituiert, sich ›gegenwärtigt‹«. 24 Ebd., 117. Vgl. auch David Wellbery, »Die Äußerlichkeit der Schrift«, in: Hans-Ulrich Gumbrecht, K. Ludwig Pfeiffer (Hg.), Schrift, München 1993, 343. 22 23
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die Differenz ein ganzes Kaptitel gewidmet hat. 25 Thema dieses Werkes von Jabès ist die Sicht auf das Judentum als einer »aus dem Buch hervorgegangenen Rasse«. Das Buch ist es, das die Juden erschafft und das ihnen erst den Horizont eröffnet, in dem sie Gott, ja sogar die ganze Welt wahrnehmen können: »Die Welt existiert, weil das Buch existiert.« Der Sinn, so kommentiert Derrida, geschieht da, wo die Welt in ihrem Geschehen und in ihrer Ereignishaftigkeit wieder zum Buch wird, in den Ursprung der Schrift zurückfindet: »Zwischen dem allzu lebendigen Fleisch des Ereignisses und der kalten Haut des Begriffs fließt der Sinn. Auf diese Weise geht er ins Buch über. Alles geht ins Buch über; alles geschieht im Buch.« 26 Spätestens an dieser Stelle, an der Derrida vom »Fleisch des Ereignisses« spricht, ist er ganz nah der Fleischwerdung des Wortes. Wenn der Johannesprolog von der Inkarnation des Logos erzählt, so gewinnt dieses Geschehen genau an der Stelle seinen Sinn und seine Bedeutung, in der das Geistig-Sprachliche Materie wird. Diese sich immer wieder in der Sprache vollziehende Grenzüberschreitung gibt dem Fleischlich-Materiellen einerseits die Möglichkeit, »ins Buch überzugehen«, die geistige Dimension seiner eigenen Welt wahrzunehmen, andererseits macht sie das Geistige erst relevant und bedeutungsbehaftet.
Leiblichkeit und Leben Eine der intensivsten und umfangreichsten Prolog-Interpretationen der letzten Jahrzehnte hat Michel Henry in seinen Werken Inkarnation. Eine Philosophie des Fleisches 27 und »Ich bin die Wahrheit.« Für eine Philosophie des Christentums 28 vorgelegt. Diese Interpretation ist getragen von seiner »Phänomenologie des Lebens«, in der er die klassische Phänomenologie im Rückgriff auf Maine de Biran (1766–1824) dahingehend radikalisiert, nicht in der leiblich erfahrenen Intentionalität des Bewusstseins, sondern in der Apperzeption des Lebens das
Vgl. Derrida, Die Schrift und die Differenz, Frankfurt am Main 1976, 102–120. Ebd., 116. 27 Michel Henry, Inkarnation. Eine Philosophie des Fleisches, Freiburg – München 2002. 28 Henry, »Ich bin die Wahrheit.« Für eine Philosophie des Christentums, Freiburg – München 1997. 25 26
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grundlegende Phänomen zu erkennen. Im Johannesprolog sieht Henry eine Schilderung der sich im Leiblichen vollziehenden Selbstwahrnehmung, die Wahrnehmung des Lebens ist. Indem Gott sich in seinem Leben selbst erkennt und auch mitteilt, erschafft er seinen Sohn, den »Erst-Lebendigen« und »Ur-Sohn«, in dessen »Ur-Zeugung« die Zeugung des Lebens selbst aufstrahlt. Die »Phänomenologie Christi« ist auf diese Weise deckungsgleich mit der Phänomenologie des Lebens. Damit wird das im Johannes-Prolog geschilderte Geschehen der Fleischwerdung des Wortes jedoch marginalisiert, da es letztlich eine unwirkliche Zeugung darstellt und zum Symbol der wirklichen Handlung wird: Es ist diese wahrhaftige und einzig mögliche Geburt als transzendentale Ur-Zeugung des ›Ur-Sohnes‹, die der überwältigende Johannes-Prolog darstellt. Johannes weiß nichts von einer menschlichen Zeugung, oder vielmehr weiß er, dass eine solche Zeugung keine ist. […] Und zwar nicht deshalb zunächst, weil Blut, fleischliches und menschliches Wollen schlecht wären, sondern aus dem viel radikaleren Grund weil weder dieses Blut noch irgendeine dieser Wollungen imstande ist, das Leben zu zeugen, sondern es im Gegenteil voraussetzen. 29
Der Inhalt des Prologs, so Henry weiter, ist somit nicht das historische Geschehen des Jesus von Nazareth: »Die hier in Frage stehende Offenbarung ist die des ›Lebens‹.« 30 Indem Henry die Inkarnation des Logos marginalisiert, zerstört er zugleich die Möglichkeit einer Interpretation des Prologs und damit der christlichen Lehre –, die angewiesen ist auf eine Analyse der Sprache sowie der historischen und kulturellen Begebenheiten: »Wahrheit des Christentums hat genau nichts mit der Wahrheit zu tun, die von der Analyse der Texte oder von deren historischer Erforschung abhängt.« 31 Im Gegenteil, in der Sprache selbst erkennt Henry ein Übel: »Die Sprache ist das allgemeine Übel geworden, und es handelt sich darum zu erkennen, warum. Was jedes Wort kennzeichnet, ist sein Unterschied zu einer Sache.« 32 Konsequenterweise ist die Sprache damit primär eine Lüge, 33 weil sie nicht in der Ebd., 111. Ebd., 111 f. 31 Ebd., 12. 32 Ebd., 19. 33 Vgl. Henry, »Ich bin die Wahrheit«, 19: »Diese Möglichkeit der Lüge ist in der Sprache verwurzelt und wohnt ihr als Wesen selbst inne. Solange es nur die Sprache gibt, kann diese nur Lüge sein.« 29 30
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Lage ist, das Leben abzubilden. Hieraus schließt Henry auf eine prinzipielle Unfähigkeit einer jeden »objektiven Wissenschaft«, die nicht in der Lage sei, das »Ganze der Wirklichkeit« wahrzunehmen, die »von Individuen konstituiert« wird. 34 Das Christentum ist Ausdruck des Unsichtbaren und Unthematischen, während die Philosophie verwiesen bleibt auf die Reflexion von Äußerungen – seien sie sprachlicher oder bildlicher Natur. Entsprechend ist auch der sprachliche Ausdruck des Neuen Testaments oder des Johannesprologs nicht per se als sprachliche Äußerung relevant, sondern wird es erst durch die christliche Wahrheit, mit der man auf den Text zutritt. 35 Das Christentum ist daher in der Lage, die »phänomenologische Absolutheit« des Lebens auszudrücken, nicht nur »bloße Sätze, Symbole oder Bilder«, wie R. Kühn Henry hier lobend kommentiert. 36 Der Grundkonflikt, der sich aus der Religionsphilosophie Henrys ergibt, wird deutlich in einer Reaktion R. Kühns auf G. Mainberger. Dieser hatte aus der Perspektive der Rhetorik Parallelen zwischen einem von Derrida verfassten Vorwort 37 und dem Johannesprolog aufgezeigt. 38 R. Kühn kritisiert scharf, dass diese literarische Behandlung des Prologs aus der Perspektive einer »philosophischen Souveränität« nicht die »Selbstbetroffenheit« beachten würde, also die Selbstapperzeption des Lebens, auf die Henry hinweist. R. Kühn fasst zusammen, dass es um eine Religionsphilosophie gehen müsste, die »voraussetzungslos arbeiten möchte, indem sie
Vgl. ebd., 13. Ebd., 20 f.: »Nicht der Textkorpus des Neues Testaments kann uns den Zugang zur Wahrheit verschaffen, zu jener absoluten Wahrheit, von der darin gesprochen wird. Es ist im Gegenteil diese Wahrheit, und sie allein, die uns den Zugang zu ihr selbst verschafft und damit gleichzeitig zum Text, um uns denselben, dem sie anvertraut ist, verstehen zu lassen und um sie in diesem wiederzuerkennen.« 36 Vgl. Rolf Kühn, »Lebensphänomenologie und transzendentale Geburt«, in: Markus Endes, Rolf Kühn (Hg.), Im Anfang war der Logos. Studien zur Rezeptionsgeschichte des Johannesprologs von der Antike bis zur Gegenwart, Freiburg 2011, 287: »Indem die Schriften des Neuen Testaments erkennen lassen, dass Christentum von vornherein – und damit prinzipiell – die Wirklichkeit der Offenbarung als ›Selbstoffenbarung Gottes‹ mit dem Leben verknüpft, kann es dabei letztlich nicht um bloße Sätze, Symbole oder Bilder gehen, sondern um die phänomenologische Absolutheit des Lebens selbst.« 37 Vgl. Nicolas Abraham, Maria Torok, Kryptonymie. Mit einem Beitrag von J. Derrida, Frankfurt am Main 1979, 61–181. 38 Vgl. Gonsalv Mainberger, »›Am Anfang war das Wort«. Johannesprolog und Derridas Prologtheorie im Vergleich«, in: Rhetorische Vernunft oder: Das Design in der Philosophie, Wien 1994, 33–48, 34 35
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ihre Grundkonzepte nicht erst sekundär empfängt, sondern von der Originarität des Lebens selbst ausgeht.« 39 Abgesehen von der phänomenologischen Frage, ob das »Leben« in seiner vorsprachlichen Unsichtbarkeit und Vorintentionalität überhaupt phänomenal greifbar sein kann, begeht Henry mit seiner Deutung des Johannesprologs aus philosophischer Perspektive gravierende Grenzverletzungen, wenn er aus einer Perspektive des Lebens eine monistische Metaphysik und eine monistische Anthropologie entwirft, die ihren Grund in einer schwer greifbaren christlichen Wahrheit hat, die sich im »Leben« selbst zeigt. 40 Indem Henry letztlich den Inhalt des Johannes-Prologs auf einen ewigen Schöpfungsakt des Ur-Wortes kondensiert, wird er weder der ursprünglichen Intention des Textes gerecht (einer Aussage über den Menschen Jesus von Nazareth), noch der philosophisch relevanten Bestimmung des Verhältnisses von Materialität und Geistigkeit bzw. von Inkarnation und Sprachlichkeit.
Christentum und Philosophie Die Handlung des Johannesprologs ist um zwei Pole herum gestaltet: dem Wort und dem Fleisch. Die eine Perspektive der Handlung besteht in der Sprachlichkeit der Inkarnation, in der die sprachlich-geistige Verfasstheit des Leibes festgestellt wird. Die andere gegenläufige Perspektive besteht in der Aussage der Inkarnation der Sprachlichkeit: Die Sprache ist nicht nur an den Leib gebunden, insofern es der Leib ist, der spricht, sondern Sprache ist inkarnatorisch, insofern sie leiblich werden muss, um überhaupt Sprache zu sein. Beide Perspektiven sind miteinander verwoben: wie der Leib notwendigerweise über eine geistig-
Vgl. Kühn, »Eine phänomenologische Perspektive«, in: Markus Endes, Rolf Kühn (Hg.): Im Anfang war der Logos. Studien zur Rezeptionsgeschichte des Johannesprologs von der Antike bis zur Gegenwart, Freiburg 2011, 311: »Eine Religionsphilosophie, welche mithin voraussetzungslos arbeiten möchte, indem sie ihre Grundkonzepte nicht erst sekundär empfängt, sondern von der Originarität des Lebens selbst ausgeht, vermag demzufolge keinen anderen Weg einzuschlagen, als sich dieser absoluten Rezeptivität als Rezeptibilität schlechthin bewusst zu machen.« 40 Vgl. Markus Enders, »Michel Henrys Philosophie des Christentums«, in: Postmoderne, Christentum und Neue Religiösität. Studien zum Verhältnis zwischen postmodernen, christlichem und neureligiösem Denken, Hamburg 2010, 164–169. 39
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sprachliche Dimension verfügt, verfügt die Sprachlichkeit über eine leiblich-materielle Dimension. Diese Perspektiven entsprechen nicht der ausdrücklichen Intention des Verfassers des Prologs, sondern sind nachträgliche Interpretationen, die in der Philosophie entwickelt wurden. Die Philosophie kann und will nicht über die theologische Wahrheit eines Glaubenstextes entscheiden, aber sie kann und soll in diesen Texten die Wahrheiten aufspüren, die unabhängig vom theologischen Inhalt in ihnen zu finden sind und ohne die es auch die theologische Aussage nicht geben würde. Der Text hat eine Wahrheit, warum er überhaupt geschrieben wurde, warum ein bestimmter Inhalt in ihm auftaucht und warum nicht, und warum er sich zustimmend oder ablehnend zum philosophischen Diskurs verhält: Um diese Wahrheit muss es der Philosophie gehen. Der Johannesprolog erzählt als theologischer Text über die Menschwerdung Gottes und setzt gleichzeitig den philosophischen Impuls, eine Materialisierung des Geistigen wahrzunehmen und die Dimension des Materiellen nicht im Geistigen aufzulösen. Die Philosophie ist auf solche Impulse angewiesen, da sie als Form der rationalen Weltdeutung immer auch das Andere, Nichtrationale beachten und reflektieren muss, um ihrem eigenen Anspruch gerecht zu werden, allgemeingültig sprechen zu können. Derridas Sprechen über den materialen Ursprung der Sprache setzt einen Weg fort, der im jüdischen Denken und seiner Wahrnehmung der sprachlichen Offenbarung Gottes begonnen hat und an dem sich auch der Johannesprolog befindet. Die Philosophie besteht im Aufgreifen solcher Wege und Verästelungen; sie entsteht nicht voraussetzungslos, sondern ist als Denken Umgang mit dem, was da ist: sei es in der Gegenwart oder in der Vergangenheit, die auf die Gegenwart wirkt. In dem Augenblick, in dem die Philosophie die Signale der Theologie beachtet und ihrerseits über die Materialisierung des Geistigen spricht, kann sie wiederum dem Christentum bzw. der christlichen Theologie helfen, ihre eigene Botschaft zu durchdringen: Was heißt es, dass das Wort Fleisch geworden ist? Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für das Gottesbild? Was heißt es, dass Gott sich laut biblischem Zeugnis vorrangig in der Sprachlichkeit des Menschen offenbart? Was sagt das über den Menschen aus? Was über Gott? Diesen Weg ist Henry gegangen. Er war insofern kein Theologe, weil er seine Thesen unabhängig und manchmal auch entgegen der christlichen Dogmatik entwickelte. Aber er hat als gläubiger
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Christ Philosophie betrieben und auf diese Weise wichtige philosophische Inhalte in die Theologie integrieren können. Das Christentum will eine bestimmte Botschaft verkünden und hat im Rahmen dieser Verkündigung zahlreiche Zeugnisse geschaffen. Diese Zeugnisse sind Ausdruck einer bestimmten Weltdeutung, die in einer bestimmten Zeit in einer bestimmten Kultur gefasst wurde. Die Philosophie ihrerseits muss diese Zeugnisse beachten und auf ihre philosophische Relevanz hin befragen. Die philosophische Durchdringung dieser Zeugnisse gibt ihrerseits dem Christentum bzw. der christlichen Theologie die Möglichkeit, ihre eigene Botschaft zu reflektieren und zu schärfen. Der Johannesprolog mit seinem Aufzeigen der Verbindungen und Verstrebungen von Sprache und Leiblichkeit ist auf diese Weise sowohl für das Christentum und die Philosophie, als auch für die Beschreibung ihres Verhältnisses von großer Bedeutung.
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»Leibhaftige Sprache« – Über den stofflichen Zusammenhang zwischen profaner Dichtung und religiöser Rede Mit Hilfe der folgenden Reflexionen soll der Versuch unternommen werden, einige ausgewählte Formen narrativer Versachlichung, die die Fähigkeit des Menschen betrifft, Gegebenes zu Gegenständen des Bewusstseins zu erheben, vorzustellen. Narrative Versachlichung ist dabei das vielgestaltige Experiment, in Text gefasste Sprache als etwas erscheinen zu lassen, das vorzugeben erlaubt, von sich selbst her – d. h. als sprachliches Symbol, als originäres Textereignis oder als abgeleitetes Bedeutungsphänomen – zu sprechen. Mit diesem Ziel sind sogleich verschiedene, sich auch des Öfteren widersprechende Absichten verbunden, die im Verlauf unserer Ausführungen diskutiert werden. Für all jene Ansätze gilt aber, dass sie auf eine mehr oder weniger transparente Selbstartikulierbarkeit des Textes abzielen, die gegen ein Verständnis der Sprache als ein nicht wieder zu belebendes, aus lauter »toten Buchstaben« bestehendes Strukturgebilde gerichtet sind, zugleich es aber auch vermeiden sollen, den Text als etwas Quasilebendiges bzw. als eine unmittelbar zugängliche Quelle für künstlerische Inspirationen irgendwelcher Art zu begreifen.
1. Kulturanthropologische Voraussetzungen Bevor wir nun verschiedene Methoden und Formen der narrativen Versachlichung genauer untersuchen wollen, müssen wir zunächst ihren Bezug zu bestimmten Fähigkeiten, die den Menschen auszeichnen, betonen. Die Philosophische Anthropologie um Max Scheler, Helmuth Plessner und Arnold Gehlen hat eindrucksvoll gezeigt, dass sich der Mensch neben seiner Instinktungebundenheit und Weltoffenheit insbesondere durch eine Verbalisierungs- bzw. Symbolisierungsfähig-
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keit, kurzum seine Fähigkeit zur »Sachlichkeit«, 1 charakterisieren lässt und sich dadurch maßgeblich vom Tier zu unterscheiden vermag. Der Mensch ist somit das sprechende Wesen sui generis. Er kann Beliebiges aussprechen, auf etwas sprachlich hindeuten und seinem Sagen eine Handlungsstruktur verleihen (z. B. im Befehlen). Damit verbunden ist auch seine Fähigkeit zur Abstraktion, die eine entscheidende Voraussetzung für die Begriffsbildung ist. Dieses sprachliche Objektivierungsgeschehen, das bei dem Philosophen und Soziologen Helmuth Plessner auch explizit als Versachlichung bezeichnet wird, ermöglicht dem Menschen, sich unabhängig von naturkausalen Zusammenhängen, in denen er steht, frei »zu bewegen«. Durch sein Sprachvermögen kann sich der Mensch Entlastungen verschaffen, insofern er körperliche Tätigkeiten durch verbalisierte Interaktionen umgehen und koordinieren kann. Versachlichung kraft der Fähigkeit des Menschen, »sachlich« zu sein, ist damit auch die Grundlage für jedwede Art von Kulturleistung. Plessner bringt diesen Sachverhalt wie folgt auf den Punkt: »Ohne das Vermögen der Versachlichung gibt es ebenso wenig Sprache und Sprechen wie Werkzeugerfindung.« 2
2. Versachlichung als genuin narratologisches Verfahren Aufgrund dieser entscheidenden anthropologischen Differenz ist der Mensch als sprachbegabtes animal symbolicum im Gegensatz zum Tier auch mustergültig dazu disponiert, zu sich selbst ein Verhältnis haben zu können. Diesem Selbstverhältnis kann er in künstlerischer Form einen angemessenen Ausdruck verleihen, indem er alles, was er vorfindet, zu Gegenständen seiner Sprache und zu Objekten seiner nicht allein durch sich selbst verursachten Absichten erhebt, d. h. sie versachlicht. 3 Neben einer Versachlichung in Gestalt eines ersten und grundlegenden Verbalisierungsvermögens kennen wir analog dazu auch etliche Formen einer bewusst eingesetzten, sprachlichen Versach-
1 Vgl. dazu M. Hähnel, Das Ethos der Ethik. Zur Anthropologie der Tugend, Wiesbaden 2014, Kap. »Die ›Sachlichkeit‹ des Menschen – ein vernachlässigter Grundbegriff der Philosophischen Anthropologie«, 157–168. 2 H. Plessner, Conditio humana, Pfullingen 1964, 35. 3 Versachlichung ist hier, wie leicht zu erkennen ist, streng von einer einfachen Verdinglichung zu unterscheiden.
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lichung im Bereich der Rhetorik und der literarischen Narration. Die belletristische Literatur selbst bietet uns hervorragende Beispiele für eine solche narrative Versachlichung. Sie stellt ferner den Versuch dar, ontologische Fragen vornehmlich im Rahmen sprachkünstlerischer Konzeptionen zu verhandeln und zu problematisieren. Hierbei sind, anders als es der frühe Wittgenstein annahm, die Grenzen der Sprache nicht mit den Grenzen der Welt identisch, weil Sätze jedweder Art nicht bloß wieder auf andere Sätze verweisen, sondern eine bestimmte Referenz auch auf nicht-sprachlich Verfasstes, d. h. auf das, woraus sie (die Sätze) zuerst hervorgehen, haben. 4 Das Phänomen der narrativen Versachlichung besitzt demzufolge mehrere Dimensionen, aber meint in unserem Kontext insbesondere eine Annäherung des Gesagten an das, worüber das Gesagte ausgesagt wird: (a) Es besteht nun zuvörderst die Möglichkeit, vermittels Sprache Wörter zu künstlerischen Dingen zu erheben (symbolische Substantialisation). (b) Damit verwandt ist die Idee, vorliegende, allseits bekannte Dinge und Ereignisse, für die wir eindeutige Begriffe besitzen, durch realistisches Erzählen leibhaftig nachzubilden und ihnen eine historische Wirklichkeit zu verleihen (pleromatische Figuration). (c) Demgegenüber steht der Versuch, bedeutungstranszendente Gehalte figurativer Erzählmuster zu säkularisieren (kenotische Transformation). (d) Auf der eher stilistischen Ebene finden wir schließlich Formen vor, die Verknappung, Konnotationsverzicht und Anekdotisierung in das Zentrum des Erzählens stellen. (dekuvrierende Reduktion).
Diese Auffassung erfährt von allen Seiten heftige Kritik. Nach W. v. O. Quine erzeugt die Referenz als Relation zwischen Zeichen und Bezeichnetem unerwünschte Vieldeutigkeiten. Dagegen führt Quine die Idee einer cross-reference ein, die eine Relation zwischen Zeichen und koordinierten, d. h. reglementierten Zeichen (a relation of sign to coordinate sign) ausdrückt. (Ders., Word and Object, Cambridge 1960, 137) Sprache wird somit auf das gekürzt, was sie eindeutig zu sagen hat. Es ist schon ein Zeichen von Ironie, dass Quine, der sprachlich selbst ein ausgesprochener Stilist war, solche Domestizierungen vornimmt, die es ferner auch nicht zulassen, Sprache als etwas zu begreifen, dass im Heideggerschen Sinne auch selber zu sprechen vermag.
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2.1. Die symbolische Substantialisation Wenn wir nun von der Versachlichung in Form der künstlerischen Dingwerdung sprechen, so können wir vorbildlich das poetische Programm Rainer Maria Rilkes anführen. Rilkes Prinzip des »sachlichen Sagens« 5 soll uns vor Augen führen, dass Gegenstände in der Erfahrung nicht bloß in Form sprachlicher Abstraktionen festgehalten werden, sondern in der Sprache selbst real in Erscheinung treten können. Rilke schreibt im Malte, dem Vorzeigewerk für seine Idee des sachlichen Sagens: Es ist nicht zu sagen, was dann ein lichtgrüner Wagen sei auf dem PontNeuf oder irgendein Rot, das nicht zu halten ist, oder auch nur ein Plakat an der Feuermauer einer perlgrauen Häusergruppe. Alles ist vereinfacht, auf einige richtige, helle plans gebracht wie das Gesicht in einem Manetschen Bildnis. Und nichts ist gering und überflüssig. Die Bouquinisten am Quai tun ihre Kästen auf, und das frische oder vernutzte Gelb der Bücher, das violette Braun der Bände, das größere Grün einer Mappe: alles stimmt, gilt, nichts fehlt, nimmt teil und bildet eine Vollzähligkeit, in der nichts fehlt. 6
Wir können sehen, dass an dieser Stelle unter anderem auch die Metonymie eine große Rolle spielt. 7 Die aufgezählten Gegenstände sind, obwohl sie nicht mit dem, was sie bezeichnen, identisch sind, jedes für sich vollständig. Daraus folgt nach Rilke, dass »Sachliches und das Wesen erreichendes Sagen konvergieren [können]. Beide haben die Funktion, das dichterische Sprechen zu rechtfertigen, das zwar am Ding festgemacht wird, jenem aber nicht untergeordnet werden soll.« 8 Diese Aufwertung des sprachlichen Gegenstandes resultiert aus der spielerischen, aber gerichteten Zuwendung zu ihm, ohne dabei den eigenen Gefühlen, die den Eindruck verzerren könnten, nachzugeben oder die Der Ausdruck geht zurück auf eine Passage in einem Brief des Autors an seiner Frau vom 19. 10. 1907, wo Rilke mit Bezug auf Baudelaires Gedicht »Das Aas« erstmals von der »Entwicklung zum sachlichen Sagen« (in: R. M. Rilke, Briefe aus den Jahren 1906 bis 1907, Leipzig 1930, 393) spricht. 6 R. M. Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, Frankfurt 1980, 20. 7 Über die Metonymie als philosophisches Prinzip gibt folgender Band ausführlich Auskunft: Walter Schweidler (Hg.), Zeichen – Person – Gabe. Metonymie als philosophisches Prinzip, Freiburg 2014. 8 Zitiert aus: H. Engelhardt, Versuch, wirklich zu sein: Zu Rilkes sachlichem Sagen, Frankfurt 1973, 109. 5
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Aufmerksamkeit allzu scharfsinnig auf bestimmte Details zu richten. Peter Handke, der Rilkes Technik des sachlichen Sagens adaptiert hat, spricht hier von einem »absichtslosen Schauen, in dem ein Ding alle vertrat.« 9 Rilkes poetische Produktionsweise dieses »unbeherrschten Schauens«, wie er es selber einmal genannt hat, spiegelt sich in anschaulicher Weise vor allem in der bildenden Kunst Paul Cézannes wieder. Sowohl Rilke als auch Cézanne haben auf quasiphänomenologische Weise versucht, die Gegenstände so zu sehen, wie sie sich von sich selbst her zeigen. 10 Dabei verliert sich das Gezeigte nicht in willkürlichen Formen, sondern geht in einem Konkreten auf, das dem wahrnehmenden Blick einen neuen Maßstab offeriert. So schreibt Rilke mit Blick auf Cézanne: »Die Sachlichkeit den Modellen gegenüber, die Behauptung, ihnen gerecht zu werden, indem sie mit ihren angeblich eigenen Maß gemessen werden, verwandelt das geschichtlich SoSeiende in einen der Zeit enthobenen Gegenstand, der, an sich gut, Objekt des Rühmens wird.« 11 Narrative Versachlichung im Sinne Rilkes bedeutet also, dass Gegenstände, ob wahrgenommen oder imaginiert, zu etwas erhoben werden, das nicht einfach festgestellt wird, sondern in Form einer »Halbdinglichkeit« vorliegt, welche jedoch nicht direkt, sondern über viele Bezüglichkeiten erschlossen wird. So heißt es in dem berühmten Gedicht Der Ball: »Zu wenig Ding und doch noch Ding genug.« 12 Interessanterweise nennt Rilke »die Sache«, um die sich alles dreht, immer beim Namen, sodass auch der Eindruck entstehen kann, dass der Dichter das besprochene Ding durch seine symbolische Bedeutung zu ersetzen beansprucht. Diese Versachlichung durch Symbolisierung (weitere Beispiele bei Rilke sind hier »die Fontäne«, »der Spiegel« oder »die Waage«) sorgt dafür, dass derjenige, der das Symbol in die Welt setzt, auch Anspruchsrechte auf seine Deutung einführt. Dies 9 P. Handke, Das Spiel vom Fragen oder die Reise zum sonoren Land, Frankfurt 1989, 90. 10 Zur phänomenologischen Struktur der Dichtung Rilkes: K. Hamburger, Philosophie der Dichter, Stuttgart 1966, 179–275. Dazu: »Wenn wir die ins Dichterische umgesetzte Methode der phänomenologischen Reduktion in den Dinggedichten Rilke herausarbeiten, die Blauspezies der blauen Hortensie als vollendete ›Ausführung‹ des Verfahrens, wie es Husserl für die Gewinnung der Rotspezies eines roten Löschblattes verordnet, so haben wir mit Rilke und mit Husserl uns ›zu den Sachen selbst‹ gewendet.« (Ebd., 213.) 11 Zitiert aus: Engelhardt, Der Versuch, wirklich zu sein, a. a. O., 122. 12 R. M. Rilke, Der neuen Gedichte anderer Teil, Frankfurt 1991, 119.
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ist allerdings auch mit der Gefahr verbunden, dass wahre Symbolizität durch psychologische Repräsentation dieser Bedeutung substituiert werden kann. Der Symbolismus, auch derjenige Rilkes, droht somit in einen magischen Emblematismus zu münden, in dem der Gegenstand nichts mehr hervorbringt außer seiner positiven, d. h. »aufgeladenen« Bedeutung. Noch im Unterschied zur geheimnis-konservierenden Symbolauffassung einiger Spätromantiker wie Clemens Brentano neigt der spätere immer deutungsfreudiger werdende Symbolismus (»Das ist ein Symbol für …«) aufgrund fehlender »realer Verkörperung« 13 dazu, leer zu werden und am Ende nichts mehr auszusagen. Infolge dieser Bewegung wird sich das Symbol letztlich selbst zum Symbol und somit – in einer allerdings nicht ausschließlich pejorativ zu verstehenden Weise – idiosynkratisch. Diese ästhetische Selbstverschließungstendenz bringt es nun mit sich, dass das Symbol immer mehr zur Chiffre (arab. »leer«) umgewidmet wird, was wiederum zur Folge hat, dass die klassische Symbollehre zur formalen Zeichentheorie regredieren kann. Die Symbolisierung als Form narrativer Versachlichung ist also auf der einen Seite ein Mittel, um Sprachformen künstlerisch aufzuwerten, andererseits aber auch ein Beispiel dafür, wie dichterische Sprache zur »Entzauberung« von ursprünglichen Bedeutungsgehalten beitragen kann. Im Folgenden möchte ich deshalb zwei zentrale, gegenstrebige Formen der narrativen Versachlichung vorstellen, die sich an die vorangegangenen Gedanken zur symbolischen Substantiation anschließen lassen. Das soll zum einen mit Erich Auerbachs Inkarnationspoetik und zum anderen mit Albrecht Schönes sprachlicher Säkularisationstheorie geschehen. Beide Interpretationen, einmal in Form einer pleromatischen Figuration und einmal in Gestalt einer kenotische Transformation, versuchen mit eigenen Mitteln und divergierenden Konklusionen aufzuzeigen, wie sich das weltliche Auftauchen der Sprache in der Literatur manifestieren konnte. 14 P. Florenskij, An den Wasserscheiden des Denkens, Berlin 1991, 224. In religionsphilosophischen Kontexten hat Gianni Vattimo die positive Dialektik von Inkarnation und Säkularisation hervorgehoben, die durch die Gegenüberstellung der Positionen von Auerbach und Schöne auf einer literaturtheoretischen Ebene erneut ausgetragen wird. Vattimo sieht Säkularisation dabei nicht als Ergebnis eines folgenlosen Auflösungsprozesses, sondern als positiv wirksame Gegebenheit. Mit Hilfe seines Ausdrucks der Kenose (griech. Leerwerden) reessentialisiert Vattimo damit die Ausfällungsprodukte eines unumkehrbaren Säkularisationsprozesses.
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2.2. Die pleromatische Figuration Bei Erich Auerbach treffen wir auf eine bestimmte poetologische Deutung der biblischen Aussage, wonach »das Wort Fleisch geworden ist« (Joh 1,14). Auerbachs »figurale Wirklichkeitsanschauung« 15 besagt im Kern, dass alles, was eine realistische Darstellung erfährt, eine gültige Repräsentation dessen sein kann, was dargestellt wird. Um dies näher zu verdeutlichen, führt Auerbach den Begriff der figura ein, 16 welcher zum Ausdruck bringen soll, dass gegen die Vorstellung einer illusion référentielle Wort und Gegenstand eine prästabilisierte Beziehung eingehen, die sich »geschichtlich« 17 manifestiert und perpetuiert. Auerbach veranschaulicht in seinen Arbeiten, wie »ein Wort aus seiner Bedeutungsentwicklung heraus in eine weltgeschichtliche Lage hineinwachsen kann und wie sich alsdann daraus Strukturen entwickeln, die für viele Jahrhunderte wirksam sind.« 18 Solche figuralen Darstellungen organisieren die Zeit und verbinden Ereignisse miteinander. Mit den Worten Auerbachs formuliert: Für die gedachte Anschauung bedeutet ein auf Erden geschehener Vorgang, unbeschadet seiner konkreten Wirklichkeitskraft hier und jetzt, nicht nur sich selbst, sondern zugleich auch einen anderen, den er vorankündigt oder bestätigend wiederholt; und der Zusammenhang zwischen Vorgängen wird nicht vorwiegend als zeitliche oder kausale Entwicklung angesehen, sondern als Einheit des göttlichen Planes, dessen Glieder und Spiegelungen alle Vorgänge sind; ihre unmittelbare irdische Verbindung untereinander ist von geringerer Bedeutung, und die Kenntnis derselben ist für die Interpretation zuweilen ganz entbehrlich. 19
In seinem gleichnamigen und Epoche machenden Aufsatz versucht Auerbach die verschiedenen Bedeutungen des Begriffs genauer zu analysieren: So wird figura in der Spätantike oft mit »Gestalt« wiedergeE. Auerbach, Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, Bern 1964, 516. 16 Ders., »Figura«, in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie, Bern 1967, 55–92. Für eine eher medial-semiotische Bedeutung von figura plädiert: M.-A. Aris, »Figura«, in: Das Mittelalter 15/2 (2010), 63–79. 17 Was Auerbach »geschichtlich« nennt, müsste »in der bzw. durch die Geschichte präsent« sein, d. h. historisch substantialisiert werden, damit es als »unbezweifelte fleischlich-geschichtliche Wirklichkeit« (Ders., »Figura«, a. a. O., 70) vorliegen kann. 18 Ebd., 92. 19 Auerbach, Mimesis, a. a. O., 516. 15
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geben. Bei dem Kirchenvater Tertullian wird der Terminus sogar als »Fleisch« 20 übersetzt, wobei spätere Interpreten auch die Auffassung vertreten, dass die Inkarnation die Erfüllung der figura bedeute. 21 Auerbach stellt sich hierbei auch die uns bereits bekannte Frage, inwieweit das Symbol ein figurales Gestaltungsmittel sei, da manche Autoren es eher der figura gegenüber gestellt wissen wollen: »Die symbolischen und mythischen Formen haben manche Berührungspunkte mit der Figuraldeutung; beide erheben Anspruch auf Deutung und Ordnung des Lebens im Ganzen, beide sind nur in religiösen oder verwandten Bezirken denkbar; doch fallen auch die Unterschiede sogleich ins Auge. Dem Symbol wohnt notwendig magische Kraft inne, der figura nicht.« 22 Es ist durchaus konsequent, wenn Auerbach hier explizit das Sakrament, das ihm zufolge sowohl Figur als auch Symbol ist, erwähnt. 23 Denn durch die »geschichtliche« Realität der figura kann die magische Kraft des Symbols zurückgenommen werden. Im Sakrament, das nach Thomas von Aquin nicht nur etwas bedeutet, sondern auch das bewirkt, was es bedeutet, 24 können indes symbolische Darstellung und »geschichtlicher« Realvollzug koinzidieren. Sakramentalität ist somit etwas, das auch der antike figura-Begriff nicht vollständig aufnehmen kann. Überhaupt ist es die Geschichte Christi, die »mit ihrer rücksichtslosen Mischung von alltäglich Wirklichem und höchster, erhabenster Tragik die antike Stilregel überwältigte.« 25 Für Auerbach besteht aber gerade in dieser Stilmischung der wahre Realismus, der Ders., »Figura«, a. a. O., 66. Ebd., 70. Die Idee der Erfüllung geht auf die durch die Kirchenväter betonte Realprophetie im Alten Testament zurück (Vorausdeutung auf Christus) und korrespondiert mit mittelalterlichen Heilserwartungen: »Die Unterwerfung der Idee unter die Fragwürdigkeit und verzweiflungsvolle Widerrechtlichkeit des irdischen Geschehen […] ist so hoffnungslos schrecklich, dass die Gewissheit der tatsächlichen, konkret greifbaren Richtigstellung im Jenseits der einzige Ausweg […] bleibt. Daraus ergab sich eine unerhörte Konkretheit und Intensität der eschatologischen Vorstellungen.« (E. Auerbach, Dante als Dichter der irdischen Welt, Berlin 1929, 21.) 22 Ebd., 80. Curtius und Jauss kritisieren diese Scheidung (nicht Trennung) von abstrakter Allegorie und Typologie: E. R. Curtius, »Gustav Gröber und die romanische Philologie«, in: Zeitschrift für romanische Philologie 67 (1951), 225–288, bes. 276 f.; H. R. Jauss, »Form und Auffassung der Allegorie in der Tradition der ›Psychomachia‹. Von Prudentius zum ersten Romanz de la Rose«, in: H. R. Jauss, D. Schaller, Medium Aevum vivum. Festschrift für W. Bulst, Heidelberg 1960, 179–206. 23 Vgl. Auerbach, »Figura«, a. a. O., 81. 24 Thomas von Aquin, Summa Theologiae III, 62, 1. 25 Auerbach, Mimesis, a. a. O., 516. 20 21
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nicht nur das für ihn »kreatürliche« Mittelalter – mit Dantes Typologien in der Göttlichen Komödie an der Spitze – gilt, sondern bis in die Gegenwart seine Wirkung entfaltet. Der Schriftsteller Martin Mosebach würdigt deshalb Auerbachs zeitloses Anliegen mit den Worten: Erich Auerbach sieht den europäischen, nachantik-christlichen Roman weniger als Übermittler und Transporteur, denn als Frucht einer Philosophie, die eine bestimmte Art der Wirklichkeitsbetrachtung hervorgebracht hat: sie widersetzt sich dem gleichfalls christlich motivierten Symbolismus und bestätigt damit den grundsätzlich paradoxalen Charakter des Christentums. Der christliche Aristotelismus sieht die Verbindung von Geist und Materie ja nicht so, als werde die Idee in die Materie eingetopft, wohne irgendwie in ihr, sei also immer noch von ihr zu scheiden. Mit der Vorstellung der Inkarnation, diesem christlichen Schlüsselbegriff, ist verbunden, dass sich der inkarnierende Geist durch die Materie neue, ihn bereichernde Eigenschaften erhält. Wahrheit ist Gestalt und nicht Doktrin. 26
Bei Auerbach, so können wir an dieser Stelle festhalten, geschieht narrative Versachlichung in Gestalt einer lebendigen literarischen Nachbildung, die vornehmlich auf typologischen Präfigurationen basiert und dadurch wirkt.
2.3. Die kenotische Transformation In kritischer Auseinandersetzung mit der Mimesis-Konzeption Erich Auerbachs lässt sich auf dem Feld der Literaturwissenschaft auch die Tendenz verzeichnen, sich von verbindlichen Präfigurationen wieder zu verabschieden und eine Loslösung von dem Urbild bzw. Urtext auf verschiedene Art und Weise anzustreben. So hat Albrecht Schöne in seiner berühmten Studie Säkularisation als sprachbildende Kraft ausgeführt, 27 wie im Verlaufe der neuzeitlichen deutschsprachigen Dichtung, religiöse Sprache und Rede benutzt wurden, um neue Formen der Narration zu entwickeln. Dieser Prozess ging nach Ansicht Schönes mit der Säkularisierung der religiösen Sprache einher, die entkleidet von festen Referenzen fortan in verschiedenen literarischen Werken M. Mosebach, »Wer einen Roman schreibt – sollte der wissen, was ein Roman ist?«, 62, in: Sinn und Form 1 (2011), 46–64. 27 Vgl. A. Schöne, Säkularisation als sprachbildende Kraft. Studien zur Dichtung deutscher Pfarrersöhne, Göttingen 1968. 26
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Einzug halten konnte, um dort in rekontextualisierter Form neue Darstellungshorizonte zu eröffnen. Dieser Zugewinn war, so Schönes Ansicht, ebenso mit einem spezifischen Verlust verbunden, da diese Werke nun auch ohne den offenen Rekurs auf die religiösen Quellen der Bibel existieren konnten, d. h. sich unter dem Gesichtspunkt der Werkautonomie von ihrer Herkunft emanzipiert haben. In der deutschen Barocklyrik finden sich bei Andreas Gryphius erste deutliche Anzeichen für eine mit Blick auf Auerbach von Schöne bewußt als postfigural bezeichnete Gestaltung, in welcher die dichterische Produktion Vorrang vor der literarischen Auslegung hat. Außerdem »geht die dichterische figura zeitlich gesehen der neutestamentlichen veritas nicht mehr vorauf, sondern folgt ihr nach.« 28 Zu guter Letzt »wird nicht mehr ein religiöser, sondern ein weltlich-historischer Stoff der figuralen Behandlung unterworfen.« 29 Während Auerbach in seiner Figura-Konzeption noch die Wirklichkeitsdarstellung als Mimesis verstand, wird sie bei Schöne zum Derivat eines sprachlichen Säkularisierungsgeschehens umgedeutet: »Die postfigurale Gestaltung […] verliert diesen heilsgeschichtlichen Sinn. Sie tritt aus dem theologischen Verlauf heraus, gibt das mit der Theologie verbundene Merkmal der Steigerung auf und entfremdet das figuratio-Prinzip so seinem ursprünglichen Sinn.« 30 Der somit säkularisierte und entteleologisierte Text erhält fortan ein spezifisches Eigengewicht. Obwohl er seine Wurzeln nicht verleugnen kann, wird er zu einem Gründungsdokument freiheitlicher Dichtung. 31 Weitere Säkularisierungsformen religiöser Diktion, die in Folge des frühneuzeitlichen Freisetzungsprozesses literarischer KreativitätsEbd., 89. Ebd. 30 Ebd., 276. 31 Schöne bezieht sich in seinen Ausführungen vornehmlich auf protestantische Pfarrerssöhne. Es ist durchaus geläufig, dass die protestantische Tradition seit jeher strenge Textexegese betreibt und dabei die freie Interpretation nur schwerlich zuzulassen scheint. Daher müsse die von Gryphius betriebene Befreiung aus der erforderlichen Auslegungspraxis eigentlich wie eine Häresie wirken. Tatsächlich war und ist die traditionelle Auslegungspraxis aber nicht davon betroffen, da sie weiterhin in nahezu unveränderter Form bestehen konnte und noch bis heute besteht. Somit sind Gryphius u. a. keine Konkurrenten einer klassischen Exegesetradition, sondern sie begründen ausgehend und in Abhängigkeit von dieser ein neues Genre, in dem nun Sprachformen gebildet werden dürfen, die sich der Kraft religiöser Texte und der individuellen Einbildungsgabe des Dichters verdanken. 28 29
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potentiale von Schöne herausgearbeitet wurden, sind das Prinzip der Situationswiederholung bei Jakob Michael Reinhold Lenz, die Idee der didaktischen Verweisung bei Jeremias Gotthelf, der zufolge religiöse Inhalte zur reinen Belehrung verwendet werden, und die Inversion der klassischen geistlichen Kontrafaktur (Umdichtung eines weltlichen in ein religiöses Lied) zum Zwecke der dramatischen Steigerung der eigenen Dichtung bei Gottfried August Bürger. Diese Säkularisierungstendenz führt somit verstärkt dazu, dass religiöse Motive gänzlich irrelevant werden oder lediglich als Material für Parodien verwendet werden. Allerdings weist Schöne selbst für Gottfried Benn nach, dass in seinen Gedichten unter anderem die vorgeprägten, nicht säkularisierbaren Zeitvorstellungen des Christentums überdauern. 32 In einer aus existentieller Not geborenen Notwendigkeit heraus klammert sich Benn an die Sprache, da sie für ihn bewahrt, »was die Gesinnung verlor und das Bekenntnis verneint.« 33 So erscheint es dem Leser, als würde Benn Verse schreiben, die »gleichsam ihre Aussage [selbst widerlegen]: sie bewahren eben die Bilder, deren Verlust, deren Absinken sie aussprechen, und zeugen so für jene erhaltende und überdauernde Kraft des geformten Wortes.« 34 So gewinnt der Pastorensohn Benn in seinen »Reminiszenzen, Prophetien und Präludien« 35 die Kraft des Wortes, zu dem er sich auch wieder bekennen kann, zurück. Weiterhin schreibt er: »Im Anfang war das Wort und nicht das Geschwätz, und am Ende wird nicht die Propaganda sein, sondern wieder das Wort. Das Wort, das bindet und schließt, das Wort der Genesis, das die Feste absondert von den Nebeln und den Wassern, das Wort, das die Schöpfung trägt.« 36 Alles in allem zeigt Schöne mit Benn und den anderen Literaten, wie trotz der explosionsartigen Ausbreitung alternativer Textformen, die auch oft mit semantischer Aushöhlung durch kontextuelle Übertragung zu tun hatte, die Sprache doch das erhalten konnte, was sie von Grund auf ausgezeichnet hat – ihre substantielle »Grammatik«.
32 33 34 35 36
Schöne, Säkularisation als sprachbildende Kraft, a. a. O., 264. Ebd., 236. Ebd., 227. Ebd., 267. G. Benn, »1956«, in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. III, Stuttgart 1977, 176.
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2.4. Die dekuvrierende Reduktion Eine letzte Form der narrativen Versachlichung finden wir schließlich in der Idee des Konnotationsverzichts und der sprachlichen Entreferentialisierung. Letztere schließt sich nahtlos an die literarische Säkularisierungsthese Schönes an, welche ihrerseits in den Konsequenzen nicht so radikal erscheint wie einige literarische Formen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, z. B. des französischen nouveau roman. Hinsichtlich des verkürzenden Konnotationsverzichtes ist der nouveau roman auch die kompromisslose Fortsetzung einer literarischen Entreferentalisierungsbewegung, die durch den Symbolismus angestoßen und vorangetrieben wurde. Franz Koppe zeigt in seiner erhellenden Studie Literarische Versachlichung, 37 wie bereits bei Voltaire, dessen Werk Erich Auerbach explizit kritisiert hat und welches Auerbach auch nicht in der Tradition des europäischen Realismus sieht, eine ausdrückliche Verkürzungsabsicht besteht. Literarische Versachlichung bedeutet nach Koppe die »Abkehr von einer poetischen Stilistik zugunsten einer fortschreitend deskriptiven Reduktion literarischer Rede« 38, die sich erwartbarer Konnotationen verweigert. Der Konnotationsverzicht spiegelt sich vor allem in der absurd-komischen Darstellung des »untereinander Beziehungslosen« 39 wider. Auerbach nennt diese Methode auch »Scheinwerfertechnik« und beschreibt sie wie folgt: »Aus einem weitläufigen Zusammenhang wird ein kleiner Teil überbeleuchtet, alles übrige aber, wodurch es sich erklären und einordnen lässt, und was etwa zu dem Hervorgehobenen ein Gegengewicht bilden würde, wird im Dunkel gelassen.« 40 Ähnlichkeiten zur gegenwärtigen medialen Berichterstattung in Funk und Fernsehen sind hier nicht von der Hand zu weisen. Das Zufriedengeben mit Ausschnitten des Ganzen und deren Fürwahrhalten ohne Bezug auf das Ganze ist durchaus zu einer gängigen Wahrnehmungspraxis geworden. Narrative Versachlichung ist hier also die mehr oder weniger bewusste Auslassung des Wesentlichen durch »antithetische Vereinfachung und Anekdotisierung des
F. Koppe, Literarische Versachlichung. Zum Dilemma der Neueren Literatur zwischen Mythos und Szientismus. Paradigmen: Voltaire, Flaubert, Robbe-Grillet, München 1977. 38 Ebd., 9. 39 Auerbach, Mimesis, a. a. O., 378. 40 Ebd. 37
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Problems« 41, die folglich den Eindruck vermittelt, dass man sich auf das wirklich Entscheidende ausrichte. Beispielsweise hat es bei Voltaire auch den Anschein, als ob sein Erzähler durch die humorvolle Beschreibung aus der Distanz ein unbefangener Beobachter der Szenerie ist, der sich im Gegensatz zu den Lesern, für die er das Geschehen beobachtet, nicht zu empören braucht. Immerhin kann sich Voltaire durch die Grazie seines Stils noch vor dem Verdacht schützen, mit ungehobelten Aufrührern und Journaillen zu sympathisieren. Durch jene »Scheinwerfertechnik« verschafft sich Voltaire aber bewusst moralisches Gewicht, wenngleich er damit auch seine eigenen Moralvorstellungen vor einer äußeren Prüfung schützt.
3. Resümee Ich wollte in den vorangegangen Ausführungen nicht die künstlerische Qualität der vorgestellten Werke diskutieren, sondern lediglich auf die jeweils gewählte Form der narrativen Versachlichung aufmerksam machen. Eine bemerkenswerte Grundtendenz lässt sich hier bei näherer Betrachtung beobachten, da die vorgestellten Formen religiöser Narration, die größtenteils dem christlichen Kontext angehören, eine merkwürdige Dialektik in Gang gebracht haben: Einerseits besteht diese Dialektik in der literarischen Säkularisierung, die ein m. E. sich langsam erschöpfendes Potential ausmacht, welches auf die Freisetzung und Pluralisierung ästhetischer Ausdrucksformen abhebt; andererseits wird damit der Urtext, für den die Aufmerksamkeit – paradoxerweise kraft der Exegese selbst bzw. jener Transformation von religiöser in literarische Rede – mehr und mehr nachlassen musste, in seiner Gestalt und Wirkungskraft wieder aufgewertet. 42 Durch diese Aufwertung des Urtexts wird schließlich auch sichtbar, dass narrative Versachlichung als Methode letztlich nur dort wirksam werden kann und die erneute Bezugnahme als etwas Rituelles in Erscheinung treten darf, wo die durch Exegese und literarische Transformation gebildete Referenz wieder abgebrochen wird. 43 Ebd., 382. Vgl. hierzu aus die erhellenden Aufsätze von Walter Schweidler und Michael Rasche in diesem Band. 43 Vgl. hierzu die interessanten Ausführungen von Bruno Latour, Jubilieren – Über religiöse Rede, Frankfurt 2011. 41 42
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III. Mensch und Religion
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Der sich noch sich zutragende Ursprung – Zu Ricœurs »Ontologie des Heiligen«
La Critique et la Conviction 1: Dieser Titel eines großangelegten biographischen Gesprächs in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts markiert vielleicht am besten die Bedeutung, die Ricœur für die Schwelle zukommt, die in die Philosophie des 21. Jahrhunderts hinüberführt. Wie immer in epochalen Kontexten, kann diese Schwelle nur eine sein, die den Begriff der Philosophie selbst betrifft. Konkret: Wenn es eine solche philosophische Epochenschwelle vom 20. zum 21. Jahrhundert gibt, dann ist es die, über die hinweg der linguistic turn seine Ablösung findet, über die hinweg also an Stelle der Sprache ein anderes Urphänomen vom begründeten Thema zur – nicht etwa nur begründenden, sondern auch noch grundgebenden 2 – Quelle des Anspruchs geworden ist, aus dem das Philosophieren lebt. Eine solche originäre Alternative zum linguistic turn kann man bei Ricœur aufspüren, wenn man die Spur, der es dabei zu folgen gilt, nur vorsichtig und differenziert genug liest. Denn die Alternative besteht nicht in der Negation, sondern eher in der Differenzierung des linguistic turn selbst auf seine anthropologische Ursprungsdimension hin: die der religiösen Rede. Den Weg zu dieser Ursprungsdimension zu finden: das ist für Ricœurs Begriff von Philosophie die Sache nicht etwa eines Brückenschlages, sondern des Rückgangs in das Geschehen, von dem die Philosophie sich als selbst Paul Ricœur, La Critique et la Conviction, Paris 1995, deutsch: Kritik und Glaube. Gespräch mit Francois Azouvi und Marc de Launey, Freiburg/München 2009. 2 Vgl. hierzu Jean-Luc Marion, »Aspekte der Religionsphänomenologie: Grund, Horizont und Offenbarung«, in: Michael Gabel/Hans Joas (Hg.), Von der Ursprünglichkeit der Gabe. Jean-Luc Marions Phänomenologie in der Diskussion, Freiburg/München 2007, 15–36, insbes. 20 f., mit Rückbezug auf Husserls »Prinzip der Prinzipien« als »Rechtsquelle« des philosophischen Diskurses und »Suspension des Prinzips des zureichenden Grundes« und Heideggers Markierung der Koinzidenz von Phänomenalität und Grundgebung (»Es gibt das, was sich gibt, also es gibt das, was es gibt«) als Eröffnung der »Aufnahme der Offenbarung in den Phänomenbereich« (ebd., 23). 1
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Walter Schweidler
noch getragen zu begreifen, das heißt sich auszulegen hat. Die »Sache selbst«, zu der es zurückzugehen heißt, ist die »Sache des Denkens«, die den Rückgang in ihren Ursprung als von diesem selbst noch getragen ent-deckt, 3 wobei das Wort »noch« die für diesen Kontext entscheidende zeitliche Dimension markiert. Sie ist es, die den Zusammenhang zwischen Kritik und Glaube im Prozess der philosophischen Selbstauslegung konstituiert. Denn dieser Zusammenhang ist für Ricœur ein wesentlich geschichtlicher, und der Begriff »Kritik« kennzeichnet die Barriere, die uns im Verhalten zur Ursprungsdimension des Philosophierens durch seine Geschichte gezogen ist: Was immer es heißen mag, zum Ursprung unseres Weges zurückzufinden, es kann nicht bedeuten, ihn als diesen Weg rückgängig zu machen. Es gibt keinen der Geschichte entzogenen, zeitlosen Standpunkt, in den wir uns zu versetzen vermöchten, sondern es gibt nur die kritische Auslegung dieser Geschichte auf das hin, das jeder Etappe auf ihrem Weg entzogen bleibt, aber eben als das aus allen Etappen Abwesende nur innerhalb des durch sie gebildeten Weges anwesend sein kann. Und wie der Begriff der »Kritik« die Barriere, so kennzeichnet sein Kontrapunkt, der Begriff des »Glaubens«, den Schritt über sie hinaus, der uns eben durch diese nicht rückgängig zu machende, aber auch in keiner ihrer Etappen aufgehende Geschichte des sich selbst auf seinen Ursprung hin auslegenden Philosophierens eröffnet ist. Wenn man daher im Rahmen von Paul Ricœurs Hermeneutikkonzeption von »Ontologie« spricht, dann geht es nicht um deren womöglich metaphysische Implikationen oder Voraussetzungen, sondern es geht zunächst einmal darum, dass das, was Ricœur unter »Hermeneutik« versteht, nicht auf eine bloß methodologische Dimension reduziert wird. Es ist ein wesentlicher Ausgangspunkt von Ricœurs Begriff des Philosophierens, dass »hermeneutisch« nicht nur und nicht primär eine Charakterisierung der Methode der Geisteswissenschaften, sondern eine Charakterisierung der Verfassung ihrer Objekte ist, d. h. der Art der Realität, von der sie, die Objekte, handeln und zeugen. Die Objekte der hermeneutischen Interpretation sind selbst Interpretationen. Folglich ist die Hermeneutik diesen Objekten inhärent und gibt ihnen ihre Essenz. Ob es sich um eine Kirche, einen Roman, eine poli3 Vgl. hierzu auch Walter Schweidler: »Einleitung«, zu: Zeichen-Person-Gabe. Zur philosophischen Bedeutung der Metonymie, hg. v. Walter Schweidler, Freiburg 2014, 9–50.
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Der sich noch sich zutragende Ursprung
tische Ordnung, oder sogar um eine Unternehmensform, eine bürokratische Richtlinie, ein psychiatrisches Therapieverfahren oder einen Grabritus handelt: all diese Formen sind, mehr oder weniger explizit, Antworten einer Kultur auf die Fragen, wer wir sind und woher wir kommen. Die Objekte der hermeneutischen Interpretation sind selbst Interpretationen der menschlichen Existenz, also unseres Seins. Dies ist, wie ich denke, der wesentliche Hintergrund für die ontologische Relevanz von Ricœurs Hermeneutikkonzeption und ihre Bedeutung für die Religionsphilosophie. Mein Versuch, diese Relevanz zu explizieren, folgt der Maßgabe, dass die Aufgabe des Philosophen im Umgang mit Religion darin liegt, keine versteckten Prinzipien in oder hinter der religiösen Interpretation unseres Seins zu entdecken, sondern unsere Aufmerksamkeit auf den konstitutiven Akt, im Zuge dessen sich die Interpretation als der Kern dieses Seins enthüllt, und auf die Rolle, welche die Religion unter den Bedingungen einer solchen Offenlegung spielt, zu richten. Es handelt sich hier um die selbstenthüllende Dimension der Hermeneutik, die der Schlüssel zu ihrer Bedeutung für die Philosophie der Religion ist. Um es mit einem Anklang an Wittgenstein zu sagen: Wie immer in der Philosophie ist die wahre Entdeckung auch hier nicht die Entdeckung eines philosophischen Grundes, der notwendig wäre, um die Existenz von Religion zu verstehen, sondern die Entdeckung der religiösen Existenz als Bedingung dafür, dass wir verstehen, was wir in der Philosophie tun und warum wir es tun.
1. Philosophie und die Zeit der Reflexion Daher ist der erste Kontext, in dem die ontologischen Aspekte seiner Konzeption von Hermeneutik erhellt werden können, Ricœurs Reflexion auf die Philosophie selbst. Eine der wichtigsten Passagen dazu kann im Konflikt der Interpretationen 4 gefunden werden, wo die Aufgabe des Philosophen ausdrücklich in der Beantwortung der Frage gesehen wird, wie die philosophische Reflexion mit der »Hermeneutik
Paul Ricœur, »Hermeneutik der Symbole und philosophische Reflexion I«, in: Ders., Konflikt der Interpretationen. Ausgewählte Aufsätze (1960–1969), Freiburg 2010, 184– 217, hier: 184.
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der Symbole« in Übereinstimmung gebracht werden könne. Es ist aus dem Zusammenhang ersichtlich, dass die »Hermeneutik der Symbole« hier als genitivus subiectivus formuliert wird: Ricœur spricht von der »offenbarenden Macht« der Symbole, einem Potential, das für die Philosophie nicht ein Objekt der Fundierung oder Erfüllung, sondern der »Meditation«, ist. Und er macht dies zum entscheidenden Ausgangspunkt für die Charakterisierung seiner genuinen Denkweise, die in Opposition zu jeder Vorstellung einer »voraussetzungslosen Philosophie«, die nach ihrem selbstgesetzten, noch nie dagewesenen point de départ im cartesischen oder Husserlschen Sinn sucht, steht. 5 Die Meditation über Symbole geht von einer Bedeutung aus, die nicht über den Weg der Reflexion gebildet werden darf, sondern die bereits aus der »Mitte der Rede« erfolgt ist und welche nur durch diese wiedererinnert werden kann. Dies bedeutet natürlich nicht, dass sich die philosophische Reflexion als ein Akt des Gehorsams gegenüber einer autoritativen Quelle verstehen soll; Philosophieren, wie auch das Denken im Allgemeinen, darf nicht als Gehorsam gegenüber einem Befehl verstanden werden, sondern ist im Wesentlichen als eine Antwort auf das, was Ricœur an einer Stelle mittels des deutschen Wortes »Anspruch« 6 ausweist, zu begreifen. Es ist dieser Unterschied zwischen Gehorsam und Antwort, der den »Pluralismus« der Symbole so bedeutsam macht: die Symbole bilden im Wesentlichen die »Körper« der Interpretation, die in Konflikt zueinander stehen, so dass sie nicht ohne den Verweis auf den Prozess, in dem sie sich entfalten konnten, und jene Dynamiken, die zu ihnen geführt haben und sie letztendlich überwinden, verstanden werden können. Paradigmatische Komplexe dieser Art sind etwa die Mythen; es ist gerade der Kampf zwischen den Mythen, welcher der philosophischen Reflexion einen Status verleiht, der von der einfachen Wiedergabe ihrer Botschaften zu unterscheiden ist. 7 Gerade weil der Mythos an sich eine Interpretation ist, kann es nicht die Aufgabe der Philosophie sein, diese durch eine andere zu ersetzen. Diese Erkenntnis hat eine negative und eine positive Folge: Auf der einen Seite kann die Philosophie nicht den Anspruch für sich erheben, die mythische InterEbd., 185. Paul Ricœur, »Toward a Hermeneutic of the Idea of Revelation«, in: The Harvard Theological Review 70 (1977), 1–37, hier: 19. 7 Ricœur, »Hermeneutik der Symbole I«, a. a. O., 194. 5 6
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pretation unseres Seins auf eine Botschaft, die dahinter verborgen liegt, zu reduzieren. Auf der anderen Seite ist die Philosophie aber in der Lage und sogar verpflichtet, den Schritt hin zu einem Denken zu machen, das nicht einfach die Mythen wiedergibt, sondern als eine »Philosophie, die sich an Symbole hält«, 8 eigenständigen Erkenntnisanspruch erhebt. Aber noch einmal ist hervorzuheben, dass Philosophieren »über« Symbole auch nicht bedeuten kann, deren Bedeutung, wenn schon nicht direkt, dann doch wenigstens auf einer zweiten Ebene zu ersetzen, d. h. durch die Entdeckung eines Prinzips, das ihren Kampf oder die Dynamik ihrer Entwicklung leitet: Solange die historische Periode, in der wir den Schritt in Richtung einer Philosophie, »die sich an Symbole hält«, vollenden, durch den Anspruch charakterisiert ist, die ganze Entwicklung zu verstehen, die zu ihr geführt hat, solange unser Zeitalter als seine Quintessenz eine Art Ende der Geschichte impliziert, 9 ungefähr in dem Maße also, wie sie sich als »die« Moderne selbst beschreibt, kann die Philosophie nicht die Grundlage eines solchen Anspruchs sein, sondern ist sie, das sei noch einmal gesagt, im besten Fall eine Antwort darauf. Die Philosophie muss sich somit kritisch der Selbstbefragung durch die Probleme und Paradoxien, die in unserer Selbstbeschreibung als »moderne« Menschen begründet liegen, stellen. 10 Also bleibt die ursprüngliche hermeneutische Konstitution als ein Werk der Interpretation unersetzlich für alles, was Gegenstand unserer Reflexion sein wird, einschließlich unseres Denkens über die Symbole selber. Unsere Aufgabe ist es, eine Interpretation zu explizieren, die immer schon vor und jenseits der Aufmerksamkeit, zu der die philosophische Reflexion führt, gegeben wird. Die Frage ist dann jedoch, warum eine solche Erklärung überhaupt legitim oder warum sie, wie Ricœur betont, sogar notwendig sei.
Ebd. Vgl. Paul Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, München 2004, 473: »Die auf die Geschichte angewandte kritische Philosophie hat, wie gesagt, ihre Hauptaufgabe darin, über die Grenzen nachzudenken, die ein Selbstwissen der Geschichte, das sich als absolut verstünde, zu überschreiten versuchen würde.« 10 Ricœur, »Hermeneutik der Symbole I«, a. a. O., 185: »Wenn wir das Symbolproblem gerade jetzt aufwerfen, in dieser Epoche der Geschichte, so geschieht dies im Zusammenhang mit gewissen Zügen unserer ›Modernität‹ und als Antwort auf die Modernität selbst.« 8 9
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Die Antwort auf diese Frage gibt nun ein Satz, den Ricœur mehrmals gebraucht und immer wieder als für ihn extrem wichtig betont: »Das Symbol gibt zu denken.« 11 Sobald wir der Versuchung widerstehen, die Interpretation, die das Objekt unseres hermeneutischen Denkens bildet, zu ersetzen, tragen wir nichtsdestoweniger etwas zu ihr bei, das in seinem Wesen nicht weniger zu ihr, der Interpretation, gehört, als das, was es schon war und ohne uns gewesen sein würde. Die originäre Botschaft der Symbole wird uns als eine Botschaft wahrnehmbar, die die Aufmerksamkeit, nach der wir uns richten, wenn wir sie philosophisch reflektieren, in ihrem Ursprung schon mit umfasst und in sich enthalten hat. Das grundlegende Paradoxon, vor dem wir hier stehen, ist entscheidend für das Selbstverständnis von Ricœurs hermeneutischem Denken und für dessen ontologische Dimension, die sich nun im Wesentlichen als eine zeitliche entpuppt. Die Philosophie muss eine Botschaft explizieren, die von dieser Explikation unabhängig ist und sie dennoch – man könnte sagen »zur gleichen Zeit« – zu geben fordert. Es ist also, als ob hier das Explanandum sein Explanans verursachte statt umgekehrt. Als ihre denkende Rekonstruktion wiederholt die philosophische Interpretation eine Interpretation, die sich in ihr als etwas enthüllt, das diese Wiederholung von Anfang an enthalten musste. Mit anderen Worten: Wiederholt zu werden, gehört zum Wesen dessen, was wir wiederholen, wenn wir hermeneutische Objekte interpretieren: sie sind ihrer innersten Natur nach ein Wieder-holen ihrer selbst. Wir sind also konfrontiert mit dem Paradoxon eines Ursprungs, der zur gleichen Zeit unabhängig von seiner Wiederholung ist und notwendig auf sie ausgeht. In ontologischen Kategorien ausgedrückt ist die Konstellation des hermeneutischen Objekts und der hermeneutischen Reflexion eine Kombination aus einem Ursprung, der, um zu sein, was er war, noch einmal passieren muss. Das heißt: Die Explikation von Ricœurs Begriff der Hermeneutik fordert von uns, uns dem ontologischen Problem des sich noch sich zutragenden Ursprungs zu stellen, dem Problem der Reorigination. In einer der grundlegenden methodischen Passagen im Konflikt der Interpretationen erläutert Ricœur die philosophische Aufgabe, die durch diese Konstellation konstituiert ist, in Abgrenzung zur »OntoloEbd. »Dieser Satz hat es mir angetan.«, fügt er hinzu; vgl. auch 198: »Das Symbol gibt zu denken.« – Hier betont die Kursivierung den zeitlichen Sinn, der unmittelbar zurückkehren wird.
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gie des Verstehens« 12 bei Heidegger. Was den Unterschied zu Heideggers »kurzem Weg« ausmacht, ist genau die Richtung der Aufmerksamkeit auf den genuin ontologischen Aspekt des hermeneutischen Denkens oder der »hermeneutischen Methode« 13. Wir sind hier an der Stelle, an der wir, nachdem wir jede Reduktion auf diesen zurückgewiesen haben, dem Anspruch der Hermeneutik als Methodenprinzip letztlich doch Rechnung tragen müssen. Die Hermeneutik ist eine Methode, das heißt eine bestimmte, ihrem Gegenstand angemessene, von ihm geforderte Art, ihn zu verstehen. Was aber heißt hier: von ihm »gefordert« oder ihm »angemessen«? Ist es gleichbedeutend damit, dass das Verstehen diesem Gegenstand als solchen eignet, dass »dessen Sein sich durch das Verstehen auszeichnet« 14? Eben dies ist Heideggers Konsequenz, und eben sie schafft zwischen Gegenstand und Methode eine Kluft, die durch ein Tertium überbrückt werden muss, das seinerseits nicht mehr kritisch einholbar ist. Heideggers »Ontologie des Verstehens« führt zu einer Zweiteilung von ontologischer Interpretation der menschlichen Existenz auf der einen und der erkenntnistheoretischen Frage, was Interpretation sei, auf der anderen Seite. Was solch eine Strategie implizieren kann und was Ricœur für den problematischen Punkt in Heideggers Auffassung hält, ist die Erwartung, dass die ontologische Reflexion selbst und damit die sie tragende Forderung dem »Zirkel der Interpretation, den sie selbst theoretisiert« 15, entkommen könnte. Was er aber dieser Erwartung entgegenzusetzen hat, ist die in ihrem ganzen Wesen zeitlich konstituierte Differenz zwischen Verstehen und Verstandensein. Verstehen ist in der entscheidenden Hinsicht nicht Erzeugung oder Erleiden, sondern Einholung von Verständnis. Im Verstandensein erst koinzidieren Sein und Verstehen so, dass nicht zwischen beiden implizit doch wieder die Leistung eines zeitenthobenen cogito angesetzt ist. Darum geht es recht eigentlich um eine Ontologie des Verstandenseins, in deren Zentrum ein Begriff von Symbolizität steht, der die Zeichenhaftigkeit des Zeichen gebrauchenden Wesens, also die ihm eignende Dimension des Wieder-holens seiner selbst, expliziert. Nur
Paul Ricœur, »Existenz und Hermeneutik«, in: Ders., Konflikt der Interpretationen, a. a. O., 23–47, hier: 26. 13 Ebd. 14 Ebd., 27. 15 Ebd. 12
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dann bleibt für uns »das Subjekt, das sich interpretiert, indem es die Zeichen deutet«, nicht mehr ein pures Cogito. Es wird zu einer Existenz, die vermittels der Auslegung ihres Lebens entdeckt, dass sie als ein Seiendes gesetzt ist, noch bevor sie sich selbst setzt und von sich Besitz ergreift. »Somit wird die Hermeneutik eine Existenzweise aufdecken, die sich durch und durch als ein Interpretiert-Sein (être-interprété) ausweist. Erst die Reflexion kann, indem sie sich als Reflexion selbst aufhebt, zu den ontologischen Wurzeln des Verstehens zurückführen. Doch geschieht dies immerzu im Bereich der Sprache und bleibt ein unaufhörlicher Fortgang der Reflexion.« 16 Diesen »mühsamen Weg« zu beschreiten erfordert nach Ricœur eine philosophische Analyse der Interpretation, die auf der einen Seite explizit als nicht erkenntnistheoretische, sondern als ontologische definiert ist 17 und welche auf der anderen Seite nicht die von der Eigenart der Objekte aufgeworfenen Fragen, die die hermeneutische Reflexion über die menschliche Existenz bilden, ignoriert; Objekte also, die in erster Linie auf der Ebene der Sprache und der Geschichte angesiedelt sind. Der philosophische Begriff der Hermeneutik ist daher im Wesentlichen auf selbstreferentielle Weise gebildet, nämlich durch die »hermeneutische Beziehung zwischen dem philosophischem Diskurs und der Symbolik, die ihn nährt.« 18 Hermeneutik als »die Wissenschaft der Interpretation« wird durch das »hermeneutische Problem« definiert, welches in seiner breitesten und allgemeinsten Fassung wie die Frage formuliert werden kann: »Welche Funktion erfüllt die Symbolinterpretation in der Ökonomie der philosophischen Reflexion?« 19 Bevor wir uns mit der Rolle der Religion im Umgang mit diesem Problem zuwenden, müssen wir noch die Rolle des zeitlichen Faktors, der den Schlüssel zu Ricœurs Ansatz für die Lösung des »hermeneutischen Problems« bietet, klären.
Ebd., 32. Ebd.: »Auch der lange Weg, für den ich mich selbst verpflichte, will die Reflexion auf die Ebene der Ontologie führen.« 18 Ricœur, »Hermeneutik der Symbole I«, a. a. O., 198. 19 Ders., »Hermeneutik der Symbole und philosophische Reflexion II«, in: Ders., Konflikt der Interpretationen, a. a. O., 218–238, hier: 218. 16 17
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2. Erzählung und die Zeit der Interpretation Sprache und Geschichte sind die Felder, auf denen Ricœur zufolge die Hermeneutik den genuin zeitlichen Schnittpunkt zwischen der methodologischen und der ontologischen Substanz der Interpretation finden muss. Was in diesem hermeneutischen Unterfangen auf dem Spiel steht, ist jener sich noch sich selbst zutragende Ursprung des Sprachgeschehens, der jedem einer Strukturanalyse und auch strukturalistischen Rekonstruktion zugänglichen Sprachsystem vorausliegt. 20 Die strukturelle Perspektive und der strukturalistische Standpunkt schließen gerade den Aspekt der energeia im Sinne Humboldts, d. h. des lebendigen Ursprungs der Spracharbeit, der gegenwärtig ist und in jedem kreativen Akt des Sprechens erneuert wird, aus sich aus. »Was Humboldt Erzeugung nannte und dem fertigen Werk gegenüberstellte, meint nicht nur die Diachronie, d. h. die Veränderung und den Übergang von einem Zustand des Systems zu einem anderen, sondern mehr noch die Erzeugung – mit ihrer tiefen Dynamik – des Werkes der gesprochenen Sprache (parole) in jedem und in allem.« 21 Damit ist indirekt der Kern der Aufgabe, zu der Symbole Anlass »geben«, bezeichnet. »Die Sprache denken, bedeutet demnach, die Einheit genau dessen zu denken, was Saussure getrennt hat: die Einheit der Sprache (langue) und des Sprechens (parole)« 22. Aber wie lässt sich diese Aufgabe erfüllen? Sie führt uns wesentlich zurück zu der paradoxen Konstitution von Selbstreflexion, die wir in dem philosophischen Anspruch gefunden hatten, wonach hermeneutisches Denken bedeutet, in der Interpretation ihres Gegenstandes den Ursprung ihrer selbst zu wiederholen und so zu re-präsentieren, was schon in diesem Ursprung und als dieser Ursprung vor sich geht. Wie immer die zeitliche Kategorie zu bestimmen sein mag, die uns gedanklich zu diesem Ausgangspunkt führen kann, sie muss in jedem Fall etwas mit Rückkehr zu tun haben. Aber falls die Rückkehr eine Rückkehr zu einem Ursprung ist, der bereits in unserer Zuwendung gegenwärtig ist, dann müssen die Mittel, mit denen wir diese Rückkehr vollziehen, zur gleichen Zeit in einen Akt der Ders., »Die Struktur, das Wort und das Ereignis«, in: Ders., Konflikt der Interpretationen, a. a. O., 48–69. 21 Ebd., 54. 22 Ebd., 55 f. 20
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Konstitution von etwas, zu dem wir zurückkehren, verwandelt werden. Dies ist die unaufhebbar paradoxe Konstellation des hermeneutischen Problems, das die besondere Rolle und den spezifischen Anspruch expliziert, von dem her wir zu verstehen haben, worum es im Element aller und jeder Geschichte geht: im Erzählen. In Zeit und Erzählung hat Ricœur dieses Paradox auf grandiose Weise expliziert im Konzept der »Stimme«: 23 »Dieser Begriff ist den Grammatikern entlehnt und kennzeichnet die Tatsache, dass die Narration selbst, also die narrative Instanz […] mit ihren beiden Protagonisten, dem Erzähler und seinem realen oder virtuellen Adressaten, in der Erzählung impliziert ist.« Die »narrative Stimme« 24 wird durch eine zeitliche Kategorie definiert: die »Erzählzeit« 25, d. h. jene Zeit, die es braucht, damit der Autor die Geschichte erzählen und der Leser diese Geschichte lesen kann. Während dieser Zeit ist der Autor in dem erzählten Text als die Stimme des Erzählers präsent, die uns sagt, was während der gesamten Zeitspanne, in dem diese Geschichte vor sich geht, passiert. In der »gesamten« Zeitspanne bedeutet aber nichts anderes als dies: Die erzählte Zeit, d. h. die Zeit all dessen, was in der Geschichte vor sich geht, ist nicht nur etwas anderes als die »Zeit der Erzählung« 26 sondern sie lässt praktisch keinen Platz für diese. Das ist die paradoxe Konstellation, der zufolge das, was wir lesen, genau das ausschließt, was wir als Stimme, die uns zu lesen gegeben wurde und welche während (nicht in) der Zeit, in der sich die Geschichte abspielt, gegenwärtig ist, hören; sie charakterisiert die echte Besonderheit der Erzählung des Textes. Um diese Konstellation explizieren zu können, müssen wir, wenn wir nicht wollen, dass die Stimme des Erzählers in einer zeitlosen Sphäre verortet wird, die Art von erzählter Gegenwärtigkeit verstehen, die konstitutiv für die narrative Handlung ist, die Autor und Leser miteinander verbindet. Wie können wir eine Gegenwärtigkeit verstehen, die relativ ist auf die Vergangenheit, die in der Paul Ricœur, Zeit und Erzählung, Band II: Zeit und literarische Erzählung, München 2007, 145. 24 Ebd., 146. 25 Ebd., 129. Ricœur bezieht sich hier auf Günther Müller: »Erzählzeit und erzählte Zeit«, in: Günther Müller, Morphologische Pœtik. Gesammelte Aufsätze, Darmstadt 1974, 269–286. 26 Beispielsweise benötigte Goethe 24 Stunden, um uns zu erzählen, was sich in 8 Jahren – so einen Zeitraum umfasst die Geschichte von Wilhelm Meisters Lehrjahren – zugetragen hat. 23
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Erzählung beschrieben wird – eine Geschichte zu erzählen, bedeutet, zu erzählen, was in ihr passiert ist – und die gleichzeitig den gesamten Zeitverlauf, in welchem die Erzählung entsteht, mit umfasst? 27 Wir haben es hier mit einem Akt der Präsentation zu tun, der selbst die Differenz zwischen seiner Gegenwart und der Vergangenheit, die in ihr re-präsentiert wird, konstituiert. Worauf müssen wir uns beziehen, wenn wir diesen zeitlichen Zusammenhang verstehen wollen? Ricœurs Antwort darauf ist, dass wir zu einer anderen Vergangenheit zurückgehen müssen, einer Vergangenheit, die in der Erzählung selbst als deren Vergangenheit repräsentiert ist, aber gleichzeitig durch diese Erzählung bzw. vermöge ihrer und in ihrem Rahmen erst zu ihrer Vergangenheit gewendet wird. Ricœur charakterisiert diese andere Vergangenheit, unter Bezugnahme auf Günther Müller, als die »Lebenszeit« oder als den »Lebensprozess«: Diese Entität ist es, worauf sich die Erzählung als diejenige, welche das- oder eigentlich derjenige, von dem sie handelt, bereits vor ihrem Erzähltwerden und unabhängig von jeglicher Narration war, beziehen muss. 28 Der ausschlaggebende Punkt ist, dass mit ihr zum Wesen des Erzählens gehört, die Erzählung von etwas zu sein, das nicht selbst Erzählung ist, aber eben als dieses in sie eingeht und zu dem, was sie zur Erzählung macht, gewendet wird. Es ist diese Substanz der Erzählung, die der Begriff »Lebenszeit« hier verbürgt; egal ob eine Geschichte auf Tatsachen beruht, die wirklich geschehen sind oder nicht, als Geschichte steht sie per definitionem in Beziehung zu einer solchen Substanz, also zu etwas, das in ihr erzählt wird als das ihrem Erzähltwerden durch es Vorhergehende. So ist es die und jede Erzählung als solche, worin die paradoxe Konstellation der Erzählerstimme, die ausgeschlossen und zur gleichen Zeit in der Erzählung konstituiert wird, ihre Explikation findet: als der Akt der Interpretation, kraft dessen sich die Beziehung zwischen der Erzählung und ihrer nicht-narrativen Substanz in die Beziehung zwischen der Erzählzeit und der erzählten Zeit wendet. Was ist hier mit dem Wort »wenden« genau gemeint? Es ist damit Es sei mir der Hinweis erlaubt, dass dieses strukturelle Urparadox als die eigentliche Aufgabe und Leistung der »Meninas« von Velàzquez begriffen werden kann; vgl. dazu Walter Schweidler, »Time and Trace. The Mirror of Time«, in: Kronoscope 14 (2014), 150–162. 28 Vgl. ebd., 131: »Alles Erzählen ist ein Erzählen von etwas, das nicht Erzählung ist, sondern Lebensvorgang.« – Das ist ein Zitat von Müller: »Die Bedeutung der Zeit in der Erzählkunst«, in: Morphologische Poetik, a. a. O., 247–268, hier: 261. 27
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Ricœur zufolge das gemeint, was sich gemäß eines berühmten Prinzips von Goethe 29 als eine Wandlung des Bedeutungslosen hin zur Bedeutung veranschaulichen lässt: »Hier gewinnt wieder die Goethesche Reflexion die Oberhand: Das Leben als solches bildet kein Ganzes; die Natur kann Lebewesen hervorbringen, doch sind sie gleichgültig; die Kunst kann nur Totes hervorbringen, doch ist es bedeutungsvoll. Das ist durchaus der gedankliche Horizont: durch die Erzählung soll die erzählte Zeit der Gleichgültigkeit entrissen werden […] der Erzähler führt das Sinnfremde in die Sphäre des Sinnes ein.« 30 Also ist der Unterschied zwischen der Vergangenheit, welche die Erzählzeit von der erzählten Zeit und der Vergangenheit, welche die Erzählung von dem, was in ihr erzählt wird, trennt, selbst zur gleichen Zeit repräsentiert und konstituiert durch diesen Prozess der Umwandlung der vergegenwärtigten Bedeutung in die Darstellung dessen, was ihm seine Bedeutung gibt, oder, mit anderen Worten gesagt: in die Darstellung dieses Bedeutungsursprunges. Das Wesen der Erzählstimme besteht darin, dass sie uns durch die Erzählung hindurch an den Punkt zurückführt, an dem die erzählte Substanz in ihrer ursprünglich pränarrativen Existenz bzw. der besagte »Lebensprozess« mit der Veranlassung ihrer narrativen Repräsentation zusammenfällt, einschließlich der narrativen Repräsentation des pränarrativen Ursprungs oder, mit anderen Worten gesagt, einschließlich der narrativen Repräsentation seiner Reorigination. Hier sind wir nun beim innersten Kern von Ricœurs Hermeneutikkonzeption angelangt und stehen bereits an der Schwelle zu ihrer Bedeutung für das Verständnis der religiösen Existenz. Wenn die hermeneutische Interpretation ihrer Natur nach auf Objekte ausgerichtet ist, die in sich selbst Instanzen der Interpretation sind, dann muss das menschliche Leben bzw. die Existenz der menschlichen Person, soweit sie als Objekt der hermeneutischen Interpretation in Frage kommt, als eine Interpretation ihrer selbst begriffen, d. h. als ein Wesen verstanden werden, zu dessen Selbstbeziehung es gehört, von Anfang an sein Sein schon durch sich selbst interpretiert zu haben. Aber – und das ist natürlich die Pointe von Ricœurs Abgrenzung gegenüber dem »kurzen Weg« der Heideggerschen »Ontologie der Verstehens« 31 – dieser ur29 30 31
Vgl. ebd., 130, mit Bezug auf die Ilias und Müller (a. a. O.). Ebd., 134. Wobei man berücksichtigen muss, dass Ricœur in den »Wegen der Anerkennung«
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sprünglich interpretative Bezug auf uns selbst erfordert bzw. wird erforderlich durch die echte ontologische Funktion der Bedeutung, d. h. der Symbolizität, die unserem Dasein bereits eignen muss, bevor (nicht aber: ohne dass) es sich selbst interpretiert, so dass es im Interpretieren seiner selbst diese Bedeutung nicht etwa konstituiert (und sich insofern als »entschlossenes« aus der durch diese Interpretation erschöpften »Zukünftigkeit« heraus erst setzt), sondern sie als ihm durch sich zu dem zurück wendend versteht, worin das Verstehen selbst ihm sein Sein gegeben hat. Daher liegt das ontologische Fundament der Interpretation im Gedanken der Anerkennung 32 begründet, welche in erster Linie nicht in unserer sozialen oder kulturellen Verfasstheit, sondern im Herzen unserer Selbstbeziehung verwurzelt ist – einschließlich des historischen Faktors dieser Selbstbeziehung, d. h. des spezifisch »modernen«, kritischen Verständnisses des religiösen Glaubens. Denn der Glaube ist genau jenes Element, dem die für Ricœurs Philosophiebegriff entscheidende Forderung entspringt, die Interpretation, die uns durch unser Sein selbst vorgegeben ist, einerseits immer noch erst zu suchen und zu geben, sie aber andererseits nicht als Widerlegung und Durchstreichung des Konflikts der Interpretationen zu reklamieren, aus dem sie selbst allein hervorgehen kann. »Ich glaube, dass Sein noch zu mir sprechen kann, zwar nicht mehr in der vorkritischen Form eines unmittelbaren Glaubens, aber als das zweite Unmittelbare, auf das die Hermeneutik abzielt.« 33 Das bedeutet nichts Geringeres, als dass das hermeneutische Denken und Philosophieren kein theoretisches Paradigma zur Beschreibung von sprachlichen und historischen Objekten darstellt, sondern der genuin »moderne« und damit für uns auch historisch notwendige Weg ist, menschlich zu sein, also »die Aneignung unseres Strebens nach Existenz und unseres Wunsches nach Sein und im Spätwerk »Gedächtnis, Geschichte, Vergessen« einen Brückenschlag zu Heideggers Daseinsanalytik im Gedanken des Vergessens, das Bedingung des Erinnerns ist, unternommen hat; vgl. dazu Walter Schweidler, »Der Ort des Gewesenen«, in: Philosophie des Ortes. Reflexionen zum Spatial Turn in den Sozial- und Kulturwissenschaften, hg. v. Annika Schlitte, Thomas Hünefeldt, Daniel Romic, Joost van Loon, Bielefeld 2014, 217–230. 32 Es würde den hier behandelten Kontext sprengen, die Implikationen dieser zentralen Konzeption für Ricœurs Wege der Anerkennung zu diskutieren; verwiesen sei aber auf das Buch von Katharina Bauer: Einander zu erkennen geben. Das Selbst zwischen Erkenntnis und Gabe, Freiburg 2012, 89 ff. 33 Ricœur, »Hermeneutik der Symbole I«, a. a. O., 197 f.
