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German Pages 93 [96] Year 2013
Martin Wallraff Kodex und Kanon
Akademieunternehmen „Die alexandrinische und antiochenische Bibelexegese in der Spätantike – griechische christliche Schriftsteller“ der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften
Hans-Lietzmann-Vorlesungen
Herausgegeben von Christoph Markschies Heft 12
De Gruyter
Martin Wallraff
Kodex und Kanon Das Buch im frühen Christentum
De Gruyter
ISBN 978-3-11-030712-2 e-ISBN 978-3-11-030718-4 ISSN 1861-6011 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. 쑔 2013 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Vorwort Die vorliegende Hans-Lietzmann-Vorlesung des Jahres 2010 erscheint anlässlich eines doppelten Jubiläums. Ich beginne aus naheliegenden Gründen mit dem ersten der beiden: 1995 fand in Jena die erste Veranstaltung in dieser Reihe statt, fünfzehn Vorlesungen haben stattgefunden. Die Hans-Lietzmann-Vorlesungen begannen vor fünfzehn Jahren in Jena mit Walter Burkerts programmatischem Vortrag über „Klassisches Altertum und antikes Christentum“, und seit dem Jahr 1999 finden sie immer kurz vor dem Tag, an dem sie in Jena gehalten werden, auch in Berlin statt. 1999 sprach erstmals in Jena und Berlin der Würzburger Althistoriker Dieter Timpe über ein Thema, über das auch Martin Wallraff hätte sprechen können: „Römische Geschichte und Heilsgeschichte“, beide Vorlesungen wurden inzwischen veröffentlicht1. Dass wir inzwischen in Jena und Berlin LietzmannVorlesungen halten, hat natürlich einen guten Grund: Hans Lietzmann, Neutestamentler, Kirchenhistoriker des antiken Christentums, aber auch mit Leidenschaft christlicher Archäologe und Philologe, wechselte 1924, nachdem er einmal schon einen Berliner Ruf ausgeschlagen hatte, von der Salana, der Jenaer Universität, an die damalige Friedrich-Wilhelms-Universität auf den Lehrstuhl Adolf von Harnacks, wurde 1926 zum ordentlichen Mitglied der damaligen preußischen Akademie der Wissenschaften berufen und stand dem Akademieunternehmen „Griechische Christliche Schriftsteller“, wiederum als Nachfolger Harnacks, seit 1930 und bis zu seinem viel zu frühen Tode im Jahre 1942 ———— 1
W. Burkert, Klassisches Altertum und antikes Christentum. Probleme einer übergreifenden Religionswissenschaft (Hans-Lietzmann-Vorlesungen 1), Berlin 1996; D. Timpe, Römische Geschichte und Heilsgeschichte (Hans-Lietzmann-Vorlesungen 5), Berlin 2001.
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vor2. Jena und Berlin sind die beiden Orte, an denen sich der 1875 in Düsseldorf geborene und in Bonn akademisch aufgewachsene Hans Lietzmann entwickelt und zu seiner vollen Bedeutung entfaltet hat. Es lag daher nahe, die in Jena begründete Vorlesung an diesen beiden Orten stattfinden zu lassen, und ich habe Martin Wallraff nicht nur dafür zu danken, dass er diesem sinnvollen Brauch auch in diesem Jahr folgt und seine Vorlesung in Jena wiederholt, sondern während seiner Zeit als Nachfolger Hans Lietzmanns in Jena in den Jahren 2000 bis 2005 die Vorlesung nachdrücklich unterstützt und zeitweilig auch als Mitherausgeber der Reihe mitgetragen hat. Indem ich beginne, die Biographien des diesjährigen Referenten und die von Hans Lietzmann in Beziehung zu setzen, bin ich schon mitten im klassischen Muster meiner Einführung in die Hans-Lietzmann-Vorlesungen, wie ich sie schon vierzehnmal vorgenommen habe – aber bevor ich an dieser Stelle fortführe, muss ich noch über das zweite Jubiläum orientieren, das ich zu Beginn erwähnt habe. Auf den ersten Blick sieht das Jubiläum, von dem ich gleich spreche, gar nicht nach Jubiläum aus: Mit dem Jahresende 2010 hört das Akademieunternehmen der „Griechischen Christlichen Schriftsteller“ der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften auf zu existieren, jenes Unternehmen, dem Hans Lietzmann während nicht ganz einfacher zwölf Jahre vorstand und das sein Lehrstuhlvorgänger Adolf von Harnack 1891 (also im Jahr nach seiner Aufnahme in die preußische Akademie) mit tatkräftiger Unterstützung durch Theodor Mommsen begründet hatte3. Harnack wollte – durchaus im Gegenzug zur ———— 2
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W. Schneemelcher, Art. Lietzmann, Hans Karl Alexander (1875–1943), in: Theologische Realenzyklopädie 21, Berlin 1991 (= 2000), 191–196; W. Kinzig, Hans Lietzmann (1875–1942), in: Theologie als Vermittlung. Bonner evangelische Theologen des 19. Jahrhunderts im Porträt, hg. v. R. Schmidt-Rost/St. Bitter/M. Dutzmann (Arbeiten zur Theologiegeschichte 6), Rheinbach 2003, 220–231. St. Rebenich, Die Altertumswissenschaften und die Kirchenväterkommission an der Akademie: Theodor Mommsen und Adolf Harnack, in: Die Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften zu Berlin im Kaiserreich, hg. v. J. Kocka unter Mitarbeit v. R. Hohlfeld/P. Th. Walther (Interdisziplinäre Arbeitsgruppen. Forschungsberichte, hg. v. der
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1864 begonnenen Ausgabe der lateinischen Kirchenväter durch die Wiener Akademie der Wissenschaften – alle griechischen christlichen Schriftsteller der ersten drei Jahrhunderte (und zwar sowohl die griechisch erhaltenen wie die in anderen Sprachen der Antike überlieferten und fragmentierten Werke) zum Druck bringen; die heute etwas seltsam anmutende Beschränkung auf die ersten drei Jahrhunderte erklärt sich durch Harnacks Konzeption einer besonders wertvollen „paläoontologischen Epoche“ des antiken Christentums, die durch dessen angebliche dogmatische Versteinerung (so sah es jedenfalls dieser Berliner Kirchenhistoriker) in der nachnizänischen Epoche beendet wurde. Für den baltischen Lutheraner Harnack war ganz selbstverständlich, dass erst der Aufbruch der Reformation und die Theologie seiner eigenen Zeit jenes versteinerte Christentum wieder verlebendigt hätten, und so diente die Berliner Kirchenväterausgabe nicht nur den Philologen und Historikern, sondern auch den Theologen zur Anschauung über eine erste, durchaus ambivalente Phase der Ausbreitung des Christentums in einer „hellenistischen Zivilisation“. Dieses Projekt der „Griechischen Christlichen Schriftsteller der ersten drei Jahrhunderte“, das 1897 sehr verheißungsvoll mit der Veröffentlichung eines ersten Bandes der gesammelten exegetischen Werke des stadtrömischen Autors Hippolyt begann und zunächst schnell voranschritt, weil Harnack Autoren einer beim Verlag B. G. Teubner geplanten Editionsreihe abgeworben hatte, dann aber in der Kriegs- und Inflationszeit nach 1914 in schwere Wasser geriet und nach 1945 unter den Bedingungen des real existierenden Sozialismus mühsam aufrecht erhalten wurde, ist kurz vor seinem einhundertzwanzigjährigen Jubiläum mit dem Jahresende 2010 zu einem definitiven Ende gekommen – zu einem definitiven Ende, obwohl durchaus noch kleinere und größere Projekte zu erledigen sind. Martin Wallraff wird dankenswerterweise nach der Chronik des Universalgelehrten Julius Africanus nun auch dessen țȖȢȣȠȚ in einer neuen Edition vorlegen und hat uns zu diesem schwierigen und weitgehend ———— Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften 7), Berlin 1999, 199–233.
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analogielosen Werk schon einen Band mit Aufsätzen in der Reihe „Texte und Untersuchungen“ geschenkt (so wie übrigens auch vorher schon für die Chronik)4. Und auch die Berliner Edition der Überreste des Psalmenkommentars des, wenn ich so sagen darf, ganz anderen christlichen Universalgelehrten neben Julius Africanus, des Origenes, ist noch nicht ganz abgeschlossen. Dann sind aber diejenigen „Griechischen Christlichen Schriftsteller“ der ersten drei Jahrhunderte, die sich angesichts gegenwärtiger Mechanismen der Finanzierung solcher Ausgaben noch neu oder erneut kritisch herauszugeben lohnen, erschöpft, und das berühmte Unternehmen, das nach der Wende in den neunziger Jahren nicht zuletzt durch den Heidelberger Gräzisten Albrecht Dihle noch einmal Fahrt aufnahm, kann nicht nur nach den Maßstäben des Akademienprogramms des Bundes und der Länder als abgeschlossen betrachtet werden. Harnack rechnete mit rund zwanzig Jahren Laufzeit und wollte dabei rund fünfzig Bände veröffentlichen; nun sind es nach fast einhundertzwanzig Jahren über fünfundsiebzig Bände. Ein Grund zu feiern wäre dies wahrscheinlich trotz der stolzen Reihen von Bänden in den „Griechischen Christlichen Schriftstellern“ und ihrem Archiv, den „Texten und Untersuchungen zur altchristlichen Literatur“, nicht unbedingt, wenn es in den vergangenen zwei Jahren nicht gelungen wäre, ganz im Geiste Hans Lietzmanns die Arbeit an den Texten des antiken Christentums der östlichen Reichshälfte für Berlin zu sichern. Lietzmann hatte ja schon angefangen, den Focus der Ausgabe, die er 1930 übernahm, deutlich zu erweitern: Er begann, nicht nur Kirchenhistoriker der auf die ersten drei Jahrhunderte folgenden zu edieren, weil sie wichtige Informationen über die „paläoontolo———— 4
Die Kestoi des Julius Africanus und ihre Überlieferung, hg. v. M. Wallraff/L. Mecella (TU 165), Berlin 2009. Die angekündigte Edition ist unterdessen erschienen: Iulius Africanus, Cesti. The Extant Fragments, ed. by M. Wallraff/C. Scardino/L. Mecella/Ch. Guignard, transl. by W. Adler (GCS N.F. 18), Berlin 2012. Aufsatzband und Edition der Chronik: Julius Africanus und die christliche Weltchronistik, hg. v. M. Wallraff (TU 157), Berlin 2006; Iulius Africanus, Chronographiae. The Extant Fragments, ed. by M. Wallraff, with U. Roberto and, for the Oriental Sources, K. Pinggéra, transl. W. Adler (GCS N.F. 15), Berlin 2007.
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gische Epoche“ des Christentums enthielten, also neben Eusebius auch Philostorgius, Socrates, Sozomenus, Theodoret und Theodorus Lector, sondern außerdem Athanasius und die manichäischen Textfunde aus Ägypten, die Harnacks Mitarbeiter Carl Schmidt in Kairo erworben hatte5. Hanns Christof Brennecke, der im Jahre 2011 die Lietzmann-Vorlesungen in Berlin wie Jena halten wird, hat jüngst einfühlsam nachgezeichnet, wie wenig Harnack diese Fortsetzung der „Griechischen Christlichen Schriftsteller“ im Blick auf Athanasius wünschte (man könnte Ähnliches für die Berliner Manichaica zeigen); das amerikanisch-deutsche Projekt der Athanasiana wurde überhaupt erst nach seinem Tode in den Publikationsplan der Berliner Kirchenväterkommission aufgenommen6. Nach 1945 erschienen zwar in den „Griechischen Christlichen Schriftstellern“, deren Untertitel „der ersten drei Jahrhunderte“ gefallen war, immer wieder nachnizänische Schriften wie die Hexaemeron-Homilien des Kappadoziers Basilius, die Briefe seines Freundes Gregor von Nazianz und ein Teil der Schriften des Pseudo-Macarius Alexandrinus/Symeon, aber die Auswahl blieb weitgehend zufällig. Das lag nicht zuletzt daran, dass nach dem Zweiten Weltkrieg eine ganze Reihe von weiteren Editionsunternehmen gegründet wurde, die ebenfalls „griechische christliche Schriftsteller“ edieren. Mit den Beschlüssen der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, der Union der Akademien in der Bundesrepublik und der Gemeinsamen Kommission aus diesem Jahr ist nun sichergestellt, dass in Berlin nach dem Ende von Harnacks Projekt pünktlich zum 1. Januar 2011 ein Nachfolgeunternehmen im Geiste Hans Lietzmanns begonnen werden kann – die „ale———— 5
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Vgl. dazu Ch. Markschies, Carl Schmidt und kein Ende. Aus großer Zeit der Koptologie an der Berliner Akademie und der Theologischen Fakultät der Universität, Zeitschrift für Antikes Christentum 13, 2009, 5–28 (= Neue Beiträge aus dem Berliner Arbeitskreis für koptischgnostische Schriften. Hans-Gebhard Bethge zum 65. Geburtstag, hg. v. U.-K. Plisch). H. Ch. Brennecke/A. von Stockhausen, Die Edition der „Athanasius Werke“, in: Erlanger Editionen. Grundlagenforschung durch Quelleneditionen: Berichte und Studien, hg. v. H. Neuhaus (Erlanger Studien zur Geschichte 8), Erlangen 2009, 151–171.
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xandrinische und antiochenische Bibelexegese in der Spätantike“. Wir knüpfen mit diesem Unternehmen an die Idee Hans Lietzmanns an, die in den byzantinischen Katenen fragmentiert überlieferten und weitgehend unedierten Reste der antiken christlichen Exegese wieder ans Licht zu bringen; es ist hier nicht der Ort, das schwierige Schicksal dieses Unternehmens, das – vorsichtig gesagt – nicht das besondere Wohlwollen der Philologen und Theologen der Berliner Kirchenväterkommission fand, hier nachzuzeichnen; ich habe dies auf einer von Martin Wallraff veranstalteten Tagung getan, deren Beiträge unterdessen erschienen sind7. Durch die Konzentration auf die häufig in zu strenger Opposition gesehenen Traditionslinien einer alexandrinischen und antiochenischen Exegese spitzen wir das neue Unternehmen inhaltlich zu und wollen lediglich eine Auswahl der wichtigen Texte edieren, können aber auf Berliner Traditionen und Erfahrungen zurückgreifen. Die Finanzierungsgeber in Bund und Land haben uns eine Laufzeit von 2011 bis in das Jahr 2032 bewilligt, und wir wollen sie nutzen, um insbesondere alttestamentliche Kommentierung zu edieren – näherhin zwei frühe Werke des Cyrill von Alexandrien zum Pentateuch (De adoratione et cultu in spiritu et veritate und die Glaphyra in Pentateuchum), dazu die Psalmenkommentare des Eusebius von Caesarea sowie des Hesychius von Jerusalem und den Heptateuchkommentar des Prokop von Gaza, dazu Homilien aus der Feder des Severian von Gabala und den Danielkommentar des Theodoret von Cyrrhus. So viel zu den beiden Jubiläen, über die zu handeln ich eingangs ankündigte. Nun wenigstens ein paar Bemerkungen zu dem Autor, mit dem wir beide Jubiläen feiern, zu Martin Wallraff. Ich hatte schon angekündigt, nach dem hier üblichen Brauch Vita und Werke des Basler Kollegen in eine Beziehung mit Hans Lietzmann setzen zu wollen – das fällt leicht, denn sowohl in der Biographie wie in der Bibliographie lassen sich auffällige Parallelen notieren. ———— 7
Ch. Markschies, Hans Lietzmann und die römische Kirchengeschichte, in: Rombilder im deutschsprachigen Protestantismus. Begegnungen mit der Stadt im „langen 19. Jahrhundert“, hg. v. M. Wallraff/M. Matheus/ J. Lauster unter Mitarbeit v. F. Wöller (Rom und Protestantismus. Schriften des Melanchthon-Zentrums in Rom 1), Tübingen 2012, 70–86.
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Nach Theologiestudium und Promotion in München, Rom, Heidelberg und Cambridge während der Jahre 1987 bis 1996 war Martin Wallraff für vier Jahre (nämlich von 1996 bis 2000) als wissenschaftlicher Assistent an der Universität Bonn tätig, eben jener Einrichtung, in der vor allem der Gräzist und Religionswissenschaftler Hermann Usener das philologische Weltbild Hans Lietzmanns formte. Wir besitzen in Berlin ein bislang gar nicht bekanntes, eindrückliches Zeugnis dieser Beziehung: Es ist meiner Mitarbeiterin Marietheres Döhler nämlich vor einiger Zeit gelungen, in einem bislang unbekannten Teil des Nachlasses von Lietzmann den nicht veröffentlichten und von ihm verfassten zweiten Teil von Useners großer Monographie „Das Weihnachtsfest“ zu finden, dessen ersten Teil Lietzmann in zweiter Auflage im Jahre 1910 herausbrachte8. Im Vorwort schreibt der junge Jenaer Ordinarius (in der für Usener charakteristischen Kleinschreibung): „Die herausgabe der geplanten beilagen sowie die bearbeitung des für band II bereitliegenden materials hoffe ich im laufe der nächsten jahre bewerkstelligen zu können“9. Dazu ist es nie gekommen. Wir haben allerdings Grund zur Vermutung, dass der 2009 in der Staatsbibliothek aufgefundene Nachlassteil den Inhalt des Schreibtisches von Hans Lietzmann in der Kirchenväterkommission darstellt, auf dem die Dinge lagen, die der bereits schwer erkrankte Berliner Kirchenhistoriker noch zu Ende führen wollte, aber wegen seines frühen Todes nicht mehr fertigstellen konnte. Wallraff wechselte dann im Jahre 2002 auf Lietzmanns alten Lehrstuhl an die heutige Friedrich-Schiller-Universität in Jena und wirkt seit 2005 als Ordinarius für Kirchen- und Theologiegeschichte an der Universität Basel. Im Jahre 2009 wurde er zum Lektor – und das meint: Leiter – des traditionsreichen Frey-Grynaeischen Instituts gewählt, und Teile dieses Jahres 2010 verbrachte er als Research Fellow in Dumbarton Oaks. Natürlich gibt es auch allerlei biographische Unterschiede: Wallraff hat nicht nur wie Lietzmann viel Zeit in römischen Bibliotheken verbracht, ———— 8 9
Zu den Fundumständen vgl. Markschies, Hans Lietzmann und die römische Kirchengeschichte (wie Anm. 7), 71, Anm. 2. H. Usener, Das Weihnachtsfest, Kapitel I bis III, Religionsgeschichtliche Untersuchungen 1. Tl., Bonn 21910, XIV.
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sondern 2002 vor Ort das ökumenisch orientierte Philipp-Melanchthon-Studienzentrum begründet, das nicht nur ein Studienjahr für evangelische Theologiestudierende an den römischen Universitäten anbietet, sondern ein umfangreiches Studien- und Fortbildungsprogramm dazu. Im Jahr 2002 ist er von der evangelisch-lutherischen Kirche in Italien zum Pfarrer ordiniert worden und predigt regelmäßig in der Christus-Kirche in Rom. Interessante Vergleichspunkte mit Lietzmanns Œuvre bietet aber auch das umfangreiche Werk, das Martin Wallraff trotz seines vergleichsweise jugendlichen Alters von vierundvierzig Jahren bereits vorgelegt hat; es ist übrigens im Jahre 2000 sowohl mit dem Gerhard Hess-Förderpreis der DFG als auch mit dem Hanns-Lilje-Preis der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen ausgezeichnet worden. Mit Lietzmann verbindet Wallraff ein nachhaltiges Interesse für Fragen der Liturgiegeschichte, wodurch sich beide – wie ich selbst finde: vorteilhaft – vom Gros der übrigen Fachvertreter abheben10. Das wird vielleicht am deutlichsten in Wallraffs Bonner Habilitationsschrift „Christus Verus Sol“ über Sonnenverehrung und Christentum in der Spätantike11; Wallraff bricht mit der langen Serie rein theologiegeschichtlich orientierter Habilitationsschriften von Patristikern, die – Bergjan, Brennecke, Markschies, Strutwolf, Vinzent – nahezu ausschließlich Probleme der Trinitätstheologie des vierten Jahrhunderts verhandeln. In seiner Monographie geht es weniger um Bekenntnisse und Gegenbekenntnisse, als vielmehr etwa um die Tradition nach Osten zu beten oder die – eher zufällig entstandene – Benennung des Herrentages als Sonn-Tag, um das Oster- und das Weihnachtsfest; nicht nur im Vorwort finden sich explizite Bezüge auf Lietzmann und seinen Lehrer Usener. Es folgten in der Veröffentlichungsliste von Martin Wallraff – chronologisch betrachtet – zwei wichtige Editionen, die bereits erwähnte Ausgabe der Chronik des Julius Africanus, die an Bedeutung sicher der Kirchengeschichte des Eusebius an die Seite zu stellen ist und an der sich (freilich ergebnislos) schon einmal ein Jenaer Editor im Rah———— 10 Vgl. nur M. Wallraff, Eucharistie oder Herrenmahl? Liturgiewissenschaft und Kirchengeschichte im Gespräch, VuF 51, 2006, 55–63. 11 M. Wallraff, Christus Verus Sol. Sonnenverehrung und Christentum in der Spätantike (JbAC. Ergbd. 32), Münster 2001.
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men der „Griechischen Christlichen Schriftsteller“ versucht hatte, Heinrich Gelzer. Wallraff hat über Gründe für das Scheitern Gelzers und die methodischen Konsequenzen, die er für seine eigene Ausgabe gezogen hat, im erwähnten Sammelband zur Edition Auskunft gegeben12. Und als Angeld für die Edition der țȖȢȣȠȚ haben wir schon einen Sammelband. Wie heißt es so schön im Vorwort: „Technische Literatur gehört zu den fremdesten und fernsten Gebieten der Antike“13. Martin Wallraff hat in seinem schönen Beitrag „Magie und Religion in den Kestoi des Julius Africanus“ gezeigt14, dass es nicht die Aufgabe ist, die erhaltenen Nachrichten über den Universalgelehrten, sein Leben und Denken an unser Bild des antiken Christentums anzupassen, sondern dass allenfalls umgekehrt ein Schuh daraus wird. Neben Julius Africanus ist es vor allem der von diesem so gänzlich verschiedene Johannes Chrysostomus, der Wallraffs wissenschaftliches Interesse auf sich gezogen hat; ein schöner Sammelband einer anregenden Tagung zum 1600-jährigen Todestag 2007 legt dafür Zeugnis ab15. Im selben Jahr 2007, als zugleich auch die Edition der Chronik des Julius Africanus erschien, legte ihr Editor (gemeinsam mit seiner Ehefrau) auch noch die Ausgabe einer Grabrede auf Chrysostomus vor, die einem gewissen Martyrius von Antiochia zugeschrieben wird16; Wallraff erwägt Philippus von Side als Autor. Erst mit dieser Edition der ———— 12 M. Wallraff, Die neue Fragmentensammlung der Chronographie des Julius Africanus. Bemerkungen zur Methodik anhand einiger Dubia vel Spuria, in: Julius Africanus und die christliche Weltchronistik (wie Anm. 4), 45–59. 13 M. Wallraff, Vorwort, in: Die Kestoi des Julius Africanus und ihre Überlieferung (wie Anm. 4), V. Die Edition ist jetzt erschienen, s. oben Anm. 4 14 M. Wallraff, Magie und Religion in den Kestoi des Julius Africanus, in: ebd., 39–52. 15 Chrysostomosbilder in 1600 Jahren. Facetten der Wirkungsgeschichte eines Kirchenvaters, hg. v. R. Brändle/M. Wallraff (AKG 105), Berlin 2008. 16 Oratio Funebris in Laudem Sancti Iohannis Chrysostomi. Epitaffio attribuito a Martirio di Antiochia (BHG 871, CPG 6517), edizione critica di M. Wallraff, traduzione di Cristina Ricci (Quaderni della Rivista di Bizantinistica 12), Spoleto 2007; vgl. die Rezension von Ch. Markschies in ThLZ 133, 2008, 62f.
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Rede des begeisterten Anhängers des Chrysostomus, in der jener Anonymus den Verstorbenen in höchsten Tönen lobte und dessen Gegner in schärfsten Worten verdammte, wird es wirklich möglich, den Text für die Biographie des Kirchenvaters auszuwerten. Ein „philologisches Greenhorn“, wie Wallraff sich im Vorwort seiner Dissertation tituliert, ist er nach diesen Editionen und einer schönen Ausstellung zur christlichen Weltchronistik in der Jenaer Universitätsbibliothek gewiss nicht mehr17. Einen Vergleich zwischen dem Editor Lietzmann und dem Editor Wallraff muss man gar nicht explizit anstellen; wir alle kennen und benutzen die diversen Editionen Lietzmanns, vor allem die zu Apolinarius von Laodicaea, aber natürlich auch die durch Lietzmann fast vollendete Edition des großen antihäretischen Werkes des zypriotischen Bischofs Epiphanius von Salamis (den vierten und das Gesamtwerk erst wirklich abrundenden Registerband haben meine Mitarbeiter in den GCS vor kurzem abschließen und veröffentlichen können). Wallraff und Lietzmann verbindet aber noch mehr; beide teilen auch ein Interesse an der Archäologie des antiken Christentums. So beschäftigte sich beispielsweise die Jenaer Antrittsvorlesung Martin Wallraffs, wie ich als Zuhörer aus eigener Erinnerung bestätigen kann, mit dem stadtrömischen Pantheon und seiner christlichen Nutzung samt den Verbindungen zur Frühgeschichte des Allerheiligenfestes18. Natürlich ist Martin Wallraff keine nachgeborene Kopie von Hans Lietzmann. Und so versuche ich nicht, sein Interesse an der Wissenschaftsgeschichte seines Faches und an den antiken Kirchenhistorikern auf Lietzmann zurückzuführen – da sind Einflüsse des Lehrers Friedhelm Winkelmann und anderer Kollegen viel wahrscheinlicher19. Ein erster und zugleich schon herausragender Beleg ist bereits die Dissertation über den Kirchenhisto———— 17 Welt-Zeit. Christliche Weltchronistik aus zwei Jahrhunderten in den Beständen der Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena, hg. v. M. Wallraff, Berlin 2005; vgl. die Anzeige von Ch. Markschies in Zeitschrift für Antikes Christentum 9, 2005, 443. 18 M. Wallraff, Pantheon und Allerheiligen. Einheit und Vielfalt des Göttlichen in der Spätantike, JbAC 47, 2004, 128–143. 19 M. Wallraff, Kirchengeschichte im Spannungsfeld von Theologie und Kulturwissenschaft, VuF 54, 2009, 55–64.
