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German Pages 127 [144] Year 1963
WERNER
JAEGER
DAS FRÜHE CHRISTENTUM UND DIE GRIECHISCHE BILDUNG
WERNER JAEGER
DAS FRÜHE CHRISTENTUM UND
DIE GRIECHISCHE BILDUNG
ÜBERSETZT VON WALTHER ELTESTER
1963
W A L T E R DE
G R U Y T E R & CO
- BERLIN
VORMALS G. J. GÖSCHEN'SCHE VERLAGSHANDLUNG · J. GUTTENTAG, VERLAGSBUCHHANDLUNG · GEORG REIMER · KARL J. TRÜBNER · VEIT & COMP.
Der Titel der Originalausgabe: EARLY CHRISTIANITY AND GREEK PAIDEIA © 1961 by the Belknap Press of Harvard University Press Cambridge / Massachusetts
ArefatT-Nr. }6 26 63 t Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen. Satz und Druck: Paul Funk. Berlin 30
VORWORT
Dies Buch enthält die Carl-Newell-Jackson-Vorlesungen für das Jahr I960, die vor der Harvard-Universität zu halten ich die Ehre hatte. Professor Carl Jackson, nach dem die Einrichtung dieser Vorlesungsreihe ihren Namen hat, half dabei, mich nach Harvard zu holen. Es hat eine tiefe Bedeutung für mich, daß ich in einem Augenblick meine dauernde Dankbarkeit ihm gegenüber ausdrücken kann, wo ich von meinem Lehramt an dieser Universität zurücktrete. Ich habe das Thema dieser Vorlesungen in kürzerer Form unter verschiedenen Gesichtspunkten bei anderen Gelegenheiten berührt. Die Vorlesungen erscheinen hier beträchtlich erweitert und werden reichlich von Anmerkungen begleitet, die ein wesentlicher Teil des Buches sind. Trotzdem stellen die Vorlesungen, selbst in ihrer gegenwärtigen erweiterten Fassung, nicht die volle Verwirklichung meines ursprünglichen Planes dar. Als ich meine „Paideia" schrieb, hatte ich von Anfang an beabsichtigt, daß dieses Werk einen besonderen Band über die Aufnahme der griechischen Paideia innerhalb der altchristlichen Welt enthalten solle. Seitdem ist der größte Teil meiner Arbeiten auf dem Gebiet der altchristlichen Literatur abgeschlossen worden. Aber gerade ihr weitläufiger Charakter war es, weswegen ich nicht zur Ausführung meines Planes gekommen bin, ein umfassendes Buch über die geschichtliche Kontinuität und die Umformung der Tradition im Hinblick auf die griechische Paideia während der christlichen Jahrhunderte der Spätantike zu schreiben. Angesichts meines Alters muß ich damit rechnen, daß ich nicht lange mehr in der Lage sein werde, das Unternehmen in seiner ganzen Breite zu Ende zu bringen. Und obwohl ich die Hoffnung nicht aufgegeben habe, mein Ziel zu erreichen — jetzt wo ich mich dafür genügend vorbereitet fühle —, habe ich mich doch entschlossen, in diesen Vorlesungen die wichtigsten Umrißlinien festzuhalten und
sie als eine Art Vorschußzahlung zu veröffentlichen, der hoffentlich das Ganze folgen wird. In einem Augenblick, wo durch einen glücklichen Zufall aus dem Orient reiche Schätze wie die Qumranrollen vom Toten Meer und ein ganzes Corpus gnostischer Schriften in Nag Hammadi in Oberägypten in unsere Hände gekommen sind, wo sich die historischen Arbeiten über das alte Christentum plötzlich neu beleben, ist es unvermeidlich, daß gleichzeitig eine völlig neue Abschätzung des dritten großen Faktors in der Geschichte der christlichen Religion beginnt: der griechischen Kultur und Philosophie in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung. Dies kleine Buch möge ein erster Beitrag zu einem solchen Unterfangen sein. Harvard-Universität, Ostern 1961 WERNER JAEGER
VORWORT DES ÜBERSETZERS
Die deutsche Übersetzung war gleich nach Erscheinen des englischen Originals im Herbst 1961 von mir beim Verlag Walter de Gruyter angeregt worden. Es schien mir einem echten Bedürfnis zu entsprechen, daß dem deutschen Leser der ,Paideia' Werner Jaegers nun auch dieses sein letztes Buch, das so eng mit dem großen Werk zusammenhängt, im gleichen Sprachgewand zugänglich würde. Leider zogen sich die Verhandlungen über die Übersetzungsrechte ein Jahr lang hin, so daß ich erst im Oktober 1962 an die Arbeit gehen konnte. Veränderungen inhaltlicher Art gegenüber dem Original sind dabei nicht erfolgt, die Zitierweise Jaegers wurde beibehalten, die Zitate wurden außer bei wenigen mir nicht zugänglichen Büchern sämtlich nachgeprüft. Die im Original nach den englischen Übersetzungen angeführten Werke Jaegers wurden auf die deutschen Ausgaben umgestellt, außer bei seinem Aristotelesbuch, das nach der zweiten, nur englisch erschienenen Auflage zitiert wird. Das Register entspricht, abgesehen von geringfügigen Kürzungen, dem englischen. Das Inhaltsverzeichnis und die Kapitelüberschriften stammen vom Übersetzer. W. E.