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durch die Werke hindurch, die von diesem Streben und diesem Wunsch zeugen.« 34 Folglich sind die Verteidigung der Rede von der Stimme des Seins 35, und die Verteidigung des Sagens als »Offenheit: oder besser, die Öffnung der Sprache« 36 mit ihrem wesentlichen Ansatz, der »jenseits der Abgeschlossenheit der Zeichen beginnt« 37 und an »die Fülle des Symbols gegenüber der Leere des Zeichens« 38 erinnert, für die Hermeneutik viel mehr als bloß methodische oder erkenntnistheoretische Desiderate; worum es hier geht, ist der Schutz der Macht unserer Gedanken, mit dem Zweck, diese selbst und uns »in der Mitte der Sprache«, in der wir »geboren werden« 39, zu verorten, also im Leben, durch das »das Wort den Satz überlebt« 40 und in welches wir unser Selbst hineinsenken können, in Richtung eines Ursprungs also, der in unserer Sprache wie die einzigartige und abwesende Quelle, 41 jenseits aller Zeichen, in denen es offenbar werden kann, re-präsentiert wird.
3. Religion und die Zeit der Reorigination Die Schlüsselrolle, welche die Religion für diese Konstitution unseres hermeneutischen Denkens spielt, findet sich verankert in der strukturellen Proportionalität, die in Ricœurs ontologischer Konzeption der Interpretation angesetzt wird zwischen der Funktion der Hermeneutik für das Ganze unserer menschlichen Existenz und der Funktion von Religion für die Entstehung der Hermeneutik. In seiner retractatio der »Symbolik des Bösen« im Konflikt der Interpretationen finden wir diese Verbindung, die von entscheidender Bedeutung für die »Ontologie des Heiligen« 42 ist, markiert durch eine tentative, aber sehr explizit formulierte Annahme, und zwar, »dass die Hermeneutik des Bösen nicht einen beliebigen Bezirk konstituiert, sondern den bedeutsamsten,
34 35 36 37 38 39 40 41 42
Ders., »Hermeneutik der Symbole II«, a. a. O., 233. Ebd., 222. Ricœur, »Die Struktur, das Wort und das Ereignis«, a. a. O., 69. Ebd., 68. Ricœur, »Hermeneutik der Symbole II«, a. a. O., 222. Ebd. Ricœur, »Die Struktur, das Wort und das Ereignis«, a. a. O., 64. Vgl. Abschnitt ›Struktur und Ereignis‹, in: Ebd., 59 ff. Ricœur, »Hermeneutik der Symbole II«, a. a. O., 223.
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vielleicht sogar den Ursprungsort des hermeneutischen Problems«. 43 Damit ist die Grundthese impliziert, dass wir im Hinblick auf die Funktion, welche die Symbolik im Allgemeinen für unser philosophisches Denken hat, zurück zu einem wesentlich religiösen Ursprung dieser Funktion gehen müssen 44; oder, andersherum gewendet, wir müssen uns zu dem Zustand zurückwenden, in dem unser religiöses Bewusstsein sich von seiner symbolischen Explikation Rechenschaft gibt. Dies ist in die Richtung, in welche Ricœur die Hermeneutik gezwungen sieht, um ihr entscheidendes konzeptionelles Problem zu lösen, welches darin besteht, zu zeigen, dass der »hermeneutische Zirkel« kein circulus vitiosus ist. 45 Wenn wir dieses Problem lösen wollen, müssen wir sehen, dass die Essenz jenes hermeneutischen Zirkels in einem genuin religiösen Prinzip wurzelt: »Man muss verstehen, um zu glauben, und man muss glauben, um zu verstehen.« 46 Das ist letztlich die unausweichliche Konsequenz des Begriffs einer Philosophie, die sich »an die Symbole hält«: Wenn die Lösung des Problems, das sich nur als der Konflikt der Interpretationen explizieren lässt, in denen wir uns wiederzufinden haben, nicht in einer sie ersetzenden, »authentisch« aus diesem selbst geschöpften Interpretation unseres Daseins zu finden ist, dann können wir sie nur in einer Interpretation finden, die uns in diesen Konflikt hineingeführt, zugleich aber und eben als diese aus ihm wieder zurückgeführt hat in den Ursprung, dem wir die uns zu uns selbst führende Entscheidung dieses Konflikts verdanken. Das heißt: Gerade wenn der Konflikt das genuine Feld ist, auf dem allein die Erkenntnis erwachsen kann, die ihn löst, dann kann diese Erkenntnis nicht außerhalb, sondern nur innerhalb dieses Feldes zu finden sein. Der Konflikt der Interpretationen ist der Konflikt um die eine, ihn zu unserer Sache machende Interpretation, durch die wir zuletzt uns selbst interpretiert finden, das heißt: um die uns gegebene Interpretation der Wahrheit im unaufhebbar doppelten Sinn dieses GeniEbd., 220, Vgl. oben Anm. 19. »Die Hermeneutik des Bösen erweist sich als ein besonderer Bezirk im Rahmen der allgemeinen Interpretation der religiösen Symbolik« (ebd., 220), »wenn wir in Betracht ziehen, daß das Problem der Symbole des Bösen ein besonderer Fall des religiösen Symbolismus ist; man kann von der Annahme ausgehen, daß die Symbolik des Bösen stets die Kehrseite einer Heilssymbolik darstellt, oder daß die Heilssymbolik das Gegenstück zu einer Symbolik des Bösen bildet …« (Ebd., 219). 45 Ricœur, »Hermeneutik des Symbols I«, a. a. O., 197. 46 Ebd. 43 44
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tivs. Die Korrelation, die Ricœurs Rekonstruktion des Problems des hermeneutischen Zirkels zwischen der Wahrheit der Symbole und der Symbolik des Bösen bestimmt, ist in genau diesem Zusammenhang fundiert: Die Weigerung, Hermeneutik als Prozess des Konflikts von Wahrheit und Unwahrheit zu begreifen, wurzelt nicht in einem Akt des Irrtums, sondern in einer Entscheidung, die eigentlich eine Entscheidung für die Gleichgültigkeit und gegen die Wahrheit ist und die wirksam bleibt, »solange man auf der Ebene der bloßen Vergleiche verharrt, solange man von einem Symbol zum anderen läuft, ohne sich selbst irgendwo festzulegen. Man muss diese Stufe als Stufe eines Verstandes, der sich bloß erweitert, eines wissbegierigen, aber nicht betroffenen Verstandes überwinden. Es gilt, in ein zugleich leidenschaftliches wie kritisches Verhältnis zu den Symbolen einzutreten; und dies ist nur möglich, wenn ich den Gesichtspunkt des Vergleichenden verlasse, um mich als Interpret im Leben eines besonderen Symbols, eines Mythos zu engagieren.« 47 Ist das Fideismus, Absage ans Wissenwollen umwillen des Glaubendürfens? Gewiss nicht! Und zwar dann nicht, wenn man den Glauben, der hier zur Voraussetzung des Verstehens berufen wird, wieder im Licht der Kritik begreift, mit der zusammen allein er das Problem der Hermeneutik zu lösen vermag. Dann zeigt sich vielmehr, dass Ricœur mit seiner Zuordnung dieser beiden Komponenten geschichtlicher Erkenntnis ganz auf der Höhe der Methodenreflexion seiner, unserer Zeit ist. Unrelativierbar geschichtlich ist unser Verhältnis zur Wahrheit genau dann, wenn und eben deshalb, weil sich die Idee der »Verifikation«, der alles menschliche Erkennenwollen zum Abschluss bringenden und sich selbst beweisenden »Weltformel«, ihrerseits als ein Mythos herausgestellt hat, der im Ringen um die »Dogmen des Empirismus« im 20. Jahrhundert überwunden worden ist. Sein Überwinder freilich war durchaus nicht der Falsifikationismus, der mit ihm vielmehr den Glauben an eine angebliche künftige Wahrheit, der wir uns »anzunähern« im Begriff seien, explizit teilte. Seine Überwinderin auf der Schwelle zum 21. Jahrhundert war vielmehr die Geschichte selbst, die in so grundsätzlich unterschiedlichen Stimmen wie denen von Heidegger und Thomas Kuhn in Erinnerung gerufen hat, dass wir von »Wahrheit« nur begründet reden können, wenn sie allen Etappen auf dem Weg zu ihr immer schon vorausgeht, wenn wir also als sym47
Ebd., 196 f.
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bolisch verfasste Wesen immer schon in ihr stehen und jeder Fortschritt zu ihr immer zugleich eine Rückkehr in sie ist. 48 Die Wahrheit, und zwar gerade die wissenschaftlich begründete Wahrheit, steht in eben dem durch Ricœurs Hermeneutikbegriff explizierten Konflikt, der durch jede seiner Etappen hindurch zu ihr zurückführt und in dessen Ursprung der Glaube wirkt, der sich immer nur und jeweils neu als die Kritik formulieren kann, welche die Rückwendung aus dem Irrtum zu ihm verlangt. Das ist, wie gesagt, die Struktur unseres Wahrheitsverhältnisses, in deren Explikation Ricœur noch mit den letzten wissenschaftstheoretischen Konsequenzen des linguistic turn einig geht; nicht in seiner Zuordnung von Kritik und Glaube in Form dieser Struktur, sondern nur im Blick auf das von ihr noch vorausgesetzte und indirekt offenbarte Geschehen ihres durch sie hindurch uneinholbaren Ursprungs bringt seine »Ontologie des Heiligen« eine Differenz ins Spiel, die beide noch in das grundgebende Gefüge bringt, dem sie ihren Zusammenhang zur Wahrheit und wir in unserer auslegenden Arbeit an ihr denjenigen mit der Wahrheit verdanken. Denn nicht als Dekret, sondern nur als Arbeit an ihm ist jenes »besondere Symbol«, in dessen Zeichen das Engagement des Interpreten sich zum Ursprung seiner Zeichenhaftigkeit wendet, fassbar. Deshalb beruft sich Ricœur zur Explikation dieses Gefüges auf die Beziehung zwischen Hermeneutik und Religion als die einer Korrelation, die nur im Horizont ihrer historischen Entwicklung verstanden, nicht aber als in dieser aufgehend begriffen werden kann. »Der Zirkel meint also folgendes: Die Hermeneutik geht von dem Vorverständnis dessen aus, das sie interpretierend gerade zu verstehen trachtet. Aber dank diesem hermeneutischen Zirkel vermag ich auch heute noch mit dem Heiligen in Verbindung zu treten, indem ich dieses Vorverständnis, von dem die Interpretation getragen wird, expliziere. Damit erweist sich die Hermeneutik, diese Errungenschaft der ›Modernität‹, als eine der Weisen, durch die sich die ›Modernität‹ selber übersteigt, insofern sie das Heilige vergessen hat.« 49 Der Zirkel, der aus dem Verhältnis zwischen Glauben und Verstehen im Kern unseres Symbolismus hervorgeht, ist deshalb kein Teufelskreis, weil er eine Dynamik, die in der Logik der Symbolik selbst begründet liegt, ausdrückt – eine Logik, die im Vgl. hierzu Walter Schweidler, »Die Entscheidung der Wahrheit. Zum Grundverhältnis von Natur und Wissen«, in: La decisione Archivio di filosofia 80/1–2 (2012), 77–90. 49 Ricœur, »Hermeneutik des Symbols I«, a. a. O., 197. 48
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Wesentlichen eine historische und damit eine zeitliche Logik ist. Nur durch den Verweis auf ein Vorverständnis, das allen Momenten und Bewegungen unseres symbolischen Verstehens vorausgeht und zugrunde liegt, können wir es mit der Dynamik, die im Kern jeder Symbolik beschlossen liegt, aufnehmen, d. h. einer »Dynamik, durch die der Symbolismus seiner eigenen Überwindung überantwortet ist.« 50 Es ist diese Dynamik des Sich-Selbst-Übertreffens, für die unser religiöses Bewusstsein eine echte Erklärung liefert, eine Erklärung, die mit der religiösen Erklärung des Ursprungs unserer menschlichen Existenz als sich noch sich zutragende selbst zusammenfällt. An dieser Stelle ereignet sich nun der für Ricœur entscheidende Schritt über die Schwelle, die vom linguistic turn zu der religiösen Rede führt als derjenigen, die im unaufhebbar doppelten Sinne dieses Genitivs die Rede vom Heiligen ist. Denn hier erklärt Ricœur nun erst explizit, was genau damit gemeint ist, dass uns das Symbol zu denken gibt. Er macht den Unterschied zwischen einer ersten, »alltäglichen« Bedeutung des Symbols und einer zweiten Bedeutung, die uns in einem radikalen Sinne »gegeben« ist, und zwar als eine Bedeutung, die wir nicht durch uns selbst gebildet haben. Der »Sinn, in dem ein Symbol ›gibt‹« ist der folgende: »Es gibt, indem es durch eine Erstintentionalität einen zweiten Sinn vermittelt« 51. Wie ein Gemälde, das nur ein Bild seines Gegenstandes sein kann, nicht weil es seine einfache Kopie ist, sondern insofern es durch sich selbst das sichtbar macht, was ohne es unsichtbar geblieben wäre, 52 sind »im Gegensatz zu den vollkommen transparenten technischen Zeichen […] symbolische Zeichen undurchsichtig, weil ihr erste, wörtlicher, offenbarender Sinn von sich aus analogisch auf einen zweiten Sinn abzielt, der nicht anders als durch den ersten gegeben wird.« 53 Wenn dies die allgemeingültige Rekonstruktion der symbolischen Struktur der hermeneutischen Interpretation ist, dann kann die Frage nach dem Ursprung dieser Struktur – und damit auch nach dem Ursprung des »Lebens der Symbole« 54 – als ein höchst paradoxes Problem expliziert werden: Wie kann uns die »zweite«, die heilige Bedeutung eines Symbols, durch das BedeutungsEbd., 192. Ebd., 188. 52 Vgl. dazu meinen Aufsatz »Das Bild der Wahrheit und die Perspektive der Freiheit«, in: Walter Schweidler (Hg.), Weltbild – Bildwelt, Sankt Augustin 2007, 21–58. 53 Ricœur, »Hermeneutik der Symbole I«, a. a. O., 187. 54 Ebd., 188. 50 51
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gefüge einer Sprache hindurch gegeben werden, die doch zur gleichen Zeit das tragende Element des Prozesses ist, dessen Logik sich aus der Versuchung speist, unsere eigene an die Stelle der Interpretation zu setzen, die wir dem uns uneinholbaren Ursprung dieses Prozesses verdanken? Eine adäquate Antwort auf diese im Kontext unseres Gedankengangs letzte Frage müsste wohl so komplex sein, dass sie pars pro toto für Ricœurs gesamtes Werk stünde. Ich kann hier nur versuchen, ihr an einer für seine Befassung mit ihr exemplarischen Stelle nachzugehen. In einem seiner Beiträge zum Colloquio Castelli mit dem Titel »L’enchevêtrement de la voix et de l’écrit dans le discours biblique« 55 hat Ricœur seine Interpretation des Exodus als »Ur«-Erzählung der Darstellung eines unvergleichlichen Ereignisses gewidmet, das als solches aber nur fassbar ist vor dem Hintergrund jener allgemeinen, sie gerade vergleichbar machenden Ordnung historischer Ereignisse, die Erzählung überhaupt erst möglich macht. Was in diesem Sinne die Erzählung des Unerzählbaren als »Ursprung der Ursprünge« 56 möglich macht, ist das Zusammentreffen des ursprünglichen Wortes mit dem Ursprung aller Dinge in der Schöpfung der Welt. Was die Ur-Erzählung aussagt, ist, dass in den Worten, mit denen sie verkündet wird, der Ursprung unserer Welt noch sich zuzutragen im Begriff ist. Diese Worte also verkörpern, sind die Wendung von Verstehen in Verstandensein: sie als die zu interpretieren, die sie sind, heißt sich durch sie als der interpretiert sehen, der man ist. In dieser Wendung erscheint genau die geistige Macht, die den Unterschied zwischen den Worten, in denen sie verkündet wird, und all unseren eigenen Worten bildet, als die Macht, »die die Worte vor die Dinge setzt« 57. So sehen wir uns durch sie, das heißt ihre Verkündigung, zurück versetzt in den Ursprung, den wir symbolisch nicht nur – oder eigentlich nicht – zu fassen vermögen, sondern in dem noch vor sich geht, wodurch uns selbst unser Sein als symbolische Wesen gegeben ist. Eben damit aber ist nun Erschienen in Archivio di Filosofia 60 (1992), 233–247; deutsche Übersetzung: »Die Verflechtung von Stimme und Schrift im biblischen Diskurs«, in: Paul Ricœur, An den Grenzen der Hermeneutik. Philosophische Reflexionen über die Religion, Freiburg 2008, 95–115. 56 Vgl. ebd., 103. 57 Ebd.; Ricœur zitiert hier Paul Beauchamp: L’un et l’autre Testament. Essai de lecture, Paris 1976. 55
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der ontologische Kernaspekt dieser Sicht auf das heilige Wort eröffnet, der letztlich der seiner Offenbarung ist. Es ist die Verkündigung dieses Wortes, die uns philosophisch verstehbar macht, warum es möglich und sogar – gleichzeitig 58 – notwendig ist, es zu verkündigen. Sobald der Ursprung, den sie erzählt, aufgedeckt ist, können wir ihn unabhängig von seiner Verkündigung, eben im philosophischen Ringen im Konflikt der Interpretationen, wieder-holen; aber die Wiederholung verliert die Verbindung zu ihrem Ursprung, wenn wir vergessen, dass sie, um unabhängig von aller Offenbarung wiederholbar zu werden, einmal geoffenbart werden musste. Hermeneutik, die ihrer ontologischen Wurzel bewusst wird, ist die philosophische Art und Weise, uns vor diesem Vergessen zu bewahren. Die Wendung von Verstehen in Verstandensein in der religiösen Rede hat aber, um diese hermeneutische Urfunktion erfüllen zu können, eine zweite schlechthin konstitutive Bedingung, nämlich ihre Verkörperung als heilige Schrift. Ricœur verweist an dieser Stelle ausdrücklich auf seine Erörterung der »narrativen Stimme« in Zeit und Erzählung. 59 Es ist die Schrift, die das Paradox der Stimme, die durch das von ihr erzählte Wort zum Verschwinden gebracht wird, löst, indem sie im Übergang vom Schreiber in den Leser wieder-holt, was durch das Faktum der ursprünglichen Erzählung, der Erzählung, die ja »spricht von einem Ereignis ohne Zeugen« 60, im erzählten Wort untergehen musste. »In derselben Weise, wie die Schrift eben im Herzen der Mündlichkeit eine Berufung des Zeichens zur Aufzeichnung offenbart, Ein sehr bedeutsamer Aspekt dieser Korrelation zwischen religiöser und philosophischer Interpretation der Welt besteht für Ricœur in Bezug auf etwas, das ich »aposteriorische Notwendigkeit« nennen würde, deren Grund, nach den Worten Ricœurs, in der Bewegung »von der Kontingenz des Bösen zu einer gewissen ›Notwendigkeit‹ des Bösen« und dem Verstehen dessen zu finden ist, was »die größte, aber auch die gefährlichste Aufgabe für eine Philosophie, die sich durch die Symbole belehren lassen will«, ist. Dieser Topos ist die Wurzel für die außerordentliche Bedeutsamkeit der religiösen Figur der felix culpa, die unser philosophisches Denken bildet und prägt, »denn der Weg, der im Symboldenken vom Beginn des Bösen zu seinem Ende führt, scheint wirklich auf der Voraussetzung zu gründen, daß dies alles letztlich einen Sinn hat, daß sich durch die Kontingenz des Bösen hindurch entschieden eine signifikante Gestalt abzeichnet. […] Die Schemata der Notwendigkeit, die wir prüfen können, müssen einer sehr eigenartigen Forderung entsprechen; das Notwendige wird hier erst im nachhinein ersichtlich, vom Ende her gesehen, und immer ›dennoch‹ – ›trotz‹ der Kontingenz des Bösen.« (Ricœur, »Hermeneutik der Symbole I«, a. a. O., 212.) 59 Ricœur, »An den Grenzen der Hermeneutik«, 98. 60 Ebd., 103. 58
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offenbart vielleicht die Lektüre, die der Schrift gegenübersteht, im Herzen eben der Aufzeichnung eine Berufung dazu, nicht nur gesehen, sondern auch gehört zu werden. Letztlich ist Lesen Hören.« 61 Das Paradox der Gebundenheit des »zweiten Sinnes« an die Logik einer Explikation, die darauf gerichtet ist, ihn zum Verschwinden zu bringen, mündet so in die Arbeit an der Analyse zweier konstitutiver Dimensionen der »Polarität von Wort und Schrift« 62 im Kontext des Heiligen. Zum einen gibt es den »vertikalen Abstand«, der zwischen dem menschlichen, an eine Stimme gebundenen Wort und dem anderen Wort, das durch keine Stimme, kein Gesicht, keinen Körper etc. 63 getragen wird, klafft. Dieser Abstand ist bereits entscheidend für die Idee einer Heiligen Schrift, eines heiligen Text: Der Erzähler des Ereignisses, für das es keine Zeugen gibt, behauptet nicht, dabei gewesen zu sein, als das Wort, welches sich durch seine Verkündigung rechtfertigt, gesprochen wurde. Er spricht von Gott vermittels der Kraft des göttlichen Wortes, aber er behauptet nicht, dass Gott durch ihn selbst spricht. Die Folge ist, dass explizit oder nicht, er sich auf eine andere Quelle der Legitimation bezieht als der Autor eines poetischen Textes, und dass die andere Quelle der Legitimation die Instanz ist, die den Raum für die Heilige Schrift öffnet. Der Erzähler des göttlichen Wortes muss sich mitteilen. Als Schriftsteller kann er die Rolle und den Anspruch anderer Schriften oder des Prozesses der Übersetzung zwischen dem ursprünglichen göttlichen Wort und seiner schriftlichen Wiederholung nicht verleugnen. Dies ist ein Zwischenreich, dem er im Namen desjenigen, der das göttliche Wort verkündet, seine Macht verdankt. Das bedeutet: Seine Aussage ist nicht allein die seinige, sondern die Verkündung einer Tradition und derjenigen Institutionen, die diese Tradition bilden. Dies bringt uns zu der zweiten Dimension, dem »horizontalen Abstand« zwischen dem ursprünglichen und dem abgeleiteten Sinn des göttlichen Wortes im Selbstverständnis seiner Sprecher. Der Abstand, auf den sich Ricœur hiermit bezieht, ist ein »mysteriöses Verhältnis« 64 zwischen dem göttlichen Wort und der Heiligen Schrift; aber um diese Beziehung explizieren zu können, müssen wir noch die Rolle einer 61 62 63 64
Ebd., 99. Ebd. Ebd. Ebd.
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zweiten maßgebliche Quelle für die Übersetzung des göttlichen Wortes, die neben der Erzählung existiert, berücksichtigen, nämlich das göttliche Gesetz. Die Dialektik zwischen Wort und Schrift stellt eine Verbindung dar, die Ricœur – zumindest im Kontext der Tora, die das ausdrückliche Thema Ricœurs in diesen Ausführungen darstellt – als konstitutiv für die religiöse Herkunft der Hermeneutik erachtet: die Verbindung zwischen Erzählung und Recht. Das Gesetz ist die paradigmatische Schrift, durch die das göttliche Wort des außerhistorischen Ursprungs zur Quelle der Legitimation für historische Institutionen umgewandelt wird. In der jüdisch-christlichen Tradition wird Moses als eine Figur angesehen, welche die Beziehung zwischen dem göttlichen Wort und dem darauf beruhenden geschriebenen Gesetz verkörpert und als paradigmatisch für die hohe Komplexität dieser Beziehung steht. Auf dem Berg Sinai empfängt Moses das Wort Gottes als den ursprünglichen, durch Gott für sein Volk gegebenen Gesetzeskodex; aber in seiner Wut über den Aberglauben der Menschen zerstört er die Tafeln, auf denen das Gesetz geschrieben steht, und schreibt es erneut nieder, aber diesmal als das Recht des Bundes, der die politische Identität des Volkes darstellt. Somit besteht die Bedingung der politischen Identität des Volkes, das sich selbst als Gegenstand des Gesetzes Gottes sieht, in der Abwesenheit des ursprünglichen Gesetzgebers und der sich aus ihr ergebenden Autorität seines Vertreters. Dies ist nun die Konstellation, die die entscheidende Beziehung zwischen dem göttlichen Wort und der heiligen Schrift als wesentlich zirkuläre eröffnet. Das ursprüngliche Wort wird als die Quelle der Heiligen Schrift betrachtet, aber der institutionelle Rahmen, auf dem die Tradition beruht, und durch den die ursprüngliche Kraft und Bedeutung des Wortes gleichzeitig geschützt ist, hängt von der Schrift ab, die wiederum auf ihrer Offenbarung beruht. An diesem Punkt kann die historische und politische Dimension des »horizontalen Abstands« nicht länger ignoriert werden. Der Zirkel, so konstitutiv er auch für die Reorigination des geheiligten Sinnes unserer Symbole ist, entpuppt sich als ein Zirkel zwischen den kanonisierten Schriften und der Gemeinschaft bzw. den Vertretern der Gemeinde, deren Macht darin besteht, diese Schriften zu kanonisieren. 65 Und dieEbd., 100; Ricœur erwähnt hier ausdrücklich die Katholische Kirche und die Autorität, welche das Lehramt aus den Schriften bezieht, die es kanonisiert hat.
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ser Zirkel kann, wie Ricœur am Ende seiner Reflexion emphatisch bemerkt, nie verlassen werden. 66 Das gerade entwertet ihn nicht, sondern macht ihn zum strukturellen Grundmoment des hermeneutischen Philosophierens. Denn damit geht uns auf, dass die Zeit, in der die kritische Reflexion der Verkündigung des »Ursprungs der Ursprünge« möglich und notwendig ist, die Zeit, in welcher der Ursprung unseres Seins, dessen Offenbarung wir im Philosophieren wieder-holen, sich jenseits all seiner Offenbarung und damit auch jenseits all der von ihr herlegitimierten religiösen Institutionen als solcher noch sich zuzutragen im Begriff ist, dass also die Zeit der philosophischen Reorigination unseres uns von ihm her zu verstehen gegebenen Daseins, jetzt ist.
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Ebd., 113.
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Christentum und Nihilismus
An Peter Koslowski In memoriam
Im Laufe weniger Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts wandelten sich die Maßstäbe dafür, die Rationalität einer Religion zu messen und daher die Rationalität des Christentums zu behaupten. Wenn man am Anfang des Jahrhunderts das Christentum als geheimnislose, natürliche Religion feierte und noch in der zweiten Hälfte, wiederum aufgrund der Vernunft, die nächste Bekehrung des jüdischen Aufklärers Moses Mendelssohn zum Christentum glaubte erkannt zu haben, 1 suchte man am Ende des Jahrhunderts nach den Bedingungen a priori der Offenbarung und beanspruchte die Eigentümlichkeit der Religion gegen Metaphysik und Moral. 2 Gleichfalls konnte der junge Hegel um die Jahrhundertwende von der radikalen Abstoßung des Todes von Jesus am Kreuz zu ihrer Aufnahme übergehen. 3 Wenn die Krise der OntotheoIch beziehe mich auf Schriften wie Christianity not Mysterious: or a Treatise shewing, that there is nothing in the Gospel contrary to Reason, nor above it: and that no Christian Doctrine can be properly call’d a Mystery von John Toland und Christianity as old as the Creation: or, the Gospel, a republication of the Religion of Nature von Matthew Tindal als Schriften, die die Rationalisierung des Christentums in der englischen Philosophie des 18. Jahrhunderts belegen. Für die Polemik über die vermutliche Bekehrung Mendelssohns, die vom Theologen Johann Kaspar Lavater veranlasst worden war, vgl. Moses Mendelssohn, Gesammelte Schriften, Band 7. Schriften zum Judentum I, bearbeitet von S. Rawidowicz, Stuttgart-Bad Cannstatt 1974. 2 Eine Deduktion der Bedingungen a priori der Offenbarung versuchte Fichte in seiner ersten veröffentlichten Schrift, Versuch einer Kritik aller Offenbarung (1792). Wenige Jahre nach dieser Schrift und dem Kantischen Werk über die Religion, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793), veröffentlichte Friedrich Schleiermacher die Reden über die Religion (1799), wo er die Unabhängigkeit der Religion im polemischen Sinne gegen die Transzendentalphilosophie vertritt. 3 In der jugendlichen Handschrift Der Geist des Christentums und sein Schicksal argumentiert Hegel die Haltlosigkeit des Todes am Kreuz als Gehalt einer Religion. Er kehrt 1
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Christentum und Nihilismus
logie einbricht, scheinen sich neue Möglichkeiten für das Verhältnis zwischen Christentum und Philosophie zu öffnen, die der im Sinne des Deismus und Theismus verstandenen Religion unzugänglich blieben. Gerade an dieser geschichtsphilosophischen Wende stellt sich die Frage des Nihilismus. Dieser anfänglich in der Debatte Ende des 18. Jahrhunderts gegen die transzendentale und idealistische Philosophie benutzte Begriff wurde dank der Hegelschen Deutung auf das Christentum angewandt. 4 Zunächst werde ich diese auf das Christentum angewandte Deutung kursorisch behandeln und in Frage stellen, dass dabei und dann in der systematischen Konstruktion Hegels die Auflösung der Religion in die Philosophie verfolgt werde. Da es aber fraglich bleibt, inwieweit das Christentum nach seiner Rationalisierung in einer Philosophie des Geistes zu denken sei, werde ich abschließend die nihilistische Folge der Hegelschen Philosophie mit der Nihilismusfrage des 20. Jahrhunderts in Verbindung setzen und Beispiele von Christentum in der Zeit des Nihilismus anhand der Deutungen von zeitgenössischen italienischen Philosophen darstellen.
1. Das absolute Nichts und der Karfreitag Dass Götter sterben oder irgendwie vernichtet werden könnten, hatten sich schon verschiedene Religionen vorgestellt. Dass aber Gott selbst, d. h. der Schöpfer der Welt, sterben könnte, wurde nur vom Christentum vorgestellt. Was in neuen Deutungen der Religionsgeschichte als ein Bruch der sozialen Dynamik des Opfers verstanden worden ist, 5 wurde schon als ein entscheidendes Element genutzt, ein sittliches Modell darzustellen. Es ist kein Zufall, dass eine solche Benutzung der christlichen Religion mit der Krise der Ontotheologie und dem Entstehen der Religionsphilosophie im modernen Sinne zusammenfällt: Kant zufolge ist das unschuldige Opfer das mögliche Zeichen einer Gott wohlgefälligen Menschheit und Fichte eignet sich auch einer solchen Vorstellung, um das Äußerste des ethischen Verhaltens ausdiese Überzeugung in der Abhandlung Glauben und Wissen (1802) um. Darüber weiter unten. 4 Vgl. darüber H.-J. Gawoll, Nihilismus und Metaphysik. Entwicklungsgeschichtliche Untersuchung vom deutschen Idealismus bis zu Heidegger, Frommann-Holzboog, Stuttgart-Bad Cannstatt 1989, 1–114. 5 Ich beziehe mich auf das Buch Das Heilige und die Gewalt von René Girard.
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zudrücken. 6 Kant und Fichte sind ganz davon entfernt, das unschuldige Opfer auf Gott selbst zu beziehen: Einen solchen Zusammenhang festzustellen, würde eine unkritische Aufnahme der christlichen Dogmatik, die weder Möglichkeit noch Interesse des philosophischen Denkens ist, implizieren. Die Nihilismusfrage kommt in dieser Debatte in den letzten Jahren des 18. Jahrhunderts hauptsächlich im kritischen Sinne gegen die Kantische Philosophie und den vermutlichen Atheismus des Fichteschen Idealismus vor. Wenn man die verschiedenen Quellen vom Begriff des Nihilismus und von der Konstellation der damit verbundenen Begriffe und Metaphern in Betracht nimmt, tauchen unterschiedliche, manchmal entgegengesetzte Auffassungen auf. Man kann dabei schematisch zwei Strömungen unterscheiden: einerseits wird der Nihilismus als eine abschreckende, von der Verleugnung des Seins Gottes geprägte Perspektive gebannt; andererseits wird der Nihilismus für einen notwendigen Übergang gehalten, der einen positiven Ausgang vermittelt. Am Anfang des 19. Jahrhunderts stellt Hegel paradigmatisch diese zwei Perspektiven in seiner Jenaer Abhandlung Glauben und Wissen (1802) gegenüber und seine Aufnahme der zweiten Auffassung des Nihilismus, d. h. der Nihilismus als Vermittlung, bestimmt den Zusammenfall von Nihilismusfrage und Theologie des Kreuzes, denn Hegel paart den vollendeten Nihilismus und den geschichtlichen Karfreitag, der dann philosophisch werden muss. 7 Die Vorstellung des Kant zufolge ist das Ideal der Gott wohlgefälligen Menschheit nicht anders zu denken, »als unter der Idee eines Menschen, der nicht allein alle Menschenpflicht selbst auszuüben, zugleich auch durch Lehre und Beispiel das Gute in größtmöglichem Umfange um sich auszubreiten, sondern auch, obgleich durch die größten Anlockungen versucht, dennoch alle Leiden bis zum schmählichsten Tode um des Weltbesten willen, und selbst für seine Feinde, zu übernehmen bereitwillig wäre« (I. Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Meiner: Hamburg 2003, 79). Ähnliche Anspielungen findet man in Fichtes Bestimmung des Menschen (1800): Vgl. J. G. Fichte, Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, I, 6. Werke 1799–1800, Frommann-Holzboog, Stuttgart-Bad Cannstatt 1981, 287–288. 7 Ich beziehe mich auf den Schluss der Abhandlung Glauben und Wissen, wo Hegel der Spekulation eine Aufgabe stellt, die durch die Paarung des Begriffs des Nichts und des Todes Gottes ausgedrückt ist: »Der reine Begriff aber, oder die Unendlichkeit, als der Abgrund des Nichts, worin alles Sein versinkt, muß den unendlichen Schmerz, der vorher nur in der Bildung geschichtlich und als das Gefühl war, worauf die Religion der neuen Zeit beruht, das Gefühl: Gott selbst ist tot […] rein als Moment, aber auch nicht als mehr denn als Moment der höchsten Idee bezeichnen, und so dem, was etwa auch entweder moralische Vorschrift einer Aufopferung des empirischen Wesens oder der Begriff formeller Abstraktion war, eine philosophische Existenz geben, und also der 6
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Todes Gottes erlaubt der christlichen Religion, sich das Opfer und dadurch die fruchtbare Überwindung der Endlichkeit vorzustellen, die der Aufklärung und, Hegels Auffassung zufolge, ihrer idealistischen Vollendung in den Philosophien der Subjektivität von Kant, Jacobi und Fichte versperrt bleibt. 8 Die erste Auffassung des Nihilismus, d. h. die Abscheu vor der nihilistischen Perspektive, verbirgt den Schütz des Egoismus und der eigenen Glückseligkeit, während das absolute Nichts, worin die zweite Auffassung des Nihilismus kraft ihrer Radikalität besteht, zu einer höheren Ebene führt, wo die Endlichkeit erlöst ist und ihre letzte Bedeutung erwirbt. Es ergibt sich daraus, dass der Tod Gottes ohne die Auferstehung nicht zu denken sei: Der Tod Gottes ist die Bedingung für die Offenbarung Gottes als ewiges Werden im Gegensatz zu einem starren und leeren Sein, das die Theologie und die Philosophie der modernen Zeit jenseits jeder Erscheinung gestellt haben. Im Hinblick auf das praktische Leben verkörpern das Sterben und die Auferstehung Gottes die Gemeinschaft als Ort der Erlösung für das Einzelne. Dass der geschichtliche Karfreitag der Philosophie eine Aufgabe stellt, bringt mit sich, dass die religiöse Vorstellung vernünftig erklärbar und praktisch ausführbar ist. Schon am Ende seiner Jugendzeit hatte Hegel die Religion als höchste Form der Einigkeit und, im sogenannten Systemfragment, als Fortführung der Philosophie gedacht, indem die Religion auf der Ebene des Lebens, die Philosophie stattdessen auf der Ebene des Denkens über dem Leben liegt. 9 Als er die Abhandlung Glauben und Wissen schreibt, hat sich sein Gesichtspunkt über das Verhältnis zwischen Religion und Philosophie schon geändert, denn sie machen gemeinsam den absoluten Geist und den letzten Teil des Systems aus. 10 Inzwischen hat sich Hegel auf die spekulative BePhilosophie die Idee der absoluten Freiheit, und damit das absolute Leiden oder den spekulativen Karfreitag, der sonst historisch war, und ihn selbst, in der ganzen Wahrheit und Härte seiner Gottlosigkeit wiederherstellen« (G. W. F. Hegel: Gesammelte Werke, Band 4. Jenaer kritische Schriften, Meiner, Hamburg 1968, 413–414). 8 Für die Gegenüberstellung von religiöser Versöhnung und Fichtescher Rettung der Subjektivität, die dann sich, da Fichte das Ergebnis der modernen Philosophie bildet, zur ganzen modernen Bildung verbreitet, vgl. ebd. 407. 9 Siehe G. W. F. Hegel, Hegels theologische Jugendschriften nach den Handschriften der Kgl. Bibliothek in Berlin, hrsg. von H. Nohl. Mohr: Tübingen 1907, 348. 10 Vgl. das Fragment aus Vorlesungsmanuskripten von 1801 Die Idee des absoluten Wesens: G. W. F. Hegel, Gesammelte Werke. Schriften und Entwürfe 1799–1808, Meiner: Hamburg 1998, 263–264. Vgl. auch die Differenz des Fichteschen und Schellings-
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deutung des Christentums konzentriert und von dem Traum des Wiederauflebens der griechischen Religion Abschied genommen. Wenn auch in sofort nachfolgenden Schriften Hegels das Symbol als Entfernung von der Wahrheit abgewertet wird, lässt sich daraus nicht unbedingt schließen, dass die Philosophie die Religion in sich endgültig aufhebe. 11
2. »Eine Philosophie nach dem Christentum« Sein ganzes Leben lang, mindestens seitdem er ein philosophisches System entworfen hat, hat Hegel die Vernunft als den letzten Keim der Religion angesehen. Darum ist es möglich, eine begriffliche Gestalt hinter den vielfältigen symbolischen und kultischen Materialien der Religionen aufzufinden und die Reihe der Religionen in der Geschichte vernünftig zu ordnen. Kraft dieser Auffassung kann Hegel Gründe vorlegen, um die christliche Religion für die Vollendung der ganzen Religionsgeschichte zu halten und die in der theologischen und philosophischen Tradition festgestellte Bedeutung der Offenbarung zu verwandeln, denn die Offenbarung bildet kein unableitbares, plötzlich in der Welt aufbrechendes Ereignis, sondern die vollkommene Manifestation der Vernunft, wenn auch noch in symbolischer Form. Von diesen Prämissen her kann Hegel ganz konsequent die grundlegende Einheit von Philosophie und Religion schließen: die Philosophie, so Hegel, ist »die Einheit der Kunst und der Religion« und »der Inhalt der Philosophie und der Religion« ist derselbe. 12 Die These, derzufolge chen Systems der Philosophie, wo Hegel aus einem systematischen Gesichtspunkt Kunst und Philosophie miteinander zusammenbringt: G. W. F. Hegel, Gesammelte Werke, Band 4, a. a. O., 76. 11 Eine erste Erklärung dazu im Fragment aus Vorlesungsmanuskripten von 1803 Das Wesen des Geistes: »Wahrhafte sittliche Lebendigkeiten aber sind für die Poesie, selbst Gestalten, selbst vereinzelte Individualitäten, deren Bewegung gegeneinander wohl ein Symbol der absoluten Lebensbewegung ist, aber ein Symbol ist nur die versteckte Darstellung desselben; für die Vernunft aber soll dieselbe enthüllt, frey von zufälliger Form und Gestaltung seyn« (G. W. F. Hegel: Gesammelte Werke, Band 5, a. a. O., 372–373). Ein Vergleich nach demselben Maßstab wird in der Phänomenologie des Geistes geführt: vgl. G. W. F. Hegel, Gesammelte Werke, Band 9. Phänomenologie des Geistes, Meiner: Hamburg 1980, 116–117. 12 G. W. F. Hegel, Gesammelte Werke, Band 20. Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (1830), Meiner: Hamburg 1992, 554, 556.
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Hegel die Religion in die Philosophie auflöse, scheint aufgrund dieses Satzes völlig legitim. In einer Abhandlung, die schon im Titel die Hauptthese darstellt, Hegels Aufhebung der christlichen Religion, kennzeichnet Karl Löwith die Hegelsche Philosophie als »eine Philosophie nach dem Christentum«, indem er mit dem folgenden Satz in Nietzsches Zarathustra zusammenstimmt: »Der, welcher sprach ›Gott ist ein Geist‹ – der machte bisher auf Erden den grössten Schritt und Sprung zum Unglauben« 13. Gegen diese Deutung könnte man wohl einwenden, dass Religion und Philosophie sich im absoluten Geist jedoch ständig in der Form unterscheiden. Dann ist noch zu berücksichtigen, dass Hegel niemals das Ende der Religion begriffen hat, während er das Ende der Kunst, obwohl eine solche These viele Diskussionen und Interpretationen hervorgebracht hat, vertreten hat. Mindestens in manchen Stellen seiner Vorlesungen über die Philosophie der Religion hat Hegel das Verhältnis zwischen Religion und Philosophie, daher auch zwischen Christentum und Philosophie, als einen Kreis aufgefasst. Dadurch bietet er auch in einer sonderbar klaren Form eine artikulierte Theorie der Bedeutung. 14 Diese Theorie wird nach zwei Seiten entfaltet: von der Vorstellung zum Begriff, der die logische Bedeutung von Symbolen, Bildern, Riten ausmacht; und vom Begriff zur Vorstellung, die durch Bilder und Symbole umschreibt, was das Denken abstrakt fasst. Dem ersten Gedankengang der Theorie zufolge, haben wir schon eine Vorstellung von Gott, die uns ein Bild unseres höchsten Bezugspunkts in der Wirklichkeit gibt und fragen nach der Bedeutung, d. h. nach einer begrifflichen Auffassung des Bildes. 15 K. Löwith, »Hegels Aufhebung der christlichen Religion«, in: K. Oehler u. R. Schaeffler (Hg.), Einsichten. Gerhard Krüger zum 60. Geburtstag. Klostermann: Frankfurt am Main 1962, 156–203, hier: 203. Für Nietzsches Zitat vgl. F. Nietzsche, Werke. Kritische Gesamtausgabe, VI, 1. Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen, 1883–1885, De Gruyter: Berlin 1968, 386. 14 Die folgenden Absätze fassen beinahe wörtlich zusammen, was ich bei einer anderen Gelegenheit über die Philosophie der Religion Hegels dargestellt habe: Vgl. P. Valenza, »Religion und Bedeutung. Umfang und Grenzen der anhaltenden Geltung religiöser Vorstellungen«, in: H. Nagl-Docekal, W. Kaltenbacher, L. Nagl (Hg.), Viele Religionen – eine Vernunft? Ein Disput zu Hegel. Böhlau-Akademie Verlag: Wien-Berlin 2008, 51– 62. 15 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Teil 1, hrsg. von W. Jaeschke, Meiner: Hamburg 1983, 34: »Wenn wir so fragen, was ist Gott, was bedeutet der Ausdruck »Gott«, so wollen wir den Gedanken, der soll uns angegeben wer13
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Der zweite Gedankengang seiner Theorie weist jedoch auf die umgekehrte Richtung hin. Hier ist der Ausgangspunkt die »Gedankenbestimmung« und das Ziel die Vorstellung: Wenn wir in einem solchen Fall fragen, so ist »Bedeutung« das Entgegengesetzte von vorher. Hier wird eine Anschauung, Vorstellung der Gedankenbestimmung gefordert, ein Beispiel, ein Beiherspielendes des Inhalts, der vorher nur im Gedanken gegeben wurde. 16
Daher ist die Vorstellung ein Beispiel und »ein Beiherspielendes des Inhalts«. Mit diesem Wortspiel betont Hegel die ständige Vorläufigkeit der Vorstellung, da sie beim Verkörpern des abstrakten Gedankens schon darauf zielt, wieder im Begriff aufgefasst zu werden. Dass Religion und Philosophie denselben Inhalt haben, kann als eine Bestätigung dieser Theorie der Bedeutung angesehen werden, entscheidet aber nicht darüber, dass der Zirkel von Vorstellung und Begriff sich immer wieder öffnet. Entscheidend freilich mindestens mit Bezug auf das Christentum kann eine Betrachtung vom Standpunkt der Geschichte der Philosophie her sein: Wenn die ganze Geschichte der Philosophie von den Kirchenvätern bis zu Kant eine begriffliche Auffassung der Religion ist, so bestätigt sie, auf welche Weise Religion und Philosophie parallel verlaufen. Die Religion selbst wäre kein festes und unwandelbares System, sondern eine komplexe Bewegung, die Schwankungen von Transzendenz zur Immanenz, von Naturreligion zur ethischen Religion, von einer geschlossener Identität zu einer Verallgemeinerung zeigt. Solch eine Bewegung ist allemal an die Entwicklung sowohl der Theologie als auch der Philosophie gebunden. So verstanden würde die doppelte Richtung der Theorie der Bedeutung es erlauben, das Verhältnis zwischen Religion und Philosophie als einen Kreislauf zu verstehen: Da die Religion letzten Endes Denken ist, wäre die Philosophie immer wieder in der Lage, die vernünftige Bedeutung der Religion auszulegen, was dann jedoch wiederum einen vorgestellten Inhalt, Symbole, aber auch Kultus, erforderlich machen würde. Um diese anhaltende Geltung der religiösen Vorstellungen ausden, die Vorstellung haben wir wohl. Sonach hat es die Bedeutung, daß der Begriff angegeben werden soll, und so ist allerdings das, was wir in der Philosophie das Absolute oder die Idee nennen, die Bedeutung; es ist das Absolute, die Idee, die begriffene Natur Gottes, die in Gedanken gefaßte Natur Gottes, oder das logische Wesen desselben, was wir wissen wollen«. 16 Ebd. 35.
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zudrücken, könnte man von »Neubedeutung« sprechen. Darunter wäre zu verstehen, dass die Religion auf dem von der Philosophie begriffenen Inhalt stets aufs Neue eine höhere Mythologie errichtet, denn sie besteht im Prinzip aus Vorstellungen, Anschauungen, Taten. Man könnte auch von einer Neubedeutung innerhalb der jeweiligen geschichtlichen Religion selbst reden, denn es würde sich um eine Erneuerung der alten Symbole und Riten handeln.
3. Das Christentum nach der Philosophie Wäre aber diese Deutung des Verhältnisses zwischen Religion und Philosophie bei Hegel zureichend, mit ihr den Verdacht, die Religion und die vollendete Religion, das Christentum, in die Philosophie aufgelöst zu haben, zu vermeiden? Einer allgemeinen Ansicht zufolge, mit der Löwiths oben erwähnte These über Hegel übereinstimmt, stellt die Hegelsche Philosophie eine säkularisierte Weltgeschichte dar: sie ist noch – so Löwith – von der christlichen Auffassung der Vorsehung geprägt und Hegel wäre in diesem Sinne der letzte Philosoph der westlichen Tradition, der die Vollendung der Geschichte als Verwirklichung des christlichen Glaubens in der Welt als Weltgeist auffasst. 17 Wenn er sich einerseits von den Philosophien des unendlichen Fortschrittes unterscheidet, teilt er andererseits mit ihnen die Verweltlichung des christlichen Prinzips derart, dass das Heilsgeschehen Christus als ungeheure, radikale Wende der Menschengeschichte ganz und gar verloren geht. 18 Dass dank der theologischen und philosophischen Durcharbeitung des Christusgeschehens die Kirche sich dessen allgemeine Bedeutung zueignen und zum vollkommenen Bewusstsein von sich selbst als Geist kommen könnte, sowie dass dadurch Hauptwahrheiten der christlichen Religion, wie die Einheit der menschlichen und göttlichen Natur, die gegenseitige Anerkennung der Endlichkeit des Einzelnen und das Absehen von sich selbst durch die Annahme des Todes Gottes als des eigenen Todes, ihre Bedeutung behalten, ändert den gerade argumentierten Schluss gar nicht. Löwiths Deutung der westlichen Geschichte, derzufolge man vor Vgl. K. Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie. Kohlhammer: Stuttgart 1953, 59–61. 18 Ebd., 61. 17
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der Entleerung ihres zentralen Ereignisses auf die unausbleiblichen theologischen Voraussetzungen der Weltgeschichte zurückkommen soll, ist jedoch problematisch. 19 Der Übergang von der rationalen Theologie zur Religionsphilosophie in der idealistischen und romantischen Zeit schließt endgültig aus, dass Gott als ein entferntes Objekt der Erkenntnis behandelt werden kann: Gott ist Gott nur innerhalb der Gemeinde, die sich an Ihn wendet. Man kann sich bei Hegel darüber beklagen, dass der Begriff nach einem Beispiel verlange und darum gleich in sich selbst die Offenbarung als bildhafte Vorstellung eines begrifflichen Keims schaffe, denn eine solche Auffassung schließt die Offenbarung als Ereignis in der Geschichte aus. Übrigens aber gibt es kein Ereignis an sich, ohne für eine interpretierende Gemeinschaft bedeutend zu werden. Diese Frage liegt am Brennpunkt der theologischen und philosophischen Debatte über die Entmythologisierung im 20. Jahrhundert. Ohne deswegen Offenbarung und Vernunft zu identifizieren, stellte sich für eine nicht reduktionistische Auffassung der Offenbarung die Frage, durch welche Kennzeichnung eine Erscheinung, die man Offenbarung nennt und sich dadurch von den übrigen Tatsachen und Taten in der Welt unterscheidet, erkennbar ist. Bleibt also nach Hegel die Möglichkeit der Religion, wenngleich auf diese prekäre Gestalt des »Beiherspiels«, kann man legitim die Frage stellen, welche Vorstellung von Gott und welche Symbole noch überleben könnten. Der unverzichtbare Kern der Religion der modernen Zeit besteht nach Hegel in der Freiheit: sowohl in seinen Jenaer Schriften als auch in den Vorlesungen über die Philosophie der Religion betont Hegel den unhintergehbaren Wert des Christentums als der Religion der modernen Zeit, die im Medium der Vorstellung die abstrakte Freiheit der Aufklärung und der Revolution sowie die moralische Freiheit Kants in die konkrete Freiheit der Sittlichkeit aufgehoben hat. Das erteilt den Maßstab: die Religionen, die noch in der modernen und post-modernen Zeit aufs Neue Bedeutung erlangen wollen, sollen danach streben, sich diesen höheren Sinn der menschlichen Freiheit anzueignen. Das verlangt, sich die mögliche Einheit der menschlichen und göttlichen Natur vorzustellen und sie in ein individuelles und gemeinsames Tun zu verwandeln, ohne von einem äußerlichen Bild oder Spiel abhängig zu bleiben. Darum scheint der Polytheismus der klassischen Zeit von der Möglichkeit, in unserer Zeit 19
Ebd., 175–185.
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eine neue Bedeutung zu erhalten, ganz und gar ausgeschlossen zu sein. Dasselbe würde für die Naturreligionen gelten, außer sie werden ethisch. Dieser Maßstab bestimmt die Bedingung für eine neue Schätzung aller Monotheismen unter dem Licht der vernünftigen Bedeutung der Offenbarung. Paradoxerweise scheint diese Sicht gefährlicher gerade im Hinblick auf das Christentum zu sein, denn das Christentum hängt vom Ereignis der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus ab, das in einem ganz anderen Sinne als der Auftritt eines Propheten oder irgendeines göttlichen Abgesandten eine neue Epoche öffnet. Als mögliche Beispiele dafür, auf welche Weise man sich auf das Ereignis der Menschwerdung in Jesus Christus aufgrund dieser rationalisierten Auffassung der Offenbarung beziehen könnte, wäre es meines Erachtens möglich, die Theologien von Dietrich Bonhoeffer oder von Dorothee Sölle anzuführen: Der erste durch die Idee des Christentums in einer Welt ohne Gott, »etsi deus non daretur« 20, die zweite durch das Hauptthema der Teilnahme an den Schmerzen Gottes als dem möglichen Ausweg für das Geheimnis des Bösen. 21
4. Das Christentum in der Zeit des Nihilismus: einige philosophische Beispiele Wenn die Möglichkeit bei der Hegelschen Philosophie selbst bleibt, die Religion weiterzudenken, lässt die Einschließung des Christentums in die Metaphysik des Geistes Hegel in die Geschichte des Nihilismus im Sinne von Nietzsche und Heidegger hineinziehen. In Von Hegel zu Nietzsche hatte Löwith diesen eine ganze Epoche prägenden Übergang ausführlich beschrieben, 22 obwohl die theoretische Bindung ebenso
Vgl. D. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft. Hrsg. von E. Bethge, Siebenstern: München-Hamburg 1968, 77–78: »Und wir können nicht redlich sein, ohne zu erkennen, daß wir in der Welt leben müssen – ›etsi deus non daretur‹ […] So führt uns unser Mündigwerden zu einer wahrhaftigen Erkenntnis unserer Lage vor Gott. Gott gibt uns zu wissen, daß wir leben müssen, als solche, die mit dem Leben ohne Gott fertig werden«. 21 Vgl. D. Sölle, »Gottes Schmerz und unsere Schmerzen: das Problem der Theodizee aus der Sicht der Armen in Lateinamerika«, in: Archivio di Filosofia 66 (1988), 273–289. 22 K. Löwith, Von Hegel zu Nietzsche. Europa Verlag: Zürich 1941. 20
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stark wie die geschichtliche Linie der Auflösung des Hegelismus war. 23 Inzwischen hatte sich der Begriff vom Nihilismus im Vergleich zu seiner Aufnahme bei Hegel geändert. Im Sinne Nietzsches kann man nämlich die Verneinung des Lebens durch die Verschiebung ihrer Erfüllung auf eine außerweltliche Ebene als nihilistisch kennzeichnen. Sowohl das Christentum als auch die westliche Philosophie unter dem Zeichen Platos bis zum Kantischen Dualismus von Phänomenon und Noumenon fallen unter diesem Vorwurf. 24 Übrigens haben sie die neue epochenmachende Wende vorbereitet, die der tolle Mensch der Fröhlichen Wissenschaft verkündigt, und zwar diejenige des Todes Gottes. 25 Es handelt sich nicht wiederum um eine neue Stufe des Dramas auf der Bühne des Geistes dergestalt, dass der westliche Nihilismus dialektisch im Sinne der bestimmten Negation gedeutet werden kann. »Gott bleibt todt!« – wie noch ruft der tolle Mensch aus. Alles ist Sache einer neuen Menschheit, die nach keinem göttlichen Trost mehr sucht. Die Vorbehalte dazu, inwieweit Nietzsches Deutung des Christentums treffend ist oder sein Nihilismus unter dieselben Fehler fällt, die er der ganzen westlichen Tradition vorwirft, befreien keineswegs von der Frage, wie das Christentum am Licht dieser Deutung vorzustellen ist, vielmehr verstärken sie diese, denn anhand der philosophischen und kulturellen Lage des 20. Jahrhunderts lässt sich der Nihilismus auf keine Parenthese der Geschichte reduzieren. 26 Für das Thema meines Aufsatzes lohnt es sich, die Frage nach der Möglichkeit des Christentums wieder zu stellen. Die oben erwähnten Antworten von Dietrich Bonhoeffer und Dorothee Sölle bleiben gültig, aber diesmal werde ich mich abschließend philosophischen Perspektiven zuwenden, die mit dem Nihilismus in seiner reifsten Form abrechnen. Alle kommen von italienischen Philosophen her. 27 Vgl. dazu F. Michelini u. R. Morani (a cura di), Hegel e il nichilismo. Angeli: Milano 2003, und insbesondere G. Severino, Hegel e il nichilismo, 11–20, und M. Ruggenini, Hegel e il nichilismo, 85–113. 24 Vgl. H.-J. Gawoll, Nihilismus und Metaphysik, a. a. O., 179–183, 191–192. 25 Vgl. § 125 der Fröhlichen Wissenschaft: F. Nietzsche, Werke. Kritische Gesamtausgabe, V, 2. De Gruyter: Berlin-New York 1973, 158–160. 26 Vgl. F. Volpi, Il nichilismo. Laterza: Roma-Bari 1996, 3–6, 113–117. 27 Vgl. ebd. 99: »Die italienische Kultur war besonders empfänglich dafür, die Manifestationen des Nihilismus aufzufangen und ihre theoretische Bearbeitung zu versuchen«. Volpi bietet eine reichhaltige Liste von italienischen Philosophen, die sich mit der Nihilismusfrage befassen haben: Pareyson, Caracciolo, Severino, Sini, Vitiello, Ruggenini, Vattimo, Givone, Cacciari. 23
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Christentum und Nihilismus
4.1. Christentum als tragisches Denken Eine Deutung des Christentums, die wir als Bezug für diesen ganzen Überblick aufnehmen können, kommt aus der reifsten Phase der Philosophie von Luigi Pareyson, die er selbst »Ontologie der Freiheit« genannt hat. Sie ist in einem postumen gleichnamigen Buch enthalten. 28 Die ständige Beachtung für die christliche Religion bei Pareyson hat nicht nur persönliche Gründe, sondern philosophische: Die philosophische Auseinandersetzung mit dem Christentum ist für jede Philosophie unausbleiblich, weil das Christentum in aller Radikalität die Frage der Freiheit stellt. Der Kern der Ontologie der Freiheit liegt darin, dass Sein und Freiheit in notwendiger Verbindung liegen, besser noch darin, dass sich Sein und Freiheit umtauschen, denn Sein ist Freiheit. Diese Behauptung ist notwendig zweideutig, weil die Philosophie höchstens das zum Sein gekommene Wirkliche als grundlos kennen kann. Dabei kommt das Nichts als Ursprung des Wirklichen und als ständig bedrohende Aussicht seines Endes in Frage. In diesem Kontext ist die Freiheit die Gabe des Wirklichen, das die Metaphysik auf keinen letzten Grund oder Ursache oder Substanz zurückführen vermag. Das Ende der modernen Philosophie besteht im endgültigen Verzicht darauf, einen letzten Grund zu begreifen und darum Gott selbst als Sein und Grund zu beweisen 29. Dadurch erkennt die zeitgenössische Philosophie ihre konstitutive Grenze an und fasst sich selbst als Hermeneutik des Mythos auf, denn sie kann in Griechenland sowie in der christlichen Zeit nur die ursprüngliche mythische Geschichte nachdenken und daraus Hinweise für eine Orientierung in den grundlegenden Fragen der menschlichen Existenz ziehen. 30 Erst als Hermeneutik des Mythos kann die Philosophie die absolute Freiheit als Wille und als Gott begreifen, obwohl Gott als Freiheit in einer Zeit, die von der Theodizee Abschied genommen hat, in der höchst kühnen Weise aufgefassen werden kann, derzufolge er das Böse in sich selbst als Möglichkeit und gesiegte Möglichkeit einschließt. 31 Ich lasse aber das Ganze dieses philosophischen Vorschlags beiseite und konzentriere mich nur auf einen Paragraphen von Ontologia della 28 29 30 31
L. Pareyson, Ontologia della libertà. Il male e la sofferenza, Einaudi: Torino 1995. Vgl. ebd., 7–23. Vgl. ebd., 99–113. Pareyson lässt sich ganz offensichtlich von Schellings reifer Philosophie inspirieren.
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libertà, der für mein Thema bedeutend ist: »Nihilismus und tragisches Denken« 32. Hier schlägt Pareyson vor, das Christentum unter dem Zeichen dessen, das er »tragisches Denken« nennt, zu begreifen. Es geht um ein den Nihilismus durchgegangenes Christentum, das gerade darum dem Nihilismus gegenübergestellt werden kann. Dieser Ansicht über das Christentum zufolge machen das Böse und die Schmerzen den eigentlichen Zugang zu Gott aus. Pareyson schreibt: »Was man das tragische Denken nennen kann, besteht gerade in dieser Untrennbarkeit von Sein Gottes und Erfahrung des Negativen« 33. Darin versteckt sich auch Pareyson zufolge der Hauptfehler des klassischen Nihilismus, denn einerseits benutzt der klassische Nihilismus die Sinnlosigkeit der Welt dazu, um das Sein Gottes zu negieren, aber andererseits ist die Sinnlosigkeit der Welt gerade ohne Gott nicht zu verstehen. Ein radikalerer und folgerichtigerer Nihilismus zielt deswegen darauf, gleichzeitig Gott und die Negativität in der Welt zu negieren. Einen solchen Nihilismus hält Pareyson für einen »bequemen und tröstenden Atheismus«, der das Tragische in der Welt abschafft. 34 Daher noch eine sonderbare Umkehrung, die Pareyson betont: wenn einmal das Tragische der Sicht dem Atheismus eigen war, liegt nun das Tragische im Bereich der Gläubigen an Gott. Der, wen er »den wahren Christen« nennt, unterscheidet sich vom Atheismus und auch vom Christentum der sogenannten »schönen Seelen«, weil diese »der Leichtigkeit des Lebens bedürftig sind und nach einem süßen, friedlichen, ruhigen und qualenlosen Leben sehnen« 35. Der wahre Christ weiß – schreibt Pareyson weiter, »dass Gott keine metaphysische Gewissheit sein wird, die man durch die beweisende Vernunft erreichen kann, sondern eine Dringlichkeit, der man nicht ausweichen kann: Es geht um einen unbequemen, aufdringlichen, keine Ruhe zulassenden Gott, der – wie Dostojewski behauptet – an der Ecke der Strasse wartet« 36. Von dieser skizzenhaften Beschreibung aus, die zu ihrer Stützung sowohl Paulus und Luther als auch Kierkegaard und Dostojewski benutzt, ist es klar, was das Christentum nicht mehr verspricht: »Vom Christentum in der Zeit des Nihilismus sind die Sicherheit, die Süßig-
32 33 34 35 36
Ebd., 226–233. Ebd., 227. Ebd., 228. Ebd., 229. Ebd.
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Christentum und Nihilismus
keit, die Transaktion nicht zu erwarten« 37. Für die Fortführung des Überblickes über ein mögliches Christentum in der Zeit des Nihilismus lohnt es sich, noch das zu behandeln, was Pareyson »Transaktion« nennt. Dass von diesem Bild des Christentums die Transaktion auszuschließen ist, ist nicht derart zu verstehen, dass das Christentum kein Gespräch mit dem Atheismus und Nihilismus der zeitgenössischen Zeit führt, denn – erklärt Pareyson – »das Christentum trägt den Atheismus, den Nihilismus, das Antichristentum überhaupt in sich selbst als ein inneres Problem, als eine Möglichkeit, die zu besiegen und zu überwinden ist« 38. Der Spieleinsatz ist das Überleben des Christentums selbst. Von diesem notwendigen Gespräch muss man die Transaktion als eklektischen und kompromissbereiten Ansatz unterscheiden, demzufolge man sich immer täuscht, aus jeder Philosophie letztlich einen Theismus ziehen zu können. Es ergibt sich daraus, dass das Christentum in der Zeit des Nihilismus ein kompliziertes Verhältnis zu dem Nihilismus behält. Einerseits ist es dem Nihilismus die Befreiung von der Metaphysik der Objektivität schuldig, insofern es zu einer radikalen Auffassung der Freiheit in ihrer Verbindung mit dem Nichts geführt hat. Dadurch kann es auch in radikalerer Weise die Christologie im Sinne der Teilnahme Gottes an den Schmerzen des Menschen verstehen. Andererseits muss es den Nihilismus bekämpfen und einigermaßen überwinden, weil der Nihilismus nicht nur Gott als Sein, sondern auch Gott überhaupt und dadurch irgendeine Ethik negiert.
4.2. »Christentum ohne Erlösung« Hat ein auf diese Weise gekennzeichnetes Christentum, das seine ganze »mythische« Tradition beibehalten hat und durch ein Verständnis des Glaubens als Sprung, als Hoffnung gegen jede Hoffnung, noch irgendeine Vorsehung in der Geschichte und jenseits der Geschichte erwarten kann, eigentlich mit dem Nihilismus in seinen verschiedenartigen Gestalten abgerechnet? In einem Buch mit einem programmatischen Titel, Cristianesimo senza redenzione (Christentum ohne Erlösung) 39, 37 38 39
Ebd., 230. Ebd. V. Vitiello, Cristianesimo senza redenzione. Laterza: Roma-Bari 1995.
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scheint Vincenzo Vitiello eine noch engere Verbindung zwischen Christentum und Nihilismus feststellen zu wollen. Nach einer von Nietzsche inspirierten Hermeneutik trennt Vitiello Jesus Christus vom Christentum in der Geschichte. Dieses letzte ist das Christentum der Briefe von Paulus und teilweise von den Evangelien selbst. Gerade dieses Christentum der Geschichte hat Nietzsche bekämpft, weil er es missverstanden hat. Nietzsche sah nicht ein, dass Christus die Welt ganz und gar entgöttert hat. Man könnte diese Behauptung folgendermaßen erarbeiten: Nietzsche sah nicht ein, dass die Spitze des Nihilismus schon mit Christus erreicht worden war, denn der Kern der christlichen Offenbarung besteht in der Endlichkeit Gottes selbst: »der Gott, den der Sohn als Vater verkündigte, offenbart sich erst im Schrei der neunten Stunde. Es ist der Schrei der Verlassenheit und der Einsamkeit. Es ist der Schrei des extremen Elends« 40. Und etwas weiter: »Die Endlichkeit am Herzen des Unendlichen selbst ist der Gehalt der Nachricht von Christus, und zwar der Schrei des sterbenden, von Gott verlassenen Gottes« 41. Wenn dieses der Gehalt der Geschichte Gottes und der christlichen Dreieinigkeit ist, versteht man, warum Vitiello von einem Christentum ohne Erlösung spricht. So wie Pareyson bezieht er sich auf den letzten Gott der Beiträge Heideggers, aber der letzte Gott ist kein Gott außer dem Christentum, weil sich das Christentum die Selbstvernichtung Gottes vorstellt 42: »Die Erfahrung des letzten Gottes – schreibt noch Vitiello – ist die Erfahrung von einem Gott, der kein Heil gibt« 43. Vor diesem für die Vernunft unerschöpflichen Geheimnis Ebd. XII. Ebd. 42 Die Heideggersche Inspiration ergibt sich aus dem Zitat der Stelle der Beiträge, die Vitiello zufolge der entscheidendste Punkt des Werks ist: »Hier geschieht keine Er-lösung« (ebd., 69; für die Stelle Heideggers vgl. M. Heidegger, GA, III, Band 65. Beiträge zur Philosophie [Vom Ereignis], Klostermann: Frankfurt am Main 21994, 413). Nach Vitiello ist Heidegger in diesem Werk dem Christentum am meisten nah, aber er gibt genau an, dass damit das geschichtliche Christentum nicht gemeint ist (ebd., 68). Von dieser Deutung weicht entschieden Pareyson ab, indem er das Motto des Kapitels über den letzten Gott ernst nimmt: »Der ganz Andere gegen die Gewesenen, zumal gegen den christlichen« (M. Heidegger, GA, a. a. O., 403). Das hat Pareyson zufolge »eine unzweideutige christenfeindliche Bedeutung« (L. Pareyson, Ontologia della libertà, a. a. O., 446). Vitiello erkennt jedoch, dass es darum geht, Heidegger einen zu engen Zusammenhang mit der heidnischen Gräzität zu entreißen (vgl. V. Vitello, Cristianesimo senza redenzione, a. a. O., 68). 43 V. Vitiello, Cristianesimo senza redenzione, a. a. O., 71. 40 41
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Christentum und Nihilismus
bleibt es für die Philosophie als übliche Aufgabe, das dieser Offenbarung entsprechende Bild des Menschen zu untersuchen. Vitiellos Auffassung des Christentums in der Zeit des Nihilismus ist ebensowohl tragisch als diejenige, die wir bei Pareyson gefunden haben. Die Christologie, d. h. die Teilnahme Gottes am menschlichen Schmerz bis zur extremen kenosis des Todes, macht nach beiden Philosophen den gemeinsamen Kern des Christentums aus, auf den die christliche Religion in der Krise der Ontotheologie nicht verzichten kann.
4.3. Christentum als Nihilismus Eine dritte Lösung scheint das Christentum schlechthin in die Geschichte des Nihilismus und der Säkularisierung einzubeziehen. Gianni Vattimo hat in verschiedenen Büchern seine Thesen über die Lage der Religion in der Zeit des Nihilismus dargestellt. Ich werde mich hier vor allem auf Glauben – Philosophieren 44 beziehen, weil dieses Buch nützlich für die Auseinandersetzung mit den hier besprochenen anderen Lösungen ist. Aus der Feststellung des Nihilismus als Ergebnis der westlichen Geschichte berücksichtigt Vattimo die Möglichkeit, das Christentum nicht nur als Stufe oder Vorstufe dieser Geschichte, sondern als Teil und Bestätigung eines solchen Ergebnisses zu behandeln. Der Nihilismus ist weder eine Phase der Geschichte der Metaphysik, die zu überwinden ist, noch bereitet sie eine Rückkehr zu einer der Vergessenheit des Seins vorhergehenden Epoche vor. In Jenseits der Interpretation kennzeichnet Vattimo diese zweite gerade erwähnte Möglichkeit als eine »Rechtsdeutung« Heideggers, der er eine »Linksdeutung« gegenüberstellt, 45 was dann seinen berühmten Vorschlag des »Schwachen Denkens« ausmacht. Dieser philosophischen Perspektive zufolge kann man den Nihilismus als unbestimmte Ent-Mächtigung des Seins deuten, die den Anspruch des metaphysischen Seins und der Absolutheit G. Vattimo, Credere di credere. Garzanti: Milano 1996; deutsche Übersetzung: Glauben – Philosophieren, Reclam: Stuttgart 1997. Ich werde mich auf die Seitenzahl der italienischen Fassung beziehen. 45 G. Vattimo, Oltre l’interpretazione. Laterza: Roma-Bari 1995, 18; deutsche Übersetzung: Jenseits der Interpretation. Die Bedeutung der Hermeneutik für die Philosophie, Campus: Frankfurt-New York 1997. 44
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der Wahrheit in die Mannigfaltigkeit der Deutungen auflöst. Das Christentum fällt mit dieser Geschichte und ihrem Ende zusammen, indem der Kern des Christentums die kenosis Gottes ist. Vattimo greift auf die berühmte These Girards über das Band zwischen dem Heiligen und der Gewalt und derer sozialen Regelung dank dem Opfer des Sündenbocks zurück. Jesus Christus zeigt diese gewaltsame, einer naturalistischen Religion zugehörende Dynamik und bricht endgültig damit. 46 Die im Lauf der Geschichte diesen Kern überlagernde Dogmatik hat diese letzte einfache Bedeutung der Predigten und des Lebens Jesus Christus versteckt. Das Ende der Metaphysik des Seins erlaubt, diese gute Nachricht noch mal zu hören, und auch die Vorurteile einer dogmatischen, von dem Vorrang der wissenschaftlichen Mentalität geprägten Entmythologisierung außer Kraft zu setzen. Vattimo ist sich dessen bewusst, dass solch eine These über das Überleben des Christentums noch hauptsächlich philosophische Gründe bietet und die Eigentümlichkeit des religiösen Bereichs vernachlässigt. Was der christlichen Religion eigen bleibt, ist vor allem die Liebe im Sinne der Nächstenliebe, bei der sich die kenosis sowohl in dem hermeneutischen Maßstab für das Verstehen der Quellen des Glaubens als auch in täglichem Verhalten für ihre Verwirklichung in der Welt niederschlägt. Ein weiteres Kennzeichen der religiösen Erfahrung ist das Gefühl der Abhängigkeit, welche durch die bekannte Beschreibung der Eigentümlichkeit der Religion bei Schleiermacher widerhallt. 47 Das Bewusstsein der eigenen Endlichkeit ist in Vattimos Auffassung der Religion das, was sich dem traditionellen Begriff der Transzendenz am höchsten nähert. Es ist bemerkenswert, dass solche Gehalte eines reduzierten Glaubens – wie sich Vattimo ausdrückt – nicht mehr reduzierbar sind, sie sind nämlich einer weiteren Entmythologisierung nicht zugänglich. Trotzdem ist der Begriff vom Heiligen, welcher solche Gehalte zusammenfassen könnte, in Vattimos Auffassung verdächtig. In Glauben – Philosophieren spricht Vattimo fast ausschließlich vom »natürlichen Heiligen« im negativen Sinne, denn das natürliche Heilige fällt mit dem gewaltsamen Kern der Religion zusammen, das die kenosis im Christentum endgültig entlarvt hat. 48 Daher scheint er in solcher
46 47 48
Vgl. Vattimo, Credere di credere, a. a. O., 28–29. Ebd., 77–82. Vgl. ebd., 33, 74.
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Deutung des Christentums vom Begriff des Heiligen Abschied genommen und mit einer entmythisierten Transzendenz zu tun zu haben. Das führt zu einer wichtigen Auseinandersetzung, die die erste hier behandelte Lösung betrifft. Vattimo stellt nämlich seine Auffassung des mit der Ent-Mächtigung des Seins zusammenfallenden Christentums derjenigen gegenüber, die es mit dem tragischen Denken identifiziert. Vattimo zeigt das tragische Denken und dessen »apokalyptisches« Christentum als »das letzte metaphysische Missverständnis des christlichen Denkens« an. 49 Da das tragische Denken die Weltgeschichte, d. h. die säkularisierte Geschichte, aufgrund ihrer Sinnlosigkeit und der Erfahrung des Bösen ganz unterschätzt, findet es die Rettung in einem transzendenten, als »ganz Anderes« verstandenen Gott, zu dem der paradoxe Sprung des Glaubens Zugang gibt. Das ganz Andere offenbart sich hauptsächlich in den natürlichen oder geschichtlichen Katastrophen, in dem ungeheuren Scheitern der Menschengeschichte, von denen Auschwitz das Paradigma verkörpert. 50 Vattimos Verdacht besteht darin, dass ein solches Christentum »nur die Rückseite des Christentums sei, das durch die traditionelle Metaphysik zu rechtfertigen« 51 sei. Es geht um eine Rückseite, die sogar einen Rückschritt bildet. Das Christentum als tragisches Denken verzichtet scheinbar auf die Metaphysik des Seins, aber es errichtet sie dank der Mystik der Unverständlichkeit Gottes wieder und bereitet die Bedingungen für alle Gestalten von religiösem Fanatismus vor. Diese Anzeige betrifft offensichtlich die Pareysonsche Perspektive, aber sie schließt auch das Christentum ohne Erlösung von Vitiello ein, indem Vitiello auch sich auf das Kreuz und auf den Tod von Christus mit einer dramatischen Stimmung konzentriert, die die positive Seite der kenosis vernachlässigt. Eine wichtige Linie im Christentum, von der Mystik bis zu Pascal und dem Existentialismus des 20. Jahrhunderts wird in Frage gestellt. Die Erwähnung von Gott als »ganz Anderes« weist aber auch auf diejenigen Deutungen des Christentums hin, die sich vom Thema der Ethik als erste Philosophie im Sinne von Levinas inspiriert haben lassen. Übrigens wird Levinas in demselben Kon-
49 50 51
Ebd., 83. Ebd., 84–85. Ebd., 85.
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text deswegen kritisiert, weil er ausschließlich die senkrechte Beziehung mit Gott als ganz Anderes hervorhebt. 52 Vattimos Deutung des Christentums kennzeichnet sich selbst im Gegenteil dazu als eine heitere, ironische, befreiende, barmherzige Perspektive über die Zusammengehörigkeit und die Nähe von Christentum und Nihilismus. Das Ereignis vom Leben Jesus Christus bleibt als ein geschichtlicher Tatbestand, der der Entmythologiesierung nicht unterstellt ist, sondern sogar eine entmythologisierende Kraft dank der Revolution der kenosis besitzt, die auch den Abgrund des Bösen erreicht. Es bleibt auch die Transzendenz, aber wir können vielleicht von einer gemilderten Transzendenz sprechen, denn sie wird auf die Mannigfaltigkeit der Deutungen und auf die Geschichtlichkeit zurückgeführt, also auf alles, was dazu zwingt, das Ego zu dezentralisieren. Es bleibt auch eine mögliche Rettung, die auf kein ausgleichendes Jenseits zu verschieben ist, sondern darin besteht, eine fortschrittliche Entpotenzierung der Gewalt hoffen zu können, zu der die ganze, im Alten und Neuen Testament enthaltene Heilsgeschichte als Bildung der Menschheit beiträgt. Die Christen sind dazu aufgerufen, für diesen möglichen Sinn des Lebens zu arbeiten, ohne vorzugeben, dass sie ihn bestimmen können, was den Raum einer üblichen Bedeutung der Gnade zulässt. 53 Jedenfalls zeigt sich Pareyson der von Vattimo gewarnten Gefahr ganz bewusst, indem er sorgfältig zwischen der Bedeutung des Symbols und allgemeiner dem Symbolismus einerseits und dem Mystizismus und der negativen Theologie andererseits unterscheidet. 54 Er stützt diesen Unterschied auf die Kantische Auffassung des Symbols in der Kritik der Urteilskraft, wo das Symbol eng mit dem von Begreifen unterschiedenen Denken verbunden ist. 55 Am Herz der hermeneutischen Perspektive scheint die Möglichkeit zu liegen, die UnerschöpfEbd., 86–87. Vgl. ebd., 64, 104. 54 Vgl. L. Pareyson, Ontologia della libertà, a. a. O., 112. 55 Vgl. § 49 der Kritik der Urteilskraft: »unter einer ästhetischen Idee aber verstehe ich diejenige Vorstellung der Einbildungskraft die viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch irgendein bestimmter Gedanke, d. i. Begriff adäquat sein kann« (I. Kant, Kritik der Urteilskraft. Meiner: Hamburg 1990, 167–168). Pareyson versteht die ästhetische Idee als dem Symbol gleichwertig (vgl. L. Pareyson, Ontologia della libertà, a. a. O., 107), was schon Ricœur in seiner bekannten Wiederaufnahme des kantischen Satzes durch das Motto »le symbole donne à penser« gemacht hatte. 52 53
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lichkeit des Bezugs auf die Bedeutung aufzufassen, ohne darum in die Unbestimmtheit oder Verwechselbarkeit der Bedeutungen zu fallen. Dieser mögliche, von Pareysonschen Argumenten inspirierte Schütz des tragischen Denkens führt zu zwei weiteren fraglichen Punkten der Perspektive Vattimos. Der erste betrifft den Begriff des Heiligen. Ich habe oben darauf hingewiesen, dass Vattimo oft diesen Begriff in Verbindung mit dem Adjektiven »natürlich« im negativen Sinne benutzt, und zwar als Ausdruck der gewaltsamen Metaphysik des Seins als Objekt. Anderswo ist das Heilige die Antwort auf das Scheitern der menschlichen Bestrebungen, d. h. Teil der Dynamik des Ausgleichs, die den Nihilismus zu Ende geführt hat 56. Ist also das Heilige immer irgendwie natürlich? Oder gibt es ein unnatürliches Heiliges, d. h. ein Heiliges, das nicht gewaltsam ist? Dies scheint mir eine entscheidende Frage zu sein, um die Möglichkeit zu messen, noch in der Zeit des Nihilismus eine Religion beizubehalten. Der zweite Punkt berührt die Haltung Vattimos zur moralischen Bedeutung der Religion und des Christentums. Vattimos Vorbehalte richten sich gegen Themen wie die göttliche Belohnung oder die göttliche Gerechtigkeit, die noch mal einen starken Sinn der Wahrheit, der Geschichte und des Jenseits errichten. Trotzdem scheint Vattimo einen zu raschen Übergang vom Vorrang der Ethik zum Rückfall in die gewaltsame Metaphysik zu verwirklichen, was ihn auch hindert, eine fruchtbare Auseinandersetzung mit solchen Deutungslinien der Religionen auch im Hinblick auf das ethische Potential einer säkularisierten Religion zu entwickeln.