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riker Sokrates aus dem Jahre 199720, die unter Anleitung von Adolf-Martin Ritter und dem in Berlin nun wahrlich wohlbekannten Friedhelm Winkelmann angefertigt wurde und auf Ergebnisse eines weiteren hochgeschätzten Altmitarbeiters, nämlich von Günther Christian Hansen, zurückgreifen konnte. Die Arbeit erhellt sowohl die persönlichen theologischen Hintergründe des Sokrates, seine historiographische Methode, aber auch die – wie Wallraff sagt – Konstellationen, innerhalb derer das Werk steht. Ich verzichte darauf, noch weitere Facetten aus dem Œuvre von Martin Wallraff zu erwähnen, so beispielsweise sein nachhaltiges Interesse an der Reformation und ihrer ökumenischen Erschließung (das er mit Lietzmann teilt) oder seine Leidenschaft für eine Geschichte von Typographie und Büchern (die er, wenn ich recht sehe, nicht mit Lietzmann teilt). Aber davon hier nicht, denn viel spannender als Referate über Martin Wallraff zu lesen, ist: Referate von Martin Wallraff lesen. Das kann jetzt mit dieser Veröffentlichung geschehen. Ich darf nun noch zum guten Schluss dem Verlag Walter de Gruyter danken, der Lietzmann verlegte und seine Schüler versorgte, und auch diese Lietzmann-Vorlesungen publiziert. Berlin, im Herbst 2012
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———— 20 M. Wallraff, Der Kirchenhistoriker Sokrates. Untersuchungen zu Geschichtsdarstellung, Methode und Person (FKDG 68), Göttingen 1997.
Inhalt Vorwort
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Kodex und Kanon. Das Buch im frühen Christentum 1. Medienhistorische Vorüberlegungen . . . . . . 2. Der Kodex im frühen Christentum . . . . . . . 3. Der Kanon im frühen Christentum . . . . . . . 4. Das spätantike Buch als Gesamtkunstwerk . . 5. Performative Valenz des Buches . . . . . . . . 6. Ausblick: Kodex und Koran . . . . . . . . . .
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Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Kodex und Kanon Das Buch im frühen Christentum Christentum und Buch: dass hier eine spezielle und intensive Beziehung vorliegt, wird kaum jemand bestreiten. Schon der Prophet Mohammed hat (in Außenperspektive) darin eine Besonderheit der christlichen (und jüdischen) Tradition erblickt, denn er nennt die Angehörigen dieser Religionsgemeinschaften die „Leute der Schrift/des Buches“ (arab. ahl al-kitaˉb)1 – offensichtlich im Unterschied zu den anderen ihn umgebenden Religionsformen der arabischen Welt. Nicht die Botschaft, sondern das Medium charakterisiert das Christentum. Später konnte das Christentum sogar tout court auf das Medium reduziert und als „Buchreligion“ gekennzeichnet werden – mit wechselndem Unterton: abwertend („Bibliolatrie“) oder bewundernd (im Gegensatz zur „Kultreligion“)2. Dass die Botschaft des Christentums im Medium des Buches begegnet, wird (in Innenperspektive) kaum einmal reflektiert, schon gar nicht explizit als eine Art theologischer Leitsatz gewünscht oder gefordert – und doch vielfach für beinahe selbst———— 1
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Die (chronologisch) erste Nennung ist Q 29,46; weitere inhaltlich tragende Stellen: 2,105–109; 3,64; 4,171; 9,29, vgl. zum Konzept insgesamt M. Sharon, Art. People of the Book, in: Encyclopaedia of the Qur’aˉn 4, Leiden 2004, 36–43. Die Rede von der „Außenperspektive“ ist bei näherem Zusehen etwas zu differenzieren, s. unten S. 54 ff. „Buchreligion“ mit positiver Konnotation begegnet zuerst bei Max Müller 1873, vgl. J. N. Bremmer, From Holy Books to Holy Bible. An Itinerary from Ancient Greece to Modern Islam via Second Temple Judaism and Early Christianity, in: Authoritative Scriptures in Ancient Judaism, hg. v. M. Popovic´, Leiden 2010, 327–360, hier 327 f. Diese Redeweise ersetzt den von Lessing geprägten pejorativen Ausdruck „Bibliolatrie“, vgl. B. Lang, Art. Buchreligion, in: Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe 2, Stuttgart 1990, 143–165, hier 144.
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verständlich gehalten. Dabei ist das Christentum – anders als der Islam – keineswegs von vornherein mit dem Anspruch „Buchreligion“ zu sein aufgetreten3. Als zentrales Medium im Sinne der Heilsvermittlung fungiert nicht eine Schrift, sondern allenfalls eine Person: Jesus Christus, der Sohn Gottes. Die historische Frage, wie es dennoch zur besonderen Bedeutung des Buches (nicht nur des Wortes oder Textes) im Christentum kam, liegt also nahe. Gleichwohl wird sie selten gestellt. Überhaupt ist eine Mediengeschichte des frühen Christentums noch nicht geschrieben, obgleich es ein wichtiges und lohnendes Unternehmen wäre4. Die hier vorgelegten Überlegungen wollen dazu einen Beitrag leisten, ausgehend vom Thema „Buch“, das in einer solchen Mediengeschichte zweifellos einen prominenten, wenn auch sicher nicht den einzigen Platz einnehmen müsste. Liturgie, Mission, Verkündigung und andere Gebiete wären ebenfalls in dieser Perspektive zu behandeln, und auch dort wären wichtige und neue Erkenntnisse zu gewinnen. Mit „Media Revolution“ ist eine jüngere Monographie über den Kirchenvater Euseb überschrieben5, ———— 3
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Auch für den Islam ist zu fragen, in welchem genauen Sinne er „Buchreligion“ war oder wurde. Jedenfalls aber ist das Thema Buch/Schrift (kitaˉb) in seiner Entstehungsgeschichte in ganz anderer Weise präsent als im Fall des Christentums (s. wiederum unten S. 54 ff.). Übliche Darstellungen der Mediengeschichte beginnen ohnehin meist erst mit der Erfindung des Buchdrucks oder noch später, vgl. etwa A. Briggs/P. Burke, A Social History of the Media. From Gutenberg to the Internet, Cambridge 32009; F. Bösch, Mediengeschichte. Vom asiatischen Buchdruck zum Fernsehen, Frankfurt 2011. In dieser Hinsicht stellt das anregende, doch teilweise etwas idiosynkratische Buch von M. T. Poe (A History of Communications. Media and Society from the Evolution of Speech to the Internet, Cambridge 2010) eine erfreuliche Ausnahme dar. Sehr knappe Bemerkungen hingegen bei W. Faulstich, Das Medium als Kult. Von den Anfängen bis zur Spätantike (8. Jahrhundert) (Geschichte der Medien 1), Göttingen 1997, zum Kodex 256– 258 sowie J. Hörisch, Eine Geschichte der Medien. Vom Urknall zum Internet, Frankfurt 2004 (Erstausgabe 2001), 122–124. D. Mendels, The Media Revolution of Early Christianity. An Essay on Eusebius’s Ecclesiastical History, Michigan 1999. Das Buch versteht allerdings Medialität in einem bestimmten metaphorischen Sinn; es stößt nicht bis zum Niveau der Realien vor. Das im Titel angelegte Programm wurde erst einige Jahre später von einer Monographie umgesetzt, auf die im Folgenden öfter verwiesen wird: A. Grafton/M.
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und tatsächlich werden die folgenden Ausführungen zeigen, dass dem gelehrten Bischof von Kaisareia in Palästina bei dem Thema eine Schlüsselrolle zukommt. Die Fragestellung verlangt indes nach einigen Präzisierungen.
1. Medienhistorische Vorüberlegungen Zunächst sollte man sich den historischen Ort vor Augen führen, von dem aus die Frage gestellt wird. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts erleben wir einen Medienwechsel, der an Bedeutung der Media Revolution der späteren Antike gleichkommt oder sie sogar übertrifft (man stelle freilich in Rechnung, dass der Zeitgenosse die Umwälzungsprozesse der eigenen Zeit immer für größer und bedeutender halten wird als die der Vergangenheit, die nur noch fern am Horizont erscheinen und gleichsam mit dem Teleobjektiv erst herangezoomt werden müssen6). Medienwissenschaft, neue Medien, Medialität sind in aller Munde. Es ist daher kein Zufall, dass auch das Buch als Medium gerade jetzt neu zum Gegenstand der Reflexion wird. „Buch“ und „Text“ sind angesichts der Veränderungen unserer Zeit nicht mehr deckungsgleich. Gewiss, sie waren es nie, doch mit zunehmender Länge tendierten die beiden Begriffe zur Identität: Texte ab einem gewissen Umfang begegneten im Medium des Buches. Bei kurzen Texten ist die Palette möglicher Trägermedien breit: vom Straßenschild zum Einkaufszettel, von der Münze bis zum Grabstein. Doch je länger der Text, desto eindeutiger reduzierte sich bis in die jüngste Zeit die Vielfalt auf ein einziges Trägermedium, eben das Buch. Gebrauchsanweisungen für Elektro————
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Williams, Christianity and the Transformation of the Book. Origen, Eusebius and the Library of Caesarea, Cambridge MA 2006. Der Abschnitt zu Euseb steht unter dem zutreffenden Titel „A Christian Impresario of the Codex“ (178–232). Zu den Perspektiven historischen Zeit-Erlebens und Zeit-Verzeichnens vgl. A. Esch, Zeitalter und Menschenalter. Der Historiker und die Erfahrung vergangener Gegenwart, München 1994, insbesondere den ersten Aufsatz, nach dem der ganze Band benannt ist: Zeitalter und Menschenalter. Die Perspektiven historischer Periodisierung (9–38).
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geräte begegnen manchmal noch als Einblattdrucke, häufiger schon als Heftchen, und bereits die Tageszeitung ist im Grunde kodex-förmig, bestehend aus mehreren Lagen, allerdings in der Regel ungebunden. Noch längere Texte existierten überhaupt nur noch im Medium Buch, gebunden, mit hartem oder weichen Einband. Es ist die einzige Form, in der es sich über Jahrhunderte bewährt hat, solche Texte verfügbar zu machen (und übrigens auch: zu konservieren). Umfangsangaben längerer Texte werden deshalb üblicherweise in Kategorien dieses Mediums gemacht: ein paar hundert Seiten, eine dreibändige Monographie. Mehr noch: der Bezug auf das Medium bleibt dem Text nicht äußerlich, er ist nicht nur eine technische Beschreibekategorie, sondern er bestimmt unseren Umgang mit dem Text, er beeinflusst die Weise der Lektüre, die Art des Lernens und der Erinnerung und schließlich auch die inhaltliche Deutung. In Prüfungen kann man Sätze wie den folgenden hören: „Ich weiß zwar nicht die Antwort auf die gestellte Frage, aber ich weiß, dass sie im Lehrbuch auf einer rechten Seite ganz unten steht.“ Ja, in gewissem Sinne kann man sagen, dass überhaupt erst dieses Medium den Text zum Text macht. Der Text als solcher ist ja zunächst eine Zeichenkette, also ein filum, kein textus, ein eindimensionaler Faden, kein Gewebe. Erst durch die Bezüge zwischen den Zeilen und den Seiten, erst durch das Blättern im Buch wird er zum textus, zum Gewebe: darauf ist noch ausführlicher zurückzukommen. Didymus der Blinde, großer alexandrinischer Theologe des vierten Jahrhunderts, konnte selbst nicht lesen. Er brauchte dazu Gehilfen, und diese Leser „durchlaufen“ den Text, heißt es bei Rufin über diesen Vorgang, percurrere, sie laufen das eindimensionale filum entlang, ein rein mechanischer Lesevorgang; erst in Didymus’ Geist wird das filum zum textus: memoria et animo retexebat, heißt es, „er wob ihn erneut durch sein Gedächtnis und Geist“, und weiter: „er schien ihn abzuschreiben auf die Seiten seines Geistes“, die paginae mentis suae7. Didymus, der nie einen Kodex gesehen hat, hat dennoch einen kodex-förmigen Geist. Das Leitmedium seiner Zeit prägt seine mentalen Strukturen. ———— 7
Rufin, h.e. XI 7 (GCS N.F. 6/2, 1012,18–24 Mommsen).
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Heute gilt die weitgehende Deckungsgleichheit von Text und Buch nicht mehr. Auch für längere Texte gibt es ein breites Spektrum möglicher Medien: sie werden gespeichert im Medium der CD-ROM, der Festplatte, des USB-Sticks, und sie können in unterschiedlichen Konfigurationen sichtbar gemacht werden: an festen oder mobilen Bildschirmen, auf Papier, e-paper etc. Das Buch ist nicht mehr eine selbstverständliche, weil alternativlose Hülle einer Botschaft, die ihren Wert und Inhalt unabhängig vom Medium hat, sondern gerade die Chancen und Grenzen der neuen Medien unserer Tage eröffnen einen Blick auf die Chancen und Grenzen des alten Mediums Buch, das für viele Generationen das Leitmedium geistiger Aktivität schlechthin war. Es ließe sich nun eine Menge sagen über den neuen Umgang mit Texten, etwa die Aufhebung der Bindung an die einzelne Seite, die Möglichkeit des Durchsuchens, vor allem die inter- und intratextuellen Bezüge durch Links, kurzum: über den Weg vom Text zum Hypertext, und, damit verbunden, die Emanzipation des Textes vom Buch. Die folgenden Überlegungen werden teilweise darauf zurückkommen, doch ist das nicht ihr primäres Thema, sondern umgekehrt: das Hineinwachsen des Textes ins Buch – und dieser Prozess fand in der Antike statt. Dabei wird sich zeigen, dass gerade in dieser Phase der Medienwechsel teilweise sehr bewusst wahrgenommen und reflektiert wurde und dass einige Texte entstanden, die das neue Medium brauchten und gezielt nutzten – ein Sachverhalt, der bisher zu wenig beachtet worden ist und der vielleicht auch tatsächlich erst im Lichte der Media Revolution unserer Tage deutlicher hervortritt. Spätestens hier ist es nützlich, begriffliche Klarheit zu schaffen und genau zu definieren, was mit „Buch“ gemeint sein soll. Das Wort wird in einem spezifischen und engen Sinn verwendet. Diese Präzisierung ist nötig, weil bei der Rede von „Buchreligionen“ mitunter etwas unscharf die religiöse Rolle von Wort oder Text oder Schrift im Allgemeinen in den Blick kommt. Darum also soll es hier zunächst nicht gehen, nicht um den ȵ&ȭȹȻ oder den textus, sondern um das Buch als Realie im technischen Sinne, also um einen spezifischen Textträger, bestehend aus mehreren aufeinander liegenden und in Lagen zusammengehörigen, gebun-
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denen Blättern, in aller Regel mit einem Einband, technisch gesprochen: Es geht um den Kodex8. Die Ursprünge dieses Mediums in der Antike sind in der Forschung viel diskutiert, und zwar durchaus auch in Verbindung mit der Geschichte des Christentums, denn es bestehen Beziehungen – wenn diese auch im Einzelnen nicht immer leicht zu benennen sind. Darum wird es im folgenden Abschnitt gehen (2.), und die These dabei ist, dass dieses Thema mit einem weiteren Aspekt der Mediengeschichte des Buches im frühen Christentum in Beziehung steht oder wenigstens stehen sollte. Für sich genommen ist dieser weitere Aspekt ebenfalls intensiv diskutiert worden, doch vielfach in merkwürdiger Abstraktion, gleichsam im luftleeren Raum, ohne Beziehung zur material culture, zur Konkretion der Mediengeschichte. Es ist die Rede von der Genese des christlichen Buches schlechthin, the Book with a capital B, der Heiligen Schrift der Bibel. In diesem Sinn gehört die Affinität des Christentums zu seinem Buch, sei sie nun als Bibliolatrie verspottet oder als Buchreligion bewundert, zu den Grundzügen dieser religiösen Tradition, zumal im Protestantismus mit seiner Bibelfrömmigkeit und -theologie. Fragt man nach der Entstehung dieses Buches in der Antike, so gerät man in ein kompliziertes, beinahe möchte man sagen: vermintes Terrain. Mit den Worten von Hans Lietzmann: „Die Kanongeschichte gehört, was im allgemeinen dem Nichtfachmann nicht deutlich zu werden pflegt, zu den allerkompliziertesten Teilen der kirchenhistorischen Wissenschaft.“9 Sehr kompliziert ist die Frage auch 100 Jahre später noch, vielleicht sogar heute noch mehr als damals, aber zugleich auch in letzter Zeit durch hilfreiche Arbeiten erhellt10. ———— 8
Für einen ersten Einstieg vgl. H. Blanck, Das Buch in der Antike, München 1992, bes. 86 f.; das Standardwerk zum Thema bleibt E. G. Turner, The Typology of the Early Codex, Philadelphia 1977. 9 H. Lietzmann, Wie wurden die Bücher des Neuen Testaments heilige Schrift? (Lebensfragen 21), Tübingen 1907, 2 f. 10 Vgl. zuletzt Ch. Markschies, Haupteinleitung, in: Antike christliche Apokryphen in deutscher Übersetzung, hg. v. dems./J. Schröter, Tübingen 2012, 1–180, hier 25–74 sowie ders., Kaiserzeitliche christliche Theologie und ihre Institutionen. Prolegomena zu einer Geschichte der antiken christlichen Theologie, Tübingen 2007, 216–334. Es ist auch da-
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„Die Entstehung der christlichen Bibel“ (um wenigstens den Titel einer einschlägigen Monographie zu nennen11) wird üblicherweise als ein Prozess betrachtet, der in der Zeit Markions begann, also im zweiten Jahrhundert, dessen wesentliche Weichenstellungen dann im dritten Jahrhundert zum Abschluss kamen und der nur ausblickhaft und in einigen Sonderproblemen hinüberreicht in die Zeit nach Konstantin, die Zeit der sich etablierenden Reichskirche. Es ist ein sehr komplexer Prozess, an dessen Ende doch etwas vermeintlich Einfaches steht, nämlich das eine Buch der Bibel. Dass es so einfach nicht ist, dass der Singular der einen Bibel nur recht mühselig und oberflächlich seine pluralen Aspekte verdeckt, wird schon deutlich, wenn man sich die Etymologie vor Augen führt: die lateinische biblia, feminin Singular, geht auf den griechischen Kollektivplural Ƚ ȬȳȬȵȫ zurück, die Bücher, die Kodizes. ȓȳȬȵȹȷ seinerseits ist übrigens ein Diminutiv von ȬȬȵȹȻ (oder Ȭ0ȬȵȹȻ) und bezeichnet den Beschreibstoff: Papyrus, der aus dem phönizischen Byblos importiert wurde12. Dass der Materialimport aus Phönizien wohl auch mit dem Kulturimport der Schrift zusammenhängt, sei nur am Rande erwähnt13. Schon die Terminologie trägt also ein Stück Mediengeschichte in sich. ———— rauf hinzuweisen, dass die vorausgehende Hans-Lietzmann-Vorlesung ein Thema in diesem Bereich behandelte, nämlich E. Norelli, Marcion und der biblische Kanon. Das Christentum am Scheideweg im zweiten Jahrhundert, Berlin 2013 (im Druck). Vgl. jüngst auch E.-M. Becker/St. Scholz (Hgg.), Kanon in Konstruktion und Dekonstruktion. Kanonisierungsprozesse religiöser Texte von der Antike bis zur Gegenwart, Berlin 2012, mit mehreren einschlägigen Beiträgen. Insbesondere der materialreiche Aufsatz von H. R. Seeliger, Buchrolle, Codex, Kanon. Sachhistorische und ikonographische Zusammenhänge, S. 547–576 berührt sich streckenweise mit der vorliegenden Studie. 11 H. von Campenhausen, Die Entstehung der christlichen Bibel (BHTh 39), Tübingen 2003 (unveränderter Nachdruck der 1. Ausgabe 1968, mit einem Nachwort von Ch. Markschies). 12 Vgl. E. G. Turner, Greek Papyri. An Introduction, Oxford 1968, 1. 13 Dieser Sachverhalt hielt sich auch im kulturellen Gedächtnis der Antike, Herodot 5,58; Diod. Sic. 5,74,1; Tacitus, an. 11,4. Zum Alphabet vgl. R. Wachter, Zur Vorgeschichte des griechischen Alphabets, Kadmos 28, 1989, 19–78, bes. 64–69; B. Sass, The Alphabet at the Turn of the Millennium. The West Semitic Alphabet ca. 1150–850 BCE. The
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Daher ist es durchaus legitim zu fragen: Was genau wurde die Heilige Schrift, als sie Kanon wurde? Die Frage ist keineswegs banal und wird im Rahmen der Kanongeschichte viel zu selten gestellt. Kanongeschichte wird häufig so betrieben, dass jede einzelne in Frage kommende Einzelschrift betrachtet und im Blick auf ihre Erwähnung in den frühen Quellen analysiert wird. Das Interesse richtet sich auf, erschöpft sich aber zumeist auch in der Frage, ob und wann die betreffende Schrift es in den Kanon schafft. Mit dem Überschreiten der Ziellinie ist die Untersuchung zu Ende – wie bei einem Hundertmeterläufer, der, wenn er das Rennen gemacht hat, den Sprint noch gemütlich auslaufen lässt und dann tief durchatmet. Das Auslaufen und Durchatmen findet in der Kanongeschichte zumeist im vierten Jahrhundert statt – zu Unrecht, wie ich meine. Kanongeschichte ist nicht einfach ein Mähdrescher, der ein lebendig gewachsenes Feld abfrisst, die Spreu vom Weizen trennt und schließlich ein fertig gebundenes Buch auswirft. Anders gesagt: was genau da ausgeworfen wird, ist es, was mich auf den folgenden Seiten interessiert (Abschnitt 3.). Dabei wird sich zeigen, dass die spannendsten Entwicklungen gerade im vierten Jahrhundert stattfinden – also keineswegs nur gemütliches Nachspiel. Nochmals: die These ist, dass die Themen „Kodex“ und „Kanon“ je für sich häufig betrachtet wurden, dass aber erst aus ihrer Kombination und Wechselwirkung ein umfassendes Verständnis für die spezifische Rolle des Buches im frühen Christentum folgt. Dieses neue Verständnis wird in den Abschnitten 4. und 5. skizziert werden, gefolgt von einem knappen Ausblick (6.) auf den eingangs schon genannten Islam.
2. Der Kodex im frühen Christentum Die Textkultur der Antike war bekanntlich primär eine Kultur der Schriftrolle – besonders anschaulich greifbar in spektakulären ———— Antiquity of the Arabian, Greek and Phrygian Alphabets, Tel Aviv 2005.