INHALT Vorwort Vorwort des Übersetzers I. Hellenistisches im Neuen Testament
V VII l
II. Der erste Clemensbrief: Paideia als Ordnung
9
III. Die Religion der Vernunft bei den Apologeten
20
IV. Der philosophische Glaube und das Christentum
27
V. Glaube und Wissen bei den Alexandrinern VI. Das Christentum als Kulturmacht im vierten Jahrhundert
35 51
VII. Die Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit durch Natur und Gnade nach Gregor von Nyssa
65
Anmerkungen zu I
79
Anmerkungen zu II
86
Anmerkungen zu III
91
Anmerkungen zu IV
96
Anmerkungen zu V
99
Anmerkungen zu VI
109
Anmerkungen zu VII
113
Register
119
HELLENISTISCHES IM NEUEN TESTAMENT
In diesen Vorlesungen versuche ich nicht, Religion und Kultur einander gegenüberzustellen, als seien sie zwei wesensverschiedene Äußerungen des menschlichen Geistes. Der Titel des Buches könnte zu einer solchen Annahme verführen, zumal in unseren Tagen, wo Theologen wie Karl Barth und Emil Brunner mit Nachdruck behaupten, die Religion sei nicht als Teil seiner Gesittung dem Menschen verfügbar. Das Gegenteil hielt die einstige liberale Theologie für richtig, wenn sie von Kunst, Wissenschaft und Religion in einem Atem sprach. Mit anderen Worten, ich will nicht das abstrakte Problem Religion und Kultur erörtern, sondern ganz konkret nach dem Verhältnis des Christentums zur griechischen Kultur fragen. Als klassischer Philologe will ich mich dem Gegenstande auf dem Wege der Geschichte zu nähern suchen. Ich will auch nicht den griechischen Geist, wie er sich in den Tragödien des Sophokles oder im Parthenon ausdrückt, mit dem Wesen des christlichen Glaubens vergleichen. So tat es einst Ernst Renan, als er auf dem Rückweg vom Heiligen Lande seinen Fuß auf die Akropolis von Athen setzte. Er fühlte sich überwältigt von dieser erhabenen Offenbarung reiner Schönheit und reiner Vernunft, wie er sie verstand und sie in seinem enthusiastischen Gebet auf der Akropolis verherrlichte1. Friedrich Nietzsche, sein jüngerer Zeitgenosse, selbst Sohn eines protestantischen Pfarrers und glühender Apostel des Dionysus, trieb diesen Vergleich auf die Spitze und wurde aus einem Professor der klassischen Philologie zum Missionar des Antichrists. Statt dessen will ich von der griechischen Kultur sprechen, wie sie zur Zeit der Entstehung des Urchristentums war, und von der geschichtlichen Begegnung dieser beiden Welten während der ersten Jahrhunderte unserer Zeitrechnung. Der beschränkte mir zur Verfügung stehende l Jaeger, Christentum
1
Raum wird es mir unmöglich machen, mich über die altchristliche Kunst 2u äußern und die lateinische Hälfte der spätantiken Welt und der alten Kirche einzubeziehen. Schon immer seit dem Erwachen des modernen historischen Bewußtseins in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts waren sich die gelehrten Theologen über eines klar, wenn sie dem großen geschichtlichen Vorgang bei der Geburt der neuen Religion auf den Grund gingen und ihn darstellten, daß unter den für die endgültige Gestalt der christlichen Überlieferung entscheidenden Faktoren das Griechentum einen tiefen Einfluß ausübte2. Ursprünglich war das Christentum ein Produkt der Religion des Spätjudentums gewesen3. Jüngst hat die Entdeckung der sog. Rollen vom Toten Meer neues Licht auf diese Periode des Judentums fallen lassen. Es sind Parallelen zwischen der asketischen Frömmigkeit der frommen Sekte, die damals an der Küste des Toten Meeres lebte, und der messianischen Botschaft Jesu gezogen worden. Ohne Zweifel sind einige überraschend ähnliche Züge vorhanden. Aber doch ist man beeindruckt durch einen großen Unterschied, und der liegt in der Tatsache, daß das christliche Kerygma nicht am Toten Meer oder an der Grenze Judäas stehen blieb, sondern seine Beschränkung und räumliche Abgeschlossenheit überwand, um die umgebende Welt zu durchdringen. Diese Welt aber war vereinheitlicht worden