5. Schluss Mit der Aufnahme des historischen Karfreitags kraft seiner spekulativen Bedeutung sah Hegel ein, inwieweit der Kern der christlichen Religion reichhaltig für die Philosophie aus dem theoretischen und praktischen Standpunkte sein konnte. Das scheint auch für die Zeit des Nihilismus gelten zu können, da die Krise der Ontotheologie neue Zugänge zum Christentum geöffnet hat. Im Unterschied zu Hegel aber bildet jener Kern keine Stufe der Rationalität, sondern deren Grenze. Trotzdem weist der Hegelsche Begriff des »Beiherspiels« darauf hin, 56
Vgl. G. Vattimo, Credere di credere, a. a. O., 8–13.
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dass eine Art von kreisförmiger Dialektik das Verhältnis zwischen Religion und Philosophie strukturiert. Das scheint auch außerhalb des Rahmens einer Geistesphilosophie oder einer starken Philosophie der Geschichte gelten zu können. Eine solche Dialektik bildet keine Rückkehr auf den Ausgangspunkt, denn eine rationale Theologie oder eine Rationalisierung der Offenbarung können in der Zeit des Nihilismus auf dieselbe Weise ihres ersten Erscheinens nicht wiederkommen. In diesem Sinn bilden die Säkularisierung als Bewusstsein des Pluralismus der Optionen und der Nihilismus als Verdacht gegen jedes Absolute ein endgültiges Szenario. Wo aber nimmt man keinen endgültigen Abschied von Gott oder vom Heiligen? Es geht vielleicht einfach darum, dass man auch in unserer Zeit das Staunen erfährt. Das gibt Anlass, sogar in der Zeit des Nihilismus zu denken sowie zu beten.
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Drei Schritte zur Transzendenz. Ein Husserlscher Ansatz zur Religionsphänomenologie Im Rahmen der Frage nach der philosophischen Denkbarkeit und Plausibilität des Christentums – als Verkündigung eines Gottes »im Himmel« (Mt 6, 9) und eines Reiches, das »nicht von dieser Welt« ist (Joh 18, 36) – spielt der Begriff der »Transzendenz« offensichtlich eine entscheidende Rolle. Im vorliegenden Beitrag geht es um die Legitimität dieses Begriffs innerhalb eines phänomenologischen Kontextes. Es wird eine These diskutiert und eine Vermutung angestellt. Die These lautet, dass es von einem phänomenologischen und insbesondere von einem Husserlschen Gesichtspunkt aus nicht nur legitim, sondern auch notwendig ist, verschiedene Niveaus von Transzendenz sorgfältig zu unterscheiden. Die Vermutung besteht darin, dass diese Unterscheidung sich als ein sehr fruchtbarer und befreiender Ansatz zu einer Religionsphänomenologie erweisen könnte.
1. Erster Schritt: Transzendenz als Horizont Auf einen ersten Blick könnte die hier aufgestellte These überraschend scheinen. Mindestens seit dem Kantischen Verbot einer »Theologie der Vernunft«, d. h. eines »transzendente[n] Gebrauchs« der synthetischen Grundsätze des Verstandes 1, scheint der Begriff der »Transzendenz« eher mit einer religiösen und naiven Einstellung als mit philosophischer Strenge assoziiert zu sein. Und der phänomenologische Blick macht da keine Ausnahme – ganz im Gegenteil. Um das Rätsel der
1 Vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, B664/A636: »Ich behaupte nun […] dass es überall keine Theologie der Vernunft geben könnte. Denn alle synthetische Grundsätze des Verstandes sind von immanentem Gebrauch; zu der Erkenntnis eines höchsten Wesens aber wird ein transzendenter Gebrauch derselben erfordert, wozu unser Verstand nicht ausgerüstet ist«.
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Erkenntnis zu lösen – wie ist das eigentliche »an sich« der Wahrheit zu erreichen? – verallgemeinert und radikalisiert Husserl das Verbot der Transzendenz zur strukturierten Operation der transzendentalen Reduktion. Phänomenologisch gesprochen meint also »Transzendenz« in einem ersten Sinne nichts anderes als das Ausgeschlossene, als das Reich dessen, wovon die Phänomenologie Abstand nehmen muss, um in ihren eigenen Forschungsbereich eintreten zu können. Eine präzisere Betrachtung der Entstehung dieser Zugangsmethode, die in den Jahren 1902/1907 entwickelt wurde, ist lehrreich. Unmittelbar nach den Logischen Untersuchungen (1900/01), nämlich in der Vorlesung über die Allgemeine Erkenntnistheorie von 1902/ 03, findet sich Husserls erste ausdrückliche Formulierung der Reduktion, wobei sie als eine Operation der Unterscheidung zwischen einem Inneren und einem Äußeren verstanden wird. Die Verwurzelung des philosophischen Diskurses im Reich des Sich-Zeigens zwingt dazu, die Erkenntnis, für die man selbst in der ersten Person Rede und Antwort stehen kann, von der Pseudo-Erkenntnis zu trennen, die man nicht in der Lage ist, durch eigene Erlebnisse nachzuvollziehen. Husserls Argument (noch embryonal aber offensichtlich schon cartesianisch) lässt sich in folgender Weise zusammenfassen: Wenn ich einen Gegenstand wahrnehme, bin ich mir gewiss, dass ich wahrnehme, aber nicht dass der Gegenstand außerhalb von mir existiert und die Wahrnehmung durch sinnliche Reize in meinem Leib veranlasst. Existenz und Kausalität in dem Sinne sind das Resultat einer logischen Inferenz und gehören nicht zum Gehalt des Wahrnehmens als sich in meinem Bewusstsein Ereignende und Zeigende. Die Beschreibung muss also darauf verzichten: »Wir setzen hierbei nicht etwa voraus, dass ›draußen‹ ein Gegenstand existiert, der verschiedene Wahrnehmungen in uns errege. Wir wissen ja nichts von einer äußeren Existenz und vom ›Erregen‹ der Wahrnehmungen. Wir wissen nicht, was die ›äußere Existenz‹ besage und in welchem Sinn eine rechtmäßige Rede hier statthabe« 2. Worüber man nichts weiß, darüber muss man schweigen. Die Strenge der phänomenologischen Methode, wie Husserl einige Jahre später schreibt, erfordert, keine Urteile darüber zu fällen, was das phänomenale Feld überschreitet: »Alle unsere Urteile über Transzendenz dürfen nur als Objekte unserer Untersuchung, nicht aber als Prämis2 Edmund Husserl, Allgemeine Erkenntnistheorie. Vorlesung 1902/03, HusserlianaMaterialien III, hrsg. v. E. Schuhmann, Kluwer, Dordrecht/ Boston/ London 2001, 118.
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senurteile fungieren. Demgemäß gehört in die Sphäre der Phänomene im Sinn der Phänomenologie jede aktuelle Wahrnehmung, jedes aktuelle Urteil, es selbst als das, was es ist, nichts aber von dem, was in ihm wahrgenommen, geurteilt, in transzendentem Sinn gesetzt oder implizit mitgesetzt ist« 3. Diese Vor-Formulierungen bereiten die berühmte Darstellung der Reduktion in Die Idee der Phänomenologie (1907) als »Ausschluss des Transzendenten überhaupt« 4 vor – ein Ausschluss, der den Zugang eröffnet zu einer »absolute[n] Gegebenheit, die nichts von Transzendenz mehr bietet« 5. Diese lang vorbereitete und nicht okkasionelle Abschiednahme von der Transzendenz scheint endgültig zu sein. Sie wird bestätigt und sogar verstärkt in dem grundlegenden Werk aus dem Jahr 1913 (Ideen I), das die transzendentale Gestalt der Phänomenologie vollständig ans Licht bringt: »Beachten wir die Normen, welche uns die phänomenologischen Reduktionen vorschreiben, schalten wir genau, wie sie es fordern, alle Transzendenzen aus, nehmen wir die Erlebnisse also rein nach ihrem eigenen Wesen, so eröffnet sich uns nach allem Dargelegten ein Feld eidetischer Erkenntnisse« 6. Das Ergebnis dieser kurzen Übersicht über die Verwendung des Wortes »Transzendenz« in verschiedenen Kontexten liefert ein klares Verdikt: »Transzendenz« ist der Gegenbegriff zu »Phänomenologie«. Entweder Phänomenologie, oder Transzendenz. Trotzdem ist die Sache damit alles andere als erledigt. Es ist nämlich nötig, Folgendes zu beachten: Erst nachdem die Reduktion zur bewusstseinsmäßigen Immanenz vollzogen worden ist, erweist sich Transzendenz zum ersten Mal als eine echte phänomenologische Frage – noch mehr: Als die Frage schlechthin der Phänomenologie als einer Wissenschaft, die den Anspruch erhebt, über die zwar reduzierte, aber in ihrer ganzen Tiefe betrachtete »Wirklichkeit« Rechenschaft abzugeben. Es genügt, den Blick nur ein wenig zu schärfen, um zu erkennen, dass der Versuch, die Reduktion als Zurückführung zur Immanenz des Bewusstseins zu beschreiben, sehr grob ist. Es mag wohl sein, dass die Edmund Husserl, Einleitung in die Logik und Erkenntnistheorie. Vorlesung 1906/07, Husserliana XIV, hrsg. v. I. Kern, Nijhoff, Den Haag 1973, 214. 4 Edmund Husserl, Die Idee der Phänomenologie. Fünf Vorlesungen, Husserliana II, hrsg. v. W. Biemel, Nijhoff, Den Haag 1973, 9. 5 A. a. O., 44. 6 Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie I, Husserliana III/1, hrsg. v. W. Biemel, Nijhoff, Den Haag 1950, § 63, 149. 3
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Behauptung der Existenz eines Gegenstandes keinen phänomenalen Bestand hat und dass es notwendig ist, sich an das Erlebnis zu halten, um Zweifel zu beseitigen. Das ändert aber nichts daran, dass der Unterschied zwischen einem Erlebnis und seinem Gehalt als solcher innerhalb des Erlebnisses selbst gegeben und also erlebt ist. Die Wahrnehmung führt eine gewisse Exteriorität in Bezug auf Bewusstsein gleichsam greifbar vor Augen. Trotz der Gefahr, die Reduktion selbst zu verleugnen, ist der Begriff »Transzendenz« phänomenologisch irgendwie unhintergehbar. Denn das Konkrete des Erlebnisses wird völlig entstellt, wenn man die Transzendenz des Wahrgenommenen zu einem immanenten Bild des Wahrnehmenden »reduziert«. Eine der wichtigsten Entdeckungen der Phänomenologie besteht genau darin, dass die Differenz zwischen Bewusstsein und Gegenstand nicht gedacht (wie im ewigen Konflikt zwischen Realismus und Idealismus), sondern erlebt, also gegeben ist: Gegeben, ebenso wie der Gegenstand, der in der natürlichen Einstellung die Szenerie ausfüllt, und wie das Bewusstsein mit seinen Akten, das durch die Reduktion in den Vordergrund gestellt wird. Wie gibt sich diese Differenz eigentlich? Der berühmte Tisch, der Gegenstand unzähliger und detaillierter Husserlscher Beschreibungen ist, zeigt sich »leibhaftig« als etwas, was sich vor und in gewissem Abstand zu dem Gesichtspunkt des Bewusstseins findet. Man kann sich davon entfernen und daran annähern. Den Tisch entdeckt man nicht auf einmal, sondern in einer Folge von Abschattungen, die jedes Mal Rückseiten verstecken und Überraschungen nicht aussparen. Die Homogenität der Farbe könnte durch den Zahn der Zeit oder eines Holzwurms unterbrochen sein; und in einer Schublade könnte man etwas finden, was man vergessen und verloren hat. Dieser Überschuss des Wahrgenommenen über den Akt der Wahrnehmung hinaus, der einen Gegenstand erst interessant macht, wird nicht durch eine Inferenz zum punktuellen Wahrnehmungsgehalt hinzugefügt, sondern ist darin eingeprägt als seine Kehrseite, als Ent-halt (statt Ge-halt) und Leere, die durch immer neue und nie ausreichende Wahrnehmungen zu erfüllen ist. In einem Wort: Horizont, Nicht-Zusammenfallen von Bewusstsein und Gegenstand, Ausdruck einer Transzendenz, die keine logische Notion ist, sondern ein vollberechtigtes, obgleich negatives Phänomen, über das die Phänomenologie Rechenschaft geben muss. Konstitution heißt nicht Produktion des Gegenstandes, sondern Steuerung des Spiels zwischen Vordergrund und Hintergrund, das nicht ein für allemal entschieden ist, als ob es eine durch 334 https://doi.org/10.5771/9783495808405 .
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innerliche, endgültige Teilungen geordnete Welt geben würde. Die Grenze ist immer wieder je nach den wandelnden Bedürfnissen und Interessen des Bewusstseins zu ziehen. Der Tisch ist Gegenstand in Bezug auf den Horizont des Zimmers, aber er ist in eins damit Horizont der möglichen Wahrnehmungen von den Schubladen, Tischbeinen, Tischplatte usw. Man mag Husserl vorwerfen, was man will: Die Beharrlichkeit eines theoretischen Vorurteils, die unberechtigte Bevorzugung der Wahrnehmung, die Subordination des Phänomens der Welt unter das Paradigma des Gegenstandes. Bei der Husserlschen Entdeckung, dass das Bewusstsein nicht mit festen, in ihrem Profil endgültig etablierten Gegenständen, sondern mit der Differenz zwischen Gegenstand und Horizont zu tun hat, gibt es jedenfalls für die Phänomenologie kein Zurück mehr. 7 Fassen wir zusammen: Das Phänomen der Wahrnehmung würde seinen ganzen Sinn verlieren, wenn der Gegenstand sich nicht als etwas gegeben sein würde, was »außerhalb« des Erlebnisses ist, »in« dem er sich gegeben ist. Die Beschreibung fängt den scheinbaren Widerspruch zwischen den beiden Ortsadverbien auf, der nur ein Indiz für die Notwendigkeit ist, die Begrifflichkeit der Phänomenologie zu erweitern. Dies ist genau das, was Husserl tut. Auf den Gegensatz Immanenz/Transzendenz, der zur Einführung der Reduktion benutzt worden war, pfropft er eine neue Unterscheidung auf, die mit diesem Gegensatz nicht zusammenfällt, aber mit denselben Wörtern ausgedrückt wird. Diese zweite Unterscheidung wird innerhalb der Immanenz im ersteren Sinne getroffen. Husserl ist sich des Risikos der Verwirrung völlig bewusst: »Diese beiden Immanenzen und Transzendenzen laufen zunächst, bevor die erkenntniskritische Überlegung tiefer eingesetzt hat, verworren ineinander« 8. Versucht man, diese Vertiefung zu vollziehen, muss man sich auf ein Metaniveau erheben und die Frage stellen: was unterscheidet diese Unterscheidungen voneinander? Es ist eigentlich eine dritte Unterscheidung, die zwischen »reell« und »real«. »Transzendenz« im ersteren (radikal unphänomenologischen) SinÜber die Entwicklungen dieser Husserlschen Entdeckung im Denken von MerleauPonty und Patočka vgl. jetzt Emre Şan, Transcendance comme problème phénoménologique. Lecture de Merleau-Ponty et Patočka, Mimesis, Paris 2012. Das Buch liefert eine indirekte Bestätigung dafür, dass das erste Niveau von Transzendenz nur zum Problem der Welt führen kann. 8 Edmund Husserl, Die Idee der Phänomenologie, 35. 7
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ne umreißt das Reich der »Realität«, d. h. dessen, was in der objektiven Zeit und im objektiven Raum und deswegen außerhalb und unabhängig von jeder Beziehung zu einem Bewusstsein existiert. In Bezug auf diese reale Transzendenz, die auch psychologische Egos miteinschließt, befindet sich die Immanenz des transzendentalen Bewusstseins mit seinen Erlebnissen auf einer irrealen Ebene. 9 »Transzendenz« im neuen (echt phänomenologischen) Sinne bestimmt einen der Pole der intentionalen Korrelation, die zwischen den reellen Beständen des Erlebnisses (hyletischen Data) und dem darin irreell eingeschlossenen noematischen Korrelat besteht. Die Reduktion schließt also die reale Transzendenz aus, um die Transzendenz auf der irrealen Ebene zu entdecken: Demnach bedeutet die phänomenologische Reduktion nicht etwa die Einschränkung der Untersuchung auf die Sphäre der reellen Immanenz, auf die Sphäre des im absoluten Dies der cogitatio reell Beschlossenen, sie bedeutet überhaupt nicht Einschränkung auf die Sphäre der cogitatio, sondern die Beschränkung auf die Sphäre der reinen Selbstgegebenheiten, auf die Sphäre dessen, über das nicht nur geredet und das nicht nur gemeint wird, auch nicht auf die Sphäre dessen, was wahrgenommen wird, sondern dessen, was genau in dem Sinn, in dem es gemeint ist, auch gegeben ist und selbstgegeben im strengsten Sinn, derart dass nichts von dem Gemeinten nicht gegeben ist. 10
Zwei Momente dieses außerordentlich wichtigen Zitats sind hier zu unterstreichen: 1. Es ist von nun an unmöglich, Reduktion und Immanenz als deckungsgleich zu denken, denn Reduktion bedeutet »nicht etwa die Einschränkung der Untersuchung auf die Sphäre der reellen Immanenz«; 2. Die Einführung der Unterscheidung Immanenz/Transzendenz als eine intentionale bedeutet, dass die Frage nach dem Zweifel (Immanenz als Sphäre des Unbezweifelbaren) zu der Frage nach der Evidenz (Immanenz als Sphäre der Gegebenheit) wird. Es handelt sich um ein flexibleres epistemologisches Kriterium, das es erlaubt, die Differenz zwischen der adäquaten Evidenz des Immanenten und der inadäquaten Evidenz (die aber nicht minder Evidenz ist) des Transzendenten zu behandeln. Edmund Husserl, Ideen I, Einleitung, 7: »Es wird sich weiter zeigen, daß alle transzendental gereinigten ›Erlebnisse‹ Irrealitäten sind, gesetzt außer aller Einordnung in die ›wirkliche Welt‹. Eben diese Irrealitäten erforscht die Phänomenologie«. 10 Edmund Husserl, Die Idee der Phänomenologie, 60–61. 9
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Eine kurze Überlegung ist hier angebracht. Wir haben nur einen ersten, vielleicht den einfachsten und trivialsten Schritt in Richtung auf die Vertiefung der phänomenologischen Bedeutung der Transzendenz gemacht. Das genügt aber, um das Verständnis des berühmten § 58 von Ideen I schwierig und alles andere als trivial zu machen, in dem der Ausschluss der Transzendenz Gottes vollzogen wird. Um welche Transzendenz handelt es sich dabei? Reelle oder reale? Wenn es sich um die reale Transzendenz handelte, würde in der Einklammerung von Gott selbstverständlich nichts Überraschendes liegen. In der Tat geht dem § 58 der Ausschluss von den Natur- und Geisteswissenschaften (§ 56) und von der Wissenschaft vom Menschen als Naturwesen (§ 56) voran, und ihm folgt der Ausschluss von dem Eidetischen selbst (§ 59). In diesem Fall wäre also die prinzipielle Möglichkeit einer irreellen Einbeziehung des Noemas »Gott« in einem (vielleicht sehr merkwürdigen) Erlebnis völlig legitim. Aber ist dies wirklich der Fall? Im Husserlschen Text findet sich keine explizite Antwort. Obwohl er die Möglichkeit nicht ausschließt, dass Gott »ein Transzendentes in einem total anderen Sinne gegenüber dem Transzendenten im Sinne der Welt« 11 ist und dass es »im absoluten Bewusstseinsstrom […] andere Weisen der Bekundung von Transzendenzen geben« 12 kann, hält sich der Schluss von § 58 an die engere Bedeutung des Wortes: »auf […] dieses ›Transzendente‹ erstrecken wir natürlich die phänomenologische Reduktion« 13. Das ist kein Zufall, weil die Unentschiedenheit zwischen den beiden Bedeutungen von »Transzendenz« sich nicht auf diesen Paragraphen beschränkt, sondern das ganze Werk belastet. 14 Es ist also mindestens auffällig und bestimmt überlegungswert, dass diese Anfängerfrage – Wird die reelle oder aber die reale Transzendenz Gottes ausgeschlossen? – keinen richtigen Platz in der Auseinandersetzung über den sogenannten »tournant théologique« der französischen Phänomenologie gefunden hat. 15 Edmund Husserl, Ideen I, § 58, 140. Edmund Husserl, Ideen I, § 51, 121–122. 13 Edmund Husserl, Ideen I, § 58, 140. 14 Vgl. R. Boehm, »Immanenz und Transzendenz«, in: Vom Gesichtspunkt der Phänomenologie, Martinus Nijhoff, The Hague 1968, 141–185. 15 Auf den ersten Seiten der »Phänomenologie éclatée« (L’éclat, Paris 1998) beschreibt Janicaud die Husserlsche Methode als eine »mise entre parenthèses de toutes les transcendances« [?] (12), die dem methodischen »principe de la reduction à l’immanence« (17) entspricht. Nimmt man diese Behauptung ernst und schließt man folglich jede (also 11 12
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Wie dem auch sei, so ist es in diesem Kontext wichtig zu betonen, dass die zweite, d. h. intentionale Transzendenz zwar grundlegend, aber alles andere als erschöpfend ist. In der Tat vollzieht Husserl einen zweiten, entscheidenden Schritt, der ihn über die intentionale Transzendenz hinaus und sozusagen zu ihrem Ursprung führt. Dieser neue Schritt besteht in der Entdeckung der Unzulänglichkeit der Dichotomie real/reell.
2. Zweiter Schritt: Transzendenz als Intersubjektivität Wir wollen einen Blick in die Paragraphen werfen, die den Übergang von der vierten zur fünften Cartesianischen Meditation vollziehen. Im § 41, am Ende der in den ersten vier Meditationen gegebenen großartigen Einführung in die Phänomenologie, welche die Schlüsselbegriffe und -probleme der phänomenologischen Methode aufzeigt, zieht Husserl alle Konsequenzen seines Versuchs, das große Rätsel der Erkenntnis zu lösen: »Transzendenz in jeder Form ist ein innerhalb des Ego sich konstituierender Seinssinn. Jeder erdenkliche Sinn, jedes erdenkliche Sein, ob es immanent oder transzendent heißt, fällt in den Bereich der transzendentalen Subjektivität als der Sinn und Sein konstituierenden. Das Universum wahren Seins fassen zu wollen als etwas, das außerhalb des Universum möglichen Bewusstseins, möglicher Erkenntnis, möglicher Evidenz steht […] ist unsinnig« 16. Es liegt nahe, darin die Spitze der Arbeit über die zwei Transzendenzen zu sehen, die es der Phänomenologie ermöglicht, das »große Problem« zu behandeln, d. h. »das Cartesianische Problem, das durch die göttliche veracitas gelöst werden sollte«: »Wie kann dieses ganze, in der Immanenz des Bewusstdie reale und die reelle) Transzendenz aus, muss man auf die intentionale Korrelation einfach verzichten. Noch bemerkenswerter ist aber eine gewisse Weigerung aufseiten von Jean-Luc Marion, diese Unterscheidung klar zu treffen und die phänomenologische Relevanz der Transzendenz anzunehmen. Obwohl er in Étant donné (PUF, Paris 19982) unzweideutig »zwei Immanenzen« differenziert, findet sich nie im ganzen Werk die entsprechende Unterscheidung aufseiten der Transzendenz. Er neigt umgekehrt dazu, die intentionale Transzendenz als »immanence (non-réelle) d’un objet intentionnel« (40) und sogar als Immanenz des Bewussteins im Gegenstand zu verstehen: »Le phénomène pris dans sa dualité ne reste immanent à la conscience, que parce que d’abord la conscience intentionnelle se fait immanente à l’objet apparaissent« (38). 16 Edmund Husserl, Cartesianische Meditationen, Husserliana I, hrsg. von S. Strasser, Nijhoff, Den Haag 1973, § 41, 117.
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seinslebens verlaufende Spiel objektive Bedeutung gewinnen?« 17. Dank der Intentionalität sollte das Rätsel der Transzendenz nicht nur gelöst sein, sondern sich als unsinnig erweisen. Das Phänomen der intentionalen Korrelation ist ursprünglicher als die Polarität Subjekt/Objekt und das intentionale Noema ist kein subjektiver Repräsentant eines angeblichen, objektiven Dinges an sich, sondern das Sich-zeigen der Sache selbst. Und trotzdem: Als diese Entdeckung endgültig erworben zu sein schien, bringt der Anfang der fünften, der Intersubjektivität gewidmeten Meditation den Phänomenologie-Lehrling wieder ins Schleudern, da Husserl »den Anspruch der transzendentalen Phänomenologie […] die transzendentalen Probleme der objektiven Welt lösen zu können« wieder in Frage stellt 18: »Können wir als Phänomenologen anders als dem nachgehend sagen, die im Ego ›immanent‹ konstituierte Natur und Welt überhaupt habe hinter sich allererst die an sich seiende Welt selbst, zu der eben der Weg erst zu suchen sei« 19. Auf diesem Niveau ist die Frage wirklich überraschend: Ist die intentionale Transzendenz nicht schon die Lösung eines Problems, das ein paar Seiten zuvor für unsinnig erklärt worden war? Und trotzdem ist es genau dieselbe scheinbar schon im vorigen Paragraphen sichergestellte Objektivität, die bei der Frage nach der Intersubjektivität auf dem Spiel steht. Es gilt, zwei philologische Thesen voranzustellen, die hier nur behauptet, aber nicht weiter erörtert werden können: 1. Eine aufmerksame Analyse der Differenzen zwischen dem § 41 der Meditationen und dem entsprechenden Text der Pariser Vorträge zeigt eindeutig, dass die Notwendigkeit, die offensichtlich am Ende der vierten Meditation schon geklärte Frage nach der Transzendenz wieder zu eröffnen, für Husserl selbst eine Überraschung gewesen ist. Er hatte gedacht, das letzte Wort über das große Cartesianische Problem gesagt zu haben, und sah sich dann dazu gezwungen, den ursprünglichen Text nachträglich zu bearbeiten (und zu verdunkeln). 20 Die Zusammenhangslosigkeit zwischen dem § 41 und dem § 42 ist also nicht formaler Art, sondern A. a. O., § 40, 116. A. a. O., § 42, 121. 19 A. a. O., § 42, 122. 20 Diese These habe ich in einem Aufsatz über »Eidos versus intersoggettività: una prospettiva husserliana sull’impossibile« (Archivio di filosofia, LXXVII, 1, 2010, 229– 238) vertreten. 17 18
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kündigt einen Niveausprung an. 2. Erst an diesem Punkt, d. h. Ende der Zwanziger Jahre, wird sich Husserl vollständig der Schwierigkeiten bewusst, die die Intersubjektivität der Phänomenologie bereitet. Die Ausarbeitung der Methode der »primordialen Reduktion« ist nicht – wie man öfters meint – ein Cartesianischer Verrat einer angeblichen »intersubjektiven Reduktion«, sondern die konsequente Folge dieses neuen Bewusstseins von Husserl. 21 Die beiden Thesen münden in die folgende Schlussfolgerung: so wie sich die Frage nach der intentionalen Transzendenz erst nach dem Ausschluss der »realen« Transzendenz ergibt, ergibt sich auch die Entdeckung des Problems der transzendentalen Intersubjektivität erst als Folge der Grenzen der intentionalen Transzendenz. Husserl stellt folgende Fragen: »Aber wie steht es dann mit anderen Egos, die doch nicht bloße Vorstellung und Vorgestelltes in mir sind, synthetische Einheiten möglicher Bewährung in mir, sondern sinngemäß eben andere. Haben wir also dem transzendentalen Realismus nicht Unrecht getan? Es mag ihm an phänomenologischer Grundlegung fehlen, aber im Prinzipiellen behält er Recht, insofern als er einen Weg von der Immanenz des Ego zur Transzendenz des Andern sucht« 22. Warum steht der transzendentale Realismus, d. h. der Anspruch des Subjektivismus, sich die objektive Realität anzueignen, wieder auf dem Spiel? Die Antwort ist relativ einfach. Bei dem Versuch, die Besonderheit der Frage nach dem Noema »alter Ego« aufzuklären, benutzt Husserl die Kategorien, die ihm der bisher eingeschlagene Weg zur Verfügung gestellt hat. Das Problem ist, dass diese Kategorien in eine echte Aporie laufen. Hält man sich an die intentionale Transzendenz, so unterscheidet sich das Noema »alter Ego« nicht von anderen Noemen: es ist irreell in meinem Erlebnis einbeschlossen. Diese Art von Transzendenz, derzufolge der Andere eine »synthetische Einheit von Bewährung in mir« ist, stellt jedoch den Charakter der »Meinigkeit« des Erlebnisses nicht in Abrede und ist also völlig mit einem transzendentalen Solipsismus vereinbar: »Ist es nicht von vornherein selbstverständlich, dass mein transzendentales Erkenntnisfeld über meine transzendentale Erfahrungssphäre und das in ihr synthetisch Vgl. Stefano Bancalari, »La riduzione primordiale nella V. Meditation: un tradimento della »riduzione intersoggettiva?«, in: La Cultura, 1, 2004, 65–76. 22 Edmund Husserl, Cartesianische Meditationen, § 42, 121–122. 21
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Beschlossene nicht hinausreicht?« 23 Sucht man andererseits ein Jenseits meiner transzendentalen Sphäre (und der intentionalen Transzendenz), so bleibt es nichts anderes als die reale Transzendenz des transzendentalen Realismus. Die Überwindung des Solipsismus fällt also mit dem Widerruf der transzendentalen Reduktion zusammen. In beiden Fällen erweist sich die Phänomenologie unfähig, von der Objektivität Rechenschaft zu geben. Der großartige Versuch der fünften Meditation, diese Schwierigkeit zu lösen, ist bekannt. Es kommt hier nicht auf die Husserlsche Lösung an, sondern auf die Fragestellung als solche: die paradoxe »Zugänglichkeit des original Unzugänglichen« 24, die eine völlig neue Art von Transzendenz, »einen Seinssinn, durch den es [das Ego] sein eigenes Sein ganz und gar transzendiert« 25 ankündigt. Wir wollen versuchen, das Neue dieser Transzendenz und ihre spezifischen Schwierigkeiten herauszuheben. Die intentionale Transzendenz – die Wahrnehmung eines Gegenstandes (z. B. eines Tisches) als eines nicht reell in meinem Erlebnisstrom Einbeschlossenen – ist als Differenz zwischen Gegenstand und Horizont gegeben. Dieser scheinbar sehr einfache phänomenale Befund ist einschneidend und außerordentlich folgenreich. Die erste Folge ist, dass die Treue zu dem, was sich zeigt, die Phänomenologie zwingt, sich mit einer Logik der Asymmetrie vertraut zu machen. Dies ist der natürlichen Einstellung sehr fremd, die sich dieser Logik in der Tat zu entledigen versucht. In der natürlichen Einstellung glaubt man, mit Gegenständen und nicht mit Horizonten zu tun zu haben und das macht alles einfacher. Während der objektive Raum homogen ist und keinen privilegierten Punkt enthält, ist der phänomenale Raum von einem Horizont (d. h. etymologisch: von einer Grenze) definiert und ist als ein sich um einen Gesichtspunkt herum Entfaltendes krumm. Horizont und Gesichtspunkt sind streng korrelative Begriffe: keiner von beiden ist ohne den anderen. Es wird hier bewusst der formale Ausdruck »Gesichtspunkt« gebraucht, um den übergreifenden Charakter in Bezug auf verschiedene phänomenologische Zusammenhänge hervorzuheben. Es mag sich um das transzendentale Bewusstsein, um das Dasein oder 23 24 25
A. a. O., 122. A. a. O., § 52, 144. A. a. O., § 48, 135.
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um die Levinassche Hypostase (die vielleicht radikalste Fassung) handeln: auf jeden Fall bleiben die Grundelemente des intentionalen SichZeigens dieselben. Ein Gesichtspunkt ist per definitionem eine des panoramischen (d. h. alles sehenden) Blicks unfähige Singularität: per definitionem, d. h. dank der von der krummen Linie des Horizonts gezogenen Be-grenzung. Krumm ist die Linie in Bezug auf den Fokus, worin der Gesichtspunkt liegt. Die Kurve des phänomenalen Raums, die sich zwischen Horizont und Gesichtspunkt entfaltet, erzeugt Diskontinuitäten: hier/dort, nah/fern, vorne/hinter usw. Es ist diese grundsätzliche Asymmetrie, die der Beziehung zwischen Gesichtspunkt und Gegenstand einen Sinn d. h. eine Richtung und einen Vektorcharakter gibt. Diese Beziehung ist intentional, insofern sie eine Bewegung ist, die von dem einen (Gesichtspunkt) zu dem anderen (Gegenstand) führt – und nicht umgekehrt. Die grundsätzliche Irreversibilität dieser Struktur der Phänomenalität hängt damit zusammen, dass der Gesichtspunkt nicht im Horizont einbeschlossen ist. Da er sein Fokus ist, ist er eher ein Blindpunkt. Da es unmöglich ist, ihn auf Distanz zu halten, ist er nie als Gesichtspunkt d. h. als Nullpunkt und Eröffnung des Horizontes, in dem sich die Phänomene zeigen. Hier ergibt sich die Frage nach der Intersubjektivität: Wie ist es möglich, dass ein Fokus innerhalb des Horizontes gegeben ist, von dem ich selbst der Fokus bin? Die Transzendenz des Anderen transzendiert »ganz und gar« das eigene Ego, weil sie den phänomenalen krummen Raum der Immanenz überschreitet. Diese Transzendenz, die man faute de mieux »intersubjektiv« nennen kann, ist weder intentional noch horizontal. Wie ist sie gegeben? Dieser Situation gegenüber muss man sich zuerst die Frage stellen, ob es sich um ein echtes oder nur um ein scheinbares Problem handelt. Abgesehen von der erwähnten Husserlschen Philologie ist die Versuchung groß, sich einer scheinbar künstlichen Schwierigkeit zu entledigen, indem man die hier vorgeschlagene Struktur als absolut nicht phänomenal erklärt. Die alltägliche Erfahrung bezeugt unzweideutig die Möglichkeit intersubjektiver Beziehungen mit Anderen, die man ohne Schwierigkeiten als andere erkennt. Claude Romano hat z. B. kürzlich behauptet: »Pour une description véritable, il n’y a pas de ›problème d’autrui‹« 26. Es ist eine argumentative Strategie, die im Wesent26 Claude Romano, Au cœur de la raison, la phénoménologie, Gallimard, Paris 2010, 826.
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lichen die von Heidegger wiederholt. Zwei Bemerkungen sind aber nötig: 1. Das Problem der Intersubjektivität stellt sich nicht auf dem Boden der natürlichen Einstellung, die sich immer mit Gegenständen beschäftigt, keine intentionale, sondern nur die reale Transzendenz kennt und also nicht in der Lage ist, die Schwierigkeit der Pluralisierung des Gesichtspunkts zu ermessen. Die Egos werden als besondere Gegenstände oder Seiende betrachtet, die sich von der allgemeinen Gattung »Ego« nicht prinzipiell, sondern nur aufgrund spezifischer Differenzen unterscheiden: Die Gesichtspunkte sind also immer schon verwechselbar, weil man sich in die Vorrangstellung eines absoluten und monokratischen Beobachters versetzt hat, der alles – Gattungen, Arten und Differenzen – sieht. 2. Der phänomenologische Gesichtspunkt widerspricht nicht der natürlichen Einstellung, sondern ihrer vereinfachenden und einschränkender Selbstauslegung, indem es in der Erfahrung von der Reflexion vernachlässigte und doch erlebte Schichten ans Licht bringt. Nehmen wir z. B. die Beschreibung von der Horizonthaftigkeit und der strukturellen Kurve des Raumes: natürlich ist die Überzeugung korrekt, dass man sich ihrer entledigen und sich in einem prinzipiell unbegrenzten (horizontlosen), homogenen und von allen geteilten Raum frei bewegen kann. Ich kann von hier dorthin gehen, was mich glauben lässt, dass »Hier« und »Dort« reversibel sind. Ich kann um den Tisch gehen, die Abschattungen in einer kohärenten Wahrnehmung synthetisieren und die Begrenzungen meiner subjektiven Einzelperspektive überschreiten. All dies ist wahr, aber einseitig. Natürlich kann ich das alles tun, nämlich in der Einstellung, die sich auf den Gegenstand konzentriert und ihn als festen Punkt der Bewegung annimmt. Es ist ebenso wahr, dass ich mich nicht und nie von mir selbst entfernt habe und meinen Nullpunkt mit mir herumgeschleppt habe wie eine Schnecke ihr Schneckenhaus. Die Linie meines Horizontes liegt immer »dort«, in derselben Ferne wie vorher. Ich bleibe also auf meinem Hier festgenagelt: Ich kann meinen Rücken nicht sehen und meinen Geruch nicht wahrnehmen. Keine detaillierte phänomenologische Beschreibung könnte die Schärfe von Montaigne erreichen: »Stercus cuique suum bene olet. Noz yeux ne voyent rien en derriere. […] Si nous avions bon nez, nostre ordure nous devroit plus puïr, d’autant qu’elle est nostre« 27. Ich kann weder meine Wahrnehmungsgewohnheiten, noch die in meiner Monade singularisierte Erfahrungsgeschich27
Michel de Montaigne, Essais, Livre III, Chapitre VIII.
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te inhibieren. Je mehr ich mich in die Komplexität der Erfahrung vertiefe, desto schwieriger wird es, meine eigenen Grenzen zu entdecken und zu überschreiten. Solange es nur um die richtige Beschreibung der Wahrnehmung eines Tischs geht, kann man von jeder »horizontalen« Komplikation abstrahieren. Genau deswegen neigt man dazu, diesen vereinfachten Fall vorzuziehen: es ist sozusagen wie ein Laborversuch, bei dem man alle Störfaktoren vermeiden kann. Die Reduzierung der Erfahrung auf die Wahrnehmung eines Gegenstandes (also auf die Evidenz) ist eine gute Strategie, um »intersubjektive« Konflikte zu lösen. Hat man aber, wie die Phänomenologie lehrt, nicht mit fest etablierten Gegenständen, sondern mit der Differenz Horizont/Gegenstand zu tun, kann man leicht verstehen, warum die angeblichen »Gegenstände« zumeist wahrhafte »Sachen« (d. h. causae im rechtlichen Sinne des Wortes) sind. Die Reduktion auf einen Gegenstand, d. h. die Bestimmung seiner Grenzen, ist im alltäglichen Leben meist das Problem und nicht die Lösung. Fast nie geht es um Tische, sondern um schwierig zu ziehende Grenzen: Grenzen von Besitz- oder von Kompetenzbereichen, Grenzen zwischen einem Zellagglomerat und einem schon menschlichen Individuum oder zwischen Lebendem und nicht mehr Lebendem. In allen diesen Umständen fallen die Symmetrie und die Reversibilität des Übergangs weg. Es ist unmöglich, um »etwas« herum zu gehen, um immer neue Abschattungen zu gewinnen, zu synthetisieren und zur Objektivität zu gelangen. Die Erfahrung der Unmöglichkeit von seinem eigenen Gesichtspunkt Abschied zu nehmen wird hier brennend: Man spürt und fühlt die Dringlichkeit seines eigenen Anspruch auf Universalität (d. h. auf die Universalisierung seines eigenen Fokus), der sich als unwirksam und ohnmächtig erweist. Und man kann auch nicht eine (fremde) Stellung übernehmen, die man bestenfalls nicht versteht und die man im schlechtesten Fall widerlich findet. Nimmt man die Frage nach der intersubjektiven Transzendenz nicht ernst, wird die Versuchung groß zu meinen, dass alles nichts anderes als eine von irgendeinem Wahrnehmungsfehler verursachte Anomalie und nicht die wahre und wirkliche Struktur der Lebenswelt ist, die das Resultat eines immer prekären Gleichgewichts von inkompossiblen Perspektiven ist. Husserl hat die Schwierigkeit in ihrer ganzen Tragweite eingesehen, indem er erkannt und ausdrücklich behauptet hat, dass die Objektivität Folge und nicht Voraussetzung der transzendentalen Inter344 https://doi.org/10.5771/9783495808405 .
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subjektivität ist. Trotzdem besteht seine Lösung in der Zurückführung der intersubjektiven zur intentionalen Transzendenz. Bei der Husserlschen Strategie hängt alles davon ab, dass in meinem Horizont ein besonderer Gegenstand (ein Körper, der auch Leib ist) vorkommt, der die Grundlage ist für die apperzeptive Übertragung meines Standpunktes auf den des Anderen, »wie wenn ich dort wäre« 28. Die bekannte Zirkelhaftigkeit dieser Methode (und die daraus folgende Unmöglichkeit eines Zugangs zur Alterität eines neuen Gesichtspunkts) ist ein kostbares Indiz für die Unmöglichkeit, die eine Transzendenz auf die andere zu reduzieren. Dies ist die zweite grundsätzliche und unwiderrufliche Husserlsche Entdeckung, die die Phänomenologie endgültig bestimmt. Von nun an ist die intersubjektive Transzendenz eine Herausforderung, der sich die Phänomenologie stellen muss. Die Frage lautet also: ist es möglich auch von diesem zweiten Niveau der Transzendenz – von der Überschreitung auch meines Horizontes – phänomenologisch Rechenschaft zu geben? Phänomenologisch – d. h. ohne auf das Paradigma der intentionalen Korrelation einfach zu verzichten.
3. Dritter Schritt: Transzendenz als Zweideutigkeit Es ist nun endlich möglich, den letzten Schritt zu vollziehen. Im Unterschied zu den zwei vorigen kann dieser neue Schritt nur als eine Vermutung formuliert werden, die nur durch umfassendere Forschung überprüft werden kann. Die Frage nach der Intersubjektivität hat zum Paradox der »Zugänglichkeit des original Unzugänglichen« 29 geführt, das als das Paradox der unmöglichen oder widersprüchlichen Koexistenz von zwei Fokussen in einem und demselben Horizont zum Ausdruck gebracht werden kann. Die Vermutung besteht darin, dass die Phänomenologie beim Versuch, dieses Paradox zu behandeln, d. h. begriffliche Instrumente zu entwickeln, die dieser Transzendenz angemessen sind, dem Weg und der Sprache der Religion begegnet. 30 Diese Begegnung – die Edmund Husserl, Cartesianische Meditationen, § 54, 148. A. a. O., § 52, 144. 30 In gewissem Sinne hat schon Jocelyn Benoist auf eine ähnliche Forschungsrichtung hingewiesen. Denn er betont, dass es notwendig ist »›prendre au serieux‹ la parole de Husserl lorsque lui-même s’applique à distinguer deux transcendances«, d. h. die Transzendenz des Gegenstandes und die Transzendenz der Intersubjektivität: »La monado28 29
345 https://doi.org/10.5771/9783495808405 .
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in der Religionsphänomenologie thematisch wird – ist keine einseitige, sondern sie geschieht als eine wechselseitige Befruchtung und Osmose von Ressourcen. Man könnte also die Vermutung auch umgekehrt formulieren: beim Versuch, von der ganz besonderen Transzendenz Rechenschaft zu geben, welche die Religion für sich beansprucht, wird die Phänomenologie dazu gezwungen, das Paradox der Verdoppelung des Gesichtspunktes auf sich zu nehmen. Religionsphänomenologie in diesem Sinne ist also nicht nur eine philosophische Auslegung des religiösen Faktums, sondern auch die phänomenologische Inanspruchnahme von Fragen, Begriffen und Denkmodellen, die streng phänomenologisch (also nicht im Sinne einer religiösen Philosophie) übersetzt und verwertet werden: im Hinblick auf die Frage nach der »Transzendenz« lässt sich dieses fruchtbare Wechselspiel in besonderer Weise feststellen. Dieser Zugang fällt offensichtlich nicht mit dem Standardmodell einer Husserlschen Religionsphänomenologie zusammen. Denn es handelt sich nicht darum, die korrelative Struktur mit einem noematischen, eventuell sehr besonderen Gehalt (dem Heiligen oder Gott) zu erfüllen, wie es selbstverständlich scheinen könnte 31. Hält man sich einfach an die intentionale Korrelation, ohne die Frage nach dem Übergang von der intentionalen zur intersubjektiven Transzendenz ernst zu nehmen, so setzt man die Phänomenologie den schlimmsten Verdächtigungen aus: Die daraus resultierende Subjektivierung der religiösen Erfahrung ist in den Augen von Ungläubigen Ideologie und sie ist Idolatrie in den Augen von Gläubigen. In der Tat hat die Idee eines Erlebnisses »von« Gott, d. h. einer vektoriellen, asymmetrischen und horizontalen Beziehung zu Gott etwas Groteskes 32 an sich. Es muss ohne logie devient alors la figure métaphysique de l’expérience phénoménologique de la pluralité irréductible des regards plus que de la mêmeté de l’être au-delà de ses différents aspects et par eux. Ici ressurgit le sacré, comme irréductible à tout rapport de fondation […] Le Dieu de Husserl n’est rient d’autre que l’idée de cette communauté« (Jocelyn Benoist, »Husserl: au-delà de l’onto-théologie«, Les études philosophiques, 4/1991, 433–458: 456). 31 Vgl. z. B., R. A. Mall: »The God of phenomenology in comparative contrast to that of philosophy and theology«, Husserl Studies, 8/1991, 1–15: »The God of phenomenology in comparative contrast to that of philosophy and theology has to be a noematic correlate of a noetically lived experience« (13). 32 Man kann nichts anders, als das harte Urteil von Levinas zu unterschreiben: »Il est très difficile de prendre au sérieux les brèves indications sur Dieu que Husserl donne dans les Ideen en cherchant dans la merveilleuse réussite du jeu des intentions consti-
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Umschweife zugestanden werden, dass Husserls Bedeutung für eine mögliche Religionsphänomenologie eben nicht in seinen Behauptungen über »Gott« besteht, der bei ihm nichts anderes als eine begriffliche Formel ohne Bezug zur religiösen Bedeutung ist. Husserls Gott ist nämlich eine »Idee«, die ganz innerhalb des Niveaus der intentionalen Transzendenz bleibt. 33 Es ist zwar legitim, sich zu fragen, ob die Zurückweisung der Idee eines Erlebnisses von Gott notwendig die Übertretung des augustinischen Verbots »noli foras ire« bedeutet, das Husserl am Ende der Cartesianischen Meditationen wiederholt. Diese Frage muss aber entschieden verneint werden. Widerriefe man die phänomenologische Immanenz des »interior homo«, so kehrte man einfach zur realen Transzendenz zurück. Man muss aber ganz im Gegenteil fragen, ob es möglich ist, phänomenologisch auch den zweiten Teil des augustinischen Imperativs zu befolgen, den Husserl nicht zitiert. Denn das Wort »trascende et te ipsum« 34 bezieht sich offensichtlich nicht auf den »homo exterior«. Man muss die Schwierigkeit von dem Zugleichsein beider Imperative (»noli foras ire« und »transcende«) wirklich erleben, d. h. man muss diese im technischen Sinne verstandene »Doppelbindung« (»double bind«) radikal übernehmen, um die phänomenologische Tragweite der Frage nach der Transzendenz und den Grund ihrer fruchtbaren Verflechtung mit der religiösen Sprache erfahren zu können. Wir wollen uns wieder in den krummen Raum der intentionalen Immanenz versetzen. Wie gesagt besteht der Widerspruch in der Unmöglichkeit, den Gesichtspunkt innerhalb eines per definitionem um einen Fokus herum strukturierten Horizonts zu verdoppeln. Alles, was vom Horizont umgefasst wird, ist ein immanenter Gehalt, der, obwohl intentional transzendent, das »eigene Sein ganz und gar« nicht »transtuant un monde cohérent, une preuve finaliste de l’existence de Dieu«; Emmanuel Levinas, En découvrant l’existence avec Husserl et Heidegger, Vrin, Paris 1994, 48. 33 Das wird im Grunde bestätigt in dem jüngst erschienenen Buch von Emmanuel Housset (Husserl et l’idée de Dieu, Cerf, Paris 2010), das eine wertvolle Übersicht über die Frage nach Gott im ganzen (veröffentlichten und unveröffentlichten) Husserlschen Werk darstellt. Nach Houssets Meinung »il faut bien reconnaître que le Dieu auquel accède la phénoménologie transcendantale n’est pas au-delà de l’être constitué« (71) : »L’Idée de Dieu n’arrache donc pas la subjectivité à une solitude de principe qu’aucune empathie et aucune intersubjectivité ne peuvent vraiment surmonter. Telle est peut-être la véritable limite de cette théologie philosophique« (172). 34 Augustinus, De vera religione, XXXIX, 72.
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zendiert« 35. Insofern er im Horizont enthalten ist, fügt sich der Gehalt notwendig der Kurve, die ihm vom Horizont aufgedrängt wird: quidquid recipitur ad modum recipientis recipitur. Der Gesichtspunkt ähnelt dem Blick der Medusa, der Hand von Midas oder der Beobachtung von Schrödingers Katze (die für die Katze fatal ist): Er kann einen Gehalt nicht fokussieren, ohne ihn zu assimilieren (ihn sich selbst zu ähnlich zu machen) und also in seiner Alterität zu verfehlen. Die Frage nach der Transzendenz darf man also in folgender Weise ausdrücken: Ist es möglich, dass die subjektive Erfahrung von etwas angegangen wird, was sich jenseits der horizontalen Kurve findet, »was kein Auge gesehen hat und kein Ohr gehört hat und in keines Menschen Herz gekommen ist« (1. Kor 2, 9)? Bei der Formulierung muss man außerordentlich vorsichtig sein. Denn spricht man einfach von einer direkten Erfahrung »der« Transzendenz, dann hat man schon das korrelative Schema wiederhergestellt, das transzendiert werden sollte. Andererseits handelt es sich nicht darum, ein »Symptom« 36 zu finden, das etwas Sich-nicht-zeigendes anzeigt. Das wäre die unphänomenologische Struktur der Erscheinung, die Heidegger im berühmten § 7 von Sein und Zeit mit vollem Recht kritisiert. Bleibt noch irgendeine Möglichkeit offen? Nehmen wir an, dass ich z. B. einen Busch sehe, der im Feuer brennt und davon doch nicht verzehrt wird. Das ist zwar merkwürdig, aber das hat an sich mit der gesuchten, trans-horizontalen Transzendenz nichts zu tun. Von meinem Gesichtspunkt aus beobachte ich ein wundersames Vorkommnis, das aber nach einem wahrscheinlichen ersten Schock nichts anderes als eine Erweiterung dessen bedingt, was mein Horizont zu umfassen imstande ist. Ein zweiter, von mir eventuell gesehener brennender Busch und erst recht ein dritter würden sich in meine alltägliche Erfahrung problemlos einfügen. Dieses Wiederaufnehmen ins Gewebe der intentionalen Transzendenz würde auch den übernatürlichen Akteur betreffen, der die Ursache des wundersamen Vorkommnisses sein könnte. In der Tat verhindert seine anscheinende Unsichtbarkeit nicht, dass er eine klar bestimmte und begrenzte Stellung innerhalb meines Horizontes einnimmt: Ein im Negativ abgebildetes und trotzdem perfekt erkennbares Profil. Ich bin in der Tat imstande, in aller Evidenz das Wundersame des Vorkomm35 36
Edmund Husserl, Cartesianische Meditationen, § 48, 135. Martin Heidegger, Sein und Zeit, § 7, Niemeyer, Tübingen 199317, 29.
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nisses festzustellen, das für mich eine ganz bestimmte Stellung in Zeit und Raum einnimmt (»Siehe, hier! oder: da!«: Lk 17, 21), und ihn einer übernatürlichen Ursache zuzuschreiben (aber »das Reich Gottes kommt nicht so«: Lk 17, 20). Etwas ganz anderes wäre es, wenn diese Erfahrung vom brennenden Busch (sie sei wundersam oder auch nicht) irgendwie Anlass zu einem Exodus würde (»so geh nun hin«: 2 Mose 3, 10), d. h. zum Verlassen von meinem absoluten Hier, von meinem Nullpunkt und von Allem, was mir vertraut ist. 37 In diesem Fall würde die Transzendenz nicht mehr eine wahrnehmungsmäßig festzustellende und notwendig vorläufige Störung innerhalb meines Horizontes sein, sondern die Forderung, vom Horizont selbst als einem Ganzen irgendwie Abstand zu nehmen, um mich dem ganz Anderen auszusetzen. Das kann offensichtlich nicht heißen, mit einem »Schwamm […] den ganzen Horizont wegzuwischen« 38 – was »toll«, d. h. wesensmäßig unmöglich wäre. Was eigentlich gefordert wird, ist vielmehr, den Fokus selbst irgendwie einzuklammern, um den herum sich der Horizont entfaltet und orientiert. Die Forderung nach einer Unterbrechung der zurückführenden und subjektiven Bewegung der Reduktion macht sich geltend (»Wer bin ich, dass ich zum Pharao gehe?«: 2 Mose 3, 11); diese Unterbrechung geschieht als eine Art Überlagerung zwischen meinem Horizont und einem anderen Horizont. Mein »wie wenn ich dort wäre« eingebildeter Horizont, wo ich immer im Zentrum bin, wird von dem Gebot unterbrochen, mich einer unerhörten Möglichkeit auszusetzen, die sich nicht meiner Zukunft als Protention oder vorlaufender Entschlossenheit fügt; das Gebot, in ein unbekanntes Land einzutreten, dessen Zugang mir prinzipiell und per definitionem verschlossen ist. Ist das nicht eine Anhäufung von Widersprüchen? Das mag so sein. Aber das ist auch nicht verwunderlich. Auch das Denken eines immanenten Gegebenseins der Transzendenz schien solange widersprüchlich, bis ein neuer Begriff von Transzendenz eingeführt wurde, der den Begriff der realen Transzendenz überlagert. Die trans-horizontale Transzendenz ist kein neues Reich der Erfahrung, das zu dem der alltäglichen Erfahrung hinzutritt und sich Diese Analyse verdankt eine wesentliche Anregung den Betrachtungen von Marco Maria Olivetti, »Intersubjektivität und philosophische Gotteslehre«, Archivio di filosofia, LXIX, 2001, 13–20. 38 Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, § 125: Der tolle Mensch. 37
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darin integriert. 39 Kein neuer Gehalt kommt ins Erlebnis hinein (»Siehe, er geht an mir vorüber, ohne dass ich’s gewahr werde, und wandelt vorbei, ohne dass ich’s merke«: Hiob 9, 11). Diese Transzendenz ist vielmehr ein zweiter Blick, mit dem ersten radikal inkompatibel, auf genau dieselbe alltägliche Erfahrung: Zwei Fassungen ein und derselben Geschichte oder zwei Naturen in ein und derselben Person. Die eindeutige Gewissheit der Erfahrung tritt zugunsten einer strukturellen Zweideutigkeit zurück, die mich in gegensätzliche Richtungen zieht (»noli foras ire« und zugleich »trascende et te ipsum«). Es kann sein, dass etwas Wichtiges passiert ist, dass Gott selbst mich angesprochen hat. Aber ich kann auch auf eine Täuschung hereingefallen sein. Levinas hat eine meisterhafte und echt phänomenologische Beschreibung dieser Situation geliefert: »Un Dieu s’est révélé sur une montagne ou dans un buisson inconsommable ou s’est fait attester dans des Livres. Et si c’était un orage ! Et si les livres nous venaient des rêveurs!« 40. Das ist im Grunde auch der Kern des paradoxen Begriffs vom »Anspruch« (appel) bei Marion: »[L’appel] ne commence à se faire entendre que lorsque et si la réponse lui accorde d’avoir été écoutée – l’appel a priori [qui] attend l’a posteriori de la réponse pour commencer à avoir été dit et à se phénoménaliser« 41. Die Forderung danach, vom eigenen Horizont Abstand zu nehmen, heißt vor allem, diese strukturelle Unentscheidbarkeit, die nichts anderes als eine Radikalisierung des Husserlschen Denkens vom »WederNoch« ist, in dem die Epoché selbst besteht, zu übernehmen (und eben nicht zu überwinden). Und die Religionsphänomenologie ist vielleicht In diesem Sinne unterscheidet sich dieser religionsphänomenologische Zugang von demjenigen Steinbocks, der dieselbe Forderung von Trans-Horizontalität durch den Begriff von »verticality« ausdrückt: »Verticality is the vector of mystery and reverence; horizontality ist what is in principle whithin reach, graspable, controllable« (Antony J. Steinbock, Phenomenology and Mysticism. The Verticality of Religious Experience, Indiana University Press, Bloomington and Indianapolis, 20092, 13. Trotz aller Differenz mit horizontalen Gehalten bleibt »verticality« irgendwie Gegenstand einer eindeutigen Erfahrung: »What is given vertically incites awe, and only as a later consequence, wonder. Modes of givenness are ›vertical‹ in the sense that they take us beyond ourselves. These modes of vertical givenness are testimony to the radical presence of ›absolutes‹ within the field of human experience« (14–15). 40 Emmanuel Levinas, »Énigme et phénomène«, in: En découvrant l’existence avec Husserl et Heidegger, Vrin, Paris 19945, 208. 41 Jean-Luc Marion, Étant donné. Essai d’une phénoménologie de la donation, PUF, Paris 19982, 395. 39
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Drei Schritte zur Transzendenz
nichts anderes als der Versuch, den Blick dazu zu erziehen, in den Widersprüchen fruchtbare Paradoxe zu sehen, um der Transzendenz als Zweideutigkeit Platz zu lassen: »L’oscillation indécise, cette retenue (epokhé ou Verhaltenheit) […] (entre révélation et révélabilité, Offenbarung et Offenbarkeit, entre événement et possibilité ou virtualité de l’événement), ne faut-il pas la respecter elle-même?« 42
Jacques Derrida, Foi et Savoir. Les deux sources de la »religion« aux limites de la simple raison, Seuil, Paris 2000, 35.
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Die Unendlichkeit des Unendlichen. Levinas und die Tradition
1. Einleitung Philosophiegeschichtliche Urteile von großen Philosophen fallen zuweilen ambivalent aus und bei näherem Hinsehen sind sie gegenüber der Geschichte der Philosophie und ihren Protagonisten öfters ungerecht. Bekanntlich haben viele Denker über Platon Urteile gefällt, ohne seine Werke in der Originalsprache gekannt zu haben, da sein Werk lange vom neuplatonischen Denken verdeckt war. Der ›virtuelle Augustinus‹, der durch die Zeiten hindurch zitiert worden ist und der nicht immer Anhalt in den Schriften des Kirchenlehrers findet, würde ganze Bände füllen. Ebenso bleibt es fragwürdig, ob tatsächlich der Nihilismus »die Grundbewegung der Geschichte des Abendlandes« ausmacht, wie Martin Heidegger unterstellt. 1 Als exemplarisches Beispiel der Ambivalenz des philosophiegeschichtlichen Urteilens kann z. B. Gottfried W. Leibniz dienen, der zwar hellsichtig die neuplatonische Überwucherung des ursprünglichen Platon erkannte, aber seine Meinung von der »höchsten Klarheit und Einfachheit« der platonischen Werke nur schwer von der heutigen Forschung geteilt wird. Leibniz schreibt: Es gilt Platon aus seinen eigenen Schriften zu verstehen, nicht aus Plotin oder Marsilius Ficinus, die dadurch, daß sie stets nur dem Wunderbaren und Mystischen nachgingen, die Lehre dieses großen Mannes verfälscht haben […], die späteren Platoniker haben die treffliche und gegründete Lehre des Meisters über Tugend und Gerechtigkeit, über den Staat, über die Kunst der Begriffsbestimmung und Begriffseinteilung, über das Wissen von den ewigen Wahrheiten und über die eingeborenen Erkenntnisse unseres Geistes in den Hintergrund geschoben […]. Denn die Pytha-
Martin Heidegger, »Nietzsches Wort ›Gott ist tot‹«, in: Ders., Holzwege, 7. Auflage, Frankfurt am Main 1994, 218.
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Die Unendlichkeit des Unendlichen
goreer und Platoniker, Plotin und Jamblichus, ja selbst Proklos waren völlig in abergläubischen Vorstellungen befangen und rühmten sich der Wunder […]. Wer aber unbefangen und gehörig vorbereitet an Platon selbst herantritt, der wird in ihm wahrhaftig heilige Moralgebote, die tiefsten Gedanken und einen wahrhaft göttlichen Stil finden, der bei all seiner Erhabenheit doch stets die höchste Klarheit und Einfachheit bekundet. 2
Sicher ist auf der einen Seite jeder Autor auch (aber eben nicht nur) ein Kind seiner Zeit und hat Anteil an der expliziten sowie impliziten hermeneutischen Optik seiner Umwelt. Auf der anderen Seite macht einen großen Denker gerade die Unabhängigkeit gegenüber den Vorstellungen und gültigen ›Paradigmen‹ der jeweiligen gerade vorherrschenden Weltanschauung aus. Vielleicht ist es diese schillernde Zwischenstellung, die die nicht immer zutreffenden Urteile über die Philosophiegeschichte begünstigt. Es handelt sich ebenfalls nicht um Unkenntnis oder Arroganz, die nicht fremde Gedanken zur Kenntnis nehmen will. Das Problem scheint tiefer zu liegen und berührt grundsätzlich die Schwierigkeit des denkerischen Bezugs auf die Tradition. Wenn ein Denker aus den »Quellen der Vernunft selbst« zu schöpfen versucht, muss er nach Immanuel Kant »alle Systeme der Philosophie nur als Geschichte des Gebrauchs der Vernunft ansehen und als Objekte der Übung seines philosophischen Talents. Der wahre Philosoph muß also als Selbstdenker einen freien und selbsteigenen, keinen sklavisch nachahmenden Gebrauch von seiner Vernunft machen.« (Logik A 27) Der freie Gebrauch der Vernunft geht jedoch bis zu einem gewissen Grad mit der Befreiung von der Tradition einher. Die große Kunst des Selbstdenkens besteht in der völligen inneren Aneignung der Tradition, um sich dadurch von ihr zugleich zu befreien, sodass sie in etwas Neuartiges verwandelt werden kann. Die Herausstellung der Radikalität von eigenen Entdeckungen auf dem Gebiet des Denkens ist auch mit Kritik und Absetzung gegenüber dem Vorhergedachten verbunden. Kontinuität und Abbruch bleiben unauflöslich miteinander verflochten. Die Originalität des eigenen Denkens kann folglich zuweilen zu ungerechten Urteilen über die eigenen Vorfahren im Geiste führen. Auch der französisch-jüdische Philosoph Emmanuel Levinas bildet in diesem Zusammenhang keine Ausnahme. Levinas gilt unter ande2 Zitiert nach Platon: Das Trinkgelage oder Über den Eros, Frankfurt am Main 1985, 164 f.
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rem sicherlich zu Recht als ein großer Erneuerer des metaphysischen Denkens im ›nachmetaphysischen Zeitalter‹. Seine Philosophie stellt wie keine andere im 20. Jahrhundert die radikale Transzendenz Gottes heraus. Die Unendlichkeit des Unendlichen, die für Levinas unverbrüchlich mit der konkreten Anwesenheit des anderen Menschen – die eine ethische Antwort der Verantwortung fordert – verbunden ist, steht im Zentrum seines Gottdenkens. Levinas wirft der abendländischen philosophischen Tradition vor, sowohl die Transzendenz Gottes als auch die altérité des Anderen zu verraten. Die abendländische Philosophie enthülle den Anderen und beraube ihn zugleich seiner Anderheit. 3 Das Bewusstsein des Subjekts bezieht alles auf sich und stellt die ganze Wirklichkeit unter den ›panoramahaften Blick‹ (regard panoramique) 4, der jedes Andere in das solipsistisch verfasste Selbe integriert. Der andere Mensch in seiner Anderheit als auch ein transzendenter Gott sind alleine um den Preis eines »Bruches des Bewußtseins« (rupture de conscience) 5 denkbar. Insofern die ›griechische‹ Philosophie im Wesentlichen eine »Philosophie des Seins« bleibt, wird sie für Levinas zu einer »Philosophie der Macht« und »Philosophie der Ungerechtigkeit« 6, die dem Anderen als Anderen nicht gerecht zu werden vermag. Ebenso gleiche im Hinblick auf das Gottdenken die »Geschichte der abendländischen Philosophie« einer »Destruktion der Transzendenz«. 7 Die Kritik Pascals und Kants aufnehmend, fällt Levinas ein unerbittliches Urteil: »Von Aristoteles bis Leibniz über die Scholastiker ist der Gott der Philosophie ein der Vernunft entsprechender Gott, ein verstandener Gott, der die Autonomie des Bewußtseins nicht zu trüben
Ich folge hier dem Vorschlag von Ludwig Wenzler, das französiche Wort ›altérité‹ mit ›Anderheit‹ statt ›Andersheit‹ zu übersetzen. Damit wird auch sprachlich angezeigt, dass es bei der Beschreibung der Andersartigkeit des anderen Menschen »nicht um ein bloßes Anders-sein, sondern um das ›ein Anderer sein‹ geht«. Vgl. Ludwig Wenzler, »Zeit als Nähe des Abwesenden«, Nachwort zu Emmanuel Levinas, Die Zeit und der Andere, 3. Auflage, Hamburg 1995, 69, Anm. 6. 4 Vgl. Emmanuel Levinas, Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, 2. Auflage, Freiburg/München 1993, 319; Totalité et Infini. Essai sur l’extériorité, La Haye 1961, 195. 5 Vgl. Emmanuel Levinas, De Dieu qui vient à l’idée, 3. Auflage, Paris 1998, 104 f. 6 Vgl. Emmanuel Levinas, Totalität und Unendlichkeit, 55 f. 7 Vgl. Emmanuel Levinas, Gott und die Philosophie, in: Bernhard Casper (Hg.), Gott nennen. Phänomenologische Zugänge, Freiburg/München 1981, 83. 3
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vermochte.« 8 Seine harten und pauschalen Urteile nimmt Levinas zum Teil wieder zurück, wenn er sich auf einige ›Gipfel‹ der Philosophie beruft, um an sie mit seinem eigenen Denken anzuknüpfen. Um einen Gott »jenseits des Seins« in seiner radikalen Transzendenz zu denken, nimmt Levinas Bezug insbesondere auf Platon und auf Descartes. Er hätte sich jedoch ebenso mit Recht auf einige Denker der späten Antike und des Mittelalters beziehen können: auf Augustinus, (Pseudo)Dionysios-Areopagita, Meister Eckehart oder etwa auf Cusanus. Das völlige Fehlen der mittelalterlichen Philosophie und der Tradition der philosophischen Mystik gehört zu einem der frappierendsten Fakten im Werk von Levinas. Die Untersuchung hegt die Absicht, aufzeigen zu können, dass das Levinassche Urteil über die Philosophiegeschichte zu pauschal gefällt wurde. Zugleich soll dargelegt werden, ob und inwiefern das Denken von Levinas dem mittelalterlichen Denken nahesteht und ob sich eine gewisse Verwandtschaft oder gar Nähe zwischen beiden behaupten lässt. Der Beitrag geht von der Annahme aus, dass das Denken des unendlichen und radikal transzendenten Gottes im Zentrum einiger Philosophen des – zeitlich weit verstandenen Mittelalters – steht. Diese Annahme gilt es zu erhärten.
2. Die radikale Unendlichkeit Gottes im Denken von Emmanuel Levinas 9 Gegenüber dem ontologisch denkenden Traditionsstrang fragt Levinas, »ob Gott nicht in einer vernünftigen Rede, die weder Ontologie noch Glaube wäre, ausgesagt werden kann«. 10 Auf der einen Seite soll die ontologische Denkweise vermieden werden, die Gott zwar als das höchste und vollkommenste Sein denkt, aber immer noch im Bereich des Seins. Somit wäre die Transzendenz im Bereich der Immanenz angesiedelt, im Bereich der Totalität, der vom »Licht des Bewusstseins«
Emmanuel Levinas, Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, 3. Auflage, Freiburg/München 1998, 211. 9 Im Hintergrund der folgenden Überlegungen steht der Beitrag des Verfassers »Ethische Transzendenz und transzendente Ethik. Zur Philosophie von Emmanuel Levinas«, in: Jakub Sirovátka (Hg.), Endlichkeit und Transzendenz. Perspektiven einer Grundbeziehung, Hamburg 2012, 211–228. 10 Vgl. Emmanuel Levinas, Gott und die Philosophie, 85. 8
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dominiert wird. 11 Das theoretische Bewusstsein vermag der Idee des Unendlichen nicht gerecht zu werden, da es in ihr einen Sachverhalt denkt, der sie unendlich übersteigt. In der Idee Gottes gerät die phänomenologische Intentionalität nach Levinas an ihre Grenzen, weil das ›cogitatum‹ das ›cogito‹ unendlich übersteigt. 12 Auf der anderen Seite wird die Frage nach Gott von Levinas entschieden auf dem Boden der Philosophie gestellt. Er erteilt sowohl dem Fideismus eine Absage als auch der Ansicht, aufgrund der Unsagbarkeit Gottes müsste man verstummen, da man dem ›Begriff‹ Gottes keine Bedeutung zuschreiben kann. Die Philosophie darf auf kritisches Denken nicht verzichten, auch wenn die phänomenologische Methode, der sich das Werk von Levinas vorwiegend verpflichtet fühlt, an ihre Grenzen im Zusammenhang mit der Frage nach Gott gerät. Es gehört zu den Verdiensten der Levinasschen Philosophie, den Versuch unternommen zu haben, den Bruch mit dem Bewusstsein, den Bruch mit der phänomenologischen Methode wiederum phänomenologisch sichtbar zu machen, indem der »phänomenologischen Konkretheit« der Bedeutung des Wortes ›Gott‹ nachgespürt wird. 13 Levinas fragt, ob man von Gott legitimerweise sprechen kann, »ohne die Absolutheit, die sein Wort anscheinend bedeutet, zu beeinträchtigen.« Wenn philosophische Rede über Gott einen Sinn haben soll, dann muss sie eine vernünftige Rede bleiben und doch die Größe ihres Gegenstandes auch sprachlich angemessen ausdrücken. So gesehen ist es nur konsequent, dass sich »die Fragen in bezug auf Gott« nicht durch Antworten lösen lassen, »in denen das Fragen nicht mehr weiterhallt, in denen es vollständig zur Ruhe kommt.« 14 Wenn das endliche Denken das Unendliche denkerisch zu fassen versucht, dreht sich die intentionale Richtung um: Nicht das Denken bemächtigt sich des Unendlichen, sondern im Denken des Unendlichen bemächtigt sich das Unendliche des Denkens. Das Unendliche wird zur Unruhe des Denkens, das es wachhält. »Gott – Eigenname und Einziger, in keine grammatische Kategorie passend […] und so nicht-thematisierbar und auch hier nur Thema, weil sich in einem Gesagten alles für uns ausdrücken läßt, selbst das Unsagbare, doch um
Vgl. ebd., 91. Vgl. Emmanuel Levinas, Totalität und Unendlichkeit, 11. 13 Vgl. Emmanuel Levinas, Wenn Gott ins Denken einfällt. Diskurse über die Betroffenheit von Transzendenz, 3. Auflage, Freiburg/München 1999, 13. 14 Ebd., 14. 11 12
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den Preis eines Verrats.« 15 Da sich die Unendlichkeit Gottes nicht vom endlichen Begreifen her definieren lässt, bezeichnet Levinas die Öffnung der Vernunft auf das Unendliche hin als »Infinition«. 16 Gott wird in der Levinasschen Metaphysik allem voran durch zwei Beschreibungen charakterisiert. Zum einen wird Gott in Anknüpfung an Platons Sonnengleichnis als sich »jenseits der Seiendheit« (ἐπέκεινα τήϚ οὐσίαϚ; Politeia 509b) befindend beschrieben. Wenn Sein immer ein conatus essendi (Spinoza) und somit ›Krieg‹ bedeutet, wenn sich die ontologische Denkweise im Begriff der Totalität vollendet und somit jede Andersheit negiert, dann muss sich das Unendliche folglich außerhalb dieser Totalität befinden. Die Transzendenz ist zwar im Modus des »Jenseits« zu denken, jedoch in der Weise, dass sie sich »innerhalb der Totalität« zeigt. 17 Gott bleibt in seiner radikalen Unendlichkeit nicht von der Welt isoliert, sondern steht zu ihr in Beziehung und offenbart sich nach Levinas weder in einer Vision noch ist er im Satz »ich glaube an Gott« enthalten. Gott offenbart sich alleine im Antlitz des Anderen. Dies bildet die Sinnspitze und die ursprünglichste Einsicht des Denkens von Levinas: die Beziehung zu Gott besteht alleine in der ethischen Verantwortung für den anderen Menschen. Gott bezeugen heißt »nicht dieses außer-ordentliche Wort aussprechen, als könnte die Herrlichkeit einziehen in ein Thema und sich als These darstellen oder Geschehen des Seins werden. Das ›hier, sieh mich‹ […] bedeutet mir im Namen Gottes den Dienst an den Menschen, die mich angehen«. 18 Gottes »Einfall« ins Denken ist »stets an die Verantwortung gekoppelt, und alle religiösen Gefühle konkretisieren sich erst in der Beziehung zum Nächsten; Gottesfurcht wäre konkret erst als Furcht um den Nächsten«. 19 Mit dieser Ansicht steht Levinas in der philosophischen Tradition gleichwohl nicht völlig alleine da. Eine ähnliche Position findet man etwa bei Kant, dessen praktischer Philosophie
Emmanuel Levinas, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, 2. Auflage, Freiburg/München 1998, 353. 16 Vgl. Emmanuel Levinas, Totalität und Unendlichkeit, 26. Zum Gedanken der ›Infinition‹ vgl. ebenso Norbert Fischer, Die philosophische Frage nach Gott. Ein Gang durch ihre Stationen, Paderborn 1995, 118 ff. 17 Vgl. Emmanuel Levinas, Totalität und Unendlichkeit, 22. 18 Emmanuel Levinas, Jenseits des Seins, 327. 19 Emmanuel Levinas, Außer sich. Meditationen über Religion und Philosophie, München/Wien 1991, 46 f. 15
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sich Levinas besonders nahe fühlt. 20 In der zweiten Kritik zeigt sich Kant überzeugt, dass die Forderung des unbedingt geltenden Moralgesetzes, die uns als »Faktum der Vernunft« im moralischen Bewusstsein gegeben ist, mit dem christlichen Liebesgebot übereinstimmt und sagt: »Denn nichts ehrt Gott mehr, als das, was das Schätzbarste in der Welt ist, die Achtung für sein Gebot, die Beobachtung der heiligen Pflicht, die uns sein Gesetz auferlegt.« (KrV A 236) Die spätere Religionsschrift äußert Erstaunen über die Menschen, die nicht begreifen, dass wenn sie »ihre Pflichten gegen Menschen (sich selbst und andere) erfüllen, eben dadurch auch göttliche Gebote ausrichten, mithin in allem ihren Tun und Lassen, sofern es Beziehung auf Sittlichkeit hat, beständig im Dienste Gottes sind, und daß es auch schlechterdings unmöglich sei, Gott auf andere Weise näher zu dienen« (RGV B 146). Zum Anderen nimmt die Denkfigur der Idee des Unendlichen im Gottdenken von Levinas eine zentrale Stellung ein. Den Bezugsrahmen bildet in diesem Zusammenhang René Descartes, dessen Bestimmung der Idee des Unendlichen immer wieder bemüht wird. 21 Bekannterweise widmen sich der Frage nach der Existenz Gottes sowohl die dritte als auch die fünfte Meditation der Meditationes de prima philosophia. 22 Es geht um sichere Erkenntnis Gottes auf dem Weg der Philosophie und damit um die Sicherung des Fundaments für alle anderen Gebiete des Baumes der Wissenschaften, deren Spitze die Ethik als »die höchste Stufe der Weisheit« bildet. 23 In der den Meditationen vorangestellten ›Epistola‹ an die Theologische Fakultät der Sorbonne in Paris zeigt sich der Autor überzeugt, zu den wichtigsten Fragen »de Deo et de Anima« solche Beweise vorgelegt zu haben, die an »Gewißheit und Evidenz« sogar die mathematischen übertreffen (Epistola 7 f.). Die ganze Angelegenheit stellt sich jedoch komplizierter heraus als es die AnkündiVgl. dazu Emmanuel Levinas, Zwischen uns. Versuche über das Denken an den Anderen, München/Wien 1995, 23. Zu Kants Philosophie hat sich Levinas am ausführlichsten geäußert in »Le primat de la raison pure pratique/Das Primat der reinen praktischen Vernunft«, in: Norbert Fischer (Hg.), Kants Metaphysik und Religionsphilosophie, Hamburg 2004, 179–205. 21 Zum Verhältnis von Levinas und Descartes im Hinblick auf die Idee Gottes vgl. neuerdings Jean Greisch, »›Phänomenologie des Unendlichen‹. Levinas und der Cartesische Gottesbegriff«, in: Norbert Fischer/Jakub Sirovátka (Hg.), Die Gottesfrage in der Philosophie von Emmanuel Levinas, Hamburg 2013, 11–48. 22 René Descartes, Philosophische Schriften in einem Band, Hamburg 1996. 23 Vgl. das Schreiben an Abbé Picot in René Descartes, Die Prinzipien der Philosophie, 8. Auflage, Hamburg 1992, XLII. 20
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gung präsentiert. Denn die unerschütterliche Gewissheit scheint nur für den apriorischen Beweis der Existenz Gottes in der fünften Meditation zu gelten. Die dritte Meditation problematisiert das selbstaufgestellte Programm mit der Einsicht, dass das Unendliche nicht vom Endlichen begriffen werden kann (Meditationes III, 25), sondern nur gleichsam im Gedanken berührt (attingere) werde (Meditationes III, 38). Descartes geht wie ein Phänomenologe vor, indem er untersucht, welche Arten von Ideen sich in unserem Bewusstsein vorfinden. Drei Klassen meint er ausmachen zu können: angeborene Ideen (innatae), erworbene (adventiciae) und von mir selbst gemachte (a me ipso factae; Meditationes III, 37). Das Hauptinteresse gilt der Idee des Unendlichen: Die ›idea Dei‹ muss eine angeborene Idee sein, da in ihr das Ich einen unendlichen Bedeutungsgehalt denkt, den es nicht allein aus einem endlichen Denken heraus zu denken vermag. Der doppelte Charakter der Idee des Unendlichen bei Descartes – faktisch im Bewusstsein gegeben und doch unableitbar – scheint für Levinas genug inspirierend zu sein, um sie mit seinem eigenen Denken aufzugreifen. In Anlehnung an Descartes spricht Levinas darüber, dass die Idee des Unendlichen dem endlichen Denken »zur Blendung wird«. Denn indem die Vernunft das Unendliche denkt, denkt das Denken »mehr oder besser«, »als es der (theoretischen) Wahrheit nach denkt«. 24 Die Blendung gilt indessen nur für die theoretische Vernunft. Das Unendliche, das im Phänomen des Antlitzes des anderen Menschen spürbar wird, blendet nicht »die Augen, die sich zu ihm erheben«. »Das Unendliche spricht« – es stellt die moralische Forderung, den Anderen als Anderen zu achten. 25 Das Motiv der Blendung knüpft an die antiken Anfänge der abendländischen Philosophie, indem es auf ein anderes Motiv anspielt: das der Sonne in den Gleichnissen Platons. Denn sowohl im Sonnen- als auch im Höhlengleichnis in der Politeia 506e-509b und 514a-519b steht die Sonne für die höchste Idee des Guten, die sich jenseits des seinsmäßig bestimmten Bereichs befindet und somit Göttliches symbolisiert. Wer jemals versucht hat, direkt in die Sonne zu sehen, weiß, dass es erstens unmöglich ist und zweitens dass dieser Versuch zu einer kurzen ›hellen‹ Blindheit führt, bis sich die Vgl. Emmanuel Levinas, Totalität und Unendlichkeit, 11. Ähnlich in Emmanuel Levinas, Gott und die Philosophie, 102 f. »Blendung, in der das Auge mehr aushält als es aushält.« 25 Vgl. Emmanuel Levinas, Totalität und Unendlichkeit, 105. 24
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Augen wieder an die konkrete Umwelt gewöhnt haben. Das Thema der Blendung nimmt Kant wieder auf und verbindet es – im selben Geist wie Levinas – mit der Ethik, indem er in seiner Schrift Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie A 410 das »Übersinnliche« ebenfalls in die praktische Ebene verweist: »Zwar in die Sonne (das Übersinnliche) hinein sehen, ohne zu erblinden, ist nicht möglich; aber sie in der Reflexe (der die Seele moralisch erleuchtenden Vernunft) und selbst in praktischer Absicht hinreichend zu sehen, wie der ältere Platon tat, ist ganz tunlich.« Im Unterschied zu Descartes lautet die grundsätzliche Frage von Levinas jedoch nicht, ob sich das Dasein Gottes beweisen lässt. Zu Recht hebt Jean Greisch hevor, 26 dass Levinas’ Interesse einer »phénoménologie de l’idée de l’Infini« 27 gilt. Gibt es einen Sinn außerhalb rein sprachlicher Unterscheidungen, der mit dem Namen Gott verbunden werden kann? Wie muss über das Unendliche gesprochen werden und in welcher existenzrelevanten Konkretheit geschieht es? Der Idee des Unendlichen wurde bereits in der Geschichte des Denkens sehr oft nachgegangen und dennoch beharrt Levinas auf einem neuen Zugang zu dieser Idee. Das Unendliche wird nur dann angemessen vergegenwärtigt, wenn das Denken stets dem Überschuss des Unendlichen Rechnung trägt und sich in einer grundsätzlichen Offenheit und Unabschließbarkeit übt. Darüber hinaus zeigt sich Levinas überzeugt, dass sich Gott in der Welt alleine über die faktische Anwesenheit des anderen Menschen ›offenbart‹. In der Betroffenheit durch die Präsenz des Anderen – ausgedrückt in seinem Antlitz – wird das Ich in seiner Freiheit herausgefordert. Diese Herausforderung ist ethischer Natur und besteht darin, dem Anderen mit Respekt und reiner Güte zu begegnen. In dieser ›banalen‹ menschlichen Erfahrung des moralischen Erwachens durch die unendliche Anderheit des Anderen wird das Subjekt auf ein schlechthin Unendliches verwiesen. Die Idee des Unendlichen führt auf dem Feld der theoretischen Vernunft zur Blendung, auf dem Feld des Praktischen erhält sie jedoch einen positiven Sinn, der eine neuartige Beziehung zu Gott entstehen lässt. In diesem Sinne gilt, dass »der Königsweg der metaphysischen Transzendenz« die Ethik ist. 28 Vgl. Jean Greisch, »›Phänomenologie des Unendlichen‹. Levinas und der Cartesische Gottesbegriff«, 40 f. 27 Vgl. Emmanuel Levinas, De Dieu qui vient à l’idée, 2. Auflage, Paris 1992, 11. 28 Vgl. Emmanuel Levinas, Totalität und Unendlichkeit, 32. Ähnlich äußert sich Levi26
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Die Betonung der radikalen Transzendenz Gottes unterstreicht Levinas auch sprachlich, indem er für Gott einen Neologismus einführt und ihn als »Illéité« bezeichnet. Diese Neuschöpfung leitet er von dem französischen Personalpronomen der dritten Person Singular ›Il‹ – ›Er‹ ab, da er sich aufgrund der radikalen Transzendenz Gottes in der Rede über Gott genötigt fühlt, auf eine dritte Person zu rekurrieren. 29 Levinas nimmt in diesem Zusammenhang auf einige Gebetsaufzeichnungen der jüdischen Mystik Bezug, in denen der Gläubige zu Beginn des Betens Gott als »Du« anredet, im Verlauf des Betens jedoch – aufgrund der Transzendenz Gottes – zu der Anrede »Er« übergeht. 30 Levinas wird von der Ansicht geleitet, dass das ›Symbolwort‹ ›Illéité‹ die transzendente Unendlichkeit Gottes besser zum Ausdruck bringt als etwa die Bezeichnung des ›ewigen Du‹ eines Martin Buber, ohne jedoch im Geringsten die Personalität Gottes in Frage zu stellen. »Wir dagegen waren weniger überzeugt davon, daß, was wir Göttliches Wesen nennen, im Du des Dialogs Platz findet und daß Gebet und Frömmigkeit Dialoge sind. Wir mußten sogar auf die dritte Person ausweichen, indem wir das Unendliche und die göttliche Transzendenz, um sie von der alteritas (Andersheit) des Anderen zu unterscheiden, illeitas (Jenheit) nannten.«
3. Die radikale Unendlichkeit Gottes in der philosophischen Mystik Wie bereits erwähnt, sieht sich Levinas mit seiner Betonung der radikalen Unendlichkeit mit der Einsicht Platons im Einklang, nach der sich die höchste Idee – die Idee des Guten – »jenseits der Seiendheit« befindet. Diese sowohl im Sonnen- als auch im Höhlengleichnis vorgetragenas auch in Michaël de Saint Cheron, Entretiens avec Emmanuel Levinas 1983–1994, Paris 2010, 28: »Dieu n’est pas dans le ciel. Il est dans le sacrifice des hommes, dans la miséricorde des hommes les uns envers les autres. Le ciel est vide mais la miséricorde des hommes est pleine de Dieu.« 29 Vgl. dazu auch Emmanuel Levinas, Humanität des anderen Menschen, Hamburg 1989, 54: Das Unendliche hat als Illeität das ›Profil einer dritten Person‹ – »Jenseits des Seins ist eine Dritte Person, die nicht durch das Sich-Selbst, durch die Selbstheit definiert werden kann. Sie ist die Möglichkeit dieser dritten Richtung der radikalen Ungeradheit […] Das Profil, das die nicht rückgängig zu machende Vergangenheit durch die Spur annimmt, ist das Profil des ›Er‹.« 30 Emmanuel Levinas, Éthique et Infini. Dialogues avec Philippe Nemo, Paris 1982, 102.