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Textfunden wie denen von Qumran, aber durchaus vertraut natürlich auch in unzähligen anderen Zeugnissen aus dem griechisch-römischen wie hebräisch-jüdischen Kulturkreis14. Der Pentateuch trägt seine Mediengeschichte noch im Namen: fünf Krüge, ą ȷȽȯ Ƚȯ0ɀȯȫ; die einzelnen Rollen wurden in Krügen aufbewahrt15. Man kann sich vorstellen, wie handlich bzw. unhandlich allein der Pentateuch gewesen sein muss. Daraus ergibt sich, dass das Buch Genesis, das Buch Jesaja je einzelne Objekte waren, obgleich sie im heutigen Medium kaum den Umfang eines Heftes erreichen. Jesus bekam in der Synagoge das Buch Jesaja gereicht – offensichtlich ein einzelnes Stück, eben eine Rolle. Er las daraus vor und machte es zu: ąȽ0ȼȼɂ, heißt es bei Lukas, wörtlich: er rollte es zusammen16. Ohne es zu wissen und zu wollen, hat also die spätere Kunst richtig gehandelt, wenn sie in den ältesten Christusbildern das Buch in der Hand Jesu als Schriftrolle darstellte17. Während also noch Jesus selbstverständlich in der Schriftkultur der Rolle, des rotulus, aufgewachsen war und darin lebte, ———— 14 Vgl. Blanck (wie Anm. 8), 75–86; O. Mazal, Griechisch-römische Antike (Geschichte der Buchkultur 1), Graz 1999, 100–125. Gelegentlich ist auch Th. Birt, Die Buchrolle in der Kunst. Archäologisch-antiquarische Untersuchungen zum antiken Buchwesen, Leipzig 1907 noch nützlich. 15 Die Benennung Pentateuch findet sich zuerst bei Origenes (z. B. comm. in Io. 5,6,1; 13,26,154); sie setzt die Aufteilung des Corpus in mehrere Ƚȯ0ɀȯȫ voraus, wie sie etwa schon im Aristeasbrief (§310) und bei Philo (qu. in Gen. 1,1) bezeugt ist. Man muss freilich nicht unbedingt davon ausgehen, dass diese Autoren noch primär den wörtlichen Sinn von Ƚȯ8ɀȹȻ vor Augen hatten. Immerhin zeigt der Textfund von Qumran, dass Schriftrollen durchaus auch noch um die Zeitenwende in Krügen aufbewahrt wurden (zur Fundgeschichte vgl. J. Magness, The Archeology of Qumran and the Dead Sea Scrolls, Grand Rapids 2002, 19–31 mit Abbildungen). 16 Lk 4,20. Das Verb ąȽ0ȼȼɂ heißt zunächst „falten, zusammenlegen“. Der Bezug auf einen rotulus ist freilich eher ungewöhnlich. Für weitere Belege mit Bezug auf Schriftstücke vgl. W. Bauer/K. u. B. Aland, Griechisch-deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der frühchristlichen Literatur, Berlin 61988, 1456. 17 Das hat Seeliger (wie Anm. 10), 555–561 in sorgfältiger Untersuchung gezeigt. Zugleich deutet er – mit Recht – den Sachverhalt nicht etwa als eine Art historisch-kritisches Interesse, sondern als ikonographischen Konservatismus.
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kam schon wenig später das andere, das neue Medium auf, eben das Buch im engen, genannten Sinne, technisch gesprochen: der Kodex. Die Frage, wie sich das junge Christentum zu diesem neuen Medium verhielt, ist kompliziert und spannend, aber zunächst ist es wichtig festzuhalten, dass der Kodex kein Produkt der neuen Religionsgemeinschaft ist, sondern dass sie ihn vorfand und sich zu ihm in unterschiedlicher Weise verhalten konnte. Martial, respekt- und hemmungsloser Satiriker in Rom, gestattet uns Ende des ersten Jahrhunderts ein paar eher zufällige, aber dafür umso realistischere Einblicke in die Mediengeschichte der westlichen Metropole. Gewieft beim Verkauf der Ware, doch nicht unbedingt als Zeichen persönlicher Bescheidenheit, beginnt er seine Epigramm-Sammlung mit Werbung in eigener Sache: „Kauf diese [Büchlein], die das Pergament in kleinen Seiten umfasst“18, und im Anschluss gibt er gleich die Adresse des einschlägigen Buchhändlers in Rom. Martials Gedichte lagen also als Pergament-Kodex vor, und der Autor selbst nennt die Vorteile dieses Mediums: Das Format ist klein, traditionelle Buch-Schränke braucht es nicht, der Kodex kann leicht mit auf Reisen genommen werden. Nebenbei erfahren wir von einem enormen praktischen Vorteil: Das Büchlein kann mit einer Hand gefasst und gelesen werden (me manus una capit)19, während ein rotulus immer mit beiden Händen geöffnet und gerollt werden muss. Hier nicht genannt, aber sicher mit im Blick: der Kodex ist auch um einiges billiger – allein durch die Tatsache, dass der Beschreibstoff beidseitig beschriftet wurde, während der rotulus nur die Innenseite der Rolle nutzt20. Dies gilt unabhängig von der Frage nach dem Beschreibstoff: in der Antike oft eher Papyrus, vielfach ägyptischer Provenienz, später – vor allem im Mittelalter – dage———— 18 hos eme, quos artat brevibus membrana tabellis. epigr. I 2,3 (BiTeu 15 Shackleton Bailey). 19 Epigr. I 2,4 (BiTeu 15 Shackleton Bailey). 20 Th. C. Skeat, The Length of the Standard Papyrus Roll and the Costadvantage of the Codex, ZPE 45, 1982, 169–175 hat versucht, eine approximative Berechnung der Höhe der Ersparnis vorzulegen. In Bezug auf das Schreibmaterial rechnet er mit um 44% geringeren Kosten; berücksichtigt man auch die Kosten der Beschriftung, wird das Gesamtprodukt immerhin noch um 26% billiger (173–175.)
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gen eher Pergament, als Tierhaut überall verfügbar (wenn auch teurer). Die Form des Kodex mit aufeinander gelegten Seiten zum Blättern war wohl dem praktischen Sinn der Römer erwachsen, in Anlehnung an die ältere Form der Wachstäfelchen, also dicke Blöcke aus wenigen „Einheiten“. Es waren „note books“ im ursprünglichen Sinn des Wortes, Notizbücher zu alltäglichen und praktischen Zwecken, deren Inhalt nach Verwendung gelöscht werden konnte, in der einfachsten Form bestehend aus zwei Täfelchen, bald dann auch mehrere zusammen, etwa bis zu einem Dutzend (Abb. 1)21. Um den Weg in die hohe Literatur zu finden, war freilich die „Übersetzung“ dieses Grundgedankens in das dünnere und feinere Material Pergament nötig (Abb. 2). Auch dieser Schritt war offenbar schon vor Martial (und erst recht längst vor dem Christentum) gegangen worden, denn der römische Satiriker kennt bereits kleine praktische Kodizes mit Homer, Vergil, Cicero, Livius und Ovid22: Die „Taschenbuchausgabe“ der Klassiker23 war im ersten Jahrhundert schon auf dem Markt. Von einem regelrechten „Markt“ kann dabei ———— 21 Solche Blockbücher waren schon viel früher und noch viel später in Gebrauch, meist wohl für schulische Zwecke. Im Jahr 1985 hat das Musée du Louvre in Paris eine besonders schöne Gruppe von derartigen Holz-Büchern geschenkt bekommen (Inventar-Nr. MNE 911– 914), vgl. P. Cauderlier, Quatre cahiers scolaires (Musée du Louvre). Présentation et problèmes annexes, in: Les débuts du codex, hg. v. A. Blanchard (Bibliologia 9), Brepols 1989, 43–59. Diese „cahiers“ stammen aus der Spätantike; sehr frühe Belege für Holz-Kodizes bringt hingegen C. Sirat, Le codex de bois, im gleichen Band 37–40. 22 epigr. XIV 184; 186; 188; 190; 192. Der wiederkehrende terminus technicus lautet: in membranis. 23 Die Analogie zwischen dem Aufkommen der Taschenbücher und dem des Kodex ist nicht von mir erfunden; sie drängt sich geradezu auf und ist eine erstaunlich weit tragende Parallele, vgl. z. B. bereits G. Cavallo, Libro e pubblico alla fine del mondo antico, in: Libri, editori e pubblico nel mondo antico, hg. v. dems., Rom 21977, 81–132, hier 85, sodann mit Emphase in Bezug auf das Christentum: G. G. Stroumsa, Early Christianity – A Religion of the Book? in: Homer, the Bible, and Beyond. Literary and Religious Canons in the Ancient World, hg. v. M. Finkelberg/G. G. Stroumsa (Jerusalem Studies in Religion and Culture 2), Leiden 2003, 153–173 („religion of the paperback“).
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durchaus gesprochen werden. Schon wenige Jahrzehnte später bezeugt ein zufällig auf Papyrus erhaltener Brief eines gewissen Julius Placidus, dass er Kontakt hatte mit einer Art „fahrendem Händler“, der (mindestens) 14 Kodizes zur Auswahl hatte: Acht davon hat ihm der Kunde nach eingehender Prüfung abgekauft24. Wohlgemerkt: Martials Texte sind in Rom geschrieben, maximal eine Generation nach dem Eintreffen des an die dortige Gemeinde gerichteten Paulusbriefes und in etwa gleichzeitig mit der Abfassung der Evangelien im Osten des Reiches. Diese Feststellung ist relevant, weil sich das Christentum von Anfang an konsequent und entschlossen des neuen Mediums bediente, und es ist wichtig sich vor Augen zu führen, was das bedeutete: Es war die Wahl für ein durchaus schon vorhandenes und in gewissem Maße bekanntes, aber dennoch neues und erst noch zu etablierendes Medium. Es hatte große praktische Vorteile gegenüber der klassischen Buchrolle: geringerer Platzbedarf, Transportierbarkeit, niedrigere Kosten, einfachere Lektüre (mit einer Hand). Man sollte diese Aspekte nicht ausschließlich sozialgeschichtlich deuten, aber es ist nicht zu leugnen, dass dieses Medium eine Verbreiterung der Text- und Lesekultur in neue Schichten ermöglichte25. Der Besitz von Büchern wurde auch für Personen und Gruppen erreichbar, die für klassische Schriftrollen kein Geld und keine Aufbewahrungsmöglichkeiten hatten. Auch einfache Leute konnten nun Bücher besitzen; schon Origenes spricht in Predigten von der Möglichkeit der häuslichen Bibellektüre26. Im Alltag ———— 24 P. Petaus 30 (U. und D. Hagedorn, Das Archiv des Petaus [PapyCol 4], Köln 1969, 156 f.). 25 Cavallo (wie Anm. 23), 83–86 hat diese Deutung (allzu?) stark gemacht. 26 Hom. in Gen. 11,3 (GCS Origenes 6, 105,24–28); 12,5 (112,17–23), s. auch Did. apost. 2 (CSCO 401/402, 18 f.). Vgl. insgesamt dazu auch A. Harnack, Über den privaten Gebrauch der Heiligen Schriften in der Alten Kirche (Beiträge zur Einleitung in das Neue Testament 5), Leipzig 1912. Freilich wird man neben den Befund aus theologischen TextQuellen immer auch Erwägungen zu den Realien halten müssen: Preis und technische Verfügbarkeit von Kodizes, vgl. dazu S. Mratschek, Codices vestri nos sumus. Bücherkult und Bücherpreise in der christlichen Spätantike, in: Hortus litterarum antiquarum. Festschrift für Hans Armin Gärtner, hg. v. A. Haltenhoff/F.-H. Mutschler, Heidelberg
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spielte dieser Aspekt der normalen Lektüre sicher eine größere Rolle als ein anderer, damit verbundener: gewiss konnte der Kodex auch leichter versteckt werden als ein rotulus. Die Akten einiger Prozesse der Verfolgungszeit dokumentieren dramatische Szenen, in denen Lektoren der Gemeinde gezwungen werden, ihre Kodizes herauszugeben27; wir wissen nicht, ob sie regulär zuhause aufbewahrt wurden oder nur dann vom Gottesdienstort entfernt wurden, wenn Gefahr im Verzug war. Etwa 300 Jahre von Martial an, vom 2. bis zum 5. Jahrhundert: in dieser Zeit ist der Aufstieg des Kodex in allen Bereichen der Gesellschaft erfolgt, wie die folgende Übersicht über das erhaltene Material zeigt28. Der rotulus wird in wenige konservative Nischenexistenzen zurückgedrängt, etwa die kostbar ausgeschmückten Exsultet-Rollen in der christlichen Liturgie oder besonders feierliche Urkunden im Rechtswesen, natürlich auch die kultisch verwendeten Torarollen im Judentum. ———— 2000, 369–380 sowie die Überlegungen von R. S. Bagnall, Early Christian Books in Egypt, Princeton 2009, 64–69. 27 Vorgänge dieser Art werden im Konfiskationsprotokoll von Cirta geschildert (CSEL 26, 187,22–188,32 Ziwsa, an der unten in Anm. 46 zitierten Stelle werden auch Kodizes genannt), ähnlich in der Passio Sancti Philippi Heracleae (440–448 Ruinart): Philippus wird gezwungen, die vasa aurea vel argentea und die scripturae herauszugeben. Darauf erklärt er sich mühelos bereit, die vasa sacra herauszugeben, doch die Schriften nicht (scripturas vero nec accipere tibi, nec dare mihi convenit. 441,35 R.). 28 Das Säulendiagramm beruht auf Zahlen aus der Leuven Database of Ancient Books (www.trismegistos.org/ldab), konsultiert im Oktober 2011, zu diesem Zeitpunkt umfassend ca. 13.000 Stücke, davon die große Mehrheit Papyri aus Ägypten. Auch bei den folgenden Überlegungen ist der bias zugunsten der Region Ägypten und des Materials Papyrus immer mit in Rechnung zu stellen. Dieser ergibt sich notwendig aufgrund des erhaltenen Bestandes. Es gibt aber keinen Grund zu der Annahme, dass sich in anderen Regionen ein völlig anderes Bild ergeben würde. Zudem ist einschränkend darauf hinzuweisen, dass die Zuweisung zu den Kategorien oft mit Unsicherheiten behaftet ist: Dabei geht es weniger um Zweifelsfälle in der Sache, sondern mehr um uneinheitliche Vorgehensweisen der Herausgeber, von denen die Datenbank jeweils abhängig ist (vgl. die „Hilfe“-Datei s.v. „Bookform“).
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1500 1200 900 600 300 0 2. Jh. Rollen
3. Jh.
4. Jh.
5. Jh.
6. Jh.
Kodizes (in absoluten Zahlen)
Aus Sicht der Christentumsgeschichte verbinden sich damit zwei Fragen. Erstens: Hängt die Durchsetzung des Kodex in irgendeiner Weise mit dem etwa zeitgleich stattfindenden Aufstieg des Christentums zusammen? Und wenn ja, wie? Während es schwer ist, auf diese Frage definitive Antworten zu geben, beschäftigt die Forscher gerade in jüngster Zeit wieder verstärkt die zweite Frage: Wieso haben die Christen schon früher und entschiedener als andere Gruppen für das Medium des Kodex optiert? Die Zusammenhänge und Zahlen sind kürzlich noch einmal sehr detailliert von Larry Hurtado und kurz darauf von Roger Bagnall untersucht worden29, und trotz einiger wichtiger Detailprobleme (Fragen der Datierung einzelner Stücke, Überlieferungs———— 29 L. W. Hurtado, The Earliest Christian Artifacts. Manuscripts and Christian Origins, Grand Rapids 2006, 43–93; Bagnall (wie Anm. 26), 70–90. Eigenartigerweise bringen aber beide in den vorgelegten Tabellen und Graphiken die Frage nicht genau auf den entscheidenden Punkt, nämlich, wie groß der Anteil von Kodizes im Christentum im Vergleich zum Anteil im Gesamtfeld ist (nicht: wie groß unter allen Kodizes der Anteil der christlichen ist, Bagnall 72 f.).
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chancen, geographische Herkunft) leidet die grundlegende Feststellung keinen Zweifel: Die Christen hatten von Anfang an eine deutliche Präferenz für das „neue Medium“ Kodex. Im zweiten und dritten Jahrhundert ist der Anteil erhaltener Schriften in Kodex-Form im christlichen Bereich erheblich und signifikant höher als im Gesamtfeld. Graphisch ausgedrückt sieht der Befund etwa so aus30: 100 80 60 40 20 0 2. Jh.
3. Jh.
4. Jh.
5. Jh.
6. Jh.
Anteil Kodizes im erhaltenen Gesamtbestand (in %) Anteil Kodizes im christlichen Bestand (in %)
———— 30 Zahlen wiederum nach der Leuven Database of Ancient Books. Die Prozentzahlen beziehen sich jeweils auf die Summe von Rollen und Kodizes; Fragmente und Einzelblätter wurden also nicht berücksichtigt. Abgesehen von den oben (Anm. 28) genannten Einschränkungen gibt es weitere methodische Faktoren, die das Bild eventuell leicht verfälschen: Unklarheit bei der Zuweisung des labels „christlich“ (evtl. im Einzelfall sogar Zuweisung aufgrund der Kodexform), bessere Überlieferungschancen christlicher Materialien, ferner möglicherweise eine Tendenz in der Forschung, speziell christliche Papyri etwas zu früh zu datieren (so Bagnall [wie Anm. 26], 1–24). Doch der Befund ist insgesamt so klar, dass auch diese Faktoren an seiner Signifikanz nichts ändern.
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Warum ist das so? Diese schlichte Frage hat auch ansonsten eher nüchterne Gemüter zu erstaunlicher Hypothesenfreudigkeit angeregt. Einige in jüngerer Zeit vorgebrachte Erklärungsversuche seien genannt: Es habe Papyrus-Blätter gegeben, auf denen einzelne Jesus-Sprüche notiert wurden; diese Blätter seien früh zu Spruchsammlungen, eben Kodizes, zusammengebunden worden. Sie haben stilbildend gewirkt31. Oder: das Markusevangelium als das älteste sei in Kodex-Form geschrieben worden und habe damit den Anstoß gegeben32. Eine Variante dazu: Bei der ersten Sammlung und Publikation der Paulusbriefe habe man sich dieser Form bedient33. Oder: frühchristliche Wandercharismatiker brauchten Schriften im Westentaschenformat und konnten dies nur in Kodex-Form realisieren34. Oder – jüngster Erklärungsver———— 31 „It is possible … that papyrus tablets were used to record the Oral Law as pronounced by Jesus, and that these tablets might have developed into a primitive form of codex.“ C. H. Roberts/Th. C. Skeat, The Birth of the Codex, London 1983, 59. Das Büchlein hat – in Anknüpfung und Widerspruch – breite Wirkung entfaltet. Besonders kritisch J. van Haelst, Les origines du codex, in: Les débuts du codex, hg. v. A. Blanchard (Bibliologia 9), Brepols 1989, 13–35, bes. 29–32. Van Haelsts eigene These (ntl. Schriften ursprünglich auf Rollen, die dann im 2. Jh. aus praktischen Gründen in Rom auf Kodizes umkopiert wurden) ist indes nicht weniger gewagt. Th. C. Skeat selbst hat später eine retractatio vorgelegt (The Origin of the Christian Codex, ZPE 102, 1994, 263–268) und dabei eine neue Idee entwickelt: Die Kirche habe sich durch die Publikation des letzten (= Johannes-)Evangeliums dazu gedrängt gesehen, ein Medium zu verwenden, das alle vier Evangelien umfassen konnte – aber auch nicht (viel) mehr als diese. Auch diese Vorstellung ist kaum mehr als eine vage Denkmöglichkeit. 32 Diese Hypothese wurde ebenfalls von Roberts/Skeat (s. vorige Anm.) vorgetragen (54–59) und für beinahe ebenso wahrscheinlich wie die andere gehalten. 33 Vgl. H. Y. Gamble, Books and Readers in the Early Church. A History of Early Christian Texts, New Haven 1995, bes. 58–65 und – als Untervariante dazu – E. R. Richards, The Codex and the Early Collection of Paul’s Letters, Bulletin for Biblical Research 8, 1998, 151166 (Gamble geht von einer frühen Briefsammlung mit theologischen Intentionen aus; Richards nimmt Paulus’ eigenes Notizbuch als Ursprung an). Tendenziell in eine ähnliche Richtung wie Gamble geht Hurtado (wie Anm. 29), 73–80. 34 Vgl. M. McCormick, The Birth of the Codex and the Apostolic Lifestyle, Scriptorium 39, 1985, 150–158.
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such: eine kirchliche Autorität in Rom habe Ende des zweiten Jahrhunderts eine bewusste Entscheidung für das Medium getroffen; diese Entscheidung sei reichsweit – oder wenigstens in Ägypten, wo fast das gesamte erhaltene Material herkommt – respektiert und umgesetzt worden35. Allein die Divergenz dieser unterschiedlichen Erklärungsversuche nährt eine gewisse Skepsis. Gemeinsam haben die Hypothesen im Grunde nur eines: das komplette Fehlen von stützenden Belegen und von jedem Anhalt am historischen Befund. Falsch müssen sie deshalb nicht sein, doch tut man besser daran, sich solcher Gedankenspiele zu enthalten. Vieles spricht dafür, dass die Wirklichkeit viel unspektakulärer war. Wahrscheinlich muss man eine Kombination verschiedener Faktoren annehmen. Etwa die oben genannten allgemein-praktischen Vorzüge des Kodex im Verein mit sozialen Kriterien: über die Trägerkreise der erhaltenen Papyrus-Zeugnisse wissen wir ja meist nichts – doch es mag durchaus sein, dass Lebensstil und Lebensniveau der Christen die Vorzüge stärker ins Gewicht fallen ließen. Ein weiterer Faktor dürfte hinzukommen: aus praktischen wie theologischen Gründen waren Christen Innovationen gegenüber möglicherweise aufgeschlossener als andere Bevölkerungsgruppen. Unter dem Titel „Novitas christiana“ hat Wolfram Kinzig vor einigen Jahren das besondere Verhältnis der Christen zu Neuerungen behandelt36. Schließlich ein besonders heikler, doch für unsere Zwecke besonders interessanter Punkt: es mag sein, dass christliche Schriften nicht auf Rollen geschrieben wurden, sondern in Kodizes, gerade weil die „Heilige Schrift“, der Tanach bzw. die Septuaginta, Rollen-Gestalt hatte. In diesem Fall würde die Wahl des Mediums geradezu eine Botschaft bewusster A-Sakralität transportieren, und ———— 35 Vgl. Bagnall (wie Anm. 26), 89 f. Dieser Schluss ist deshalb besonders erstaunlich, weil Bagnalls Untersuchung sich ansonsten durch große methodische Vorsicht auszeichnet. Die Hypothese würde zentrale Entscheidungsinstanzen im Christentum voraussetzen, die es damals weder in Rom noch anderswo gab. 36 W. Kinzig, Novitas Christiana. Die Idee des Fortschritts in der Alten Kirche bis Eusebius (FKDG 58), Göttingen 1994. Die Untersuchung operiert allerdings weitgehend ideengeschichtlich und wendet sich daher weniger der Frage der Affinität zu faktischen Neuerungen (soziologisch, medienhistorisch, institutionsgeschichtlich) zu.