unter der Herrschaft der griechischen Gesittung und der griechischen Sprache. Dies war die entscheidende Voraussetzung für die Entwicklung der christlichen Mission und ihrer Ausdehnung innerhalb Palästinas und über seine Grenzen hinaus. Drei Jahrhunderte einer weltweiten Ausdehnung der griechischen Zivilisation während der Zeit des Hellenismus waren vorausgegangen. Diese Periode war lange von der klassischen Philologie vernachlässigt worden, die ihre Augen auf nichts anderes als das klassische Zeitalter der Griechen richten wollte. Der Entdecker des Hellenismus, Johann Gustav Droysen, ist zugleich auch sein erster Historiker geworden4. Er wurde dabei, wie wir heute in seinem veröffentlichten Briefwechsel lesen können, durch seine christliche Glaubensüberzeugung angetrieben, denn er hatte begriffen, daß ohne die nachklassische Ent-
wicklung der griechischen Kultur der Aufstieg einer christlichen Weltreligion unmöglich gewesen wäre5. Selbstverständlich blieb dieser Vorgang der Christianisierung der Griechisch sprechenden Welt innerhalb des Römischen Reiches keineswegs auf nur eine Seite beschränkt. Denn gleichzeitig bedeutet er auch die Hellenisierung der christlichen Religion. Was wir darunter zu verstehen haben, ist nicht unmittelbar einsichtig. Wir wollen daher versuchen, mehr ins einzelne zu gehen. Im apostolischen Zeitalter beobachten wir das erste Stadium eines christlichen Hellenismus an dem Gebrauch der griechischen Sprache. Wir begegnen ihr in den Schriften des Neuen Testaments und so fort in den nachapostolischen Zeiten bei den sog. Apostolischen Vätern. Dies ist die ursprüngliche Bedeutung des Wortes 6 . Die Sprachenfrage war keineswegs eine belanglose Angelegenheit. Mit der griechischen Sprache eroberte eine ganze Welt von Vorstellungen, Begriffssystemen, geerbten Bildern und feinen Bedeutungsnuancen das christliche Denken. Das Christentum hat sich schnell an seine Umgebung angeglichen, schon von der allerersten Generation an. Die Gründe dafür liegen auf der Hand. Erstens natürlich ist die Tatsache zu nennen, daß das Christentum eine jüdische Bewegung war. Die Juden aber waren zur Zeit des Paulus hellenisiert, nicht nur in der Diaspora, sondern zu einem beträchtlichen Teil auch in Palästina selbst7. Zweitens war es gerade der hellenisierte Bestandteil des jüdischen Volkes, an den sich die christlichen Missionare zuerst wendeten. Diese Gruppe der Jerusalemer Gemeinde — sie erhielt nach Apostelgeschichte Kapitel 6 von den Aposteln die Bezeichnung „die Hellenisten" — wurde nach dem Märtyrertode ihres Führers Stephanus über ganz Palästina zerstreut, und von ihr ging die Missionstätigkeit der nächsten Generation aus8. Wie Stephanus selbst trugen sie alle gut griechische Namen: z.B. Philippos, Nikanor, Prochoros, Timon, Parmenas, Nikolaos; und meistens stammten sie von jüdischen Familien ab, die mindestens schon eine Generation vorher, wenn nicht früher, hellenisiert worden waren9. Der Name der neuen Sekte, , hatte seinen Ursprung in der griechischen Stadt Antiochia, wo diese hellenisier-
ten Juden das erste große Tätigkeitsfeld für ihre christliche Mission fanden10. Griechisch wurde in allen ouvoycoyai rund um das Mittelmeer gesprochen. Zeugnis legt dafür Philo von Alexandria ab, denn er schrieb sein literarisches Griechisch nicht für eine Leserschaft von Heiden, sondern für seine hochgebildeten jüdischen Anhänger. Es würde sich kein großer Zustrom heidnischer Proselyten entwickelt haben, wenn sie die Sprache beim jüdischen Synagogengottesdienst der Diaspora nicht hätten verstehen können. Die Missionstätigkeit des Paulus beruhte ganz auf dieser Voraussetzung. Seine Auseinandersetzungen mit den Juden, an die er sich auf seinen Reisen wendete und denen er das Evangelium von Christus zu bringen versuchte, wurden griechisch mit allen Feinheiten der griechischen Logik geführt. Beide Parteien zitierten