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ne Charakterisierung sieht eine klare Trennung (chorismos) zwischen der sinnlichen Welt und der Welt des Denkbaren. Auch wenn bei Platon diese zwei Seiten der einen Welt wieder aufeinander bezogen werden (syndesmos), bleibt Gott, der durch die höchste Idee repräsentiert wird, gegenüber dem seienden Bereich transzendent. Dieses Motiv wurde in der Tradition der mittelalterlichen philosophischen Mystik weiter entfaltet. Erstaunlicherweise wird diese Tradition im Werk von Levinas fast völlig ausgeblendet. Abgesehen von gelegentlichen Nennungen einiger Autoren wie Augustinus oder Thomas von Aquin fehlt weitgehend jede Spur vom mittelalterlichen Denken im breitesten Sinne des Wortes. Die einzige Ausnahme scheint der Artikel Infini für die Encyclopedia Universalis aus dem Jahre 1968 zu bilden, der eine breitere Bezugnahme auf dieses Denken aufweist. 31 Vor allem im Abschnitt mit der Überschrift Le divin infini werden einige mittelalterliche Autoren genannt: Origenes, Augustinus, Johannes von Damaskus, Thomas von Aquin, Roger Bacon, Duns Scotus, Meister Eckhart und Nikolaus von Kues. Auch angesichts der Kürze des Stichworts, die ein Lexikonartikel fordert, zeigt sich, dass die mittelalterliche, christliche Tradition Levinas nicht völlig unbekannt gewesen ist. Zustimmend wird die Hervorhebung der radikalen Unendlichkeit Gottes erwähnt, etwa im Satz von Johannes von Damaskus, dass das einzige, was von Gott begriffen werden kann, alleine seine Unbegreiflichkeit und Unendlichkeit sei. 32 Folgerichtig wird auch bei Nikolaus von Kues – neben dem Gedanken der Einfaltung (complicatio) der ganzen Wirklichkeit in Gott (die Welt ist somit als explicatio zu verstehen) – darauf hingewiesen, dass die ›Unendlichkeit‹ das einzige positive Prädikat ist, das der Mensch Gott zusprechen kann: »L’infinité est pour nous le seul prédicat positif de Dieu.« 33 Aus unserer heutigen Situation mit der Fülle von unterschiedlichen Editionen der Originaltexte ist es nur schwer zu beurteilen, wie gut Levinas die Texte des Mittelalters gekannt hat und ob er einen ungehinderten Zugang zu ihnen hatte. Sicher konnte er nicht alle Texte der Philosophiegeschichte in Bezug auf die radikale Unendlichkeit
31 Der Artikel wurde später in Emmanuel Levinas, Altérité et transcendance, Font-Froide-le-Haut 1995, 69–89 abgedruckt. 32 Vgl. ebd., 78. 33 Ebd., 80.
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Gottes beachten, aber frappierend ist es schon, welche Texte und Autoren fehlen. Dieser Lücke wollen wir nachgehen. In unserem Beitrag beschränken wir uns wesentlich auf zwei Autoren, die am Anfang und am Ende des Mittelalters stehen und die als repräsentativ gelten können: Dionysius Areopagita und Nikolaus von Kues. Der vermeintliche Paulusschüler Dionysius Areopagita steht symbolisch für den Übergang von der Spätantike zum Mittelalter, an das er einen nicht zu überschätzenden Einfluss ausübte. Alleine eine bestimmende Figur wie Thomas von Aquin zitiert in seinen Werken am häufigsten drei Namen: Aristoteles, Augustinus und eben Dionysius Areopagita. Dionysius Areopagita ist in seinem Denken insbesondere Plotin verpflichtet, versucht jedoch die neuplatonischen Denkmuster für die christliche Theologie fruchtbar zu machen. Zur Ironie der Geschichte gehört der Umstand, dass zu einer der wirkmächtigsten Philosophien im christlichen Raum die von Plotin avanciert ist, diejenige Philosophie also, die – gegenüber Platon oder Aristoteles etwa – am stärksten den Unterschied zwischen Endlichem und Unendlichen zu verwischen droht. Da alle Schichten der vielfältigen Wirklichkeit als ein Ausfluss des göttlichen Einen gesehen werden, wird der Selbststand der endlichen Seienden letztlich aufgehoben. Das Ziel aller Bewegung ist die Einigung (henosis), das Aufgehen im Einen. Dies steht im eklatanten Widerspruch zur christlichen These von der klaren Trennung zwischen dem unendlichen Schöpfer und der endlichen Schöpfung, die ex nihilo geschaffen worden ist. So beharrt Dionysius Areopagita konsequenterweise auf der Besonderheit eines jeden Einzelnen und statt über die Einigung spricht er in De divinis nominibus über die Harmonie, die das Eine zwischen den Seienden bewirkt: »Der völlige Friede (des Alls) ist daher auch Bewahrer der unvermischten Besonderheit eines jeden Einzelnen, indem er durch seine friedenspendende Vorsehung alles ohne Streit und Vermischung mit sich und mit allem anderen geeint bewahrt«. 34 Ein Grund für die Faszination der frühen christlichen Denker für Plotin liegt womöglich in der nachdrücklichen Herausstellung der »Übervernünftigkeit des Einen«. 35 Wie Platon unterstreicht Dionysius Areopagita die ›Überseiendtheit‹ 34 Dionysius Areopagita, Von den Namen zum Unnennbaren, 5. Auflage, Einsiedeln 2009, 80 f. 35 Vgl. dazu Endre von Ivánka, Einleitung in Dionysius Areopagita: Von den Namen zum Unnennbaren, 5. Auflage, Einsiedeln 2009, 9.
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Gottes, er verwendet den Begriff ὑπερουσίωϚ, um denselben Sachverhalt ausdrücken: Gott übersteigt alles Sein und Erkennen, er ist ὑπὲρ πάσαν οὐσίαν καὶ γνφσιν (De myst. theol. 142; PG 997b). 36 Wie Martin Koudelka in seiner Einleitung zu Werken von Dionysius Areopagita schreibt, kombiniert Dionysius in der Charakterisierung Gottes und der (Un)Möglichkeit seiner Erkennbarkeit Aussagen der negativen Theologie (ἀπόφασιϚ) mit denen der positiven (κατάφασιϚ). Der Weg der negativen Aussagen unterstreicht die radikale Transzendenz Gottes, indem er alle menschlichen Aussagen über Gott als unzutreffend negiert. Die positive Theologie stellt Gott als Ursache und Schöpfer von allem vor. 37 In der katabatischen Richtung vom Höchsten zum Niedrigsten lassen sich über Gott positive Aussagen treffen, weil er die Ursache von der ganzen uns bekannten Wirklichkeit ist. Die anabatische Richtung, die bei Menschen beginnt und zu Gott hinaufzusteigen versucht, vermag alleine zu negativen Aussagen zu kommen. Aufgrund göttlicher Transzendenz müssen alle positiven ›menschlichen‹ Thesen als ihm nicht adäquat verneint werden. Dionysius betont indes, die negative Theologie steht nicht im Gegensatz zur positiven. Vielmehr müssen alle negativen Aussagen im Sinne der Überhöhung, des Superlativs verstanden werden (vgl. De myst. theol. 143; PG 1000b). Gott steht über den sprachlich aussagbaren Gegensätzen. Die Theologie von Dionysius zeigt sich als ein großartiger Versuch, der radikalen Unendlichkeit Gottes auch sprachlich zu entsprechen. So wird die göttliche Dreifaltigkeit gleich am Anfang der Schrift über die mystische Theologie mit hyperbolischen Ausdrücken umschrieben: sie ist »über jedes Sein hinaus«, »übergöttlich und übergut« (ΤριὰϚ ὑπερούσιε καὶ ὑπέρθεε καὶ ὑπεράγαθε De myst. theol. 141; PG 997a). Die menschliche Vernunft muss sich eingestehen, dass Gott von einem »überlichthaften Dunkel« 38, von der »Dunkelheit des Nichtwissens« Die Paginierung folgt der Ausgabe Corpus Dionysiacum I–II, hg. von B. Suchla/ G. Heil/A. Ritter, Berlin/New York 1990–1991. 37 Vgl. dazu Martin Koudelka, »Nauka o pozitivní a negativní theologii v Dionysiových Listech a Mystické theologii [Die Lehre von der positiven und negativen Theologie in Dionysius Briefen und in der Mystischen Theologie]«, in: Dionysios Areopagita, Listy. O mystické theologii [Briefe. Über die mystische Theologie], gr./tsch., Praha 2005, 11. Zur deutschen Übersetzung vgl. auch Pseudo-Dionysius Areopagita, Über die Mystische Theologie und Briefe, Stuttgart 1994. 38 So übersetzt Endre von Ivánka; vgl. Dionysius Areopagita: Von den Namen zum Unnennbaren, 91. 36
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(τὸν γνόϕον τήϚ ἀγνωσίαϚ De myst. theol. 144; PG 1001a) umhüllt bleibt. Das wahre Sehen und Erkennen Gottes liegt gerade im Nichtsehen und Nichterkennen. Gott, der sich »jenseits von allem« befindet (ὁ πάντων ἐπέκεινα Epistulae 158; PG 1068a), wohnt im unzugänglichen Licht, das aufgrund seiner transzendenten Helligkeit unsichtbar bleibt. Obwohl Gott an sich unerkennbar ist, eröffnet sich auf dem Weg der sinnlichen Dinge, der sinnlich wahrnehmbaren Symbole doch ein Zugang zu ihm. In diesem Sinne unterscheidet Dionysius eine doppelte theologische Tradition: eine mystische, die unaussprechlich ist, und eine offenbare, die dem Erkennen zugänglicher ist. 39 Das sich zu Ende neigende Mittelalter im Übergang zur Renaissance wird von Nikolaus von Kues personifiziert, der in seinem Werk die Schwelle zu einer neuen Zeit beschreitet. Sein Interesse gilt der zentralen Frage, wie der endliche Mensch den unendlichen, transzendenten Gott denken kann. Gegenüber dem ›nahen‹ Gott, der sich jedoch nicht im Gegensatz zum ›verborgenen‹ Gott befindet, wird vielmehr die Inkommensurabilität des Endlichen mit dem Unendlichen betont. Eine der bekanntesten Formulierungen, die diesen Sachverhalt ausdrückt, lautet: Finiti ad infinitum nulla est proportio (De Visione Dei 23, 101). 40 Das Motiv der Blendung des endlichen Denkens durch die Idee des Unendlichen bei Levinas lässt sich abermals mit der Lichtmetaphysik der philosophischen Mystik verbinden. Gott geht so sehr allem Seienden voran, dass sich die Helle der menschlichen Vernunft beim Aufstieg zu ihm in einer sacratissima obscuritas verliert, in der »Dunkelheit des unsichtbaren Lichts« Gottes. Die paradoxale Ausdrucksweise soll auch sprachlich verdeutlichen, dass Gott nicht »Wurzel von sich Widersprechendem« ist, sondern vielmehr »die Einfachheit selbst vor allem Wurzelsein«: »Er ist weder nichts, noch ist er nicht, noch ist er und ist er zugleich nicht; sondern er ist Urquell und Quellgrund aller Ursprünge von Sein und Nichtsein.« (Vom verborgenen Gott 10 f.) 41 Der unendliche Gott steht noch über den entgegengesetzten Aussagen, die man über ihn fällen kann. Die berühmte coincidentia oppositorum, der »Ineinsfall der Gegensätze« bildet eine »Mauer des Paradieses«, durch die Gott umgeben ist, wie Cusanus sagt. Vgl. Epistulae 197; PG 1105d. Cusanus scheint diesen Satz fast wörtlich aus der Summa theologica I,2,2 übernommen zu haben: finiti autem ad infinitum non est proportio. 41 Vgl. Nikolaus von Kues, Drei Schriften vom verborgenen Gott, Hamburg 1958, 4 f. 39 40
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An dieser Mauer zerschellt die menschliche ratio, die sich zur Schau Gottes aufschwingen will. Die Wahrheit geht jedoch über den höchsten Vernunftaufstieg hinaus. Gott wohnt innerhalb der Mauer der Koinzidenz, an der die menschliche Vernunft bekennen muss: »[…] ich schaue Dich im Garten des Paradieses und ich weiß nicht, was ich sehe, denn ich sehe nichts Sichtbares. Ich weiß allein, daß ich weiß, daß ich nicht weiß, was ich sehe und daß ich es nie wissen kann.« 42 Das endliche Denken wird auf dem Weg zu Gott in die Unwissenheit geführt, die jedoch belehrt sein muss, d. h. sie weiß, dass sich das Unendliche nicht wissen lässt (vgl. De docta ignorantia I, I). Die ›wissende Unwissenheit‹, die über die Disproportionalität des Unendlichen gegenüber dem Endlichen weiß, führt zur Einsicht, dass der transzendente Gott nur in »nichtergreifender« (incomprehensibiliter intelligibile) und »nichtbenennender Weise« (innominabiliter nominabile) zu begreifen ist (De docta ignorantia I, V). 43 Nikolaus von Kues knüpft in vielen Motiven an Dionysius an, versucht jedoch stärker als er die unüberbrückbare Kluft zwischen Endlichem und Unendlichem mit Hilfe von mathematischen (unendliche Linie, unendlicher Kreis), optischen (Bild des Allsehenden) oft paradoxalen, aber auch alltäglichen (Nussbaum, Uhr) Beispielen anschaulich zu machen. 44 Das Motiv der Unendlichkeit ist aber nicht das einzige, mit dem sich eine Brücke zwischen Levinas und Cusanus schlagen lässt. Gott ist für Levinas nicht nur der radikal unendliche, sondern auch der radikal Andere. Nun ist er »nicht einfach der ›erste Andere‹, oder der ›Andere schlechthin‹ oder der ›absolut Andere‹, sondern ein Anderer als der Andere, in anderer Weise ein Anderer«. 45 Eine ähnliche Denkfigur in fast identischer Formulierung ist bereits bei Cusanus in seinem Werk De non aliud zu finden, wenn auch mit einer anderen Sinnrichtung verbunden. Gott als der ›Nicht-andere‹ Nikolaus von Kues, Vom Sehen Gottes, Zürich/München 1987, 58. De visione dei 13, 51: »video te in ortu paradisi: et nescio quid video, quia nihil visibilium video, et hoc scio solum quia scio me nescire quid video et nunquam scire posse«. 43 Zur Frage nach dem unendlichen Gott bei Cusanus vgl. Norbert Fischer, »Die Beziehung zwischen Unendlichem und Endlichem im Denken des Cusanus«, in: W. A. Euler (Hg.), Der Gottes-Gedanke des Nikolaus von Kues, Trier 2012, 291–314. 44 So schreibt Cusanus z. B. in De docta ignorantia I, XI: »Da uns zu den göttlichen Dingen nur der Zugang durch Symbole als Weg offensteht, so ist es recht passend, wenn wir uns wegen ihrer unverrückbarer Sicherheit mathematischer Symbole bedienen.« Nikolaus von Kues, Philosophisch-theologische Werke. Band 1. De docta ignorantia/Die belehrte Unwissenheit, lat./dt., Darmstadt 2002, 45. 45 Emmanuel Levinas, Gott und die Philosophie, 108. 42
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ist »weder das Andere, noch ist es ein dem Anderen Anderes, noch ein Anderes im Anderen.« 46 Cusanus sucht in seinem besagten Werk nach einem letzten Namen für Gott, der alle Benennungen sowohl der positiven als auch der negativen Theologie übertreffen würde. Dieser letzte Name für Gott – der als ein Sinnbild, als »eine Anweisung[en] für eine Bewegung des Denkens, Formel[n] für einen Denkvollzug« 47 zu lesen ist – wird im Begriff des Non-aliud, des ›Nicht-Anderen‹ gefunden. Gott steht als Ursprung von allem über der Differenz zwischen dem Selben und dem Anderen, sodass es in ihm keine Andersheit geben kann. Der Begriff des Non-aliud eignet sich nach Nikolaus von Kues deshalb am besten zum ›höchsten‹ Namen für Gott, weil er sich durch sich selbst definiert: »alles, was ist, ist nämlich insoweit, als es Nichts-anderes ist, und alles, was erkannt wird, wird insoweit erkannt, als es als Nichts-anderes erkannt wird.« In diesem Sinne zeigt sich das Nicht-Andere als »Grund, die Unterscheidung und das Maß von allem«. 48 Unabhängig davon, ob man den Begriff des ›Nicht-Anderen‹ für glücklich gewählt hält oder nicht, stellt es – wie das Abstraktwort ›Illéité‹ von Levinas – den Versuch dar, die ganze Ungeheuerlichkeit, die Maßlosigkeit der Unendlichkeit des absolut Anderen zum Ausdruck zu bringen. Falls die Gefahr des Verlustes der Eigenständigkeit und Besonderheit des Subjekts im plotinischen Schema der Henosis der Grund dafür ist, dass Levinas sich zur Tradition der philosophischen mittelalterlichen Mystik reserviert verhält, dann hätte er in Cusanus einen Verbündeten gefunden. Levinas beharrt unermüdlich darauf, dass eine Beziehung alleine zwischen zwei radikal getrennten und für sich stehenden Polen zustande kommen kann. In diesem Geist betont Nikolaus von Kues neben der radikalen Transzendenz ebenfalls die Notwenigkeit der Trennung zwischen dem Endlichen und Unendlichen. Wenn der Mensch die Eigenständigkeit seiner Existenz erst nimmt, wird Gott
Vgl. Nikolaus von Kues, De non aliud/Nichts anderes, lat./dt., Münster 2011, 73. Diese Neuausgabe übersetzt den Begriff des Non-aliud mit Nichts-anderes anstatt mit Nicht-Anderes. 47 Vgl. Gerda von Bredow, Im Gespräch mit Nikolaus von Kues. Gesammelte Aufsätze 1948–1993, Münster 1995, 52. Dieser Hinweis befindet sich in der Einführung in »De non aliud« von Harald Schwaetzer in Nikolaus von Kues, De non aliud/Nichts anderes, Münster 2011, 12. 48 Vgl. ebd., 67. 46
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zu ihm kommen, schreibt er in De visione dei 7, 25: »Sei du dein und ich werde dein sein. / Sis tu tuus, et ego ero tuus.«
4. Schluss. Der nichtseiende Gott In der abendländischen Philosophiegeschichte existieren zwei große Denkströmungen, die in unterschiedlicher Art und Weise Gott zu denken versuchen. Auf der einen Seite ist es die ›ontologische Tradition‹, die Gott als die Spitze der Seinspyramide, als das höchste und vollkommenste Sein denkt. Die andere Tradition unterstreicht die radikale Transzendenz Gottes, indem sie ihn außerhalb der Seiendheit ansiedelt. In dieser Tradition reiht sich auch das Denken von Emmanuel Levinas ein und so steht es mit seinem Bemühen, Gott unabhängig von ontologischen Kategorien zu denken, nicht völlig singulär dar. Ähnlich gelagerte Motive lassen sich in der (neu)platonischen Tradition ausfindig machen, wie oben dargelegt worden ist. Im Hintergrund steht indes sicher auch die Kritik Immanuel Kants an den sog. ›Gottesbeweisen‹ und die Kritik an der onto-theologischen Verfassung der Metaphysik Martin Heideggers, von dem sich Levinas abzusetzen versucht und dem er in einer Art Hassliebe verbunden ist. In seiner »Kritik aller Theologie« in der Kritik der reinen Vernunft legt Kant die Unmöglichkeit eines theoretischen, zwingenden Beweises für das Dasein Gottes dar. Im Zuge der Kritik am teleologischen bzw. physikotheologischen Gottesbeweis kommt er zu der Schlussfolgerung, dass dieser Beweis lediglich zum Begriff eines »Weltbaumeisters« führt und nicht zu dem eines »Weltschöpfers« (vgl. KrV B 655). In einer ähnlichen, ontologisch kritischen Art mahnt Heidegger, dass der Mensch vor der ›Causa sui‹, als dem »sachgerechten Namen für den Gott in der Philosophie«, weder beten, noch ihm opfern kann. »Vor der Causa sui kann der Mensch weder aus Scheu ins Knie fallen, noch kann er vor diesem Gott musizieren und tanzen. Demgemäß ist das gott-lose Denken, das den Gott der Philosophie, den Gott als Causa sui preisgeben muß, dem göttlichen Gott vielleicht näher. Dies sagt hier nur: Es ist freier für ihn, als es die Onto-Theo-Logik wahrhaben möchte.« 49 Das Echo des Pascalschen »Dieu d’Abraham, Dieu d’Isaac, Martin Heidegger, »Die onto-theo-logische Verfassung der Metaphysik« in: Identität und Differenz (GA 11), Frankfurt am Main 2006, 77.
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Dieu de Jacob, non des philosophes et des savants« (Mémorial, Fr. 913 Lafuma) scheint unüberhörbar zu sein. Auch wenn die Forderung Heideggers nach der Befreiung der Theologie vom griechischen Denken abzulehnen ist, soll sich jedes redliche Denken seine Kritik an der Onto-Theologie zu Herzen nehmen. Überraschenderweise spricht in einem eher versteckten Text (auf den auch der Autor dieses Textes von Christian Rößner aufmerksam gemacht werden musste) 50 Heidegger in einem Ton, den man eher von Levinas erwarten würde. Heidegger wehrt den Versuch ab, Gott mit Hilfe der Seinsdenkens zu charakterisieren: Sein und Gott sind nicht identisch, und ich würde niemals versuchen, das Wesen Gottes durch das Sein zu denken. […] Der Glaube hat das Denken des Seins nicht nötig. Wenn er das braucht, ist er schon nicht mehr Glaube. […] Ich denke über das Sein, im Hinblick auf seine Eignung, das Wesen Gottes theologisch zu denken, sehr bescheiden. Mit dem Sein, ist hier nichts auszurichten. Ich glaube, daß das Sein niemals als Grund und Wesen von Gott gedacht werden kann, daß aber gleichwohl die Erfahrung Gottes und seiner Offenbarkeit (sofern sie dem Menschen begegnet) in der Dimension des Seins sich ereignet, was niemals besagt, das Sein könne als mögliche Prädikat für Gott gelten. Hier braucht es ganz neue Unterscheidungen und Abgrenzungen. 51
Ein Weiterdenken in dieser Hinsicht und mit Anknüpfung an Gedanken von Levinas als auch Heidegger bietet Jean-Luc Marion in seinem Buch Dieu sans l’être. Bruch und Kontinuität mit der Tradition kennzeichnen jedes geschichtliche Denken, somit auch das philosophische. Die Philosophie von Emmanuel Levinas, die sich die Aufgabe auferlegt hat, Jerusalem und Athen miteinander zu versöhnen, entgeht dieser Doppelcharakterisierung ebenso wenig wie alle anderen Philosophien vor und nach ihm. Trotz aller Kritik an der abendländisch-philosophischen Tradition stellt sich Levinas entschlossen auf deren Boden und verdankt ihr mehr, als es vielleicht auf den ersten Blick scheinen mag. Die Negativfolie, die durch die harsche Kritik am Tradierten entsteht, lässt schärfer 50 Christian Rößner hat im Rahmen der Tagung »Die Gottesfrage in der Philosophie von Emmanuel Levinas (1906–1995)« im Mainzer Erbacher Hof am 25. 01. 2013 einen bemerkenswerten Vortrag Gott ohne Sein? Emmanuel Levinas und Jean-Luc Marion gehalten. Hinweis auf diese Textpassage befindet sich auch in Jean-Luc Marion: Dieu sans l’être, 2. Auflage 2002, Paris, 92 f. 51 Martin Heidegger, Seminare (GA 15), Frankfurt am Main 1986, 436 f.
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die eigene Stimme von Levinas hervortreten. Laut Wittgenstein soll man die Größe der Entdeckung auf dem Gebiet des Denkens an den Beulen messen, die sich das Denken im Anrennen gegen die Grenzen der Sprache geholt hat. Wie groß die Entdeckung des Denkens von Levinas ausfällt, mag jeder Leser selbst entscheiden. Die Betonung der radikalen Anderheit des anderen Menschen und die Herausstellung der Unendlichkeit des transzendenten Gottes bilden sicherlich zwei Themen, die durch die Philosophie von Emmanuel Levinas eine neue Aktualität und Dringlichkeit bekommen haben. Die Neuartigkeit seiner Einsichten sind offenbar nur um den Preis einer zum Teil ungerechten Kritik gewonnen worden. Der Beitrag schließt mit der Hoffnung, gezeigt zu haben, dass Levinas nicht nur gegen die abendländische Tradition angedacht hat, sonder auch öfters – wenn auch nicht explizit und unbewusst – mit ihr.
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Warum hat der Mensch Religion? Religionspsychologische und religionsphilosophische Überlegungen zum »religiösen Apriori« des Menschen 1. Einleitung: Warum hat der Mensch Religion? Warum hat der Mensch Religion? – ist die Frage, unter die sich dieser Essay stellt. Aber macht diese Frage in der heutigen Zeit, so wird mancher sogleich einwenden, nicht eine falsche Voraussetzung? Denn offensichtlich haben viele Menschen keine Religion, sei es, dass sie niemals eine besaßen, sei es, dass sie sich von ihrer überlieferten Religion abwandten. Andererseits ist es eine Tatsache, dass sich nach wie vor Millionen von Menschen religiös gebunden fühlen und ihr Leben ohne eine spirituelle Ausrichtung 1 nicht führen wollen. Und schließlich ist zu bedenken, dass sich der Mensch irgendwann in seinem Leben mit der berühmten »Gretchenfrage« konfrontiert sieht, die an den »suchenden Faust« in uns gestellt ist: »Wie hältst du es mit der Religion?«, wenn auch meist im säkularen Gewand der Frage: »Worin besteht der tragende Sinn deines Lebens?« Ich meine also, dass man der religiösen Anmutung, die in der Ausgangsfrage liegt, nicht entgehen kann.
2. Die geschichtliche Zäsur Wie schwankend auch immer der heutige religiöse Gesamtzustand der Menschheit sein mag, sicher ist, dass sich über Hunderttausende von Jahren jeder Mensch, und zwar ganz fraglos, weil unreflektiert, gegenüber höchsten Seinsmächten verpflichtet fühlte und sein Dasein ohne eine solche Instanz nicht denken konnte. Erst in der AufklärungsepoAn dieser Stelle mache ich keinen Unterschied zwischen Religiosität und Spiritualität, sondern betrachte beide zunächst als Versuche, sich mit dem Unbedingten, dem Urgrund und der Fülle des Seins, der reinen Gegenwart in Verbindung zu bringen.
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che der klassisch-griechischen Antike zwischen 500 und 300 vor Christus tauchte der Gedanke an eine gott- bzw. götterlose Welt auf bzw. an eine Welt als reinen, im Letzten sinnlosen Mechanismus, etwa bei manchen Sophisten und bei den Atomisten Leukipp, Demokrit, Epikur und Lukrez, und es ist nach wie vor ein kulturgeschichtliches Wunder, dass diese religiöse »Emanzipation« des Menschen, verursacht durch die Selbstermächtigung der reinen Vernunft, auf der damaligen Erde nur einmal und nur an diesem Ort stattfand, während andere Kulturkreise bis heute das menschliche Denken nicht frei geben, sondern an die religiöse Dimension gebunden halten. Gleich, ob man diese Emanzipation positiv oder negativ als Befreiung oder als Abfall bewertet, auf jeden Fall wurde jene zersplitterte griechische Halbinsel zum Ausgangspunkt von Kulturimpulsen, denen die Menschheit einzigartig Neues in Kunst, Wissenschaft, Philosophie und Politik, dagegen viel weniger in Religion und Mystik verdankt. 2 Wie allgemein bekannt, war es der nahe und ferne Osten, der die weltgeschichtliche Funktion übernahm, Wiege der großen Religionen zu sein, 3 in der Buddha, Zarathustra, die jüdischen Propheten, Laotse, Konfuzius und die indischen Weisen auftraten. Wohl am folgenschwersten aber ist, dass der Mensch seit jenem epochalen Ereignis in Griechenland seine metaphysische Geborgenheit verlor und – zumindest seit der Neuzeit – seiner Stellung im Universum nicht mehr sicher ist, 4 sodass sich die existenziell-bedrohliche und damit bedrohlich-bohrende Frage erhebt: »Sind wir letztlich nicht vom Nichts ins Sein geworfen und werden – aus dem Sein fortgerissen – in den Abgrund des Nichts geschleudert?« »Sind wir nur bedeutungslose Irrlichter, die für einen Augenblick in der Nacht des Nichts aufflackern, um dann für immer darin zu verlöschen?« – eine bange Frage, die sich nicht nur Pascal, Nietzsche und Jaques Monod aufdrängte, sondern heute jeden Menschen, der nach seinem Daseinssinn sucht, umtreibt.
2 H. E. Stier, Grundlagen und Sinn der griechischen Geschichte, Cotta: Stuttgart 1945, 317 ff.: »Vom Sinn der griechischen Geschichte«; O. Gigon, Die Kultur der Griechen, Modernes Antiquariat: Wiesbaden 1969; V. Engelhardt, Die geistige Kultur der Antike, Pawlak: Herrsching 1981. 3 Vgl. Karl Jaspers, »Achsenzeit«, in: Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, Fischer: Frankfurt a. M. 1955. 4 D. Wyss, Psychologie und Religion, Königshausen und Neumann: Würzburg 1991, 18 ff.
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3. Die Urparadoxie des Religiösen Obwohl das religiöse Empfinden global schwindet, bleibt die Frage: Wie kommt ein Lebewesen dazu, das angeblich, wie die Darwinisten lehren, gleich allen anderen Tieren nur überleben will, vielleicht nur etwas raffinierter, sich auf einen letzten tragenden und bergenden, sinngebenden und heimholenden Seinsgrund zu beziehen? Wie kann ein angeblich durch und durch innerweltliches Wesen die Idee des »Drüber-Hinaus«, der Transzendenz entwickeln, also einer absoluten Überschreitung alles Physischen, Naturalen, Kosmischen? Die wohl sachlich zwingendste, für die meisten jedoch kaum annehmbare Antwort müsste lauten: Der Mensch hat deswegen Religion – re-ligio hier als Rückbezug zum Ursprung verstanden –, weil er aus dem Göttlichen selbst stammt und eine Ahnung von seiner göttlichen Abkunft hat, aber aus welchen Gründen auch immer aus der göttlichen Einheit herausgefallen ist und sich daher in den vielen Formen der Frömmigkeit, die er in seiner Geschichte bis heute entwickelte, nach dem Göttlichen, sprich nach der Fülle des Seins, nach dem heilen Leben, nach seiner inneren und äußeren Ganzheit zurücksehnt. Dass er also zugleich irgendwie vom Göttlichen herkommt und doch davon, warum und wie auch immer, fundamental getrennt ist. 5 In diesem Satz verdichtet sich die Lehre nahezu aller großen Denker und Religionsstifter, von Anaximander, Pythagoras, Platon, Buddha, Jesus über die indischen und christlichen Mystiker bis hin in die Moderne zu Leibniz, Kant, Schelling, Hegel, Jaspers, Bloch, Brandenstein und vielleicht sogar zum späten Heidegger. Der Sinn dieser Frage nach dem Ursprung der menschlichen Religiosität wird durchsichtiger, wenn wir zwei Gegenfragen stellen: 1. Wie sollte der Mensch etwas vom göttlichen Leben ahnen, wie sollte er sich danach sehnen können, wenn es schlechthin kein Göttliches gäbe bzw. wenn er in seiner Wesenskonstitution radikal davon abgeschnitten wäre? Denn soviel ist gewiss: Ein total endliches, finites Wesen kann unmöglich auf die Idee des Überendlichen, Unendlichen, In-
E. Dacqué, Das verlorene Paradies, Zur Seelengeschichte des Menschen, R. Oldenbourg: München 1953.
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finiten kommen und damit – so in der Mathematik, ja sogar in der praktischen Technik, etwa beim Brückenbau – sinnvoll operieren. 6 2. Aber auch umgekehrt lässt sich fragen: Würde sich der Mensch nach dem Göttlichen sehnen, ja überhaupt sehnen können, wenn er – wie manche esoterischen und pantheistischen Lehren behaupten – mit dem Göttlichen identisch oder teilidentisch, sprich wenn er ein realer, differenzloser Teil der Gottheit wäre? Wohl doch nicht, es wäre ja nicht nötig, er wäre als der Gottteil, der er ist, vollständig in Gott und damit vollkommen gotthaft. Somit scheint das Paradox unvermeidlich, dass der Mensch deswegen religiös ist, weil er das Göttliche, das Heilige, das volle Leben irgendwie zugleich hat und nicht hat, bzw. philosophisch gesprochen: zwar auf das Göttliche, Heile, Ganze, Versöhnte, Erfüllte vor aller Erfahrung (apriorisch) hingeordnet, aber darin nicht angekommen ist und allem Anschein nach aus eigener Kraft auch nicht ankommen kann. Diese Ambivalenz gilt es nun, soweit im Rahmen eines kurzen Essays möglich, in seine wichtigen Aspekte auszufalten.
4. Das Unbedingte, »woran das Herz hängt«, als Bezugspunkt der Religion Auch wenn immer mehr Menschen heutzutage ohne Religion auskommen oder an ihrer Daseinsberechtigung, zumal in ihren kirchlichen Formen, zweifeln, fragt sich, ob alle diese »Gottlosen« wirklich ohne Religion sind? Die Antwort auf diese Frage hängt entscheidend davon ab, was wir unter Religion verstehen. Versuche ich eine lebensnahe Definition, dann lautet meine Antwort in Anlehnung an die Theologen Paul Tillich, Rudolf Otto und Anton Grabner-Haider: Alles das, woran das Menschenherz unbedingt hängt, 7 wonach es Vgl. H. Meschkowski, Das Problem des Unendlichen, dtv: München 1974. Vgl. P. Tillich, Die verlorene Dimension, Furche: Hamburg 1962, 9 ff. Gerda Walther, Phänomenologie der Mystik, Walter-Verlag: Olten/Freiburg i. B. 1955, 110, erinnert in ihrer beachtlichen Phänomenologie der Mystik zu Recht an die »grundlegende Bedeutung der seelischen ›Herz‹-Region als tiefster Quelle der seelischen Gefühle bei allen Völkern, in allen Religionen« und spricht daher vom »Grundwesen« der Seele, das sie vor allem in seiner geistigen Schicht in die Nähe des »Seelenfünkleins« von Meister 6 7
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»süchtig« ist; alles, auf das ein Mensch nicht verzichten kann; und alles, was ihm schlechthin »unverfügbar« 8, »unantastbar« 9 scheint, alles das hat eine religiöse Qualität, eine religiöse Tiefe und ist damit wenigstens für diesen Menschen ein Absolutum, ein Göttliches, ein Letztes. Blicken wir unter diesem Gesichtspunkt ins Leben, dann stellen wir fest, dass jeder Mensch an irgendetwas unbedingt hängt und davon nicht loskommt, auch wenn es sich in den meisten Fällen um fragwürdige, vordergründige, vergängliche Dinge handelt. Eigentlich kann der Mensch gar nicht anders, als sich an etwas Unbedingtem, Vollkommenem, Wertvollstem zu orientieren, und wenn er nicht mehr an Gott oder an Göttliches glaubt, dann vergöttlicht er eben irgendein innerweltliches Gut, den Erfolg, das Ansehen, die Macht, das Geld, die Lust, die Wissenschaft, die Kunst, die Partnerschaft, den Beruf, das Leben, die Freiheit oder auch nur das blanke Überleben. Sogar noch der Selbstmörder beweist indirekt mit seiner Verwerfung des Lebens, dass er auf ein höheres, ja höchstes Gut – eben die Leidensfreiheit – setzt. All dies beweist, dass der Mensch wesenhaft (und damit apriori) auf einen letztgültigen Sinn und damit einen letztgültigen Daseinswert bezogen und ausgerichtet ist, ohne dessen Zugrundelegung die Anstrengung zu leben, die sich oft zu Mühsal und Qual steigert, kaum erträglich, ja im Grunde sinn- und wertlos wäre, gemäß dem berühmten Satz Friedrich Nietzsches: »Wer ein Warum zu leben hat, erträgt fast jedes Wie.« Und in der Tat, um dieses »Warum« geht es, an ihm hängt alles, all unser Leben, Sinn und Glück. Die Bezogenheit des Menschen auf absolute Seinswerte wird empirisch vielfach belegt: So haben alle archaischen, intellektuell gewiss naiven Völker wie übrigens auch alle Kleinkinder ein spontan absolutes Wertempfinden und kennen absolute Wertgüter mit einem letztgültigen Daseinssinn, dem nicht selten sogar das eigene Leben untergeordnet wird. Das »Opfer« eines weniger wertvollen Gutes für dieses höchste Gut, ein Phänomen, das jede Kultur kennt, beweist existenziell die Apriorität des absoluten, meist nur impliziten Wertwissens und Wertwollens, sprich die strukturell verwurzelte Hinordnung des
Eckhart rückt, ohne allerdings – wie wohl Eckhart – dieses Grundwesen mit dem Wesensgrund Gottes gleichzusetzen (ebd., 224 ff.). 8 A. Grabner-Haider, Gott, eine Lebensgeschichte, Grünewald, Stuttgart 2006, 15. 9 R. Otto, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, München 1936.
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menschlichen Geistes auf ein Letztgültiges, auf ein »höchstes Gut« (summum bonum), unabhängig von der Frage, ob dieses »Gut« objektiv und allgemein für alle Menschen ein Gut, gar das höchste Gut oder nur etwas Relatives, Zeitbedingtes oder sogar Verkehrtes ist. 10
5. Der anthropologische Urzwiespalt in der Religion Wenn wir das bisher Gesagte versuchen, philosophisch zu fassen, dann dürfen wir von einem anthropologischen Urzwiespalt der menschlichen Existenz sprechen, den wir nirgendwo sonst im Reich des Lebendigen antreffen. Dieser besteht darin, dass der Mensch nach der Fülle des Seins, nach Heil und Heiligung des Lebens strebt, ja unbedingt strebt und dies auch nachdrücklich in seinem rastlosen kulturellen Suchen und Schaffen zum Ausdruck bringt, aber dennoch immer im Vorläufigen, Fragmentarischen, Mangelhaften, im Unheiligen und Hässlichen stecken bleibt. Symbole dieser Idee der Vollendung sind das Paradies, der Garten Eden, das goldene Zeitalter, das Neue Jerusalem, das Ende der Zeit, die klassenlose Gesellschaft, das Reich Gottes, das »Prinzip Hoffnung« (Bloch) und die Ruhe unseres Herzens in Gott (Augustinus). Den Tatbestand dieses anthropologischen Urzwiespaltes bezweifelt niemand, auch der Atheist nicht, aber es drängt sich die Frage auf, ob das Streben nach der Fülle des Seins nicht – wie z. B. Marx und Freud meinen –, gerade weil so wenig erreichbar, illusorisch ist? Wäre dem so, dann allerdings wäre alle Religion, wäre alle Mystik, wäre alles Denken über das bloß Gegebene hinaus, was den Transzendierungsdrang des Menschen ausmacht und ihn so radikal von allen anderen Lebewesen unterscheidet, eitel, sinnlos, illusionär. Dann aber fragt sich auch: Wie kann es überhaupt zu solcher Täuschung kommen? Wie soll sich ein unvollkommenes Wesen einen Begriff von der Fülle des Seins bilden können, wenn diesem Begriff rein gar nichts entspricht, ja wenn dieser Begriff, wie etwa der Wiener Kreis um Carnap meinte, selbstwidersprüchlich und sinnlos ist? Woher nimmt dieses grenzenlos fra-
In vielen Fällen birgt auch ein »relatives Gut« absolute Werte, doch müssen sie erst geweckt, gereinigt und – in einem meist mühsamen, schmerzlichen Geschichtsprozess – herausgearbeitet werden, so im individuellen wie im kollektiven Leben.
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gende Lebewesen diese außerordentliche Transzendierungsfähigkeit und woher diesen letztgültigen Sinn, der darin beschlossen ist? Bekanntlich hat Descartes aus dieser psychologisch tiefgründigen Einsicht einen Gottesbeweis abgeleitet, der zwar nicht belastbar ist, aber doch ein ernstzunehmendes Problem formuliert und Fundamentales vom Menschen offenbart. Denn natürlich muss auch eine Illusionsbildung begründet werden, muss irgendwie möglich sein, heißt, sie muss einen objektiven Grund haben. Weil dies so ist, fühlten sich bedeutende nichtreligiöse Geister wie Feuerbach, Marx, Darwin, Nietzsche und Freud genötigt, »natürliche«, etwa psychologische, soziologische, materialistische, ökonomische und biologische Lösungen anzubieten, die sich aus heutiger Sicht allerdings als allzu vordergründig erwiesen haben und von der philosophischen Anthropologie, der Ethnologie und der Religionswissenschaft 11 als unzureichend zurückgewiesen werden.
6. Die drei Seiten der Religion: die Religiosität, der Gegenstand der Religion und die religiöse Institution Um in dieser Problematik weiter zu kommen, ist es an der Zeit zu fragen, was Religion genauer betrachtet ist? Wir müssen hierbei drei Seiten berücksichtigen: 1. den subjektiven Aspekt der Einstellung des religiösen Menschen, inklusive seiner Motive 12, seiner leiblichen »Befindlichkeit« und seiner emotionalen »Gestimmtheit«; 2. die intersubjektiv-kollektive Dimension der vielfältigen sozialreligiösen Gebote, Verbote, Pflichten, Kulte, Rituale, Lehrgebäude und Institutionen; und 3. die objektive Bezogenheit, d. h. den Sachverhalt, auf den sich der religiöse Mensch intentional richtet, den er erhofft, erahnt, glaubt, fürchtet oder sogar – wie in der mystischen Begegnung – unmittelbar erfährt. B. Grom, Religionspsychologie, Kösel: München 2007; J. Hessen, Religionsphilosophie, Bd. 1 u. 2, Ernst Reinhardt: München/Basel 1955; G. Lanczkowski, Religionsgeschichte Europas, Herder: Freiburg 1971; M. Scheler, Das Ewige im Menschen, Leipzig 1921; D. Wyss, Psychologie und Religion, Königshausen und Neumann: Würzburg 1991. 12 Vgl. Grom, Religionspsychologie, 29 ff. 11
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Was die subjektive Seite, Einstellung und Gestimmtheit, betrifft, so ist klar, dass Religiosität mehr ist als spekulatives, metaphysisches Denken des Absoluten, natürlich auch mehr oder anderes als das, was sich in religiösen Institutionen, in Riten, Kulten, Kunstwerken und Dogmen manifestiert. Religion ist demnach allein metaphysisch-philosophisch oder soziologisch nicht zu fassen. Warum? Weil Religiosität vor allem eine tief gefühlte Haltung ist, und zwar eine bestimmte Haltung, die der Römer pietas, die der Deutsche Frömmigkeit, Ergriffenheit und Ehrfurcht nennt und die sich in Form der Selbsthingabe an ein Unbedingtes realisiert. Dabei wird nicht nur etwas gedacht oder gar nur logisch erschlossen, auch nicht nur nüchtern geglaubt, sondern es wird etwas erlebt und erfahren, dem sich der Mensch bedingungslos anvertraut. Was aber ist dies? Hier liegt nun ein entscheidender und viel umstrittener Punkt: Es gibt Religionsphilosophen, die in der Nachfolge Max Schelers 13 behaupten, dass das Heilige, Vollkommene, Göttliche unmittelbar erfahren werde, und es gibt Theologen, vor allem protestantischer Provenienz (Kierkegaard, Karl Barth, Brunner), die das bestreiten und zwischen Mensch und Gottheit einen unüberwindlichen Abgrund aufreißen. Was nähert sich der Wahrheit an? Lässt sich hier überhaupt eine Klärung herbeiführen? Ich möchte, ohne dies hier zureichend ausführen zu können, eine dritte, verbindende Lösung anbieten: Ich meine nämlich, dass wir in unserem eigenen Sein durchaus die Spuren des Göttlichen, den Abglanz eines Letztgültigen, also gewissermaßen seine Fingerabdrücke (aber eben nur die Spuren, die »Fingerabdrücke«!) wahrnehmen können, aber niemals in der Lage sind, aus eigener Kraft das Göttliche selbst in uns heraufzubeschwören oder gar – wie die nachkantisch idealistischen Philosophen meinten – in der so genannten »intellektuellen Anschauung« »zu setzen«. Zwar gibt es in uns einen Abglanz des Heiligen, der sich etwa als kindlich-ursprüngliche Seinsgewissheit, als Urvertrauen, als fundamentale Seinsfreude, als unbedingter Liebeswille, als Wahrheitserleben oder indirekt als Ursehnsucht, als Grundangst, als Grundverlorenheit, als fundamentale Seinsabhängigkeit (Schleiermacher) und Seinsschwäche (Luther, Kierkegaard), ja als Getrenntheit von Gott, als »Sündigkeit« (Augustinus, Luther) offenbart, aber wir M. Scheler, Das Ewige im Menschen, Leipzig 1921; vgl. z. B. Johannes Hessen, Religionsphilosophie, Bd. 1 u. 2, Ernst Reinhardt: München/Basel 1955.
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sind nicht Gott, auch im Kern nicht, wie die Pantheisten (Scheler, Hellpach, und wohl auch Meister Eckhart) lehren, sondern sind durch und durch Geschöpfe, sind begonnene, gebürtliche (Hannah Arendt) und daher »absolut kontingente«, d. h. nichtsverhaftete, fundamental »nichtseinkönnende« Wesen, doch eben als solche von einer höheren nichtgeschöpflichen Macht ins Sein gesetzt und gleichsam mit einem absoluten, heißt letztgültigen Stempel geprägt – nach christlicher Lehre mit dem Stempel der Gottesebenbildlichkeit, die schöpferisches Handeln, Denk- und Liebesfähigkeit einschließt. Und genau diesen – übrigens mehrfältigen – Grundbezug zum Ursein (und nicht das Ursein selbst!) können wir aus uns selbst herausarbeiten, in uns »konstituieren und nachsetzen« und eben damit auch erkennen. 14
7. Das Heilige und seine Erfahrung Diese Spur des Göttlichen in uns und in der Welt heißen wir mit einem vielsagenden und uralten Wort das »Heilige« oder »Sakrale«, denn dieses ist es, das den charakteristischen Seinsurwert des Göttlichen ausmacht. Seine Spezifität hat Rudolf Otto mit den Eigenschaften des Faszinosums (das Ergreifende), Tremendums (das Erschreckende) und Augustums (das Erhabene) umschrieben. Interessanterweise wird in der Sekundärliteratur das dritte Moment zumeist unterschlagen, obwohl dies weitaus entscheidender ist als die zwei ersten Momente. Denn faszinierend und erschreckend können auch ganz unheilige Dinge sein, z. B. illusionäre Gespenstererscheinungen, Horrorgeschichten, Kriminalliteratur u. ä. Der eigentliche Gegenstand des religiösen Erlebens ist aber eine in die Immanenz hereinragende unbedingte Wirklichkeit, deren erhabene Absolutheit existenziell als höchste Macht, höchster Wert (summum bonum), als höchste Verpflichtung (Sittengesetz) und höchste Beglückung (BeseliIch meine also, dass im Menschen von Natur (essentialiter) keine göttliche Substanz, auch nicht als Schicht oder Kern, vorliegt, aber natürlich – in der mystischen Begegnung – gnadenhaft geschenkt werden kann (vgl. Grom, Religionspsychologie, 236: Der gemeinsame Kern mystischen Erlebens; G. Walther, Phänomenologie der Mystik, Walter-Verlag: Olten/Freiburg i. B. 1955, 224 ff.). Von Natur sind »nur« die Spuren des Göttlichen in uns, diese aber sehr real, wenn auch meist verdeckt und verzerrt, und außerdem z. B. im Gewissen oder als Wahrheitssinn, als Würdegefühl etc. durchaus wirksam.
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gung) erfahren wird. Durch die ins Hier und Jetzt »einstrahlende« Transzendenz eignet dieser höchsten Wertwirklichkeit wesenhaft Geheimnischarakter – sie ist, obwohl da, nicht umfassbar, nicht erschöpfbar, nicht durchmessbar, damit wesentlich transrational, doch keineswegs, wie leider auch R. Otto meint, irrational (widervernünftig), sondern eben überrational (übervernünftig). Religion beruht also auf Erfahrung, ist nicht nur gedacht, erschlossen oder geglaubt, sondern wird erlebt, negativ als Ohnmacht, Nichtigkeit, Verlust, Fall, Getrenntheit, Sehnsucht, Schuld, Sünde, Grundangst, positiv als Faszinosum, Augustum, summum bonum, reines Sein, als Fülle, totales Licht, durchdringende Liebe, erhebendes Ergriffensein. Die positive Erfahrung kann entweder eine direkte sein, dann ist sie mystischer Art, oder sie knüpft an die Spuren des göttlichen Seins an, die in allem Seienden gleichsam »nachleuchten«, dann ist sie nur relativ, kreatürlich, nur Abglanz und bietet nicht mehr als die Basis für einen – in der Regel von der philosophischen Metaphysik und der Theologie vollzogenen – Rückschluss auf das Ursein selbst.
8. Die Frage nach dem »Apriori der Gottesidee« In Bezug auf die Frage nach dem religiösen Apriori, der es darum geht zu klären, ob im Wesen des Menschen vor aller Selbst- und Welterfahrung ein strukturelles »Wissen«, eine implizite Bezogenheit auf das Göttliche bestehe oder nicht (in der alten Sprache des »Rationalismus«: ob es eine »angeborene Gottesidee« gebe), können wir nach allem, was wir bisher herausgearbeitet haben, festhalten, dass 1. der Mensch im Sinne eines »vulgären« Rationalismus gewiss mit keiner fertigen und klar-bewussten Gottesidee begabt oder ausgestattet ist, sondern dass diese »Idee«, dieses »Wissen«, wenn überhaupt, wie Leibniz sagte, in der Form eines impliziten, potentiellen, eingehüllten Wissens im Menschen mitgegeben ist und sich erst durch einen mühsamen historischen »Geburtsprozess« zu Bewusstsein bringen lässt; 2. der Mensch irgendwie doch, wie das endlose Fragen der kleinen Kinder beweist, die Intuition hat, dass sich die gegebene Welt nicht aus sich selbst erklärt (dass sie also »kontingent« ist), sondern eines Grundes, und zwar eines letzten, absoluten Grundes bedarf, in dem das Fragen zur (erfüllten) Ruhe kommt; 380 https://doi.org/10.5771/9783495808405 .
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3. dieser Grund so beschaffen sein muss, dass ein weiteres Fragen sowohl unmöglich als auch überflüssig ist, vielmehr unmittelbar einleuchtet, dass dieser Urgrund sich selbst zureichend begründet; 4. dieser Urgrund eben aufgrund seiner absoluten Selbstbegründung und Selbstgenügsamkeit (die eine weitere Bedingtheit und Verursachung ausschließt) die absolute Ursprungsrealität sein muss, die nur unbegrenzt, also unendlich an Dauer und Inhalt sein kann, was notwendig impliziert, dass es sich um ein zeitlos-ewiges, rein aktuales, damit allerrealstes und allervollkommenstes Wesen handeln muss (ens realissimum = ens perfectissimum), dem nichts fehlen und dem nichts hinzugegeben werden kann; und dass 5. dieser Urgrund nicht nur Ursprung allen Seins, sei es unmittelbar, sei es mittelbar 15 ist, sondern auch ureinfach und ureinheitlich ist, also keine disparate Vielheit darstellen kann. Gerade dieses Einfachheits- und Einheitsmoment im Göttlichen fordert der Mensch im Laufe seiner geschichtlichen Selbstbewusstwerdung immer mehr, wohl aus seiner eigenen (wachsenden) Einfachheits- und Einheits-, also seiner Identitätserfahrung heraus, die nicht nur passiv-logischer Natur ist, sondern als aktiv-synthetische Leistung in der Lage ist, alle Erlebnisse auf sich – eben das eigene Selbst – zu beziehen und im Lebensvollzug zu vereinheitlichen: die Gottheit – analog dem Menschen, allerdings im höchsten Seinsrang – als Unum Activum, als Uniendum (Zu-Einigendes), als Unire (Einigen) und als Unitum (Geeintes). So gesehen wohnt dem Monotheismus die geschichtliche Dynamik einer »Selbstgebärung« inne, die m. E. noch nicht abgeschlossen ist. Stimmt all dies, dann ist der Mensch intuitiv mit der (potentiellen und damit erst zu Bewusstsein zu bringenden) Ahnung einer letzten und grundlegenden, höchsten und vollsten Wertwirklichkeit, einer größten Wichtigkeit, eines unbedingt Guten, eines »Heiligen« begabt, einer Ahnung, die allerdings dunkel, verhüllt, undifferenziert ist und die Nach unserer Überzeugung ist die sichtbare Welt nicht das unmittelbare Werk Gottes, vielmehr hat er solche Kräfte erschaffen, die – analog der menschlichen Person – die Fähigkeit und die Vernunft besitzen, die Naturwerke und Naturprozesse zu schaffen und zu gestalten. Nur so erhält die menschliche Freiheit einen Raum für ihr Weltwirken, und nur so erhalten auch die »suchende« Prozessualität und die Unvollkommenheiten der Welt (samt ihrer Übel) einen nachvollziehbaren, wenn auch nicht immer annehmbaren Sinn.
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historisch (individuell wie kollektiv) erst erwachen und sich entwickeln muss. Dabei kann sie sich geschichtlich und geografisch sehr verschieden ausformen und nimmt nicht selten gegensätzliche und allzumenschliche Konkretionen an (eben weil sie sich mit anderen allzumenschlichen »Ideen« vermischt). Ja es ist sogar möglich, dass diese »Ahnung« gar nicht erwacht oder dass sie verleugnet und unterdrückt wird. Falls aber bewusstgeworden, fragt sich, warum sich gerade im Allerwichtigsten die Menschen bisher nicht einigen konnten und warum es zu der nicht selten widersprüchlichen und darum oft beklagten Vielfalt der Gottes- und Absolutheitsvorstellungen kam?
9. Geschichte und Vielfalt der Religionen als Ausdruck des verhüllten Gott-Mensch-Bezuges Die offen zu Tage liegende und immer wieder irritierende Vielheit und Vielfalt, ja nicht selten Widersprüchlichkeit der Religionen wurzelt auf diesem Hintergrund in drei Urtatsachen des menschlichen Daseins: erstens in der Unfassbarkeit der unendlichen Gottheit, zweitens in der Gott-Mensch-Trennung und drittens in der von Verständigungsschwierigkeiten belasteten und immer wieder misslingenden Kommunikation der Menschen. Es leuchtet unmittelbar ein, dass der Versuch, den unendlichen Gott in endlichen Begriffen, Vorstellungen, Konzepten fassen zu wollen, scheitern muss und dass hier bestenfalls eine »unendliche« Annäherung möglich ist. Nicht weniger bedeutsam sind der zweite und dritte Punkt: Da das Verhältnis zwischen absolutem Sein und endlichem Sein tief verhüllt ist, lässt es viele Deutungen zu. Alle Religion ist, weil aus dem Leid der Getrenntheit von Gott (und damit von der Fülle des Lebens und des Heils) heraus entstanden, vieldeutig und darum nicht selten undeutlich. Und in der Tat, was heilig ist, hat sich im Laufe der Religionsgeschichte oftmals gewandelt, weshalb zunehmend ein kritisches Verfahren nötig wurde, um zu bestimmen, ob es das Göttliche überhaupt gebe, wie es beschaffen sei und in welchem Bezug die Welt dazu, zumal der Mensch stehe. Dieses kritische Verfahren übte seit der griechischen Antike die Philosophie aus – man denke an Xenophanes, Demokrit, Gorgias, Epikur, später an Lukrez, Kant, Feuerbach, Nietzsche, Marx, Freud u. v. a. –, sodass zu ihren höchsten Aufgaben gezählt wurde, das 382 https://doi.org/10.5771/9783495808405 .
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Gottesbild immer mehr von allen Animalismen, Fetischismen und Anthropomorphismen zu reinigen. Genau besehen setzte schon innerhalb der Religionen dieser Prozess ein und bedingte einen dynamischen Religionswandel etwa von der Naturreligion, dem Animismus und Animalismus über Ahnenkult und Totemismus bis hin zu Polytheismus, Monotheismus und Pantheismus. Am reinsten dürfte der Gottesbegriff bzw. der Begriff des Unbedingten im Monotheismus, in der Brahmanvorstellung des Hinduismus und in der Nirwanaerfahrung des Buddhismus ausgebildet worden sein. Und so könnte nur eine metaphysische Philosophie, wenn überhaupt, klären, welche Religionen die Gottheit am adäquatesten annähern – die Religionen aus sich heraus sind dazu nicht in der Lage 16. Der Grund dafür ist leicht angebbar: Religionen sind keine Wissenschaften, die ihre Aussagen empirisch oder logisch begründen; Religionen sind Anrufe, Erweckungen, Anklagen wie bei Jesaia und Jeremia, sind Provokationen wie bei Buddha und Jesus; Religionen sind existenzieller, nicht begrifflich-wissenschaftlicher Natur. 17
10. Die psychologischen Quellen der Religion Anders als bei der Frage nach der ontologischen Dignität der Religion verhält es sich bei der Frage nach den psychologischen Quellen der Religiosität; sie lassen sich empirisch erforschen und angeben. Am Anfang steht das, was Willy Hellpach 18 mit einem plastischen Begriff die Urdämonie des Menschen nennt. Er versteht darunter die Erfahrung einer rätselhaften geistigen Macht, die sich unmittelbar in unserem Alltagsleben zeigt und in den faszinierend-erschreckenden Phänomenen des Traums, des Rausches, des Wahns, der Vision, der Inspiration, Vgl. hierzu den m. E. überzeugenden, weil durchdringenden Versuch B. v. Brandensteins, der am Ende seiner Grundlegung der Philosophie, im Band VI seiner Ethik, eine metaphysisch gestützte Religionsphilosophie gibt: B. v. Brandenstein, Grundlegung der Philosophie, Bd. IV, Bd. 1–6. A. Pustet: München/Salzburg 1965–1968, 283 ff. 17 Den dritten Punkt führe ich nicht aus, obschon klar ist, dass er von großer Bedeutung ist. Denn die Verständigung zwischen den Menschen wird umso schwieriger, je verschiedener ihre Sprachen und Kulturen sind. Alles lässt sich da nicht überbrücken, aber total unüberbrückbar sind sie auch nicht. 18 W. Hellpach, Übersicht der Religionspsychologie, Bibliografisches Institut: Leipzig 1939, 15 ff. 16
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des unlöschbaren Seinsdurstes, der genialen Kreativität und der Nahtod- und Todeserfahrungen manifestiert. Hier kündigt sich allemal, gleich wie man es deuten mag, ein Non- und Transnaturales an, das alle Naturhaftigkeit und damit schon rein psychologisch-existenziell jeden Materialismus und Phänomenalismus übersteigt 19 und sich nur mit wenig überzeugenden Kunstgriffen in reine Naturalitäten umdeuten lässt. Nehmen wir außerdem die Erfahrung der unser Denken und Wollen unbedingt bindenden Wertabsolutheiten in Logik, Mathematik und Wissenschaft überhaupt (nämlich als Wahrheit und Widerspruchsfreiheit), in Ethik und Pragmatik (als Gutheit, Achtung, Aufrichtigkeit) und in der Ästhetik (als Schönheit) hinzu, dann haben wir eine Fülle von Quellen des Religiösen vor uns, aus denen der Mensch seit der Altsteinzeit die Erlebnisse des Un- und Übersinnlichen bzw. des absoluten geistigen Seins schöpft und sich so im Sinne der religio an letzte Seins- und Lebensquellen zurückbindet.
11. Grundelemente der Religion Wenn wir die bisher aufgedeckten Elemente der Religion bzw. Religiosität in einer Zwischenbilanz zusammenfassen, kommen wir zum folgenden Ergebnis: – Am Anfang aller Religion stehen Erfahrungen, in der Regel existenziell tief greifende und tief erschütternde Erlebnisse, die sich einerseits in den existenziellen Abhängigkeits-, Nichtigkeits-, Verlorenheits-, Sinnlosigkeits-, Ungeborgenheits- und Schuldhaftigkeits-, kurz in den Kreaturgefühlen, andererseits in den religiösen Grundhaltungen der Andacht, Ehrfurcht und Frömmigkeit, d. h. in Formen der Gottergriffenheit ausformen. In ihnen wird das Göttliche entweder unmittelbar erlebt, das ist die mystische Erfahrung, oder mittelbar aus den positiven und negativen Spuren des Göttlichen in unserer eigenen Lebenssubstanz entnommen. Ersteres ist die große Ausnahme und wird als direktes übernatürlich-göttliches Ergriffensein, als echte unio mystica erlebt, Letzteres ist der Normalfall und stellt sich als »Glauben«, Ahnen, Sehnen, als Leiden, »Furcht und Zittern« dar. Vgl. meine Arbeit: B. Wandruszka, Der Traum und sein Ursprung, Alber: Freiburg i. B. 2008.
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Was da unmittelbar oder mittelbar erfahren wird, ist ein Höchstund Letztgültiges, der Ur- und Höchstwert des Seins, das summum bonum des Heiligen als Faszinosum, Tremendum und Augustum, als Unum (Eines), Bonum (Gutes), Verum (Wahres) und Pulchrum (Schönes), ein Wert, der entweder unmittelbar in der Seele Platz greift oder indirekt durch ein Weltseiendes, ein Natur- oder Geschichtsereignis, einen Menschen oder ein Kulturwerk hindurchstrahlt und dieses Endliche verklärt, heißt transparent hin zum Ursein macht. Dieser göttliche Urwert des Heiligen wird im religiösen Akt als Wirklichkeit, ja als unbedingte und realste Wirklichkeit intendiert, als ens realissimum. Ob dieser Intention eine echte Realität entspricht, kann entweder nur das (allerdings nie allgemeingültige) Erlebnis bezeugen oder muss wenigstens als Möglichkeit philosophisch erschlossen werden. Die Religion als solche kann diesen Realitätsbezug nicht allgemeingültig und logisch streng gültig aufweisen, da die Intentio der religiösen Erfahrung niemals aus eigener Kraft eine Realisatio des Absoluten erreicht (darin irren Scheler und Hessen, vielleicht auch Augustinus). Aus dem Realitätscharakter des Göttlichen folgt sein Machtwesen und sein konkretes weltwirkendes Walten, womit das aus einer Welttranszendenz heraus erfolgende Handeln der Gottheit in der Weltimmanenz gemeint ist. Ein religiöser Akt, der eine absolute, von allem Weltsein total getrennte Transzendenz des Göttlichen annähme, würde sich selbst aufheben, da er seinen inneren Sinn nur dadurch konstituiert, dass er sich als verbunden mit der weltübersteigenden Göttlichkeit weiß. Der religiöse Akt impliziert also wesenhaft (wenigstens als Intention) das Heilige als Urwert, Urwirklichkeit und als reales Walten in der Welt, er steht in einer Spannung von Immanenz und Transzendenz. Damit nicht genug verbindet sich im religiösen Akt mit dem Heiligen die Dimension des Sinns, nämlich des Sinns des Seins, des Lebens, des Kosmos und der Geschichte überhaupt. Hierin wurzeln alle theoteleologischen Vorstellungen von Herkunft und Ziel des Weltgeschehens in allen Religionen (selbst wenn, wie oft, der Sinn geradezu im »Unsinn« des Weltunterganges perhorresziert wird). Eine Gottheit, die in Bezug auf die Welt ohne Plan und Ziel wäre, höbe sich selbst auf; sie wäre weder höchster Wert noch höchste Wirklichkeit noch wäre sie eine »waltende Macht«; sie wäre eine 385 https://doi.org/10.5771/9783495808405 .
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ohnmächtige, im Letzten wertlose Wirklichkeit, die uns nicht wirklich angeht. In dieser Weise wird sie in der Antike von Epikur, in der Aufklärung des 18. Jahrhunderts von den Deisten (wozu partiell auch Kant zu zählen ist) und in der Moderne etwa von Hans Jonas gefasst, verkennend, dass damit echter Religiosität aller Boden entzogen wird. Schließlich gehört zum religiösen Akt bzw. überhaupt zur Religion die Ethik und ihre Wertforderung: Der Mensch fühlt sich unter den Wertblick der Gottheit gestellt – es ist nicht alles gleich wertvoll, nicht alles beliebig, im Gegenteil, der Mensch fühlt sich berufen zum heiligmäßigen, heißt gottgemäßen Leben, fühlt sich verpflichtet in Treue zu den göttlichen Urwerten der Güte, Gerechtigkeit, Achtung, Wahrhaftigkeit, Barmherzigkeit und Liebe und weiß sich gerufen, dem Guten, vor allem in seiner tiefsten Gewissensstimme, zu folgen und vom Bösen, Gemeinen, Üblen Abstand zu nehmen. Spätestens von seinem ethischen Aspekt her erhält das Religiöse einen voluntaristischen Entscheidungscharakter. Es ist nie nur Erkenntnis oder Gefühl (Schleiermacher), wiewohl das auch und immer, es ist vor allem, wie Kierkegaard betonte, eine gläubige Willensentscheidung, ein definitives Engagement, ein radikaler Einsatz, oder, wie Kierkegaard sagt, ein Sprung über den Abgrund 70 000 Faden tief. So macht es schließlich die Paradoxalität des religiösen Aktes aus, dass seine spezifische Lichtgebung erst nach der Entscheidung eintritt. Wer vor der Entscheidung erleuchtet sein will, wird wie die wartenden Landstreicher in Samuel Becketts »Warten auf Godot« ewig in Finsternis verharren. Erst der Schritt in die Nacht hinaus führt zur Morgendämmerung und macht sie hell.
Diese Betrachtung offenbart rückblickend die innerste, aller Erfahrung apriorisch vorausgehende Quelle der Religiosität des Menschen, die sein spezifisches Sein und Wesen ausmacht und in der fast unerträglichen Spannung besteht, zugleich ein radikal endlich-sterbliches (E) und ein potentialunendliches (pU), d. h. jede endliche Grenze zu transzendieren befähigtes Lebewesen zu sein. Letzteres, eine Leistung vor allem des Geistes, der Phantasie und der Liebe (die alle drei die Seinsfülle, nicht das Nichts erstreben und über alles Endliche hinausdrängen), beinhaltet wiederum Zweierlei:
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Erstens muss es im Menschen einen Seinsbestand geben, der überendlich-unerschöpflich (aber nicht unendlich!) ist, sonst könnte er nicht jede endliche Grenze (E) wenigstens geistig und kulturell überschreiten (wollen); und zweitens eröffnet sich aus dem Wesensbestand des Menschen selbst, eben aus seiner Potentialunendlichkeit (pU), aus seiner inneren Unabschließbarkeit, seiner grundsätzlichen Offenheit ganz natürlich der Horizont des Unendlichen, des nicht nur Potential-, sondern Aktual-, d. h. des Erreicht- und Erfülltunendlichen (aU). Denn auf dieses ist das Potentialunendliche im Menschen wesenhaft bezogen. Erst im erfüllt Unendlichen (aU), im Nunc Stans der Mystik, in der »ausstehenden Heimat« Blochs würde das immer »dürstende« Strebensunendliche (pU) zum Ziel und zur Ruhe kommen (bzw. kommt eben nicht zur Ruhe, wenn es sich nicht auf das aU bezieht, sondern sich im E verstrickt). Das fasste schon Augustinus am Anfang seiner »Bekenntnisse« (Confessiones) in das wunderbar einfache Wort: »Denn ruhelos (pU) ist unser Herz, bis es ruht in Dir (aU).« In aller Religion konstituiert sich genau dieses Verhältnis zwischen dem E-pU des Menschen und dem aU der Gottheit ganz spontan, ja das radikal Endliche (E) im Menschen, seine Sterblichkeit, provoziert sogar seinen unerschöpflichen pU-Seinskern, der aus sich heraus (in einem langen und komplizierten geschichtlich-kulturellen Selbstklärungsprozess) erst die reine Idee des aU, des Erfüllt-Unendlichen und damit Ewigen herausbildet. Das aU als Idee ist daher nicht nur eine fiktionale Kompensation für die Sterblichkeit des Menschen (eine Kompensation, deren Ermöglichungsgrund weder Feuerbach noch Marx noch Freud angeben können), sondern stellt jenen inneren Fluchtpunkt dar, von dem her dem Menschen seine Sterblichkeit erst eigentlich bewusst, schmerzlich, aber auch hoffnungsvoll bewusst wird.
12. Die aktuelle Zeitsituation Oft ist zu hören, wir lebten in einer glaubenslosen Zeit, die kein Wertbewusstsein besäße und sittlich verfalle; das kann so nicht aufrechterhalten werden. Es gab wohl kaum ein Jahrhundert in der Welt387 https://doi.org/10.5771/9783495808405 .
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geschichte, das wie das 20ste so viele Religionsstiftungen gesehen hat, auch wenn diese oft sehr flüchtig und nicht selten bizarr wie z. B. die Satanskulte sind. 20 Gewiss sind die Weltreligionen in die Krise geraten, und das zu Recht, da ihr Seins-, Gottes- und Menschenbild erstarrt ist und der Erneuerung und Weiterentwicklung bedarf. Aber sie liegen keineswegs völlig entkräftet am Boden, im Gegenteil zeigen sie, wenigstens außerhalb Europas, eine große Vitalität, so etwa in Afrika, Nord-, Mittel- und Südamerika. Schließlich darf nicht übersehen werden, dass auf die jahrhundertlange Mission des Christentums und des Islam seit dem 19. Jahrhundert eine Gegenmission aus dem Osten erfolgt, vor allem in Form des Buddhismus und des spiritualisierten Hinduismus (Shri Aurobindo, Shri Ramana Maharshi u. a.), die viele Menschen im Abendland und in Amerika tief ergreift. Alles, was jemals da war, lebt wieder auf, so die alten Naturreligionen, der Schamanismus, ja sogar magische Zauberei, und verbindet sich mit der modernen Weltauffassung des evolutionären Pantheismus oder divinen Kosmismus (Capra, Ken Wilber, Willigis Jäger). Neue Spiritualität, New Age und Esoterik lehren wieder eine Weltfrömmigkeit, die im Kosmos selbst die Gottheit sieht. Das war schon die Weltsicht der Vorsokratiker und Stoiker und ist in der Moderne wieder die Weltsicht eines Nietzsche, Scheler und Heidegger, eines Whitehead oder eines Capra. Auch wenn die Vertreter der großen Monotheismen, des Hinduismus und des Buddhismus dieser Weltvergötterung, ja Weltvergötzung widersprechen, so einigt sie doch alle der unbedingte Glaube an die Existenz eines reinen, heiligen Seins, das eben darum heilig ist, weil es vollkommen und absolut wertvoll ist, gleichgültig ob es schon immer war oder, wie Scheler, Bloch und die zeitgenössische Esoterik meinen, erst im Werden begriffen und natürlich dann erst »am Ende der Zeiten« vollkommen und absolut wertvoll sein wird. Weil es aber absolut wertvoll ist, darum ist es absolut sinnvoll, und eben deshalb und nur deshalb lohnt es sich, trotz aller Mühen und Leiden am Leben festzuhalten und daraus etwas zu machen. Was aber sollen wir aus ihm machen? Nichts anderes als ein Stück heiliges Sein, heiliges Leben, hier und jetzt und heute. Denn erst so wird der homo sapiens zum homo religiosus, mehr noch zum homo sanctificatus et sanctificans, zum geheiligten und heiligenden Menschen.
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13. Die religionskritische Leistung der Philosophie Zum Schluss bleibt das eingangs gegebene Versprechen einzulösen, die Philosophie als kritische Instanz in Sachen Religion zur Geltung zu bringen. Ist das aber wirklich möglich und angemessen? Viele Theologen würden sagen nein, vor allem die protestantischen, und doch lässt sich die fruchtbare Rolle der Philosophie in der Auseinandersetzung mit der Religion schon historisch aufzeigen. Natürlich geht es nicht darum, dem Glauben Vorschriften zu machen, das kann und darf die Philosophie nicht, sondern darum, zu überprüfen, inwieweit eine religiöse Aussage empirisch und logisch widerspruchsfrei ist. Beispiele mögen die Berechtigung einer solchen wissenschaftlich-religiösen Kritik belegen: – In manchen Religionen gibt es die Vorstellung, die Gottheit werde aus einem Chaos gezeugt – passt dies zum Wesen der Gottheit als dem Urgrund des Seins? – In nicht wenigen Religionen steht an der Spitze der Seinspyramide kein singulärer Hochgott, sondern entweder ein Götterpaar oder ein dualistischer Göttergegensatz wie z. B. im Parsismus, der den Lichtgott Ormuzd dem Nachtgott Ahriman gegenüberstellt. Kann das sein? – In fast allen Weltreligionen gibt es die Vorstellung eines zornigen und rächenden, gekränkten und strafenden Gottes (bzw. eines entsprechenden Karmaschicksals), so etwa im Alten Testament der Juden – wird diese Vorstellung dem Wesen der Gottheit gerecht? – Alle Religionen neigen dazu, den Völkern, durch die sie getragen werden, einen Freibrief gegenüber andersgläubigen Völkern auszuschreiben, also etwa Krieg im Namen ihres Gottes zu führen. Ja nicht selten wird anderen Völkern, weil sie nicht vom selben Gott abstammen, das Menschsein überhaupt abgesprochen. Kann das sein? – Immer wieder wird das Göttliche als bloß logisches oder rein geistig-apersonales Prinzip gedacht, das ohne alles Tun rein in sich ruhe – so im Falle des parmenideischen Seins, so auch im Falle des göttlichen Geistes des Aristoteles und so bei Buddha – und damit mehr oder weniger passiv dem Werden der Welt gegenüber stehe. Wird dies dem Gesamtzusammenhang der Welt gerecht? – Umgekehrt gibt es Vorstellungen, die das Göttliche mit der werdenden Welt (teil-)identisch setzen. Ist das wirklich möglich? 389 https://doi.org/10.5771/9783495808405 .
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Schließlich darf eine Grundidee fast aller Religionen nicht unerwähnt bleiben, nämlich die Vorstellung, dass sich der Mensch – der meist als ein vom Göttlichen entfremdetes Wesen gedacht wird – nicht nur mit der Gottheit verbindet, sondern irgendwann und irgendwie einmal vereinigt, ja bis zur völligen Ununterschiedenheit mit ihr verschmilzt. Ist das möglich und wenn ja wie?
Dies sind nur einige wenige Gottesvorstellungen, deren Haltbarkeit von denen, die ihnen anhangen, nicht überprüft, ja für selbstverständlich gehalten werden, die aber nicht nur kritisch hinterfragt werden müssen, sondern auch können. Was ist dazu zu sagen? Wenn wir unter Gott oder Gottheit in Übereinstimmung mit allen Religionsstiftern, Theologen und Philosophen den von uns her letzten, vom Weltgeschehen her ersten Urgrund, eben den Ursprung allen Seins verstehen, dann leuchtet unmittelbar ein, dass diesem Urgrund als dem absolut Ersten nichts vorangehen kann, weder zeitlich noch sachlich-seinsmäßig. Damit ist aber jede Vorstellung der Entstehung, Verursachung, Erzeugung Gottes widersprüchlich, recht eigentlich undenkbar und damit sachlich und logisch unhaltbar. Eine entstehende, erzeugte Gottheit, soll sie der Ursprung allen Seins sein, ist ein Widerspruch in sich selbst (denn sie könnte nicht der Ursprung dessen sein, wodurch sie erzeugt wird). Wenn Gott jenes Sein meint, das allem zugrunde liegt, also wenn er der seinsmäßige Ursprung von allem, sei es direkt, sei es indirekt ist, dann impliziert dies die Wahrheit, dass dieser Ursprung anfanglos sein muss. Denn hätte er angefangen, wäre er also einmal nicht gewesen, dann gewesen, dann wäre ihm etwas vorausgegangen, wodurch er ermöglicht worden wäre, entweder ein Seiendes oder Nichts. Da beides unmöglich ist, kann der Gottheit nichts vorausgegangen sein. Als anfangloses Sein ist es wesenhaft unendlich, ja ewig-zeitlos, sicher jedenfalls nicht endlich-begrenzt. Als unbegrenztes Wesen kann das Göttliche klarerweise nicht durch Anderes begrenzt sein, also weder ein anderes Sein vor sich noch im gleichen Seinsrang neben sich haben. Ein gleichrangiges Götterpaar, sei es als Gemeinschaft, sei es als Gegensatz, kann, insofern sich die beiden Partner gegenseitig begrenzen, nicht absolut-unbedingter und unendlicher Ursprung sein. Und eben das heißt: Gott kann nur einzig, einmalig, ureinfach, unbedingt, unbegrenzt sein. Darin liegt zweifellos die große und einzigartige Erkenntnis der alten Hebräer, die sie mit keinem anderen Kulturvolk teilen 390 https://doi.org/10.5771/9783495808405 .
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(was zeigt, dass die abendländische Kultur auf zwei historischen Einmaligkeiten beruht: auf der griechischen Idee der Autonomie der Vernunft und auf der hebräischen Idee des absolut einen Gottes, von dem alles »heteronom« abhängt – welche uranfängliche Spannung!). Insofern die Gottheit als absolut-unbedingter Ursprung allen Seins anfanglos ist, ist sie ewig. Ein an Dauer unendliches Wesen hat aber (selbst wenn es sich um eine unendliche Zeit handeln sollte) notwendig einen unendlichen Inhalt. Das wiederum bedeutet, dass es vollständig ist, absolute Fülle, dass ihm weder etwas genommen noch etwas dazugegeben werden kann. Denn nur Endlichem, Werdendem kann etwas dazugegeben werden; Unendliches, das in seiner Fülle wesenhaft zugleich besteht, ist nicht vermehrbar. Das jedoch impliziert notwendig die Vollkommenheit dieses Urseins, und zwar in jeder Hinsicht. Kränkung, Rache, Zorn, Strafbedürfnis sind Zustände, die wesenhaft an einen Mangel, eine Entbehrung, eine Diskrepanz gebunden sind, z. B. an eine Verletzung, an eine erlittene Ungerechtigkeit usw. Da diese Zustände in sich selbst mangelhaft-leidvoller Natur sind, entbehren sie der Glückseligkeit und sind damit notwendig an eine endliche Grenze gebunden. Da das unendlich-vollkommene Urwesen aufgrund seiner totalen Seinsfülle als nur glückselig gedacht werden kann, können in ihm Akte und Zustände nicht vorkommen, die – wie der Zorn etc. – mit einem Zustand des Leids, der Unglückseligkeit, der Unzufriedenheit verknüpft sind. 21 Gott kann also gar nicht zornig, gekränkt, wütend, leidend, eifersüchtig, rachsüchtig sein, das lässt seine Wesensfülle nicht zu. Damit aber kann er auch nicht – im menschlichen Sinne – strafen, also direkt Leid zufügen, direkt schaden. Wohl kann er Leid zulassen, allerdings auch nur dann, wenn es die Erreichung eines höheren Gutes, eines höheren Glückes ermöglicht, wenn das Leid also ein relatives Gut ist. »Absolutes Leid« (wie es Adorno in »Auschwitz« sieht), »Gottesleid«, sei es im passiven, sei es im aktiven Sinne, ist darum unmöglich. Es liegt im Begriff der Gottheit als einem vollkommenen Wesen, dass es universal ist. Schon als Urgrund und Ursprung allen Seins kann die Gottheit nicht regional begrenzt und auf gewisse Kulturen, Nationen oder Partikularinteressen beschränkt werden. Gott kann daher Deshalb kann in der Gottheit auch kein Mitleid sein (wenn darunter echtes MitLeiden verstanden wird), sehr wohl aber Barmherzigkeit. In dieser muss kein Mangel sein, in jenem schon.