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sie wäre in den Ablösungsprozess des Christentums vom Judentum einzuzeichnen37. Die neuen Texte sollten zwar aufgeschrieben werden, aber nicht „Schrift“ sein (scripture, not Scripture). Wenn oben gesagt wurde, dass die Christen von Anfang an das neue Medium Buch bevorzugten, so gilt dies zunächst ganz unspezifisch für ihre Schriften; mit der Medienwahl sollte nicht primär eine Aussage über den religiösen Wert getroffen werden. Es gilt also in gleicher Weise für Schriften, die später „kanonisch“ werden sollten wie für solche, die es nicht wurden. Anschauliches Beispiel ist der Aufsehen erregende Textfund von Nag Hammadi, wo in 13 Kodizes Schriften ganz unterschiedlichen Charakters zusammengestellt und dann letztlich gemeinsam „entsorgt“ wurden. Man wird einwenden, das sei eine gnostische Bibliothek, doch möge man die Kriterien späterer Orthodoxie und Heterodoxie nicht überbewerten. Es gibt kein Indiz, dass die Wahl des Mediums an spezifisch gnostischen Grundentscheidungen hing. Im gleichen Sinne sollte man die spätere Kategorie des „Kanonischen“ nicht ohne Grund zurückprojizieren. Selbst zu Zeiten, in denen ein Eirenaios von Lyon oder ein Origenes ihre Überlegungen über autoritative (und nicht-autoritative) Schriften anstellten, ist nicht anzunehmen, dass dem Schreiber oder Käufer eines christlichen Papyrusheftes in Ägypten solche Theoriereflexionen bekannt waren oder dass sie ihm viel bedeuteten. Noch einmal anders und zugespitzt formuliert: Die Wahl des Mediums Kodex impliziert nicht schon so etwas wie eine Kategorie des „Proto-Kanonischen“38. ———— 37 Heikel ist das Argument deshalb, weil sich bei diversen frühen Kodizes mit biblischen Texten die Frage stellt, ob sie jüdischer oder christlicher Provenienz sind. In der Forschung wurde vielfach – als eine Art petitio principii – letzteres angenommen. Indes hat bereits Kurt Treu in einem wichtigen Aufsatz 1973 darauf hingewiesen, dass durchaus auch mit frühen jüdischen Kodizes zu rechnen ist (Die Bedeutung des Griechischen für die Juden im römischen Reich, Kairos 15, 1973, 123–144, hier 138–144, vgl. auch Bagnall [wie Anm. 26], 80 f.). Auch dadurch verliert das Argument allerdings nicht völlig seine Gültigkeit: Die Wahl des Mediums impliziert in jedem Fall einen Bruch mit überkommenen Sakraltraditionen. 38 Wie stark die späteren theologischen Kategorien das Denken bestimmen, zeigt sich bei den ansonsten sehr nüchternen und klaren Untersu-
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Jedenfalls lässt sich kaum bestreiten, dass die Kodizes der Christen im zweiten und dritten Jahrhundert recht bescheiden daherkamen. Wer in der Kaiserzeit solch einen Kodex sah, hatte eine Reihe von Assoziationen – praktisch, billig, transportabel, modern, wie oben beschrieben –, aber sicherlich nicht die des Sakralen, was immer genau mit dieser Kategorie gemeint sei. Der Kodex hatte eine denkbar alltägliche, gebrauchsorientierte Anmutung, auf „Höheres“ verwies er nicht, jedenfalls nicht seiner Form und Gestalt nach, schon gar nicht auf Synagoge, Kult, Tempel oder dergleichen. Für den Kodex zu optieren, war also im Rahmen der alten hebräischen und griechischen Schriftkultur eine dezidiert non-konformistische, bewusst opponierende Entscheidung. Dies ist zu bedenken, wenn es nun speziell um die kanonisch werdenden Texte geht, das „Neue Testament“ in statu nascendi. Es ist eine auffällige und oft gemachte Beobachtung, dass selbst die allerältesten Textzeugen für das Neue Testament offensichtlich von Anfang an Kodizes waren, obgleich für Jesus selbst die Schriftkultur der Buchrolle selbstverständlich war. Die in den letzten beiden Forschergenerationen gefundenen Papyri sind so alt, rücken so nah an den Prozess der Abfassung der Texte heran39, dass der Schluss nicht zu gewagt scheint: diese Texte sind ———— chungen von Hurtado (wie Anm. 29) und Bagnall (wie Anm. 26). Beide legen ihren Überlegungen eine anachronistische Kategorie von „scripture“ zugrunde, analysieren also das früheste Material im Lichte späterer Zuweisungen. In diesem Sinne wird man die Feststellung von Bagnall 78 „the Christians adopted the codex as the normative format of deliberately produced public copies of scriptural texts“ als mutig bezeichnen müssen. Sie ist gewonnen aus der Analyse der ca. zehn frühen Papyrusfragmente christlicher Provenienz, die (möglicherweise) Rollenform hatten (Angaben bei Bagnall 74). Abgesehen davon, dass bei der Zahl zehn ohnehin keine statistischen Aussagen mehr sinnvoll sind, sind alle diese Fälle sui generis und bedürfen einer je eigenen Diskussion (die Bagnall zum Teil auch führt). Ähnlich wie Bagnall argumentiert Hurtado 57 f. 39 Als älteste Textzeugen für das Neue Testament gelten die Papyri 52, 90, 98, 104, 64/67/4, 77, 103 (in der Nummerierung von Aland, jeweils aktualisierte Liste auf intf.uni-muenster.de/vmr/NTVMR/ListeHandschriften.php). Sie werden meist ins 2. oder um die Wende zum 3. Jh. datiert (vgl. Hurtado [wie Anm. 29], 20 f. und die Liste im Anhang 217–224; Einzelfragen sind naturgemäß vielfach umstritten). Aller-
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von Anfang an in diesem Medium abgefasst oder zumindest weitergegeben worden. Es mag sein, dass etwa die Evangelien gelegentlich als eigenständige Kleinschriften kursierten. In der Papyrussammlung der Bodmer-Stiftung am Genfer See befindet sich einer der besterhaltenen Kodizes dieser Art, ein Heftchen mit dem Text des Johannesevangeliums, geschrieben etwa 100 Jahre nach der Abfassung des Textes (Abb. 3). Die Schrift ist klar und locker, mit ausreichenden Rändern, hier musste nicht Material gespart, Kosten minimiert werden. Dennoch ist das Buch nicht allzu dick, es umfasste im vollständigen Zustand 73 Blätter, 146 Seiten, war also allenfalls so dick wie ein durchschnittliches Taschenbuch unserer Tage und im Format sogar etwas kleiner40. Im Grunde ist hier das Potenzial des Kodex noch bei weitem nicht ausgeschöpft, mit anderen Worten: das Medium ermöglicht (und verlangt bis zum gewissen Grad) größere Zusammenstellungen, um die praktischen und ökonomischen Vorteile ganz auszuspielen. Und das muss wohl auch in der frühen Evangelienüberlieferung die Regel gewesen sein. Selbst der hier vorliegende Einzelkodex zeigt Spuren solcher „Kollektivierung“. Ganz oben auf der ersten Seite, offensichtlich nicht ursprünglich zum Text gehörig, da auf dem unbeschriebenen Rand stehend, aber von gleicher Hand zugefügt, ist zu lesen: ©£¡ ¨ ~¡¡¡, Evangelium nach Johannes41. Diese Überschrift stammt schwerlich vom Verfasser des Evangeliums, sie setzt die Existenz anderer Evangelien voraus und damit eben schon so etwas wie eine „Kollektivierung“ – ich würde an dieser Stelle das Wort „Kanonisierung“ ———— dings hat Bagnall (wie Anm. 26), 1–24 mit guten Gründen argumentiert, dass die konventionellen Datierungen oft um ca. ein halbes Jahrhundert zu früh liegen. 40 Pap. Bodm. 2 (= P66 Aland); mit 162 mm Höhe und 142 mm Breite ist der Kodex etwas kleiner als das vorliegende Buch. Vgl. dazu V. Martin, Papyrus Bodmer II. Evangile de Jean chap. 1–14 (Bibliotheca Bodmeriana 5), Cologny 1956 und ders./J. W. B. Barns, Papyrus Bodmer II. Supplément. Evangile de Jean chap. 14–21, Cologny 21962 sowie die detaillierte Analyse von J. R. Royse, Scribal Habits in Early Greek New Testament Papyri (NTTS 36), Leiden 2008, 399–544 (mit weiterer Lit.). 41 Vgl. Martin 1956 (s. vorige Anm.), 21–23.
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noch gerne vermeiden. Durch eine Gesamtuntersuchung der Überlieferung der Evangelien lässt sich zeigen – David Trobisch hat das m. E. überzeugend geleistet –, dass die Zusammenstellung der vier kanonischen Evangelien in ihrer noch heute gebräuchlichen Reihenfolge zu einer Überlieferungseinheit schon früh erfolgt ist, und diese Überlieferungseinheit kann nach Lage der Dinge nichts anderes als ein Kodex gewesen sein42. Diese Prozesse laufen sehr wahrscheinlich der theologischen Debatte voraus, die letztlich zur Kanonbildung führte, mit anderen Worten: „Kanon“ ist eine theologische Deutekategorie für etwas, das als „Realie“ teilweise schon vorhanden, vorgegeben war. Natürlich haben diese theologischen Debatten dann ihrerseits Rückwirkungen auf die Textüberlieferung, sorgen etwa dafür, dass der Hirt des Hermas schlecht, dagegen die Johannesoffenbarung sehr gut überliefert ist. Zunächst aber entsteht ein „Produkt“, eben das Neue Testament, vermutlich auch schon unter diesem Namen43, das eine Reihe von Charakteristiken hat, die nicht schon auf die Kanonbildung zurückgehen. Das „Neue“ Testament sollte sich nicht in geschwisterlicher Ähnlichkeit als „Band 2“ neben das „Alte“ stellen, sondern es sollte dem Konzept nach etwas ganz Neues sein. Wenn überhaupt, müsste man hier von „Band 1“ sprechen, denn es geschieht jetzt ja zum ersten Mal, dass ein religiös relevantes Schriftencorpus im Medium von „Bänden“, also etwas Gebundenem, nicht in mehreren „Volumina“, also „Gerollten“ (volvo, ich rolle), zusammengestellt ist. Es würde lohnen, noch etwas ausführlicher dabei zu verweilen, was das alles für das junge Christentum bedeutete, welcher „flavour of Christianity“ durch das neue „Produkt“ verbreitet wurde (Analogien mit moderner Unternehmens- und Werbungs———— 42 Vgl. D. Trobisch, Die Endredaktion des Neuen Testaments. Eine Untersuchung zur Entstehung der christlichen Bibel (NTOA 31), Freiburg/ CH 1996, 53 f. Vgl. zur Sache auch M. Hengel, Die vier Evangelien und das eine Evangelium von Jesus Christus. Studien zu ihrer Sammlung und Entstehung (WUNT 224), Tübingen 2008, bes. 95–103 (der freilich die physische Sammlung der Evangelien später ansetzt) sowie Ch. Markschies, Haupteinleitung (wie Anm. 10), 46 f. 43 Vgl. W. Kinzig, țȫȳȷ ȮȳȫȲɄȴȱ. The Title of the New Testament in the Second and Third Centuries, JThS 45, 1994, 519–544.
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sprache drängen sich förmlich auf). Es wäre zu reden von den ebenfalls typischen nomina sacra, also den Abkürzungen für religiös zentrale Namen und Begriffe, die sicher sehr dazu beitrugen, dem neuen Produkt eine Art „corporate identity“ zu geben. Im Buch des frühen Christentums entstand ein Ensemble, das beim Leser und Betrachter unmittelbar so etwas wie ein „Evangelienfeeling“ auslöste, gewissermaßen ein „Markenzeichen“ der neuen Religion44, das aber – diese Feststellung ist wichtig – zunächst ganz und gar nicht sakral konnotiert war. Das sollte sich ändern, und zwar relativ bald, sicher noch vor Konstantin, mit dem solche Veränderungen manchmal etwas pauschal in Verbindung gebracht werden. Dass auch das „Neue Testament“ bald für gottesdienstliche Lesungen verwendet wurde, ist bekannt, dass dafür die gerade genannten Kodizes verwendet wurden, ergibt sich von selbst. Freilich kann man fragen, ab wann genau das Epitheton „sakral“ für die Versammlungen der christlichen Gemeinde angemessen ist; das würde eine eigene Reflexion erfordern. Jedenfalls hatte Diokletian, der das Christentum nach anfänglichem Wohlwollen mit Hass und Inbrunst verfolgte, begriffen, dass das Buch bei den Christen eine herausgehobene religiöse Rolle spielte. Daher belegte er es mit einem besonderen Verbot: wo solche Schriften gefunden wurden, sollten sie verbrannt werden45. Es ist sicher davon auszugehen, dass gelegentlich auch prächtige Exemplare dabei waren46, doch archäologisch konkret greifbar wird das Phänomen erst in den spektakulären „Megakodizes“47 ab konstantinischer Zeit. Hier geht es ———— 44 Vgl. dazu ausführlich Hurtado (wie Anm. 29), 95–134. 45 scripturae repertae incenduntur. Laktanz, mort. pers. 12,2 (CSEL 27/2, 186,20 Brandt/Laubmann) und sogar: ubi scripturae inueniuntur, ipsa domus diruitur, Acta purgationis Felicis episcopi Autumnitani (CSEL 26, 200,6 und 202,23 Ziwsa). 46 Ein Hinweis ergibt sich aus dem Konfiskationsprotokoll von Cirta: Der Lektor Proiectus protulit codices V maiores et minores II (CSEL 26, 188,14 Ziwsa). 47 Dieser passende Ausdruck stammt von Bremmer (wie Anm. 2), 351. In der Diskussion des Phänomens verzichte ich hier und unten (S. 37 ff.) weitgehend auf die Kategorie der „heiligen“ Schrift, denn sie ist in jedem Fall klärungsbedürftig. Vgl. dazu neben Bremmer vor allem
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um eine ganz andere Kategorie als bei dem Bisherigen. Diese voluminösen Pergamentkodizes verhalten sich zu den älteren Papyrusheftchen – man ist versucht zu sagen: wie Mercedes zu Fiat, doch vielleicht besser, um historisch im Bild zu bleiben: wie Basilika zu Hauskirche. Allein der Größenvergleich zeigt das sofort: Wenn man einer Seite des berühmten Codex Sinaiticus noch einmal das Heftchen mit dem Johannesevangelium im gleichen Maßstab zu Seite stellt, wird die Differenz augenfällig (Abb. 4). Die großen Bibelhandschriften der Spätantike leiten bereits zum Folgenden über, doch zunächst nochmals die erste der oben (S. 14) gestellten Fragen: Welcher Zusammenhang besteht zwischen dem Aufstieg des Christentums und der zeitgleichen Durchsetzung des neuen Mediums Kodex? Wie gesagt: an der Entstehung des Kodex hatte das Christentum sicher keinen Anteil, aber dass es mit seinem Siegeszug irgendwie verbunden ist, kann man schwer bezweifeln – und sei es auch nur chronologisch. Zudem ist in der Gesellschaft kein spezifischer Trägerkreis bekannt, der von Anfang an so entschlossen das neue Medium verwendete. Und es ist nicht nur die Verwendung als solche, also die quasi mechanische Übertragung dessen, was vorher mit der Rolle geschah, ins neue Medium, sondern es sind auch einige spezifische Anwendungen, die nur im Medium des Kodex denkbar sind. Es war nicht zuletzt der christliche Bischof Euseb von Kaisareia, der einige solche – sit venia verbo – „Killerapplikationen“ entwickelte; sie werden im folgenden Abschnitt kurz vorgestellt. Dies im Verein mit dem etwa gleichzeitig eintretenden Wechsel in der gesellschaftlichen Wahrnehmung des Christentums – die einsetzende staatliche Förderung unter Konstantin und seinen Nachfolgern – mag auch der Durchsetzung des Kodex einen Schub gegeben haben. Die „Leute des Kodex“ waren nun anerkannt und gesucht. Zugleich ist aber auch das Umgekehrte wahr: Die neue Lesekultur des Kodex hat das Christentum geprägt und verändert. Guglielmo Cavallo hat die kaiserzeitlichen Verschiebungen in der Lesekultur in folgender Weise auf den Punkte gebracht: von der „extensiven“ Lektüre vieler Texte zu einer „intensiven“ Lektüre ———— C. Colpe, Art. Heilige Schriften, in: RAC 14, Stuttgart 1988, 184–223, bes. 205–207 zur Heiligkeit der fertigen Bibel.
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weniger Texte48. Tatsächlich eignet sich der Kodex besser, um einen zentralen („kanonischen“) Text nach Strich und Faden durchzuarbeiten, immer wieder an unterschiedlichen Stellen zu konsultieren und zu kommentieren. Was der „Kanon“ im Christentum geworden ist, wäre er ohne dieses Medium nicht in gleicher Weise geworden, und vielleicht wäre auch Bibelexegese als zentrale intellektuelle Aktivität nicht zu dem geworden, was sie geworden ist49. Die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Durchsetzung des Christentums und des Kodex wird damit aber erneut problematisch: Selbst wenn ein solcher Zusammenhang besteht – in welche Richtung hat man den Pfeil zu zeichnen? Hat sich das Christentum in der Antike durchgesetzt, weil es instinktiv (oder gar zufällig) auf die „richtige Karte“, das richtige, zukunftsfähige Medium gesetzt hatte? So dass es dann als Trittbrettfahrer der Media revolution mit dem neuen Medium auch die neue Botschaft lancieren konnte? Oder hat sich umgekehrt das neue Medium durchgesetzt, weil es von der neuen, erfolgreichen Religion verwendet wurde? So dass also das Christentum auslösender Faktor für die Erfolgsgeschichte des Kodex wurde? – Was war zuerst? Der Erfolg des Christentums oder der Erfolg des Kodex? Es ist wie mit der Frage nach der Henne und dem Ei: Fragen ohne klare Antworten, aber dennoch mit hohem heuristischen Wert. ———— 48 G. Cavallo, Testo, libro, lettura, in: Lo spazio letterario di Roma antica, hg. v. G. Cavallo/P. Fedeli/A. Giardina, Bd. 2. La circolazione del testo, Rom 1989, 307–341, hier 341. In der dort vorgetragenen Form ist die These freilich nicht unbedenklich. Sie läuft Gefahr, sich in ein generelles Dekadenzmodell („von der Antike zum Mittelalter“) einzuzeichnen. Dass es Rückgang der Alphabetisierung und generell einen Verfall der Lesekultur im frühen Mittelalter gegeben hat, sollte man nicht bestreiten, doch tut man nicht gut daran, die ganze Entwicklung – also auch der Spätantike – auf diesen Fluchtpunkt zulaufen zu lassen. Für die hier interessierende Zeit geht es nicht darum zu sagen, dass weniger gelesen wurde, sondern dass Wenigeres mehr gelesen wurde. Vgl. auch Mratschek (wie Anm. 26), 378: „Von einer häufig für die Spätantike postulierten Abnahme des Lesens und Schreibens im öffentlichen und privaten Bereich kann … kaum die Rede sein.“ 49 Vgl. G. G. Stroumsa, Kanon und Kultur. Zwei Studien zur Hermeneutik des antiken Christentums (Hans-Lietzmann-Vorlesungen 4), Berlin 1999, bes. 5–9.
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Man stößt übrigens ständig auf solche Fragen, wenn man sich dem Kernproblem der antiken Christentumsgeschichte zuwendet: Warum hat sich das Christentum durchgesetzt und nicht irgend etwas anderes? Man könnte dies auch an theologisch viel zentraleren Punkten als der Frage nach dem Buch exemplifizieren, etwa an der jüngst viel diskutierten Frage nach dem spätantiken Monotheismus50: Hat sich das Christentum durchgesetzt, weil es monotheistisch ist, oder hat sich der Monotheismus durchgesetzt, weil er vom Christentum vertreten wurde? Nochmals: auch wenn solche Fragen keine eindeutigen Antworten haben, lohnt es sich doch sie zu stellen. Um auf das Thema Buch zurückzulenken, sei nun der Blick auf den schon mehrfach angesprochenen Kanonbegriff gerichtet.
3. Der Kanon im frühen Christentum Nochmals die eingangs gestellte Frage: Was genau wurde die Heilige Schrift, als sie Kanon wurde? Üblicherweise wird die Frage nach dem Begriff „Kanon“ von der eigentlichen Kanongeschichte getrennt in der Meinung, dass das Schriftencorpus bereits abgeschlossen war, als es zuerst mit diesem Begriff bezeichnet wurde. „Kanon“ wäre also wie ein Etikett, das nachträglich auf ein bereits fertiges Produkt geklebt wurde. Das ist nicht ganz falsch. Wenn ab der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts Bücher als „kanonisch“ bezeichnet werden, wenn von einem „untrüglichen Kanon der gott-begeisterten Schriften“ die Rede ist, wenn etwas als „nicht aus dem Kanon“ verworfen wird51, dann setzt dies ein ———— 50 Hier seien nur genannt: St. Mitchell/P. van Nuffelen (Hgg.), Monotheism between Pagans and Christians in Late Antiquity, Leuven 2010 sowie von denselben Herausgebern: One God. Pagan Monotheism in the Roman Empire, Cambridge 2010. Der erstgenannte Band enthält eine umfangreiche Bibliographie (203–222), über die Weiteres auffindbar ist. 51 Die Synode von Laodikeia legte fest, man dürfe in der Kirche ȶ&ȷȫ Ƚ ȴȫȷȹȷȳȴ ȽȻ ȴȫȳȷȻ ȴȫ ąȫȵȫȳ˦Ȼ ȮȳȫȲȴȱȻ lesen (can. 59 [78,15 f. Lauchert]; Datierung unsicher, wohl um Mitte 4. Jh.). Amphilochios von Ikonion spricht vom ʱɁȯȾȮ ȼȽȫȽȹȻ ȴȫȷAȷ … ȽHȷ Ȳȯȹąȷȯ0ȼȽɂȷ ȭȺȫȿHȷ (Iambi ad Seleucum v. 318 f. [PTS 9, 39 Oberg]). Athanasios von
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Vorverständnis voraus, eine kulturelle Kenntnis des Kanons der Sache nach. Um aber zu verstehen, was mit der Sache gemeint ist (also nicht nur: welche Schrift drin ist und welche draußen), um das Profil des so bezeichneten Produktes zu erfassen, ist es sehr wohl interessant, wieso man darauf verfiel, das Etikett Kanon zu verwenden, und welche Botschaft damit transportiert wurde. Die Anwendung dieses Begriffs ist bekanntlich eine große Erfolgsgeschichte; sie hat sich durchgesetzt und zu einer fast atemberaubenden semantischen Ausweitung geführt. Im Bereich diverser Kulturwissenschaften ist „Kanon“ heute eine beliebte Vokabel52. Es genügt, etwa an den „Kanon“ der deutschen Literatur zu erinnern53. Weiter kann man an den (zu singenden) mehrstimmigen „Kanon“ oder den (zu betenden) canon missae denken. Von diesem abgeleitet ist der „Kanoniker“, der aber beileibe nicht dasselbe ist wie ein „Kanonist“. Vom „Kanonier“ einmal gar nicht zu reden, doch selbst dieser letztere noch (sowie das zugehörige Schießinstrument) ist etymologisch verwandt54. Das Spektrum ist ungeheuer weit – nicht alles ist für unsere ———— Alexandrien kritisiert den „Hirten des Hermas“ als ȶ -ȷ ȴ Ƚȹ8 ȴȫȷ&ȷȹȻ (decr. 18,3 [Athanasius Werke 2,1, 15,20 Opitz]). Alle diese Stellen sind im Kontext der Kanongeschichte häufig zitiert und diskutiert worden. 52 Grundlegend für die jüngere Debatte ist J. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992, 103–129. Vgl. zuletzt Kanon und Kanonisierung. Ein Schlüsselbegriff der Kulturwissenschaften im interdisziplinären Dialog, hg. v. K. Kollmar-Paulenz u.a. (Text und Normativität 2), Basel 2011. Für die Altertumswissenschaft vgl. die beiden oben in Anm. 10 (Becker/Scholz) und 23 (Finkelberg/Stroumsa) angeführten Bände. 53 Der „Kanon lesenswerter deutschsprachiger Werke“ wurde von Marcel Reich-Ranicki 2001 angekündigt; seither sind zahlreiche Bände erschienen. 54 Das Deutsche Wörterbuch von Brockhaus/Wahrig unterscheidet immerhin 9 Bedeutungen für „Kanon“ (Bd. 4, Stuttgart 1982, 64). Die „Kanone“ ist allerdings nur durch die Hintertür verwandt, nämlich über das Italienische, cannone, Augmentativ von canna, Rohr (J. u. W. Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 5, Leipzig 1873, 169), lat. canna, gr. ȴ ȷȷȫ, Lehnwort aus dem Akkadischen.
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Zwecke relevant, doch bildet die spätantike Verwendung die Wurzel für die erstaunliche Ausweitung. Allerdings ist das Bild bereits zum Zeitpunkt der Übernahme ins Christentum recht unübersichtlich. Der „Kanon“ hatte damals schon eine lange und vielgestaltige Wort- und Begriffsgeschichte hinter sich55. Der übliche Hinweis, dass griechisch ȴȫȷ@ȷ aus dem Semitischen entlehnt sei (und zwar vermutlich nicht, wie oft behauptet, von hebräisch qaˉnæh :F' M) , sondern von akkadisch qanû56), hilft nicht sehr viel weiter, denn die ursprünglich botanische Grundbedeutung: „Halm, Stängel, Schilfrohr“ war kaum noch bewusst. Daraus hatte sich schon früh die Bedeutung „Rohrstab, Maßstab, Richtscheit“ entwickelt. Für die christliche Verwendung ist diese Semantik offensichtlich eine notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzung. Denn der christliche Kanon ist ja mehr und hat mit der technisch-geometrischen Bedeutung allenfalls figurative zu tun. Ganz und gar ins Abstrakt-Metaphorische sollte man es aber auch nicht gleich wenden, denn in hellenistischer Zeit hatten sich zwei Stränge der Bedeutung herauskristallisiert, von denen durchaus beide für die christliche Verwendung relevant sind, obwohl meist nur der erste diskutiert wird. Es ist die Bedeutung „Maßstab, Regel“, wodurch auch die lateinische Übersetzung regula ermöglicht wird. Im christlichen Bereich findet sich in diesem Sinne die Rede von einer regula fidei, also einer Art Glaubensnorm57. Darüber darf aber die zweite Bedeutung nicht vergessen werden. Sie ist auf den ersten Blick banaler, aber darum nicht weniger einschlägig. Es ist die nüchterne Verwendung von ȴȫȷ@ȷ als „Liste, Tabelle, Synopse“. An dieser Stelle ist es wichtig festzuhalten, dass beide Bedeutungsvarianten schon vorchristlich belegt sind und dass beide im Christentum ———— 55 Grundlegend bleibt H. Oppel, KANΩN. Zur Bedeutungsgeschichte des Wortes und seiner lateinischen Entsprechungen (Regula-Norma) (Philologus. Suppl. 30,4), Leipzig 1937; vgl. ferner Assmann (wie Anm. 52), 103–114 sowie H. Ohme, Art. Kanon I (Begriff), in: RAC 20, Stuttgart 2004, 1–28 (mit Verweis auf weitere Literatur). 56 Nämlich über gr. ȴ ȷȷȫ, vgl. R. Beekes, Etymological Dictionary of Greek, 2 Bde., Leiden 2010, 637 sowie Bremmer (wie Anm. 2), 358 f. 57 Belege bei Ohme, Kanon (wie vorige Anm.), 10–16.