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nicht für irgendwelche egoistischen Interessen, gar für einen (Angriffs-)Krieg in Beschlag genommen werden. In Philosophenkreisen hört man nicht selten, dass der reinere Gottesbegriff jener sei, der von aller Personalität gereinigt ist, weswegen der Buddhismus mit seinem apersonalen Nirvana von Intellektuellen oft höher geschätzt wird als die klassischen Monotheismen. Der Gedanke, der dahinter steht, ist, dass alles Personale menschlicher, damit wesenhaft endlicher Natur sei. Ist das richtig? Das Gegenteil lässt sich aufweisen. 22 In einem ersten Schritt ist zu klären, ob das Göttliche aktiver oder passiver Natur ist. Die Entscheidung ergibt sich schnell: Da das Universum zweifelsfrei dynamisch-werdender Natur ist, kann sein Ursprung und Urgrund nicht total passiv sein. Wäre dieser nämlich total passiv, dann hätte das Universum, dann hätte alles werdende Sein nicht entstehen bzw. das Ursein nicht dessen Ursprung sein können. So folgt, dass auch der Urgrund zwar nicht zeitlicher, aber aktiv-dynamischer Natur sein muss. Ein Wesen nun, das aktiv, schaffend, hervorbringend ist und das nicht durch Anderes, sondern durch sich selbst zu dieser (ewig-zeitlosen) Aktivität bestimmt wird, muss sich erstens selbst ergreifen und muss sich zweitens, um sich ergreifen zu können, selbst wissen können (wäre es nämlich völlig blind, wie der Schopenhauersche Lebenswille, griffe es gleichsam an sich vorbei). Es muss also bewusst, ja selbst-bewusst sein! Ein Absolutes, das tätig ist, kann darum nur frei sein, d. h. sich selbst bestimmen können, nämlich zur Tätigkeit, was wiederum Bewusstsein impliziert, da ein freies Wesen nur frei ist, wenn es offen bestimmt ist, also auch eine bestimmte Tätigkeit unterlassen oder anders gestalten könnte. Ein aktives Absolutum muss daher Geist, sprich selbsttätig, frei und bewusst sein. Insofern es unendlich-zeitlos ist, kann seine selbstbewusste Selbstergreifung und Selbstbestimmung nur vollkommen sein, heißt, dieses Wesen nimmt sich selbst total an, schätzt sich uneingeschränkt, liebt sich vollkommen selbst und weiß sich darum in unendlicher Glückseligkeit. Das aber – Freiheit, Bewusstsein, Liebe und Glückseligkeit – sind die Grund- und Vollbestimmungen der Personalität, und also ist das Göttliche notwendig Person. Ein apersonales Absolutum widerVon phänomenologischer Seite betont Walther, Phänomenologie der Mystik, 173 ff., dass das Nicht-Erfassen der Personalität Gottes auf einen zu engen, endlichen Personbegriff zurückgeht, was durch die philosophische Analyse Brandensteins (Grundlegung, 440 ff.) bestätigt wird.
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spricht sich selbst und ist nicht bestehensfähig. Das Sein des Parmenides ist in seiner radikalen Ruhe mit der Dynamik der Welt nicht vereinbar; und der Gottheit des Aristoteles fehlt das Prinzip der lebendigen, schaffenden Liebe, ohne die die weltschöpferische, welterhaltende und welterlösende Gottheit nicht gedacht werden kann. Was das Verhältnis von Zeit und Zeitlosigkeit in Gott angeht, so erkennen wir, dass die Gottheit, insofern sie als Ursprung anfanglos und damit wesenhaft unendlich ist, dem Unendlichen aber nichts hinzugefügt werden kann, nicht werdend-zeitlicher Natur ist. Denn Zeit ist gerade das, was wird, also in derselben Richtung und Dimension ständig erweitert wird. Ja sie ist mit einem Noch-Nicht, mit einem Mangel verbunden und geht von diesem potentiellen Noch-Nicht in ein aktualisiertes Jetzt über. Als Noch-Nicht, als Potentialität setzt Zeit notwendig ein Wirkliches voraus (das die Potentialität ermöglicht und in Wirklichkeit überführt) und verlangt die anstehende Realisation. In der anfanglosen, heißt immer schon unendlichen, immer schon realen, nie nur potentiellen, also ewig seienden Gottheit kann es kein NochNicht, keinen Mangel, keine Potentialität geben, und also ist sie wesenhaft unzeitlich, unwerdend, also aktual und ewig. Die Identität von Gottheit und Welt ist damit ausgeschlossen. Die Gottheit steht nicht vor der Welt, sondern radikal ewig-unendlich – eben unendlich seinsranghöher – über der Welt. Alle Formen des Monismus, Pantheismus, Panentheismus und Emanatismus erweisen sich damit als unmöglich. Schlussendlich muss die Philosophie Stellung zur Frage nach der Vereinigungsmöglichkeit von Gott und Mensch nehmen und auf die Möglichkeit eines echten Gottmenschentums antworten. Dass nahezu alle Religionen an diese Möglichkeit in irgendeiner Weise glaubten, ist unzweifelhaft, und schon dies spricht dafür, dass der Mensch hier etwas Fundamentales erahnt. Und so ist es auch: Denn aus dem pU (potentialunendlichen) Wesen des Menschen, aus seiner prinzipiellen Offenheit und Unerschöpflichkeit lässt sich ableiten, dass er sein Wesen nur im aU, im Aktualunendlichen der Gottheit zur Erfüllung bringen kann. Eben deshalb, weil der Mensch über jede endliche Grenze, wenigstens geistig (gedanklich, imaginativ und liebend), hinausgehen kann, weil er das animal transzendens schlechthin ist, wird er sich im Endlichen nie beruhigen und nie erfüllen. Die Idee, sich mit der Gottheit zu vereinigen, entspringt also dem tiefsten – und damit existenziell schmerzhaften – Wissen, dass ein Fortschreiten, das nie im Überendlichen ankäme, mit einer letztlich ziellosen Wanderschaft identisch wäre und zur 393 https://doi.org/10.5771/9783495808405 .
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totalen Absurdität und Qual würde (Ahasver-Motiv). Wie aber soll die Vereinigung geschehen? Der Philosoph kann durchaus zeigen, dass sich der Mensch nicht aus eigener Kraft zur aU Gottheit erheben kann; er kann aber auch zeigen, dass sich Gott nicht verendlichen kann, da das Unendlich-Ewige nicht in Zeit übergehen und sich nicht zersplittern kann. Wie also dann? Nun, die Lösung, die einzigmögliche, muss lauten: Die Gottheit erhebt kraft ihrer Unendlichkeit das endliche Menschenwesen zu sich empor, verunendlicht also das Geschöpf und vereinigt sich dabei auf diese Weise mit ihm. Das Geschöpf kann dies nicht leisten, es kann und soll sich allerdings dafür vorbereiten und im entscheidenden Moment der Erhebung ganz öffnen und hingeben, also auch aktiv »mitgehen«. Zur totalen Vereinigung kommt es allerdings auch dann nicht bzw. nur in jenem Falle, wo sich die Gottheit mit einem ganz und gar lauteren Geschöpft vereinigt, in allen anderen Fällen vereinigt sich die Gottheit im Maße der Fassungskraft und der sittlichen Reinheit des betreffenden Geschöpfes. Die Idee eines einzigartigen Mittlers zwischen Mensch und Gott, die im Christentum ihren Höhepunkt erreichte, hat also auch philosophisch einen guten, ja notwendigen Vernunftgrund: Der reine, makellose Mensch, von Gott zur Gottheit erhoben und so vergöttlicht, ermöglicht und vermittelt die nie abschließbare Durchgöttlichung aller anderen, vom »Abfall« gezeichneten Geistgeschöpfe. Gott ist als Ursprung und Urgrund der werdenden Welt – so die Konklusion – wesenhaft dynamisch, aktiv, tätig, und zwar zeitlos-ewig mit unendlichem Inhalt, und also muss er absolute, d. h. unendlich bewusste, freie, liebende Geistperson sein, die mindestens die Aspekte Kraft, Bewusstsein, Liebe bzw. Tatwille, Vernunft, Gefühl umfasst. Weniger geht nicht, weniger ist nicht möglich. Darüber hinaus ist es sich Gott »schuldig«, seine Schöpfung zu ihrer höchst- und damit bestmöglichen Entfaltung zu bringen, was nur in einer Weise möglich ist: dass er sich mit ihr vereinigt, in der Spitze total, darunter in entsprechend pyramidaler Abstufung gleichsam bis hin zum »Nichts«, also zu jenen Geschöpfen, die mit Gott nicht vereinigt sein wollen und dann absolut solipsistisch für sich, d. h. in der »Hölle« der totalen Beziehungslosigkeit leben. Auch sie trägt er noch und lässt sie in ihrer Eigensphäre gewähren.
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Existiert aber Gott überhaupt? Oder anders: Kann die Philosophie über die kritische Prüfung hinaus, ob ein Gottesbegriff widerspruchsfrei und logisch konsistent ist, auch klären, ob Gott überhaupt existiert? Um das zu klären, muss die Philosophie zu ermitteln suchen, ob es ein Absolutum, ein unbedingtes bzw. nur selbstbedingtes Sein, ein ens a se überhaupt gibt. Denn eines ist apriori klar: Wenn Gott existiert, dann muss er absolut sein, heißt, muss der Ursprung und Urgrund allen Seins sein, während umgekehrt die Existenz eines Absolutums noch nicht garantiert, dass dies auch gotthaft, also personal ist. Somit ergeben sich zwei Fragen: 1. Gibt es ein absolutes, nur selbstbedingtes Sein? 2. Ist dieses Sein, dieses Ursein personal oder nicht? Die Religion kann diese Fragen rational nicht beantworten, zumal es zum einen Religionen gibt, die – wie der Buddhismus – überhaupt kein absolutes Sein, sondern nur bedingtes Sein kennen und eben deswegen im »Nichts« das Absolutum erblicken, und zum anderen Religionen bekannt sind, die zwar ein Seinsabsolutum kennen, diesem aber jegliche Personalität absprechen, so z. B. manche hinduistische Brahmanengruppen (vgl. die Upanischaden). Sollte die Philosophie für die Klärung dieser Fragen nicht geeignet sein (was heute die allgemeine Ansicht ist, der ich nicht beipflichte), dann allerdings gibt es überhaupt keine Möglichkeit, hier zu einer Klärung zu gelangen, dann bleibt nur die Abhängigkeit von Tradition, Autorität und persönlichem Glauben. Der Versuch, mittels Argumenten zu überzeugen, macht dann keinen Sinn mehr. Denn dass die Natur- und Geisteswissenschaften hier ungeeignet sind, liegt, da sie rein empirische Wissenschaften sind, die über transzendente Sachverhalte keine Aussagen machen können, auf der Hand.
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Emilie Tardivel
Die christliche πολιτεία als Problem. Kommentar zur Apologie des Justin
»Unsere Heimat (πολίτευμα) aber ist im Himmel. Von dorther erwarten wir auch Jesus Christus, den Herrn, als Retter.« Phil 3,20
Das Problem dieser Reflexion über die christliche πολιτεία besteht nicht darin, ob es eine christliche politische Lehre gibt, so wie es eine christliche Soziallehre gibt. Πολιτεία bedeutet hier zunächst Staatsbürgerschaft, verstanden als eine Weise, in einem Staat zu leben. Unter »christlicher πολιτεία« darf man also keine politische Regierungsform verstehen, die im eigentlichen Sinn christlich wäre, sondern die Weise, in der Christen innerhalb eines Staats leben – und in einem gewissen Sinn kann der Begriff der christlichen πολιτεία nichts anderes bezeichnen. »Mein Königtum ist nicht von dieser Welt«, wie Christus nach Joh 18,36 sagt. Weil die Christen zu Christus gehören, gehören sie einem Reich an, das nicht von dieser Welt ist. Sie gehören einem Reich an, das von Gott ist, wie die Welt selbst von ihm stammt und daher ihm zugehört. Daher haben die Christen keine eigene spezifische politische Lehre: »Christliche πολιτεία« bedeutet so wenig »christliche Republik« wie »christliche Monarchie« oder wie sonst eine vermeintlich christliche Regierungsform. Wenn sich hier ein Problem der christlichen πολιτεία stellt, dann nicht aufgrund einer politischen Lehre, auf die sich die christliche πολιτεία stützen würde – denn die Christen haben eine solche gar nicht, und in gewisser Weise dürfen sie das nicht einmal –, sondern gerade aufgrund des Fehlens einer solchen Lehre: Die Christen leben in einem Staat ohne ihm anzugehören, aber auch ohne eine konkurrierende politische Lehre zu unterstützen. Das ganze Geheimnis der christlichen πολιτεία liegt in dieser problematischen Situation, die im An Diognet so beschrieben wird: »Sie [die Christen] bewohnen ihre eigenen Hei397 https://doi.org/10.5771/9783495808405 .
Emilie Tardivel
matländer, aber als Beisassen. Sie nehmen an allem Teil als Bürger, und alles ertragen sie als Fremde. Jede Fremde ist ihr Heimatland, und jedes Heimatland eine Fremde.« 1 Die Christen vertreten nicht nur keine konkurrierende politische Lehre, sie erweisen sich darüber hinaus als ausgezeichnete Bürger, ja sogar – um einen Ausdruck Justins aufzugreifen – als »die nützlichsten (χρηστότατοι)« 2 Bürger. Das Problem der christlichen πολιτεία zeigt das Paradox des Bürgers auf, das man so fassen könnte: Je weniger der Bürger dem Staat gemäß lebt, desto nützlicher ist er ihm. Die Christen sind für den Staat die nützlichsten Bürger, weil sie die Bürger sind, die am wenigsten dem Staat gemäß leben. Die Christen sind im Staat, aber sie leben nicht gemäß dem Staat. Mit Bezug auf Röm 8,12–13 heißt es im An Diognet: »Sie befinden sich im Fleisch, aber sie leben nicht gemäß dem Fleisch.« 3 Die gesamte Apologie Justins besteht in gewisser Weise darin, den Römern dieses Paradox klarzumachen, indem er dieses Prinzip entfaltet: Die Christen sind für den Staat die nützlichsten Bürger, weil sie die Bürger sind, die sich am meisten anstrengen, »nach der Vernunft zu leben und das Böse zu meiden«. 4 Aber was heißt »nach der Vernunft leben und das Böse meiden«? Soll man in dieser Formel das Prinzip erkennen, das die lateinischen Väter mit der ersten Vorschrift des natürlichen Gesetzes identifiziert haben: »das Gute tun und das Böse meiden« 5? Justin greift nämlich auf den Begriff des »Gesetz[es] der Natur An Diognet V,5. (Übersetzung aus: An Diognet. Übersetzt und erklärt von Horacio E. Lona. Herder: Freiburg i. Br. 2001, 151). 2 Justin, Apologie I,4,1. (Vom Autor modifizierte Übersetzung aus: Bibliothek der Kirchenväter Bd. 1, Frühchristliche Apologeten. Und Märtyrerakten. Josef Kösel & Friedrich Pustet: Kempten/München 1932, 68). 3 An Diognet V,8. (A. a. O., 152). 4 Justin, Apologie II,7(8),2. (A. a. O., 146, modifiziert). 5 Siehe Ambrosius von Mailand, De paradiso 8, 39: »id quod malum est naturaliter nobis intellegimus esse vitandum et id quod bonum est naturaliter nobis intellegimus esse praeceptum« (»Wir verstehen unter dem, was natürlicher Weise schlecht ist, das zu Meidende, unter dem, was natürlicher Weise gut ist, das, was man tun soll.«); Thomas von Aquin, Summa Theologiae Ia IIae, qu. 94, art. 2: »Hoc est ergo primum praeceptum legis, quod ›bonum est faciendum et prosequendum, et malum vitandum‹« (»Das ist also die erste Vorschrift des Gesetzes ›das Gute ist zu tun und zu verfolgen, das Böse ist zu meiden‹«). Noch ursprünglicher ist Röm 12,9 (in der lateinischen Übersetzung): »Dilectio sine simulatione. Odientes malum, adhaerentes bono« (»Eure Liebe sei ohne Heuchelei. Verabscheut das Böse, haltet fest am Guten.« (Alle deutsch zitierten Bibelstellen sind der Einheitsübersetzung entnommen)). 1
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(φύσεωϚ νόμον)« 6 zurück, ohne diesen Begriff freilich systematisch in Beziehung zu jenem Prinzip zu setzen. Er ist sogar der erste der Väter, der nach Spanneut, »den Begriff des ›natürlichen Gesetzes‹ klar zur Geltung brachte«. 7 Das Problem der christlichen πολιτεία besteht folglich in einem doppelten Gehorsam: gegenüber den Gesetzen des Staats und gegenüber dem Gesetz der Natur. Diese Idee findet man auch im An Diognet: »Sie gehorchen den erlassenen Gesetzen, und mit der eigenen Lebensweise siegen sie über die Gesetze.« 8 Die Christen sind für den Staat die nützlichsten Bürger, weil sie die Bürger sind, die sich am meisten anstrengen, gemäß dem Gesetz der Natur zu leben, das heißt gemäß einer Lebensweise, die vollkommener ist als die Gesetze des Staats. Das Gesetz der Natur ist also kein Gesetz, das den Gesetzen des Staats entgegensteht, sondern im Gegenteil eine Lebensweise, die diese Gesetze vollendet. Es ist deswegen erstaunlich, wenn Kelsen, der immerhin einer der bedeutendsten Rechtstheoretiker des letzten Jahrhunderts ist, darin nur eine »inhaltslose Formel« 9 gesehen hat. Es geht in dieser Reflexion über die christliche πολιτεία nicht darum, zu untersuchen, ob die Christen eine politische Lehre oder eine Rechtslehre haben, sondern darum zu zeigen, dass das Ereignis, dessen Zeugen sie sind, sie dazu anhält, anders über ihr Verhältnis zum Gesetz, zum Recht und zum Staat zu denken: nicht indem sie von einer »inhaltslosen Formel« ausgehen (einem formalen Prinzip), noch von einem materialen Prinzip, sondern von einem negativen Prinzip. Dieses negative Prinzip ist nichts anderes als die Liebe selbst, verstanden im Sinne des »befremdlichen Erduldens (ὑπομονὴν ξένην)« 10, von dem Justin im Zusammenhang mit Christen vor dem Martyrium spricht, ein Sinn, der auch der Bestimmung der Liebe in 1 Kor 13,7 entspricht (»sie [die Liebe, ἀγάπη] erträgt alles [πάντα ὑπομένει]«), wie auch der Konzeption der christlichen πολιτεία im An Diognet: »alles ertragen
Justin, Apologie II,2,4. (A. a. O., 140). M. Spanneut, Le stoicisme des Pères de l’Église, Seuil: Paris 1969, 253. 8 An Diognet V,10. (A. a. O., 152, modifiziert). 9 H. Kelsen, »Die philosophischen Grundlagen der Naturrechtslehre und des Rechtspositivismus«, 256, in: Die Wiener Rechtstheoretische Schule. Schriften von Hans Kelsen, Adolf Merkl, Alfred Verdross. Bd. 2, hrsg. v. H. R. Klecatski, R. Marcic, H. Schambeck, Verlag Österreich: Wien 2010, 231–288. 10 Justin, Apologie I,16,4. (A. a. O., 82, modifiziert). 6 7
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sie als Fremde (πανθ’ ὑπομένουσιν ὡϚ ξένοι)« 11. Beim Durchgang durch die Lektüre der Apologie des Justin geht es also darum, zu zeigen, dass das Gesetz, auf das sich die christliche πολιτεία stützt, nicht in einem metaphysischen Prinzip wurzelt, sondern in einem negativen Prinzip, dessen Funktion eigentlich historisch ist: Das natürliche Gesetz ist das Gesetz, das die staatlichen Gesetze von innen her formt, um sie immer mehr einem Wort anzunähern, das den Menschen in ein wahrhaftes Subjekt des Gesetzes verwandelt – fähig alles zu ertragen (1 Kor 13,7) und bis zur Vollendung zu lieben (Joh 13,1).
1. Das Problem der doppelten Staatsbürgerschaft 1.1. Die Christen zwischen Himmel und Erde Wenn die christliche πολιτεία ein Problem darstellt, dann vor allem deswegen, weil sie eine doppelte Staatsbürgerschaft umfasst. Die Christen sind zugleich – aber nicht in derselben Hinsicht, wie wir noch sehen werden – Bürger der Erde, weil sie in einem der konstituierten Staaten der Welt leben, und Bürger des Himmels, weil sie auf das Kommen des Reichs Gottes hoffen. Im An Diognet heißt es: »Obwohl sie [die Christen] griechische und barbarische Städte bewohnen, wie es einen jeden traf, und den landesüblichen Sitten in Kleidung und Speise und im sonstigen Leben folgen, zeigen sie die erstaunliche und anerkanntermaßen eigenartige Beschaffenheit ihrer Lebensweise (πολιτεία).« 12 Die Christen haben also eine doppelte πολιτεία: Sie passen sich der πολιτεία des Staats an, aber sie haben auch eine πολιτεία, der sie wirklich angehören, und deren eigentliche Natur von außen schwer zu begreifen ist. Anders gesagt, es ist weniger die doppelte Staatsbürgerschaft der Christen an sich, die problematisch ist, als ihre spezifische πολιτεία selbst, für die es von außen keinen Begriff gibt: »Und so habt ihr auch, als ihr hörtet, dass wir ein Reich erwarten, ohne weiteres angenommen, wir meinten ein irdisches, während wir doch dasjenige bei Gott meinen« 13, wie Justin dem Kaiser erklärt. Der Bezug zu Joh 18,36 ist deutlich, wo Jesus Pilatus antwortet: »Mein Königtum ist 11 12 13
An Diognet V,5. (A. a. O., 151). An Diognet V,4. (A. a. O., 151). Justin, Apologie I,11,1.
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nicht von dieser Welt. Wenn es von dieser Welt wäre, würden meine Leute kämpfen, damit ich den Juden nicht ausgeliefert würde«. Dieser Bezug ist sogar noch deutlicher, wenn man Justins Argumentation weiterverfolgt: »Denn wenn wir ein irdisches Reich erwarteten, würden wir doch wohl leugnen, um nicht hingerichtet zu werden, und wir würden verborgen zu bleiben suchen, um zu erlangen, was wir erwarten.« 14 Wie nämlich das Kreuz die Vorstellung einer Konkurrenz zwischen dem Reich Christi und dem Reich des Kaisers ad absurdum führt, so widerspricht das Martyrium der Vorstellung einer Konkurrenz der beiden Staatsbürgerschaften der Christen. Das Martyrium gibt von innen her einen Begriff, der das Spezifische der christlichen πολιτεία als »gesättigtes Phänomen« bestimmen lässt, für das es von außen keinen Begriff gibt: 15 Das Martyrium macht deutlich, dass die »Heimat im Himmel« (Phil 3,20), auf die sich die Christen berufen, keine andere Staatsbürgerschaft ist, die in Konkurrenz zu einer irdischen Staatsbürgerschaft stünde, sondern eine andere Art die irdische Staatsbürgerschaft zu leben. Als Bürger des Himmels sind die Christen berufen, die irdische Staatsbürgerschaft gottgemäß zu leben, und nicht nur menschengemäß – um die Unterscheidung wiederzugeben, mit der Augustinus die paulinische Entgegensetzung dem Fleisch nach / dem Geist nach ersetzt (Vom Gottesstaat 14,1–4).
1.2. Die Welt als Gottesstaat Das Problem der christlichen πολιτεία ist also das Eingespanntsein zwischen Himmel und Erde. Man kann nicht von einer eigentlichen Konkurrenz zwischen den beiden Staatsbürgerschaften sprechen. Dennoch hat die Art, wie die Christen ihr Leben innerhalb des Staats leben, ohne ihm ganz anzugehören, Folgen für den Staat. Die wichtigste Folge ist eine Erweiterung des Staats auf die Ebene der Welt. Es ist Tertullian, der das in seinem Apologeticum am klarsten ausdrücken wird: »Wir aber, die wir hinsichtlich allen Brennens auf Ruhm und Ansehen kalt bleiben, haben freilich keinen Bedarf an einer Vereinigung, und keine Justin, Apologie I,11,2. (A. a. O., 20 f.). Wir wenden den Begriff des gesättigten Phänomens auf die christliche πολιτεία an. Dieser Begriff wurde von Jean-Luc Marion entwickelt, siehe besonders: Étant donné: essai d’une phénoménologie de la donation, PUF: Paris 1996, 280 ff.
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Sache ist uns fremder als das Staatswesen. Einen einzigen Staat für alle erkennen wir an, die Welt.« 16 Es lässt sich jedoch zeigen, dass diese Idee bereits bei Justin da ist: »Hassten und mordeten wir einander und hielten wir mit denen, die nicht unseres Stammes sind, wegen der verschiedenen Stammesgewohnheiten nicht einmal Herdgemeinschaft, so leben wir jetzt nach Christi Erscheinen als Tischgenossen zusammen.« 17 Was im kulturellen, religiösen und ethnischen Bereich gilt, gilt auch für die Sozioökonomie: »Wenn wir Geldmittel und Besitz über alles schätzten, so stellen wir jetzt, was wir haben, in den Dienst der Allgemeinheit und teilen jedem Dürftigen davon mit.« 18 Weil die Christen nicht auf eine spezielle Lebensart festgelegt sind, machen sie die Erweiterung des Staats zur Menschheit insgesamt möglich. Bestimmte Kommentatoren – zum Beispiel Spanneut – haben darin einen prägenden Einfluss des Stoizismus gesehen. Spanneut behauptet sogar, dass »die Väter oft ein System von Ideen errichtet haben, die mit der Bibel konform sind, dort aber nur implizit gefunden werden können.« Und er fügt an: »Sie alle [diese Ideen] scheinen einem Vertrauen in die natürlichen Kräfte des Menschen zu entstammen. Oft sind sie mit dem wesentlichen antiken Stoizismus verwandt.« 19 Lassen wir das natürliche Gesetz einmal beiseite, auf das wir noch zurückkommen werden, so kann man sich jedoch fragen, was hier implizit sein soll, beispielsweise in der Apostelgeschichte, besonders in der Passage, auf die Justin sich bezieht: »Und alle, die gläubig geworden waren, bildeten eine Gemeinschaft und hatten alles gemeinsam. Sie verkauften Hab und Gut und gaben davon allen, jedem so viel, wie er nötig hatte.« 20 Die Väter bedienen sich nicht des Stoizismus, um das, was in der Bibel nur implizit enthalten wäre, zu explizieren, sondern um zu zeigen, dass die Evangelien die praktische Anwendung dessen beschreiben, was der Stoizismus im Stand einer bloßen Theorie belassen hat. Deshalb geschieht die Aufnahme von Begriffen des Stoizismus nie ohne eine Transformierung ihres Sinnes im Licht des Ereignisses, das die UnterTertullian, Apologeticum 38,3. (Übersetzung aus: Tertullian, Apologeticum. Übers. und erkl. von T. Georges. Herder: Freiburg 2011, 538). 17 Justin, Apologie I,14,3. (A. a. O., 78). 18 Justin, Apologie I,14,2. (A. a. O., 78). 19 M. Spanneut, Le stoïcisme des Pères de l’Église, 257. 20 Apg 2, 44–45. Und in Röm 10,12 steht: »Darin gibt es keinen Unterschied zwischen Juden und Griechen. Alle haben denselben Herrn; aus seinem Reichtum beschenkt er alle, die ihn anrufen.« 16
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scheidungen außer Kraft setzt und den Staat zur Menschheit insgesamt erweitert: das Erscheinen Christi bei allen und für alle.
2. Die Nützlichkeit der Christen, ein Paradox? 2.1. Die befremdliche Loyalität der Christen Obwohl das Erscheinen Christi eine Art »ἐποχή ohne Reduktion« 21 bewirkt, indem es die Unterscheidungen außer Kraft setzt und den Staat zur Menschheit insgesamt erweitert, sind die Christen nichtsdestotrotz extrem loyal gegenüber dem Staat und den Autoritäten, die ihn regieren. Dieses Paradox verstärkt den Gedanken, dass die christliche πολιτεία sich nicht auf eine konkurrierende politische Lehre stützt. Aber diese Loyalität ist sozusagen befremdlich, weil die Christen die Götter des Staats, und damit die Logik, auf der er gegründet ist, nicht anerkennen. Dieses Paradox ist im An Diognet explizit formuliert: »Sie nehmen an allem Teil als Bürger, und alles ertragen sie als Fremde.« 22 Die erste Bürgerpflicht, die zu ertragen ist, ist neben der Beachtung der Gesetze, das Zahlen von Steuern. Im Anschluss an Paulus (Röm 13,7: »Gebt allen, was ihr ihnen schuldig seid, sei es Steuer oder Zoll«), und ursprünglicher Christus (Mt 22,21: »So gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gehört, und Gott, was Gott gehört!«) besteht Justin auf diese Verpflichtung und auf die vorbildliche Befolgung durch die christlichen Bürger: »Abgaben und Steuern suchen wir überall vor allen anderen euren Beamten zu entrichten, wie wir von ihm [Christus] angeleitet worden sind.« 23 Das Zahlen der Steuern leistet eine doppelte Rechtfertigung: Es geht nicht nur um einen finanziellen Beitrag für die öffentlichen Dienste (Justiz, Gewalt, Verwaltung usw.), sondern um die Bezeugung von Anerkennung gegenüber der örtlichen Macht. Es ist nicht nur eine Frage der öffentlichen Nützlichkeit, sondern auch und vielWir wenden hier auf das Erscheinen Christi den Begriff der ἐποχή ohne Reduktion an, der von Patočka entwickelt wurde, denn dieser Begriff beschreibt, zugleich existentiell wie historisch, das, was dieses Erscheinen bewirkt: das Kommen einer universellen Gemeinschaft in und durch die Außerkraftsetzung partikularer Interessen. Siehe E. Tardivel, La liberté au principe: essai sur la philosophie de Patočka, Vrin: Paris 2011, 183 ff. 22 An Diognet V,5. (A. a. O., 151). 23 Justin, Apologie I,17,1. (A. a. O., 83). 21
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leicht vor allem eine der Loyalität gegenüber den staatlichen Autoritäten. Wie Paulus in Röm 13,1–6 erklärt: »Jeder leiste den Trägern der staatlichen Gewalt den schuldigen Gehorsam. Denn es gibt keine staatliche Gewalt, die nicht von Gott stammt; jede ist von Gott eingesetzt. […] Das ist auch der Grund, weshalb ihr Steuern zahlt; denn in Gottes Auftrag handeln jene, die Steuern einzuziehen haben.« Noch vor dem gemeinschaftlichen Nutzen gründet sich die christliche Loyalität also im paulinischen Wort, gemäß dem »es keine staatliche Gewalt [gibt], die nicht von Gott stammt.« Man kann sich jedoch fragen, ob dieses Wort wirklich von denen aufgenommen werden kann, die ungerechte Verfolgungen durch eben jene Autorität erleiden, die sie eigentlich anerkennen sollen. Es ist sicherlich extrem schwierig, eine Autorität anzuerkennen, die Ungerechtigkeit begeht. Aber der christliche Anspruch besteht hier darin, nach griechischen Philosophen (besonders Demokrit, Sokrates und Platon 24), zu behaupten, dass es besser ist, eine Ungerechtigkeit zu erleiden als sie zu begehen. Die Autorität, selbst eine ungerechte, nicht anzuerkennen, bedeutet, nicht jedem sein Recht zu geben (jus suum cuique reddere), das heißt die Idee der Gerechtigkeit nach Paulus (»reddite omnibus debita« 25) zu missachten, wie auch die Idee der Gerechtigkeit nach den römischen Philosophen und Juristen (vor allem Cicero und Ulpian 26). Die Autorität, selbst eine ungerechte, nicht anzuerkennen, bedeutet also, seinerseits eine Ungerechtigkeit zu 24 Demokrit, B XLV (Die Fragmente der Vorsokratiker (griech. und dt., übers. H. Diels) Bd. 2, Weidmannsche Verlagsbuchhandlung: Frankfurt a. M. 1952, 156.) »Wer Unrecht tut ist unseliger als wem Unrecht geschieht.« Siehe auch Platon, Gorgias 469c ff. 25 Röm 13,7. 26 Diese Idee der Gerechtigkeit taucht zuerst in Platons Politeia IV, 433a auf, in der Formulierung »τὸ τὰ αὑτοῦ πράττειν« (»das Seine tun«): »τὸ τὰ αὑτοῦ πράττειν καὶ μὴ πολυπραγμονεῖν δικαιοσύνη ἐστί« (»Die Gerechtigkeit besteht darin, das Seine zu tun und sich nicht einzumischen.«) Sie wird von Cicero aufgenommen und modifiziert in De legibus I,19 in der Formulierung »suum cuique tribuere« (»jedem das seine zuteilen«), wo er den Übergang von einer moralischen Perspektive in eine im eigentlichen Sinn juristische durchführt: »Eamque rem [lex] illi Graeco putant nomine a suum cuique tribuendo appellatam« (»diese Sache [das Gesetz], glauben jene, sei mit griechischem Namen nach dem ›Jedem-das-Seine-Geben‹ geheißen worden«, Übersetzung aus Cicero, Über die Gerechtigkeit (Übers., Anmerkungen und Nachwort von K. Büchner. Stuttgart: Reclam 1983, 13). Man findet sie schließlich im Codex Juris I,1,10 unter der Formulierung »jus suum cuique tribuere«, die sich auf die Definition von Ulpian stützt: »Iustitia est constans et perpetua voluntas ius suum cuique tribuendi« (»Gerechtigkeit ist der beständige und andauernde Wille, jedem sein Recht zuzuteilen«). Eine Formulierung, die genau der Wortwahl des Paulus in Röm 13,7 (»jus suum
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begehen. Die Loyalität der Christen erklärt sich so durch strikte Beachtung der Gerechtigkeit, so wie Paulus sie in der Nachfolge Christi lehrt – wie sie aber auch von den römischen Philosophen und Juristen im Anschluss an die Griechen gedacht wurde.
2.2 Die negative Nützlichkeit der Christen Durch ihre strikte Beachtung der Gerechtigkeit erweisen sich die Christen als extrem nützlich für den Staat. Justin betont mehrfach diese extreme Nützlichkeit der Christen mit Rückgriff auf ein Wortspiel, das ihm erlaubt, Gegenposition zum gegen sie erhobenen Vorwurf zu beziehen: »Eine Namensbezeichnung ist weder ein gutes noch ein schlechtes Kriterium, wenn man von den dem Namen zugrundeliegenden Handlungen absieht. Übrigens, soweit es auf den uns beigelegten Namen (χριστιανοὶ) ankommt, sind wir die nützlichsten (χρηστότατοι) Leute.« 27 Und etwas weiter: »Denn wir werden angeklagt Christen zu sein; das Nützliche (χρηστὸν) aber zu hassen, ist nicht recht.« 28 Aber auch abgesehen von diesem Wortspiel vertritt Justin, dass gerade die Christen die besten Bürger zur Unterstützung der Autoritäten sind, wenn es um die Realisierung eines der für die Römer wichtigen, wenn nicht des wichtigsten Ziels der politischen Ordnung überhaupt geht: den Frieden. Das Christentum impliziert eine Verinnerlichung der Verpflichtung, sodass die Beachtung des Gesetzes nicht mehr die Folge eines externen Zwangs, der Gewalt, sondern eines internen Zwangs, des Gewissens, ist: »Ihr habt in der ganzen Welt keine besseren Helfer und Verbündeten zur Aufrechterhaltung der Ordnung als uns, die wir solches lehren, wie, dass ein Betrüger, Wucherer und Meuchelmörder so wenig wie ein Tugendhafter Gott verborgen bleiben könne und dass ein jeder ewiger Strafe oder ewigem Heile nach Verdienst seiner Taten entgegengehe.« 29 Man findet hier Röm 13,3–5 wieder: »Willst du also ohne Furcht vor der staatlichen Gewalt leben, dann tue das Gute, so dass du ihre Anerkennung findest. Sie steht im Dienst Gottes und ver-
cuique reddere«) entspricht, findet sich jedoch erst im 17. Jhd. Siehe vor allem M. Villey, Philosophie du droit, Dalloz: Paris 2001, 111. 27 Justin, Apologie I,4,1. (A. a. O., 67 f., modifiziert). 28 Justin, Apologie I,4,5. (A. a. O., 68, modifiziert). 29 Justin, Apologie I,12,1. (A. a. O., 75).
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langt, dass du das Gute tust. Wenn du aber Böses tust, fürchte dich!« Und Paulus schließt: »Deshalb ist es notwendig, Gehorsam zu leisten, nicht allein aus Furcht vor der Strafe, sondern vor allem um des Gewissens willen.« Mit anderen Worten, die Christen sind extrem nützlich für den Staat oder vielmehr für die Autoritäten, die ihn regieren, weil sie deren Legitimität verstärken, indem sie ihnen helfen, das zu realisieren, für das sie eingesetzt sind. Es handelt sich dabei jedoch um eine negative Nützlichkeit, weil die Christen durch den Kontrast mit ihrer eigenen strengen Befolgung der Gerechtigkeit die Ungerechtigkeit der Autoritäten ans Licht bringen. Wie Justin dem Kaiser Antoninus Pius und dessen Söhnen Verissimus (Mark Aurel) und Lucius andeutet: »Ihr nun hört allenthalben, dass ihr Fromme und Weise, Wächter des Rechtes und Freunde der Bildung genannt werdet; ob ihr es aber auch seid, wird sich zeigen.« 30 Und er klagt sie an: »Doch es sieht so aus, als besorgtet ihr, es möchten alle das Rechte tun und ihr hättet dann nichts mehr zu bestrafen; aber das wäre ein Standpunkt, der wohl Henkern anstände, nicht aber guten Fürsten.« 31 Wenn alle Autorität von Gott kommt, dann ist nicht alle Autorität Gott selbst. Die Christen lassen diesen Abstand deutlich werden durch die strikte Beachtung der römischen (und christlichen) Idee der Gerechtigkeit: jedem sein Recht geben (jus suum cuique reddere), dem Kaiser den Gehorsam und Gott den Lobpreis. Von daher die Unterscheidung: »Darum beten wir zwar Gott allein an, euch aber leisten wir im übrigen freudigen Gehorsam, indem wir euch als Könige und Herrscher der Menschen anerkennen und beten, dass ihr nebst eurer Herrschermacht auch im Besitze vernünftiger Einsicht erfunden werdet.« 32 Durch ihre strikte Beachtung der römischen Idee der Gerechtigkeit bringen die Christen die Unterscheidung offen ans Licht, die die römischen Autoritäten tendenziell verleugnen, um ihre Legitimität zu steigern, die Unterscheidung zwiJustin, Apologie I,2,2. (A. a. O., 66). Justin, Apologie I,12,4. (A. a. O., 75). 32 Justin, Apologie I,17,3. (A. a. O., 83). Diese Unterscheidung wird vor allem von Augustinus aufgenommen, der sie ausdrücklich auf die strikte Beachtung der römischen (und christlichen) Idee der Gerechtigkeit zurückführt: »Nun ist Gerechtigkeit die Tugend, die jedem das Seine gibt. Was ist das aber für eine Gerechtigkeit unter Menschen, welche die Menschen selber dem wahren Gott entzieht und unreinen Dämonen unterstellt?« Siehe Augustinus, Vom Gottesstaat 19,21. (Vollständige Ausgabe in einem Band, übertr. von W. Thimme, eingeleitet und kommentiert von C. Andresen. DTV: München 2007, 567). 30 31
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schen Gehorsam und Verehrung – zwischen ihnen und Gott. Die paradoxe, negative Nützlichkeit der Christen besteht in dieser Wendung der römischen Idee der Gerechtigkeit gegen die römischen Autoritäten selbst.
3. Die Negativität des natürlichen Gesetzes 3.1. Christusgemäß leben, das Böse meiden Die christliche Idee der Gerechtigkeit enthält sicherlich die römische – aus diesem Grund können sich die Christen in ihrer Argumentation gegen die römischen Autoritäten darauf berufen –, aber man muss klar sehen, dass sie sich nicht darauf reduzieren lässt. Die Christen ordnen nämlich das Prinzip »jedem sein Recht geben« dem Prinzip »gemäß der Vernunft leben, das Böse meiden« unter, wobei sie die Vernunft (λόγοϚ) mit Christus selbst identifizieren. Die christliche Idee der Gerechtigkeit antwortet folglich dem Prinzip »Christusgemäß leben, das Böse meiden«, das das Prinzip »jedem sein Recht geben« integriert. Diese Unterordnung, die sich auf Röm 12,9 stützt (»eure Liebe sei ohne Heuchelei. Verabscheut das Böse, haltet fest am Guten!«) ist sehr explizit im zweiten Teil der Apologie: »Denn wie wir gezeigt haben, haben die Dämonen immer darauf hingearbeitet, dass die, welche irgendwie nach der Vernunft zu leben (κατὰ λόγον βιοῦν) und das Böse zu meiden (κακίαν φεύγειν) suchten, gehasst wurden.« 33 Wobei klar die Vernunft mit Christus selbst identifiziert wird: »Daher ist offenbar unsere Religion erhabener als jede menschliche Lehre, weil der unsertwegen erschienene Christus die ganze Vernunft (λογικὸν τὸ ὅλον) ist […].« 34 »Gemäß der Vernunft leben, das Böse meiden«, was dann in der Form »das Gute tun, das Böse meiden« 35 explizit das erste Gebot des natürlichen Gesetzes bei den lateinischen Vätern wird, bedeutet nichts anderes als »Christusgemäß leben, das Böse meiden«. Weit davon entfernt eine »inhaltslose Formel« 36 zu sein, um noch einmal die Worte Kelsens aufzugreifen, drückt »gemäß der Vernunft leben, das Böse meiden« 33 34 35 36
Justin, Apologie II,7(8),2. (A. a. O., 147, modifiziert). Justin, Apologie II,10,1. (A. a. O., 150, modifiziert). Siehe Anm. 5. Siehe Anm. 9.
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also den Imperativ aus, Christus und seinem Beispiel zu folgen. Natürlich ist die Bestimmung des natürlichen Gesetzes im Ausgang vom Prinzip »gemäß der Vernunft leben, das Böse meiden« keine Erfindung des Justin. Eine Skizzierung davon findet man bei Platon, obwohl er nie den Ausdruck natürliches Gesetz (νόμοϚ κατὰ φύσιν) verwendet, der eher auf die Thesen der Sophisten – Kallikles und Gorgias – verweist. Aber es gibt eine Passage in den Nomoi, wo Platon beabsichtigt, das natürliche Gesetz neu zu gründen auf ein Prinzip, das genauso mächtig wie die Natur ist: die rechte Vernunft (κατὰ λόγον ὀρθόν). 37 Man findet dann eine Stelle in der Rhetorik des Aristoteles, aber hier wird das natürliche Gesetz einfach als das gemeinschaftliche, universale Gesetz bestimmt, nicht als Gesetz der rechten Vernunft: »Unter dem gemeinschaftlichen Gesetz verstehe ich das natürliche Gesetz (κοινὸν δὲ τὸν κατὰ φύσιν)«. 38 Erst in Ciceros De re publica wird das natürliche Gesetz ausdrücklich mit dem Gesetz der rechten Vernunft verschmolzen: »Es ist aber das wahre Gesetz die rechte Vernunft (recta ratio), die mit der Natur in Einklang steht, sich in alle ergießt […].« 39 Justin ist also sicher nicht der Erfinder der Definition des natürlichen Gesetzes im Ausgang von der rechten Vernunft. Seine Innovation besteht darin, diese rechte Vernunft mit Christus zu identifizieren und dann das natürliche Gesetz im Ausgang von dieser Identifikation neu zu denken. Dies wird deutlich, wenn er die Geschichte einer bekehrten Frau erzählt, die ihren Mann verstößt, weil dieser sich selbst nicht bekehren will: »Sie [war] züchtig geworden und suchte nun auch ihren Mann zu einem züchtigen Wandel zu bewegen, indem sie ihm die Lehren [Christi] vorlegte und die Strafe vorhielt, die den Unzüchtigen und gegen die rechte Vernunft (λόγου ὀρθοῦ) Lebenden im ewigen Feuer bevorsteht.« 40 Und um die Verstoßung des störrischen Ehemanns zu rechtfertigen, betont Justin: »Denn da die Frau es für Sünde hielt, fürderhin mit dem Manne das Lager zu teilen, der gegen das Gesetz der Natur (φύσεωϚ νόμον) und gegen alles Recht (δίκαιον) auf jede Weise seine Wollust zu befriedigen suchte, wollte sie sich vom Ehebande tren-
Platon, Nomoi 10, 889d f. Aristoteles, Rhetorik 1, 1373b. 39 Cicero, De re publica III, 22(33). (Übersetzung aus: Cicero, De re publica. Vom Gemeinwesen, lat.-dt., übers. und hrsg. von K. Büchner, Reclam: Stuttgart 1979, 281, modifiziert.) 40 Justin, Apologie, II,2,2. (A. a. O., 140, modifiziert). 37 38
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nen.« 41 Der zweite Teil der Apologie bietet so eine der ersten Neudefinitionen des natürlichen Gesetzes als Gesetz Christi.
3.2. Sich selbst Gesetz sein Es bleibt noch die Frage, wie man dieses Gesetz Christi, das die christliche πολιτεία regiert, bestimmen soll. Dieses Problem sprengt sicherlich den Rahmen der Apologie, und wir müssen uns daher dem Dialog mit Tryphon zuwenden, um es zu lösen – oder vielmehr um es zu stellen, denn es könnte sein, dass es keine Lösung zulässt, zumindest keine positive Lösung – es könnte sein, dass die Definition des Gesetzes Christi und damit des natürlichen Gesetzes in seiner Undefiniertheit, in seiner Negativität selbst besteht. Justin sagt nämlich: »Als ewiges und endgültiges Gesetz ist uns Christus gegeben, und verlassen können wir uns auf den Bund, dem kein Gesetz, keine Verordnung, kein Gebot folgt.« 42 Das Gesetz Christi erscheint so paradoxerweise als Verneinung des Gesetzes. Das Gesetz Christi könnte dann nicht definiert werden, weil es kein neues Gesetz, keine neue Verordnung, kein neues Gebot einführen würde, sondern im Gegenteil alle Gesetze, Verordnungen und Gebote radikal abschaffen würde. Man muss allerdings die zitierte Passage in den Kontext des Dialogs mit dem Rabbi Tryphon zurück versetzen und sehen, dass Justin hier mit »Gesetz« zunächst das alte Gesetz, das jüdische Gesetz meint. Christus hätte demzufolge also nicht radikal jedes Gesetz aufgehoben, sondern die Gesetze, Verordnungen und Gebote des alten Bundes, wie zum Beispiel die Beschneidung und den Sabbat. Zugleich ist es unangemessen von einer radikalen Abschaffung zu sprechen, da es sich präzise um eine Erfüllung handelt. Das Gesetz Christi ist keine Negation, sondern eher eine Einklammerung, eine Aussetzung des Gesetzes, die ihm das Moment der Gültigkeit nimmt, wie man es in Mt 22,36–40 findet: »Meister, welches Gebot im Gesetz ist das wichtigste? Er antwortete ihm: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all deinen Gedanken. Das ist das wichtigste und erste Gebot. EbenJustin, Apologie, II,2,4. (A. a. O., 140). Justin, Dialog mit Tryphon 11,2. (Übersetzung aus: Justinus, Dialog mit dem Juden Tryphon, übers. Ph. Haeuser, neu hrsg. v. K. Greschat u. M. Tilly, Marix: Wiesbaden 2005, 55).
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so wichtig ist das zweite: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. An diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz samt den Propheten (ὅλοϚ ὁ νόμοϚ κρέμαται).« Christus spricht hier wohlverstanden weder von einer Aussetzung noch von einer Einklammerung noch von einer phänomenologischen ἐποχή. Er beschreibt nichtsdestotrotz ein gemeinschaftliches Phänomen: Sein Kommen setzt alle Gebote in Klammern und manifestiert die Gebote, die sich dieser Einklammerung widersetzen, das heißt die Liebe zu Gott und zum Nächsten. Das Gesetz Christi befreit also den Menschen vom Gesetz, nicht in dem Sinn, dass es das ganze Gesetz abschaffen würde, sondern in dem Sinn, dass es das Gesetz auf sein Wesen zurückführt. Die Liebe zu Gott und zum Nächsten sind richtig gesagt keine Gebote, sondern das Wesen der Gebote, das natürliche Gesetz selbst, das Gesetz der gesamten Menschheit, nicht mehr nur das Gesetz eines Volkes – in diesem Fall des jüdischen. Die ἐποχή, die man, um einen Ausdruck Jean-Luc Marions aufzugreifen, eine »erotische« 43 ἐποχή nennen könnte – weil sie das Gesetz auf die Liebe zurückführt, indem sie die Gebote aussetzt –, ist also zugleich eine »ἐποχή ohne Reduktion« 44 – weil sie das Gesetz naturalisiert, das heißt universalisiert, indem sie es auf die Liebe zurückführt. Paulus schreibt in Röm 2,14: »Wenn Heiden, die das Gesetz nicht haben, von Natur aus das tun, was im Gesetz gefordert ist, so sind sie, die das Gesetz nicht haben, sich selbst Gesetz (ἑαυτοῖϚ εἰσιν νόμοϚ).« Das Gesetz Christi ist also kein Gesetz, das der Mensch hat, sondern ein Gesetz, das der Mensch ist, ein Gesetz, durch das der Mensch sich selbst Gesetz ist, und daher ein Gesetz, durch das der Mensch frei, autonom ist. Justin erklärt: »Da Gott wollte, dass Engel und Menschen seinem Willen gehorchen, wollte er dieselben, damit sie gerecht handeln (πρὸϚ δικαιοπραξίαν), autonom (αὐτεξουσίουϚ) machen, ihnen, damit sie wissen, wer sie erschaffen hat, und um wessen willen sie aus dem Nichts ins Dasein gerufen worden sind, Vernunft (λόγου) geben und ein Gesetz (νόμου), damit sie gerichtet werden, wenn sie gegen die rechte Vernunft (ὀρθὸν λόγον) handeln. Wir selbst, Menschen wie Engel, werden uns selbst verurteilen, wenn wir sündigen und uns nicht rechtzeitig bekehren.« 45 Siehe J.-L. Marion, Das Erotische. Ein Phänomen. Sechs Meditationen. Übers. A. Letzkus, Karl Alber: Freiburg/München 2011. 44 Siehe Anm. 21. 45 Justin, Dialog mit Tryphon 141,1. (A. a. O., 267, modifiziert). Siehe auch Justin, Apo43
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So wie die Staatsbürgerschaft des Himmels der irdischen Staatsbürgerschaft nicht widerspricht, so widerspricht das Gesetz Christi nicht den positiven Gesetzen, denn es hat selbst keinen positiven Inhalt: Das Gesetz Christi hat keinen a priori bestimmten Inhalt, außer dem Imperativ zu lieben. Aber es reduziert sich auch nicht auf eine »inhaltslose Formel« 46, wie Kelsen es verstand. Der Imperativ zu lieben ist der Imperativ, Christusgemäß zu leben. Das Gesetz Christi ist also überhaupt kein leeres Gesetz, sondern ein lebendiges Gesetz. Justin erklärt: »Als ewiges und endgültiges Gesetz ist uns Christus gegeben.« 47 Das Gesetz Christi ist also Christus selbst – das »leibhaftige Gesetz«, um es so auszudrücken. So wie das Gesetz der Natur, ist auch das Gesetz Christi keines, das man hat, sondern ein Gesetz, das man ist. Deswegen wird der Mensch, der das Gesetz Christi empfängt dieses Gesetz und so wird er sich selbst zum Gesetz. Justin trifft sich hier mit Paulus in Röm 2,14 »sie [sind …] sich selbst Gesetz (ἑαυτοῖϚ εἰσιν νόμοϚ)«, aber auf überraschende Weise auch mit Aristoteles, der durch das gleiche Charakteristikum – »sich selbst Gesetz sein« – die tugendhaftesten, hervorragendsten, anders gesagt nützlichsten Bürger bestimmt: »Der freie und gebildete Mann wird sich nun von selbst so verhalten, indem er sich selbst gleichsam Gesetz ist (οἷον νόμοϚ ὢν ἑαυτῷ).« 48 Dieses Charakteristikum findet man nicht nur in der Nikologie II, 6(7),5. Diese Identifikation des Gesetzes mit der rechten Vernunft und noch genauer mit dem moralischen Gewissen, das universal geteilt wird, entspricht auch der Augustinischen Definition des Gesetzes, wie sie von Walter Schweidler in einem kürzlich erschienenen Buch über die Würde beschrieben wird: »Das Gewissen ist das Gesetz, das uns – und das heißt allen Menschen – ins Herz geschrieben ist: Dies ist die dann mit Aurelius Augustinus klassisch gewordene Definition [Enarratio in psalmos LVII, 1: »Quandoquidem manu formatoris nostri in ipsis cordibus nostris veritas scripsit: ›Quod tibi non vis fieri, ne facias alteri‹«].« Siehe W. Schweidler, Über Menschenwürde, Springer VS Verlag: Wiesbaden 2012, 84. 46 Siehe Anm. 9. 47 Justin, Dialog mit Tryphon 11,2. (A. a. O., 55). 48 Aristoteles, Nikomachische Ethik IV,14. 1128a 30. (Übersetzung aus: Aristoteles, Nikomachische Ethik, nach der Übers. von E. Rolfes bearb. von G. Bien. Meiner: Hamburg 1995, 97.) Man findet diese Vorstellung schon bei Platon, wenn auch nicht in genau der gleichen Formulierung: »Sollte daher einmal ein Mensch unter besonderer göttlicher Fügung geboren werden[,] welchem von Natur die Fähigkeit einwohnte jenen Grundsatz zu erfassen (und festzuhalten), so würde es für ihn keiner ihn beherrschenden Gesetze bedürfen. Denn kein Gesetz und keine Ordnung steht höher als die Einsicht, und es ist nicht recht[,] dass die Vernunft die Untertanin oder Sklavin von irgendetwas sei, sondern vielmehr dass sie über Alles herrsche, wenn anders ihr Wesen doch
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machischen Ethik, sondern auch in der Politik: »Hieraus erhellt auch, dass die Gesetzgebung nur für solche da ist, die an Geschlecht und Befähigung gleich sind, und dass es dagegen für solche Männer kein Gesetz gibt; denn sie sind sich selbst Gesetz (αὐτοὶ γάρ εἰσι νόμοϚ).« 49 Diese erstaunliche Übereinstimmung erlaubt die Stärke und Stimmigkeit von Justins Argumentation in der Apologie zu zeigen: Weil die Christen sich selbst Gesetz sind, sind sie die nützlichsten Bürger des Staats. Das philosophische Argument, an den Philosophen-Kaiser gerichtet, ist hier unwiderlegbar: Warum soll man die Christen verurteilen, wo sie doch gemäß dem Philosoph selbst, als diejenigen, die sich selbst Gesetz sind, die nützlichsten Bürger sind? Man kann noch weiter gehen: Warum soll man die Christen verurteilen, wo sie selbst doch per definitionem Philosophen sind, indem sie sich selbst Gesetz sind? Für Aristoteles – und vielleicht noch mehr für Platon 50 –, ist der beste Bürger nämlich Philosoph. Zu sagen, dass die Christen sich selbst Gesetz sind, heißt also zu sagen, dass die Christen die Philosophen par excellence sind. Es gibt so keinen Widerspruch zwischen Christentum und Philosophie, ganz im Gegenteil: Jeder Christ ist per definitionem Philosoph – weil er sich selbst Gesetz ist –, und man kann sogar vertreten, dass jeder Philosoph Christ ist – weil er gemäß dem λόγοϚ lebt, und also gemäß Christus. Justin sagt nämlich: »Daher waren auch die, welche vorher ohne λόγοϚ gelebt haben, schlechte Menschen (ἄχρηστοι), Feinde Christi und Mörder derer, die mit λόγοϚ lebten, wohingegen, wer mit λόγοϚ gelebt hat und noch lebt, Christ ist.« 51 Die Argumentation erreicht hier ihren Höhepunkt: Indem er die Christen verurteilt, verurteilt der Philosophen-Kaiser sich selbst, nicht nur als Philosoph, sondern auch als Christ. Daher besteht die christliche Haltung darin, keinen Widerstand zu leisten, sondern den λόγοϚ im Staat wirken zu lassen, damit die Gesetze des Staats immer mehr einem Wort angegli-
eben die Wahrheit und Freiheit leibhaftig ist.« Nomoi 875 c-d (Übersetzung aus Platon, Sämtliche Werke, Bd. 9, Insel Verlag: Frankfurt a. M./Leipzig 1991, 747 f.). 49 Aristoteles, Politik III,13. 1284a 10. (Übersetzung aus: Aristoteles, Politik, Übers. von E. Rolfes. Meiner: Hamburg 1995, 106.) 50 Siehe Platon, Politeia 503 b. 51 Justin, Apologie I, 46,4. (A. a. O., 113, modifiziert). Man findet diesen Gedanken auch im Dialog mit Tryphon 45,4 (a. a. O., 106): »Wer das, was allgemein, von Natur und ewig gut ist, tat, ist Gott wohlgefällig und wird deshalb durch unseren Christus bei der Auferstehung wie die früheren Gerechten […] gerettet.«
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chen werden, das den Menschen in ein wahrhaftes Subjekt des Gesetzes verwandelt – fähig alles zu ertragen (1 Kor 13,7) und bis zur Vollendung zu lieben (Joh 13,1).
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Lex libertatis – Überlegungen zu einer paradoxen Denkfigur und ihrer Bedeutung im politischen Denken Wilhelms von Ockham Wilhelm von Ockham (ca. 1285–1347) zählt zu den umstrittenen Klassikern des theologischen, philosophischen und politischen Denkens. Umstritten war er schon im Mittelalter und ist es bis in unsere Zeit geblieben. Ein bekannter Zeitgenosse, der Regensburger Domherr Konrad von Megenberg, hat ihn einmal mit dem Drachen der Apokalypse verglichen. 1 Lange Zeit hat man in Ockham einen Zerstörer der hochscholastischen Synthese von Glaube und Vernunft, von Theologie und Philosophie sehen wollen. Sein Denken wurde verdächtigt, in einen radikalen Voluntarismus, in Skeptizismus und, sozialphilosophisch betrachtet, in einen Atomismus zu münden, der sich dergestalt am Willen und der absoluten Macht Gottes und am Individuum mit seinen subjektiven Rechten orientiert habe, daß sich darüber die natürliche und die objektive rechtlich-politische Ordnung auflösen und die erhabenen Strukturen der mittelalterlichen Christenheit erschüttert würden. 2 Andererseits wurde mit dem Namen Ockhams eine »Wende im Bewußtsein der Freiheit« verbunden und der franziskanische Theologe wurde in die »Vorgeschichte der neuzeitlichen Freiheitsidee« eingereiht. 3 Als Wilhelm von Ockham, »Tractatus contra Wilhelmum Occam«, in: Richard Scholz, Streitschriften, Bd. II, 347. Vgl. dazu Jürgen Miethke, »Konrads von Megenberg Kampf mit dem Drachen. Der Tractatus contra Occam im Kontext«, in: Claudia Märtl u. a. (Hg.), Konrad von Megenberg (1309–1374) und sein Werk. Das Wissen der Zeit, München 2006, 73–97. 2 Statt vieler: Etienne Gilson, The Unity of Philosophical Experience. The Medieval Experiment. The Cartesian Experiment. The Modern Experiment, San Francisco 1999, 69. Arthur Stephen McGrade resümiert: »It is commonly held that nominalism was the death of scholasticism and that Ockham’s political ideas were destructive of the medieval social order.« (The Political Thought of William of Ockham. Personal and institutional Principles, Cambridge 2002, 4.) 3 Hermann Krings, »Woher kommt die Moderne? Zur Vorgeschichte der neuzeitlichen Freiheitsidee bei Wilhelm von Ockham«, in ZphF 41 (1987), 3–18; hier: 8. 1
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ein prononcierter Denker der Freiheit sollte aus Ockham ein »modernerer« Geist gemacht werden, als es dieser Franziskaner im 14. Jahrhundert gewesen ist. 4 Sogar vom »Risiko, modern zu denken«, war mit Blick auf Ockham bereits die Rede. 5 Für sein politisches Denken im allgemeinen und im Blick auf den Gebrauch, den Ockham von der Denkfigur eines »Gesetzes der Freiheit« im besonderen macht, lassen sich jedoch Zweifel an beiden Lesarten formulieren. Es sind Zweifel, die heute, da verbreitet ein anderer, historisch sensibler Blick auf Ockham geworfen wird, nicht mehr originell sind. 6 Sie lassen sich indes in besonders deutlicher Weise herausarbeiten, wenn man betrachtet, wie Ockham mit einer für sein politisches Denken wichtigen Gedankenfigur umgeht: nämlich mit der Idee eines »Gesetzes der Freiheit« – lex libertatis. Ein späterer Landsmann Wilhelms von Ockham, Thomas Hobbes, schätzte klare Verhältnisse und deutliche Worte. Er unterschied strikt zwischen Gesetz und Recht. Während jenes eine Nötigung ausdrücke, bezeichnet dieses das Gegenteil davon, nämlich eine Freiheit. Gesetz und Recht, Gesetz und Freiheit stehen sich daher laut Hobbes polar gegenüber. Auf diese Weise erlebt auch die alltägliche Erfahrung zunächst die freiheitseinschränkende Wirkung des Gesetzes. Dabei liegt ein Verständnis von Freiheit als negativer Freiheit zugrunde. Dem steht eine historisch lange und vielfältige, systematisch ausdifferenzierte Tradition gegenüber, Gesetz und Freiheit nicht als Gegensatz zu denken, sondern sie gedanklich zu verbinden. Da ist zunächst einmal die ebenso alltägliche Erfahrung, daß das Gesetz Freiheit ermöglicht, indem die gesetzliche Einschränkung der Freiheit der einen auch den anderen einen gesetzlich gesicherten Freiheitsraum schafft. Das Freiheitsverständnis bleibt auch in diesem Fall ein negatives. Es gibt aber auch darüber hinaus noch gleichsam in höherem Maße verdichtete Formen, Gesetz und Freiheit zusammenzudenken. Sie geVgl. Hermann Krings, »Woher kommt die Moderne?, Jürgen Miethke, Herrschaft und Freiheit in der Politischen Theorie des 14. Jahrhunderts«, in: Franciscan Studies 54 (1994–97), 123–141. 5 Otl Aicher u. a. (Hg.), Wilhelm von Ockham. Das Risiko, modern zu denken, München 1986. 6 Vgl. Rega Wood, Ockham on the Virtues, Purdue University Press 1997, 19: »Most sweeping pronouncements on Ockham’s philosophical radicalism and epoch-making historical significance are based on misunderstanding and on exaggerations of Ockham’s originality.« 4
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hen mit einer Qualifizierung der Freiheit einher, die dadurch nicht mehr nur als negative Freiheit verstanden wird (oder als negative Freiheit besonderer Art, nämlich einhergehend mit republikanischer Selbstgesetzgebung). Freiheit wird als eine qualifizierte verstanden, sofern Freiheit auch heißen soll, einer gesetzlichen Ordnung gemäß zu sein oder zu handeln. Schließlich kann die Synthese von Freiheit und Gesetz sogar in der Idee eines »Gesetzes der Freiheit« (lex libertatis) gipfeln, sei es, daß die Freiheit eine besondere Wirkung oder Folge des Gesetzes ist, sei es, daß das Gesetz seinen Ursprung der freien Zustimmung der Gesetzesunterworfenen bzw. einer diesen eigenen, ihnen zurechenbaren Quelle verdankt – Freiheit und Gesetz mithin im Gedanken der Autonomie vereinigt werden. »In jenem facere, das aus absoluter Freiheit vollzogen wird, begründet eben dieses facere die neue Ordnung.« 7
Lex libertatis in der biblischen und theologischen Tradition Im Kontext der christlichen Theologie und Philosophie läßt sich der Ausdruck »Gesetz der Freiheit« auf den Brief des Jakobus (1,25) zurückführen: Seid aber Täter des Wortes und nicht Hörer allein, wodurch ihr euch selbst betrüget. Denn so jemand ist ein Hörer des Wortes und nicht ein Täter, der ist gleich einem Mann, der sein leibliches Angesicht im Spiegel beschaut. Denn nachdem er sich beschaut hat, geht er davon und vergißt von Stund an, wie er gestaltet war. Wer aber durchschaut in das vollkommene Gesetz der Freiheit und darin beharrt und ist nicht ein vergeßlicher Hörer, sondern ein Täter, der wird selig sein in seiner Tat. (Jak 1,22–25)
Dieser biblische Ursprung verbürgte dem Gedanken einer lex libertatis begriffsgeschichtlich eine dauerhafte Präsenz in der zugehörigen Kommentarliteratur. Das bedeutet aber nicht, daß der anspruchsvolle paradoxe Gedanke sich deshalb bereits auch als systematische Herausforderung für die Auslegung und gedankliche Entfaltung stellte. Vielmehr diente er zumeist nur formelhaft in der Gegenüberstellung von lex libertatis und lex servitutis als eine von mehreren Möglichkeiten, um den Gegensatz zwischen Altem und Neuem Bund terminologisch zu 7
Hermann Krings, Woher kommt die Moderne?, 12.
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fassen. Im achten Jahrhundert etwa heißt es entsprechend bei Beda Venerabilis im Kommentar zum Jakobusbrief: »So wie das Gesetz der Sklaverei (lex servitutis) das Gesetz ist, das gegeben worden ist durch Mose, so ist das Gesetz der Freiheit (lex libertatis) die Gnade des Evangeliums, die ›durch Jesus Christus geschehen ist‹ (Joh 1,17) […]« 8. Es braucht daher nicht zu überraschen, daß der christlich-theologische Gedanke einer lex libertatis auch im Gesetzesdenken und in der leges-Hierarchie des Thomas von Aquino noch eine eher beiläufige Rolle spielte. Er begegnet bei Thomas ebenfalls im Zusammenhang der Unterscheidung zwischen einem alten Gesetz der Knechtschaft und dem neuen Gesetz der Freiheit, wobei die Aufgabe und Herausforderung für die Deutung darin liegt, ein allzu umfassendes Freiheitsverständnis mit weiterreichenden sozialen und politischen Konsequenzen für die eigene Gegenwart einzudämmen, wie aus der Verwendung des Gedankens in der Summa Theologiae IaIIae qu. 108 a. 1 deutlich wird: q. 108 a. 1 arg. 2 Praeterea, lex nova est lex spiritus, ut dicitur Rom. VIII. Sed ubi spiritus domini, ibi libertas, ut dicitur II ad Cor. III. Non est autem libertas ubi homo obligatur ad aliqua exteriora opera facienda vel vitanda. Ergo lex nova non continet aliqua praecepta vel prohibitiones exteriorum actuum. q. 108 a. 1 ad 2 Ad secundum dicendum quod, secundum philosophum, in I Metaphys., liber est qui sui causa est. Ille ergo libere aliquid agit qui ex seipso agit. Quod autem homo agit ex habitu suae naturae convenienti, ex seipso agit, quia habitus inclinat in modum naturae. Si vero habitus esset naturae repugnans, homo non ageret secundum quod est ipse, sed secundum aliquam corruptionem sibi supervenientem. Quia igitur gratia spiritus sancti est sicut interior habitus nobis infusus inclinans nos ad recte operandum, facit nos libere operari ea quae conveniunt gratiae, et vitare ea quae gratiae repugnant. Sic igitur lex nova dicitur lex libertatis dupliciter. Uno modo, quia non arctat nos ad facienda vel vitanda aliqua, nisi quae de se sunt vel necessaria vel repugnantia saluti, quae cadunt sub praecepto vel prohibitione legis. Secundo, quia huiusmodi etiam praecepta vel prohibitiones facit nos libere implere, inquantum ex interiori instinctu gratiae ea implemus. Et propter haec duo lex nova dicitur lex perfectae libertatis, Iac. I.
8 Beda Venerabilis, In epistulam Iacobi expositio: Kommentar zum Jakobusbrief. Übers. und eingeleitet von Matthias Karsten, Fontes Christiani, Freiburg im Breisgau u. a. 2000, 109.
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Nicht jede Verpflichtung zu äußeren Handlungen stehe demnach im Widerspruch zum Stand des Menschen unter dem neuen Gesetz der Freiheit. Die Verpflichtungen müßten indes von bestimmter Art sein. Das neue Gesetz werde als »Gesetz der Freiheit« bezeichnet, weil es erstens zu Handlungen (oder Unterlassungen) verpflichtet, die dem Menschen natur- bzw. gnadengemäß sind und zu seinem Heil beitragen. Das Objekt dessen, was dem Menschen geboten wird, dürfe ihm also nichts Äußerliches und Fremdes sein. Daher müsse er das Gebotene auch aus sich selbst heraus auf frei zustimmende Weise vollziehen können. Solche Verpflichtungen seien folglich mit einem Gesetz der Freiheit vereinbar, bei denen sowohl der Gegenstand dem Menschen gemäß sei als auch die Vollzugsweise des Gesetzesgehorsams daher frei aus ihm selbst heraus erfolgen könne. Ein zweites Mal nimmt Thomas von Aquino Bezug auf den Gedanken des Gesetzes der Freiheit im Zusammenhang mit der Frage, ob der Papst in Sachen Bigamie Dispens erteilen könne. Die lex nova Christi werde als lex libertatis bezeichnet, die, weil sie neben den moralischen Regeln des natürlichen Rechts auch Bestimmungen zu den Glaubensartikeln und den Sakramenten enthalte, auch als lex fidei oder lex gratiae bezeichnet werden könne. 9 Articulus 2 »Quodlibet IV, q. 8 a. 2 tit. 1 Utrum Papa possit dispensare in bigamia Quodlibet IV, q. 8 a. 2 tit. 2 Ad secundum sic proceditur: videtur quod Papa non possit dispensare in bigamiae irregularitate. Quodlibet IV, q. 8 a. 2 arg. Non enim potest ab homine dispensari in his quae sunt divinitus instituta, ut Bernardus dicit in Lib. de dispensatione et praecepto. Sed doctrina apostoli, in qua continetur quod bigamus non promoveatur, ut patet I Tim., III, et ad Tit., I, est divinitus promulgata, secundum illum apostoli, II ad Cor., XIII, 3: an experimentum quaeritis eius qui in me loquitur Christus? Ergo Papa non potest cum bigamis dispensare. Quodlibet IV, q. 8 a. 2 c. Sed contra, est quod in Decret., dist. 5, dicitur, quod Papa cum quodam bigamo dispensavit. Quodlibet IV, q. 8 a. 2 co. Respondeo. Dicendum, quod Papa habet plenitudinem potestatis in Ecclesia, ita scilicet quod quaecumque sunt instituta per Ecclesiam vel Ecclesiae praelatos, sunt dispensabilia a Papa. Haec enim sunt quae dicuntur esse iuris humani, vel iuris positivi. Circa ea vero quae sunt iuris divini vel iuris naturalis, dispensare non potest: quia ista habent efficaciam ex institutione divina. Ius autem divinum est quod pertinet ad legem novam vel veterem. Sed haec differentia est inter legem utramque: quia lex vetus determinabat multa tam in praeceptis caeremonialibus pertinentibus ad cultum Dei, quam etiam in praeceptis iudicialibus pertinentibus ad iustitiam inter homines conservandam; sed lex nova, quae est lex libertatis, huiusmodi determinationes non habet, sed est contenta praeceptis moralibus naturalis legis, et articulis fidei, et
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Weiterreichende politische und soziale Konsequenzen werden von Thomas von Aquino mit dem Gedanken des neuen Gesetzes als einer lex libertatis ersichtlich nicht verknüpft. Erst im späteren politischen Denken Wilhelms von Ockham gewinnt der Gedanke einer lex libertatis erheblich an Bedeutung. Jürgen Miethke akzentuiert daher auch zu Recht den Stellenwert Ockhams als eines politischen Denkers der Freiheit in seiner Zeit: »There is only one exception among the political theories of the 14th century: It is William of Ockham, who indefatigably insists on, calls for and demands liberty.« 10
Lex libertatis im politischen Denken Wilhelms von Ockham Ockham befand sich bekanntlich zusammen mit Brüdern seines Ordens in einer vehementen Auseinandersetzung mit dem Papsttum in Avignon über die Frage der christlichen Armutspraxis. Seine Auslegung des Evangeliums als einer lex libertatis besitzt eine wichtige argumentationsstrategische Funktion in der Ablehnung eines fatalen und gefahrvollen Mißverständnisses der Lehre von der päpstlichen plenitudo potestatis. Arthur Stephen McGrade nennt Freiheit daher zu Recht »a major theme« in Ockhams politischem Denken. 11 Die Fehldeutung der absoluten Gewaltenfülle des Oberhaupts der sacramentis gratiae: unde et dicitur lex fidei, et lex gratiae, propter determinationem articulorum fidei, et efficaciam sacramentorum. Cetera vero, quae pertinent ad determinationem humanorum iudiciorum, vel ad determinationem divini cultus, libere permisit Christus, qui est novae legis lator, praelatis Ecclesiae et principibus Christiani populi determinanda; unde huiusmodi determinationes pertinent ad ius humanum, in quo Papa potest dispensare. In solis vero his quae sunt de lege naturae, et in articulis fidei et sacramentis novae legis dispensare non potest: hoc enim non esset posse pro veritate, sed contra veritatem. Manifestum est autem quod bigamum non promoveri, neque est de lege naturae, neque pertinet ad articulos fidei, neque est de necessitate sacramenti (quod patet ex hoc quod si bigamus ordinetur, recipit ordinis sacramentum); sed hoc pertinet ad quamdam determinationem divini cultus. Unde circa hoc potest Papa dispensare, licet dispensare non debeat nisi ex magna et evidenti causa; sicut etiam posset dispensare circa hoc quod aliquis sacerdos non indutus vestibus sacris consecraret corpus Christi. Et eadem ratio est de omnibus aliis huiusmodi, quae ex institutione humana processerunt.« (Herv. D. L.) 10 Jürgen Miethke, »The concept of liberty in William of Ockham«, in: Théologie et droit dans la science politique de l’état moderne, Rom 1991, 89–100; hier: 90. 11 Arthur St. McGrade, The Political Thought of William of Ockham, 265; 169; vgl. Jürgen Miethke, »The concept of liberty in William of Ockham«, 94 ff.
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katholischen Kirche, in der Ockham einen Irrtum und eine verderbliche, der Ketzerei verdächtige Gefahr für die christliche Lebensführung erkannte, besteht in der Annahme, die Fülle der Gewalt erlaube es dem Papst, alles anzuordnen, was nicht gegen das göttliche oder natürliche Gesetz verstößt. Dadurch aber wäre es dem Papst möglich, einem jeden eine unbegrenzte Vielzahl von Verpflichtungen aufzuerlegen, oder es wäre ihm möglich, »Könige, Fürsten und alle anderen Christen ihrer Reiche und allen Eigentums zu berauben« 12. Somit wäre offensichtlich das christliche Gesetz von größerer Knechtschaft hinsichtlich der weltlichen Dinge als das alte Gesetz, besäße der Papst in weltlichen Angelegenheiten solche Gewaltenfülle. Das aber widerspräche dem Charakter des Evangeliums als einer lex libertatis. Denn da das neue Gesetz Christi eine solche lex libertatis sei, dürfe dem Christen laut Ockham keine ebensogroße oder gar eine noch drückendere Knechtschaft auferlegt werden als die unter dem alten mosaischen Gesetz bestehende. Ausdrücklich setzt sich Ockham mit einer gleichsam verinnerlichten, moralischen Lesart des Evangeliums als eines Gesetzes der Freiheit kritisch auseinander. Das Gesetz der Freiheit meint nicht allein, daß es den Christen von der Knechtschaft der Sünde befreie, ohne daß diese Befreiung von der Sünde etwa für das soziale und hierarchisch gegliederte Verhältnis der Menschen untereinander auch darüber hinausreichende Konsequenzen hätte. Eine Beschränkung auf eine solche verinnerlichte Freiheit allein unterbietet 13 aus Ockhams Sicht den Befreiungscharakter des neuen Gesetzes Christi. Zu Recht konstatiert Jürgen Miethke: »In Ockham’s view the biblical sentence obviously implied political and social liberty as well.« 14 Andererseits will Ockham aus dem Evangelium als einem Gesetz der Freiheit mit Bezug auf 1. Kor 7,20 f. aber auch keine uneingeschränkte Beseitigung aller Formen der Unterordnung und Knechtschaft herauslesen: »Das christliche Gesetz heißt nicht Gesetz der Freiheit, weil es die Christen von aller Knechtschaft befreit, sondern weil es Wilhelm von Ockham, Dialogus (zit. soweit möglich nach Wilhelm von Ockham, Texte zur politischen Theorie, ausgewählt, übersetzt und herausgegeben von Jürgen Miethke, Stuttgart 1995. Auf diese Ausgabe beziehen sich gegebenenfalls die Seitenangaben); hier: III Dialogus I,i,c. 5 (S. 82 f.). 13 Jürgen Miethke, Herrschaft und Freiheit in der Politischen Theorie des 14. Jahrhunderts, 139, spricht von einer »Verharmlosung«. 14 Jürgen Miethke, »The concept of liberty in William of Ockham«, 98. 12
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die Christen nicht mit gleich großer Knechtschaft bedrückt, von der die Juden bedrückt waren.« 15 Und Jakobus rede, wenn er vom Gesetz der Freiheit spreche, nicht davon, »daß Christen keinem anderen Menschen untergeben wären, denn die Christen sind dem Papst und vielen anderen Fürsten und anderen Christen untertan« 16. Vielmehr werde dadurch ausgedrückt, daß die Christen nur wenigen Sakramenten und Zeremonien aus göttlicher Einsetzung unterworfen seien. Ockham tritt mithin sowohl einer rein verinnerlichenden Verkürzung des Freiheitszuspruchs entgegen, als er auch einer weitgehenden Entschränkung des Freiheitsanspruchs mit Motiven der Mäßigung begegnet. Jakobus spreche von einem Gesetz der vollkommenen Freiheit im Verhältnis zum mosaischen Gesetz, aber er spreche nicht vom Gesetz der vollkommensten Freiheit (lex perfectissime libertatis). Denn: »Eine schlechthin vollkommene Freiheit […] wird es in diesem sterblichen Leben niemals geben.« 17 Ockham hat seine Argumentation mit dem Evangelium als Gesetz der Freiheit gegen die Fehldeutung der päpstlichen plenitudo potestatis an vielen Stellen seiner politischen Schriften prominent ausgeführt. 18 Es gehört mithin zum Kernbestand seiner (kirchen-)politischen Überzeugungen. Als solche wird sie im Dialogus auch als »Hauptgrund« (»istud est principalius vel de principalioribus fundamentis et motivis« 19) gegen die überzogene Auslegung der päpstlichen Gewaltenfülle bezeichnet. In Verbindung mit dem Voluntarismus Ockhams hat auch dies dazu geführt, aus dem englischen Franziskaner einen profilierten Denker der Freiheit zu machen und ihn auf diese Weise, wo nicht zu modernisieren, so doch für das moderne Freiheitsstreben 20 und FreiheitsIII Dialogus I,i,c. 7 (S. 111). Vgl. Wilhelm von Ockham, Breviloquium de principatu tyrannico II, c. 4. Vgl. dazu Volker Leppin, »Mit der Freiheit des Evangeliums gegen den Papst. Wilhelm von Ockham als streitbarer Theologe«, in: FZPhTh 42 (1995), 397–405; hier: 403. 16 III Dialogus I,i,c. 7 (S. 111). 17 III Dialogus I,i,c. 7 (S. 112). 18 Vgl. Wilhelm von Ockham, Breviloquium de principatu tyrannico II, c. 3, 113 ff. 19 III Dialogus I i, c. 6 (S. 92 f.). 20 Zuletzt geht Axel Honneth, Das Recht der Freiheit. Grundriss einer demokratischen Sittlichkeit, Berlin 2011, 9, wieder von der Beobachtung aus, daß die Werte, die in den verschiedenen Bereichen unseres gesellschaftlichen Lebens verkörpert sein sollen, in den modernen liberaldemokratischen Gesellschaften auf einen einzigen zusammengeschmolzen seien, und zwar auf den der individuellen Freiheit. 15
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denken besonders anschlußfähig erscheinen zu lassen 21, – und sei es auch nur zu dem Zweck, einem profanen säkularistischen Selbstmißverständnis des modernen Zeitgeistes auf diese Weise theologische Ursprünge der Moderne zu präsentieren zu können. 22 »Erst in der politischen Theorie des englischen Franziskaners Wilhelm von Ockham tritt uns eine Auffassung entgegen, die die Idee und die Forderung der Freiheit nicht nur als Rahmenbedingung im Zuge einer langen Tradition ernst nehmen will, sondern die gleichsam aus dem Pathos der Freiheit heraus entwickelt ist.« 23 So heißt es etwa bei Jürgen Miethke in einem Aufsatz über »Herrschaft und Freiheit in der politischen Theorie des 14. Jahrhunderts«. In einer neueren Monographie: Ockham and the Political Discourse in the Late Middle Ages, stilisiert Takashi Shogimen Ockham zum Denker geistig-moralischer Autonomie: »The following analysis will demonstrate that, for him [sc. Ockham], neither ecclesiastical nor temporal power can provide more than an environment in which men can freely live out their lives. In Ockham’s vision individuals qua individuals are morally and spiritually autonomous.« 24 Und noch in der sehr ausgewogenen Darstellung Rega Woods heißt es: »Ockham’s concern for freedom is modern in some respects but not in others. Modern is his insistence on evangelical liberty in the church found in his political works.« 25 Ockham auf solche Weise zu einem Denker der Freiheit und der moralischen Autonomie zu erheben, überreizt indes das Blatt, das einem die Quellen in die Hand spielen. Da ist schon der historische Befund, daß Ockham die Argumentation auf Basis der lex libertatis erst in seinem letzten Lebensjahrzehnt aufgreift, wenngleich sie dann in den Mittelpunkt kirchenpolitischer Reflexion rückt. Ferner liegt ihm jede schwärmerische politische und soziale Generalisierung der Freiheitsforderung fern. Wie gesehen, kann das Evangelium als Gesetz der Freiheit mit fortbestehender Herrschaft und Knechtschaft unter Vgl. Rega Wood, Ockham on the Virtues, 35: »Since anticipating modernity is an important part of Ockham’s philosophical reputation, it is an issue the reader needs to consider.« 22 Vgl. Michael Allan Gillespie, The Theological Origins of Modernity, Chicago – London 2008. 23 Jürgen Miethke, »Herrschaft und Freiheit in der Politischen Theorie des 14. Jahrhunderts«, in: Franciscan Studies 54 (1994–97), 123–141, hier: 134 f. 24 Takashi Shogimen, Ockham and Political Discourse in the Late Middle Ages, Cambridge 2007, 234. 25 Rega Wood, Ockham on the Virtues, 35. 21
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Christen einhergehen. Vollkommene Freiheit ist für Ockham nicht einmal eine innerweltliche Utopie. Schließlich aber – und das erscheint als der systematisch entscheidende Aspekt – bleiben Ockhams politiktheoretische Argumentationen auf der Basis von Rechten und Freiheiten (iura et libertates) der Menschen grundsätzlich eingebunden in eine traditionelle, zweckbezogene Argumentationsform des Guten und des Gemeinwohls. Dies soll im folgenden an einem signifikanten Beispiel seiner Tyrannis- und Widerstandslehre (und ihrer modernen Fehlinterpretation) gezeigt werden. Bei Ockham lassen sich prinzipiell drei Formen der Tyrannis unterscheiden. Er trifft bereits wie auch schon Thomas von Aquino 26 eine Unterscheidung, die von Bartolus später im 14. Jh. terminologisch als Differenz einer tyrannis ex parte exertitii und einer tyrannis ex defectu tituli konzipiert und terminologisch fixiert wird. Es ist die Unterscheidung zwischen einem Herrscher, der auf unrechtmäßige Weise, also gegen das Gemeinwohl der Beherrschten, herrscht, und dem Usurpator. Ockham trifft diese Unterscheidung (und noch eine weitere) und er knüpft daran auch politische Folgen. 27 Ein Usurpator etwa kann die Unrechtmäßigkeit seiner Herrschaft nicht durch eine milde und gerechte Ausübung seiner Herrschaft heilen 28, sondern dazu bedürfte es schon der freiwilligen Zustimmung der Herrschaftsunterworfenen. 29 Thomas von Aquino, Super Sent., II, dist. 44, q. 2, a. 2: »Dictum est autem, quod praelatio potest a Deo non esse dupliciter: vel quantum ad modum acquirendi praelationem, vel quantum ad usum praelationis.« Vgl. Aegidius Romanus, Commentaria in epistolam Pauli ad Romanos, lect. 42. 27 Vgl. Jürgen Miethke, Der Tyrannenmord im späteren Mittelalter, 35 f.; hier: 36: »[D]ie Entwicklung des Tyrannenbegriffs im Zeitalter der scholastischen Wissenschaft [hat] aus einem polemischen Kampfbegriff ein Instrument präziser Analyse gemacht, mittels dessen man legitime von illegitimer Herrschaft unterscheiden lernte.« 28 »Hieraus läßt sich verstehen, daß eine Herrschaft, die schlecht (unrechtmäßig) beginnt, niemals dadurch zu einer wahren und rechtmäßigen Herrschaft werden kann, daß aus ihr Gutes und Nützliches folgt, wie auch durch den guten Gebrauch, den jemand von gestohlenen Dinge macht, indem er sie zum Beispiel als Almosen gibt, dieser Gebrauch ihn zum wahren Eigentümer der Sache machen könnte.« William Ockham, Breviloquium de principatu tyrannico, Opera Politica Bd. IV, hrsg. v. H. S. Offler, Oxford 1997, 212, IV, c. 9, 22–26 (»ex quibus datur intelligi, quod principatus, qui malum habuit principium, propter consequentem bonitatem et utilitatem regiminis nequaquam verus et legitimus effici potest: quemadmodum per bonum usum rei furtivae, puta si aliquis faciat eleemosynam de ipsa, utens ipsa non efficitur verus dominus eius.«). Vgl. ebd. III, c. 12. 29 Wilhelm von Ockham, Breviloquium IV, c. 11, 216. 26
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Nun hat Ockhams Argumentation auf der Basis von Rechten und Freiheiten, die durch einen Usurpator verletzt werden, viele Interpreten dazu verleitet, auch Ockhams Verständnis des Tyrannen ex parte exertitii und die politische Folgen, sprich: den dagegen erlaubten Widerstand, in der Semantik subjektiver Rechte zu formulieren und sie mithin als Konsequenz eines ursprünglichen politischen Freiheitsanspruchs und des damit einhergehenden Rechts auf Herrschaftseinsetzung zu begreifen. Drei Beispiele aus der jüngeren historischen Literatur seien dafür genannt: Jürgen Miethke, dem wir sehr viel für das Verständnis des politischen Denkens Ockhams verdanken, schreibt, bei Wilhelm von Ockham sei der aktive Widerstand in das politische System integriert worden, es sei ein »– jederzeit aktivierbarer – Teil der Herrschaftsverfassung« 30. Wolfgang Stürner wiederum will die Möglichkeit des Widerstands gegen den Tyrannen so verstehen, daß die Vollmacht zur Einsetzung der Herrschaft an das Volk zurückfalle. 31 Und evident gegen den Ockhamschen Text 32 schreibt schließlich der Historiker Gert Melville – Ockham gleichsam zu einem Vertragstheoretiker modernisierend: »Wenn ein Volk das Recht habe, sich einen König zu wählen, dann habe es auch die Berechtigung, ihn wieder abzusetzen.« 33 Das verkennt grundsätzlich Ockhams Parallelargumentation, daß weltliche Herrschaft a Deo sed per homines sei. Wilhelm von Ockham argumentiert indes im Falle des WiderJürgen Miethke, Politiktheorie im Mittelalter. Von Thomas von Aquin bis Wilhelm von Ockham, Tübingen 2008, 288; vgl. ders., Die Anfänge des säkularisierten Staates in der politischen Theorie des späten Mittelalters, 41: »Wo der Herrscher oder die Herrschaft ihre Funktion verfehlen, wo sie ihren Zweck nicht erreichen, fällt die Kompetenz einer neuen Anordnung […] wieder an die Gesamtheit der in dieser Herrschaft organisierten Menschen zurück, die Herrschaftsordnung wird durchlässig und es erwacht wieder die naturrechtliche Ursprungssituation.« 31 Wolfgang Stürner, Die Begründung der iurisdictio temporalis bei Wilhelm von Ockham, in: Franciscan Studies 46 (1986), 243–251; hier: 249. 32 »Quod vero Romanum imperium sit a solo Deo tertio modo, sic scilicet, quod quamvis primo institutum fuerit a Deo per homnies voluntarie se subdentes imperatori et tribuentes sibi iurisdictionem et potestatem super se, tamen postquam imperium per ordinationem humanam institutum est, imperator nullum habet regulariter superiorem in temporalibus, nisi solum Deo, licet casualiter superiorem possit habere« (Brev. IV, 8, 1–6). 33 Gert Melville, »Ein Exkurs über die Präsenz der Gewalt im Mittelalter«, in: Martin Kintzinger u. Jörg Rogge (Hg.), Königliche Gewalt – Gewalt gegen Könige. Macht und Mord im spätmittelalterlichen Europa, Berlin 2004, 119–134; hier: 129. 30
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stands gegen tyrannische Ausübung von Herrschaft nicht auf der Basis der Rechte und Freiheiten, iura et libertates der Beherrschten. Um dies zu verdeutlichen, ist kurz auf seine Begründung politischer Herrschaft einzugehen und auf die dreifache Unterscheidung des Naturrechts, die sich in Ockhams Dialogus findet, seinem Hauptwerk zum politischen Denken. Der Text zum dreifachen Sinn des Naturrechts ist kompliziert, inzwischen aber u. a. durch Ernst-Wolfgang Böckenförde in seiner Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie klar entschlüsselt und überzeugend interpretiert worden. Einmal heißt Naturrecht jenes Recht, das der natürlichen Vernunft entspricht, die in keinem Einzelfall in die Irre leitet, wie zum Beispiel: Du sollst nicht ehebrechen, Du sollst nicht lügen und dergleichen. Zweitens heißt Naturrecht das, was von jenen zu beachten ist, die allein natürliche Billigkeit (aequitas naturalis) ohne jedes Gewohnheitsrecht oder menschliche Satzung gebrauchen. Das heißt deswegen auch ›natürliches‹ Recht, weil sein Gegenteil [sc. das Gewohnheitsrecht oder menschliches Satzungsrecht; D. L.] dem Stand der ursprünglich geschaffenen Natur entgegengesetzt ist; wenn die Menschen gemäß ihrer natürlichen Vernunft lebten oder gemäß dem göttlichen Gesetz, bräuchte man es nicht einzuhalten oder zu tun […] Auf eine dritte Weise nennt man Naturrecht jenes Recht, das aus Völkerrecht oder einem anderen Recht oder aus irgendeiner göttlichen Handlung oder aus menschlichem Tun in evidenter Beweisführung entnommen wird, es sei denn, es würde mit Zustimmung derer, denen das obliegt, das Gegenteil davon statutarisch festgelegt. Dies Naturrecht könnten wir ›Naturrecht‹ unter bestimmten Bedingungen (ex suppositione) […] nennen […]. 34
Für den vorliegenden Zusammenhang mit Ockhams Begründung politischer Herrschaft und dem möglichen Widerstand gegen eine Tyrannis sind die Bedeutungen zwei und drei relevant. Nach dem Sündenfall habe Gott dem Menschen zwei Befugnisse bzw. eine Zwillingsbefugnis eingeräumt, um im postlapsarischen Zustand sein Leben zu fristen 35: die Befugnis, sich privates Eigentum anzueignen, und die Befugnis, sich eine Herrschaftsordnung zu geben. 34 Wilhelm von Ockham III Dialogus II,iii,c. 6, zit. nach der Übersetzung von ErnstWolfgang Böckenförde, Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie. Antike und Mittelalter, Tübingen 2002, 299. 35 Vgl. Wilhelm von Ockham, Breviloquium III, c. 7: 178 ff. Vgl. Bernhard Töpfer, Urzustand und Sündenfall in der mittelalterlichen Gesellschafts- und Staatstheorie, Stuttgart 1999, 451 ff. Zu Recht weist Töpfer darauf hin, daß der Ursprung von pri-
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Beide Befugnisse eröffnen somit den Geltungsraum des Naturrechts in seiner dritten Bedeutung. Denn dieses ist »gebunden an das Vorhandensein positiv-rechtlicher Normen und Institutionen«, also Naturrecht unter bestimmten Bedingungen, die jedoch nicht erforderlich wären, sofern der Mensch im Stand der ursprünglich geschaffenen Natur verblieben wäre. Die Verpflichtung, anvertrautes Eigentum zurückzugeben, setzt beispielsweise die Einrichtung des privaten Eigentums voraus. Zweck der Zwillingsbefugnis ist es weniger, menschlicher Freiheit einen Entfaltungsraum nach außen zu verschaffen, als unter den Bedingungen des Sündenfalls eine Erhaltungsordnung unter Menschen in ihrem Verhältnis zueinander und zu Sachen zu begründen. Diese Perspektive (eher Erhaltungsordnung als Entfaltungsform zu sein) ist für den Charakter von Ockhams Widerstandsargumentation wichtig. Weltliche Herrschaft hat primär eine negative Funktion. Sie dient zur Unterdrückung schlechten Handelns des Menschen nach dem Sündenfall. Herrschaftsteilhabe braucht und gibt es nur in der logischen Geburtssekunde von Herrschaft und systematisch eigenständig im herrschaftsderogatorischen Notfall einer extremen Verfassungskrise in Form einer Tyrannis. Dabei kommt es aber nicht zur Wiederaneignung eines ursprünglichen Einsetzungsrechts. Vielmehr verwirkt der Herrscher sein Herrschaftsrecht, insofern er den Sinn von Herrschaft, dem Gemeinwohl zu dienen, verfehlt. Im Ausnahmefall, schreibt Ockham, stehe es in der Macht des Volkes, den König abzusetzen und gefangenzusetzen, um das Gemeinwohl, wo die herrschende Gewalt versagt, selbst unmittelbar zu befördern. »Diese Macht hat es aus dem Naturrecht«, schreibt Ockham. 36 In vatem Eigentum und politischer Gewalt aus dem Sündenfall nicht zu einer negativen Bewertung von beidem führen soll. 36 »Der König steht im Regelfall über seinem Reich. Dennoch ist er dem Reich in gewissen Fällen unterworfen. Denn im Notfall kann das Reich seinen König absetzen und gefangensetzen. Diese Macht hat es aus dem Naturrecht […]« (»Rex enim superior est regulariter toto regno suo, et tamen in casu est inferior regno, quia regnum in casu necessitatis potest regem suum deponere et in custodia detinere. Hoc enim habet ex iure naturali« [Wilhem von Ockham, Octo Quaestiones, Opera Politica Bd. 1, hrsg. v. H. S. Offler, Manchester 1974, II, 8, 48–51]). Vgl. Wilhelm von Ockham, Breviloquium de principatu tyrannico IV, 6, 9–13: »[…] postquam ista collatio iurisdictionis a Deo et hominibus facta fuit, a nullo regulariter dependebat, nisi a solo Deo, quamvis casualiter dependeret etiam ab hominibus, eo quod in casu populus habebat potestatem corrigendi imperatorem […]«. Vgl. Jürgen Miethke, De potestate papae, 287 f.; Mario Turchetti, Tyrannie et Tyrannicide de l’Antiquité à nos Jours, Paris 2001, 284.
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seiner Differenzierung des Naturrechts bewegen wir uns damit aber nicht mehr – und deshalb ist es wichtig, sich diese Differenzierung klarzumachen – in einer naturrechtlichen Betrachtung nach der dritten Bedeutung (wozu das Recht zur Einsetzung der Herrschaft durch das Volk gehört mit seinen daraus ableitbaren Konsequenzen), sondern mit der Macht des Volkes den König abzusetzen und gefangenzusetzen, bewegt man sich in einer naturrechtlichen Betrachtung nach der zweiten Bedeutung. Der Herrschaftsanspruch eines weltlichen Fürsten und der mögliche Widerstand gegen einen Tyrannen ex parte exertitii ruhen daher bei Ockham bei aller Verwendung einer individualrechtlichen Semantik auf einem objektiv-naturrechtlichen Fundament. Wo der Sinn von Herrschaft, dessentwegen die Befugnis, Herrschaft unter Menschen zu begründen, überhaupt eingeräumt wurde, verfehlt wird, treten alle Rechte, die mit dieser Herrschaft verbunden sind, zurück hinter das Worumwillen der ursprünglichen göttlichen Ermächtigung zur menschlichen Einsetzung von Herrschaft. Das bonum commune ist die maßgebende Größe, die individuellen Rechte, und seien es auch königliche oder kaiserliche Herrschaftsansprüche, sind im Konfliktfall nachrangig, sie sind selbst nur diejenigen Bedingungen, unter denen im Regelfall das bonum commune am besten realisiert und gewährleistet werden kann. Systematisch bedeutet das aber nun, daß der aktive Widerstand gerade nicht in das politische System integriert und ein »– jederzeit aktivierbarer – Teil der Herrschaftsverfassung« (Miethke) (und somit Naturrecht nach der dritten Bedeutung) geworden wäre – was einen rechtslogischen Widerspruch bedeutet hätte, den Ockham sicher zu vermeiden suchte. Der politische Widerstand ist vielmehr die Pflicht potentiell eines jeden gemäß dem Naturrecht im zweiten Sinn, also gemäß der aequitas naturalis, soviel an ihm ist, das Gemeinwohl zu fördern, die aller politischen Herrschaftsbefugnis vorausliegt. Arthur Stephen McGrade faßt dies zutreffend als einen Eingriff von außen in das politische Herrschaftssystem auf: »Action from outside a political system may occasionally be required, and judgment of political institutions on the basis of non-institutional principles is always relevant.« 37 Entsprechend verfehlt daher Gert Melville ganz den Sinn der Überlegungen Ockhams, wenn er die Herrschaftseinsetzung und das Wider37
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standsrecht zu zwei Seiten derselben Medaille macht. 38 Ockham vermeidet den systematischen Widerspruch zwischen einer postlapsarischen Herrschaftsordnung und einem in das politische System integrierten Widerstandsrecht, bringt aber das Problem, das ihn hervorzurufen scheint, als Konflikt verschiedener Stufen des Naturrechts dabei nicht zum Verschwinden. Wer Ockham indes einem quasivertragstheoretischen Denker politischen Widerstands angleicht, verkennt die paradoxe Gleichzeitigkeit von kritischem Radikalismus und praktischen Konservatismus (Karl Bosl 39) in ihm. Zumal sein polemisches Argumentationsziel gar nicht war, die königliche Gewalt zu beschränken, sondern einer häretischen Usurpation des Papsttums zu begegnen. Wie verfehlt die modernisierende Argumentation ist, die das Widerstandsrecht bei Ockham zur anderen Seite bzw. zur Konsequenz des Rechts auf Herrschaftseinsetzung macht, zeigt sich auch an der argumentativen Parallele bei Ockham zur Eigentumsthematik. Jürgen Miethke hat zu Recht immer wieder auf die historische Verankerung des politischen Denkens Ockhams im franziskanischen Armutsstreit hingewiesen. Es ging Ockham zeitlebens im Streit mit dem Papsttum darum, die franziskanische Armutspraxis als gültige Lebensordnung zu rechtfertigen. 40 Privateigentum samt seinen rechtlichen Bedingungen und Folgen ist wie die Befugnis, Herrschaft einzusetzen, mit den entsprechenden Gehorsamsfolgen Naturrecht in der dritten Bedeutung. Die franziskanische Armutspraxis jedoch geht dahinter zurück auf das Naturrecht in seiner zweiten Bedeutung und realisiert die Lebenserhaltung unter den besonderen Ausnahmebedingungen einer Lebensform Vgl. Gert Melville, Ein Exkurs über die Präsenz der Gewalt im Mittelalter, 129; ähnlich: Jürgen Miethke, »The concept of liberty in William of Ockham«, 95 f.: »God provided as a possibility that government exists, but people decide who governs; and that is why people are allowed to judge their ruler according to the performance of his job, to depose the unworthy ruler, and to change the forms of installing their rulers.« (Hervorhebung D. L.) 39 Karl Bosl, »Der geistige Widerstand am Hofe Ludwigs des Bayern gegen die Kurie. Die politische Ideenwelt um die Wende vom 13./14. Jahrhundert und ihr historisches Milieu in Europa«, in: Die Welt zur Zeit des Konstanzer Konzils. Reichenau-Vorträge im Herbst 1964, Stuttgart 1965, 99–118; hier: 111 spricht von einem »konservative[n] Kirchenmann hinter einer revolutionären Fassade« als Typus des 14. Jahrhunderts. 40 Vgl. auch John Kilcullen, »The Political Writings«, in: Paul Vincent Spade (Hg.); The Cambridge Companion to Ockham, Cambridge 1999, 302–325; hier: 302: »To understand Ockham’s political writings, therefore, we must first consider Franciscan ideas about poverty.« 38
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der radikalen Armut entsprechend der ursprünglichen aequitas naturalis, während regulär privates Eigentum zu begründen von Gott als Befugnis dem Menschen nach dem Sündenfall eingeräumt wurde. Wie im Falle des verwirkten Herrschaftsanspruchs aber können alle entsprechenden Befugnisse zur regulären postlapsarischen Lebensfristung eingeklammert werden, wenn der Zweck dieser Befugnisse im Ausnahmefall auch (oder im Falle der Aneignung fremden Gutes in äußerster Notlage: nur) anders zu erreichen ist. 41 Das Widerstandsrecht ist also, was seinen naturrechtlichen Status anbelangt, bei Ockham strukturell parallel zur franziskanischen Armutspraxis zu verstehen, d. h. die menschliche Zwillingsbefugnis, sich Eigentum anzueignen und Herrschaft einzusetzen wird dabei insgesamt eingeklammert. Der Widerstand gegen einen tyrannus ex parte exercitii ist bei Ockham nicht die Konsequenz eines ursprünglichen Freiheitsrechts auf Herrschaftseinsetzung, sondern es beruht auf einer davon logisch unabhängigen aequitas naturalis.
Lex libertatis nach Ockham Nachdem der anspruchsvolle Gedanke eines Gesetzes der Freiheit bei Ockham zu einer gewissen Prominenz gelangt ist, scheint er zunächst wieder verblasst zu sein. Mitte des 17. Jahrhunderts avancierte er zum Titel eines Werkes Gerrard Winstanleys, eines radikalen Diggers, für den im Sinne einer christlich-kommunistischen Utopie wahre Freiheit in der freien Verfügung eines jeden über die Erde wurzelt. Zuvor reihte sich der Gedanke des Gesetzes der Freiheit im spätscholastischen Gesetzesdenken etwa bei Francisco Suarez wieder beiläufig ein in die Vielzahl der Bezeichnungen des Evangeliums als des neuen Gesetzes Christi, lex fidei, lex gratiae, lex amoris, lex Christi etc. und auch da nur als letzte Bezeichnung: »Zuletzt wird es Gesetz der Freiheit genannt, das heißt, es befreit den Menschen von der Verpflichtung des alten Gesetzes und von der Knechtschaft der Sünde, nicht aber von der Verpflichtung des natürlichen Gesetzes, noch des menschlichen Gesetzes, noch des von Christus gegebenen« 42. Ausdrücklich wird dabei der gegen41 Vgl. Ernst Wolfgang Böckenförde, Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie, 302. 42 »Demum dicitur lex libertatis, id est liberat homines ab obligatione legis veteris et a
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reformatorisch einsetzbare Charakter der Idee ausgemacht, wenn betont wird, das Evangelium schließe es nicht aus, Gesetze und Vorschriften aufzuerlegen. Noch ausführlicher versammelt Suarez in der Schrift De legibus die aus der theologischen Gesetzeslehre vertrauten Motive. Die lex libertatis befreie von der Knechtschaft des alten Gesetzes sowie der Sünde und ermögliche dem Menschen als Gesetz der Liebe (lex amoris) eine spontanere, nicht aus Angst erzeugte, freiheitlichere und willentlichere Befolgung des Gesetzes. 43 Auch die freiere Vollzugsweise der Gesetzesbefolgung wird damit wieder zum Thema. Seine große, dann schon nicht mehr primär theologische oder rechtsphilosophisch-politische, sondern moralphilosophische Renaissance erlebt der Gedanke eines Gesetzes der Freiheit schließlich in der praktischen Philosophie Immanuel Kants. Für die ideen- oder motivgeschichtlich interessante Disziplinverschiebung scheint historisch die Reformation entscheidend gewesen zu sein. Was das Gedankenmotiv eines Gesetzes der Freiheit betrifft, erfolgte diese Verschiebung aber wohl nicht auf dem Weg, den Hermann Krings in seiner Geschichte vom Bewußtseinswandel der Freiheit beschrieben hat. Die Reformation bewirkt, was den Gedanken eines Gesetzes der Freiheit betrifft, keinen »Transfer der Freiheitslehre aus der Theologie in die Philosophie der Vernunft« 44, wie ihn Krings mit der Reformation verbunden wissen wollte. Der Prozeß scheint anders verlaufen zu sein. Martin Luther rückt vollständig von der Deutung des Evangeliums als eines Gesetzes ab – und sei es auch wie bei Ockham als einer lex libertatis. Die Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium verstand der Reformator als »die höchste Kunst in der Christenheit«, wie es einmal in der Predigt zum Galaterbrief vom servitute peccati, non ab obligatione legis naturalis et humanae et per Christum latae.« (Francisco Suarez, Summa seu Compendium 1732, Tom. V, 430.) 43 Francisco Suarez, De legisbus lib. X, cap. 1, § 10 »Ex quo colligi etiam potest ratio ob quam dicatur lex Christi lex libertatis vel quia legem veterem abstulit, vel quia est lex amoris, et non timoris, sicut lex vetus, et ita non coacte, sed spontanee, et maxima voluntate, ac libertate ad suam observantiam inducit, vel quia liberat a servitute peccati […]« 44 Hermann Krings, Woher kommt die Moderne?, 13. Für Krings verschiebt sich die Perspektive, weil er den »Titel ›Gesetz der Freiheit‹« seltsamerweise mit Paulus in Verbindung bringt: »Außer in der griechischen Welt bildete sie [sc. die Freiheit; D. L.] auch im Neuen Testament bei Paulus unter dem Titel ›Gesetz der Freiheit‹ in Abhebung vom mosaischen Gesetz einen Brennpunkt der Verkündigung.« (Ebd., 8).
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01. 01. 1532 45 heißt. Das Evangelium wird damit nicht mehr zu einem Gesetz anderer Art, sondern zum Anderen des Gesetzes erklärt. 46 Christus war für Luther »des Gesetzes Ende« (Röm 10,4), insofern Erfüllung des Gesetzes nicht mehr als Heilsweg gelte. 47 Dadurch eröffnet sich nun die Möglichkeit für eine abweichende säkularisierte, moralphilosophische Verwendung des Gedankens eines Gesetzes der Freiheit zum Beispiel in der praktischen Philosophie Kants. Dort wird er dann auch in eine andere Alternative hineingestellt: nicht länger ist es eine theologische Alternative (Gesetz der Knechtschaft vs. Gesetz der Freiheit), sondern es ist eine philosophische Alternative: Gesetz der Natur vs. Gesetz der Freiheit. Zwar läßt sich eine Spur dieser Dichotomie von Natur und freiem willentlichen Handeln auch bis zur scholastischen Philosophie, bis zu Johannes Duns Scotus und Wilhelm von Ockham zurückverfolgen, nicht aber Ihre Verknüpfung mit den zwei alternativen Formen des Gesetzes. Insoweit findet mithin kein »Transfer der Freiheitslehre aus der Theologie in die Philosophie der Vernunft« statt, wie es Hermann Krings meinte, als er Reformation und Moderne zu den »Erben Ockhams« erklärte. 48 Kants moralisches Gesetz ist daher kein Produkt der Säkularisierung des biblischen »Gesetzes der Freiheit«. Die ideengeschichtliche Hypothese bezüglich der entscheidenden Schnittstelle der Reformation wird auch dadurch gestützt, daß Luther den Jakobusbrief, in dem der christlich-biblische Ursprung der lex libertatis-Idee liegt, für eine »stroherne Epistel« erklärt hat. 49 Luther spricht sich gegen die Möglichkeit eines Gesetzes der Freiheit aus, denn er erkennt darin einen Widerspruch zu Paulus. Der Jakobusbrief »nennet das Gesetz ein Gesetz der Freiheit, so es doch S. Paulus ein Gesetz der Knechtschaft, des Zorns des Todes und der Sünde nennet«.
Martin Luther, Werke, Weimarer Ausgabe Bd. 36, Weimar 1909, 9. Vgl. Ulrich Duchrow, Christenheit und Weltverantwortung. Traditionsgeschichte und systematische Struktur der Zweiteichelehre, 2. Aufl., Stuttgart 1983, 422, mit kritischem Bezug auf Ockham: »Freilich verweisen schon die komparativische Unterscheidung der Testamente und die durchgehend tragende Bedeutung des lex-Begriffs auch für die evangelica libertas darauf, daß auch bei Ockham weder Paulus noch Augustin verstanden sind und darum an dieser Stelle keine Brücke zu Luther führt.« 47 Vgl. Rudolf Bultmann, »Christus des Gesetzes Ende«, in: ders., Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze Bd. 2, 6. Aufl., Tübingen 1993, 32–58. 48 Hermann Krings, Woher kommt die Moderne?, 13. 49 Luthers Vorreden zur Bibel, hrsg. v. Heinrich Bornkamm, Frankfurt/M. 1983, 174. 45 46
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Sowohl die vorgelegte, traditionelle Motive hervorhebende Auslegung des politischen Denkens Wilhelms von Ockham als auch die zuletzt genannte philosophiehistorische Hypothese scheinen insoweit für einen negativen Befund zu sprechen: Für die Idee der Autonomie und des Gesetzes der Freiheit in der praktischen Philosophie des 18. Jahrhunderts und daran anschließend scheint die theologische Tradition der Idee einer lex libertatis und ihre politische Auswertung bei Wilhelm von Ockham keine klar erkennbare, nennenswerte und historisch aufweisbare Bedeutung gehabt zu haben.
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IV. Interkulturelle Perspektiven
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Kogaku Arifuku
Das Berge-Gewässer-Sûtra in Dôgens Shôbôgenzô und die Schöpfung von Himmel und Erde in der Genesis des Alten Testaments In diesem Aufsatz möchte ich das Thema »Das Berge-Gewässer-Sûtra in Dôgens Shôbôgenzô und die Schöpfung von Himmel und Erde in der Genesis des Alten Testaments« behandeln. Zu diesem Zweck möchte ich die vier folgenden Themen und das Schlusswort behandeln: 1. Predigt der gefühllosen Wesen als Stimme der großen Natur, 2. Wort und Wahrheit, 3. Das Berge-Gewässer-Sûtra im Shôbôgenzô und die Genesis im Alten Testament, 4. Gott und Buddha, 5. Zum Schluss.
1. Predigt der gefühllosen Wesen als Stimme der großen Natur Im Buddhismus gibt es zwei gegensätzliche Begriffe, nämlich »Fühlendes Wesen« (有情Ujô) und »Nicht-fühlendes Wesen« (無情 Mujô). 有 情 Ujô (Fühlendes Wesen) ist die chinesische Übersetzung vom sanskritischen Wort »Sattva«, das früher ins Chinesische »衆⽣ Shujô (Lebende Wesen)« übersetzt worden ist. Das Wort »有情 Ujô« bedeutet das Wesen mit Gefühl und Bewusstsein, Menschen im engeren Sinne und alle Lebenden im weiteren Sinne. Das Wort »無情 Mujô« bedeutet dagegen Wesen ohne Gefühl und Bewusstsein, allgemein gesagt, Berge, Flüsse, Gräser und Bäume. In der Gegenwart entspricht der Unterschied zwischen dem Fühlenden und Nicht-Fühlenden dem zwischen dem Lebendigen und Nicht-Lebendigen z. B. dem Organischen und Anorganischen. Aber der Gedanke von der Predigt der gefühllosen Wesen (MujôSeppô 無情説法) unter den chinesischen Zenbuddhisten entfaltete eine ganz andere Dimension. Dôgen führt den folgenden Dialog zwischen dem Meister Tôzan-Ryôkai 洞⼭良价 (807–869) als erstem Patriarchen 435 https://doi.org/10.5771/9783495808405 .
Kogaku Arifuku
der chinesischen Sôtô-Schule und seinem Lehrer Ungan-Donjô 雲巌曇 晟 (782–842) über die Predigt der gefühllosen Wesen im Kapitel »Mujô-Seppô 無情説法« des Shôbôgenzô ein. Tôzan fragte seinen Lehrer: Welcher Mensch kann die Predigt der gefühllosen Wesen hören? Der Lehrer antwortete: Nur die gefühllosen Wesen können die hören. Tôzan fragte den Lehrer weiter: Haben Sie die gehört? Der Lehrer antwortete: Wenn ich die gehört hätte, hättest Du meine Predigt nicht hören können. Schließlich zeigte Tôzan seinem Lehrer sein Verständnis für die Predigt der gefühllosen Wesen mit dem chinesischen Gedicht, wie folgt: Wie sehr wunderbar! Wie sehr wunderbar! Es ist so unbegreifbar, dass die gefühllosen Wesen die buddhistische Wahrheit predigen. Insofern man sie mit den Ohren hören wollte, kann man sie ewig nicht hören. Aber man kann sie erst dadurch verstehen, wenn man sie durch die Augen hört. (Shôbôgenzô, Mujôseppô, III61 ff. 1)
Aber was bedeutet es, die Predigt der gefühllosen Wesen durch Augen zu hören? Wie kann man diese Predigt der großen Natur als gefühllose Wesen ohne Worte und Sprache verstehen und erkennen? Wenn man ein entsprechendes Beispiel nennen könnte, ist es der Fall der Stimme des Gewissens im inneren Gerichtshof in der Kantischen Moralphilosophie. Das Gewissen ist eine stimmlose Stimme der praktischen Vernunft: »Du sollst«. »Die Stimme der praktischen Vernunft macht auch den kühnsten Frevler zittern und nötigt ihn, sich vor dem Anblick des moralischen Gesetzes zu verbergen«, wie Kant gesagt hat (KPV, V, 79 f. 2). Kantischer Definition nach ist also die Stimme der praktischen Vernunft zugleich die des inneren Richters (MS, VI, 401), die dem Gewissen als »Ruf der Sorge« bei Heidegger entspricht (Sein und Zeit, § 57 3). Es sei Stimme, es sei Ruf, sie sind kein mündlicher Ton, sondern stimmlose Stimme und Ruf ohne Stimme als Anspruch an die Seele im inneren Selbst. Der Ruf kommt aus mir und doch über mich, wie HeiIn Bezug auf die Zitate aus Dôgens Shôbôgenzô (Iwanami Bunko, 4 Bände, herausgegeben u. angemerkt von Yahoko Mizuno) zeigen die arabischen Zahlen auf die Bandnummer und die römischen auf die Seitennummer. 2 In Bezug auf die Zitate aus Kants Werken zeigen die arabischen Zahlen auf die Bandnummer der Akademie Ausgabe und die römischen auf die Seitennummer. Die Abkürzungen von Kants Werken sind wie folgt: KPV = Kritik der praktischen Vernunft; MS = Metaphysik der Sitten; R = Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft; KRV = Kritik der reinen Vernunft. 3 Der zitierte Text aus Sein und Zeit ist Folgender: Heidegger, Sein und Zeit, 10. unveränderte Auflage, Tübingen 1965. 1
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Das Berge-Gewässer-Sûtra in Dôgens Shôbôgenzô
degger definiert. (Vgl. Sein und Zeit, 276.) Die Stimme der praktischen Vernunft, die zwar über mich, aber zu mir kommt, da nur das moralische Selbst als handelndes Subjekt die hören und realisieren kann und soll, bedeutet Befehl, Gebot, also Imperativ. Deshalb sagte Kant, wie folgt: Ungeachtet des Abfalls vom Guten ins Böse (Erbsünde) »erschallt das Gebot: wir sollen bessere Menschen werden, unvermindert in unserer Seele.« (R, VI, 45) Wer befiehlt überhaupt wem? Der Befehlende ist dabei die praktische Vernunft im Selbst und das eigentliche Selbst. Der Befohlene ist das wirkliche menschliche Selbst, das einerseits das eigentliche Selbst als ein guter Wille und andererseits das liebe Selbst als Subjekt der Neigung ist. Das moralische Gesetz wird also für den wirklichen gewissenhaften Menschen nur durch das Selbstbewusstsein des Sollens zugänglich. Wer keine Gewissenhaftigkeit in seinem Herz hat, der kann die Stimme des Sollens gar nicht hören. Wer sich des Sollens als Stimme der praktischen Vernunft bewusst ist, der kann erst das Sollen realisieren. Die Kraft, vermittelst der man die Stimme der praktischen Vernunft hören (vernehmen) kann, ist nichts anderes als das moralische Selbstbewusstsein des Sollens. Das ist auch der Fall beim Selbstbewusstsein und -verständnis der großen Natur als Predigt der gefühllosen Wesen und als Erscheinungen der Buddha-Natur im ZenBuddhismus. Hier muss man sich das Problem und die Rolle der Natur im Buddhismus, die mit dem Problem der Nicht-Personalität tief verbunden ist, überlegen. Die Natur ist zunächst und meistens nicht-personal und nicht-persönlich, so dass sie normalerweise keine Sprache spricht. Aber nach der Geschichte des Zen-Buddhismus sind die meisten chinesischen Zen-Mönche durch die Berührung mit der großen Natur, nämlich mit ihren Bewegungen und Gestalten usw., religiös erweckt worden. Z. B. Kyôgenchikan ⾹厳智閑 (?–898) wurde dadurch gründlich erleuchtet, dass er den zusammenstoßenden Klang von den Steinchen und dem Bambuszaun hörte (⾹厳撃⽵ Kyôgengekichiku), und Reiunshigon 霊雲志勤 (?–?) wurde gründlich erleuchtet, weil er die Pfirsichblüte im Gebirgsdorf auf dem Pass gesehen hatte (霊雲⾒桃花 Reiunkentôka). Für diese Zen-Buddhisten haben die Bewegungen und Gestalten der großen Natur die Rolle eines Sûtras, als einer heiligen Schrift gespielt. (Vgl. 3. Abschnitt) Im Kapitel der Predigt der gefühllosen Wesen im Shôbôgenzô zitiert Dôgen den Frage-Antwort-Dialog (Zen-Mondô) zwischen dem 437 https://doi.org/10.5771/9783495808405 .
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chinesischen Meister Tôsudaidô (819–914) und einem Mönch (Shôbôgenzô, Mujôseppô, III-72): Einmal fragte dieser Mönch den Meister Tôsudaidô: Was ist die Predigt der gefühllosen Wesen? Zu dieser Frage antwortete der Meister: Mache kein schlechtes Gerede! Wie kann die Predigt der gefühllosen Wesen mit schlechtem Gerede zusammenhängen? Wenn die Predigt der gefühllosen Wesen zugleich die Stimme und der Anruf von der großen Natur wäre, wie kann man solch eine moralische Kategorie wie ›schlechtes Gerede‹ auf diejenige Predigt anwenden? Was keinen moralischen Standard von Gut und Böse in sich enthalten kann, das darf und kann weder richtige Religion noch gute Religion sein, wie ich mich davon überzeuge.
Am Anfang des Kapitels »Shoaku-Makusa 諸悪莫作« (Mache kein Schlechtes!) des Shôbôgenzô zitiert Dôgen das folgende Gedichte als das gemeinsame Gebot von den sieben alten Buddhas: »Mache kein Schlechtes! Tue alles Gute! Reinige eigene Seele! Dies ist die Lehre der Buddhas.« (Shôbôgenzô, Shoakumakusa, II-230) Dôgen interpretiert den oben genannten Zen-Dialog zwischen dem Meister und Mönch: »Was Tôsudaidô über die Predigt der gefühllosen Wesen ausdrückt, das ist zweifellos ein allgemeines Gesetz der alten Buddhas und die goldene Regel unserer Vorfahren« (Shôbôgenzô, Mujôseppô, III72). Von diesem Gesichtspunkt her gesehen muss die Lehre der großen Natur als Erscheinungen der Buddha-Natur unbedingt in sich die Lehre der großen Moral enthalten können. In Bezug auf die Predigt der gefühllosen Wesen kann man zwar das Murmeln des Baches hören und die schöne Landschaft des Bergdorfes sehen, aber man kann dabei sogenannte menschliche Worte und Schrift weder hören noch sehen. Trotzdem kann man durch das Murmeln des Baches und die schöne Landschaft des Bergdorfes eine Wahrheit verstehen, die die große Natur uns Menschen erzählen und sagen wollte. Als der chinesische Zen-Meister und Staatsmeister Daishôechû (?– 775) in der Tungdynastie von einem Mönch gefragte wurde, ob die gefühllosen Wesen die Predigt verstehen können, antwortete er zur Frage des Mönchs: »Die gefühllosen Wesen predigen sehr heftig und ohne Unterbrechung.« Was bedeutet heftige und ununterbrochene Predigt der gefühllosen Wesen? Es bedeutet: die gefühllosen Wesen predigen jederzeit und überall. Ob man die hören und sehen kann, ist abhängig erstens vom religiösen Selbstbewusstsein, die vorliegenden Berge, Gewässer und die Erde als Erscheinungen der Buddha-Natur verstehen zu können, zweitens vom religiösen Gewissen, d. h. dem 438 https://doi.org/10.5771/9783495808405 .
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buddhistischen Geist, der nicht nur sich selbst, sondern vielmehr die anderen vorerst zur Erleuchtung und ewigen Ruhe der Seele bringen wollte. Dieser Geist heißt im Buddhismus »Bodaishin 菩提⼼« bzw. »Hotsubodaishinim 発菩提⼼«, d. h. Geist, der andere eher als sich selbst retten will.
2. Wort und Wahrheit Nun entfaltet Dôgen den dem Kapitel »Predigt der gefühllosen Wesen« entsprechenden ähnlichen Gedanken auch in dem Kapitel »Stimme des Tales und Farbe der Berge« (Keisei-Sanshoku 渓声⼭⾊) und »BergeGewässer-Sûtra« (Sansuikyô ⼭⽔経). In diesen Kapiteln entfaltet Dôgen die zwei Grundzüge seines eigentümlichen Zen-Buddhismus als Lehre der großen Natur (⼤⾃然教 Daishizenkyô) und zugleich Lehre der großen Moral (⼤道徳教 Daidôtokukyô). Übrigens wird, allgemein gesagt, im Zenbuddhismus besonders betont, dass man keine Schrift braucht, um sich die buddhistische Wahrheit anzueignen. Aber Dôgen denkt in Bezug auf Worte und Sprache ganz anders. Wie steht es mit dem Problem des Wortes bei Dôgen? Im gewöhnlichen Zenbuddhismus sind die Bedeutung und Rolle des Wortes und der Sprache allzu niedrig geschätzt. Das Motto des Zenbuddhismus heißt z. B.: »Um die Wahrheit auszudrücken braucht man keine Buchstaben, außer der Lehre muss man also die Wahrheit mitteilen, unmittelbar zeige auf dein eigenes Herz hin und siehe deine Buddha-Natur, dann wirst du Buddha«. Nach diesem Motto kann man die Wahrheit im Zenbuddhismus nur durch die leibliche und seelische Übung erleben und erfahren, so dass man die Wahrheit selbst begrifflich gar nicht verstehen kann. Im gewöhnlichen traditionellen Zen-Buddhismus handelt es sich zunächst und meistens darum, dass man also weder vermittelst Schrift noch Sprache die Wahrheit selbst auffassen kann, da das, was schriftlich und sprachlich ausgedrückt worden ist, keine Wahrheit selbst, sondern nur Schatten der Wahrheit und nur Finger ist, mit dessen Hilfe man auf die Wahrheit hinweisen kann. Nun im Zen-Buddhismus Dôgens ist es aber ganz anders gedacht in Bezug auf den schriftlichen und sprachlichen Ausdruck. Dôgens Meinung nach haben mehrere chinesische Zen-Buddhisten in der Sung-Zeit Rolle und Sinn der Sprache gar nicht verstanden. Denn sie sagten: »Worte und Reden, die sich auf gedankliche Erwägungen beziehen, seien gar keine richtigen Zen-Reden von 439 https://doi.org/10.5771/9783495808405 .
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Buddhas und Patriarchen. Sondern nur verständnislose Reden können erst Worte und Reden von Buddha und Patriarchen sein« (Shôbôgenzô, Sansuikyô, II-188). Auf diese Weise kritisiert Dôgen scharf das übliche oberflächliche Verständnis dieser Zen-Buddhisten für Worte und Reden: »Aber sie wissen sehr bedauerlicherweise weder, dass man nur aufgrund gedanklicher Erwägungen Worte und Reden verwirklichen kann, noch, dass diese verwirklichten Worte und Reden gedankliche Erwägungen schon übersteigen« (Shôbôgenzô, Sansuikyô, II-189 f.). Was Dôgen in diesem Satz sagen wollte, das besteht darin, dass man nicht nur richtig denken und erwägen muss, sondern auch jene gedanklichen Erwägungen übersteigende Worte und Reden hervorbringen muss, wenn man mit dem Zen-Buddhismus wirklich vertraut ist. Die alten Japaner haben übrigens daran geglaubt und gedacht, dass es diejenige Wahrheit gibt, die mit Worten und durch Sprachen nicht mehr erzählt werden kann. Im Zen-Buddhismus gibt es die Denkungsart, dass die Natur an sich nichts anders als Erscheinungen der BuddhaNatur ist. Dôgen hat z. B. das eine buddhistische Tanka (31-silbiges japanisches Gedicht) gedichtet: »Mine no iro tani no hibiki mo minanagara waga Shakamuni no koe to sugata to.« Das bedeutet: »Sowohl die Farbe des Berges als auch der Klang des Tales sind insgesamt Stimme und Gestalt von unserem Shakamuni-Buddha.« Ein ganz ähnliches Tanka-Gedicht hat auch Sontoku Ninomiya (1787–1856), der große Agrarpolitiker und -ökonom aus der Edo-Zeit in Japan, verfasst. Es lautet: »Oto mo naku ka mo naku tsuneni Amatsuchi wa kakazaru Kyô wo kurikaeshi tsutsu.« Das bedeutet: »Himmel und Erde singen immer wiederholend Sûtras sowohl stimmlos als auch geruchlos, die weder schriftlich noch buchstäblich geschrieben worden sind.« Von dem buddhistischen Gesichtspunkt her gesehen, transzendiert und übersteigt die große Natur den menschlichen Standpunkt der normalen und alltäglichen Erwägungen im gewöhnlichen Leben. Im ZenBuddhismus gibt es den Gedanken von der »Predigt der gefühllosen Wesen« als Lehre der großen Natur, dass die Wahrheit als Tatagatha (真如実相) über das menschliche Bewusstsein und Gefühl hinaus liegt. Solcherweise herrscht im Zen-Buddhismus der Gedanke, dass die das menschliche Wesen übersteigende große Natur an sich selbst schon ein lebendiges und wirkliches Sûtra ist, das die buddhistische Wahrheit zur Sprache gebracht hat. Auf diese Weise gebraucht man im ZenBuddhismus oft die Natur als Symbol der den egoistischen Irrtum überwindenden Erleuchtung. 440 https://doi.org/10.5771/9783495808405 .
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Es besteht trotzdem immer ein dialektischer und gegensätzlicher Widerspruch zwischen den Worten und der Wahrheit bzw. Wirklichkeit. Es ist das menschliche Schicksal und der menschliche Grundzug, dass man die die Worte übersteigende Wahrheit jedoch vermittelst der Worte ausdrücken will. Aristoteles hat schon früher den Menschen als das Tier mit den Worten definiert. »For nature, as we declare, does nothing without purpose; and man alone of the animals possesses speech [λόγον δέ μόνον άνθρωποϚ έχει τών ζώον]« (Aristoteles, Politika, 1253a, Loeb Cl. Lib. No. 264). Wir Menschen können unter den Tieren als »Krone der Schöpfung« bzw. »Aller Dinge Maß [μέτρον]« (Parmenides, Fragmente) hervorragen, indem wir am Anfang Worte/Sprache schaffen und sprechen und dadurch Schriften erfinden und schreiben können. Auf jeden Fall ist es am wichtigsten für die Entwicklung der menschlichen Geschichte und Kultur, dass wir Menschen Worte und Sprache erfinden, sprechen und schreiben lernten. Es ist das folgende Beispiel im Evangelium nach Johannes des Neuen Testaments, dass die höchste Wichtigkeit des Wortes zum Ausdruck bringt. Im Evangelium nach Johannes ist bekanntlich geschrieben: »Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Dasselbe war im Anfang bei Gott. Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht, und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist. In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen. Und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat’s nicht ergriffen« (Joh 1,1–5). »Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Dasselbe war im Anfang bei Gott«. Hier sind das Wort und Gott fast identisch. Gott ist eigentlich der Schöpfer der Welt und Dinge. Gott wäre ohne Wort uns Menschen gar nicht verständlich geworden. Ebenso würde auch die Bibel, die als Vertrag zwischen Gott und Mensch verstanden werden sollte, ohne Wort keinen Wert für uns haben können. Ohne Wort würde nicht nur das Christentum, sondern weder Philosophie noch Religion verstanden werden können. Ohne Wort würden keine kulturellen Tätigkeiten des Menschen entstehen und bestehen können. Das ist der Grund, warum es im Evangelium nach Johannes (1,3–4) heißt: »Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht, und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist.« Durch das Wort kann man sowohl Geschichte als auch Kultur verstehen und entwickeln. Das ist das Licht als Orientierung des Lebens. Es 441 https://doi.org/10.5771/9783495808405 .
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könnte also in der Welt ohne Wort weder Leben noch Licht, sondern nur Finsternis und Dunkelheit geben. Im Shôbôgenzô Dôgens gibt es das Kapitel »Dôtoku« (道得). »Dôtoku« (道得) bedeutet Sagen-Können bzw. Ausdrücken von der Wahrheit: Dabei bedeutet Dô道 einerseits Weg, und andererseits Sagen bzw. Sprechen von der Wahrheit. Am Anfang des Kapitels »Dôtoku« (道得) schreibt Dôgen: Alle Buddhas und Patriarchen sind Sagen-Können von der Wahrheit. Wenn Buddhas und Patriarchen andere Buddhas und Patriarchen auswählen, fragen die ersteren die letzteren, ob die letzteren von der Wahrheit schon haben sagen können oder nicht. Sie fragen mit dem Geist, mit dem Körper, mit dem Stock und dem Wedel, und sie fragen mit den Tempel-Säulen im Freien und mit dem Steinlaternen. Wer weder Buddha noch Patriarch ist, der fragt weder, noch sagt er von der Wahrheit, weil er keine Wahrheit versteht, zu fragen und zu sagen. (Shôbôgenzô, Dôtoku, II, 262)
Hierin darf man das Wort »Dôtoku 道得« nicht bloß als Sagen von dem Wort nehmen, sondern muss es auch als Sagen bzw. Sprechen ohne Wort, d. h. Stimme ohne Stimme, anders gesagt, als Wort über ein Wort, als Sprechen über Sprechen verstehen, so wie Dôgen im oben genannten Kapitel die Ausdrücke »fragen mit dem Körper, mit dem Stock und dem Wedel« gebraucht. Das Wort und Sagen von Buddhas und Patriarchen muss ein solches Wort und Sagen sein. Das ist nichts anderes als das Wort, das man mit dem ganzen Körper und mit der ganzen Seele sagt und ausdrückt, als ob »das Wort im Anfang war und bei Gott.« Deshalb ist alles Denken und Handeln in dem Wort »Dôtoku 道得« enthalten.
3. Das Berge-Gewässer-Sûtra im Shôbôgenzô und die Genesis im Alten Testament Der Gedanke des Berge-Gewässer-Sûtras (⼭⽔経 Sansuikyô) in Dôgens Shôbôgenzô hängt eng mit dem Thema der Predigt der gefühllosen Wesen als große Natur zusammen, wie schon im ersten Abschnitt meines Referats zur »Predigt der gefühllosen Wesen« behandelt. Wenn Berge und Gewässer als typische symbolische Wesen der großen Natur die buddhistische Wahrheit predigen können, könnte die große Natur selbst schon eine heilige Schrift sein. Deshalb nannte Dôgen den Titel 442 https://doi.org/10.5771/9783495808405 .
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des 29. Kapitels von dem 75 bändigen Shôbôgenzô »⼭⽔経 Sansuikyô«, d. h. »Berge-Gewässer-Sûtra«. Am Anfang des »Berge-Gewässer-Sûtras« (⼭⽔経 Sansuikyô) steht: »Die eben jetzigen Berge und Gewässer verwirklichen den Weg der alten Buddhas. Sie bleiben an ihrem eigenen Platz nach dem Dharma, und realisieren die höchsten Tugenden. Da sie schon vor dem Zeitalter der Leere (Kûgôizen 空劫已前) existierten, so sind sie in der ewigen Gegenwart tätig. Da sie das ursprüngliche Selbst vor dem Entstehen der Dinge (Chinchômihô朕兆未萌) sind, sind sie ganz befreit von der gegenwärtigen Verwirklichung. Berge besitzen die Tugenden, hoch und weit zu sein, doch die Bewegungen der Wolken und das Wehen des Windes sind frei und von den Bergen nicht behindert.« (II,184) »Eben Jetzt« (⽽今 Nikon) als eine der speziellsten Terminologien im Shôbôgenzô Dôgens heißt »gegenwärtiges Jetzt« bzw. »absolutes Jetzt« oder, anders gesagt, »ewiges Jetzt«. Sei es ein Berg, sei es ein Gewässer, was man im absoluten Jetzt vor Augen sieht, das vergegenwärtigt und verkörpert an sich selbst den Weg von Buddhas und Patriarchen. Diese Buddhas und Patriarchen symbolisieren dabei das buddhistische Selbst, das es über den zeitlichen Rahmen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft hinaus schon vor dem geschichtlichen Vorzeichen (朕兆未萌 Chinchômihô), geschweige denn vor dem Anfang der Geschichte überhaupt (空劫已前 Kûgôizen) gibt. Diese Worte, z. B. »Berge-Gewässer«, »der alte Buddha« und das Selbst sind alle die symbolischen Worte, die die konzentrierte Lebens- und Handlungsart des Menschen im absoluten und ewigen Jetzt als die buddhistische Befreiung von der zeitlich-geschichtlichen Verbundenheit bedeuten. Was heißt es dann, dass »die eben jetzigen Berge und Gewässer den Weg der alten Buddhas verwirklichen«? Warum können die gegenwärtigen Berge und Gewässer den Weg der alten Buddhas realisieren? Wer die Erscheinungen der großen Natur als Gestaltungen der Buddha-Natur sehen und als Predigt der gefühllosen Wesen hören kann, der allein kann dabei die Realisierung des Buddhawegs an den Erscheinungen von den Bergen und Gewässern erkennen. Hier fällt mir das Wort »Ehre« bzw. »Herrlichkeit« Gottes ein. Ich gebe hier drei Beispiele im Alten und Neuen Testament an, wie folgt: Im Psalm 19,2 des Alten Testaments steht geschrieben: »Die Himmel erzählen die Ehre Gottes und die Feste verkündigen seiner Hände 443 https://doi.org/10.5771/9783495808405 .
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Werk« und im Brief an die Hebräer (1–3) des Neuen Testaments: »Er [Jesus] ist der Abglanz seiner [Gottes] Herrlichkeit und das Ebenbild seines Wesens und trägt alle Dinge mit seinem kräftigen Wort und hat vollbracht die Reinigung von unseren Sünden und hat sich gesetzt zu der Rechten der Majestät in der Höhe.« Im zweiten Brief des Paulus an die Korinther (3,18) heißt es: »Nun aber spiegelt sich bei uns allen die Herrlichkeit des Herrn in unserem aufgedeckten Angesicht und wir werden verklärt in sein Bild von einer Herrlichkeit zur anderen [Herrlichkeit] von dem Herrn, der der Geist ist.« Auf jeden Fall besteht die höchste Herrlichkeit Gottes in seiner Tätigkeit der Schöpfung (creatio ex nihilo), die Welt selbst und alle Dinge darin von sich selbst geschaffen zu haben. In Bezug auf die Schöpfung des Himmels und der Erde ist am Anfang des ersten Buches Moses geschrieben: Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und die Erde war wüst und leer, und es war finster auf der Tiefe; und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser. Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht. Und Gott sah, dass das Licht gut war. Da schied Gott das Licht von der Finsternis und nannte das Licht Tag und die Finsternis Nacht. Da ward aus Abend und Morgen der erste Tag. Und Gott sprach: Es werde eine Feste zwischen den Wassern, die da scheide zwischen den Wassern. Da machte Gott die Feste und schied das Wasser unter der Feste von den Wasser über der Feste. Und es geschah so. Und Gott nannte die Feste Himmel. Da ward aus Abend und Morgen der zweite Tag. Und Gott sprach: Es sammelte sich das Wasser unter dem Himmel an besondere Orte, dass man das Trockene sehe. Und es geschah so. Und Gott nannte das Trockene Erde, und die Sammlung der Wasser nannte er Meer. Und Gott sah, dass es gut war.
Im Alten Testament ist die Schöpfung Gottes ausdrücklich als das vergangene Ereignis beschrieben, und zwar auf diese Weise so geschichtlich, dass Gott am Anfang der Schöpfung vor dem ersten Tag vor allem Himmel und Erde schuf, und am ersten Tag Licht, am zweiten Tag Wasser, am dritten Tag die Pflanzen, am vierten Tag Sonne, Mond und Sterne, am fünften Tag Fische und Vögel, am sechsten Tag Tier und Mensch und am siebten Tag nichts schuf, sondern den Ruhetag gründete. Was für eine Zeit war die Zeit, wo Gott zum ersten Mal Himmel und Erde schuf? Gehört diese Zeit der Schöpfung in einen 444 https://doi.org/10.5771/9783495808405 .
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geschichtlichen Zeit-Raum an? Man sollte sagen, dass die menschliche Geschichte am Anfang der Schöpfung Gottes noch nicht angefangen hat, denn wir Menschen wurden erst am sechsten Tag der Gottesschöpfung geschaffen. Obwohl die Zeit der Schöpfung Gottes mit der Vergangenheitsform des Verbs ausgedrückt wurde, müsste sie als vorzeitliches Ereignis vor der zeitlich-geschichtlichen Bestimmung begriffen werden. Diese Schöpfung wäre, mit den Worten des Berge-Wässer-Sûtras im Shôbôgenzô ausgedrückt, ein Ereignis vor dem geschichtlichen Vorzeichen (朕兆未萌 Chinchômihô), geschweige denn vor dem Anfang der Geschichte überhaupt (空劫已前 Kûgôizen). Weil sowohl die Geschichte als auch Zeit und Raum erst durch und nach Gottes Schöpfung in Erscheinung getreten sind. Wenn man deshalb diese Zeit der Schöpfung Gottes zurückgehend auf eine vergangene bestimmte Zeit sucht, würde sie noch in einer endlichen Zeit und Geschichte bleiben, so dass sie keine eigentliche Schöpfungszeit Gottes als vor- und überzeitliche Zeit sein kann. Dürfte und könnte man überhaupt die Bedeutung der Sätze, die an den Anfangsabschnitten der Genesis im Alten Testament geschrieben sind, von dem Gesichtspunkt der absoluten Gegenwart interpretieren, von dem her der Gedanke des Berge-Wässer-Sûtras eben entfaltet worden ist? Ich möchte mich fragen, ob so etwas überhaupt möglich sein kann oder nicht. Die Zeit des religiösen Selbstbewusstseins kann nichts anderes sein als die absolute Gegenwart bzw. das ewige Jetzt, wie ich mich davon überzeuge. Was auch die Zeit der Schöpfung Gottes betrifft, könnte man sie also nicht als jeweilige bzw. absolute Gegenwart interpretieren? Dann könnte man z. B. die Erbsünde von Adam und Eva nicht für eine Begebenheit der weiteren Vergangenheit halten, sondern als eigene Sache jeder selbstbewussten Person selbst in der jeweiligen bzw. absoluten Gegenwart übernehmen. Dann muss man danach fragen, warum die Beschreibung der Schöpfung Gottes in der Genesis des Alten Testaments als vergangene und geschichtliche Begebenheit dargestellt wurde. Kann und darf man überhaupt die Schöpfung Gottes als selbstbewusstes Ereignis der absoluten Gegenwart interpretieren? Die absolute Gegenwart muss vielmehr in der religiösen Zeit eine zentrale Rolle spielen können, wie ich meine. Deshalb darf die Schöpfung Gottes, meiner Meinung nach, gar nicht als eine Begebenheit der weit entfernten Vergangenheit aufgefasst werden, sondern man muss dieselbe immer als ein jeweilig neues Ereignis des jetzigen Augenblickes in der absoluten Gegenwart von 445 https://doi.org/10.5771/9783495808405 .
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sich selbst gewahren. Die Schöpfung Gottes muss ein Ereignis sein, das für jeden jederzeit und überall vor Augen geschieht. Das kann man aber weder wissen noch erkennen, ohne sich dessen bewusst zu sein, obwohl das jetzt vor aller Augen geschieht. Deswegen sagte der chinesische Zen-Meister in der Tangzeit, Rinzai (Linchi, ?–867): »Du bist der Mensch, der gerade jetzt und vor seinen Augen der Lehre der Wahrheit (Dharma) zuhören kann! (是即今⽬前聴法底⼈ SokkonMokuzen Chôhôtei no Hito!)« 4. Was bedeutet dieser Satz? Man muss vor allem wissen, dass gepredigt wird, man müsse die Wahrheit nicht außerhalb des Selbst sondern in sich selbst suchen muss. Denn »Den Weg Buddhas zu lernen«, besteht darin, »das Selbst zu lernen«, wie Dôgen gesagt hat (Vgl. Shôbôgenzô, Genjôkôan, I-54). Nach dem christlichen Gedanken schuf Gott Himmel, Erde, Wasser und Pflanzen usw., während man im Buddhismus zwar nicht sagt, dass Buddha Berge und Wasser schuf, aber Dôgen lehrt, dass Berg und Wasser im vor Augen gegenwärtigen Jetzt Vergegenwärtigungen von dem Weg der alten Buddhas selbst seien (Shôbôgenzô, Sansuikyô, II184). Für Dôgen gibt es nur den Berg und das Wasser, die die BuddhaNatur und den Buddhaweg bei sich selbst vergegenwärtigen. Dôgen zitiert z. B. im Kapitel »Busshô (Buddha-Natur)« des Shôbôgenzô das Gedicht, das der zwölfte Patriarch in der Geschichte der buddhistischen Überlieferung, der Ehrwürdige A’svaghosa (jap. »Memyô ⾺鳴«) dem dreizehnten Patriarchen über das Meer der Buddha-Natur zeigte. Daran anknüpfend, entfaltet Dôgen seinen eigenen folgenden Gedanken über die Buddha-Natur. Der Ehrwürdige A’svanghosa sagte, dass »die Berge, die Flüsse und die Große Erde alle durch die Buddha-Natur gestiftet wurden und Samadhi (Versunkensein, Konzentration) und die Sechs Geheimkräfte (Jap. Zanmai-Rokutsû 三昧六通) entspringen aus dieser Buddha-Natur« (Shôbôgenzô, Busshô, I-79 f.). Dazu entwickelt Dôgen seine folgende Interpretation. Sie lautet: »Auf diese Weise sind die Berge, die Flüsse und die Große Erde alle das Meer der Buddha-Natur. Die ›Stiftung des Ganzen durch die Buddha-Natur‹ bedeutet also, dass es erst im Augenblick der Stiftung des Ganzen durch die Buddha-Natur die Berge, die Flüsse und die Große Erde heißen kann. Daher heißt es die ›Stiftung des Ganzen durch die Buddha-Natur‹. Man muss wissen, dass das Meer der Buddha-Natur Rinzairoku, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Yoshitaka Iriya, Iwanami-Bunko, Tokyo 1989, 1. Auflage, 37, vgl. 90.
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auf diese Weise gestaltet ist. Da das Meer der Buddha-Natur überall da ist, so braucht man nicht mehr zwischen Innen, Außen und Mitte zu unterscheiden. Solchenfalls kann man sagen, die Berge und die Flüsse zu sehen, heißt, die Buddha-Natur zu sehen, und die Buddha-Natur zu sehen, heißt, das Maul des Esels und Pferdes zu sehen« (Shôbôgenzô, Busshô, I-80). Dôgens Interpretation nach realisiert jedes Ding in der ganzen Welt, sei es Berg bzw. Fluss, sei es das groteske Maul des Esels bzw. Pferdes, schon die Herrlichkeit der Buddha-Natur, insofern jedes in dem Meer der Buddha-Natur am richtigen Platz existiert. Aber man muss in bezug auf Dôgens Beispiele immer darauf aufmerksam machen, dass wir Menschen unsere eigentliche Natur nicht so einfach realisieren können, während die Natur außerhalb des Menschen ganz einfach nach ihrer eigenen Natur leben kann, so dass wir Menschen ohne Unterbrechung uns der Selbstprüfung auf dem Weg zur wahren Selbstverwirklichung unterziehen müssen.
4. Gott und Buddha Man sagt oft, das Christentum sei die monotheistische Religion, während der Buddhismus die pantheistische Religion sei, so dass die beiden Religionen von einander ganz verschieden seien. Was für eine Bedeutung hat eine derartige Analyse für diejenigen, die im religiösen Glauben leben? Diese Analyse ist eine allzu stereotype Klassifizierung. 5 Was bedeutet Buddha für den Buddhisten, der sich mit der Zazenübung beschäftigt? Was bedeutet Gott für den Christen, der in der Tat an Gott glaubt? Es ist eine große Gemeinsamkeit von diesen beiden Begriffen, dass sowohl Gott als auch Buddha das absolute Gute an sich selbst sind, obwohl man zunächst manche verschiedenen Charakteristika zwischen dem Gottesbegriff und Buddhabegriff finden kann. Nach dem traditionellen Gottesbegriff nennt man Gott das Eine. Aber Gott als das Eine ist weder das einzelne Eine noch das Eine gegen das Viele, sondern Gott ist alles in allem, und alles, was existiert (ist). Dementsprechend sagt der Buddhismus: Eins ist Alles (⼀即⼀切IchiKôshô Uchiyama, »Katholischer Gott und zen-buddhistischer Buddha«, in: AsahiShinbun [Asahi-Zeitung], Sonntags-Ausgabe, 25. 7. 1965 (内⼭興正「カトリックの 神と禅のホトケ」朝⽇新聞、昭和40年7⽉25⽇、⽇曜⽇版).
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soku-issai) und Alles ist Eins (⼀切即⼀Issai-soku-itsu). Sowohl Gott als auch Buddha sind das absolute Eins, das alles Vieles transzendiert und zugleich davon gründlich unterschieden ist. In diesem Punkt haben beide Begriffe einen gemeinsamen Grundzug. Zum Beispiel steht in der Heiligen Schrift: »Mose sprach zu Gott: Siehe, wenn ich zu den Kindern komme und spreche zu ihnen: Der Gott eurer Väter hat mich zu euch gesandt! Und sie mir sagen werden: Wie ist sein Name? Gott sprach zu Mose: Ich werde sein, der ich sein werde. Und sprach: So sollst du zu den Kindern Israel sagen: ›Ich werde sein‹, der hat mich zu euch gesandt.« (AT, 72, 2. Mose, 3,13–14) Dieser Name des Gottes, »Ich werde sein, der ich sein werde«, ist ein so merkwürdiger und so seltsamer Name, dass man ihn nicht einen Namen nennen kann, so als ob es ein Name ohne Namen wäre. Auf diese Weise kann man den Gott weder spezifizieren noch vereinzeln, obwohl er ein Eines ist. Denn Gott ist kein einzelnes Wesen, sondern das absolute Eine, das alle menschlichen und künstlichen Definitionen transzendiert. Außerdem sagt man oft: Im Christentum kann der Mensch gar nicht Gott werden, während der Mensch im Buddhismus Buddha werden kann. Prinzipiell gesagt kann und soll jeder Mensch im Buddhismus zwar ein Buddha werden. Aber wenn ein Mensch selbst sagen würde, ich bin ein Buddha geworden, würde er unzweifelhaft belacht werden. Dôgen schreibt im Kapitel »Genjôkôan« des Shôbôgenzô: »Buddhas brauchen nicht wahrzunehmen, dass sie selbst Buddhas sind, wenn sie richtige Buddhas sind. Trotzdem sind sie schon Buddhas und beweisen mit ihrem Tun und Lassen, dass sie selbst schon Buddhas sind.« (I, 54). Es ist aber ein arroganter und dummer Dünkel und eine unverzeihliche Selbsttäuschung, von sich selbst zu sagen, dass man Buddha ist. Indem wir Menschen bescheiden daran denken, zurzeit keine Buddhas zu sein, müssen wir gerade paradoxerweise danach streben, Buddhas zu werden. Ein Buddha zu werden ist also im Zenbuddhismus eine ewige Aufgabe des Buddhisten und zugleich ewiges Sollen. Buddha heißt: ein Erwachter und der Mensch, der seine Person vervollständigt hat. Es ist für jeden Menschen eine ewige Aufgabe, seine Person endgültig zu vervollständigen. In jedem handelnden Augenblick muss man bei sich eine augenblickliche Erfülltheit und Zufriedenheit fühlen können, um diese ewige Aufgabe als sein eigenes Sollen erhalten zu können. Obwohl dieses ewige Sollen und diese augenblickliche Zufriedenheit ganz formal gesehen ein widersprechender Sach448 https://doi.org/10.5771/9783495808405 .
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verhalt zu sein scheinen, ist das trotzdem ein wirklicher Zustand des praktischen Selbstbewusstseins im handelnden Subjekt. Diesen Sachverhalt hat der japanische Philosoph Nishida (1870–1945) »die Selbstidentität des absoluten Widerspruches«[Zettai Mujunteki Jikodôitsu 絶対⽭盾的⾃⼰同⼀] genannt. Das fünfte Kapitel des 75-bändigen Shôbôgenô heißt »GyôbutsuIigi«, wobei »Gyôbutsu« (⾏仏) »der handelnde Buddha« heißt bzw. »die Handlung des Buddhas« und »Iigi« (威儀) »würdiges Verhalten« heißt. Bei dem Gedanken des »Gyôbutsu-Iigi« handelt es sich darum, dass man sich selbst handeln (üben) lässt, als ob der Buddha selbst gehandelt, gewohnt, gesessen und geschlafen hätte. Dies ist gerade bei der Sitzübung (Zazen) im Zenbuddhismus der Fall. Dieses Zazen ist z. B. die Übungsart, wodurch Gautama Siddhârtha als Prinz des Shaka (s 6:Sâkya)-Stammes ein erwachter Mensch als Buddha, nämlich der Shakamuni-Buddha, werden konnte. Auf diese Weise besteht »Gyôbutsu« (⾏仏) darin, dass man diese Sitzübung (Zazen) als leibhafte Handlung vollzieht, als ob man ein Buddha wäre. Daher ist die Sitzübung Zazen die beste Übungsmethode des »Gyôbutsu« (⾏仏), wodurch wir Menschen die Erleuchtung des Buddhas konkret und leibhaft nach- und miterleben können. Das ist eine Art der Nachahmung Buddhas entsprechend derjenigen Gottes, von der Platon in seinem Dialog »Theaetetus« (176B) erzählt. Deshalb sagt Dôgen über »Gyôbutsu« (⾏仏): »Wenn man die Buddhahandlung nicht vollzieht, kann man sich noch nicht von der Buddha-Fesselung und Dharma-Fesselung befreien und gehört in die Buddha-Dämon und Dharma-Dämon. Die Buddha-Fesselung besteht darin, dass man Erleuchtung (Bodhi) als Erleuchtung (Bodhi) wahrnimmt, d. h. dass man an diese Wahrnehmung gefesselt wird« (Shôbôgenzô, Gyôbutsu-Iigi, II,152). Wir können durch die Zazenübung als »Gyôbutsu« (⾏仏) sofort die Erleuchtungswelt des Buddhas, anders gesagt, das Land des Buddhas vor den eigenen Augen wiederauftreten lassen. In der Bibel wird oft die Ehre bzw. die Herrlichkeit Gottes erwähnt, die man durch alltägliche Handlungen des Menschen realisieren soll, wie es dem Beispiel des Zen-Buddhismus entspricht: »Ihr esset nun oder trinket oder was ihr tut, so tut es alles zu Gottes Ehre.« (1. Kor 10,31, NT 226). Dieser Satz erinnert mich an die folgenden Worte des 6
»s« ist die Abkürzung für sanskrit.
449 https://doi.org/10.5771/9783495808405 .
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Großen Meisters Yôka-Genkaku (?–713): »Handeln ist auch Zen und Sitzen ist auch Zen. Wenn man auch spricht, wenn man auch schweigt, wenn man auch sich bewegt, wenn man auch sich ausruhet, ist man immer sowohl körperlich als auch geistig ruhig« (永嘉⼤師 YôkaDaishi »Das den Buddha-Weg erleuchtende Lied« [Shôdôka『証道 歌』]). D. h. alle Handlungen des Menschen sind im Christentum Gottes Ehre gewidmet und im Zen-Buddhismus zeigen und realisieren sie die Erleuchtung Buddhas. Was sollte man konkret unter der Ehre bzw. Herrlichkeit Gottes verstehen? Sie bedeuten das Lob, die Bewunderung, die Ehrfurcht und den Dank, die dem Gott von uns Menschen gewidmet werden sollten. Wie kann man dabei Gott diese Dinge widmen? Dessen Antwort lautet in der Bibel wie folgt: »Und alles, was ihr tut mit Worten oder mit Werken, das tut alles in dem Namen des Herrn Jesus und danket Gott, dem Vater, durch ihn.« (Kol 3,17) Ich möchte hierbei noch ein Beispiel von der Ehre Gottes in der Bibel angeben. Es lautet: »Die Himmel erzählen die Ehre Gottes, und die Feste verkündigt seiner Hände Werk.« (Psalm, 19,2, vgl.19,1). Was bedeutet der Inhalt dieses Satzes? Da der Vogel z. B. geschöpft wurde, um fliegen zu können, so kann er Gottes Ehre (Werk der Hände Gottes) nur dadurch konkret vor Augen führen und realisieren, indem er frei und ungebunden in der Luft fliegt. Ebenso kann die Blume nur dadurch Gottes Ehre zeigen und realisieren, indem sie so blüht, wie sie blüht. Die Geschöpfe können nur dann die Ehre Gottes konkret zeigen und realisieren, wenn sie so leben, wie sie von dem Schöpfer geschaffen wurden. Was kann und soll der Mensch tun, um die Ehre Gottes zu zeigen und zu realisieren? Wozu wurde er überhaupt von dem Schöpfer geschöpft? Was ist das, das er allein tun kann? Es gibt nach dem Christentum und für einen Christ nichts anderes als Beten. Andere Tiere außer dem Menschen können wahrscheinlich weder beten noch verehren. Nur der Mensch allein kann die Religion haben und an Gott bzw. Buddha glauben. In diesem Sinne kann die religiöse Handlung durch und durch die menschlichste Handlung sein. Denn sie ist die sauberste und schönste Handlung unter allen menschlichen Handlungen, wodurch allein der Mensch Gott bzw. Buddha begegnen kann. Übrigens ist das Zazen als Sitzübung im Zenbuddhismus nicht nur leibhafte Handlung, sondern auch sowohl Beten zum Buddha als zu dem absoluten Erwachten, Besten und Vollständigsten. Übrigens ist in der Bibel über das Reich Gottes so geschrieben: 450 https://doi.org/10.5771/9783495808405 .
Das Berge-Gewässer-Sûtra in Dôgens Shôbôgenzô
»Das Reich Gottes kommt nicht so, dass man’s mit Augen sehen kann; man wird nicht auch sagen: Sieh, hier! Oder: da! Denn siehe, das Reich Gottes ist mitten unter euch« (Luk 17,20). »Ich lebe; doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir. Denn was ich jetzt lebe im Fleisch, das lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt hat und sich selbst für mich dargegeben« (Galater, 2,20). Für diejenigen, die im Glauben an den Sohn Gottes leben, müsste Gott immer in sich selbst leben. In diesem Punkt ist das Christentum eine Religion des Geistes, wie es der Fall beim Buddhismus, vor allem dem Zenbuddhismus ist. Das Grundprinzip des Kegonkyô 華厳経 (Abkürzung von Daihôkôbuttsu-Kegonkyô ⼤⽅広仏華厳経, s: Buddhâvatamsaka-nâma-mahâvaipulya-sûtra) lautet: Die drei Welten (die Welt des Lebendigen, des Materiellen und des Geistigen) sind nichts anders als der einzige Geist. Außer dem Geist gibt es keine besondere Wahrheit. Geist, Buddha und Lebewesen. Diese Drei sind ununterschieden voneinander (三界唯⼀⼼ Sangai Yuiisshin, ⼼外無別法 Shinge Mubeppo, ⼼仏及 衆⽣ Shinbutsu gyûshujô, 是三無差別 Zesan Musabetsu). Ohne Geist kann man weder denken noch handeln. Also sagte Schopenhauer: »›die Welt ist meine Vorstellung‹ – dies ist eine Wahrheit, welche in Beziehung auf jedes lebende und erkennende Wesen gilt; wiewohl der Mensch allein sie in das reflektierte abstrakte Bewusstsein bringen kann.« (I, 31) 7 Auch Kant sagte: All unsere Anschauung ist nichts anderes als Vorstellung von Erscheinung und all die Beschaffenheit, alle Verhältnisse der Objekte im Raum und Zeit, ja selbst Raum und Zeit können als Erscheinung, nicht an sich, sondern nur in uns existieren (Vgl. KRV, B 59). Nicht nur Erscheinung als Gegenstand der Vorstellung, sondern sogar auch Raum und Zeit als Form der Vorstellung sind also nichts anderes als Vorstellungen des menschlichen Gemüts. Deshalb kann man gar nicht sagen, dass es sowohl Welt als auch Erscheinungen in der Welt ohne Handlung und Funktion des menschlichen Geistes gibt. In Japan gibt es das folgende Sprichwort in Bezug auf das Bergsteigen: »Rokkon Shôjô Oyama wa Seiten«, d. h. »Wenn die sechs Organe (Auge, Nase, Ohr, Zunge, Körper und Bewusstsein) des Bergsteigers geDie Zitate aus Schopenhauers Text beziehen sich auf die fünfbändigen Werke, Haffmans Taschenbuch 121, Haffmans Verlag: Zürich 1991, wobei die römischen Ziffern die Bandnummern und die arabischen die Seitenzahlen sind.
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reinigt sind, dann begegnet er dem schönen Wetter auf dem Berg.« Dieses Sprichwort stammt ursprünglich aus dem Bergbuddhismus (Sangaku-Bukkyô), dessen Praktiker seit alters her Yamabushi (Bergmönche, Bergasketenorden) heißen. Dieser Gedanke entspricht der Idee, dass das Land dann von Natur aus sauber wird, wenn das Herz des Menschen sauber wird. D. h. die Sauberkeit und Schönheit des Landes ist also ganz abhängig von der Stellungsart des menschlichen Geistes gegenüber dem Land und der Natur. Das schöne und saubere Land ist in der buddhistischen Terminologie ausgedrückt nichts anderes als das Buddhaland (Bukkokudo 仏国⼟) bzw. das Reine Land (Jôdo 浄⼟). »Wenn ein Boddhisattva (jap. Bosatsu) das reine Land erhalten wollte, sollte er sein Herz sauber machen. Dem sauberen Herz entsprechend kann das buddhistische Land sauber werden.« 8 Das Reine Land (das Land Buddhas) in dieser Welt zu verrichten, das heißt, christlich gesagt, Gottes Ehre zu verwirklichen.
5. Zum Schluss Das Sansuikyô ist sehr ungeschichtlich und übergeschichtlich beschrieben, während die Genesis sehr geschichtlich und vergänglich beschrieben und konstruiert wird, auch wenn die Sache der Schöpfung eigentlich als Ereignis des ewigen Jetzt verstanden werden müsste. In der Genesis schuf Gott als Schöpfer nicht nur die ganze Natur und Welt selbst, sondern auch alle Seienden in der ganzen Natur und Welt, als ob er ein Architekt und Baumeister darin wäre. Insofern ist Gott sehr personifiziert. Dagegen ist Buddha weniger personifiziert. Aber offen gestanden, wurde diese Naturwelt als natürliche Begebenheit ganz zufälligerweise durch unendliche Naturerscheinungen und -verbindungen hervorgebracht. Es ist also nichts anders als ein großer Mythos und eine mythische Geschichte, dass Gott Himmel und Erde usw. nach der Beschreibung des Alten Testament schuf. Aber für die Leute, die an das Christentum glauben, wäre das kein Mythos, sondern eine Grundbasis ihres Glaubens. Nach dem Mythos, der in »Kojiki 古事記« als »Älteste Japanische Chronik« beschrieben wird, gab es die Drei Hauptgötter (Mihashira no Sigeo Kamata, Yuimakyô [s: Vimalakîrti-nirdésa-sûtra]-Kôwa (Vortrag über Yuimakyô), Kodansha, Tokyo 1994, 4. Auflage, 53.
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Kami 三柱の神), die je das Land, die Menschen und alle Dinge schufen. Dieser Mythos ist eine Grundvoraussetzung, damit man »Kojiki 古事 記« möglichst gut verstehen kann. Auch in der Geschichte der Überlieferung des buddhistischen Dharmas (Wahrheit) gibt es die sechs Buddhas vor dem Auftreten des Shakamuni Buddha, obwohl er erst den Buddhismus gründete und überhaupt anfing. Außerdem begründet auch Dôgen im »Shôbôgenzô« eine Art von zenbuddhistischem Mythos, wenn er die Berge und Flüsse als Erscheinungen der BuddhaNatur und zugleich als die Vergegenwärtigung des Weges der alten Buddhas betrachtet. Auf jeden Fall kann man so schließen: Der Mensch ist das Wesen, das schließlich irgendeine mythische, heilige und übermenschliche Begründung braucht, um seinen Gedanken zu rechtfertigen (= heiligen) und zu autorisieren, anders gesagt, als richtige und rechte Wahrheit behaupten zu können.
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Bedingungen der Möglichkeit einer Begegnung zwischen abendländischer und buddhistischer Philosophie Autonomie der philosophischen Einstellung Ein religiöser Dialog mit dem Buddhismus würde seine Aufmerksamkeit den Lehren dieser Religion, ihrer Spiritualität oder ihren geistlichen Übungen und Zielen widmen. Ein spezifisch philosophischer Dialog hingegen sucht das philosophische Interesse dieser Tradition und wird es besonders in jenen Texten finden, die systematische Argumente über philosophische Themen (Logik, Erkenntnistheorie, Philosophie des Geistes, Ontologie) darbieten. Alle diese Kategorien – »Religion«, »Philosophie«, »Logik« usf. – sind geschichtlich bestimmt, und wenn man ihren Gebrauch jenseits des Abendlandes ausdehnt, entsteht die Gefahr, dass ihre festen Grenzen verwischt werden. Das bedeutet jedoch nicht, dass wir die herkömmlichen Differenzierungen vergessen können. Um der Klarheit willen, müssen wir ständig über diese leitenden Begriffe eine kritische methodologische Überlegung entwickeln. Wenn das buddhistische Denken in philosophischen Abteilungen unserer Universitäten diskutiert werden soll, dann muss man streng bestimmen, was als philosophisch interessant im Buddhismus zählen kann. Alles, was das Interesse von Theologen und Religionswissenschaftlern erweckt, kann man ihnen überlassen, um die philosophische Aufmerksamkeit den logischen Argumenten über die Natur der Wirklichkeit zu widmen. Diesen Kern von seinem Gesamtkontext im Buddhismus als lebendiger Religion zu isolieren, mag ein problematisches Verfahren sein. Die Funktion und der Sinn der logischen Argumente in ihrem religiösen Kontext sind nicht leicht zu deuten. Ihre befreiende Funktion kann nicht ihren logischen Sinn unangetastet lassen. Trotzdem, wenn Philosophie nicht in einer religiösen Weisheit verschwinden soll, muss es möglich sein das Philosophische in den alten buddhistischen Texten anzuerkennen und mit ihm in eine echte philosophische Auseinandersetzung einzutreten. 454 https://doi.org/10.5771/9783495808405 .