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intensiv rezipiert werden, und zwar beide deutlich vor dem Bezug auf die Schrift. Während das für die Glaubensnorm, die regula fidei schon oft gezeigt wurde, haben sich die Gelehrten um die zweite Grundbedeutung („Liste, Tabelle“) kaum je bemüht, vermutlich weil das unter ihrer Würde lag – wegen Banalität unterhalb der Wahrnehmungsschwelle. Dass es so banal nicht ist, soll an einigen Beispielen vorgeführt werden. Diese Frage wird uns unversehens wieder zurückbringen zu der Frage nach dem Kodex. Wenn man sehr weit ausholen wollte, könnte man bei dem berühmten „Kanon“ des Bildhauers Polyklet einsetzen, einer Art Handbuch über die Maße des menschlichen Körpers58. Zeitlich und sachlich näher liegen die astronomischen Tabellen des Ptolemaios (2. Jh. n. Chr.), die ąȺ&ɀȯȳȺȹȳ ȴȫȷ&ȷȯȻ, wörtlich: die „handlichen Tabellen“ oder freier: „Tafeln, die schnell zur Hand sind“, nämlich zur punktuellen Konsultation. Diese Tabellen sind – in ihrer spätantiken Bearbeitung – im Mittelalter häufig abgeschrieben worden; einige Handschriften geben eine gute Vorstellung vom kaiserzeitlichen Original – nicht zuletzt im Blick auf die äußere Form und künstlerische Ausgestaltung59. Das gilt insbesondere für den ———— 58 Vgl. Oppel (wie Anm. 55), 14–17. Die wenigen erhaltenen Texte sind gesammelt bei H. Diels/W. Kranz, Die Fragmente der Vorsokratiker, Bd. 1, Berlin 61951 (Nachdruck Zürich 2004), Nr. 40 (S. 391–393). Zu Polyklet vgl. E. Berger, Art. Polykleitos (I), in: Künstlerlexikon der Antike. Bd. 2, München 2004, 276–287 (mit weiterer Literatur). 59 Während sowohl Ptolemaios’ Einführung als auch die spätantiken Kommentare zu den Tafeln ediert sind (J. L. Heiberg [Hg.], Claudius Ptolemaeus. Opera quae extant omnia, Bd. 2. Opera astronomica minora, Leipzig 1907, 157–185; J. Mogenet/A. Tihon, Le „grand commentaire“ de Théon d’Alexandrie aux tables faciles de Ptolemée, 3 Bde. [StT 315.340.390], Rom 1985–99), ist das eigentliche Tafelwerk bis heute nicht angemessen erschlossen (vgl. nur die Ausgabe von N. B. Halma, Paris 1822–25). Das ist in hohem Maße bedauerlich, wenn auch verständlich: Die Zahl der Handschriften, der Umfang des Werkes, die Masse der Varianten und vor allem die Komplexität der Materie machen dies Unternehmen sehr anspruchsvoll. Wesentliche Vorarbeiten hat A. Tihon, Les Tables Faciles de Ptolémée dans les manuscrits en onciale (IXe–Xe siècles), Revue d’histoire des textes 22, 1992, 47–87 geleistet, vor allem eine Beschreibung der wichtigsten
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prächtigen Kodex Vaticanus graecus 1291 aus dem 8. Jahrhundert (Abb. 7), der in formaler Hinsicht gelegentlich (und mit Recht) als Parallele für spätere christliche Tabellen herangezogen worden ist (s. etwa Abb. 8)60. Die geometrische Bedeutung von „Kanon“ als „Maßstab, Richtscheit“ ist hier noch nachvollziehbar. Dass der Begriff nicht ganz auf den engsten Fachdiskurs beschränkt war, zeigen zwei Plutarch-Stellen, wo eher beiläufig von mathematischen bzw. astronomischen Tabellen (ȴȫȷ&ȷȯȻ) die Rede ist61. „Kanon“ in diesem Sinne im Christentum heimisch gemacht zu haben, ist das Verdienst des großen Gelehrten Euseb von Kaisareia. Im „Kanon“ fand er geradezu einen Leitbegriff seiner wissenschaftlichen Tätigkeit. In ganz unterschiedlichen Zusammenhängen kam er immer wieder darauf zurück – nota bene: in einer Zeit, in der der Bezug auf die Schrift noch nicht belegt und wohl auch nicht vorhanden war. Der Kanon bei Euseb verlangt einen kleinen Exkurs, doch gehört dieser eng zum Thema. ———— handschriftlichen Zeugen. Es handelt sich um die folgenden: Leidensis BPG 78, Vat. gr. 1291, Laurentianus 28,26, Marcianus gr. 331. 60 Der Kodex ist zuerst von F. Boll, Beiträge zur Überlieferungsgeschichte der griechischen Astrologie und Astronomie, in: Sitzungsberichte der philosophisch-philologischen und der historischen Classe der königlich bayerischen Akademie der Wissenschaften zu München, Jahrgang 1899, Bd. 1, München 1899, 77–140, hier 110–140 beschrieben und gewürdigt worden, ausführlich dazu auch Tihon (wie vorige Anm.) 61– 64. Die knapp 200 Seiten (!) Tabellen in der Handschrift wurden von W. D. Stahlman, The Astronomical Tables of Codex Vaticanus graecus 1291, Ph.D. thesis Brown University 1960, 204–356 abgeschrieben. Solange eine eigentliche Edition der Tabellen fehlt, wäre es schon eine große Hilfe, wenn einfach ein vollständiger (farbiger) Scan dieser Handschrift im Internet verfügbar wäre. H. D. Wright, The Date of the Vatican Illuminated Handy Tables of Ptolemy and Its Early Additions, ByZ 78, 1985, 355–362 datiert die Handschrift in ihrem (hier interessierenden) Hauptteil auf 753–54 (gegen I. Spatharakis, Some Observations on the Ptolemy Ms. Vat. gr. 1291. Its Date and the Two Initial Miniatures, ByZ 71, 1978, 41–49, der in die Jahre 828–35 datiert). Der Bezug auf spätere christliche Tabellen legt sich v.a. im Kontext der Kanontafeln des Euseb nahe, s. die Literatur unten bei Anm. 67. 61 De sollertia animalium 974F; 979C.
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Zum ersten Mal hat Euseb den Begriff auf dem Feld der Geschichtsschreibung benützt, übrigens durchaus unkonventionell und innovativ: Als Vorläufer auf diesem Feld kann man allenfalls auf Stellen bei Dionysios von Halikarnassos und Plutarch verweisen, wo der Begriff aber eher beiläufig erscheint62. Die Tradition der hellenistischen Universalgeschichte war bereits im dritten Jahrhundert von Julius Africanus ins Christentum eingeführt worden63. Euseb blieb es vorbehalten, das Material zu erweitern und neu zu ordnen, eben in Gestalt eines „Kanon“: mit diesem Begriff bezeichnet er einen der beiden Teile seiner Chronik64. All die langatmigen Auflistungen der Herrscher verschiedener Völker und der wichtigsten Ereignisse wurden in Spalten parallel angeordnet. Der Synchronismus der Geschichte der Assyrer, Hebräer, Athener etc. wird dadurch visuell deutlich gemacht, und zwar unter Ausnutzung des gesamten Raumes der Doppelseite eines ———— 62 Dionysios sagt bei einem Datierungsproblem, Eratosthenes habe die „richtigen Zeittafeln (ȴȫȷ&ȷȯȻ 2ȭȳȯȻ)“ verwendet (ant. Rom. 1,74,2). Plutarch meint, die Begegnung zwischen Solon und Krösus könne nicht allein aufgrund von „so genannten chronologischen Regeln/Tabellen (ɀȺȹȷȳȴȹȻ Ƚȳȼȳ ȵȯȭȹȶ ȷȹȳȻ ȴȫȷ&ȼȳȷ)“ als Erfindung abgetan werden (Solon 27,1). 63 Vgl. zu diesem Prozess M. Wallraff, The Beginnings of Christian Universal History. From Tatian to Julius Africanus, Zeitschrift für Antikes Christentum 14, 2010, 540–555. 64 Vgl. J. Fotheringham, Eusebii Pamphili Chronici canones latine vertit, adauxit, ad sua tempora produxit S. Eusebius Hieronymus, London 1923, III–V zur Terminologie bei der Benennung der beiden Teile. Auf der Basis dieser Analyse ist anzunehmen, dass der erste Teil ɀȺȹȷȹȭȺȫȿȫ, der zweite ɀȺȹȷȳȴȹ ȴȫȷ&ȷȯȻ benannt war (gegen E. Schwartz, Art. Eusebios, in: PRE 6,1, Stuttgart 1907, 1370–1439, hier 1376 [= ders.: Griechische Geschichtschreiber, Leipzig 1957, 495–598, 504]). Insgesamt leidet die Rezeption der Chronik an der komplexen Überlieferungslage und der daraus folgenden unübersichtlichen Editionslage. Hauptzeugen für das verlorene griechische Original des „Kanons“ sind die Übersetzungen ins Lateinische (von Hieronymus, hg. v. R. Helm [GCS Eusebius 7], Berlin 31984) und Armenische (hg. v. J. Karst [GCS Eusebius 5], Berlin 1911). Vgl. jüngst den guten Überblick mit weiterer Literatur von R. W. Burgess/Sh. Tougher, Art. Eusebius of Caesarea, in: The Encyclopedia of the Medieval Chronicle, hg. v. G. Dunphy, Leiden 2010, 595–597. Für die hier relevante Fragestellung ist Grafton/Williams (wie Anm. 5), 133–177 besonders nützlich.
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Kodex (Abb. 5, hier sieben Spalten). Die einzelnen fila regnorum sind verwoben zu der einen Geschichte der Menschheit. Auf diese Weise ist der „Kanon“ nicht nur ein Ordnungsprinzip im Sinne eines übersichtlichen Layouts, sondern er produziert einen Mehrwert an Erkenntnis: Geschichte im Singular. Der zweite Kanon des Euseb ist weniger bekannt. Bis auf den großen italienischen Gelehrten Giovanni Mercati, der vor Jahrzehnten an entlegener Stelle auf die ihn überliefernde Handschrift hingewiesen hat, ist er bist jetzt der Aufmerksamkeit der Spezialisten entgangen65. Vermutlich einige Zeit nach dem historischen Kanon hat Euseb eine Tabelle der Psalmen angefertigt (Abb. 6). In insgesamt sieben Spalten – beschriftet als Kanon 1, 2, 3 usw. – werden die Psalmen angeordnet, jeweils nur mit ihrer Ordnungsnummer. In der ersten Spalte die von David abgefassten Psalmen, in der zweiten die von Salomon, in der dritten die ohne Zuschreibung usw. Sehr tiefsinnig ist das nicht: ein eher schlichtes Hilfsmittel der Bibelkunde. Für unser Thema wichtig ist aber eine Eigenart, die man sich erst auf den zweiten Blick klar macht. Anders als die astronomischen oder historischen Tafeln hat diese Tabelle ihren Wert nicht in sich. Die Lektüre der Zahlenkolonnen als solche bringt keinen Erkenntnisgewinn, sondern nur die Zahlen in ihrer Verweisfunktion im Buch. Jede Zahl steht für einen ganzen Psalm, und der potenzielle Leser braucht nicht und interessiert sich nicht für die ganze Tabelle, sondern nutzt sie zur punktuellen Konsultation. Das ist wichtig, weil schon hier eine Eigenart deutlich wird, die Euseb bei dem gleich zu besprechenden dritten Kanon zur Meisterschaft führen wird: das Hin und Her zwischen Text und Tabelle, zwischen dem Verweis und dem, worauf verwiesen wird. Wie bei der Konsultation des Index in einem modernen Buch muss man sich einen Leser vorstellen, der einen Finger an der gerade gelesenen Stelle im Buch hat und einen an der Stelle mit ———— 65 G. Mercati, Osservazioni a proemi del salterio di Origene, Ippolito, Eusebio, Cirillo Alessandrino e altri, con frammenti inediti (Studi e Testi 142), Rom 1948, 95–104. Eine ausführliche Diskussion sowie Transkription/Edition wird jetzt publiziert in M. Wallraff, The Canon Tables of the Psalms. An Unknown Work of Eusebius of Caesarea, DOP 67, 2013 (im Druck).
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der Kanon-Tabelle. Kurzum: so schlicht die Tabelle ist – sie setzt das neue Medium des Kodex voraus, und sie nutzt die damit gegebenen Möglichkeiten. Man stelle sich das Hin und Her bei einer Rolle vor, das Vor- und Zurückspulen zwischen Tabelle und Text: ganz unmöglich. Das neue Medium generiert ein neues Leseverhalten: nicht nur kontinuierliches, sondern auch konsultierendes Lesen. Im übrigen war das Nachschlagen im Psalter-Kodex für einen Enkel-Schüler des Origenes und guten Kenner der Hexapla durchaus gewohnt. Schon dieses große Projekt einer „Studienbibel“ mit Text in mehreren Spalten setzte ein Leseverhalten im beschriebenen Sinne voraus. Wie der Name sagt, setzte die Hexapla Bibelversionen in sechs (oder mehr) Spalten nebeneinander und nutzte dabei den Raum einer Kodex-Doppelseite voll aus66. Sie ermöglichte damit sowohl vertikales (= kontinuierliches) als auch horizontales (= vergleichendes) Lesen. Auch in der formalen Gestaltung leitet der Psalmen-Kanon über zum dritten und wichtigsten Kanon des Euseb. Es sind die bekannten Kanontafeln, die in zahllosen Bibelhandschriften und -drucken enthalten sind (Abb. 8)67. Formal sind sie ein Versuch, die partielle Parallelität der vier Evangelien zu erschließen und transparent zu machen. Das Problem wäre ohne weiteres lösbar in der Art von Origenes’ Hexapla, also mit einem mehrspaltigen Layout, wie es in modernen Evangeliensynopsen geschieht. Dieses Vorgehen würde jedoch den heiligen Text zerreißen, der litera———— 66 Zur Hexapla vgl. zuletzt Grafton/Williams (wie Anm. 5), 86–132. Vom ursprünglichen Layout geben allein die Fragmente des Psalters in einem Palimpsest in Mailand noch eine Vorstellung. Obgleich es nur fünf der ursprünglich acht Spalten enthält, muss es sich – vor der Wiederverwendung – um einen sehr großen Kodex gehandelt haben (ca. 40 × 30 cm), vgl. G. Mercati, Psalterii Hexapli reliquiae. Pars prima, Rom 1958, XV f. 67 Grundlegend dazu bleibt das Werk von C. Nordenfalk, Die spätantiken Kanontafeln. Kunstgeschichtliche Studien über die eusebianische Evangelien-Konkordanz in den vier ersten Jahrhunderten ihrer Geschichte, 2 Bde., Göteborg 1938. Vgl. weiterhin ders., Canon Tables on Papyrus, DOP 36, 1982, 29–38; K. Wessel, Art. Kanontafeln, in: RBK 3, Stuttgart 1978, 927–968; P. Sevrugian, Petra, Art. Kanontafeln, in: RAC 20, Stuttgart 2004, 28–42 sowie die in Anm. 70 gegebene Literatur.
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rische Zusammenhang jedes einzelnen Evangeliums wäre nicht mehr gewahrt68. Euseb löste das Problem, indem er den Text normal durchlaufen ließ, aber in nummerierte Abschnitte unterteilte (Sektions- und Kanonzahlen am Rand, s. etwa Abb. 4). In dem groß angelegten Tabellenwerk zu Beginn des Kodex kann sich der Leser mit Hilfe dieser Nummern über die Paralleltexte orientieren, wobei in jeder Tabelle jede Spalte einem Evangelium entspricht. Die Tabellen als solche sind weniger komplex als bei der Chronik, aber hier besteht nun die Pointe darin, dass die dritte Dimension des Kodex ebenfalls ins Konzept einbezogen ist, mit anderen Worten: Auch hier muss geblättert werden, dieses ausgeklügelte System ist im Medium des rotulus schlechterdings nicht mehr umsetzbar. Die Zahlen in der Tabelle haben Verweischarakter (um nicht zu sagen: es sind links); der Leser muss vorne einen Merker oder wenigstens einen Finger in den Kodex legen und dann sukzessive die einzelnen Paralleltexte anhand der gegebenen Nummern im Hauptteil aufsuchen. In gewissem Sinne ist schon hier der Weg vom Text zum Hypertext vorgeprägt. Euseb hatte das System bis ins Letzte ausgetüftelt, wir können genau seine Seiteneinteilung der Tabellen rekonstruieren, das Layout und teilweise sogar die Dekoration der Seiten69. Gerade ———— 68 Genau dies kritisiert Euseb an seinem (sonst nicht bekannten) Vorgänger Ammonios. Dieser hatte eine Synopse erarbeitet, die „dem Matthäusevangelium die gleich lautenden Perikopen der übrigen Evangelisten zur Seite stellte (ȽN ȴȫȽ ȝȫȽȲȫȹȷ ȽȻ (ȶȹȿ@ȷȹȾȻ ȽHȷ ȵȹȳąHȷ ȯ3ȫȭȭȯȵȳȼȽHȷ ąȯȺȳȴȹąȻ ąȫȺȫȲȯȻ)“. Eusebs eigene Arbeit sollte demgegenüber das Material aufbereiten „unter Wahrung auch der Übrigen in ihrer völligen Einheit und Abfolge (ȼɂȰȹȶ ȷȹȾ ȴȫ Ƚȹ8 ȽHȷ ȵȹȳąHȷ Ȯȳ[ *ȵȹȾ ȼ@ȶȫȽ&Ȼ Ƚȯ ȴȫ ȯȺȶȹ8)“, so in der die Kanontafeln begleitenden Epistula ad Carpianum (vorläufig noch nach der Edition von Nestle/Aland, Novum Testamentum Graece, Stuttgart 282012 zu zitieren, hier S. 89*). 69 Diese Rekonstruktion ist das Verdienst von Nordenfalk, Kanontafeln (wie Anm. 67), 109–116. Auch wenn dabei das Etschmiadzin-Evangeliar möglicherweise etwas überbewertet ist (vgl. die Kritik von Dickran Kouymjian, Armenian Manuscript Illumination in the Formative Period. Text Groups, Eusebian Apparatus, Evangelists’ Portraits, in: Il Caucaso. Cerniera fra culture dal Mediterraneo alla Persia [secoli IV– XI], Bd. 2 [Settimane di studio del Centro Italiano di studi sull’Alto
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dieser Aspekt hat die Gelehrten sehr beschäftigt; er wird im nächsten Abschnitt nochmals kurz angesprochen. Es ist daher vielleicht nicht erstaunlich, dass sich Kunsthistoriker mit den herrlich dekorierten Tafeln befasst haben. Doch dass parallel dazu so gut wie gar kein Interesse von Seiten der Bibelwissenschaften für den Text entwickelt wurde, ist beklagenswert70. Obgleich das Tafelwerk bis heute in der Standardausgabe des Neuen Testaments mit abgedruckt ist, geht die konkrete Textgestalt im Grunde auf die editio princeps des Erasmus von 1519 zurück: eine auf den besten Handschriften basierende Neuausgabe hat seither niemand mehr vorgelegt71. Allein die Tatsache, dass es sich – nach der Bibel selbst – um den bestüberlieferten Text der Antike überhaupt handelt, sollte das Interesse, ja die Notwendigkeit einer kritischen Edition dieses prominenten Textes evident machen. Doch kann man diese nüchternen Zahlenkolonnen überhaupt als „Text“ bezeichnen? Man kann und sollte, sogar im allerengsten Sinn des Wortes. Textus kommt von texere und bedeu———— Medioevo 43,2], Spoleto 1996, 1015–1049), sind Nordenfalks Resultate in ihren großen Linien doch nicht bestritten. 70 Diese Lücke hat Eberhard Nestle bereits vor über 100 Jahren in einem langen Aufsatz diagnostiziert, der – leider – bis heute kaum überholt ist (Die Eusebianische Evangelien-Synopse, NKZ 19, 1908, 40–51; 93– 114; 219–232). Der Kunsthistoriker Carl Nordenfalk hat die Klage 1984 wieder aufgenommen und dabei sogar – um in der theologischen Zunft besser gehört zu werden – im „Journal of Theological Studies“ publiziert (The Eusebian Canon-Tables. Some Textual Problems, JThS 35, 1984, 96–104). Es hat wenig genützt. 71 Die Edition bei Nestle/Aland (wie Anm. 68), 89*–94* verzeichnet im Apparat nicht etwa Lesarten von Handschriften, sondern Varianten unterschiedlicher Gelehrter, basierend auf Beobachtungen oder Überlegungen unterschiedlichen Gewichts. In letzter Instanz geht das Zahlenwerk auf Erasmus zurück. In der Erstausgabe des griechischen Neuen Testaments 1516 waren die Kanontafeln noch nicht enthalten, sehr wohl aber in der substanziell erweiterten zweiten Ausgabe (Novum Testamentum omne, Basel 1519, VD16 B 4197, als Digitalisat der Bayerischen Staatsbibliothek München verfügbar auf http://www.mdz-nbnresolving.de/urn/resolver.pl?urn=urn:nbn:de:bvb:12-bsb10196288-3). – Eine neue Edition wird von mir vorbereitet; sie wird im Verlag Mohr Siebeck erscheinen.
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tet „verwoben“. Was wir gewöhnlich als Text bezeichnen, sollte eigentlich eher als filum bezeichnet werden, eine Reihe von Buchstaben und Wörtern, eine eindimensionale Zeichenkette. In diesem Sinn enthält das Evangeliar vier einzelne fila über das Leben Jesu Christi, vier unabhängige, aber teilweise parallele Berichtstränge (strings) über dieselben Ereignisse. Die Erfindung der synoptischen Kanones verlinkt sie miteinander; ähnlich wie die fila regnorum in der Geschichte sind hier die vier Evangelien durch Querverweise verwoben zu einer textilen Struktur, einem web, das symbolisch sichtbar wird in den Kanontafeln am Beginn des Buches. Es ist ein Text par excellence, durch den die vier Evangelien zu dem einen Evangelium werden: ein textus zusammengewoben aus mehreren fila durch den Kanon. Dass all dies indifferent sei für die spätere Verwendung des Begriffs „Kanon“ für die Heilige Schrift, wird man schwerlich behaupten können. Die Kanontafeln waren beinahe sofort eine große Erfolgsgeschichte. Seit Eusebs Zeiten kursieren unzählige Exemplare der Evangelien mit diesem Tafelwerk. Was „Evangelium“ eigentlich ist, war für Generationen von Christen nicht zuletzt durch diesen Kanon bestimmt. All dies sollte einen davor bewahren, die Schrift als „Kanon“ vorschnell und einseitig als regula fidei zu verstehen, wie es indes beinahe durchgängig geschieht. Es ist heute beinahe communis opinio, dass unter den Bedeutungsvarianten „Regel“ und „Liste“ hier vor allem die erste relevant ist. Die theologischen Konsequenzen sind nicht unerheblich: die Schrift ist dann nicht Zugemessenes, sondern Maßstab, nicht Glaubenszeugnis, sondern Glaubensregel (regula fidei), nicht geordnete, sondern verordnende Wahrheit, in letzter Instanz: norma normans, non normata. Gewiss – dies alles ist die Schrift auch geworden, doch sie ist es geworden72, und man soll den zweiten Schritt nicht vor dem ersten tun. Für das vierte Jahrhundert ist die Bedeutung „Katalog, Liste“ mindestens ebenso wichtig wie die Bedeutung „Regel“. Die ———— 72 Nämlich im Grunde erst in der protestantischen Lehrbildung. In der Sache findet sich eine Aussage dieser Art in der Konkordienformel von 1577 (Epitome 7–8, BSELK S. 769). Die pointierte Formulierung (normans, non normata) ist noch später in der altprotestantischen Orthodoxie geprägt worden.
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Debatte darüber wurde übrigens vor etwa 100 Jahren schon einmal geführt und m. E. damals falsch entschieden73. Sehr schlicht und sehr klar hat kürzlich der Amsterdamer Alttestamentler Karel van der Toorn festgestellt: „The Hebrew Bible was a list before it was a book.“74 Das Gleiche gilt auch für die christliche Bibel. Und wenn von ihr gesagt wird, dass sie eine Liste war, bevor sie ein Buch wurde, so ist damit nichts Banales gesagt – im Gegenteil. Man könnte die Dinge begrifflich sogar noch präzisieren und damit den entscheidenden Punkt noch schärfer profilieren. Umberto Eco hat sich jüngst eingehend mit dem Phänomen der „Liste“ befasst. Dabei unterscheidet er zwischen „praktischen“ und „poetischen“ Listen: Die erste bietet ein abgeschlossenes Verzeichnis von „Objekten der Welt“, ein dem Anspruch nach vollständiges und nicht veränderbares Verzeichnis (etwa die Ein———— 73 Die beiden Positionen lassen sich bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurückverfolgen. Karl August Credner hatte in seiner Untersuchung „Zur Geschichte des Kanons“ (Halle 1847) sehr ausführlich (und sehr gelehrt) „über den Sprachgebrauch des Wortes ȴȫȷ@ȷ“ gehandelt (1– 68) und dabei den normativen Aspekt stark in den Vordergrund gestellt. Dem widersprach Ferdinand Christian Baur (Bemerkungen über die Bedeutung des Wortes țȫȷ@ȷ, Zeitschrift für wissenschaftliche Theologie 1, 1858, 141–150) mit Nachdruck und kam zu dem Schluss: „ȴȫȷ@ȷ ist geradezu so viel als Verzeichniss“ (149). Diese Position wurde ebenfalls vertreten und breit mit Belegen unterfüttert von Th. Zahn, Grundriss der Geschichte des Neutestamentlichen Kanons. Eine Ergänzung zu der Einleitung in das Neue Testament, Leipzig 21904, 1–11. Dagegen bezog sich Ǿ. W. Beyer, Art. ȴȫȷ@ȷ, in: ThWNT 3, Stuttgart 1938, 600–606, hier 605 wieder primär auf den ȴȫȷAȷ ȽȻ ʱȵȱȲȯȫȻ. Dabei blieb es, und diese Auffassung hat sich, soweit ich sehen kann, allgemein durchgesetzt – zumeist weniger aufgrund argumentativer Auseinandersetzung, sondern mehr aufgrund des zeitgeschichtlichen Kontextes der Wort-Gottes-Theologie. Auch Markschies, Haupteinleitung (wie Anm. 10), 16 f. hat jüngst daran festgehalten – und zwar mit argumentativer Begründung. Allerdings sind ihm die voreusebianischen, nichtchristlichen Belege (s. oben S. 28 f.) entgangen. Weder sollte man die Rolle Eusebs für die Ausbildung des christlichen Kanonbegriffs unterschätzen noch sollte man ihn als gänzlich isolierten Zeugen sehen. 74 K. van der Toorn, Scribal Culture and the Making of the Hebrew Bible, Cambridge, Ma. 2007, 234.