Begegnung zwischen abendländischer und buddhistischer Philosophie
Moderne Philosophen lesen die Bibel und sprechen über Themen der Theologie – nicht nur die der »natürlichen Theologie« die ein Bestandteil der Metaphysik ist. Wer wird der Philosophie das Recht bestreiten oder die Pflicht, über alles Mögliche zu fragen in ihrer eigenen Perspektive? Doch um Philosophie der Wissenschaft, Philosophie der Wirtschaft, philosophische Ästhetik, Philosophie der Theologie, Philosophie der Religion zu treiben, muss man erst eine gebührende Kompetenz in den entsprechenden Disziplinen besitzen. Es gibt auch immer die Gefahr, dass das, was die Philosophie dazu beitragen kann, sich als überflüssig erweist. Es scheint sodann fruchtbarer, als erstes den explizit philosophischen Gehalt der buddhistischen Quellen ans Licht zu stellen, wo die Philosophie, ohne weiter zu suchen, sich in ihrem eigenen Element findet. Solche Begrenzung der Identität der Philosophie widerspricht der Auffassung, dass die Themen philosophischer Reflexion durch ihre innere Dynamik notwendigerweise zur Theologie fortdringen und nur in einem theologischen Raum sich frei ausdehnen und atmen können. Wenn die Philosophie ihr eigenes Geschäft nicht treiben kann ohne sich in Theologie zu verwandeln, dann ist sie eine ganz armselige Wissenschaft. Was würden wir von einem Mathematiker denken, der seine Wissenschaft als inkomplett sehen würde, bis sie in der Physik aufgenommen würde? Die soteriologische Dimension mancher indischen philosophischen Texte wird den westlichen Philosoph nur insofern beschäftigen, als sie streng philosophisch gedacht ist, als philosophie-immanente Struktur oder Horizont, nicht nur als äußerlicher Kontext. Man bestreitet die Notwendigkeit, und die Möglichkeit, einer strengen Unterscheidung der philosophischen und der religiösen Untersuchung in diesem Gebiet. Lässt sich die einheitliche religiös-philosophische Weisheit von Nāgārjuna oder von Śaṅkara in zwei verschiedene Aspekte sondern? Man stellt dieselbe Frage in Bezug auf die religiösen und die rein philosophischen Dimensionen der neuplatonischen Tradition. Doch ein modernes Bewusstsein der Autonomie der philosophischen Vernunft kann eine begriffliche Klarheit schaffen, indem sie die spezifisch philosophische Tiefe der religiösen Elemente zuerst erläutert, um nur danach die Türe einer volleren religiösen oder theologischen Hermeneutik zu öffnen. Viele nicht-philosophische Texte im Buddhismus vertreten eine Lebensweisheit oder eine mythisch gefärbte kosmologische Spekula455 https://doi.org/10.5771/9783495808405 .
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tion. Der Philosoph könnte auch darin etwas finden, das seinem Interesse entspräche. Doch eine philosophische Hermeneutik dieser nichtphilosophischen Texte sollte nicht mit westlichen Begriffen ansetzen, sondern zuallererst auf buddhistische Denkmittel rekurrieren, weil der Gehalt der Tradition schon bei buddhistischen Philosophen tief reflektiert ist. Aus historischen und systematischen Gründen ist es zu empfehlen, die klassischen sanskritischen Texte des Mahāyāna-Buddhismus besonders zu beachten, weil die späteren chinesischen und tibetischen Systeme davon abhängen und weil ihre Sprache und Logik einer Sphäre, die nicht so weit entfernt von unserer westlichen Kultur bleibt, angehören. Dies ist freilich eine sehr prosaische, doch eine sichere Basis für ein philosophisches Gespräch. Am meisten für einen sinnvollen philosophischen Dialog versprechen die Schriften der zwei führenden philosophischen Schulen des Mahāyāna-Buddhismus, nämlich der Madhyamaka- und YogācāraSchulen. Die älteren philosophischen Ideen, die im Pāli-Kanon auftauchen, sind von minderem Interesse, weil sie keine integrale Theorie der gesamten Wirklichkeit darstellen. Ihr philosophischer Ertrag wurde von den Mahāyāna-Schulen kritisch übernommen und weiterentwickelt. Darum, von dieser Sichtweise überzeugt, haben viele Forscher geglaubt, dass, um ein tiefes und dauervolles Mitdenken zwischen westlicher und buddhistischer Philosophie zu begründen und um die klarste Einsicht in ihre begrifflichen und geschichtlichen Beziehungen zu gewinnen, man sich in erster Stelle der Mahāyāna-Philosophie und ihrem Denken der Leerheit zuwenden müsste. Viele sind aus religiösen Gründen davon angezogen, doch der kühle, vernünftige Philosoph kann eine heilsame Klarheit schaffen, wenn er die Aufmerksamkeit von erregenden theologischen Fragen ablenkt, um am Boden des fundamentalsten ontologischen und epistemologischen Verständnisses ein echt und rein philosophisches Gespräch zwischen den zwei Traditionen anzufangen. Ein solcher Dialog kann nicht nur in einem Vergleich historischer Texte bestehen. Nur Texte, die lebendig bleiben, insofern ihre Gedanken fortgesetzt werden in einer Wirkungsgeschichte, die noch heute das Denken und das Fragen anregt, verdienen es, für ein philosophisches Gespräch in den Blick genommen zu werden. Es mag scheinen, dass die vielen Einwände, die die Gelehrten gegen das vergleichende Verfahren erheben, ein philosophisches Gespräch unmöglich machen. 456 https://doi.org/10.5771/9783495808405 .
Begegnung zwischen abendländischer und buddhistischer Philosophie
Das Vergleichen ist immer, sagt F. Jullien, eine »épreuve de force«, eine willkürliche Montage, von außen auferlegt. 1 Doch wenn sich zwei lebendige Gedanken kreuzen, ist das Gespräch zwischen ihnen immer schon im Gang und es kommt von innen her, ohne Gewalt oder Willkürlichkeit. Es ist ermutigend festzustellen, dass ein erfahrener Gelehrter wie Michel Angot keinen großen Unterschied sieht, was die hermeneutischen Schwierigkeiten betrifft, zwischen der Nyāyabhāṣya (Grundtext der indischen Dialektik und Logik) und Candrakīrti einerseits, und Platon, Augustin, und Descartes andererseits. »Es steht fest, dass diese Philosophen existieren und sie bleiben von nun an ein Teil des Erbes der Menschheit« 2. Die Texte der Madhyamaka-Schule leben noch, nicht nur in einer Kultur der scholastischen Debatte, wie sie in tibetischen Kreisen ritualisiert worden ist, sondern durch die Kraft ihrer radikalen negativen Dialektik für den heutigen Leser. Eine Auseinandersetzung zwischen diesen Texten und den dialektischen Klassikern des Westens, besonders Hegels Wissenschaft der Logik, ermöglicht eine gegenseitige Erhellung und Kritik auf der Ebene des logischen, begrifflichen Denkens. Die Dialektik des Madhyamaka hat eine pragmatische oder therapeutische Funktion, insofern als sie sich, rein negativ fortfahrend, gegen falsche Denkweisen, als Hindernisse zur geistlichen Befreiung gesehen, richtet. In der indischen Kultur der Debatte ist eine mehr kontextunabhängige Logik erst in der Zeit von Dignāga und Dharmakīrti entwickelt worden. Der radikale Flügel des Madhyamaka (das Prasaṅgika) hat sich dem Gebrauch dieser strengen autonomen Logik widersetzt, weil sie mit der Leerheit und der funktionellen Konventionalität aller Begriffe unverträglich schien. Bedeutet das, dass wir es nicht mehr mit einer philosophischen Logik zu tun haben? Doch man soll sich erinnern, dass die strenge, kalte logische Disziplin auch nicht Hegels Sache war. Er suchte vielmehr, die starren Strukturen der Logik in Fluss zu bringen, durch ein Wiederbeleben der Dialektik. Seine Rechtsphilosophie, zum Beispiel, ist keine neutrale Zergliederung des Begriffes der Gesellschaft oder des Staates, sondern ein dialektischer Prozess der Entfaltung der Freiheit. Die Philosophie muss sich von Inhalten und Zielen, die ihr von Angot, Michel, Le Nyāya-sūtra de Gautama Akṣapāda; Le Nyāya-bhāṣya d’Akṣapāda Pakṣilasvāmin: L’art de conduire la pensée en Inde ancienne. Les Belles Lettres: Paris 2009, 50. 2 Ebd., 65. 1
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außen auferlegt sind, befreien, doch umso besser ins Klare kommen über die eigene Tiefe menschlichen Denkens und menschlicher Freiheit. Sie wird diese rein philosophischen Wirklichkeiten in den Vorstellungen der Religionen wiederfinden, mit besonderer Klarheit in denen, die eine philosophische Übertragung ihrer Einsichten versucht haben. Ganz wie beim Neuplatonismus oder beim deutschen Idealismus kann die befreiende Dialektik im Madhyamaka als religiöse oder als philosophische Leistung gedeutet werden. Ein Philosoph wird die philosophische Deutung betonen und verstärken und wird versuchen, auch solche erhabenen Konzeptionen wie Gott, das Eine oder das nirvāṇa philosophisch zu denken. Es ist nicht leicht, Anachronismen zu vermeiden. Zum Beispiel, wenn man von »Begriffen« in den Nyāya-Texten oder im Madhyamaka spricht, muss man sich fragen ob diese Denker eine klare Idee von dem hatten, was man in der westlichen Philosophie »Begriff« nennt. 3 Man hat seit langem die schwerwiegende Frage gestellt, ob »Logik« und »Begriff« den gleichen Sinn besitzen in Indien und im Abendland. »Indien teilt nicht unser Vorurteil, seit Sokrates und Platon, dass die Menschen durch Ideen und allgemeine Begriffe denken. Der reiche philosophische Wortschatz für die dissoziierenden und kombinierenden Operationen, durch die Präfixe vi- bzw. sam- bezeichnet, hat kein Äquivalent von Induktion oder Deduktion, Analyse oder Synthese, die die Begriffe in peripatetischer Weise manipulieren. […] Vernunft als ›Ort der Ideen‹ oder als System von Prinzipien, die die Welt durchwalten und ihre Gesetze bestimmen, ist zweifellos eine griechische Fiktion, weil nichts dieser Art ist in der indischen Reflexion angenommen« 4. Doch auch das westliche Denken ist nicht notwendig immer in einem starren Verständnis von Begrifflichkeit gefangen, wie Hegel besonders bewiesen hat.
Dialektik Im Gegensatz zum Thema des »Seins«, das keine wirkliche Entsprechung in der sanskritischen Philosophie hat 5, gibt es genaue EntspreEbd., 139. Masson-Oursel, P., et al., L’Inde antique et la civilisation indienne. Albin Michel: Paris 1951, 251. 5 Angot, Le Nyāya-sūtra de Gautama Akṣapāda, 39 f. 3 4
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chungen und vielleicht auch historische Beziehungen zwischen indischer und griechischer Dialektik. 6 Gewiss, der Vergleich von argumentativen Strukturen hätte an sich nur ein begrenztes philosophisches Interesse. Man muss ihre lebendige Funktion in den Blick nehmen. Der Grundtext der Madhyamaka-Schule, Nāgārjunas Mūlamadhyamakakārikas (MK) oder »Stanzen des mittleren Weges«, besitzt eine besondere philosophische Faszination, nicht so sehr wegen seiner konkreten Lehre, schon in den Sutren der »Vollkommenheit der Weisheit« wird verkündigt, dass alle dharma leer sind von substanzieller Beständigkeit und dass die letzte Wirklichkeit die Leerheit, śūnyatā sei, als wegen der eigenartigen Methode seiner Argumentation. Es genügt Nāgārjuna nicht einzusehen, dass die dharma leer sind. Die dharma müssen ihre eigene Leerheit erweisen, so dass alles Anhaften an ihnen an seiner Wurzel zerbricht, und der Umgang mit samsarischen dharma eine Schule der Leerheit wird. Die Dialektik, die die Leerheit alles vermeintlichen svabhāva (Eigenexistenz) beweist, sucht den Geist von der Herrschaft starrer, unkritisierter Begriffe zu befreien. Die Leerheit ist nicht das Nichts. Sie befreit die Phänomene in ihre eigentliche Seinsweise oder tathatā. (Vielleicht könnte man die Überwindung des »Seins« bei Levinas und Marion in der Nähe der Kritik des svabhāva bringen und vielleicht auch würde es möglich, die reine seinsfreie Gegebenheit der Wirklichkeit bei diesen Denkern mit der tathatā in Beziehung zu setzen.) Die philosophische Faszination dieses Textes wächst, wenn man die paradoxe Rolle der Theorie der doppelten Wahrheit (dvasatya) vernimmt. Die Gültigkeit der Argumente der Madhyamaka-Philosophie, meistens reductiones ad absurdum, gehört der konventionellen Wahrheit (saṃvṛti-satya) an, nicht der letztgültigen, unaussprechlichen Wahrheit (paramārtha-satya). Ihre pragmatische Funktion besagt jedoch nicht, dass es ihnen an strenger logischer Kraft mangelt. Ein Grundprinzip des Denkens von Nāgārjuna lautet: »Wenn man sich nicht an die konventionelle Wahrheit anlehnt, kann man nicht die Bedeutung des Letztgültigen lehren« (MK 24,10). Candrakīrti sagt: »Konventionelle Wahrheiten sind die Methode; letztgültige Wahrheiten sind entstanden aus der Methode« 7. In ähnlicher Weise wie bei Hegel bleibt das Unbedingte, das sich als »Resultat« erweist, in sich frei, ab6 7
Ebd., 44 f. Zitiert in: Newland, Guy, The Two Truths, Snow Lion: Ithaca 1992, 175.
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solut und keineswegs von der Kette der logischen Argumente bedingt. Man muss das Konventionelle durcharbeiten, um zum Letztgültigen zu gelangen. Nur durch die strengste Logik, nicht durch eine Enthärtung der Logik, wird es möglich, die Logik im nirvāṇa zu übersteigen. Es ist wahr, dass Nāgārjuna mit einer radikalen Verneinung aller Art von bedingendem Verhältnis zwischen den Phänomenen anfängt, und dass er auch die Formel der »abhängigen Entstehung«, Grundprinzip buddhistischer Ontologie, in Frage zu stellen wagt: »satīdam asmin bhavatīty etan naivopapadyate iti – es ist unzutreffend, ›wenn dieses ist, ist jenes‹ zu sagen« (MK 1,10), vielleicht wegen der Erwähnung des »Seins«. Später wird diese kanonische Formel wiederhergestellt auf der Ebene der konventionellen Wirklichkeit (MK 26), doch in dem vollen Bewusstsein ihrer fundamentalen Widersprüchlichkeit. Die Formel beschreibt die Genese unserer unwirklichen, leidenden saṃsāra-Welt. In der nirvanischen Wirklichkeit entsteht nichts und nichts vergeht. Die Analyse der abhängigen Entstehung der samsarischen Welt lässt ihre Widersprüchlichkeit, ihre Nichtigkeit erscheinen. Der letzte Sinn der abhängigen Entstehung ist dann die selige Leerheit des nirvāṇa. Philosophisch interessanter als die Rede vom nirvāṇa ist die Weise, wie Nāgārjuna und Candrakīrti an den endlichen Kategorien mit feinsinniger kritischer Akribie arbeiten und wie sie den konventionellen Gebrauch dieser Kategorien, trotz ihrer Gebrechlichkeit, verteidigen. Sie lehren einen starken Konventionalismus, der am Rand des Abgrundes ohne Angst fortfährt. Was das dogmatische Christentum und der Islam daraus lernen können, bleibe dahingestellt. Die europäische Philosophie, mit ihrer Vielfalt von kritischen und skeptischen Denkweisen, ist von dieser Philosophie interpelliert seit der Jesuitenpater Ippolito Desideri sie im frühen achtzehnten Jahrhundert entdeckt und verstanden hat. Es gibt schon eine lange Reihe von philosophischen Begegnungen mit der Philosophie der Leere, obwohl sie oft missverstanden wurde als lauter Nihilismus. Neulich hat man zum Beispiel überzeugend gezeigt, dass der junge David Hume davon beeinflusst war während seines Aufenthaltes in La Flèche, in der Nähe der Jesuitenschule, die Desideri einige Jahre zuvor beherbergt hatte (Gopnik). Die rein philosophische Begegnung zwischen buddhistischer Analyse und europäischem Skeptizismus und Kritizismus könnte vielleicht für diesen eine Heilung oder Rettung oder mindestens die Erfahrung eines weiteren, befreienden Horizontes bedeuten.
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Logik des Scheins Die Logik von Nāgārjuna ist eine Logik des Scheins in einem zweifachen Sinn. Erstens, sie behandelt Kategorien die keine Realität besitzen, und zweitens, sie ist selbst konventioneller Schein, nicht endgültige Wirklichkeit. Können wir denn Nāgārjunas Dialektik ernst nehmen und mit ihr eine logische Debatte führen? Was uns dazu ermuntern kann, ist die Feststellung, dass sich auch Hegels Wissenschaft der Logik als eine Logik des Scheins darstellt (der Ausdruck kommt von Kant). In den ersten zwei Teilen seiner Untersuchung, die »Logik des Seins« und die »Logik des Wesens«, die zusammen die »objektive Logik« ausmachen, spricht Hegel nur von Abstraktionen, die keine letzte Wirklichkeit besitzen. Im dritten Teil, die »subjektive Logik« oder »Logik des Begriffes«, kommt er freilich zu der letztgültigen Wirklichkeit, wie er sie versteht. Diese ist von einer ganz anderen Prägung als das, was Nāgārjuna als paramārtha-satya anerkennen würde, und seine Beziehung zu der vorhergehenden kritischen Arbeit im Schattenreich des Seins ist ganz anders, als die Beziehung zwischen Konventionellem und Letztgültigem bei Nāgārjuna. Die vielen sich überlagernden Schichten der Hegelschen Argumentation und die Weise, in der die Lösung, die man erreicht auf einer bestimmten Ebene, relativiert und auf der nächsten, höheren Ebene überwunden wird, erinnern an ähnliche Strukturen im Madhyamaka, zum Beispiel die ziemlich schematische Idee, dass das, was als letztgültige Wahrheit erscheint in einer niedrigen Schule (Vaibhāśika, Sautrāntika oder Yogācāra) als nur konventionelle Wahrheit in der Perspektive einer höheren Schule gesehen wird. Die ursprüngliche Unwissenheit (avidyā) erzeugt eine ganze Kaskade von falschen Vorstellungen, inmitten derer wir leben und ohne die unser Alltag unmöglich wäre. Die Konstruktion der Madhyamaka-Denker differenziert immer subtilere Formen der Täuschung. Vielleicht würden sie auch in den höchsten Hegelschen Begriffen nur Illusionen eines Anhaftens an dem svabhāva sehen. Doch ihre Analysen können ein mehrstufiges Gebäude von logischer Differenzierung erzeugen, das eine strukturelle Verwandtschaft mit dem von Hegel besitzt. Die Rolle der Logik bei Nāgārjuna bleibt therapeutisch, negativ, provisorisch. Mādhyamika nutzt die Logik, um die Logik zu überwinden, so dass man am Ende nicht mehr an der Idee der Logik anhaften soll. Doch es gibt eine »gleitende Skala« in der Anwendung der Logik 461 https://doi.org/10.5771/9783495808405 .
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in verschiedenen Graden der Einsicht. An der konventionellen Ebene besitzen die Widerlegungen eine bindende logische Kraft. Grundlegend ist das Prinzip: jeder Glaube an den svabhāva führt zu logischen Widersprüchen. Der dialektische Beweis dieser Widersprüche ist selbst ohne svabhāva, aber der, der durch diesen Beweis die svabhāvische Täuschung hinter sich gelassen hat, kann nicht an sein jetzt gewonnenes Bewusstsein der Konventionalität der Logik appellieren, um die Gültigkeit des Beweises in Frage zu stellen. Die gleitende Skala, die die verschiedenen Rollen der Logik bestimmt, erlaubt es, einen Sprung aus der Logik in das Irrationale zu vermeiden. Sie bedeutet nicht, dass man die Logik vergisst, um mit dem Strom der Erfahrung und der Sprache unbesorgt fortzufahren. Vielmehr erlaubt sie eine Überwindung der Logik durch die Logik selbst. Dann ist die Einsicht, die weiter geht als die Logik, nicht in Spannung mit der Logik, sondern bringt die Aspirationen der Logik zur Vollendung. Das Tetralemma, das die Kausalität als Heilungsmittel für die substantielle Täuschung widerlegt, wirft sich selbst hinaus, wenn es seine »medizinische« Rolle zu Ende gespielt hat. Es hat keine Funktion und keine Anwendungsbasis mehr für den, der die stille Anschauung der letzten Wahrheit erreicht hat. Die Kausalität, mit ihrer illusorischen substantiellen Basis, wurde ersetzt von der klaren Einsicht in die konventionelle, abhängige Entstehung der Erfahrung und diese erweist sich in ihrer letztgültigen Wirklichkeit als ein Nicht-Entstehen, leer, nirvanisch. Diese letzte Einsicht bestätigt die Falschheit der Behauptungen des svabhāva-Denkens und auch die Leerheit der Widerlegungen dieses Denkens, die in jedem Fall nur in Reaktion auf die Behauptungen und folglich in Abhängigkeit von ihnen entstanden sind. Hegel arrangiert die Kategorien, die die wahre Natur der Wirklichkeit zu nennen suchen, von der Einfachsten bis zur Vollsten. Jede dieser Kategorien (Sein, Dasein, Wesen, Identität, Grund, Existenz, Kraft, Wirklichkeit, Absolutes, Substanz, Notwendigkeit, Ursache, Begriff, Urteil, Schluss, Objektivität, Teleologie, Leben, Erkennen) zeigt ihre Grenze durch ihre innere Widersprüchlichkeit, bis sich am Ende die absolute Idee als die volle, integrale Verwirklichung logischer Wahrheit erweist. Dieser Prozess ist nicht nur eine Akkumulation. Erstens ist die Arbeit der Dialektik negativ. Sie arbeitet nicht in der Richtung einer immer reicheren Substanzialität, sondern in der Richtung der Subjektivität und der Freiheit. Die Kategorien werden leichter, lebendiger und erweisen sich eher als eine offene Bewegung der Beziehung, 462 https://doi.org/10.5771/9783495808405 .
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denn als eine geschlossene selbstgenügende Solidität. Jeder Kategorie entspricht auch ein Begriff von Gott, eine theologische Abstraktion, von der primitiven Unbeholfenheit von »Gott ist Sein« oder »Gott ist Wesen« bis zu gehaltvolleren Aussagen wie »Gott ist Idee« oder »Gott ist Leben«. Doch die kritische Dialektik Hegels führt nicht nur in eine »additive« Richtung. 8 Man kann sie als eine kritische Darstellung der konventionellen Wahrheit verstehen, deren negative Textur sie in die Nähe der buddhistischen Denkweise bringt. Hegel als konstruktiver Metaphysiker kann überwunden werden, wenn wir die negative Kraft seines Denkens ausbeuten, nicht opportunistisch oder anarchistisch, wie Derrida oder wie Otto Pöggeler, der Hegels System mit einer zertrümmerten Kathedrale, deren Steine man für neue Bauwerke benutzt, vergleicht, sondern in einer systematischen Aufhebung. 9 In Hegels Sicht ist jedes Ding, jeder Bewusstseinszustand, die Negation seiner selbst; »die Existenz ist in sich eine ›Negation‹« 10. Die Negation nimmt viele Formen an bei Hegel und jede philosophische Idee ist von der Negation, in einer Form oder einer anderen, geboren. 11 Die Reihenfolge der Kategorien in MK ist nicht so systematisch wie bei Hegel. Dialektik bei Nāgārjuna schließt die Einwände der Gegner und die Erwiderungen des Autors ein, während sie bei Hegel nur die immanente Bewegung des Begriffes ist. Aber dieser Kontrast ist irreführend. Die Geschichte der Philosophie hat bei Hegel die Rolle der Gegner, besonders in seinen »Anmerkungen«, die seine kritische Stellung gegenüber Spinoza, Kant und anderen Vorgängern erklären. Andererseits sind die Gegner bei Nāgārjuna keine frei erfundenen Gegenstimmen, sondern Vertreter der Geschichte der buddhistischen oder indischen Schulmeinungen. Diese Stimmen bleiben meistens anonym, als ob ihre Rolle Teil einer ununterbrochenen logischen Entfaltung sei. Die Entwicklung der Logik in beiden Texten lässt nur einen begrenzten Platz für ein Gespräch zwischen konkret profilierten In8 T. R. V. Murti, The Central Philosophy of Buddhism. Allen and Unwin: London 1960, 303. 9 Siehe Peter Ruben, »Von der ›Wissenschaft der Logik‹ und dem Verhältnis der Dialektik zur Logik«, 72, in: Horstmann, Seminar: Dialektik in der Philosophie Hegels, a. a. O., 70–100. 10 Dieter Henrich, »Formen der Negation in Hegels Logik«, 216, in: Horstmann, Seminar, Dialektik in der Philosophie Hegels, a. a. O., 213–229. 11 Ebd., 213 f.
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stanzen. Eine geschichtliche Debatte hat sich in reine begriffliche Bewegung verwandelt. Um diese Debatte mit unseren heutigen Fragen zu verknüpfen, müssen wir die Vielfalt der Stimmen in den Texten vernehmen und sie in ein approximatives Verhältnis zu heutigen philosophischen Standpunkten stellen. Nāgārjunas negative Arbeit an den fundamentalen Kategorien hat eine positive Seite, insofern als die Leerheit die Kategorien für ihren konventionellen Gebrauch von den Ansprüchen der Identität und Substantialität befreit. Wie Hegel sieht er seine Arbeit an den abstrakten Begriffen als eine Leistung zur Befreiung des Geistes von den Fesseln starrer und steriler Begriffe. Die Freiheit, die Hegel in der logischen Sphäre erreicht, ist die Basis für das Freiheitsverständnis, das in der Realphilosophie zum Vorschein kommt, die schöpferische, religiöse, oder politische Freiheit. Für Hegel, wie für Nāgārjuna, sind die ersten Fesseln, die zu brechen sind, die illusorischen Ideen, die unseren Geist beherrschen. Freilich kennt Hegel keine meditative Praxis, die die affektiven Wurzeln und Folgen starrer Denkgewohnheiten heilen kann. Er scheint zu glauben, dass die Stärke der Vernunft kein praktisches Hilfsmittel braucht. Andererseits, trotz seines therapeutischen und praktischen Zieles, ist Nāgārjuna ein Neuerer in der buddhistischen Tradition, insofern als er dieses Ziel durch eine Arbeit an den Begriffen verwirklicht. Im PāliKanon verweigert es der Buddha, einen klaren ontologischen Diskurs über die Nicht-Existenz des Selbst zu führen. Ein solcher Diskurs wäre eine gefährliche prapañca, eine begriffliche und sprachliche Fiktion, die den Hörer weit von der Sache wegleiten würde. 12 Im Gegensatz dazu wagt es Nāgārjuna, die fragwürdigen ontologischen Kategorien in den Blick zu bringen; er bleibt nicht mehr in der phänomenologischen Welt der Predigten des Buddhas oder der Mahāyāna-Sutren, sondern widmet seine ganze Aufmerksamkeit den impliziten logischen Strukturen unseres mystifizierten Denkens. Wie Hegel sieht er die Kraft der Denkbestimmungen und benutzt diese Kraft selbst, um sie zu überwinden. Hegels Logik stellt »die Tätigkeit der Denkbestimmungen« dar und zeigt, wie sie sich in ihrer dialektischen Bewegung »selbst unter-
Siehe Alexander Wynne, »The ātman and its negation: A conceptual and chronological analysis of early Buddhist thought«, 141, in: JIABS 33/1–2 (2010), 103–171.
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suchen« und »ihren Mangel aufzeigen« 13 kann. So ist die vormalige Metaphysik, die aus diesen Denkbestimmungen besteht, in Bewegung gesetzt und überwunden. Nāgārjuna tut das Gleiche für die buddhistischen Denkbestimmungen – nicht wie Hegel, um ein befriedigenderes konzeptuelles Gebäude zu errichten, sondern um alle Begrifflichkeit zu übersteigen. Sein Denken ist nicht von einem Ideal des Begriffes geleitet, wie bei Hegel, sondern von der Einsicht, dass alle begrifflichen Konstruktionen mit Illusion behaftet sind und bestenfalls als geeignetes Mittel (upāya) für ihr eigenes Verschwinden in der begrifflosen Ruhe des nirvāṇa dienen sollen. Die Seinskritik Nāgārjunas hat zwei Phasen, die man zu der Seinslogik und der Wesenslogik Hegels in Entsprechung setzen kann. In der ersten Phase übt er Kritik an den hypostasierten Vorstellungen von einfachen unabhängigen Realitäten, zum Beispiel »die Zeit« als einheitliche Substanz oder Macht, oder »die Vergangenheit«, »die Gegenwart« oder »die Zukunft« als selbständige Wirklichkeiten gedacht. Diese Kritik kann verglichen werden mit Hegels »Kritik einer Ontologie, die nur Seiendes und zwar Ansichseiendes behauptet« 14. Trotz der Wichtigkeit der Aufmerksamkeit (sati) auf den Augenblick und auf die Vergänglichkeit in der buddhistischen Meditation, bezieht sich die Kritik der Zeit in MK nicht auf eine empirische oder meditative Erfahrung der Zeit, sondern auf die Logik der einfachsten zeitlichen Kategorien. Die Analyse der gegenseitigen Beziehung der drei Zeitdimensionen bringt eine reflektierte Auffassung von Zeit. Sie weist darauf hin, dass jeder zeitliche Begriff nur in Beziehung zu etwas anderem, sei es zum vermeintlichen zeitlichen Seienden, sei es zu anderen zeitlichen Dimensionen, ihren Sinn besitzt. Jede Dimension der Zeit wird wechselweise die Herrschende. Gegenwart und Zukunft existieren nur in Abhängigkeit von Vergangenheit und darum haben sie keine wirkliche, wesentliche Existenz. Das Gleiche gilt für die anderen zwei Permutationen. Die drei Herrschaftsverhältnisse zwischen den Zeitdimensionen heben sich einander auf. Die gleiche Logik kann an Triaden wie »oben, mitte, unten« und an Dyaden wie »eins, vieles« angewendet werden (MK 19, 4). Eine ähnliche Argumentation betrifft die Beziehungen von Seher, Gesehenes und Sicht (MK 3), von einem 13 Zitiert nach: Michael Theunissen, Sein und Schein: Die kritische Funktion der Hegelschen Logik. Suhrkamp: Frankfurt 1980, 15. 14 Ebd., 25.
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Element und seiner Qualität (MK 5), vom Subjekt der Leidenschaften und den Leidenschaften selbst (MK 6) oder von Feuer und Brennstoff (MK 10). Das gegenseitige Verhältnis besagt die Inexistenz der relata. In einer Reflexionslogik denkt man alle diese Kategorien rein relativ. Doch in der zweiten Phase der Kritik sind diese relativen Reflexionsbestimmungen selbst als svabhāva entlarvt. Die gegenseitige Abhängigkeit ist problematisiert. Wenn zwei dieser Momente schon in dem Dritten existieren (oder im Falle einer Dyade, wenn der eine schon in dem anderen existiert), verlieren sie ihre eigene Identität (gegen die sat-kārya-vāda, von der Sāṃkhya-Philosophie, nach der die Wirkung schon in der Ursache vorgestaltet ist). Wenn sie nicht schon darin existieren, wie können sie davon abhängig sein (gegen die asat-kārya-vāda der Vaiśeṣika-Philosophie)? Die Relativität muss zu Ende gedacht werden, so dass alle vermeintliche Identität der relata verschwindet, und was bestehen bleibt, ist nur ein Spiel zwischen konventionellen Bezeichnungen. Warum erliegt der reflektierte Zeitbegriff der Kritik des svabhāva? Die wesenslogische Metaphysikkritik bei Hegel richtet sich dagegen, »daß der Verstand trotz seiner Einsicht in die Relativität an der Voraussetzung der Selbstständigkeit seiner Bestimmungen festhält« – Nāgārjuna richtet eine ähnliche Kritik gegen das begriffliche Gewebe der Abhidharma-Metaphysik. Das relative Verständnis zeitlicher Kategorien bleibt einem svabhāva-Denken verbunden, insofern als »der reflektierende Verstand die Selbständigkeit seiner Bestimmungen annimmt und zugleich deren Relativität setzt.« 15 Hegels Reflexionslogik ist eine Herrschafts-Struktur, insofern als »das Eine, das ›seinem Anderen‹ gegenübersteht, zugleich das Ganze ist, welches das Andere als sein eigenes Moment in sich enthält« 16. Die verstandesmäßige Relativität zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bleibt ein Versuch, die Wirklichkeit der Zeit zu kontrollieren, seine inhärente Widersprüchlichkeit zu verdrängen. Sie entlarvt die physische Unbeständigkeit der Zeit, jedoch um einen metaphysisch unanfechtbaren relativen Zeitbegriff herzustellen. Nach Hegel ist die einzig wahre Wirklichkeit eine, »in der die relatio alles ist und die relata nichts für sich zurückbehalten« 17. Dieses Ideal ist noch nicht durch die Ko-Implikation der drei 15 16 17
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zeitlichen Dimensionen erreicht. Nur in der Leerheit kann sich die Gleichheit (samatā) aller dharma (oder ihr gegenseitiges Eindringen, wie im Avataṃsaka Sūtra) erweisen. Wie die Wesenslogik in die Seinslogik zurückfällt 18, sind auch die Reflexionsbestimmungen bei Nāgārjuna entlarvt als gleichbedeutend mit den naiveren Seinsbestimmungen. Die gegenseitige Abhängigkeit der drei Zeit-Dimensionen ist nicht das abhängige Entstehen, das gleichbeutend mit der Leerheit ist. Sie ist noch eine hypostasierende Fixation einer vermeintlichen Identität der Zeit. Das Wesen der Zeit zu suchen war an sich schon ein Irrtum. Die Beziehungen der Zeitdimensionen müssen als widersprüchlich erkannt werden, um die Nichtigkeit der Zeit zu beweisen. Die Sarvāstivādin, gegen die Nāgārjuna polemisiert, waren nicht Anhänger eines unveränderlichen Seins im Sinne Parmenides. Sie wussten, dass alle Phänomene vergänglich, nur momentan sind. Die Beständigkeit, die sie in den Zeitdimensionen anerkannten, war vermutlich nur die einer leeren Stelle, die früher oder später mit konkretem momentanen Gehalt zu füllen gewesen wäre. Aber Nāgārjuna entlarvt auch in diesen abstrakten, begrifflichen Beziehungspunkten ein Anhaften an dem substantiellen Sein. Er benutzt nicht das scheinbar nächstliegende Argument, dass, weil die Seienden (bhāva) zeitlich sind, sie an der Wackeligkeit der Zeit teilhaben müssen. Im Gegenteil, er sagt, dass, weil das bhāva sich als leer erwiesen hat, die Zeit, die von ihr abhängt, auch leer sein muss (MK 19, 6). So überwindet er den subtileren Anspruch auf svabhāva, der den zeitlichen Kategorien anhaftet. Der kleine Denkversuch, den wir eben unternommen haben, genügt, um zu zeigen, wie verwickelt und wie fragwürdig eine Auseinandersetzung zwischen der Dialektik Hegels und der Dialektik Nāgārjunas sein würde. Wir verlieren sehr bald den festen Boden unter den Füßen. Trotzdem gibt die Begegnung viel zu denken und sie verspricht fruchtbarer zu werden, je klarer das Verständnis der Denkmethoden des Madhyamaka wird. Es scheint ratsam, um die Begegnung zu beschleunigen, mit Theunissen die negative Seite von Hegels Denken zu betonen und seine kritischen Kräfte ganz frei walten zu lassen. Das Resultat wird nicht ein nihilistischer danse macabre zwischen dem deutschen Professor und dem indischen Mönch sein, sondern ein Tanz
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der Begriffe, die, ihre eigene Leere erkennend, sich dem gnädigen Raum der Weisheit eröffnen können.
Literatur Angot, Michel, Le Nyāya-sūtra de Gautama Akṣapāda; Le Nyāya-bhāṣya d’Akṣapāda Pakṣilasvāmin: L’art de conduire la pensée en Inde ancienne. Les Belles Lettres: Paris 2009. Gopnik, Alison, »Could David Hume Have Known about Buddhism? Charles Francois Dolu, the Royal College of La Flèche, and the Global Jesuit Intellectual Network«, in: Hume Studies 35 (2009), 5–28. Henrich, Dieter, »Formen der Negation in Hegels Logik«, in: Horstmann, Seminar, Dialektik in der Philosophie Hegels, a. a. O., 213–229. Horstmann, Rolf-Peter (Hg.), Seminar: Dialektik in der Philosophie Hegels. Suhrkamp: Frankfurt 1978. Masson-Oursel, P., et al., L’Inde antique et la civilisation indienne. Albin Michel: Paris 1951. Murti, T. R. V., The Central Philosophy of Buddhism. Allen and Unwin: London 1960. Newland, Guy, The Two Truths, Snow Lion: Ithaca 1992. Ruben, Peter, »Von der ›Wissenschaft der Logik‹ und dem Verhältnis der Dialektik zur Logik«, in: Horstmann, Seminar: Dialektik in der Philosophie Hegels, a. a. O., 70–100. Theunissen, Michael, Sein und Schein: Die kritische Funktion der Hegelschen Logik. Suhrkamp: Frankfurt 1980. Wynne, Alexander, »The ātman and its negation: A conceptual and chronological analysis of early Buddhist thought«, in: JIABS 33/1–2 (2010), 103–171.
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Hinduistische Nicht-Dualität (Advaita) und christliche Mystik bei Henri Le Saux
In diesem Beitrag möchte ich die wohl sublimste und philosophisch anspruchsvollste Form hinduistischer Mystik, nämlich den sogenannten Advaita-Vedanta von Shankara, mit der christlichen Mystik vergleichen. Dabei werde ich nach einem Seitenblick auf Meister Eckhart hauptsächlich auf die trinitarische Umsetzung des Advaita-Vedanta eingehen, die der französische Benediktiner Henri Le Saux vollzogen hat. Denn hier finden hinduistische und christliche Mystik auf eine genuine Weise zueinander, in der sich die christliche Begegnung mit Gott als Du mit der hinduistischen Erfahrung des Absoluten in der IchForm verbindet.
1. Der Advaita-Vedanta von Shankara 1.1 Historische Situierung Der Vedanta, wörtlich das Ziel oder das Ende des Veda, des heiligen Wissens, versteht sich als die Vollendung der hinduistischen Überlieferung, die auf die Veden als ihre ewige Urform zurückgeht und in den Upanishaden ihren maßgeblichen Ausdruck gefunden hat. Zentrale Aussage ist die Behauptung der Identität von atman und brahman, des menschlichen Selbst und des Absoluten, wie sie in den sogenannten vier »großen Worten« (mahavakya) ausgesprochen wird: 1. »Bewusstsein ist brahman« 1, 2. »Ich bin brahman« 2, 3. »Das bist du« 3, die be-
Die Sanskritformel prajnanam brahma stammt aus der Aitareya-upanishad des Rigveda. 2 Aham brahmasmi, aus der Brihadaranyaka-upansihad des Yajurveda. 3 Tat tvam asi, aus der Chandogya-upanishad des Samaveda. 1
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kannteste und bedeutsamste Formel, und schließlich 4. »Dieses Selbst ist brahman« 4. Shankara, der um 800 nach Christus gelebt hat, ist der große philosophische Interpret des Vedanta, der die Identität von atman und brahman als strikte »Nicht-Dualität« – a-dvaita – ausgelegt hat, was man in Begriffen westlicher Philosophie nur ungenau als »Monismus« wiedergeben kann. Er verfasste vor allem einen großen Kommentar zu den brahmasutra, 5 einer Sammlung von Aphorismen der VedantaPhilosophie, sowie Kommentare zu den wichtigsten Upanishaden; daneben werden ihm auch viele kleinere Traktate sowie Hymnen zugeschrieben. 6
1.2 Shankaras Ansatz, Methode und Ziel Dass Shankara vor allem Kommentare geschrieben hat, kommt nicht von ungefähr. Anders als in der cartesischen europäischen Tradition besteht nämlich für ihn Philosophie nicht im Rückgang auf unerschütterliche Vernunftwahrheiten, auf denen ein philosophisches System aufgebaut werden kann. Vielmehr ist die letzte Weisheit durch die Identitätsformeln der Upanishaden immer schon vorgegeben. Sie verdankt sich einem übermenschlichen, überzeitlichen Ursprung und übersteigt damit jede rein menschliche Vernunfterkenntnis. Wahre Philosophie kann deshalb nur im denkerischen Nachvollzug dessen bestehen, was in den Identitätsformeln vorgedacht ist, womit sie mehr Ähnlichkeit mit einer christlichen Theo-Philosophie hat, wie sie von Meister Eckhart in seinem Opus tripartitum versucht wurde. Die Botschaft der Upanishaden ist für Shankara gleichsam die Inspirationsquelle, um das alle Erscheinungswelt Übersteigende zu denAyam atma brahma, aus der Mandukya-upanishad des Atharvaveda. Vgl. P. Deussen, Das System des Vedanta. Nach den Brahma-Sutra’s des Bdarayana und dem Kommentar des Shankara über diesselben. Brockhaus: Leipzig 1906. 6 Die folgende Darstellung stützt sich vor allem auf die vorzügliche kurze Einführung von Lacombe und auf Hulin, die zur Zeit wohl beste Monographie über Shankara (mit Textauszügen): O. Lacombe, »Shankara, héraut de l’hindouisme«, in: Orient et occident. Parole et Silence: Paris 2001, 35–44; M. Hulin, Shankara et la non-dualité. Bayard: Paris 2001; vgl. auch O. Lacombe, L’Absolu selon le Vedanta. 2e éd., Geuthner: Paris 1996; E. Deutsch, Advaita Vedanta. A Philosophical Reconstruction. University Press Hawaii 1971. 4 5
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Hinduistische Nicht-Dualität (Advaita) und christliche Mystik bei Henri Le Saux
ken, nämlich die ursprüngliche Einheit des Seins vor und hinter jeder phänomenalen Vielfalt, jeder »Zweiheit« von Subjekt und Objekt. Damit scheint die Erfassung der »Nicht-Dualität« als Ziel aller philosophischen Reflexion auf. Diesen Reflexionsweg beschreitet aber Shankara letztlich nicht mit einer theoretischen, sondern mit einer praktischen Absicht. Die Identität unseres Selbst mit dem Absoluten will am Ende nicht gedacht, sondern gelebt sein, um so die Befreiung aus der Verstrickung in die Welt der Vielfalt, des Scheins und der Wiedergeburt zu bringen – im Einklang mit den erlösten Weisen, die seit Urzeiten die unterschiedslose Einheit mit dem absoluten Sein erfahren haben.
1.3 Vom bedingten individuellen Ich zum unbedingten universellen Selbst Oberster Grundsatz von Shankaras Philosophie ist die Aussage »Brahman allein ist Wirklichkeit, die Welt ist eine Illusion« 7. Die Wahrheit dieser Aussage demonstriert Shankara vor allem im Ausgang vom menschlichen Ich, und zwar in einer Art von Reduktion, die man durchaus als »transzendental« bezeichnen darf. 8 Ähnlich wie beim cartesischen Cogito zeigt Shankara, dass das denkende Subjekt bei allen Weltvorstellungen gleichsam als Zeuge mit dabei ist. Aber es nimmt sich als ein beschränktes, kontingentes, vom Weltlauf abhängiges Subjekt wahr. Wie entsteht diese Situation eines, wie der Vedanta will, an sich absoluten, welt- und zeitenthobenen Wesens? Um diesen Zustand zu erklären, entwickelt Shankara seine Theorie der »Auferlegung« (adhyasa). Gefangen in der materiellen Welt und damit im Reich des Nichtwissens, legt sich das Selbst alle ihm äußerlichen Zustandsbedingungen seiner weltlichen und zeitlichen, materiell bedingten Existenzform auf, obwohl diese Determinierungen ihm als der allein wahrhaften, mit brahman identischen Wirklichkeit grundsätzlich fremd sind. Von dieser Übertragung rührt der Schein einer unendlichen Vielfalt individueller Lebewesen mit ihrem je eigenen Körper, ihrem organischen Aufbau und einer Hierarchie von Vermögen her, die von den Sinnen 7 8
Brahman satyam jagan mithya. Vgl. Hulin, Shankara et la non-dualité, 54. So ebd., 57.
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bis zum Intellekt reicht. Jedes dieser Wesen schreibt sich eine individuelle Existenz zu, aber diese Zuschreibung ist eine Illusion, insofern die Individualität allein die Folge der dem Selbst auferlegten Zustandsbedingungen ist. Diese Auferlegung bringt eine Verfremdung mit sich, der zufolge das in seiner Einzigkeit in allen Wesen gegenwärtige Bewusstseinsprinzip sich notwendig verkennen muss. In Entsprechung zu dieser Verfremdung erfolgt auch die Befreiung. Mit Hilfe der heiligen Schriften und unter Anleitung eines Gurus vermag der Einzelne diesen Verfremdungseffekt zu durchschauen und die ursprüngliche, unter dem Schleier der Illusion fortbestehende absolute Existenz wieder herzustellen, womit er zum wahrhaft Erkennenden, zum jnani wird. Das absolute, in jedem Ich präsente Selbst darf man sich nicht als etwas Allgemeines im Sinn einer abstrakten Gattung vorstellen. Es ist vielmehr, mit Hegel gesprochen, ein konkret Allgemeines. Es wird der Erfahrung zugänglich, wenn das Ich jede individuierende Bedingung von sich negiert und sich immer wieder vorsagt, dass es »nicht dieses, nicht dieses« (neti, neti) im Sinne einer objektivierbaren Besonderheit an ihm ist. Was bei diesem Negationsprozess übrig bleibt, ist allein das reine, von jeder Besonderheit freie und damit uneingeschränkte Sein. Dieses wird in der ungeteilten Einheit von drei Seinsweisen erfahren, die es, anders als Qualitäten, die ein Wesen hat, in sich ist: als Sein (sat), ineins damit als Bewusst-sein (cit) und zugleich als Glückseligsein (ananda). Diese dreifache Selbstauslegung des Absoluten ergibt zusammen genommen die Formel saccidananda, die gleichsam als der eigentliche Gottesname des Vedanta betrachtet werden darf. Sie ist die letztmögliche Fassung des in sich wesenden Absoluten, mit dem sich das menschliche Selbst in der Befreiung von all seinen Bedingtheiten als identisch zu erfahren vermag und so ohne Differenz dieses absoluten Seins teilhaftig wird, womit sich der Sinn der Identitätsformel tat tvam asi, »Das bist du« erfüllt.
1.4 Absolute und relative Betrachtungsweise Shankaras Genie besteht nicht zuletzt darin, dass er diesen kompromisslosen Aufstieg zum einen Absoluten mit einer Anerkennung der phänomenalen Vielfalt zu verbinden wusste, die auf die Bedingtheit der menschlichen Existenz abgestimmt ist. Die absolute und die 472 https://doi.org/10.5771/9783495808405 .
Hinduistische Nicht-Dualität (Advaita) und christliche Mystik bei Henri Le Saux
menschlich bedingte, relative Betrachtungsweise bilden gleichsam die Vertikale und die Horizontale seines Denkrahmens. 9 In der Horizontalen räumt Shankara nun auch einem persönlichen Gott – isvara – einen Platz ein, der das Universum erschaffen hat und zu dem sich der Gläubige verehrend hinwenden kann. Damit trägt Shankara einer zu seiner Zeit im Hinduismus weit verbreiteten Volksfrömmigkeit Rechnung. Aber die Berücksichtigung der phänomenalen Welt ist durchaus Teil seines Denkens. Der persönliche Gott ist auch Schöpfer einer kosmischen Ordnung. Diese in ihrem hierarchischen Aufbau bis hin zum Menschen zu analysieren ist Aufgabe der Wissenschaft. Doch die Erscheinungswelt mit ihren Stufen und der Mensch mit seinen verschiedenen Vermögen bilden grundsätzlich Ordnungen zweiten Ranges. Ihre phänomenologische Betrachtung bleibt der metaphysischen Theorie des Absoluten nachgeordnet. Und auch der Gläubige, der seinen Gott anbetet, aber gerade bei dieser Anbetung davon ausgeht, dass Gott von ihm getrennt ist und ihm als ein anderer gegenübersteht, selbst wenn er ihm als »Du« begegnet, lebt in einer Gottesbeziehung, die für Shankara nur eine vorläufige sein kann. Denn sie steht unter den Bedingungen der Zweiheit. Für den wahren Weisen des advaita, der Nichtdualität, kann es eine solche Differenz nicht mehr geben. Indem er alle seine Bedingtheiten abstreift, ist auch Gott für ihn kein Gegenüber mehr, sondern die als unterschiedslos und ungetrennt erfahrene Einheit des Absoluten selbst.
2. Shankara und Meister Eckhart Obwohl es nicht in der Absicht dieses Beitrags liegt, einen fundierten Vergleich zwischen dem Advaita-Vedanta und Meister Eckhart anzustellen – was auf wenigen Seiten ohnehin unmöglich ist –, erscheint ein Blick auf Meister Eckhart unverzichtbar. Denn einerseits ist Eckhart allgemein die Hauptfigur, wenn es darum geht, Bezüge zwischen dem Advaita-Vedanta und der christlichen Mystik herzustellen. Andererseits zeigt sich die Ursprünglichkeit und Neuartigkeit der im nächsten Teil verfolgten Umsetzung des Advaita-Vedanta in eine christliche Trinitätsmystik gerade in Abhebung vom Vergleich mit Eckhart und überhaupt von einem vergleichend vorgehenden Verfahren. 9
Vgl. Lacombe, »Shankara, héraut de l’hindouisme«, 37 f.
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Reto Luzius Fetz
Bahnbrechend für die Aufeinanderbeziehung von Shankara und Eckhart war das 1926 erschienene große Werk »West-östliche Mystik« von Rudolf Otto. Der bekannte Marburger Theologe und Religionshistoriker, der in seinem Buch »Das Heilige« die berühmt gewordene Fassung des Numinosen als Mysterium fascinosum et tremendum vorgelegt hatte, sieht in Shankara und Eckhart die beiden klassischen Vertreter und Haupttypen östlicher und westlicher Mystik. Der Vergleich beider ermöglicht laut Otto nicht nur eine Wesensbestimmung der Mystik, sondern zeigt auch die fundamentalen Übereinstimmungen zwischen Ost und West auf – bei allen nicht zu leugnenden Unterschieden. Nennen wir im Anschluss an Otto die entscheidenden Punkte. Basis und Ausgangspunkt aller Vergleiche zwischen Shankara und Eckhart ist deren übereinstimmende Metaphysik, sind die nahezu identischen Aussagen über das Sein. Wie das Sein (sat) bei Shankara mit brahman, so wird das Esse bei Eckhart mit Gott gleichgesetzt. Bei beiden ist es ein reines Sein jenseits aller partikulären Bestimmungen, demgegenüber die phänomenale Welt als eine Illusion, die Kreatur als ein Nichts erscheint. Beide unterscheiden auch zwischen impersonaler Gottheit und personalem Gott, zwischen brahman und isvara, Deitas und Deus. Diese gemeinsame Metaphysik wird bei Shankara wie bei Eckhart als Heilslehre verstanden. Sich über die phänomenale und illusionäre, dem Werden und Vergehen unterworfene Welt zum Sein zu erheben und mit ihm eins zu werden, bedeutet Heil und Erlösung. Der Weg aus der Vielheit zum einen Sein mit seiner Wesensfülle aber führt bei beiden über die Erkenntnis. Und wiederum ist es eine Erkenntnis, die nicht die Sinne und den Intellekt bemüht, sondern sich bei Shankara im Selbst (atman) und bei Eckhart im Seelengrund vollzieht, wo der Mensch seit Urzeiten mit dem Göttlichen eins ist und trotz aller Verfremdung durch seine sinnlich-weltliche Bedingtheit wieder eins werden kann. Neben den – zum Teil nahezu wörtlichen – Übereinstimmungen und ideellen Gemeinsamkeiten zwischen Shankara und Eckhart dürfen aber auch die Unterschiede nicht übersehen werden. Das betrifft einmal das Verhältnis von Einheit und Vielheit. Schließt bei Shankara das Eine letztlich die Vielheit aus, so erscheinen bei Eckhart Gott und seine Geschöpfe in einer lebendigen Polarität. Anders als Shankaras Scheinwelt hat die Kreatur bei Eckhart ihre echte Werthaftigkeit als Abglanz von Gottes Herrlichkeit. Daraus entspringt nicht nur ein anderes Welt474 https://doi.org/10.5771/9783495808405 .
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gefühl, sondern auch eine andere Einstellung zum Tätigsein in dieser Welt, zur aktiven Nächstenliebe. Alle diese Punkte müssten durch Belege gesichert und im Licht neuerer Forschung präzisiert werden 10. Aber sie zeigen zumindest, dass ein inhaltlicher Vergleich zwischen den Aussagen von Shankara und Meister Eckhart nicht nur möglich ist, sondern sich aufgrund der angedeuteten Übereinstimmungen geradezu aufdrängt – auch wenn am Ende die Differenzen noch bedeutsamer sein sollten. Und natürlich ist Shankara auch mit den anderen christlichen Mystikern zu vergleichen, wo die Gemeinsamkeiten nicht derart frappierend sind und dafür der genuin christliche Zug ausgeprägter erscheint – insbesondere mit Johannes vom Kreuz. Aber auch hier würden sich die Vergleiche auf der Ebene der Texte, der Begriffe und Aussagen bewegen. Einen ganz anderen Weg beschreiten wir nun, wenn wir der trinitarischen Umsetzung des Advaita-Vedanta nachgehen, die der Benediktiner Henri Le Saux vollzogen hat.
3. Die mystische trinitarische Umsetzung des Advaita-Vedanta durch Henri Le Saux 3.1 Henri Le Saux: Leben und Werk 1910 in der Bretagne geboren, tritt Henri Le Saux 1929 in die Benediktinerabtei Sainte Anne de Kergonan ein. 1931 legt er die Ordensgelübde ab und wird 1935 zum Priester geweiht. 1939 mobilisiert, gerät er in Gefangenschaft, kann fliehen und trägt nach 1945 zum Wiederaufbau seiner Abtei bei. Schon früh fasziniert ihn die Geisteswelt Indiens. Der französische Priester Jules Monchanin hatte in seinem Buch Mystique de l’Inde, mystère chrétien das Ideal eines ganz auf den Hinduismus ausgerichteten monastischen Lebens vorgezeichnet, bei dem Christen soweit wie nur möglich die Lebensform und Spiritualität hinduistischer Mönche
Vgl. den Forschungsbericht von N. Largier, »Meister Eckhart und der Osten. Zur Forschungsgeschichte«, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 34 (1987), 111–119; A. Wilke, Ein Sein – Ein Erkennen. Meister Eckharts Christologie und Samkaras Lehre vom atman: Zur (Un-)Vergleichbarkeit zweier Einheitslehren. Lang: Bern 1995.
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übernehmen sollten. 1947 folgt Le Saux seinem Ruf, reist nach Indien, und zusammen gründen sie ein Ashram. Le Saux, der den hinduistischen Namen Swami Abhishiktananda annimmt, verbringt fortan sein Leben teils in der schlichten Behausung des Ashram, teils als Wandermönch, wobei er in Grotten lebt und lange Pilgerreisen durch den Himalaya unternimmt. Daneben hält er auch Einkehrtage für christliche Ordensgemeinschaften. 1973 ist er in Indore an einem Herzversagen gestorben und liegt dort begraben. 11 Le Saux war in missionarischer Absicht nach Indien gekommen: der Hinduismus sollte gleichsam von innen her missioniert werden. Doch der Bekehrer wird durch seinen intensiven Kontakt mit dem Advaita-Vedanta und dessen prägenden zeitgenössischen Vertretern wie Shri Ramana Maharshi 12 immer mehr zum Bekehrten. Mehr als einmal droht sein christlicher Glaube zu zerbrechen, doch seine Treue zu seinem sadguru Christus bleibt letztlich unerschüttert. Seine inneren Kämpfe, sein Hin- und Hergerissenwerden zwischen Christentum und Vedanta sind in seinem Journal intime (MC) genau nachzulesen, das ein einzigartiges Dokument radikaler interkultureller religiöser Auseinandersetzung darstellt. Trotz seines unsteten Wanderlebens verfasste Le Saux zahlreiche Bücher und Schriften, in denen er seine Erinnerungen an die ihn prägenden hinduistischen Stätten und Gestalten niederlegte (SA), Einführungen in die Upanishaden gab (IU) und sich mit Grundsatzfragen der Begegnung von Christentum und Hinduismus auseinandersetzte. Kern seiner Reflexionen sind die christlichen Dogmen von Trinität und Inkarnation. 1965 legte er ein Buch mit dem Titel Sagesse hindoue, mystique chrétienne: du Vedanta à la Trinité vor, indem er den Vedanta aufgrund seiner eigenen spirituellen Erfahrung trinitarisch umzudeuten versuchte. Fünf Jahre später soll eine englische Übersetzung dieses Buches erscheinen. Doch Le Saux kann nicht mehr zu der ersten Fas-
Leben und Werk von Henri Le Saux sind eindringlich dargestellt und gedeutet von M.-M. Davy, Henri Le Saux. Le passeur entre deux rives. Édition revue et augmentée. Albin Michel: Paris 1997, 272–280; vgl. auch C. Hackbarth-Johnson, Spirituelle Erfahrung in der globalisierten Welt: Henri Le Saux/ Swami Abishiktananda (1910–1973) – das Beispiel eines interreligiösen Pioniers. www.rpi-virtuell.net Tg-INTRA 2010/Hack barth-Johnson – Henri Le Saux. 2010. 12 Zu Shri Ramana Maharshi vgl. R. L. Fetz, Shri Ramana Maharshi: Vom Ich zum Selbst. LIT: Berlin 2006. 11
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sung stehen. So arbeitet er sie in seinen letzten Jahren intensiv um. Diese Überarbeitung wurde dann nachträglich auch in die französische Neuausgabe von 1991 integriert, die damit als die authentische Fassung des bedeutsamsten Werkes von Le Saux gelten kann. 13 Sie liegt hauptsächlich (mit dem Sigel SM) der folgenden Darstellung zu Grunde. In Frankreich wird Le Saux seit Jahrzehnten rezipiert und diskutiert, 14 er gilt als radikaler Wahrheitssucher und als eine originale, authentische Stimme im christlich-hinduistischen Dialog. Im deutschen Sprachraum hingegen bahnt sich mit den in den letzten Jahrzehnten erschienenen Übersetzungen eine Rezeption erst an. 15
3.2 Advaita-Vedanta und Christentum Für Henri Le Saux gehört die Einheitserfahrung mit dem Absoluten des Advaita-Vedanta zu den sublimsten spirituellen Erfahrungen der Menschheit. Sie erreicht das Göttliche in einer Tiefe, wie sie die griechische Metaphysik trotz all ihrer profunden Intuitionen nicht kennt (SM 45) und die überhaupt einer mit Begriffen arbeitenden Philosophie nicht zugänglich ist (SM 106). Der Mensch wird hier auf einzigartige Weise im Innersten seines Selbst mit Gott völlig eins. Aber der Aufruf des Advaita-Vedanta zu einem restlosen Identischwerden mit dem Absoluten stellt jeden westlich eingestellten Menschen und auch jeden Christen vor ein scheinbar unlösbares Dilemma: entweder muss er für alle Zeiten auf der vorletzten Ebene der Zweiheit und damit der Vielheit und Relativität stehen bleiben, oder er muss seine Identität und Individualität und damit sich selbst im gewöhnlichen Wortsinn
Vgl. das Avant-Propos von Odette Baumer-Despeigne, SM 11–17. Vgl. J. Dupuis, Jésus Christ à la rencontre des religions. Desclée de Brouwer: Paris 1989, 80–145; Davy, Henri Le Saux. Le passeur entre deux rives; A. Gozier, Le père Henri Le Saux à la rencontre de l’hindouisme. Editions Arsis: Paris 2008. 15 Vgl. B. Bäumer, »Henri Le Saux – Abishiktananda«, in: Ruhbach, G., Sudbrack, J. (Hg), Große Mystiker. Leben und Wirken. Beck: München 1984, 338–354; C. Hackbarth-Johnson: Interreligiöse Existenz. Spirituelle Erfahrung und Identität bei Henri Le Saux OSB/Swami Abishiktananda. Lang: Frankfurt 2003; »Spirituelle Erfahrung und ihre Deutung bei Shri Ramana Maharshi und Henri Le Saux«, in: Ricken, F. (Hg.), Religiöse Erfahrung. Ein interdisziplinärer Klärungsversuch. Kohlhammer: Stuttgart 2004, 199–214; Spirituelle Erfahrung in der globalisierten Welt: Henri Le Saux/Swami Abishiktananda (1910–1973) – das Beispiel eines interreligiösen Pioniers. 13 14
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aufgeben, um sich im einen Sein des Absoluten zu verlieren (SM 78, 225). Le Saux behauptet nun, dass allein das Christentum fähig ist, dieses Dilemma aufzulösen, vor das der Advaita-Vedanta alle Philosophien und Religionen stellt (SM 82). Die Lösung aber bringt der trinitarische Gott, das Absolute in der Form der Dreifaltigkeit, die zugleich drei und eins ist. Le Saux wagt die Aussage, dass es außerhalb der Offenbarung der Trinität keine wirkliche Alternative zum Advaita-Vedanta gibt, die ihm auf gleicher Höhe zu begegnen vermag (SM 145). Diese Behauptung hat nun für Le Saux nur Sinn, wenn man die Trinität nicht von außen, als einen Gegenstand der spekulativen Theologie betrachtet, sondern sich in das Innere des trinitarischen Lebens hineinversetzt. Weil Vater und Sohn im Heiligen Geist eins sind, bilden sie die höchstmögliche Form einer »Nicht-Zweiheit«, die jedoch nicht solitär in sich verschlossen bleibt, sondern sich einem Du öffnet. Und weil der Christ gemäß Johannes und Paulus in Christus zur gleichen Sohnschaft berufen ist, ist die »Nicht-Zweiheit« mit Gott bei gleichzeitiger liebender Begegnung ebenso das Letztziel seines gläubigen Lebens. So kann nach Le Saux das in das trinitarische Leben Gottes hinein genommene Leben des Christen in einem die »Nicht-Zweiheit« des Advaita verwirklichen und zugleich dem obigen Dilemma entgehen. Damit können wir nun die Beweggründe verstehen, die Le Saux vom Advaita-Vedanta her eine Annäherung an die Trinität suchen lassen. Für ihn ist die traditionelle Trinitätstheologie zu stark und zu ausschließlich von den Kategorien der griechischen Philosophie wie Person, Substanz, Relation und Akzidenz geprägt, die man heranzog, um das Mysterium der Trinität begrifflich zu fassen. Eine solche Konzeptualisierung war notwendig, um die Trinität vor Fehldeutungen zu bewahren. Aber sie geht laut Le Saux am wirklich gelebten inneren Leben des Gläubigen vorbei, der sich dem trinitarischen Gott verbunden und von ihm getragen weiß. Ziel einer erneuerten Trinitätstheologie müsste es deshalb sein, das Leben des einen und dreifaltigen Gottes mit der tiefstmöglichen Selbsterfahrung des Menschen zusammen zu sehen und zu verbinden, und dafür ist nun für Le Saux der Advaita-Vedanta der Ausgangspunkt (SM 25). Geschichtlich gesehen ordnet Le Saux den Hinduismus und mit ihm den Vedanta den Religionen der sogenannten »kosmischen Allianz« zu. Darunter sind die im weitesten Sinn »natürlichen« Religionen 478 https://doi.org/10.5771/9783495808405 .
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zu verstehen, die Gott im Ausgang von der Natur und vom Menschen mit seiner Tiefendimension verehren. Davon heben sich die historischen Religionen ab, die sich auf eine Offenbarung Gottes in der Geschichte zurückführen und deren stärkste Form das Christentum mit der Inkarnation Gottes in Christus ist. Der Advaita-Vedanta bildet für Le Saux den unüberholbaren mystischen Schlusspunkt in der Entwicklung der kosmischen Religionen. Aber die historische Religion des Christentums steht nicht notwendigerweise in einem Gegensatz zur kosmischen Religion. Le Saux sieht hier vielmehr zwei Etappen. In Christus als der Fülle des Geistes lassen sich auch alle spirituellen Wege der kosmischen Religion integrieren (SM 87–97). So zeichnet sich nun das Ideal einer höchstmöglichen Form von Religiosität in der Vereinigung von Advaita- Vedanta und Christentum ab, in der sich die tiefste Form natürlicher mystischer Selbsterfahrung mit der höchsten Selbstauslegung Gottes in der Geschichte verbinden würde. Und genau das ist es, was Le Saux aufgrund seiner doppelten Prägung als Christ und als vedantin aus innerster Überzeugung anstrebt. Advaita-Vedanta und Christentum zu verbinden ist aber für Le Saux mehr als ein persönliches Anliegen, nämlich eine historische Aufgabe, ein Gebot der Stunde. Sollte sich das Christentum als unfähig erweisen, die Erfahrung des Advaita-Vedanta als spirituellen Weg zu integrieren, so würde das für Le Saux bedeuten, dass das Christentum an eine Bewusstseinstufe gebunden ist, die nicht die letzte sein kann. Sein universeller historischer Wahrheitsanspruch, wie ihn die katholische Kirche vertritt, würde damit hinfällig; die Katholizität wäre keine wirkliche mehr (SM 83, 106). Von einer wahren Aneignung des positiven Gehalts des Advaita hingegen, die natürlich nicht ohne dessen Umwandlung vor sich gehen kann, erhofft sich Le Saux nicht nur eine Erneuerung der Theologie und insbesondere des Trinitätsverständnisses, sondern auch der christlichen Spiritualität und der Kontemplation (SM 111). Die Bedeutung, welche die griechische Philosophie für die begriffliche Rationalität des christlichen Glaubens erlangte, könnten Indien und speziell der Advaita-Vedanta für die christliche Mystik gewinnen (vgl. SM 44, YL 67).
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3.3 Vom Advaita-Vedanta zur Trinität Üblicherweise vergleicht man die christlichen Mystiker und insbesondere Meister Eckhart mit Shankara, um die Übereinstimmungen und Unterschiede zwischen Advaita-Vedanta und Christentum zu eruieren – wir haben es vorhin auch getan. In der Regel gelten die christlichen Mystiker dem hinduistischen Anhänger des Advaita als zu wenig radikal, weil sie trotz aller Affinität vor einer restlosen Aufgabe ihres persönlichen Selbst zurückschrecken und damit diesseits einer konsequenten Nicht-Zweiheit bleiben. Damit ist der vedantin auch nicht bereit, die christlichen Mystiker als eine mögliche Alternative zur monistischen Auslegung der Nicht-Zweiheit anzunehmen. Aber für den Christen gibt es ein viel bedeutsameres und gewichtigeres Zeugnis des Einsseins mit Gott als das der christlichen Mystiker, selbst der größten. Es ist die Erfahrung unmittelbarer Gottesnähe, von der Jesus selbst Zeugnis ablegt. Man kann laut Le Saux die Gottheit Jesu bezweifeln, aber die Einmaligkeit und Authentizität seiner Gotteserfahrung steht auch historisch gesehen über jedem Zweifel. Bei ihr muss darum eine wirklich ins Innerste dringende Aufeinanderbeziehung von AdvaitaVedanta und Christentum beginnen (SM 117). Für Le Saux ist nun bedeutsam, wie Jesus sich mit dem Vater eins weiß und der Vater gleichzeitig für ihn eine andere Person bleibt, ein anderes Ich, unterschieden von seinem eigenen Ich, zu dem Jesus »Du« sagen kann (SM 118). Das Geheimnis der Göttlichkeit Jesu spricht sich darin aus, dass er für sich den Gottesnamen »Ich bin« übernimmt, den Gott Moses offenbarte (SM 119). 16 Zwischen dem »Ich« von Jesus und Le Saux bezieht sich hauptsächlich auf Joh. 8, 24–28, zu denen man Vers 58 hinzufügen muss, und deutet das ego eimi im Sinne des alttestamentlichen »Ich bin der Ich bin« von Ex. 3, 14. So sehen es auch maßgebliche Bibelausgaben wie die Jerusalemer Bibel und die Traduction oecuménique de la Bible (vgl. die jeweiligen Anmerkungen zu den betreffenden Stellen) und so sahen es schon Augustinus (In Ioannem tr. XXXVIII, 8, CC 341) und Thomas von Aquin (Super Ev. S. Ioannis lectura., cap. VIII, lect. III, V, ed. Marietti n. 1179, IX, n. 1192; lect. VIII, IX, n. 1290). Schnackenburg, Das Johannesevangelium, 253 sieht im Anschluss an H. Zimmermann die Übersetzung mit ego eimi der Septuaginta sowie Stellen aus Deutero-Jesaia als Brücke zwischen Ex. 3, 14 und den Johannesstellen an (vgl. auch 252–254, 256 f., 300 f.). Diese absolute Auslegung ist jedoch nicht unbestritten; das ego eimi wird von modernen Exegeten auch mit »Ich bin es« wiedergegeben, womit es mit einem impliziten Prädikat verbunden werden muss. Vgl. X. Léon-Dufour, Lecture de l’Évangile selon Jean, Tome II. Éditions du Seuil: Paris 1990, der die absolute Interpretation für unmöglich hält (271) und – wohl auch im
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dem an seinen Vater gerichteten »Du« steht nichts Trennendes; das Einssein mit dem Vater und das Anderssein als der Vater besagen keine Zweiheit (SM 121). Wenn Jesus das fleischgewordene Wort Gottes ist, dann kann man nicht numerisch von zwei Wesen sprechen. Wenn es aber gleichzeitig heißt, das Wort sei bei Gott 17, dann ist Gott auch keine einsame Monade mehr (SM 124). Aus all dem zieht Le Saux den Schluss, dass die Gotteserfahrung Jesu das advaitische Einssein mit dem Absoluten einschließt, aber nicht darauf reduziert werden kann. Die solitäre Identität von atman und brahman wird bei Jesus zu einer Gemeinschaft; das »Ich« von Vater und Sohn öffnet sich in wechselseitiger Liebe einem »Du« (SM 123 f., 128). Die Einzigartigkeit der Gottesbeziehung von Jesus besteht somit darin, dass sie zugleich die Erfahrung einer Nicht-Zweiheit und eines die Identität der Person wahrenden Ich-Du ist. Und damit entgeht sie genau dem Dilemma, vor das der Advaita-Vedanta jedes auf die Bewahrung personaler Identität bedachte Denken stellt. Jesus als das fleischgewordene Wort Gottes ist zugleich auch der »Menschensohn«. Als solcher steht er stellvertretend für die ganze Menschheit, die an allem teilhat, was er wirkt (SM 131). Im einen Sohn Gottes ist darum jeder Mensch als »Sohn« mit eingeschlossen (SM 158). Dass der Mensch Ebenbild Gottes ist, erhält hier für Le Saux seinen tiefsten Sinn. Diese Ebenbildlichkeit kann nicht bloß bedeuten, dass sich zwischen den menschlichen geistigen Vermögen und der Trinität Entsprechungen aufzeigen lassen, wie Augustinus sie aufdeckte. Der Mensch ist nicht in dem Sinne Gottes Ebenbild, als wäre er gleichsam eine blasse Kopie von ihm. Ebenbildlichkeit bedeutet etwas viel Tieferes: Es ist der Sohn Gottes selbst, der sich im Menschen offenbart und lebt. Als Ebenbild Gottes hat der Mensch am innergöttlichen Leben teil; der Hervorgang des Sohnes aus dem Vater vollzieht sich in seinem eigenen tiefsten Selbst (SM 214). Damit ist für Le Saux der Weg vorgezeichnet, auf dem jeder Mensch zu einer so intimen Gottesbeziehung wie jener von Jesus gelangen kann. Er muss in sich zu jener Tiefe hinabsteigen, wo er nur
Hinblick auf Le Saux – jede Affinität mit Shankara abweist (305). Da jedoch Joh. 8, 58: »Ehe Abraham wurde, bin ich«, nur im absoluten Sinn von Ex. 3,14 aufgefasst werden kann, legt sich diese Auslegung prospektivisch auch für die gleichlautende Formel ego eimi in Joh. 8, 24 und 28 nahe. 17 Joh. 1, 1.
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noch Ebenbild Gottes ist, in dem vollen Sinn, dass er an der Sohnschaft Jesu und damit am innergöttlichen Leben partizipiert. Diese Ebene der Ebenbildlichkeit liegt unterhalb der Sinne und des Intellekts und damit der menschlichen Vorstellungen und Begriffe, mit denen, wie Meister Eckhart lehrt, nur ein »gedachter«, nicht aber ein »wesenhafter« Gott zu haben ist. Nur insofern das menschliche Sein als von Gott geschaffen unmittelbar aus Gott entspringt, partizipiert es auch an den innergöttlichen Prozessen, die von Ewigkeit her dem Erschaffen Gottes in der Zeit zugrunde liegen. Wie alle Mystiker lehren, muss der Mensch zuerst eine völlige Leere und Stille in sich schaffen, damit das Wort Gottes – und das heißt der Sohn – sich in ihm aussprechen kann (SM 156). Im »Ich« des Sohnes ist von Ewigkeit her auch jedes einzelne menschliche »Ich« eingeschlossen, und so ist jeder Mensch berufen, an der Sohnschaft Jesu teilzuhaben. Und in Christus – und nur in ihm – vermag er nun in eine Ich-Du-Beziehung zu Gott einzutreten, die ebenso intim ist wie jene von Jesus zu seinem Vater (SM 154). Diese Teilhabe am »Ich« des Sohnes in seinem »Du« zum Vater, die dem Menschen durch göttliche Gnade zuteil werden kann, ist die höchstmögliche Vollendung der Gottesbeziehung. In ausgeprägter Form kennt sie nur der christliche Mystiker. Aber sie hat ihre Vorstufen und beginnt schon im ahnungsvollen Staunen vor der Unergründlichkeit des menschlichen Selbst (SM 132). Sie erreicht eine neue Tiefe, wenn dem Ich bewusst wird, dass es nicht mit seinen Inhalten identisch ist, sondern diese begleitend über ihnen steht. Im Hinduismus wird diese Erkenntnis gezielt weiter verfolgt, indem jede Identifizierung des Selbst mit partikulären menschlichen Bestimmungen durch die Formel »Nicht dieses, nicht dieses« rückgängig gemacht wird, bis allein das reine Sein übrig bleibt. Dieses reine Sein, als mit sich selbst identisch in allen Dingen erfahren, offenbart sich als das Absolute jenseits aller Differenz. »Es ist« ist die einzige Aussage, die gemäß den Upanishaden von ihm gemacht werden kann (SM 217). Im Einssein mit diesem Absoluten sind Selbst und Sein identisch, spricht sich im »Ich bin« des jnani die dreifache ungeteilte Erfahrung des absoluten Seins (sat) als Bewusstsein (cit) und Glückseligsein (ananda) aus: Saccidananda, die höchstmögliche Fassung Gottes im Vedanta. Für den Christen spricht sich im »Ich bin« von Jesus, mit dem er den biblischen Gottesnamen »Ich bin der Ich bin« für sich beansprucht (SM 119), ein Selbst von ähnlicher Absolutheit aus. Und entscheidend 482 https://doi.org/10.5771/9783495808405 .
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für den von Le Saux vorgezeichneten Weg christlicher Mystik wird nun, ob der Christ bei den Lehren, Geboten und Ritualen seiner Religion stehen bleibt oder in ihnen Zeichen erblickt, die darüber hinaus weisen. Dieses alle äußeren Formen Übersteigende ist das gnadenhaft geschenkte reale Einwerden mit dem »Ich« von Jesus, gemäß dem Pauluswort, »nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir« 18. Wenn der Mensch von seinem oberflächlichen Ich zu seinem wesentlichen Ich hinabsteigt (SM 247) und im Tiefsten seiner selbst ein »Ich bin« vernimmt, das »Jener der ist« spricht (SM 81), dann ist er, wie Petrus schreibt, »der göttlichen Natur teilhaftig« 19 geworden, hat sich an ihm jene »Vergöttlichung« vollzogen, von der die griechischen Kirchenväter sprechen (YL 143). Dieses »Ich« Jesu, an dem der Christ aus göttlicher Gnade zu partizipieren vermag, spricht den Vater als »Du« an, weiß sich mit ihm eins im Heiligen Geist. Anders als der jnani, der in der solitären NichtZweiheit von brahman aufgeht, führt so den Christen sein mystischer Weg in die Gemeinschaft der drei göttlichen Personen. Und in der Erfahrung der Trinität wird ihm nun die höchste Offenbarung zuteil, die der jnani nicht kennt: Sein ist nicht Eins-sein als Einsam-sein, sondern Mit-Sein, co-esse, koinonia, ein wechselseitiger Aufruf zum Sein, ein Kommen-von und Gehen-zu, ein Schenken und Empfangen (SM 180). Darum lehrt das Neue Testament, dass Gott in der Einheit der drei Personen Liebe ist – agape. Eine volle Gemeinschaft jenseits der Vielheit kann nur von der Liebe getragen sein. Denn allein die Liebe vermag das Unterschiedensein der Personen zu überschreiten, ohne es aufzuheben (SM 184). In der Teilnahme an der göttlichen Liebe fallen auch für den Menschen alle Unterscheidungen zwischen Selbstliebe und Liebe zum Anderen dahin. Jede wahre Selbstliebe kann sich nur in der Liebe zum Anderen verwirklichen, und jede echte Liebe zum Anderen setzt ein liebendes Verhältnis zu sich selbst voraus. So löst die von der Trinität her verstandene Liebe die Antinomie von Selbst und Anderem der Griechen ebenso auf wie das Dilemma von Nichteins und Nicht-zwei der Weisen Indiens (SM 234). Auch die Trinität kann als saccidananda gedeutet werden: als das Sein (sat) des Vaters, der sich im Sohn als Bewusstsein (cit) ausspricht und im Heiligen Geist glückselig (ananda) mit ihm verbunden ist 18 19
Galater 2, 20. 2. Petrus 1, 4.
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(227 ff.). Aber die Trinität ist in der Einheit der drei Personen diese drei Seinsweisen nicht mehr im Modus der Alleinheit, sondern der Kommunion. Und so kann Le Saux schließlich behaupten, die Trinität sei über den Advaita-Vedanta hinaus der höchstmögliche Grad, in dem für den Menschen Andersheit in der Selbstheit, personale Identität in der Nicht-Zweiheit erfahrbar werde (vgl. IR 233). Wer in der Sohnschaft Jesu mit dem trinitarischen Gott eins geworden ist, erfährt auch sich und die Schöpfung neu. Im Geheimnis der Trinität ruht für ihn der Sinn von allem, was existiert (SM 179). Das gilt zunächst für die eigene Individualität. Im Unterschied zum Advaita wird sie nicht aufgehoben, sondern im Gegenteil auf neue Weise voll angenommen und bejaht. Eine Tagebuchaufzeichnung Le Saux’ bezeugt dies mit unüberbietbarer Direktheit: »Wenn mir das Geheimnis meines Seins in der göttlichen Sohnschaft voll bewusst geworden ist […], welcher Platz bleibt dann noch für ein wie immer geartetes Begehren, außer dem wesensgemäßen Verlangen, das zu sein, was ich bin?« (MC 289) Mit der Neuannahme des eigenen Selbstseins geht die Neubewertung der Welt einher. Für den jnani ist die Welt eine bloße Erscheinung des Seins, die keinen inneren Wert beanspruchen kann und dazu bestimmt ist, sich aufzulösen. Für den christlichen Mystiker hingegen trägt die Welt das Siegel des Absoluten. Die Verschiedenheit der Geschöpfe mit ihrem je besonderen Sein, ihrem Werden und Vergehen ist in Gott begründet und von ihm gewollt. Zeit und Ewigkeit stehen damit in einer inneren Beziehung zueinander. Nicht das Streben nach Zeitlosigkeit ist für den in der Trinität stehenden Menschen das Wahre. Entscheidend ist vielmehr, ob es ihm gelingt, die Ewigkeit in die Gegenwärtigkeit des jeweiligen Augenblicks herein zu holen. Im ewigen Hervorgang des Sohnes aus dem Vater ist auch der zeitliche Hervorgang der Geschöpfe mit einbegriffen. Damit wird der gegenwärtige Augenblick mit all seinen Umständen und Besonderheiten zum je einmaligen Geschenk des Vaters. Er ist der Ort, wo der trinitarisch verankerte Christ in der Einheit mit dem Sohn den Willen des Vaters zu erfüllen sucht (SM 191 f.). Folglich kennt er auch keine Trennung zwischen dem Heiligen und dem Profanen. Ob Gottesdienst oder Alltagsarbeit, jedes Werk ist ihm heilig, wenn es in Gott vollbracht wird (SM 202).
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3.4 Kritische Reflexion: Synkretismus oder Einheit im Glauben? Le Saux’ Versuch, den Advaita-Vedanta trinitarisch zu transformieren, ist ein so gewagtes und radikales Unterfangen, dass sich am Schluss unweigerlich die kritische Frage nach seiner Kohärenz und Gültigkeit stellt. Kommt dieser Versuch einem Synkretismus gleich, der unvereinbare Positionen auf Biegen oder Brechen zusammen führen will und dabei notwendig die eine oder die andere Seite verfälschen muss? Oder liegt hier wirklich eine Synthese vor, die in einer inneren Zusammengehörigkeit zweier nur scheinbar disparater Höhepunkte religiöser Erfahrung verankert ist? Wenn ja, wie kann diese Synthese begründet werden? Lässt sich das Ineins von Advaita und Trinität mit den Mitteln religionsgeschichtlicher und religionsphilosophischer Reflexion erweisen, oder ist sie letztlich ein Glaubensakt? Diesen Fragen, die Le Saux selbst am Schluss seines Hauptwerks (SM 243–245) gestellt hat, müssen wir nun nachgehen. Beginnen wir mit Präliminarien. Le Saux gibt sich keinen Illusionen hin, dass Hindus und Christen seinem Versuch ohne weiteres zustimmen könnten. Fest im Advaita verwurzelte Hindus werden darin eine Aufweichung ihrer Grundüberzeugungen erblicken, die nur von dem wegführen kann, was für sie entscheidend ist. Verdächtig muss dieser Versuch aber auch den Christen vorkommen, die sich im gewohnten begrifflichen Rahmen der Trinitätstheologie und in der traditionellen Glaubenspraxis sicherer fühlen als auf den Wegen unmittelbarer mystischer Erfahrung, die am Ende über alle Begriffe, Symbole und Rituale hinausführt (vgl. SM 82). Ebenso ist sich Le Saux bewusst, dass er auch alle jene enttäuschen muss, die nach klassischer Manier eine theoretische Gegenüberstellung und einen Punkt für Punkt Vergleich von Advaita und Trinität erwarten, bei dem am Ende alle mit dem eigenen theologischen System unvereinbaren Elemente ausgeschieden werden (SM 243 f.). Aber eine solche theoretische Konfrontation übersieht, dass sowohl im Hinduismus wie im Christentum mit den dogmatischen Formeln nicht alles gesagt ist, dass diese vielmehr nur Hinweise auf eine Wirklichkeit sind, die sich am Ende jeder begrifflichen Fassung entzieht. Wie für Pascal ist für Le Saux schließlich das Herz entscheidend: der unmittelbare Pulsschlag der eigenen Tiefenerfahrung, beim dem der Mensch wirklich er selbst und bei sich ist (SM 244). Als falsch muss nach Le Saux auch jene Auffassung zurückge485 https://doi.org/10.5771/9783495808405 .