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kaufsliste oder der Katalog einer Bibliothek). Die poetischen Listen hingegen werden erstellt, „weil man etwas nicht aufzuzählen vermag, das sich unserer Möglichkeit zur Kontrolle und Benennung entzieht“75. Beispiel hierfür wäre die schwindelerregende Litanei mit der Anrufung der Heiligen. In ermüdender Gleichförmigkeit wird eine lange Liste abgearbeitet: „Heiliger Sound-So – bete für uns“, vielfach wiederholt. Der Intention nach werden nicht viele, sondern alle Heiligen angerufen76. Die Liste in ihrer Offenheit strebt nach einer sonst nicht zu erreichenden Vollständigkeit, sie geht asymptotisch gegen die Unendlichkeit. Es ist das genaue Gegenteil dessen, was mit der Liste der Heiligen Schrift intendiert ist. Diese wäre in Ecos Terminologie eine „praktische Liste“ – wie bei ihm auch die Liste mit dem Stammbaum Jesu in den Evangelien (Mt 1,1–17) in dieser Kategorie erscheint. Die Terminologie ist indes irreführend. Es wäre besser, von „Katalog“ zu sprechen, denn die Bezeichnung als „praktische Liste“ könnte das Missverständnis fördern, als sei diese Gruppe von vornherein vom poetischen Charakter ausgeschlossen, habe also keine ästhetischen Qualitäten. Für die spätantiken Kanones ist das gerade nicht der Fall. Ja, man könnte so weit gehen, den „Kanon“ als denjenigen Katalog („praktische Liste“) zu definieren, der auf prinzipielle und harmonische Weise abgeschlossen ist und auf diese Weise Aspekte des Ästhetischen und des Sakralen auf sich zieht. Darum soll es im folgenden Abschnitt gehen.
4. Das spätantike Buch als Gesamtkunstwerk Der Kanon der christlichen Heiligen Schrift war in diesem Sinn ein Katalog – und blieb es. Bis weit in die Neuzeit hinein. Wenn eingangs gesagt wurde, dass man beim Buch im Christentum fast automatisch an das Buch schlechthin denkt, die christliche Bibel, ———— 75 U. Eco, Vertigine della lista, Mailand 2009, 113–117. 76 Vgl. G. Knopp, Sanctorum nomina seriatim. Die Anfänge der Allerheiligenlitanei und ihre Verbindung mit den „Laudes regiae“, RQ 65, 1970, 185–231 und die Bemerkungen dazu bei M. Wallraff, Pantheon und Allerheiligen. Einheit und Vielfalt des Göttlichen in der Spätantike, JbAC 47, 2004, 128–143, hier 135 f.
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so setzt dies einen modernen Assoziationshintergrund voraus, im Grunde die Zeit nach Erfindung des Buchdrucks. Gewiss – es gibt „Vollbibeln“ auch aus der Antike, das ganze Alte und Neue Testament umfassend. Der schon genannte Codex Sinaiticus ist ein Beispiel, vermutlich das spektakulärste. Er ist jetzt übrigens über das (für uns) „neue Medium“ Internet mustergültig erschlossen77. Doch die Beispiele lassen sich an den Fingern einer Hand abzählen78. Nichts berechtigt zu der Annahme, dass die wenigen erhaltenen Exemplare nur die Spitze des Eisbergs sind und einst dutzende oder gar hunderte davon im Umlauf waren. Die allermeisten Bibelhandschriften enthielten und enthalten kleinere Schriftgruppen: die vier Evangelien, das Corpus Paulinum und andere Gruppierungen79. Wo die „Bibel“ bildlich dargestellt wurde, wurde daher nicht ein Buch, sondern ein Bücherschrank abgebildet. Das ist etwa der Fall in einem berühmten Bild aus dem Codex Amiatinus (Abb. 9), der auf ein spätantikes Vorbild zurückgeht. Dieses entstammte vermutlich dem Kloster Vivarium in Süditalien, wo sich ein bedeutendes Skriptorium befand. Abgebildet ist dessen Leiter Cassiodor, stilisiert als alttestamentlicher Priester Esra. Hinter ihm befindet sich das „Normalexemplar“ der Bibel in neun Bänden in ———— 77 Das Projekt www.codexsinaiticus.org ist auch in methodischer Hinsicht wegweisend. Die jüngste monographische Untersuchung ist in diesem Rahmen entstanden: D. C. Parker, Codex Sinaiticus. The Story of the World’s Oldest Bible, London 2010 (deutsch Darmstadt 2012). 78 Aus der Antike sind vier solche Handschriften in griechischer Sprache ganz oder großenteils erhalten: die Kodizes Sinaiticus (6), Vaticanus (B), Alexandrinus (A) und Ephraemi Rescriptus (C). Hinzu kommt im syrischen Bereich die Handschrift Paris. syr. 341 (6. Jh.). Der lateinische Codex Amiatinus (A) stammt aus dem frühen 8. Jh., also nicht mehr aus der Antike im üblichen Sinn (wohl aber seine zu erschließende Vorlage, s. unten Anm. 80). 79 Laut Trobisch (wie Anm. 42), 41 f. enthalten knapp 99% aller erhaltenen neutestamentlichen Handschriften eine oder mehrere dieser Sammlungseinheiten (aber nicht alle). Dies berührt sich mit der Beobachtung von Markschies, Kaiserzeitliche christliche Theologie (wie Anm. 10), 320, der Inventare christlicher Bibliotheken untersucht und dabei festgestellt hat, dass ganze Bibeln im erhaltenen Material nicht nachgewiesen sind.
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einem Schrank80. Ein Grund für diese Art der Textüberlieferung liegt natürlich in der physischen Leistungsfähigkeit des Mediums Kodex: In aller Regel enthält ein Kodex deutlich mehr Text als eine Schriftrolle (er kann daher durchaus mehrere biblische „Bücher“ fassen), aber weniger als ein modernes gedrucktes Buch. Dennoch wäre niemand auf die Idee gekommen, dies als eine Art Defekt zu beschreiben. Niemals hätte in der Antike jemand von einem Evangeliar als von einer „Teilausgabe“ des Neuen Testaments gesprochen (wie es gelegentlich in der einschlägigen Fachliteratur geschieht81). Vermutlich liegt auch ein Vorverständnis dieser Art zugrunde, wenn eine für unser Thema wichtige Quelle über die Buchproduktion in der Spätantike stets in diesem Sinne und – wie ich meine – falsch gedeutet wird. Kaiser Konstantin wandte sich in einem Brief an Bischof Euseb als an den Leiter des berühmten Skriptoriums von Kaisareia und bestellte 50 Kodizes (ȼɂȶȪȽȳȫ) für seine neu gegründete Hauptstadt am Bosporus82. Übrigens ist in dem kaiserlichen Schreiben immer noch von der Transportierbarkeit als einem Vorzug solcher Kodizes die Rede, doch wenn ein Kaiser so etwas sagt, dann heißt das etwas ganz anderes als bei den Taschenbüchern eines Martial: Im glei———— 80 Folgt man der Deutung von B. Fischer (Codex Amiatinus und Cassiodor, in: ders., Lateinische Bibelhandschriften im frühen Mittelalter, Freiburg 1985, 9–34, hier 10–17 und 24), dann geht das Bild auf den Codex grandior des Cassiodor zurück. Dabei handelte es sich – ebenso wie bei seinem Abkömmling, dem Amiatinus – um ein Pandekt, also eine Vollbibel: nach Fischer der große Kodex im Bild, den der schreibende Cassiodor gerade herstellt. Auch wenn man dieser Deutung folgt (viele Details bei diesem Bild sind umstritten), hat Cassiodor dennoch seine Wertschätzung für das neunbändige „Normalexemplar“ deutlich zum Ausdruck gebracht (wiederum nach Fischer 15). Vgl. weiterhin R. Marsden, Job in His Place. The Ezra Miniature in the Codex Amiatinus, Scriptorium 49, 1995, 3–15. 81 Trobisch (wie Anm. 42), 41–43 und passim. Dies überrascht angesichts der in Anm. 79 zitierten Resultate. Ohnehin sollte der Untersuchungsgegenstand der Arbeit („die kanonische Ausgabe“) jedenfalls nicht als ein Buch verstanden werden. In diesem Sinne gilt eben nicht: „Die Geschichte des Neuen Testamentes ist die Geschichte eines Buches.“ (11). Ähnlich spricht auch Seeliger (wie Anm. 10), 563 wieder von „Teilausgaben“ der Bibel. 82 Euseb, v.C. 4,36 f.
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chen Brief stellt er eigens zwei Kutschen zum Transport zur Verfügung. Gewiss – das war eine sehr bedeutende Bestellung und damit eine große Herausforderung für den Leiter des Skriptoriums. Doch geht die Forschung beinahe einhellig davon aus, dass es sich um 50 Bibeln handelte und diskutiert beispielsweise ausgiebig die Frage, ob etwa der Codex Vaticanus und/oder der Codex Sinaiticus zu diesen bestellten Exemplaren gehörten83. Wenn man dem folgt, müsste man eine fast industrielle Produktion von Vollbibeln annehmen, die in dieser Form für die Spätantike schwer vorstellbar scheint und darüber hinaus auch kaum plausibel. Die Stadt Konstantinopel war keineswegs (wie früher oft angenommen) als eine christliche Kapitale konzipiert84. Der Bau von Kirchen stand nicht im Vordergrund. Dass es dort schon wenige Jahre nach Gründung eine solche Zahl von Gemeinden gab, dass 50 Vollbibeln erforderlich waren, ist unwahrscheinlich. Vielmehr heißt es in dem Brief, Euseb möge diejenigen göttlichen Schriften besorgen, „deren Anschaffung und Benutzung du für die Zwecke der Kirche in besonderer Weise für notwendig erachtest“85. Es ———— 83 Diese Frage hat vor allem Th. C. Skeat immer wieder emphatisch bejaht, vgl. zuletzt ausführlich: The Codex Sinaiticus, the Codex Vaticanus, and Constantine, JThS 50, 1999, 583–625, hier 604–609. Diese Auffassung wird vielfach geteilt, vgl. jüngst wieder Grafton/Williams (wie Anm. 5), 215–221. Auch wo darüber diskutiert wird, steht meist nicht in Frage, dass es sich bei der Bestellung um Bibeln handelte (eine solche Diskussion spiegelt sich in dem Band von P. Andrist [Hg.], Le manuscrit B de la Bible [Vaticanus graecus 1209], Lausanne 2009: J. K. Elliott [132 f.] und B. Aland [180 f.] dafür, P.-M. Bogaert [141] und P. Andrist [247] eher skeptisch, s. auch den kurz vor seinem Tod abgefassten Brief von Th. C. Skeat [10–12]). Anders (und, wie mir scheint, zutreffend) dagegen zuletzt Parker (wie Anm. 77), 21 f. 84 Darauf hat zuerst G. Dagron, Naissance d’une Capitale. Constantinople et ses institutions de 330 à 451, Paris 1974, 19–47 hingewiesen. Vgl. jüngst auch A. Berger, Konstantinopel, die erste christliche Metropole? in: Konstantin und das Christentum, hg. v. H. Schlange-Schöningen (Neue Wege der Forschung), Darmstadt 2007, 204–215. 85 … ȽHȷ ȲȯɅɂȷ ȮȱȵȫȮ ȭȺȫȿHȷ, Jȷ ȶȪȵȳȼȽȫ ȽɄȷ Ƚʹ ąȳȼȴȯȾȷ ȴȫ Ƚȷ ɀȺȼȳȷ ȽN ȽȻ ȴȴȵȱȼɅȫȻ ȵџȭL ʱȷȫȭȴȫɅȫȷ ȯȷȫȳ ȭȳȷѡȼȴȯȳȻ. v.C. 4,36,2 (GCS Eusebius 1,1, 134,9–11 Winkelmann). Es ist nicht einmal sicher, dass Konstantin ausschließlich an biblische Schriften dachte (obwohl Euseb den Ausdruck Ȳȯȫȳ ȭȺȫȿȫ kaum anders verstehen konnte), denn der Kaiser gebraucht das Adjektiv ȲȯȹȻ in geradezu inflationärer
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muss also eine Auswahl getroffen werden, und Konstantin überlässt sie dem großen Gelehrten – was auch sinnvoll ist, denn es wird kaum irgendwo so umfassend wie an der christlichen Bibliothek von Kaisareia das nötige Know-how und die nötigen Textvorlagen gegeben haben. Diese Aussage hätte wenig Sinn, wenn es sich einfach 50mal um das gleiche Buch (feststehenden Inhalts) gehandelt hätte. Man sollte also bei der Heiligen Schrift in der Spätantike nicht automatisch an ein Buch und umgekehrt beim frühchristlichen Buch nicht automatisch an eine (Voll-)Bibel denken. Dennoch ist beides eng miteinander verbunden. Die spätantike Schriftkultur ist eine Buchkultur: Das Buch im Sinne des Kodex ist das neue Leitmedium. Und was das spätantike Buch kulturell ist, sein Profil und seine Gestalt, ist wesentlich vom Kanon der christlichen Bibel geprägt. Um das zu erläutern, komme ich noch einmal auf die Kanontafeln des Euseb zurück. Diese ingeniöse Erfindung macht nicht nur auf meisterliche Weise von den technischen Möglichkeiten des Mediums Buch bzw. Kodex Gebrauch, sondern formte dessen Erscheinungsbild in entscheidender Weise. Wie bereits gesagt, kann sogar die Dekoration des Archetyps bis zu einem gewissen Grad rekonstruiert werden. Das ist möglich, weil es sich mitnichten um schlichte Dekoration im Sinne einer optionalen Zutat handelt; demnach herrscht auch in den (späteren) Handschriften keineswegs Beliebigkeit. Euseb war es vielmehr darum zu tun, dem theologischen Grundgedanken auch künstlerischen Ausdruck zu geben. Denn Kanonizität beruht, so hat Jan Assmann festgestellt, auf zwei Faktoren. Die eine „Wurzel für die Unantastbarkeit des Textes [ist] das Heilige. Die andere ist die Schönheit. … Schön ist, wovon nichts mehr weggenommen, und dem nichts hinzugefügt werden kann.“86 ———— und oft recht unspezifischer Weise (39 Belege allein in der – relativ kurzen – oratio ad sanctum coetum). 86 A. und J. Assmann, Kanon und Zensur als kultursoziologische Kategorien, in: dies. (Hgg.), Kanon und Zensur. Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation II, München 1987, 7–27, hier 12, unter Bezug auf Aristoteles, eth. Nic. II 6 (1106b).
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Vermutlich schon in Eusebs Original, sicher aber in zahllosen späteren Evangelienhandschriften ist dieses nüchterne und eher langweilige Tabellenwerk eines Gelehrten als aufwendige „Inszenierung des Evangeliums“ gestaltet; ja, selbst der Tempietto mit Vorhang, der zu Beginn der Handschrift den Blick freigibt, die Bühne öffnet für den heiligen Text, selbst dieses Detail aus späteren Handschriften dürfte nach begründeter Meinung der Forschung auf Euseb zurückgehen87: Das ist allein deshalb wahrscheinlich, weil ikonographisch ganz ähnliche Darstellungen in höchst unterschiedlichen Sprachräumen erhalten sind: griechisch, lateinisch, armenisch, äthiopisch (Abb. 10). Die Dekoration der Kanontafeln ist der Beginn christlicher Buchmalerei. Eine Zimelie der Berliner Staatsbibliothek aus dem 9. Jahrhundert bietet ein prominentes Beispiel88. Bereits die Bögen über dem Prolog zu den Kanontafeln (einer Art Bedienungsanleitung) sind aufwendig und repräsentativ gestaltet. Im ersten Bogen finden sich Bilder zum Thema Inkarnation: Die Verkündigung an Maria, die Geburt Jesu und zwei weitere Szenen (Abb. 11). Auf der Rückseite folgt die Taufe Jesu, ebenso prächtig in einen Kanonbogen integriert. Für die dritte Seite, die nicht erhalten ist, aber deren Existenz erschlossen werden kann, ist zu vermuten, dass die Kreuzigung dargestellt war. Die Wahl der Bildmotive ist ———— 87 Das hat im Grunde schon Nordenfalk, Kanontafeln (wie Anm. 67), 102–108 gezeigt. Mit weiterem Material vgl. P. A. Underwood, The Fountain of Life in Manuscripts of the Gospels, DOP 5, 1950, 41–138. Beide sind im Blick auf die Deutung eher spekulativ (Grabeskirche bzw. Taufsymbolik) und haben in dieser Hinsicht nicht viel Anklang gefunden (m. E. berechtigte Kritik an Underwood bei Th. Klauser, Das Ciborium in der älteren christlichen Buchmalerei, in: ders., Gesammelte Arbeiten zur Liturgiegeschichte, Kirchengeschichte und christlichen Archäologie, hg. v. E. Dassmann [JbAC. Ergbd. 3], Münster 1974, 314–327 [Erstveröffentlichung NAWG 1961,7]). Den grundsätzlichen Befund (sicher spätantike Ursprünge, vermutlich bereits bei Euseb) muss man aber deshalb nicht in Frage stellen. 88 Streng genommen handelt es sich nur um 4 Blätter, die einem jüngeren Lektionar beigebunden sind (fol. 1, 2, 3, 50 in der Handschrift Ham. 246), vgl. dazu C. de Boor, Verzeichnis der griechischen Handschriften der königlichen Bibliothek zu Berlin, Bd. 2, Berlin 1897, 230 f. sowie Nordenfalk, Kanontafeln (wie Anm. 67), 50 f. (dort auch zur Datierung).
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nicht zufällig: Geburt, Taufe, Tod – auf den ersten drei Seiten des Kodex, als Entree gewissermaßen, wird die eine Geschichte Jesu in Kurzform bildlich erzählt. In vier Evangelien folgt sie dann ausführlich in Textform. Die kurze Bilderfolge verdeutlicht die Einheit des Kanons: das Evangelium in nuce ist bereits hier gegeben. Auch wenn dieses konkrete Bildprogramm sicherlich nicht auf Euseb zurückgeht, liegt es doch in der Logik seiner Intentionen. Es ist im übrigen eine auffällige Beobachtung, dass sich die ältesten narrativen Illustrationen der Evangelien nicht dem Text, sondern dem vorangehenden eusebianischen Apparat anlagern. Diese ältesten erhaltenen Bilder finden sich im Rossano-Kodex und im Rabbula-Evangeliar, beide 6. Jahrhundert89. Ohnehin sollte man den Ausdruck „Illustrationen“ hier nicht in dem Sinn verwenden, dass das Bild dem Text untergeordnet ist, dass es also die primär in Text-Form gemachte Aussage wiederholt und untermalt. Vielmehr formen die Bilderzyklen eine durchaus eigenständige Aussageebene, die Eusebs Evangelien-„Harmonie“ im Zweifel näher steht als dem Text selbst. Mit seiner großartigen Inszenierung des Evangeliums hat Euseb das Medium des Kodex, das begonnen hatte als einfaches Notizbuch und unansehnliche Kladde, geadelt und definitiv in den Rang des Repräsentativen erhoben. Ein nach Eusebs Arbeit sorgfältig gestalteter Evangelienkodex brauchte keinen Vergleich zu scheuen – in jeder Hinsicht: der des Sakralen, des Gelehrten und des Ästhetischen. Obwohl die persönliche Leistung des Euseb sicher hoch zu veranschlagen ist, sollte man sie doch nicht vollends isolieren von seinem Umfeld. Dass Christen schon vor Euseb – in der Schule des Origenes – buchgebundene Texte produziert hatten, wurde bereits gesagt. „Buchgebunden“ soll dabei bedeuten, dass die spezifischen Möglichkeiten des neuen Mediums Kodex genutzt wurden; es sind also Texte, die in anderen Medien nicht oder nicht ohne weiteres lebensfähig sind. Oben war von „Killerapplikationen“ die Rede; solche sind hauptsächlich aus dem christlichen Bereich überliefert, aber sie ———— 89 Vgl. B. Zimmermann, Art. Illustration, in: RAC 17, Stuttgart 1996, 953–994, bes. 987–989.
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sind keineswegs darauf beschränkt. Es ist wichtig sich deutlich zu machen, dass einige der prominentesten Beispiele mit Christentum nicht oder nicht viel zu tun hatten. Der Kodex als „Gesamtkunstwerk“ ist ein typisch spätantikes, nicht primär ein typisch christliches Phänomen. Eines der intrikatesten Buchkunstwerke der konstantinischen Ära stammt von dem leitendenden Verwaltungsbeamten Porfyrius Optatianus. Er hat Kaiser Konstantin im Jahr 325 einen prächtigen Kodex dediziert, bei dem auf je einer Seite ein hochkomplexes lateinisches Gedicht geschrieben war: zumeist ein Buchstabenquadrat, das in mehreren Ebenen gelesen werden konnte und bei dem der Text selbst – also die graphische Anordnung der Buchstaben – zum Bild wurde, und umgekehrt diese Bildmotive erneut Buchstaben bilden konnten (Abb. 13)90. Obgleich dabei auch christliche Motive und Symbole auftauchen, ist der Verfasser allenfalls sensu latissimo als Christ zu bezeichnen (vermutlich nicht einmal dies). Die Gedichte sind von vornherein konzipiert für die rechteckigen Seiten eines Kodex. Die ästhetische Wirkung ist Teil des Konzepts. Ein anderes prominentes Beispiel – nicht zufällig ebenfalls aus dem 4. Jahrhundert – ist ein Kalender mit zugleich administrativer und repräsentativer Funktion. Vermutlich handelt es sich um ein überaus aufwendiges und kostbares Geschenk zum Amtsantritt der neuen Konsuln am 1. Januar 354. Das spätantike Original ist nicht erhalten, ja selbst eine getreue Kopie aus karo———— 90 Die Texte sind trotz (oder gerade wegen?) ihrer Komplexität relativ zuverlässig überliefert. Der anspruchsvollen Aufgabe einer kritischen Edition hat sich Giovanni Polara, Publilii Optatiani Porfyrii Carmina. 2 Bde., Turin 1973 gestellt. Der Text ist erneut abgedruckt und mit einer weiterführenden Einleitung sowie einer italienischen Übersetzung versehen von dems., Carmi di Publilio Optaziano Porfirio, Turin 2004. Ansonsten fehlt es beinahe komplett an Forschungsliteratur zu diesem auch historisch sehr wichtigen Autor. Eine Monographie mit historischem und philologischem Kommentar bereitet Johannes Wienand (Düsseldorf) vor, vgl. einstweilen seinen Beitrag Framing the Christian Ruler. Optatianus’ Panegyrical carmina and the Court of Constantine the Great, in: Costantino prima e dopo Costantino. Constantine before and after Constantine, hg. v. G. Bonamente/N.Lenski/R. Lizzi, Bari 2013 (im Druck).
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lingischer Zeit kann nur indirekt (aufgrund von frühneuzeitlichen Abschriften) erschlossen werden. Doch ist die Überlieferung ausreichend, um deutlich zu machen, dass der konventionell-wissenschaftliche Name „Chronograph von 354“ eine viel zu bescheidene, wenn nicht geradezu irreführende Vorstellung vermittelt91. Insbesondere die Anfangsteile des prächtigen Kodex waren künstlerisch sehr anspruchsvoll gestaltet. Die nüchternen Kalendertabellen (Stunden der Wochentage, Tage der Monate) setzen einen Überschuss von ästhetischer und semantischer Energie frei, die zu künstlerisch aufwendiger Dekoration des Tafelwerkes führte. Die (paganen) Götter der Wochentagsnamen werden dabei leibhaftig vor Augen geführt, integriert in die Architektur der KatalogListen (Abb. 14). In den Fasti stehen sich auf je einer Doppelseite des Kodex eine bildliche Darstellung des Monats und die tabellarische Aufreihung der Tage und ihrer Feste gegenüber – auch hier die eine wie die andere Seite umgeben von einer architektonischen Struktur, die derjenigen der Kanontafeln durchaus verwandt ist92. Dieser kostbare Kalender hat einen bemerkenswerten Doppelcharakter in einer Zeit des Übergangs: während die genannten repräsentativen Teile astrologisch-pagane Züge tragen (und mit Christentum eigentlich nicht gut vereinbar wären), finden sich weiter hinten im gleichen Buch auch eindeutig christliche Materialien93. ———— 91 Das Standardwerk dazu ist weiterhin H. Stern, Le calendrier de 354. Étude sur son texte et ses illustrations (BAHI 55), Paris 1953, zur Überlieferung 14–31, zur Interpretation als Geschenk zum 1. Januar 305 f. Für die Abschriften vom (verlorenen) Exemplar des Gelehrten Nicolas-Claude Fabri de Peiresc (1580–1637) vgl. M. Braesel, Buchmalerei in der Kunstgeschichte. Zur Rezeption in England, Frankreich und Italien (Studien zur Kunst 14), Köln 2009, 88–90. 92 Abb. bei Stern (wie vorige Anm.), Planches IX–XIII. Zum Vergleich mit den Kanontafeln ebd. 310 f. M. R. Salzman, On Roman Time. The Codex-calendar of 354 and the Rhythms of Urban Life in Late Antiquity, Berkeley 1990, 63–115 hebt den spezifisch römischen Charakter der Monatsdarstellungen hervor. 93 Vgl. W. Wischmeyer, Die christlichen Texte im sogenannten FilocalusKalender, in: Textsorten und Textkritik. Tagungsbeiträge, hg. v. A Primmer/K. Smolak/D. Weber (SÖAW.PH 693), Wien 2002, 45–57.
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In der gleichen Zeit entstehen auch erste narrative Buchillustrationen im nichtchristlichen Bereich. Nicht nur die Bibel, sondern auch Homer und Vergil wurden in prächtigen Kodizes illustriert und kostbar ausgestaltet94. Mit Recht hat Barbara Zimmermann auf den innovativen Charakter dieser Kunstwerke hingewiesen. Wenn die ältere Forschung mitunter auf geradezu „stemmatische“ Weise aus den erhaltenen spätantiken Bildzeugnissen in Kodizes deren ikonographische Vorläufer in Rollen zu extrapolieren suchte95, ist sie einem methodischen Irrtum aufgesessen. Vielmehr entstand „mit dem Codex als akzeptierter Buchform … in der Spätantike ein neuer Kunstzweig: die malerische Ausstattung von Büchern für ein reiches Publikum. Gleichzeitig mit den ersten Prachtausgaben der wissenschaftlichen Bücher wird auch die narrative Buchillustration ihren Anfang genommen haben.“96 Die christliche Heilige Schrift partizipiert an dieser Tendenz, sie bringt sie nicht erst hervor. Auch die folgende Feststellung ist daher wahr: „Die meisten Entwicklungen in der spätantiken Kunst sind nicht konfessionell gebunden, und dies wird auch für die Buchmalerei zutreffen.“97 Gleichwohl kann man nicht bestreiten, dass wesentliche Neuerungen der Buchkultur von christlichen Gelehrten ausgegangen sind, allen voran von Euseb von Kaisareia, dem „Christian impresario of the codex“98. Nicht allen Christen mag die neue Tendenz recht gewesen sein; wir finden gelegentlich auch Polemik gegen die Mode übertriebener Pracht-
———— 94 Vgl. Zimmermann (wie Anm. 89), 975–979. 95 V. a. K. Weitzmann, Illustrations in Roll and Codex. A Study of the Origin and Method of Text Illustration (Studies in Manuscript Illumination 2), Princeton 1947, 3–11; ders., Ancient Book Illumination (Martin Classical Lectures 16), Cambridge, MA 1959, bes. 31–62. 96 B. Zimmermann, Die Codexillustration als neuer Kunstzweig – Spiegel einer geänderten Funktion des Buches in der Spätantike, in: The Use of Sacred Books in the Ancient World, hg. v. L. V. Rutgers/P. W. van der Horst/H. W. Havelaar/L. Teugels (Contributions to Biblical Exegesis and Theology 22), Leuven 1998, 263–285, hier 285. 97 Zimmermann ebd. 98 S. oben Anm. 5.
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entfaltung in der Buchkultur99. Zur Vorsicht mahnt auch die Beobachtung, dass christliche Artefakte in den nachfolgenden Jahrhunderten natürlich die besseren Überlebenschancen gehabt haben. Auch dies mag ein Grund dafür sein, dass heute der Eindruck entsteht, die Neuerung sei wesentlich christlich geprägt. Dennoch ist nicht zu bestreiten, dass die Entwicklung von christlichen Intellektuellen und Künstlern nicht nur nolens volens mitvollzogen, sondern wesentlich vorangetrieben und gestaltet worden ist. In diesem Prozess formte sich das christliche Buch als Gesamtkunstwerk; das betraf nicht nur die Bibel, aber sie doch an erster Stelle: die Bibel nicht als ein Buch, aber als ein Buch. Ein letzter Aspekt ist zu bedenken, ein weiterer innovativer Aspekt der spätantiken Buchkultur und -kunst: die Einbände. Während die Rolle buchstäblich ganz in sich gekehrt ist, wendet sich der Kodex nach außen, wendet er eine Schauseite dem Betrachter zu, genauer: zwei, nämlich die Vorder- und die Rückseite. Es sind gewissermaßen die erste und die letzte Seite des Buches, die nun aus praktischen Gründen nach Schutz und aus ästhetischen Gründen nach Schmuck geradezu verlangen. Mit großer künstlerischer Energie wurden diese Buchdeckel gestaltet. Ein ganz neuer Kunstzweig entwickelte sich; kostbarste Exemplare – aus Elfenbein, mit Silber und mit Gold beschlagen – haben sich erhalten100. Es ist kein Zufall, dass christliche Heilige Schriften in ihrem Einband Verwandtschaft mit den Kanonbögen aufweisen können. Das ist etwa der Fall bei einem prächtigen Evangeliar aus dem großen Schatz von Sion aus Syrien (Abb. 12)101. Die ———— 99 Um je eine Stimme aus dem Osten und dem Westen zu nennen: Johannes Chrysostomos, hom. in Io. 32,3 (PG 59,187) und Hieronymus, ep. 107,12,1 (CSEL 55, 302,16–18 Hilberg). 100 Mit den Worten von Birt (wie Anm. 14), 37: „Der Deckel des Codex wurde mit Edelsteinen besetzt. … Dieser glänzende Ungeschmack hat die Buchrolle nie behelligt. Schlank, schlicht und vornehm ging sie durchs Leben.“ Unabhängig vom (Un-)Geschmack hat J. Lowden, The Word Made Visible. The Exterior of the Early Christian Book as Visual Argument, in: The Early Christian Book, hg. v. W. E. Klingshirn/L. Safran, Washington 2007, 13–47 eine ausgezeichnete und umfassende Untersuchung über Einbände christlicher Bücher vorgelegt. 101 Man halte diesen silberbeschlagenen Buchdeckel etwa neben die Kanonbögen der Berliner Handschrift (Abb. 11). Vgl. zu dem Objekt
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„Inszenierung des Evangeliums“ drängte förmlich nach außen. Das Evangelium war nicht mehr nur gute Botschaft, sondern auch schönes Objekt. Um noch einmal auf den Kanonbegriff zurückzukommen: diesem neuen „kanonischen“ Buch des Christentums eignet gerade als Gesamtkunstwerk etwas Sakral-Normatives. Die Kanontafeln des Euseb, die Inhaltsverzeichnisse und Pinakes, die Kapiteleinteilungen und – last, but not least – eben auch Einband und Illustrationen haben durchaus auch eine stabilisierende und sichernde Funktion. Sie tragen zu einer Aura der Unveränderbarkeit und Unberührbarkeit des Textes bei. In diesem Sinne ist der Kanon als Liste, als abgeschlossene und harmonische KatalogListe keineswegs nur formale Beschreibekategorie, sondern er hat auch autoritative und normative Kraft. Die beiden Wortbedeutungen von ȴȫȷ@ȷ als „Liste“ und als „Regel“ kommen sich hier sehr nahe. Insofern sollte man sich in der Debatte vor künstlichen Alternativen hüten.
5. Performative Valenz des Buches Das spätantike Buch gewinnt damit eine Bedeutungstiefe, die über die Funktion des Schreibens und Lesens weit hinausgeht. Es ist mehr als Textträger. Es gibt einen Überschuss an Sinn, an Aufwand, an medialer Wirkung, die den enthaltenen und tradierten Text transzendiert und sich nicht im Lesen erschöpft. Das Buch enthält nicht nur Zeichen, sondern es wird selbst zum Zeichen. Im Übergang zum Mittelalter wird der Unterschied auch ikonographisch deutlich: Armando Petrucci hat zu zeigen versucht, wie das offene Buch der Antike, das Buch, in dem geschrieben und gelesen wird, im frühen Mittelalter zum geschlossenen Buch übergeht, zum Buch, das seinen Wert und seine Wirkung auch dann entfaltet, wenn sein Text gar nicht zur Geltung kommt. Das Buch zum Schreiben und Lesen wird zum Buch als Monument ———— Lowden (wie vorige Anm.), 29; dass es sich um ein Evangeliar handelte, ist nicht sicher, aber angesichts der Dimensionen und der Ikonographie doch recht wahrscheinlich.
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und Objekt102. Im streng kunsthistorischen Sinn ist diese These vielleicht ein bisschen zu schön, um ganz wahr zu sein, aber ganz falsch ist sie auch nicht. Vielleicht muss das frühmittelalterliche Buch nicht unbedingt geschlossen sein, um zu wirken, es bleibt ja nach wie vor Textträger, aber es kann jedenfalls so sein: Anders als bei der Einführung des Kodex geht nun der Anteil des Lesepublikums in der Gesellschaft zurück, und dennoch bleibt das Buch das wesentliche Leitmedium. Und es hat auch als geschlossenes eine Funktion und Bedeutung. Diese Entwicklung setzt bereits in der Spätantike ein, und man sollte sie nicht ausschließlich als ein Dekadenzphänomen deuten, etwa mit den Epitheta „magisch“ oder „Volksfrömmigkeit“ versehen. Gewiss finden sich Beispiele, wo dies angebracht sein mag: das Tragen von Kodizes im Miniaturformat als Amulett, das Schwören auf das (geschlossene) Evangelienbuch, die apotropäische Funktion zur Abwehr von Dämonen103. Solche Fälle finden mitunter die Missbilligung der Bischöfe und Theologen104. Indes findet das Buch als Objekt auch seine Rolle im institutionalisierten, gleichsam „offiziellen“ Leben der Kirche. Es wird nicht nur gelesen, sondern auch feierlich in liturgischer Prozession in die Kirche getragen. Aufgeschlagen wird es nicht nur zur Lektüre, sondern auch zur Verehrung durch Verneigung und Kuss105. Besonders sinnenfällig ist die Rolle und Bedeutung des Evangeliums bei der Synode der Kyrill-Partei in Ephesos 431 (die später als „ökumenisches Konzil“ rezipiert wurde); man kam zusammen, wobei „das heilige Evangelium in der Mitte auf dem Thron lag und den unter uns anwesenden Christus selbst vor ———— 102 A. Petrucci, La concezione cristiana del libro fra VI e VII secolo, in: Libri e lettori nel Medioevo, Guida storica e critica, hg. v. G. Cavallo, Bari 1977 (= Bari 1989), 3–25, hier 17. 103 Vgl. hierzu (mit Belegen und weiteren Beispielen) und zum Folgenden C. Rapp, Holy Texts, Holy Men, Holy Scribes. Aspects of Scriptural Holiness in Late Antiquity, in: The Early Christian Book, hg. v. W. E. Klingshirn/L. Safran, Washington 2007, 194–222, bes. 201 f. (Amulette), 197 (Schwören), 199 f. (apotropäische Funktion). 104 Etwa Johannes Chrysostomos, hom. ad pop. Anioch. 19,4 (PG 49,196); hom. in Mt. 72,2 (PG 58,669). 105 Vgl. Rapp (wie Anm. 103), 198.
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Augen stellte“106. Diese starke Geste – obgleich zunächst wohl eher als Verlegenheitslösung entstanden – setzte sich durch und wurde bei folgenden Synoden wiederholt (bis hin zum zweiten Vatikanischen Konzil im 20. Jahrhundert). Beim zweiten Konzil von Nikaia 787 wurde sogar feierlich festgelegt, dass das Evangeliar mit Kerzen und Weihrauch verehrt werden solle – ebenso wie Ikonen und das Kreuz107. Auch dem Buch eignet ein Verweischarakter – die Verehrung geht vom Abbild auf das Urbild über –, der über die Textfunktion weit hinausgeht. Mitunter wird diese performative Valenz narrativ farbig ausgestaltet, eben tatsächlich im Sinne einer „Performance“. Die Kraft des Kodex erweist sich besonders in der Missionssituation, in der Konfrontation mit den „Anderen“. Das ist etwa der Fall, wenn ein Erzbischof bei der Bekehrung der Kiever Rus ein Evangeliar ostentativ ins Feuer wirft und danach wieder unbeschädigt daraus hervorzieht108. Im Extremfall kann der Kodex auch als Waffe dienen, zumindest als Verteidigungswaffe. Der Heilige Bonifatius soll sich mit dem Evangelienbuch gegen die tätlichen Angriffe der „Heiden“ zu schützen versucht haben. Der Kodex, mit dem dies angeblich geschah, wird bis heute in Fulda aufbewahrt, man sieht die Schnitte im Buchblock, die tatsächlich auf eine extrem gewalttätige Krafteinwirkung zurückgehen müssen (Abb. 2). Genützt hat es Bonifaz nicht: er starb bekanntlich dennoch vom Schwert der ungläubigen und gewaltbereiten Friesen. Gleichwohl – und das ist die Pointe der Heiligenlegende an dieser Stelle – vermochte dieses Schwert dem Text selbst nichts anzuha-
———— 106 ACO 1,1,3, 4,6 Schwartz (aus dem Begleitschreiben zu den Konzilsakten an die Kaiser), s. auch den Brief Kyrills, ACO 1,1,3, 83,24. Das gewählte Arrangement sollte – in Abwesenheit des Kaisers bzw. seines Delegaten – die delikate Frage des Konzilsvorsitzes auf elegante Weise lösen. Vgl. allgemein zu dem Motiv R. de Maio, The Book of the Gospels at the Ecumenical Councils, Rom 1963, hier 10. 107 Vgl. J. B. Uphus, Der Horos des Zweiten Konzils von Nizäa 787. Interpretation und Kommentar auf der Grundlage der Konzilsakten mit besonderer Berücksichtigung der Bilderfrage (Konziliengeschichte B), Paderborn 2004, 8,16–18 (Text) und 322–334 (Kommentar). 108 Theophanes continuatus 5,97 (CSHB 33, 344,4–8 Bekker).
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ben. Er wurde nur oben etwas eingeritzt, blieb aber intakt und lesbar109. Auf der Ebene theologischer Deutung konnte also einerseits dem Heiligen die Palme des Martyriums zuteil werden, andererseits das Evangelium als solches unbesiegt, ja unbesiegbar bleiben. Man kann im Prozess des literarischen Wachstums der Legende noch schön nachverfolgen, wie diese Deutung nach und nach entstand und wuchs (ohne viel Rücksicht auf den wahrscheinlichen historischen Kern der Ereignisse)110: Sie überzeugte nicht zuletzt deshalb, weil sie symbolisch das Heidentum auf das Schwert und das Christentum auf das Buch hin verdichtete. In dieser Kurzform wurden die beiden Symbole Standardepitheta der Bonifatiusdarstellung für viele Jahrhunderte. Ein weiteres Beispiel für die performative Bedeutung von Texten im Buch stammt aus dem christlichen Osten und ist theologisch von grösserem Interesse als die etwas martialische Bonifatiuslegende. Es geht um Armenien. Wenn überhaupt der Ausdruck Buchreligion, ja mehr noch: Buchfrömmigkeit im Christentum einen Sinn haben soll, dann dort111. Wahrscheinlich erklärt sich die besondere Affinität mancher protestantischer Theologen zur armenischen Tradition durch diese spezifische Bindung ans Buch, an das Wort Gottes gerade in seiner Buchgestalt. Diese Bindung hat ein gewaltiges Patrimonium an kostbaren Kodizes mit herrlicher künstlerischer Ausgestaltung hervorgebracht. Ähnlich wie ———— 109 Vgl. M.-A. Aris, „Der Trost der Bücher“. Bonifatius und seine Bibliothek, in: Bonifatius. Vom angelsächsischen Missionar zum Apostel der Deutschen, hg. v. M. Imhof/G. K. Stasch, Petersberg 2004, 95–110, bes. 104–109. Es tut der Wirkung der Legende wenig Abbruch, dass sie nicht recht zum Befund des Kodex passen will: Erstens kann die Art der Beschädigung des Buches kaum durch eine tätliche Auseinandersetzung der geschilderten Art hervorgerufen sein, und zweitens handelt es sich keineswegs um ein Evangeliar (sondern um eine heterogene Sammlung von theologischen Texten, möglicherweise eine Art Handbuch für den Missionar). 110 Vgl. M.-A. Aris, Erzähltes Sterben. Der Tod des Bonifatius im Spiegel der Bonifatiusviten, in: Bonifatius. Vom angelsächsischen Missionar zum Apostel der Deutschen, hg. v. M. Imhof/G. K. Stasch, Petersberg 2004, 111–126, hier 118–125. Die „Vollform“ im oben beschriebenen Sinne ist erst in der Vita des Otloh von St. Emmeram (Mitte 11. Jh.) erreicht. 111 Vgl. V. Nersessian, The Bible in the Armenian Tradition, London 2001.
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bei russischen Ikonen läuft diese Wahrnehmung aber Gefahr, ein Phänomen aufs Ästhetische zu verkürzen, das doch in erster Linie nicht künstlerisch, sondern theologisch verstanden werden will. Es ist nicht verkehrt, von einer regelrechten Theologie des Buches in der armenischen Tradition zu sprechen. Man muss sich dazu primär den (teilweise sehr ausführlichen) Kolophonen zuwenden, also den Schreiber-, Stifter- und Besitzernotizen am Schluss112. Diese Kolophone haben eine für den westlichen Wissenschaftler überaus sympathische Eigenart, und sie sind hauptsächlich aus diesem Grunde immer wahrgenommen und geschätzt worden: Sie datieren mit buchhalterischer Präzision. Armenische Kodizes lassen sich meist aufs Jahr genau, manchmal sogar auf den Tag genau datieren, und zwar nicht nur im Blick auf die Herstellung, sondern für viele Etappen ihrer oft wechselvollen Geschichte113. Indessen geben die Kolophone mehr her als derart technische Informationen. Sie sprechen von den Wünschen und Gebeten, die die Menschen mit dem Buch verbanden. Und sie geben theologische Deutungen. Ein wunderbarer Text dieser Art hat sich im Lemberger Evangeliar erhalten, einer prächtigen Handschrift des 12. Jahrhunderts mit einer aufregenden Fund- und Forschungsgeschichte in jüngster Zeit114. Der Stifter gibt ausführlich Rechenschaft über die Motive seiner Stiftung. Er beklagt, nicht mehr in der Zeit der Verfolgungen zu leben, also nicht mehr das Martyrium für Christus auf sich nehmen zu können: „Nun da ich so bin, bin ich auf böse Tage und eine Zeit getroffen, besonders auf meinen höllischen und widerspenstigen Leib. Ich hatte nicht das Vermögen, durch Kreuz und Leiden die Gebote des Erlösers zu erfüllen. Und unteilhaftig zu sein [am Kreuz und Leiden Christi], ———— 112 Als erste Einführung kann M. E. Stone, Colophons in Armenian Manuscripts, in: ders., Apocrypha, Pseudepigrapha and Armenian Studies. Collected Papers, Bd. 2, Leuven 2006, 477–485 (Erstveröffentlichung 1995) gelesen werden. 113 Ein spektakuläres Beispiel ist das Glajor-Evangeliar, das in nicht weniger als 19 Einträgen aus dem 14. bis 20. Jahrhundert seine eigene Geschichte dokumentiert, vgl. Th. F. Mathews/A. K. Sanjian, Armenian Gospel Iconography. The Tradition of the Glajor Gospel (DOS 29), Washington 1991, die Texte 189–193. 114 Vgl. A. Schmidt, L’Evangile de Lemberg. Un itinéraire rocambolesque, in: Arménie. La magie de l’écrit, hg. v. C. Mutafian, Marseille 2007, 260–263.
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ist eine außergewöhnliche und übergroße Strafe. Doch ich bin gemäß der Liebe und den Werken desselben getröstet worden, welcher das WORT war und sich [durch die Inkarnation materiell] verdichtet hat und unseretwegen Leib geworden ist, den wir angenommen und berührt und genossen haben, und dessen Zeichen [des Kreuzes] und lebendigmachendes Brot wir bis zu seiner [zweiten] Ankunft haben. Desgleichen habe auch ich die Worte dessen, der Geist ist und Leben, in einen Leib gewandelt, nachdem ich unter Mühen nach Zypern gesegelt bin und [Schreib-]Material gefunden habe. Denn unersättlich möchte ich genießen mit Freude durch der Hände Berührung, durch Küsse, und an Gedanken und an Geist [möchte ich] von dem Wort wieder lebendig werden.“115 Es folgt ein Lobpreis des beauftragten Schreibers, der in der Lage war, dem Anliegen handwerklich und künstlerisch so herrlichen Ausdruck zu geben. Wenn schon in Bezug auf die spätantiken Bibelhandschriften von einem Überschuss an Sinn, an Aufwand, an medialer Wirkung die Rede war, so verdichtet sich dieser Überschuss hier in einer regelrechten Inkarnationstheologie: das Buch ist Leib Christi, in ihm wird die Fleischwerdung des Wortes nachvollzogen, zur Darstellung gebracht, ganz buchstäblich: re-präsentiert, also wieder in die Gegenwart geholt. Jetzt kann Jesus wieder leiblich genossen werden, mit Händen berührt, mit Küssen verehrt werden. Die ganz konkrete Körperlichkeit realisiert sich im Kodex. Dieser ist dabei beides zugleich: Objekt des Studiums und der Verehrung, Träger des Textes und Träger der Gottheit. Wenn überhaupt irgendwo, wäre hier die Rede von einer regelrechten „Inlibration“ angemessen, und zwar nicht in Kontrast zur oder Überhöhung der Inkarnation, sondern als eine spezifische Realisationsform. Ebenso wie etwa im lateinischen Westen die Inkarnation zu einem – teilweise drastisch ausgeführten – Interpretament der Eucharistie wurde (man denke etwa an die blut-tropfende Hostie beim Wunder von Bolsena), konnte sie im armenischen Bereich zu einem Interpretament des Kodex selbst werden. ———— 115 A. Schmidt, Die Kolophone des Lemberger Evangeliars, in: Das Lemberger Evangeliar. Eine wiederentdeckte armenische Bilderhandschrift des 12. Jahrhunderts, hg. v. G. Prinzing/A. Schmidt (Sprachen und Kulturen des christlichen Orients 2), Wiesbaden 1997, 93–110, hier 101.
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6. Ausblick: Kodex und Koran Das Kunstwort „Inlibration“ ist indes nicht zur Beschreibung der armenischen Buchtradition und -theologie in die Debatte eingeführt worden, sondern im Kontext des Islam – und auf diesen sei abschließend kurz eingegangen, weil das spätantike Buch zum Verständnis seiner Genese einen wichtigen Beitrag leistet, er insofern durchaus noch zum Thema im engen Sinne gehört116. Umgekehrt wirft die Frühgeschichte des Islam, insbesondere die Schriftwerdung des Koran, nochmals in neuer Weise Licht auf die besprochenen Prozesse der Kanonisierung, Sakralisierung und performativen Valenz des Buches. Der Ausdruck „Inlibration“ ist von dem Philosophen Harry Austryn Wolfson eingeführt worden117. Obgleich einige Suggestivkraft davon ausgeht und der Ausdruck demnach bis heute – vor allem in eher populären Darstellungen – immer wieder verwendet wird, hat er unter Islamwissenschaftlern westlicher wie östlicher Provenienz nur ein begrenztes Maß von Begeisterung ausgelöst118. Das ist verständlich, denn er dient fast unvermeidlich zur typologischen Beschreibung, um nicht zu sagen: Gegenüberstellung von islamischen und christlichen Traditionen. Die islamische Inlibration erscheint als Gegenkonzept zur christlichen Inkarnation, oder zugespitzt formuliert: Was dem Christentum (die Person) „Christus“ ist, ist dem Islam das (Objekt) „Buch“. Damit hat der Begriff von Anfang an (obwohl das Wolfsons Intention sicherlich nicht war) ein mehr oder minder explizit kontroverstheologisches Potenzial. Versucht man von diesem Aspekt einmal abzusehen, hat der Begriff auch sachlich einige Probleme. Die Ineinssetzung von Wort Gottes und Buch (speziell: Koran) ist nicht Teil früher isla-
———— 116 Die folgenden Ausführungen sind teilweise dem anregenden Ansatz von A. Neuwirth, Der Koran als Text der Spätantike. Ein europäischer Zugang, Berlin 2010 verpflichtet. 117 H. A. Wolfson, The Philosophy of the Kalam, Cambridge MA 1976, 244–263. 118 Vgl. die Diskussion bei Neuwirth (wie Anm. 116), 163–168.