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wiesen werden, die den Advaita als etwas völlig außerhalb der christlichen Offenbarung Liegendes und ihm Wesensfremdes ansieht. Le Saux scheut nicht vor der Behauptung zurück, dass der Advaita in Tat und Wahrheit auch im Evangelium präsent ist. Dabei denkt er, wie wir gesehen haben, insbesondere an die »Ich-bin« Aussagen Jesu bei Johannes, in denen Jesus den alttestamentlichen Gottesnamen »Ich bin der Ich bin« für sich in Anspruch nimmt. Im Advaita wird dieses »Ich-bin« des Absoluten in der reinsten und intensivsten Form zum Ausdruck gebracht. Aufgrund dieser Affinität ist der Advaita eine Einladung an jeden Christen, die verborgenen Tiefendimensionen des Evangeliums und der eigenen Selbsterfahrung neu zu entdecken und zu überdenken, die die westliche Tradition der Theologie vernachlässigt hat (SM 244). 20 Kommen wir nun zum entscheidenden Punkt, zum Übergang von der absoluten Einheitserfahrung des Advaita zum trinitarischen Gott. Dieser Gott ist keine einsame Monade mehr, sondern die Gemeinschaft von drei Personen, womit sich das Sein in seinem tiefsten Grund als Mit-Sein, co-esse, koinonia offenbart, wie Le Saux emphatisch darlegt. Aber gerade dieses neue Seinsverständnis kann nun mit psychologischen Argumenten radikal in Zweifel gezogen werden. Welche Sicherheit besitzt der Christ, dass dieser Rekurs auf den trinitarischen Gott inmitten des einen Seins des Advaita nicht eine sublime Selbsttäuschung ist, um sich im letzten Moment aus dem unwiderstehlichen Sog der jede Individualität vernichtenden Nicht-Zweiheit zu retten? Es könnte ja sein, dass die Ersetzung des einen Seins durch den dreifaltigen Gott nur der verzweifelte Versuch ist, Vielheit und Individualität doch noch aufrecht zu halten, indem sie nun in das innergöttliche Sein selbst hineinverlegt werden (SM 246). Auf diesen kritischen Einwand kennt Le Saux nur eine Antwort: Die Authentizität der Selbsterfahrung, in der sich das eine Sein zum Mit-Sein der drei göttlichen Personen wandelt, ist keine Beweisaufgabe für den Intellekt, sondern ein Gnadengeschenk des Glaubens. Nur im Glauben kann die Wahrheit des innerseelischen Vorgangs behauptet Wie sehr für Le Saux selbst das »Ich-bin« Christi zum Zentrum seiner eigenen tiefsten inneren Erfahrung wurde, zeigen seine Briefe aus den letzten Lebenstagen. Vgl. J. Stuart, Le bénédictin et le grand éveil. La vie en Inde et le cheminement du P. Henri Le Saux (Swami Abishiktananda) 1910–1973 à travers ses lettres. Maisonneuve: Paris 1999, 316 f. (Auszüge in Hackbarth-Johnson, Spirituelle Erfahrung in der globalisierten Welt: Henri Le Saux/ Swami Abishiktananda (1910–1973), 9 f.).
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werden, bei dem an die Stelle des einen Seins der dreifaltige Gott tritt (SM 245). Diese Wandlung lässt sich aus dem Glauben heraus als die innerseelische Wiederspiegelung des innergöttlichen Geschehens deuten, an dem die Seele im geheimsten Grund ihrer selbst teilhat. Hier liegt für Le Saux das größte Geheimnis von Schöpfung, Seele und Gott und damit auch des menschlichen Bewusstseins. Religiös gesprochen bezeugt sich hier das Wirken des Heiligen Geistes, in dem sich der Vater im Sohn und damit in jedem Menschen als dem Ebenbild Gottes ausspricht. Und wenn Gott Gemeinschaft und Mit-Sein ist, dann war es nur sinnvoll, dass die Selbstoffenbarung Gottes in der Geschichte erfolgte, von Gott zu Mensch und von Mensch zu Mensch (SM 247). Von hier aus lässt sich auch die Frage angehen, ob Le Saux der Vorwurf des Synkretismus gemacht werden kann. Ein Synkretismus liegt dann vor, wenn grundverschiedene Lehren äußerlich zusammengefügt werden, ohne dass dabei eine innere Einheit entsteht. Das wäre offensichtlich der Fall, wenn der Weg vom Advaita zur Trinität in zwei Etappen beschritten würde, von denen die erste rein hinduistisch, die zweite rein christlich wäre. Wir hätten es dann mit zwei sukzessiven Phasen des spirituellen Lebens zu tun, die beide ihren je eigenen Absolutheitscharakter hätten. In der ersten würde im Ausgang von den Upanishaden die Einsicht in die Nicht-Zweiheit des wahren Seins erlangt, in der zweiten in der Einheit mit dem Gott der Trinität das Sein als Mit-Sein erfahren. Le Saux gesteht selbst zu, dass seine Darlegungen mit ihrem ständigen Wechsel von der Sprache der Upanishaden zu jener des Evangeliums durchaus diesen Eindruck erwecken können. Aber das sei nur die unbeabsichtigte Folge seines analytischen Verfahrens, bei dem er nebeneinander hinduistische und christliche Wortprägungen benützt habe (SM 247). In der Sache selbst äußert sich Le Saux ganz entschieden: Er verneint, dass seine trinitarische Umsetzung des Advaita im Sinne zweier sukzessiver Etappen oder Phasen verstanden werden dürfe (SM 248), und lehnt überhaupt die Vorstellung ab, dass einer authentischen christlichen Erfahrung des Eins- und Mit-Seins Gottes die absolute Selbst- und Seinserfahrung des Advaita vorangehen müsse (SM 247). Wie ist diese überraschend deutliche und dezidierte Stellungnahme zu verstehen? Steht sie nicht quer zu allen jenen Äußerungen Le Saux’, in denen er die einmalige spirituelle Größe des Advaita-Vedanta und seine unverzichtbare Bedeutung auch für das Christentum betont? Zunächst hält Le Saux fest, dass die christliche Erfahrung der Ein487 https://doi.org/10.5771/9783495808405 .
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heit von Vater und Sohn im Heiligen Geist einer ganz anderen Ordnung angehört als die Seinserfahrung des jnani. Die erste ist ein Geheimnis des Glaubens, die zweite eine intuitive Evidenz. Wenn der jnani sich bewusst wird, dass er ist und dass das Sein über jeder partikulären Bestimmung steht, dann erlangt er eine Befreiung, die mit allen Wünschen und Begierden seines Ego bricht und ihn über die gesamte kontingente Dingwelt und seine eigene Individualität erhebt (SM 248 f.). Die im Glauben geschenkte Gewissheit ist von ganz anderer Art. Wie die Seinserfahrung des jnani übersteigt auch sie das begriffliche Denken. Wenn in der Glaubensgewissheit noch Zweifel bleiben, so betreffen sie formulierte Glaubensinhalte, nicht den Glauben selbst als intime Vertrauensbeziehung zu Gott. In der Bewegung auf Gott hin lässt der Gläubige die begriffliche Vernunft hinter sich und betritt einen Freiraum, in dem der Glaube seine reinste Form annehmen kann. Indem er leer wird von sich selbst, wird der Gläubige befähigt, das im Sohn von Ewigkeit ausgesprochene Wort Gottes in sich zu empfangen und zu vernehmen (SM 249 f.). Der Hindu und der Christ können laut Le Saux eine ähnliche Bewusstseinsebene erreichen, in der alle partikulären Seinsbestimmungen überschritten sind und das Sein sich in seiner umfassenden Fülle offenbart. Was dabei den Advaita in den Augen Le Saux’ auch für den Christen zum unvergleichlichen und unverzichtbaren spirituellen Vorbild macht, ist ohne Zweifel die einmalige Radikalität, mit der hier der Durchbruch zum einen Sein angestrebt und verwirklicht wird. Halten wir also fest, dass der Christ ein Bewusstsein erlangen kann, das jenem des jnani vergleichbar ist, verbunden mit der gleichen Erfahrung von Freiheit und Frieden. Aber dieses Bewusstsein kann für den Christen im Unterschied zum Hindu niemals ein Letztes sein. Das verwehrt ihm sein Glaube an den dreifaltigen Gott, der ihn ahnen lässt, dass jenseits der Einheitserfahrung noch Größeres auf ihn wartet. Im gleichen Moment, in dem für den jnani das Ego des oberflächlichen Bewusstseins sich vor dem wahren Ich-bin des Absoluten auflöst, kann sich der Christ vom dreifachen Ich der Trinität angesprochen fühlen, mit der Verheißung, als Sohn in der Liebe des Vaters angenommen zu sein (SM 248). Wieder stellt sich die Frage: Wie kann der Christ wissen, dass eine solche Erfahrung in authentischer Form möglich ist? Und wiederum gibt es darauf laut Le Saux nur eine einzige Antwort, die weiterhilft: Das Vertrauen des Christen auf die Erfahrung seines Herrn und Meis488 https://doi.org/10.5771/9783495808405 .
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ters Jesus Christus. Mehr lässt sich dazu nicht sagen. Denn was dabei in der Seele des Einzelnen geschieht, »bleibt ein Geheimnis zwischen ihm und seinem Gott« (SM 252). Als Fazit dieser kritischen Reflexion darf wohl festgehalten werden, dass Le Saux’ trinitarische Umwandlung des Advaita-Vedanta nicht einem synkretistischen additiven Schema folgt, bei dem der Nicht-Dualität des Advaita die Trinität aufgepfropft würde. Die Synthese zwischen beiden entsteht vielmehr dadurch, dass das Ganze aus der übergreifenden Einheit des Glaubens in eine neue, genuin christliche Form gegossen wird.
3.5 Die religionsphilosophische Bedeutung von Le Saux’ trinitarischer Umsetzung des Advaita-Vedanta Die Nachzeichnung von Henri Le Saux’ trinitarischer Transformation des Advaita-Vedanta und die anschließende kritische Reflexion haben deutlich gemacht, dass hier mehr und anderes vorliegt als nur ein Vergleich west-östlicher Mystik, wie ihn Rudolf Otto und seine Nachfolger an den Klassikern Shankara und Meister Eckhart vorgeführt haben. Le Saux vergleicht nicht bloß Advaita-Vedanta und Trinität, und er fügt auch nicht beides synkretistisch aneinander. Vielmehr öffnet er von innen her die Einheitserfahrung des vedantin mit dem Absoluten, um sie mit der christlichen mystischen Trinitätserfahrung zusammenzuschließen. Das Einssein des jnani mit brahman in der Weise der Nicht-Zweiheit wird in das mystische Einssein des Christen mit den drei göttlichen Personen umgewandelt – unter Bewahrung der Einheit, aber ebenso der Identität der Person. Wo liegt die ideengeschichtliche und religionsphilosophische Bedeutung dieser Zusammenführung von Ost und West, von Hinduismus und Christentum? Le Saux hat in seinen Tagebuchaufzeichnungen die Feststellung getroffen, dass der Mensch auf zwei Wegen zu Gott gelange, auf dem Weg des Ich und auf dem des Du. Der Weg des Ich führt über die Tiefe des eigenen Selbst, der des Du zum Gott der Begegnung. Die Ich-Form der Gotteserfahrung sei der Weg Indiens, die Du-Form der von Judentum und Christentum. Und wie im Hinduismus die Du-Form ganz im Schatten der Ich-Form stehe, so wüssten Juden und Christen nicht, dass die Du-Form sich in der Ich-Form vollende (MC 193). Diese fundamentale Feststellung trifft sicher zu, auch wenn sie der 489 https://doi.org/10.5771/9783495808405 .
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Nuancierung bedürfte. Und von hier aus gewinnt nun auch Le Saux’ trinitarische Umsetzung des Advaita Vedanta ihre ganze Bedeutung. Denn sie zeigt, wie der Advaita-Vedanta als höchste Ich-Form der Erfahrung des Absoluten innerhalb des trinitarischen Glaubens zu einer authentischen Du-Form findet, ohne seine Ich-Form aufzugeben. Der dreifaltige Gott ist in der mystischen Einheitserfahrung des Gläubigen sowohl sein Ich als auch sein Du. Und die Anstrengung, mit der Le Saux darum ringt, diese doppelte Gotteserfahrung zur Sprache zu bringen, zeigt unmissverständlich, dass sich hier sein tiefstes und letztes Anliegen ausspricht. Le Saux versucht auf höchst subtile Weise und in das Paradoxe streifenden Formeln die beiden Wandlungen einzufangen, auf die es hier ankommt: der Übergang von der Begegnung mit dem göttlichen Du zur Ich-Erfahrung Gottes im tiefsten eigenen Selbst und das hieraus entspringende, neu fundierte Bewusstsein der unmittelbaren Gegenwart Gottes als Du. Wie für Martin Buber ist auch für Le Saux die ganze biblische Offenbarung vom Geheimnis des sich vergegenwärtigenden Gottes und damit der Ich-Du-Beziehung geprägt. In Jesus gewinnt diese Gegenwart ihre unüberbietbare Form, die jedem Menschen zeigt, wie innig seine eigene Beziehung zu Gott als Du sein kann (YL 51–53). Nur in der Teilnahme am Du, das Jesus als Sohn zum Vater spricht, wird der Mensch fähig, Gott wirklich von Ich zu Du zu begegnen (SM 154). Aber das Geheimnis des Ich-Du von Vater und Sohn vollendet sich in der Einheit des Heiligen Geistes, die jede Zweiheit aufhebt (YL 52, 64). Tritt der Mensch durch göttliche Gnade in diese Einheit ein, so wird die Gegenwart Gottes so vollkommen und ausschließlich, dass der Mensch nicht mehr als ein »Ich« zu Gott »Du« sagen kann. Das »Du« Gottes hat gleichsam das ihm gegenüberstehende »Ich« in sich aufgesogen, so wie bei einem großen Kunstwerk der Blick des Betrachters im Betrachteten aufgeht (vgl. das Gedicht SM 222). Damit verwandelt sich nun aber auch das »Du« Gottes: an seine Stelle tritt das »Ich« seiner Selbstoffenbarung. Der Mensch kann es nur in der tiefsten Stille, im Schweigen seines eigenen »Ich« vernehmen (IU 50). Nicht nur das »Er« hört hier auf, mit dem er bisher über Gott gesprochen hatte, sondern ebenso jedes sich wechselseitig begrenzende »Ich« und »Du«. Die Ebenen des Denkens, der Begriffe und Symbole sind überstiegen. Es gibt kein Innen und Außen mehr, sondern nur noch das alles umschließende und erfüllende »Ich bin« Gottes 490 https://doi.org/10.5771/9783495808405 .
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– das aham asmi der Upanishaden und das »Ich bin der Ich bin« der Bibel (IU 86). Das »Ich bin« Gottes als die Fülle des Seins ist im Menschen als Geschöpf Gottes von Anfang an gegenwärtig. Der Mensch, der durch den Sohn als dem göttlichen Logos geschaffen wurde, ist im »Ich« Gottes erschaffen (YL 92 f.). Von der absoluten Fülle des göttlichen IchSeins gewinnt der Mensch eine entfernte Ahnung, wenn er sich bewusst wird, dass er nicht einfach etwas ist, sondern dass er überhaupt ist – wenn er sein eigenes »Ich bin« als ein reines Sein jenseits aller äußeren und inneren Bedingtheiten erfährt und so gleichsam das Echo des göttlichen »Ich bin« in sich hört (SM 81; IU 52, 87). Doch das Geschaffensein des Menschen ist durch diese Erfahrung des alles durchdringenden »Ich bin« Gottes nicht aufgehoben – die Distanz der Kreatur zu ihrem Schöpfer bleibt. Und als Geschöpf Gottes und Teil seiner Schöpfung findet nun der Mensch – unendlich bereichert durch die Ich-Erfahrung Gottes – immer wieder zu Gott als Du zurück. Und so kann Le Saux schließlich die doppelte Behauptung wagen: Es gibt keine Gotteserfahrung im Gegenüber von Ich und Du, die nicht ihre Vollendung in der Einheit beider und damit in der Ich-Erfahrung Gottes findet, und es gibt keine Einheitserfahrung, die nicht wieder in das Zueinander von Ich und Du mündet, aus dem sie entspringt (YL 94). Der trinitarisch transformierte Advaita ist damit nicht nur ideengeschichtlich eine Neuschöpfung, in der Ost und West, Hinduismus und Christentum eine innere Verbindung eingegangen sind. Er kann auch als paradigmatisches Beispiel für eine Religionsphilosophie gelten, die als dialogisch-mystisch bezeichnet werden darf. 21 Denn beide Wege, die Erfahrung Gottes in der Du- und der Ich-Form, werden hier als unaufgebbare und einander bedingende Zugänge zu Gott gelebt und gedacht.
Die Idee einer solchen dialogisch-mystischen Religionsphilosophie wurde entwickelt und an Beispielen aus dem Christentum, dem Islam und dem Hinduismus erprobt in R. L. Fetz, »Du bist Ich in mir« (Angelus Silesius). Plädoyer für eine dialogisch-mystische Religionsphilosophie, in: Becker, R.; Orth, E. W. (Hg.), Religion und Metaphysik als Dimensionen der Kultur. Königshausen & Neumann: Würzburg 2011, 213–227.
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Literatur Mit Siglen zitierte Schriften von Henri Le Saux (Alle Belege beziehen sich auf die französischen Originalausgaben) IR
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Intériorité et révélation. Essais théologiques. Editions Présence: Paris 1982. Deutsch: Innere Erfahrung und Offenbarung. Theologische Aufsätze zur Begegnung von Hinduismus und Christentum. Tyrolia: Innsbruck 2005. Initiation à la spiritualité des Upanishads. Editions Présence: Paris 1979. Deutsch: Die Spiritualität der Upanishaden. Diederichs: München 2005. La montée au fond du coeur. Le journal intime du moine chrétien-sannyasi hindou 1948–1973. O.E.I.L.: Paris 1986. Souvenirs d’Arunachala. Récit d’un ermite chrétien en terre hindoue. Epi/Desclée de Brouwer: Paris 1980. Deutsch: Das Geheimnis des heiligen Berges. Als christlicher Mönch unter den Weisen Indiens. Herder: Freiburg 1989. Sagesse hindoue, mystique chrétienne. Une approche chrétienne de l’expérience advaitine. Nouvelle édition. Centurion : Paris 1991. Deutsch: Wege der Glückseligkeit. Begegnung indischer und christlicher Mystik. Kösel: München 1995. Les yeux de lumière. Écrits spirituels. O.E.I.L.: Paris 1989.
Schriften anderer Autoren Bäumer, B., »Henri Le Saux – Abishiktananda«, in: Ruhbach, G., Sudbrack J. (Hg), Große Mystiker. Leben und Wirken. Beck: München 1984, 338–354. Davy, M.-M., Henri Le Saux. Le passeur entre deux rives. Édition revue et augmentée. Albin Michel: Paris 1997. Deussen, P., Das System des Vedanta. Nach den Brahma-Sutra’s des Badarayana und dem Kommentar des Shankara über diesselben. Brockhaus: Leipzig 1906. Deutsch, E., Advaita Vedanta. A Philosophical Reconstruction. University Press Hawaii 1971. Dupuis, J., Jésus Christ à la rencontre des religions. Desclée de Brouwer: Paris 1989. Fetz, R. L., Shri Ramana Maharshi: Vom Ich zum Selbst. LIT: Berlin 2006. Fetz, R. L., »Du bist Ich in mir« (Angelus Silesius). Plädoyer für eine dialogischmystische Religionsphilosophie«, in: Becker, R., Orth, E. W. (Hg.), Religion und Metaphysik als Dimensionen der Kultur. Königshausen & Neumann: Würzburg 2011, 213–227.
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The Relation between Religion and Philosophy in Islam: a Historical Perspective
Introduction When talking about the relation between religion and philosophy in Islam, the role of religion in Islamic culture and in the Middle Ages should be clarified, as well as being necessary to differentiate the meaning of the word Islam, for it is not a univocal word, as R. Brague 1 has pointed out: Islam, the world of Islam, is a cultural-geographical space today that comprises many different countries sharing the same religion. Islam is the word used to designate a culture that flourished, especially under the Arab Empire, from the 7th to the 14th century – before the Ottomans dominated that cultural space. Islam designates today a world religion rooted in the Koran and Sunna of Muhammad. The relation of philosophy and the religion of Islam during the Middle Ages, the period of time in which Arabic culture and philosophy flourished is the subject of this article. The focus is going to be the relation of philosophers and philosophy to men of religion, ʿ ulamaʾ , to orthodoxy, as well as to the political forces of the Islamic empire – studied in its historical context. Religion in this period of history intermingled and played the role of a legal institution, the role of »citizenship«. Indeed, it may be considered as the principal figure that determined »citizenship«. Religious belonging to a community went beyond mere religious interaction. As the heritage of the Byzantines, probably, belonging to the religion of the state, in this case Islam, gave the rights necessary to belong to the
R. Brague, »Puede haber un Islam europeo?«, in S. del Cura, A. Cordovilla, J. M. Sanchez Caro, Dios y el hombre en Cristo, Ed. Sigueme, Salamanca 2006, 156–57 (155– 173).
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ʿ Ummah, 2 the community of believers, which was then identified in part with the political community of the Muslim Empire. Islam, in the same way as it was for Judaism, became a religion based on a divine law, commanding belief, ethics and a political-social organization. At some point in history, the adherence to the Sunnah – a pre-Islamic word meaning the imitation of the holy and just predecessors as well as customary law –, the Sunnah of Muhammad, committed the Muslim to the adherence to Islamic law. In this way, the law became the foundation, the corner stone of the religion of Islam, of orthodox Islam in particular. The law, however, meant at the same time advice, norms and laws as understood today. It comprehended religious, ethical and legal topics. Besides, it distinguished between creed the five pillars of Islam – confession of faith, prayer, alms-giving, fasting for Ramadan and pilgrimage to Mecca –, and issues concerning the relationship among people, muʿ amalat, – family law, inheritance, penal law, civil law, relation with non-Muslims and administrative law –, that belong to the law of the state. Philosophy, on the other hand, was introduced into Islamic culture beginning with the translation of philosophical texts from Greek and Syriac into Arabic as early as the end of 8th and the beginning of 9th century. The role played by Syriac speaking Christians in the work of translation was essential. O. Leaman 3 mentions that »what made the study of Greek philosophy by Muslims possible at all was the existence of more-or-less reliable translation of an eclectic range of philosophical texts into Arabic, chiefly by Christian scholars […] Plato and Aristotle and a substantial body of Neo-Platonists works was translated. Plotinus, Porphyry, Proclus and John Philoponus were well known, as were the commentaries of Alexander of Aphrodisias.« These translations gave rise to the interest in philosophy and further development of it. At the same time, Islamic theology – kalam – and law – fiqh – took shape in the middle of a debate on revelation, law, and, in part, philosophy from the 8th to the 10th century. The second source of the law after the Koran, which is the Sunnah, was written down in the late 8th to 9th century – and methods of deriving the Law from the Koran and The word means in Hebrew and Aramaic, People, designating specifically the People of Israel. 3 O. Leaman, An Introduction to Classical Islamic Philosophy, Cambridge University Press, Cambridge 2002, 7. 2
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the Sunnah, were established and canonized in this period. Islamic law was »established« during this period and remained valid till modern times, in which it went through a process of reforms, especially during the 19th–20th century. By the 9th century two streams of thoughts were to confront each other, that of the ʿ ulamaʾ , experts of the law, defending reason for deriving the Law from the Koran, ahl ar-raʾ y, and those defending tradition or Sunnah, ahl al-hadith, as the only source of law and rejecting reason as a non-objective instrument. Al-Shafiʿ i and al-Ashʿ ari opted for a middle way: the Koran and Sunnah as primary sources of the law while further laws could be derived using a methodology that includes, besides the category of consensus, 4 the use of reason by mean of analogical reasoning. Later on the category of welfare, necessity, the just reasoning of the jurist were added to it, as well as customary law – when no contradicting the Koran and Sunna – was also taken into consideration by law-givers or became religiously legalized. The science for deriving Islamic law from the two primary sources – the Koran and Sunnah – during the Middle Ages was called fiqh. 5 Philosophy and philosophers on their part, in spite of its influence in Islamic culture, never were to be recognized as part of religious orthodoxy, especially in Sunni Islam. They were known by the foreign and Greek word: Falasifa. The science of philosophy, Falsafa, as it is expressed by its name, remained a foreign science. Averroes, nonetheless, while defending philosophy by his status as the high judge of Córdoba in the 12 century, used the term Hikma, wisdom, to refer to it. Philosophy never became central to the Islamic religious curriculum and consequently never became a fundamental instrument to develop theology in orthodox Islam. Logic and arguments of philosophers were known and used for apologetic purposes in dialectical theology, kalam, but did not have the status of a religious science according to the ʿ ulamaʾ , men of religion. Sciences in medieval Islam were classified in foreign sciences – natural sciences and philosophy – and religious sciences – science of the Koran, Hadith, Fiqh. Philology was also in-
At times it is meant consensus of the community, but mostly it refers to the consensus of the men of religion in one generation. M. Rohe, Das islamische Recht, C. H. Beck, München 2009, 58–60. 5 A distinction between Schariʿ a and Fiqh is common to modern scholars. M. Rohe, Das islamische Recht, C. H. Beck, München 2009, 9. 4
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The Relation between Religion and Philosophy in Islam: a Historical Perspective
cluded as a religious science, for it dealt with the language of the Koran and its interpretation. The Arabic language, the study of the Koran and Sunnah and the study of the law, fiqh, became the core of the religious sciences in Islam. Philosophy, on the other hand, was a subject in the curriculum of natural sciences and medicine, comprehending mathematics and the science of nature. Therefore philosophers like Al-Farabi, Avicenna, alRazi and Averroes were all medical doctors – Avicenna and Averroes were doctors at the court of the Samanids and Almohads respectively – who cultivated philosophy as required by their lords. Brague takes the view that »setting philosophers as a category apart is artificial. In Islamic culture, philosophy was never institutionalized, remaining instead a private activity.« 6 The social function of philosophy was played out at the level of the political elite, who like Maecenas promoted philosophy for their own knowledge and interest. This is the case regarding the origin of state theory of Al-Farabi, of the philosophy of Avicenna in support of the Schiʿ a and of Averroes helping the Almohads to achieve an ideological change against the religious and political establishment in Al-Andalus. The ʿ ulamaʾ , the experts on law and religion, on their part, just looked upon philosophy with suspicion. Under these circumstances Averroes had to give assurance that philosophical ideas will not lead people to unbelief as long as they remain within the circle of experts, probably meaning with that a first intent towards the specialization of sciences, particularly of philosophy. Philosophy had been a science cultivated by the elite as part of the curriculum of natural sciences. Therefore, their opinions were not directly connected to the science of religion. As a matter of fact not one of the philosophers, unlike the Sufis, was ever executed for apostasy. Their writings were just ignored, like those of the atheist Al-Razi (d. 932) – almost none of Al-Razi’s writings have survived, his philosophical ideas being known to us by the writings of his opponents. Philosophers were no threat to society because neither had they access to the great mass of population – their writings were too difficult – as did the ʿ ulamaʾ , nor did they look forward to acquire popular support for they worked mainly as an expertise to the service of a ruler.
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R. Brague, The Law of God, Chicago University Press, Chicago 2007, 167.
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The first philosopher of Islam, and also the only Arab philosopher, al-Kindi (796–873) promoted the Greek philosophical tradition by sponsoring translations from Neo-Platonic Philosophy into Arabic, thus creating the conditions for a philosophical literature in Arabic language. In his own work, when philosophy and religion seemed to conflict, he opted for the religious creed, i. e. the doctrine of creation ex nihilo, against the opinion of Aristotle. However, Al-Kindi, who entertained some connection with the Muʿ tazila, who supported the doctrine of a created Koran 7, suffered under the persecution unleashed against that movement by Caliph al-Mutawakkil. Al-Kindi did not found a school, but his main work »The Theology of Aristotle«, a periphrasis of Plotinus’ last three Enneads, became a fundamental work. Should the question be raised which school of Greek philosophy was destined to become predominant in Islamic culture? We should have to reply that while the ideas of Plato and Aristotle came to be widely known, the school of philosophy that came to be predominant in Islamic culture was Neo-Platonism: Al-Farabi and Avicenna being the best examples, the Aristotelianism of Averroes being rather an exception in the Arabic West. As a matter of fact, Brague maintains that the religion of Islam and its conception of God can be translated without much effort into the language and categories of Neo-Platonic discourse. In addition, NeoPlatonism provides the thoughts basic to some schools of mysticism and especially to Schiʿ a Islam. In analogy to Nietzsche’s famous words: »Christianity is Platonism for the people«, Brague mentions, it might be say: »Islam is Neo-Platonism for the people.« 8 Nevertheless, the core of orthodoxy and religious sciences in Islam was constituted by Shariʿ a law, fiqh. Shariʿ a law as the hermeneutic, the interpretation of the Will of God – for God had revealed his Will, rather than his Essence 9 –, makes the duties of the believer concrete and capable of being fulfilled. Therefore the scope of men of religion was to enquire into the law and study it, by means of the science of fiqh, the science of deriving the law from the Koran and Sunna. Against the opinion of an eternal uncreated Koran that became the opinion of orthodox Islam. 8 R. Brague, »Das gegenseitige Verhältnis von Philosophie und Islam«, in: H. Eichner, M. Perkams, C. Schäfer (Hg.), Islamische Philosophie im Mittelalter, WBG, Darmstadt 2013, 75. 9 Ebd., 73–74. 7
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Kalam and Shariʿ a confronting philosophy Kalam, translated as theology, has its origin and can be traced back to the moment of encounter with other religions, especially Christianity, Judaism and Zoroastrianism, but also Hinduism – the polemic against Brahmanism for denying the need of the Prophecy is well known. The confrontation with heresies within Islam also helped the development of Kalam. An important starting point of Kalam is to demonstrate the need of the Prophecy-implicitly of Muhammad, the last Prophet. Once this has been established, the revelation contained in Muhammad’s prophecy would require no further demonstration. Philosophers, when dealing with a non-extensively treated topic in Greek philosophy, gave an explanation of the prophetic activity and the way revelation took place on the base of the psychology of Aristotle, De divination per somnium, and the influence of intellectus agens on the passive intellect. 10 Nonetheless, philosophical questions arise within Kalam. The first question dealt with was the harmonization of the omnipotence of God versus man’s free will. Under the Abbasid Caliphs in the middle of the 8th century a sort of »Islamic«, indigenous current of thought, still not categorized as Falsafa, called al-Muʿ tazila 11 had become a force to be reckoned with. Having its origins in the Qadariyya, a political-religious sect supporter of the doctrine of free will against predestination, they, like the Qadariyya, open the way to the possibility of refusing unjust rulers by defending the doctrine of free-will. But the Muʿ tazila went further defending the use of reason for interpreting the Koran, which they held to have been created. By an appeal to the justice of God, they defended the doctrine of free acts and free will, arguing that if predestination were true, the existence of Hell would be unjust. However, men of religion, theʾ Ulamaʿ , among them the former Muʿ tazili Al-Ashʿ ari, saw in this doctrine a threat to the omnipotence of God. He and later Al-Baqillani (d. 1013) proposed a kind of atomism in which causality is denied. Atomism affirms the need of a continuous and direct creation by God, therefore not possessing creation a consistency in itself, a natural law. Hence creation is 10 11
Ebd., 80. Ebd., 83.
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ubiquitous in space and continuous in time, the omnipotence of God being limited by nothing. According to Al-Gazali, who followed alAshʿ ari and was to defend his position later, the theory of causality could not be sustained, for what we call causality has to be called custom (ʿ ada). Hume will call it habit of human thought centuries later, censuring with it the metaphysical question. One of the first »Greek« philosophers, Falasifa, Al-Farabi (870– 951) 12, a disciple of Christian teachers, 13 interprets predestination as the from God created natural order in the cosmos, logos. In this view, predestination is simply the system of causally related events, a chain of cause and effect, in which man is involved and acts, individual acts not being predestinated. To this Al-Gazali was later to object that the doctrine amounts to apostasy since it subjects God to His own logos, His own created natural order and law. 14Al-Gazali as defender of sunni Islam would accuse Al-Farabi, who claimed that religion was just a symbolic way to express the truth in order to bring it to people, of substituting religious knowledge and revelation for philosophy and setting the latter above revelation. 15 One could understand the opposition of Sunnis to recognize philosophy as a parallel method to revelation in order to reach the Truth, as the result of the confrontation and political rivalries between Sunnis and Schiʿ is on the way to define their own boundaries and identities. Al-Farabi worked under the auspices of the Lord of Aleppo, Sayf al-Dawla, of the dynasty of the Hamdanis, a Schiʿ a family. 16 Enjoying the protection of this lord, he developed a metaphysical and an ethicalpolitical theory based on Neo-Platonic principles that legitimize the hierarchical idea of the Schiʿ a state. His theory on the »good state« appears as the fulfillment of his metaphysics. Al-Farabis virtuous Born in today’s Kazakhstan. Yuhanna b. Hailan (d. 910), Abu Bischr Matta b. Yunis (d. 940). He also had Christians disciples like Yahya b. ʾ Adi (893–974), Abu Sulayman as-Sijistani (913–988), Jusuf al-ʾ Amiri(d. 992) and Abu Haiyan at-Tawhidi (925–1021). See G. Hendrich, ArabischIslamische Philosophie, Campus Verlag, Frankfurt/ New York 2001, 57 u. 59. 14 G. Hendrich, Arabisch-Islamische Philosophie, 22 f. 15 Abu Nasr al-Farabi, La ciudad Ideal, Trad. M. Alonso Alonso, Tecnos, Madrid 2011, XIX. 16 In the course of the 9th and 10th century Shiʿ ism posed throughout the Middle East a challenge to Sunni dominance. Shiʿ i regimes came to power everywhere. The Buwayhids, the Hamdanids, and the Qarmatians were officially Schiʿ a. I. Lapidus, A History of Islamic Societies, Cambridge University Press, Cambridge 1988, 172. 12 13
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The Relation between Religion and Philosophy in Islam: a Historical Perspective
city-state is »a blend of Platonic utopianism and Islamic political doctrine […] He is the first Muslim philosopher who identifies revelation with illumination of the active intellect – extracting this concept from the emanationist metaphysics and cosmology of Plotinus and Proclus –, and erects upon it a political utopia«, 17 according to the idea of caliphate of the Shiʿ a. While Al-Farabi enjoyed freedom under the Schiʿ a, the Muʿ tazila under the Sunni Abbasid Caliphate of Bagdad suffered persecution. Indeed, these were accused of heresy and persecuted by the caliph alMutawakkil (847–61). Before that, however, the Muʿ tazila had been supported and used by the caliph al-Maʿ mum (813–33) as counterpoise against the gnostic and esoteric Persian aristocracy – for they became Schiʿ a –, their position became the official doctrine the Abbasid state from 827–47. For many liberal Muslim scholars today the Muʿ tazila represented Islamic reason and their disappearance its death. Men like Abu Zayd, al-Azm, Arkoun, Tarabishi, praise the Muʿ tazila for what they represent, an indigenous, autochthonic, non-Western stream of thought, claiming the right to a rational interpretation of the Koran and free will. Al-Jabri, a contemporary Moroccan philosopher, points out that the Muʿ tazila give primacy to reason over literally transmitted Hadith or Sunna. 18 The school of thought of al-Ashʿ ari, Ashʿ arism, holders and defenders of the revealed Law of God, were to be the upholders of orthodox Islam. The science of the licit and the illicit, Shariʿ a-law, became the foundation, wisdom and core science in the religion of Islam. 19 Otherwise, theology, kalam, remained as a kind of apologetics permeated by philosophy for its argumentation. Islamic religion and Islamic Law, core of the religion and Islamic social order, started taking shape in the middle of a debate on revelation, law, and, more remotely, philosophy, that occupied the period from the 8th to the 10th century. At that time the primary sources of the Law were established as the basic texts (asl) of revelation and Law. M. Fakhry, Islamic Philosophy, Oneworld Book, Oxford 1997, 57. G. Hendrich, Arabisch-Islamische Philosophie, 23 f. 19 Schariʿ a distinguishes between creed (ʿ aqida), which includes the five pillars of Islam (Shahada, Prayer, Zakat, Fasting for Ramadan and Pilgrimage to Mekka), and issues of relationship among people (muʿ amallat) (family law, inheritance, penal law, civil law, relation with non-Muslims, states’ law). 17 18
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The Koran had been given its definitive form in writing in the late 7th century – according to Muslims orthodoxy –, and the Sunna, the oral tradition of the words and deeds of Muhammad, was committed to writing and after a process of canonization was established as the second source of revelation in 9th century. In the same century, methods of deriving the Law from its sources – Koran and Sunna –, which constitutes Shariʿ a law, Fiqh, were fixed upon and canonized. With that, Islamic law had been »established«, remaining valid to the present day, even if it went through a process of reforms during the 19th–20th century. 20 In the 9th century two schools of legal thought were to confront each other, that of Ahl ar-raʾ y, represented by Abu Hanifa (d. 767), predecessor of the hanafi school of law advocating the use of reason in deriving the Law from the Koran, and that of Ahl al-Hadith, represented by Ibn Hanbal (d. 855), founder of the hanbali school of law, 21 who rejected reason as a subjective instrument and advocated for the transmitted texts of Hadith or Sunna, also called traditions, as the only source of law after Koran. Al-Shafiʿ i 22 (* 820), founder of the shafiʿ i school of law, and alAshʿ ari (873–935), a former Muʿ tazila, opt for a middle way between the traditionalists of the hanbali school and the rationalist Muʿ tazila and hanafis: while the Koran and the Sunna are the primary sources of the Law, further laws can be derived by means of a methodology that includes the use of reason within the framework of Koran and Sunna, i. e. analogy, qiyas, the category of common good, maslaha – the word can be used today in a positivistic and utilitarian sense, understood not Research on the origin of Islamic revelation and Law is done by Western scholars in spite of the non-acceptance of it by Muslims. The Koran may have been written down later than ʾ Uthman’s death in 656. Its influence from Judaism and Christianity, even Patristics, are a field of research today. Hadith, Sunna according to J. Schacht contains the legal practice of the ʾ Umayyads in Syrian, which means, Roman and Jewish laws together with Arabic customary Law. In that sense, Hadith/Sunna, in order to be legitimized, had to be declared as the words and deeds of Muhammad. 21 Till today hanafis, the school of law of Turkey (although Talibans also belong to a school derived from hanafism, Deobandi school) are more open to reason – for originally they were influenced by the Muʿ tazila – while the Hanbalis keep literally attached to Scripture, especially the corpus of transmitted traditions of Muhammad’s words and deeds, Hadith or Sunna. 22 The fourth school of law, the Maliki School, follows also Hadith, but, contrary to Hanbalis, they give place to customary law as part of Islamic Law. 20
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as universal common good, but what is good for the ʿ Ummah, the community of believers in Islam –, necessity, darura, and the just reasoning of the jurist, istihsan.
Al-Gazali In the 11th century the Arab Empire began to know military defeats, and its high culture seemed to have reached a turning point. Under these circumstances sectarianism seemed to pose a threat to the establishment, social order and the role of the Shariʿ a, the Caliphate and sunni Islam started to be questioned. Al-Gazali (d. 1111) was to achieve a renewal of sunni Islam and its religious sciences by including elements of mysticism, interior religious life, while asserting the role of the Shariʿ a in Islam as the necessary frame for a social order. Philosophy was not to enjoy the same fate. In order to restore the unity of the Empire, of the ʿ Ummah, he argues against the existence of any kind of dissident thoughts – also against the Schiʿ a and other sects. As a mutakkalim, a theologian, he composed a refutation of twenty philosophical doctrines and entitled it: Tahafut al-Falasifa, Incoherence of the Philosophers. This book may be seen as a turning point in the history of thought in the Islamic Orient. If Al-Gazali was intending to put an end to philosophy is questionable. It seems he was just criticizing what he knew about philosophy, especially, that of Avicenna. However, his work started a tradition of general rejection to philosophy in the sunni Islam of the East – although social and political circumstances contributed to this development. In Tahafut al-Falasifa Al-Gazali criticizes Al-Farabi (d. 950) and Avicenna (d. 1037) as exponents of the philosophy of Aristotle, although both are primarily Neo-Platonists. Directed mainly against Avicenna, the criticism is addressed to the philosophers and the Muʿ tazila. He developed his thought in the following twenty discussions: 23 – On refuting their doctrine of the world’s pre-eternity. – On refuting their statement on the post-eternity of the world, time, and motion. Al-Ghazali, The incoherence of the Philosophers, ed. M. E. Marmura, Brigham Young University Press, Utah 1997, VII-IX.
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–
On showing their obfuscation in saying that God is the world’s enactor and maker. – On showing their inability to prove that God is one. – On the divine attributes. – On refuting their statement that the existence of the First is simple. – On showing their inability to sustain a proof that the First is not a body. – On their inability to show that the world has a maker and a cause. – On showing the impotence of those among them who perceive that the First knows others and knows the genera and species in a universal way. – On showing their inability to prove that He also knows Himself. – On refuting their statement that God … does not know the particulars divisible in terms of temporal division into what is, what was, and what will be. – On their inability to set a proof to show that heaven is an animal that obeys God … through its circular motion. – On refuting what they mentioned concerning the purpose that moves heaven. – On refuting their statement that the souls of the heavens know all the particulars that occur in this world. – On causality and miracles. – On their inability to sustain a rational demonstration proving that the human soul is a self-subsistent spiritual substance. – On refuting their statement that it is impossible for human souls to undergo annihilation. – On refuting their denial of bodily resurrection. Seventeen of the refuted doctrines refuted are condemned as heretical innovations while three are condemned as incompatible with Islamic belief to the category of unbelief (kufr), meriting the death penalty. These three assertions are the following: • The theory of a pre-eternal world. While the first philosopher of Islam, al-Kindi, assumed the proposition given by revelation, that of a word created ex nihilo, not all Muslim philosophers did that. The question is whether God acts out of necessity or by His free will. The argument seems to be that if God creates the word out of necessity, the word would have existed from all eternity; if He created it by His free will, the word would not be eternal. For that 504 https://doi.org/10.5771/9783495808405 .
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reason Al-Gazali understood the doctrine of the eternity of the world as a denial of God’s free will. This topic is related to the theory of causality and we have seen that the debate on causality was central to Islamic philosophy and kalam. Therefore, this question is long debated in Gazali’s book for it deals with the most controversial topic in Islamic philosophy, the law of causality and the question if God acts by necessity or by his own will. • The theory that God only knows universals and no particulars. The question is whether God has knowledge of individuals and individual human acts, and the answer given by philosophers is that He does not. Al-Gazali rejects this answer on the grounds that it denies God’s omniscience. It also contradicts Sura 10, 61, which says: »Nor is hidden from thy Lord [so much as] the weight of an atom on the earth or in heaven.« • The denial of bodily resurrection. Al-Gazali defends the view that what is said in the Koran is to be taken literally, not metaphorically. Metaphorical meanings are accepted when scriptural assertions are demonstrated to be impossible. In his opinion, philosophers have ever been unable to demonstrate that the body is incapable of immortality. In his Tahafut Gazali criticizes on logical grounds the theory of emanation, causality and psychology of Avicenna (d. 1037). The third discussion in his Tahafut is a critique of Avicenna’s triadic scheme of emanations, which, however, does not apply to the dyadic scheme of alFarabi. 24 Ashʿ arism, the school of thought followed by al-Gazali, and the dominant school of orthodox Islam defends the doctrine of Tawhid, oneness of God. Ashʿ arism »subscribed to metaphysics of transient atoms and accidents, from which material bodies are composed. It regarded all temporal existents as the direct creation of God, decreed by His eternal attribute of will and enacted by His attribute of power.« 25 There are no sequences of causes and effects, these sequences can be called custom. What we see as constant associations is »arbitrarily decreed by the divine will. Between created things, there is no necessary
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causal connection or interaction. God is the sole cause: All events are His direct creation.« 26 Hence, there is no contradiction in God’s interrupting the uniformity of the natural world with a miracle; there is no contradiction on that for he can intervene by creating new causal conditions, he merely creates a causal sequence to which we are not accustomed. The revelation of the Koran is also a miracle that can only be justified in this way: »Divine power is pervasive and is the direct cause of each and every created existent and every temporal event […] Created power has no causal efficacy. The effect of created power is also direct creation of divine power.« 27 With these words Al-Gazali expresses the Ashʿ arite doctrine of acquisition (kasab). The purpose of al-Tahafut is to show that the philosophers have not demonstrated their assertions, and that the miracle of Koran is consequently possible. From this miracle it is then inferred that Islam is the true religion. If, on the other hand, the principle of causality is accepted, God’s revelation of the Koran would be put into question. That is why Al-Gazali explains causality as custom (ʿ adat), anticipating Hume. Logic and the criterion of demonstrability are the instruments AlGazali uses in his Tahafut to refute the opinion of the philosophers. In this sense, he uses philosophy to refute philosophy, however, it is the content not the method of philosophy that he refutes. Al-Gazali complains that people »have been impressed by names like Socrates, Hippocrates, Plato, Aristotle and their like and have become mere imitators of such philosophers and their followers, without having any real knowledge of their thought. Moreover they have used the example of the philosophers to rationalize their own disregard for the rituals and obligations imposed by the religious law, opting, in effect, for unbelief (kurf).« 28
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Averroes In the Islamic West, in al-Andalus, the reception of Philosophy in the 12th century would be the deed of men like Ibn Bayya (Avempace) (Zaragoza-Fez, end 11th century-1138), Ibn Tufayl (Abubacer) (Granada, 1105–1185), Ibn Rushd (Averroes) (Córdoba, 1126–98), all of whom counselors and doctors of their rulers or Caliphs. In al-Andalus the cultural heritage of the Orient flourished; philosophy had been cultivated already in the 11th century by Jewish philosophers. Each court of the Taifa’s kingdom strove to prevail over the others, and the rulers surrounded themselves with a court of intellectuals, scientists and artists. The reception of philosophy had taken more time than in the Orient, for al-Andalus lacked a group of scholars like the Syrian translators and a tradition of Philosophy like that of pre-Islamic Orient. While Fiqh, the science of deriving the Law, was introduced soon after the conquest and studying with Eastern scholars was part of the curriculum for Andalusian ʾ Ulamaʿ – a practice that for political reasons was discontinued in the 11th century –, philosophy flourished in al-Andalus thanks to Jewish and Muslim philosophers as an epigone or continuation of Oriental Islamic Philosophy. This situation was to reach its peak in the 12th century with Averroes. Averroes, known to the Middle Ages as the commentator of Aristotle, also took it upon himself in his Tahafut al-Tahafut, The Incoherence of the Incoherence to refute the views of Al-Gazali. Although his achievement as a philosopher and his love of philosophy cannot be questioned, the net effect of his defense of philosophy was primarily of a political nature. Al-Andalus had new rulers, the Almohads, a fundamentalist and puritanical movement in Islam, which had restored the unity of al-Andalus by imposing their strict understanding of the oneness of God as an abstract being without attributes. This understanding was closer to the God of the philosophers than that of the ʾ Ulamaʿ , and in that way the Almohads diminished the influence of the traditionalist ʾ Ulamaʿ . This puritanical movement asserted pressure against the social elite of al-Andalus, which had become spoiled by a luxurious way of life and unable to wage wars and fight the enemy in the North. This was the historical context in which Averroes wrote philosophy, exercising simultaneously his position as a jurist and high judge of Córdoba. The style of the jurist can be detected in his philosophical work, the Decisive Treatise, where he intends to give philosophy a sta507 https://doi.org/10.5771/9783495808405 .
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tus according to Islamic law. Here he exposed his conviction that philosophical truth will never contradict the religious truth given by the law. While religion and prophecy are needed for the general public, ʿ amma, who needs images in order to understand difficult concepts, philosophy is a science that belongs to the experts, to the elite, jassa. This assertion is in complete consonance with the puritanical movement of the Almohads, who were against any kind of images and tried to undermine the power of the jurists in al-Andalus. The controversial theory of the »Two Truths«, a philosophical truth that belongs to the elite, reveals him to be in the line of ancient Greek thought. If he had in mind a first intend of differentiation and specialization of the sciences, theology, law and philosophy, this will not have a continuation within the Islamic cultural realm but rather later on within the western culture of late Middle Ages and Renaissance, starting with Albert the Great and Thomas Aquinas. In his Decisive Treatise and Tahafut al-Tahafut or Incoherence of Incoherence Averroes defends philosophy as a speculative science that cannot contradict the Law, arguing that if it were to do so, it would be on the basis of premises that have not been demonstrated but remain at the level of mere hypothetical interpretations. Such interpretations or hypothesis are required as means to reach demonstration, but they cannot be labeled as heresy or unbelief as long as they remain within the confines of the experts in philosophy. Never may they be used as ideologies to make people fall in unbelief. He refutes the three points declared by Al-Gazali in his Tahafut to amount to unbelief, for Gazali had understood them superficially, confusing rhetoric and dialectic with philosophy. Through an exposition of the different methods used to approach revelation – the rhetorical, the dialectical and the philosophical – he endeavors to show that the condemnation of philosophy in which jurists and dialectical theologians join forces arises merely from a confusion of all the methods. What is distinctive of philosophy, on the other hand, is its precise propositions and its clear and differentiated methodology. He defines philosophy as: »nothing more than reflection (nazar) upon existing things and consideration (ʿ iʿ tibar) of them insofar as they are an indication of the Artisan.« 29 29 Averroes, Decisive Treatise, trans. Charles B. Butterworth, Brigham Young University Press, Utah, 2001, 1.
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Averroes makes reference to the maker as the foundation upon which the activity of philosophy stands and endeavors to reconcile this view with Islamic theology and law. Furthermore, he sees piety as a requirement for the practice of philosophy. Piety, that is, submission to sacred law, must go together with expertise. For that reason, an expert in philosophy will never undermine the Law, which is the teacher of the people, ʿ amma, the lower class and the ignorant. Philosophy is distinctive of the intellectual elite, the law being a reflection of the Idea envisaged by philosophers. Averroes does not question the primacy of the Law; he also knew that it was not possible to do so. He was defending philosophy in an environment visibly hostile that of a legalist tradition based on imitation of precedent cases – taqlid – not open to the activity of thoughts. Furthermore he seems to have been bent on undermining the influence of traditionally minded ʿ Ulamaʾ , whom he calls imitators (mutaqallid), and who had been opposing the new Moroccan ruler, Abu Yaqub Yusuf, Emir of the Almohads, and his strict doctrine of the unity of God. For he concludes his »Decisive Treatise« saying: »This rule (of the Almohads) calls the multitude to a middle method for being cognizant of God, raised above the low level of the traditionalists (mutaqallid) yet below the turbulence of the dialectical theologians (mutakallim), and alerts the selects (jassa) to the obligation for complete reflection on the root of the Law.« 30
Famous as a jurist and judge, Averroes’ role as a philosopher was of no importance in the Islamic world. Neither did he found a school, nor was his philosophy studied by the experts in law or men of religion.
Philosophy in the 13th and 14th century Al-Gazali’s stance was given a new life in the 13–14th centuries by Ibn Taymiyya (1263–1328). Ibn Taymiyya is a hanbali, whose works have been the theoretical base of Wahhabism in the 18th century, and the author most widely read by contemporary fundamentalists because of his political theory. 31 In his book Radd ʿ ala al-Mantiq alEbd., 33. Al-Siyasa al-Shariʿ iyya and Hisba are the most important theoretical books for the conception of an Islamic State.
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Yunan 32, Ibn Taymiyya unleashes an attack on Greek logic and philosophy that remains today the most devastating the Islamic world – perhaps the world at large – has ever seen. His topics and his arguments against philosophy remain within the scope of those advanced by al-Gazali in Tahafut; what is new is that he introduced for the first time a criticism of logic, which had always been defended as an instrument of thought by philosophers, jurists and theologians alike. Ibn Taymiyya sees logic as essentially tied to metaphysics, for the logical method ends unavoidable in metaphysics and consequently in heresies. For »they [philosophers] think that their method is universal and comprehends all the methods of knowledge cultivated by man. But this is not so. Through sense perception, reason, or truthful traditions, people have acquired a good deal of knowledge which cannot be known through the methods they have mentioned. Included in this knowledge is what the prophets taught. But the philosophers wished to make the teachings of the prophets conform to their invalid canons.« 33 Unlike Averroes he does not perceive demonstrative propositions as the only propositions leading to the truth, for »the proposition may be rhetorical or dialectical, and it may be true in itself. The messengers have also elucidated apodictic methods by means of which the truthfulness of common (mushtarak) propositions can be established, and from which the human species derives benefit.« 34 »They have excluded from the valid sciences those which are more sublime […] and the methods they have prescribed lead to only a few contemptible sciences that are neither noble nor numerous […] They are the lowest of all humans […] The entire philosophy does not even elevate its follower to a degree equal to that of the Jews and Christians after the latter have abrogated and distorted [their own Books].« 35
Not only philosophers, but also the Shiʿ a and the various forms of pantheistic mysticism became target of his attacks, although he himself
Wael b. Hallaq, Ibn Taymiyya against the Greek Logicians, Oxford University Press, Oxford 1993. A translation of Jahd al-qarihah fi tajrid al-Nasihah, an abridgment of: Ibn Taymiyya, Nasihat ahl al-bayan fi al-radd ʿ ala mantiq al-Yunan. 33 Ebd., 172. 34 Ebd., 171. 35 Ebd., 173. 32
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belonged to traditional, non pateistic (non-Ittihadi) Sufi orders. 36 He was against the doctrine of the unity of existence (wahdat al-wujud), which derived from the Platonic philosophy. His most massive attacks were directed against Avicenna and Ibn ʿ Arabi (d. 1240), whose mysticism shows a certain affinity with Avicenna’s philosophy regarding the doctrine of wahdat al-wujud. Avicenna’s theory of emanation is centered on the relation of contingent beings to necessary, absolute being. Ibn Taymiyya, on the contrary, in his emphasis on the oneness of God (Tawhid) stresses the separation and absoluteness of God with respect to creation. Ibn Khaldun (1332–1406), born in Tunisia – from an Andalusian family of Sevilla who left al-Andalus after the conquest of the city in 1248 – in an attempt to save the Arabic heritage he writes a compilation of contemporary knowledge of Islamic culture in his work Al-Muqaddima. 37 He is considered to be a predecessor of the European Enlightenment for he is the founder of the science of sociology. He declares the motor of history not to be based on ontological causes but on economic and political ones; on the other hand, fundamentalists can find inspiration in his ideas for he states the superiority of the religion of Islam, for it has a mission and a destiny to fulfill – due to the solidarity of the members of a group, ʿ Asabiyya, and their readiness to sacrifice and fight – in a kind of Darwinist selection in history. In analogy to Kant, he affirms that it cannot be asked of reason what it is beyond the reach of human mind, for God forbids asking things that go beyond what the mind can reach. He differentiates between the subject of philosophy, which »studies bodies in so far as they move or are stationary«, and that of theology (kalam), which »study bodies in so far as they serve as an argument for the Maker.« 38 Speaking of metaphysics he says: »The range of perceptions is too large for the soul, because they belong to the intellect, 39 which is on a higher level than the soul […] Therefore, we were forbidden by Muhammad to study causes. We were commanded to recognize the absolute oneness of God […] This does not speak against the intellect and That of ʿ Abd al-Qadir al-Jili; ebd., XII. Ibn Khaldun, The Muqaddima. An Introduction to History, (trans. F. Rosenthal), Princeton University Press, New York 1958. 38 Ebd., 353. 39 Intelectus agentes of Aristoteles and Averroes. See G. Hendrich, Arabisch-Islamische Philosophie, 105. 36 37
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intellectual perceptions […] However, the intellect should not be used to weigh such matters as the oneness of God, the other world, the truth of prophecy, the real character of the divine attributes, or anything else that lies beyond the level of the intellect. That would mean to desire the impossible.« In addition, he affirms: »Recognition of the oneness of God is identical with inability to perceive the causes and the ways in which they exercise their influenced, and with reliance in this respect upon the Creator of the causes who comprises them.« 40 He criticizes al-Gazali and Ibn al-Khatib because, being intent upon meddling with philosophy, they confused the subject matter of the two disciplines – theology and philosophy: They thought that there was one and the same subject in both disciplines, because the problems of each discipline were similar […] the philosophical study of metaphysics studies existence as such and what it requires for its essence. The theological study, on the other hand, is concerned with the existentia, in so far as they serve as argument for Him who causes existence. The object of theology is to find out how the articles of faith which the religious law has laid down as correct, can be proven with the help of logical arguments, so that innovations (heresies, bidaʿ ) may be repulsed and doubts […] removed. 41
Ibn Khaldun is considered to be the last philosopher of the Arabic Islamic culture. Ibn Khaldun surrendered Bagdad to the Mongol Tirmur-ilang; after this historical event the greatness of the Arab Islamic culture faded. Islamic culture continued afterwards in the Turkish Ottoman dominated territories and Iran of the Safawids. After an era of stagnation – contemporary Arabs accuse the Ottomans of being the cause of Islam not coping with modernity for not mastering the Arabic language – a true handicap, indeed, in order to be able to carry on with the inherited Arabic culture – orthodox Islam faced a challenge in the 19th century, when confronted with the West. Modern sciences were introduced and a great part of Shariʿ a law was reformed. In most Islamic countries Shariʿ a law still presided over matters of ritual cult and family law. Turkey abolished Shariʿ a completely in 1924, although in the minds of people it still remains as a higher instance and as a synonymous with the religion of Islam. 42 Not by 40 41 42
Ibn Khaldun, The Muqaddima. An Introduction to History, 351. Ebd., 353. Other countries like Saudi Arabia, Hanbalis, would keep Shariʿ a Law unchanged.
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coincidence, the Muslim Brotherhood – a reaction to the growing influence of the West – was founded four years after the abolition of the Caliphate and the Shariʿ a in Turkey, in 1928, as the guarantor of religion, continuity and tradition by defending Shariʿ a law as the basis of the religion of Islam. Afterwards, Shariʿ a, a word used and controlled by and for political forces, has become a political utopia looking backwards to an idealized practice of the first generation of Muslims (Salaf, pious antecessors), based on the literal interpretation of revealed texts and a legalistic tradition. The Muslim Brotherhood established connections with Wahhabism and, therefore, the doctrine of Ibn Taymiyya became influent. Ibn Taymiyya reinforces, indeed, two points of Islamic thought: 1. Primacy of revealed texts over any use of reason for interpretation. 2. An ahistorical conception of Islam: The Islamic revelation is not rooted in history neither borrows from other civilizations – it is the seal of revelations. Islam gave itself in a pure and moral form at its origin, with the first generations of Muslims (Salaf). This period of history of the Salaf had become a model because of the belief in the existing harmony between religion and politics at that time.
The status and problematic of philosophy today Under influence of the West, governments in Muslim countries introduced at the beginning of the 20th century a western system of education and a western curriculum of studies by creating non-religious universities besides the existing religious universities, i. e. Al-Azhar in Cairo. Although philosophy became one small department at these universities, it remains essentially a discipline foreign to Islamic religious orthodoxy. Nonetheless, the works of the Enlightenment had been translated into Arabic, i. e. Rousseau, Voltaire, Montesquieu, as the process of modernization has taken place from the 19th century to the middle of the 20th century. Indeed, the Enlightenment had permeated modern Islamic culture. Furthermore, philosophy continued to be studied in order to be able to answer to western challenges, for a foundation of the own political discourse, and for a better way of conveying Islamic ideas. However, revelation is seen as to have taken place in an ahistorical 513 https://doi.org/10.5771/9783495808405 .
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way – for the roots in Judaism and Christian revelation are affirmed and at the same time denied by asserting the falsification (tahrif) of this previous revelation –, the Koran is being considered a miracle. At the level of religious studies, the ʾ Ulamaʿ went often on the path of memorization of »Revelation«, i. e. Koran and Sunna, studying the chain of transmissions of Hadith/Sunna, not questioning the foundation of the law, taqlid, and using mere philology for the exegesis of the Koran. Philosophers like Averroes tried to convince religious scholars, Ulama ʾ ʿ , that learning from Non-Muslims philosophers or using their instruments, like syllogisms in logic, was not forbidden in Islam, even if this science did not belong to the origins of Islam. However, the tradition of philosophical studies remained as a nonimportant field of studies in the Sunni world. Nonetheless, the interest on philosophical knowledge became considerable among the Shiʿ a – with its center in Qum, Iran –, which even today includes philosophy in its religious curriculum of studies. Khomeiny and other Mullahs before him had been devoted to study philosophy in Iran, i. e. today Ali Laridshani is a specialist in Kant. In our own time, Avicenna, who wrote in a Persian and Schiʿ a milieu, 43 continues to be studied with passion by Shiʿ a scholars, not by Sunni ones. Neo-Platonism as such is widely accepted by Schiʿ a scholars, who inherit the gnostic and esoteric tradition of the Persians. Averroes, on the contrary, wrote in a Sunni milieu and Sunnis never considered him as part of their heritage. Making up the majority of the Muslim population – 90 % against 10 % Schiʿ a –, Sunnis remained attached to the law and custom of the ʾ Ummah. At present, however, Averroes has been rediscovered, enhancing in that way Islamic heritage, as well as being appreciated as a model of realism and pragmatism in modern philosophical and political thought. 44 Contrary to what happens in Iran, Sunni philosophers today, i. e. He was born 980 in today’s Uzbekistan, in the city of Bukhara. The ruling dynasty of the Samanids was patrons of a fabulously Islamic culture. In the tenth century Bukhara emerged as the center of a new Persian-Islamic civilization. Arabic religious, legal, philosophic and literary ideas were recasted in Persia. For the first time the religion and culture of Islam became available in a language other than Arabic. Ira M. Lapidus, A History of Islamic Societies, Cambridge University Press, Cambridge 1988, 141. 44 An example is the work of the Moroccan philosopher M. Ab(e)d al-Yabri, Kritik der arabischen Vernunft, Perlen Verlag, Berlin 2009. 43
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Hasan Hanafi in Egypt, Abd al-Yabr in Morocco, emerge mainly from a secularized background or communist background. However, philosophy needs to enter in a relation with theology in order to open ways for reason. The claim of Shariʿ a by fundamentalist groups and the strict Islamic concept of revelation as literal transmissions of Godʿ s words and Muhammadʿ s words and deeds, Sunna, together with stronger rejection of philosophy can be synthetized in the words of the main theoretician of the Muslim Brotherhood, Sayyid al-Qutub (d. 1966): This generation [the Salaf or pious predecessors of the first generations in Islam] drank solely from this spring [Koran and Sunna] and thus attained a unique distinction in history. In later times, it happened that other sources mingled with it. Other sources used by later generations included Greek philosophy and logic, ancient Persian legends and their ideas, Jewish scriptures and traditions, Christian theology, and, in addition to these, fragments of other religions and civilizations. These mingled with the commentaries on the Holy Qurʿ an and with scholastic [Islamic] theology, as they were mingled with jurisprudence and its principles. Later generations after this generation obtained their training from these mixed sources, and hence the like of this generation [the Salaf] never arose again. 45
Nonetheless, since Al-Afghani in the 19th century, who believed in the cyclical theory of history of Ibn Khaldun, the idea of the decadence of the West, due to its materialism, laxity, subject-center rationalism and extreme individualism, is spread among Muslim fundamentalists and seen as a sign for the Renaissance of Islam, which possesses a greater solidarity of group, Asabiyya, and readiness to sacrifice, and die for a cause.
Conclusion Islamic culture allowed all kinds of philosophical currents of thought to develop within its realm as long as it did not constitute a threat to the establishment and the ʿ Ummah. The elite always had access to knowledge considered non-Islamic or foreign when it was necessary. Assimilation of knowledge had always been a constant and a characteristic of 45
Sayyid Qutb, Milestones, Al-Faisal Press, Kuwait, 26.
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the great Arabic culture and Empire that extended from India to alAndalus. The status of philosophy in the Islamic Middle Ages was that of a foreign science from the point of view of Islamic religious orthodoxy, although at the same time being a great achievement of the Arabic Islamic culture and having influenced it. Occasionally political rulers made use of philosophers in order to achieve a political goal or support the own ideology. Nonetheless, great philosophers appear in the domains of the Islamic Empire in the course of the Middle Ages. As a result, ideas and the logical method of argumentation were assimilated into theology for apologetic purposes. Furthermore, the logical method became, albeit in a partial secondary way, useful for deriving the Law from revelation. The level of precision achieved by theologians setting out to master the science of philosophy had been questioned by philosophers like Averroes, for they had no access to original works but to compendia and were not outstanding in mastering logic and terminology. Furthermore, theologians, who were primarily experts on law, did not need philosophy. The science of Fiqh, of deriving the law from Koran and Sunna, makes use only of analogical reasoning departing from revealed texts. But one should not forget that the specialization of sciences did not exist, so that we find ethics, religion and law – as religious law – on one side all together and philosophy and medicine on the other side – as natural sciences. As a matter of fact, it is Arabic, the language of revelation, which possesses an ontological value and is the preambulo fideis, the door into Islam, Islamic religious sciences, and revelation. The Law, on the other hand, makes revelation concrete and gives cohesion and identity to the community, the ʿ Ummah. Philosophy plays a secondary and marginal role in Islamic religious orthodoxy, especially Sunni orthodoxy, which had defined itselfs against Philosophy because of the affinity of Philosophy with the great enemy, the Shiʿ a. While religion tends to be subservient of politics, philosophy remains an instrument of them or a marginal phenomenon. As a matter of fact, at present, the crisis of reason in the West and the crisis of reason in Islam may have the same ultimate origin, the close of the metaphysical question at some point in history. Nonetheless, the great heritage of Islamic philosophy remains a meeting point for the re-encounter between Islam and the West on greater and new bases. 516 https://doi.org/10.5771/9783495808405 .
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Kogaku Arifuku Professor für Philosophie an der staatlichen Universität Kyoto/Japan. Publikationen: Die Philosophie der Weisheit. Der Zusammenhang und die Differenz von der Kantischen Philosophie und dem Buddhistischen Denken. Ms. Manuskript. Signiertes Widmungsexemplar. Münster 1981; Deutsche Philosophie und Zen-Buddhismus: komparative Studien. Berlin 1999; »Der aktive Nihilismus Nietzsches und der buddhistische Gedanke von śunyata (Leerheit)«, in: Josef Simon (Hg.), Nietzsche und die philosophische Tradition, Bd. 1., Würzburg 1985, 108–121. Stefano Bancalari Studium der Philosophie in Rom und Freiburg i.B.; Promotion 2003 an der Universität Rom »La Sapienza«;, wo er Professor für »Phänomenologie der Religion« ist. Seit 2013 Gastprofessor an der Pontificia Università Gregoriana; Managing Editor von Archivio di filosofia. Publikationen: Der Andere und das Dasein. Das Problem des Mitseins bei Heidegger (1999), und Intersubjektivität und Lebenswelt. Husserl und das Problem der Phänomenologie (2003); zahlreiche Aufsätze über das phänomenologische Denken, Herausgabe einer italienischen Ausgabe des philosophisch-religiösen Werkes von Rudolf Otto; derzeit Arbeit an einem Buch über die Logik der Epoché. Zu einer Einführung in die Phänomenologie der Religion. Florian Bruckmann Studium der Kath. Theologie in Würzburg, Jerusalem und Bonn. 2004–2010 Assistent am Lehrstuhl für Fundamentaltheologie an der KU Eichstätt-Ingolstadt, WS 2011/12 – WS 2012/13 Lehrstuhlvertretung Fundamentaltheologie/Dogmatik in Bamberg. Publikationen: »Natur, Freiheit und Gnade bei Jacques Derrida«, in: Fischer, Norbert (Hg.), Die Gnadenlehre als »salto mortale« der Vernunft? Natur, Frei517 https://doi.org/10.5771/9783495808405 .
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heit und Gnade im Spannungsfeld von Augustinus und Kant, Freiburg 2012, 311–327; »Hingegeben für die vielen – Stellvertretung zwischen ätiologischer Metonymie und Kontiguität«, in: Schweidler, Walter (Hg.), Zeichen – Person – Gabe. Metonymie als philosophisches Prinzip, Freiburg u.a. 2014, 267–297; »Schriftlichkeit der Hl. Schrift. Analoge Gottrede und vermittelte Offenbarung«, in: Schott, Hans-Joachim u. a. (Hg.), Textualität der Kultur. Gegenstände, Methoden, Probleme der kultur- und literaturwissenschaftlichen Forschung, (Bamberger Studien zu Literatur, Kultur und Medien 10), Bamberg 2014, 19–38. Rocio Daga Studium an der Universität Granada, drei Jahre Aufenthalt an der Kairo Universität und American University in Kairo. Promotion über ein Werk des Islamischen Rechts, Al-Ahkam al-Kubra von Ibn Sahl in Jahr 1990. Post-doc in Princeton University. Seit 1993 Lehrbeauftrage an der FU Berlin und LMU München. Publikationen: »Ibn Haldun«, in: Islamische Philsophie im Mittelalter, hg. v. H. Eichner, M. Perkams, C. Schäfer, Darmstadt 2013; »Al-Ahkam al-Kubra li-Ibn Sahl: A court case on a Martyr of Cordova that reached the Orient« in: Parole de l’Orient 39 (2014). Emmanuel Falque Forschungsdirektor und »Doyen« an der Philosophischen Fakultät des Institut catholique de Paris; Spezialist für mittelalterliche und phänomenologische Philosophie. Publikationen: drei große Abhandlungen über die letzten drei Tage der Passion Christi (Passeur de Gethsémani, Métamorphose de la finitude et Les noces de l’Agneau); Passer le Rubicon. Philosophie et théologie : Essai sur les frontières, Bruxelles 2013; Saint Bonaventure et l’entrée de Dieu en théologie. Paris 2001. Reto Luzius Fetz 1962–1970 Studium der Philosophie an der Universität Freiburg/ Schweiz. 1981–1982 Gastdozent an der Universität Bern. Hochschule St. Gallen. Von 1988 bis zur Emeritierung 2008 Inhaber des Lehrstuhls für Philosophie an der Philosophisch-Pädagogischen Fakultät der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Buchveröffentlichungen zu Thomas von Aquin, Alfred North Whitehead, Jean Piaget, Edith Stein, Ernst Cassirer, Shri Ramana Maharshi sowie zur Prozessphilosophie und Weltbildentwicklung. 518 https://doi.org/10.5771/9783495808405 .
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Günter Figal Studium der Philosophie und Germanistik in Heidelberg. Von 1989 bis 2002 Professor für Philosophie an der Universität Tübingen; zahlreiche Gastprofessuren, so an der Kwansei Gakuin Universität in Nishinomiya (Japan), als Inhaber des Kardinal-Mercier Lehrstuhls an der Katholischen Universität Leuven und als Gadamer Distinguished Visiting Professor am Boston College. Publikationen: Martin Heidegger. Phänomenologie der Freiheit, revidierte Neuauflage, Tübingen 2013; Verstehensfragen. Studien zur phänomenologisch-hermeneutischen Philosophie, Tübingen 2009; Gegenständlichkeit. Das Hermeneutische und die Philosophie, Tübingen 2006. Norbert Fischer Studium der Philosophie, Theologie und Germanistik in Mainz und Freiburg/Breisgau. Professuren für Philosophie in Mainz (1986–1989) und Trier (1989–1991), seit 1995/96 Inhaber des Lehrstuhls für Philosophische Grundfragen der Theologie an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Publikationen: Die Transzendenz in der Transzendentalphilosophie. Untersuchungen zur speziellen Metaphysik an Kants ›Kritik der reinen Vernunft‹. Bonn 1979; Augustins Philosophie der Endlichkeit. Zur systematischen Entfaltung seines Denkens aus der Geschichte der Chorismos-Problematik. Bonn 1987; Die Gottesfrage in der Philosophie Immanuel Kants. hg. mit Maximilian Forschner. Freiburg 2010; u. v. m. Martin Hähnel Studium der Philosophie, Romanistik und Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Technischen Universität Dresden. 2009 M.A. in Philosophie. 2010–2012 Lehrbeauftragter am Institut für Philosophie an der TU Dresden, 2011–2014 Lehrbeauftragter für Philosophie an der KU Eichstätt-Ingolstadt. 2010–2013 Promotion an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Seit 2014 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Bioethik und am Lehrstuhl für Philosophie an der KU Eichstätt-Ingolstadt. Seine Forschungsgebiete sind die philosophische Ethik und Anthropologie, die Religionsphilosophie sowie die philosophische Ästhetik. Publikationen (Auswahl): Das Ethos der Ethik. Zur Anthropologie der Tugend. Wiesbaden 2015; mit Marcus Knaup, Leib und Leben. Perspektiven für eine neue Kultur der Körperlichkeit, Darmstadt 2014; »Religionsphilosophie« (zusammen mit Re519 https://doi.org/10.5771/9783495808405 .
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né Kaufmann), in: J. Rohbeck, P. H. Breitenstein (Hg.), Einführung in die Philosophie. Geschichte - Disziplinen - Kompetenzen, Stuttgart 2011, 355–365. Ludger Honnefelder Studium der Katholischen Theologie, Philosophie und Pädagogik in Bonn, Innsbruck und Bochum. Professor der Philosophie an der Theologischen Fakultät Trier (1972–82), an der Freien Universität Berlin (1982–88), an der Universität Bonn (1988–2005) sowie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Publikationen: Ens inquantum ens. Der Begriff des Seienden als solchen als Gegenstand der Metaphysik nach der Lehre des Johannes Duns Scotus, 2.A. Münster 1989; Scientia transcendens. Die formale Bestimmung der Seiendheit und Realität in der Metaphysik des Mittelalters und der Neuzeit (Duns Scotus – Suárez – Wolff – Kant – Peirce), Hamburg 1990; Woher kommen wir? Ursprünge der Moderne im Denken des Mittelalters, Berlin 2008. Dirk Lüddecke Studium der Philosophie, Wissenschaftlichen Politik und Geschichte in Freiburg i. Br., Dublin und Basel. Nach Tätigkeiten als Wissenschaftlicher Assistent und Akademischer Oberrat am Geschwister-Scholl-Institut für Politikwissenschaft der LMU München seit 2012 Professor für Politische Theorie an der Universität der Bundeswehr München. Publikationen: Staat, Mythos, Politik. Das politische Denken Ernst Cassirers, Würzburg 2003; »Dantes Monarchia als politische Theologie«, in: Der Staat 37 (1998), 547–570; »Marsilius von Padua«, in: Hans Maier/Horst Denzer (Hrsg.), Klassiker des politischen Denkens, München 2001, 107–118; »Dantes Denken politischer Ordnungsformen«, in: S. Saracino u. a. (Hrsg.), Das Staatsdenken der Renaissance, Baden-Baden 2013, 43–67. Jean-Luc Marion Professor em. für Philosophie an der Sorbonne (Paris IV), Professor am Institut Catholique de Paris und Professor für Religionsphilosophie und Theologie an der University of Chicago. 2008 wurde er mit dem Karl-Jaspers-Preis ausgezeichnet und als Mitglied in die Académie française gewählt. Publikationen: L’idole et la distance. Cinq études, Paris 1977; Das Erotische. Ein Phänomen. Aus dem Französischen übersetzt von Alwin Letzkus. Freiburg i. Br./München 2012; Gott ohne 520 https://doi.org/10.5771/9783495808405 .
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Sein, Paderborn 2014; Gegeben sei – Entwurf einer Phänomenologie der Gegebenheit, Freiburg i. Br./München 2014 (im Erscheinen). Bruce D. Marshall Studium in Yale und an der Northwestern University; graduierte an der Yale University mit Hans Frei und George Lindbeck. Derzeit Lehman Professor für christliche Lehre an der Perkins School of Theology, Southern Methodist University, Dallas, Texas. Zuvor Professor für Religion an der St. Olaf College, Minnesota. Publikationen: Trinity and truth, Cambridge 2000; Christology in conflict: the identity of a saviour in Rahner and Barth, Oxford 1987. Joseph O´Leary Studium der Literatur und Theologie in Maynooth, Rom und Paris. Er lehrte Theologie in den Vereinigten Staaten (1981–83) und Literatur an der Sophia-Universität Tokyo (1988–2015). Seine Hauptveröffentlichung ist eine fundamentaltheologische Trilogie: Questioning Back (Minneapolis, 1985), Religious Pluralism and Christian Truth (Edinburgh, 1996), und Conventional and Ultimate Truth (University of Notre Dame Press, 2015). Er widmet sich dem Studium buddhistischer Philosophie in Mitarbeit mit dem Nanzan Institute for Religion and Culture, Nagoya. Michael Rasche Michael Rasche, Dr. phil., Dr. theol., Studium Kath. Theologie und Philosophie in Bochum und Rom, seit 2012 Habilitationsstudium in Eichstätt. Publikationen: Mythos und Metaphysik im Hellenismus. Die Wege zu Origenes und Plotin, West-östliche Denkwege Bd. 18, St. Augustin 2011; »De diversis quaestionibus«, in: The Oxford Guide to the historical Reception of Augustine, Vol. 1, Oxford 2013, 280–282. Nicola Reali Seit 2010 Professor an der Päpstlichen Lateranuniversität in Rom. Dozent für Theologie der Ehe- und Familienpastoral am Päpstlichen Institut »Redemptor Hominis« der Päpstlichen Lateranuniversität in Rom. Publikationen: Il mondo del sacramento. Teologia e filosofia a confronto, Paoline, Milano 2001; L’amore tra filosofia e teologia. In dialogo con Jean-Luc Marion, Lateran University Press, Città del Vaticano 2007. 521 https://doi.org/10.5771/9783495808405 .
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Thomas Rentsch Studium der Philosophie, der Literaturwissenschaften (Germanistik, Romanistik) und der Evangelischen Theologie an den Universitäten Konstanz, Münster, Zürich und Tübingen. 1992–1995 Direktor des Instituts für Philosophie an der TU Dresden; Mitarbeit an der Entwicklung der Studiengänge für das Schulfach Philosophie/Ethik. Seit 2009 Leiter des Kooperativen Forschungsprojekts »Gutes Leben im hohen Alter angesichts von Verletzlichkeit und Endlichkeit - eine Analyse von Altersbildern in öffentlichen Diskursen und Alltagspraktiken« (VolkswagenStiftung). Publikationen: Heidegger und Wittgenstein. Existential- und Sprachanalysen zu den Grundlagen philosophischer Anthropologie, Stuttgart: Klett-Cotta 1985; Martin Heidegger – Das Sein und der Tod. Eine kritische Einführung, München/Zürich: Piper 1989; Gnosis – Philosophie – Theologie, A. Franz/Th. Rentsch (Hg.), Paderborn: Schöningh 2001. Rolf Schönberger Studium der Philosophie, Katholischen Theologie und Geschichte an der Universität München; dort M.A. 1979. Assistent am Lehrstuhl Prof. Spaemann. Seit dem WS 1996/97 Professor für Philosophie an der Universität Regensburg; 2004 Ordentliches Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Publikationen: Die Transformation des klassischen Seinsverständnisses. Studien zur Vorgeschichte des neuzeitlichen Seinsbegriffs im Mittelalter, Berlin/New York 1986; Was ist Scholastik?, Hildesheim 1991; Thomas von Aquin zur Einführung, Hamburg 1998. Walter Schweidler Inhaber des Lehrstuhls für Philosophie an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Von 2000 bis 2009 war er Professor für Praktische Philosophie an der Ruhr-Universität Bochum – Forschungsschwerpunkte: Gegenwärtige und neuzeitliche Ansätze der Ethik und der Politischen Philosophie; Rechtsphilosophie und Theorie der Menschenrechte; Phänomenologie, Philosophie Heideggers im Kontext der Hauptströmungen des 20. Jahrhunderts; Metaphysik und Metaphysikkritik; Interkulturelle Philosophie; Bioethik. Ausgewählte Publikationen: Wittgensteins Philosophiebegriff, München 1983; Die Überwindung der Metaphysik, Stuttgart 1987; Geistesmacht und Menschenrecht. Der Universalanspruch der Menschenrechte und das Problem 522 https://doi.org/10.5771/9783495808405 .
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der Ersten Philosophie, Freiburg/München 1994; Das Uneinholbare. Beiträge zu einer indirekten Metaphysik, Freiburg 2008, Über Menschenwürde: Der Ursprung der Person und die Kultur des Lebens, Wiesbaden 2012 Jakub Sirovátka Studium der Philosophie und Theologie in Eichstätt und Rom. Promotion in Philosophie. 2000–2013 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für philosophische Grundfragen der Theologie an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Publikationen: Die Gottesfrage in der Philosophie von Emmanuel Levinas, hg. mit Fischer, Norbert, Hamburg 2013; Endlichkeit und Transzendenz: Perspektiven einer Grundbeziehung, Hamburg 2012; Der Leib im Denken von Emmanuel Levinas. Freiburg/München 2006. Émilie Tardivel Nach einem Doktorat in Philosophie an der Universität Paris 1, sowie dem Erwerb eines Diploms am Institut d’‘Études Politiques de Paris, derzeit Assistenzprofessorin an der Philosophischen Fakultät des Institut Catholique de Paris. Publikationen: La Liberté au principe. Paris 2011; »Le paradoxe du citoyen« chrétien«, in: Revue Communio, Bd. 39, Januar–April 2014; »Pouvoir et bien commun. Une lecture non théologico-politique de Rm 13,1«, in: Revue Transversalités, Nr. 131, Oktober–Dezember 2014. Pierluigi Valenza Studium der Philosophie an der La Sapienza-Universität in Rom. 2001–2004 Dozent für Religionsphilosophie an der La Sapienza-Universität in Rom. 2005 Professor am dortigen Institut für Philosophie. Publikationen: Logica e filosofia pratica nello Hegel di Jena: dagli scritti Giovanili al sistema dell’eticità. Padova 1999; »Hegels praktische Philosophie im Kritischen Journal«, in: Klaus Vieweg (Hg.), Gegen das »unphilosophische Unwesen«, Würzburg 2002, 147–156. Boris Wandruszka Studium der Philosophie und der Medizin in Saarbrücken, Homburg/ Saar und Freiburg. Abschluss 1985 mit Magister und Staatsexamen in FB. Leiter einer psychosomatisch-psychotherapeutische Praxis in Stuttgart und habilitierender Mitarbeiter bei Prof. Dr. Dr. Fuchs in 523 https://doi.org/10.5771/9783495808405 .
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Heidelberg am Karl-Jaspers-Lehrstuhl. Promotion in Medizin (Grundlegung der Medizin, »Leidensdruck und Leidenswiderstand«) und Philosophie über Philosophie des Leidens. Zur Seinsstruktur des pathischen Lebens, Freiburg 2009; Habilitation zum Thema »Pathik und Intersubjektivität«; darüber hinaus veröffentlicht: Der Traum und sein Ursprung. Eine neue Anthropologie des Unbewussten, Freiburg 2008; viele Aufsätze zu wissenschaftstheoretischen, philosophie- und psychiatriegeschichtlichen Themen.
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