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mischer Theologie119. Die Erinnerung an die Etymologie des Wortes ist stets lebendig geblieben: qur’aˉn bezeichnet die Rezitation (von dem Verb qara’a) oder Lesung (von syrisch qeryaˉnaˉ), insofern also gerade die mündliche Sprachgestalt des Wortes, und zwar durchaus im Gegensatz zu Schrift/Buch (kitaˉb)120. Es ist geläufige Ansicht, dass der Koran gleichwohl diese letztgenannte Kategorie für sich in Anspruch nimmt, doch lohnt sich ein zweiter und genauerer Blick auf diese Frage. In expliziter Weise ist die Selbstbezeichnung als „Buch (kitaˉb)“ im Koran jedenfalls nur marginal bezeugt – ganz wörtlich verstanden: Am Rande des überlieferten Textes, nämlich als Teil seiner redaktionellen Rahmung taucht das Motiv einmal auf, allerdings in prominenter Stellung121. Auf die Kernfrage, was denn Schrift sei und wo der Koran davon spricht, ist gleich noch einmal ausführlicher zurückzukommen. Will man der Rede von der Inlibration ein Wahrheitsmoment zubilligen, so ist es vor allem dies: Sie weist auf die von Anfang an enorme Bedeutung des Themas Buch/Schrift bei der Genese des Islam. Die sakrale Qualität nicht nur des Wortes Gottes, nicht nur des ewigen logos, sondern auch ganz konkret seiner Realisierungsformen im Medium der Schrift und des Buches ist vorausgesetzt. Mit anderen Worten: das ist die religiös-kulturelle Luft, die ———— 119 Erst als Resultat der Diskussion über die Erschaffenheit des Korans bzw. im Zuge der Ablehnung dieser Auffassung ab dem 9. Jh. trat die Auffassung von der Präexistenz und Ewigkeit des Korans stärker in den Vordergrund, vgl. R. C. Martin, Art. Createdness of the Qur’aˉn, in: Encyclopaedia of the Qur’aˉn 1, Leiden 2001, 467–472. 120 Vgl. J. D. Pearson, Art. al-K.ur’aˉn, in: EI2 5, Leiden 1986, 400–432, hier 400 f. zur Etymologie und Neuwirth (wie Anm. 116), 142–145 zur Deutung. 121 Nach Sure 1 („Die eröffnende“) beginnt der eigentliche Text mit dem Prolog Q 2,2–5: „Dies ist die Schrift (kitaˉb), in der kein Zweifel ist, sie ist Geleit für Gottesfürchtige“, gefolgt von einem Katalog der islamischen Grundpflichten. – Der Koran wird im Folgenden zitiert nach der Übersetzung von H. Bobzin (Der Koran, München 2010), teilweise unter Verwendung von Alternativen, wie sie in den Erläuterungen diskutiert werden. Vgl. zudem die Übersetzung von R. Paret, Der Koran, Stuttgart 21979. Großartige Erschließungsarbeit des Textes wird im Corpus Coranicum (Projekt der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften) geleistet. Die Seite koran.bbaw.de ist immer mit zu konsultieren.
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bereits Mohammed atmete, erst recht die Gelehrten der frühen Generationen, unter deren Händen der Koran Gestalt annahm. Unter diesem Aspekt wird die eingangs (S. 1) gemachte Aussage, Mohammed habe die „Leute der Schrift“ in Außenperspektive so genannt, zumindest partiell problematisch. Sie ist richtig, insofern der Prophet selbst nicht im technischen Sinne Christ oder Jude war. Sie ist irreführend, insofern sein eigenes Denken die jüdischchristliche Schriftkultur voraussetzt und sie als Deutekontext erkennbar lässt. Tatsächlich zeigt gerade der vermutlich älteste Beleg des Ausdrucks, dass in Wahrheit eine Diskursgemeinschaft vorliegt: „Streitet mit den Leuten der Schrift nur auf schöne Art“ (Q 29,46), gefolgt von einem Bekenntnis zur gemeinsamen Offenbarung und zu dem einen Gott („Unser und euer Gott sind einer“). Die ganze Entstehungsgeschichte des Islam ist durchzogen von der Reflexion auf die Medialitäten des Textes: Buch, Schrift, Lesung – wobei Judentum und Christentum in Anknüpfung und Abstoßung stets präsent sind. Der Koran als Schrift weist ein viel höheres Maß an Selbstreferenzialität auf als die Bibel122. Die medienhistorische Grundkonstellation, von der dabei auszugehen ist, ist folgende: Einerseits legt die frühe islamische Überlieferung, gewissermaßen der „Gründungsmythos“ des Islam, Wert darauf, dass die eigentliche Schriftwerdung des Koran erst nach dem Tod des Propheten erfolgt ist, dass also der Mündlichkeitscharakter der empfangenen Offenbarung zu seinen Lebzeiten gewahrt bleibt. Diese Auffassung wird noch verstärkt durch die Betonung der Illiteralität des Propheten123. Zum Zeitpunkt seines Todes ———— 122 Vgl. den Band Self-Referentiality in the Qur’aˉn, hg. v. St. Wild (Diskurse der Arabistik 11), Wiesbaden 2006 mit mehreren relevanten Beiträgen; besonders hingewiesen sei auf die ausführliche Einleitung des Herausgebers („Why Self-Referentiality?“, 1–23) sowie auf N. Sinai, Qur’aˉnic Self-Referentiality as a Strategy of Self-Authorization, 103–134. 123 Diese Behauptung wie auch ihr Gegenteil finden sich in der Tradition, in beiden Fällen offensichtlich interessegeleitet, vgl. Th. Nöldeke/ F. Schwally, Geschichte des Qoraˉns, Bd. 1. Über den Ursprung des Qoraˉns, Leipzig 21909, 12–17. Im vorliegenden Zusammenhang kommt es weniger auf die historische Entscheidung zwischen beiden Auffassungen an, sondern mehr auf die jeweils damit verbundenen Aussageabsichten, vgl. S. Günther, Muh.ammad, the Illiterate Prophet. An Islamic Creed in the Qur’an and Qur’anic Exegesis, Journal of
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seien die Äusserungen Mohammeds allenfalls verstreut und in sehr unterschiedlichen Medien verschriftet gewesen: auf Palmstengeln, Steinen, Schulterknochen, Lederstückchen und Brettchen124. Wie immer man diese Aussagen historisch deuten und welchen Wert man ihnen zubilligen will: der Sinn der Behauptung liegt offensichtlich darin, dass die koranischen Texte – in welchem Medium auch immer sie sich befanden – eben gerade nicht „Buch“ waren. Die Überlieferung legt Wert darauf, dass die Sammlung der Texte zum Buch Resultat der zweiten Generation ist: in einem ersten Schritt unter dem ersten Kalifen Abuˉ Bakr (632–634), sodann zu dem verbindlichen Endprodukt unter ‘Uthmaˉn (644–656)125. Es ist übrigens nicht überflüssig darauf hinzuweisen, dass in diesem Prozess Zaid ibn Thaˉbit, ein Schreiber Mohammeds, die entscheidende Rolle spielte, der selbst in der jüdischen Schriftkultur aufgewachsen war126. Andererseits fehlt es im Koran nicht an Texten, in denen sich das Wort kitaˉb (Buch, Schrift) prima facie auf das eigene Unternehmen bezieht – und in islamischer Exegese auch zumeist so gedeutet wird. So heißt es im direkten Anschluss an die soeben zitierte Stelle über die „Leute der Schrift“: „Also sandten wir die Schrift [als Offenbarung] auf dich herab.“ (Q 29,47) Immer wieder erscheint kitaˉb als Gegenstand der Offenbarung, deren Mohammed gewürdigt wurde127. ———— 124
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Qur’anic Studies 4, 2002, 1–16; ders., Art. Illiteracy, in: Encyclopaedia of the Qur’aˉn 2, Leiden 2002, 492–498. Mit Quellenbelegen bei Th. Nöldeke/F. Schwally, Geschichte des Qoraˉns, Bd. 2. Die Sammlung des Qoraˉns, Leipzig 21919, 13. Wichtig ist noch der zusätzliche Hinweis von G. Schoeler, Schreiben und Veröffentlichen. Zu Verwendung und Funktion der Schrift in den ersten islamischen Jahrhunderten, Der Islam 69, 1992, 1–43, hier 21, dass in einigen Versionen auch von Blättern/Seiten (s.uh . uf) die Rede ist. Man kann darin eine Art Vorform der späteren Kodizes erblicken. Nöldeke/Schwally (wie vorige Anm.), 11–15 und 47–50. Vgl. M. Lecker, Zayd b. Thabit, “a Jew with two sidelocks”. Judaism and Literacy in Pre-Islamic Medina (Yathrib), Journal of Near Eastern Studies 56, 1997, 259–273. Die klassische Studie dazu ist A. Jeffery, The Qur’aˉn as Scripture, New York 1952, bes. 69–87.
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Offensichtlich besteht zwischen beiden Aspekten des Koran eine Spannung: prinzipielle Mündlichkeit einerseits und Selbstbezeichnung als Schrift andererseits. Für historisches Denken liegt es nahe, diese Spannung so zu lösen, dass man Mohammed die Schriftwerdung der Intention nach zuschreibt, und tatsächlich hat westliche Wissenschaft sich vielfach in diesem Sinne geäußert128. Daniel Madigan, der sich dem Problem jüngst eingehend zugewendet hat, stellt indes die berechtigte (wenn auch etwas suggestiv formulierte) Rückfrage: Was könnte die Intention des Propheten vereitelt haben? Ist es denkbar, dass ihm zur Umsetzung die Zeit oder die Kraft fehlte? Vielmehr – so Madigan – lässt sich zeigen, dass das ausschließliche und wörtliche Verständnis von kitaˉb als „Schrift“ (erst recht natürlich „Buch“) eine Verkürzung ist. In zahlreichen Fällen ist eher in einem weiteren Sinn der autoritative Text oder noch allgemeiner die übergreifende Kenntnis und Autorität Gottes gemeint129. Auch die „Mutter der Schrift“ (umm al-kitaˉb), die häufig als eine Art himmlischer Archetyp bzw. präexistente Form der geoffenbarten Schrift verstanden wurde, wäre dann eher die höchste Form der Erkenntnis130. ———— 128 Vgl. etwa Nöldeke/Schwally (wie Anm. 124), 1–3; R. Bell/W. Montgomery Watt, Introduction to the Qur’aˉn, Edinburgh 1970, 30–39; Schoeler (wie Anm. 124), 20 f.; H. Bobzin, Der Koran. Eine Einführung, München 72007, 101. 129 „The Qur’ân’s kitâb is not a book in the generally accepted sense of a closed corpus. Rather, it is the symbol of a process of continuing divine engagement with human beings – an engagement that is rich and varied, yet so direct in its address that it could never be comprehended in a fixed canon nor confined between two covers.“ D. Madigan, The Qur’ân’s Self-Image. Writing and Authority in Islam’s Scripture, Princeton 2001, 165; vgl. auch ders., Art. Book, in: Encyclopaedia of the Qur’aˉn 1, Leiden 2001, 242–251, bes. 248 f. zu den Intentionen Mohammeds. Die Stellen Q 19,16.41.51.54 („Gedenke in der Schrift der Maria/des Abraham…“) werden oft autoreferenziell gedeutet („in der [Koran-]Schrift“), doch kann ebenso gut gemeint sein: „Gedenke in der [Lesung aus der] Schrift…“, vgl. Madigan, Self-Image 20 f. 130 Wichtig ist vor allem die Stelle Q 3,7, wo von Gott die Rede ist, „der auf dich die Schrift herabgesandt hat; einige ihrer Verse sind klar zu deuten, sie sind die Mutter der Schrift“. Vgl. dazu Madigan, Self-Image
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Dass das „Buch“ der Juden und Christen eine Realisierungsform dieses kitaˉb ist, braucht darum nicht bestritten zu werden, aber es war offenbar nicht das Ziel des Propheten, dieser Schrift eine weitere zur Seite zu stellen oder sie durch eine andere im gleichen Medium zu ersetzen. (Gott spricht:) „Hätten wir eine Schrift auf Papyrus auf dich herabgesandt und hätten sie [d. h. deine Landsleute] sie berührt mit ihren Händen, dann hätten die, die ungläubig sind, gesagt: ‚Das ist nichts anderes als klare Zauberei.‘“ (Q 6,7) Ziel der koranischen Offenbarung ist demnach eine Art „Schrift ohne Schrift“, Teilhabe am göttlichen kitaˉb, aber im Medium der Verkündigung, nicht des Kodex. Gerade auf diesem Hintergrund mag man es auf den ersten Blick für erstaunlich halten, wie schnell und effizient gleichwohl der Kanonisierungsprozess vonstatten ging. Keine zwei Generationen nach dem Tod des Propheten lag das Endresultat in geschlossener Form vor, und zwar in Gestalt eines fixfertigen Kodex131. Das erreichte Endresultat war sogleich viel „kanonischer“ als es jüdische oder christliche Schriften je wurden: Die Überlieferung kennt viel weniger Abweichungen und Varianten, und vor ———— (wie vorige Anm.), 162 f. sowie allgemeiner zur „Mutter der Schrift“ ders., Book (wie vorige Anm.), 247 f. 131 Die oben bei Anm. 125 geschilderten Vorgänge, also gewissermaßen der innerislamisch tradierte „Gründungsmythos“, sind naturgemäß Gegenstand intensiver Diskussionen im Hinblick auf ihre Historizität und ihren Wert für Datierungsfragen. Westliche Gelehrte waren hier vielfach (über-)skeptisch, bezeichnenderweise allerdings in beide Richtungen: Entweder so, dass sie den weitgehend mündlichen Charakter der Überlieferung zur Zeit des Propheten in Abrede stellten und eine frühe Kodifikation postulierten, oder umgekehrt so, dass sie den Prozess für insgesamt erheblich langsamer hielten als in der Tradition behauptet. Mit beiden Varianten setzt sich G. Schoeler, The Codification of the Qur’aˉn. A Comment on the Hypotheses of Burton and Wansbrough, in: The Qur’aˉn in Context. Historical and Literary Investigations into the Qur’aˉnic Milieu, hg. v. A. Neuwirth/N. Sinai/M. Marx, Leiden 2011, 779–794 auseinander und kommt zu dem Schluss: in medio stat virtus. Selbst wenn man nicht genau der Überlieferung folgt, die die Sammlungstätigkeit noch der unmittelbaren Schülergeneration des Propheten zuschreibt, kann die Etablierung eines fixen Textes keinesfalls weiter als bis ans Ende des 7. Jahrhunderts hinaufgerückt werden, vgl. auch Neuwirth (wie Anm. 116), 249 f.
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allem ist das Corpus schon in seiner Konstruktion aufs Kanonische ausgerichtet. Die weitgehend mechanische Anordnung der Suren nach ihrer Länge ist auf den ersten Blick programmatisch bescheiden: Die Sammlung der Texte ordnet sich ganz dem überlieferten Bestand unter und verzichtet gänzlich auf eigene redaktionelle Durcharbeitung. Zugleich aber war damit auch sofort eine Abgeschlossenheit gewonnen, ein Stadium, dem nichts hinzugefügt und von dem nichts weggenommen werden konnte132, wie es etwa der neutestamentliche Kanon nie erreicht hat (oder eben allenfalls bei den Evangelien durch die Kanon-Arbeit des Euseb). Man könnte meinen, dass durch diese schnelle und „starke“ Kanonisierung die angesprochene Dynamik von „Schrift“ und „Lesung“, von Buch und Mündlichkeit sogleich erstickt und zugunsten der ersteren entschieden worden sei, gewissermaßen zwischen zwei Buchdeckel gepresst und damit erledigt. Dass das nicht der Fall ist, ließe sich auf dem Feld der Koranexegese und der weiter bestehenden mündlichen Überlieferung zeigen. In medienhistorischer Hinsicht ist eine andere, scheinbar oberflächliche Beobachtung von Interesse. Der besondere Charakter des Koran als „Schrift ohne Schrift“ spiegelt sich in der konkreten Buchform. Ähnlich wie im Fall der neutestamentlichen Schriften mehrere Jahrhunderte zuvor entwickelte sich ein spezifisches „Koran-feeling“, buchtechnische Besonderheiten, die die Sonderstellung des Koran sinnenfällig deutlich machten. Dazu gehört in erster Linie das Buchformat. Vielleicht noch Ende des 7., sicher aber im Laufe des 8. Jahrhunderts entstand ein spezieller und in dieser Form neuer Typ des Kodex, ein extremes Querformat mit längsrechteckigen Seiten, die an der Schmalseite gebunden waren (Abb. 15). Hinzu kommt die Entstehung besonderer „koranischer“ Schriften und kalligraphischer Dekoration133. Bald wurden ———— 132 Neuwirth (wie Anm. 116), 190 f. geht von einer Situation pietätvoller „Nachlaßverwaltung“ aus und verweist auf die „uralte Kanonformel ‚Du sollst nichts hinzufügen und nichts wegnehmen‘ (Dtn 13,1)“. 133 Vgl. zu dem Prozess insgesamt F. Déroche, Le livre manuscrit arabe. Prélude à une histoire (Conférences Léopold Délisle), Paris 2004, 21– 23. Ich danke meinem Kollegen Tilman Seidensticker (Universität Jena) für diesen Hinweis.
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auch mit großem Aufwand Prachtkorane hergestellt – begleitet von der Polemik dagegen, wie kaum anders zu erwarten134. Dabei stand die Kodex-Form als solche zu keinem Zeitpunkt in Frage: eine echte Alternative dazu gab es längst nicht mehr, selbst wenn im Judentum noch Torarollen verwendet wurden. Doch innerhalb der Grenzen des vorgegebenen Mediums zeigt der Koran-Kodex (mus.h . af) den Versuch der Innovation und das Bestreben, auf größtmögliche Distanz zu den Vorgängern zu gehen. Er entwickelt damit ein eigenes Profil und eine eigene Ikonizität, die ihn sowohl von anderen arabischen als auch von den klassischen heiligen Schriften des Judentums und Christentums unterscheidet. Gerade der letztgenannte Punkt mag bei der Ausprägung entscheidend gewesen sein135: Kontroverstheologie mit Mitteln der Buchform, Kodex und doch nicht Kodex. Interessanterweise ließe sich in der weiteren Entwicklung zeigen, dass trotz solcher Abgrenzungsbewegungen manche Prozesse in erstaunlicher Parallelität abliefen. Die Kanonisierung und Sakralisierung des Textes, die Entwicklung zum Gesamtkunstwerk sowie schließlich seine performative Valenz: all dies begegnet ganz ähnlich wie im Christentum auch in der Geschichte des Islam. Obgleich dabei die explizit gewünschte Abgrenzung vom Christentum mitunter als retardierendes Moment auftrat, verlief die Entwicklung doch insgesamt in erstaunlicher Geschwindigkeit, ja man könnte geradezu von einem „Zeitraffer“-Effekt sprechen. Die Kanonisierung war in wenigen Jahrzehnten erfolgt, die Entstehung eines Gesamtkunstwerkes folgte bald darauf. Es wäre nun in den Einzelheiten zu verfolgen, welche kulturelle Stellung das so entstandene Koran-Buch einnahm. Der Verehrung als Teil des offiziellen Kults und der Integration in den Sakralbau stand wohl die Abgrenzung zum Christentum im Wege136. Gleichwohl blieb die provozierende Auffassung des islamischen Gelehrten Ibn H . azm (11. Jh.), es handle sich bei dem Buch um „nicht mehr als ———— 134 M. Radscheit, Der Koran als Kodex, in: Die Welt der Götterbilder, hg. von B. Groneberg/H. Spieckermann, Berlin 2007, 291–323, hier 304 f. spricht von solchen Kodizes schon Ende 7./Anfang 8. Jh., ebd. auch zur Polemik dagegen. 135 Dies vermutet Déroche (wie Anm. 133). 136 Vgl. Radscheit (wie Anm. 134) 304–309.
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Tierhäute und Tinte, welche aus Gummi arabicum, Vitriol, Galläpfeln und Wasser zusammengemischt sei“137, ein isolierter Sonderfall. Vielmehr wurde dem Buch durchaus große Aufmerksamkeit und Verehrung zuteil. Das zeigen etwa die ausgeweiteten Debatten über Regeln kultischer Reinheit als Voraussetzung, um einen mus.h . af berühren zu dürfen, auch die Vorschriften zur „Bestattung“ eines nicht mehr tauglichen Kodex138. Wie sehr sich letztlich die Auffassung durchsetzte, dass das Buch mehr ist als nur Träger von Zeichen, sondern vielmehr auch selbst Zeichen, wird ex negativo an den Reaktionen in der islamischen Welt deutlich, wann immer sich eine Schändung des Koran ereignet oder vermutet wird. Positiv zeigt es sich etwa in einer eigenen Buchikonographie. In dem arabischen Emirat Sharja befindet sich auf dem Platz vor dem Amtsgebäude des Emirs und dem Kulturzentrum eine überdimensionale Skulptur des aufgeschlagenen Buches (Abb. 16): der mus.h . af auf seinem Thron (kursıˉ). Eine letzte Bemerkung noch zur Bezeichnung des KoranBuches: Der Begriff mus.h . af ist Bezeichnung des Mediums und Eigenname zugleich. Ein Fremdwort im Arabischen, ist es doch verwandt mit s.uh . uf (Seiten, Blätter), insofern also nichts anderes als Kodex139. Zugleich aber bezeichnet es nicht irgendein Buch, sondern nur das eine Buch des Koran. In gewisser Weise koinzidieren also Kodex und Kanon im mus.h . af. Die kanonischen Schriften sind hier nicht mehr nur autoritative Liste, sondern auch physisch greifbare Einheit, realisiert in einem konkreten Medium. Diese Übereinstimmung hat das antike und mittelalterliche Christentum nie erreicht. Sie sollte erst im Medium des Buchdrucks möglich und durch die Reformation verbreitet werden: das eine Buch der Bibel, in dem Kodex und Kanon koinzidieren.
———— 137 Zitiert nach Radscheit (wie Anm. 134), 313. 138 Radscheit (wie Anm. 134), 309–314. 139 Das Wort ist vermutlich über das Äthiopische eingewandert, vgl. J. Burton, Art. Mus.h.af, in: EI2 7, Leiden 1993, 668 f.
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Abb. 1 – Kodex aus Holztäfelchen Paris, Louvre MNE 914 (6. oder 7. Jh.)
Abb. 2 – Buch des Hl. Bonifatius Fulda, Dom-Museum, Codex Ragyndrudis (8. Jh.)
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Abb. 3 Papyruskodex des Johannesevangeliums Cologny, Fondation Bodmer, Pap. II = P66 (Anf. 3. Jh.), fol. 1r (auf der folgenden Seite das Gleiche nochmals zum Größenvergleich)
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Abb. 4 Spätantike Vollbibel auf Pergament, hier Mk 11,10-12,7 London, British Library, Codex Sinaiticus (4. Jh.), fol. 224v
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Abb. 5a Euseb von Kaisareia, Kanon der Chronik Oxford, Bodleian Library, Auct. T.2.26 (5. Jh.), fol. 50v
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Abb. 5b Euseb von Kaisareia, Kanon der Chronik Oxford, Bodleian Library, Auct. T.2.26 (5. Jh.), fol. 51r
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Abb. 6a Euseb von Kaisareia, Kanontafeln der Psalmen Oxford, Bodleian Library, Auct. D.4.1 (10. Jh.), fol. 24v
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Abb. 6b Euseb von Kaisareia, Kanontafeln der Psalmen Oxford, Bodleian Library, Auct. D.4.1 (10. Jh.), fol. 25r
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Abb. 7 Ptolemaios, Astronomische Tabellen Rom, Vat. gr. 1291 (8. Jh.), fol. 29v
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Abb. 8 Euseb von Kaisareia, Kanontafeln der Evangelien, hier Kanon 2 (Mk, Mk, Lk) Ende und Kanon 3 (Mt, Lk, Joh) Wien, Österr. Nationalbibliothek, cod. 847 (6. Jh.), fol. 3v
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Abb. 9 Spätantiker „Bibel-Bücherschrank“ Florenz, Biblioteca Medicea Laurenziana, Codex Amiatinus (Anf. 8. Jh.), fol. 5r
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Abb. 10 - Tempietto in griechischen, lateinischen, armenischen, äthiopischen Evangeliaren Venedig, Marc. I 8 (9. Jh.), fol. 3r; Paris. lat. 8850 (9. Jh.), fol. 6v; Eriwan, Maten., cod. 3474 (10. Jh.), fol. 5v; Kebran ms. (15. Jh.)
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Abb. 11 Prolog zu den Kanontafeln Berlin, Staatsbibliothek, Ham. 246 (9. Jh.), fol. 50r
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Abb. 12 Buchdeckel, vermutlich von einem Evangeliar Washington, Dumbarton Oaks, BZ 1963.36.9 (6. Jh.)
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Abb. 13 Porfyrius Optatianus, Figur-Gedicht (carm. 8) Bern, Burgerbibliothek cod. 212, fol. 113v
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Abb. 14 Chronograph von 354, Sonn-Tag mit Sonnengott Rom, Barb. lat. 2154 (17. Jh.), fol. 11
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Abb. 15 Koranmanuskript im Querformat (Ende 9./Anf. 10. Jh.) New York, Metropolitan Museum of Art 30.45
Abb. 16 Koranmonument, Sharjah (VAE) Abbildungsnachweis: 1 aus Cauderlier (zit. Anm. 21); 2 aus Aris (zit. Anm. 109); 3 aus Martin 1956 (zit. Anm. 40); 4 aus Parker (zit. Anm. 77); 5, 6 Bodleian Library, Oxford; 7 Biblioteca Apostolica Vaticana; 8 Österr. Nationalbibliothek Wien; 9 aus Evangeliorum quattuor codex lindisfarnensis, 2 Bde., Olten 1956-60; 10a–c aus H. u. H. Buschhausen, Codex Etschmiadzin, 2 Bde, Graz 1999–2001; 10d aus Ethiopia, hg. v. J. Leroy, Paris 1961; 11 Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz; 12 Dumbarton Oaks, Byzantine Collection, Washington, DC; 13 Burgerbibliothek Bern; 14 aus Stern (zit. Anm. 91); 15 The Metropolitan Museum of Art, New York; 16 www.flickr.com/photos/gordontour/