in der Regel das Alte Testament nicht nach dem hebräischen Original, sondern nach der griechischen Übersetzung der Septuaginta11. Sieht man ab von den neuartigen Logien, Sammlungen von Sprüchen Jesu, und den Evangelien, so haben die christlichen Schriftsteller des apostolischen Zeitalters die griechische Literaturform der Briefe, nach dem Vorbild griechischer Philosophen12, und der Geschichten oder ? angewandt, die die Taten und Lehren weiser oder berühmter Männer in Berichten ihrer Schüler enthalten. Die weitere Entwicklung einer christlichen Literatur im Zeitalter der Apostolischen Väter folgte diesen Grundlinien, fügte aber andere Typen hinzu, wie die Didache, die Apokalypse und die Predigt. Die Predigt übernahm die Form der Diatribe und Dialexis aus der griechischen Popularphilosophie, die versucht hatte, die Lehren der Kyniker, Stoiker und Epikureer unter das Volk zu bringen. Selbst die Form der Märtyrerakte war schon von den Heiden in Ägypten benutzt worden. Sie wurde hier während des Religionskrieges zwischen Ägyptern und Juden in der Zeit der Apostel entwickelt, bevor die christliche Märtyrerliteratur entstand13. Wir müssen auch damit rechnen, daß es in hellenistischer Zeit eine religiöse Kleinliteratur gab, Flugschriften der Glaubenspropaganda mancher Sekten, obwohl sich diese für den Tag bestimmte Produktion nicht erhalten hat. Plato erwähnt orphische Traktate, die durch Mitglieder
der Sekte von Haus zu Haus getragen wurden14. Und Plutarch belehrt in seinen Regeln für Jungverheiratete die junge Frau darüber, sie dürfe keine Fremden durch die Hintertür einlassen, die ihre Zettel mit Empfehlungen für eine fremde Religion einschmuggeln wollten, weil dies ihrem Manne das Haus verleiden könnte15. Im Jakobusbrief lesen wir die uns aus der orphischen Religion bekannte Wendung vom „Rad der Geburt"16. Der Verfasser muß sie aus einem orphischen Traktätchen der geschilderten Art aufgelesen haben. Sie alle hatten eine gewisse Familienähnlichkeit und machten gelegentlich beieinander Anleihen. Eine dieser Gruppen waren die sog. Pythagoreer. Sie predigten den „pythagoreischen" Weg des Lebens und gebrauchten als ihr Symbol ein Y, das Zeichen des Kreuzweges, wo sich der Mensch zu entscheiden hatte, welchen Weg er einschlagen wolle, den guten oder den schlechten17. In der hellenistischen Zeit ist diese Lehre von den beiden Wegen verbreitet, aber sie ist natürlich viel älter und findet sich z. B. bei Hesiod18. Für den Hellenismus sei auf einen populär-philosophischen Traktat verwiesen, die Pinax des Cebes. Hier wird ein Gemälde der beiden Wege beschrieben, das sich unter den Votivgaben eines Tempels befand19. Es bildet den Ausgangspunkt für eine moralphilosophische Predigt, ganz ähnlich wie der Altar des unbekannten Gottes und seine Inschrift von Paulus Apostelgeschichte 17 als Anknüpfung für seine Diatribe benutzt wird. Der älteste christliche Katechismus, der im neunzehnten Jahrhundert entdeckt wurde und der sich selbst die „Didache der Zwölf Apostel" nennt, enthält dieselbe Lehre von den zwei Wegen. Er stellt sie als das Wesen des Christentums dar und verbindet damit die Sakramente der Taufe und Eucharistie20. Augenscheinlich sind diese charakteristisch christlichen Elemente erst hinzugefügt und sind die zwei Wege aus einem vorchristlichen Traktat herübergenommen. Diese Art von Kleinliteratur umfaßte Bücher mit ethischen Lehrsprüchen, etwa wie der altgriechische Traktat Demokrits, des Vaters der Atomphilosophie, über die Heiterkeif des Gemüts. Er begann mit dem Spruch: „Wenn du Seelenruhe genießen willst, so lasse dich nicht auf zuviel Geschäftigkeit ein." Das Buch war hoch berühmt und wurde weit-
hin gelesen21. Ich war überrascht, als ich diese Vorschrift, in eine christliche verwandelt, im „Hirten des Hermas" in folgender Fassung wiederfand: „Halte dich fern von zuviel Geschäftigkeit, und du wirst nicht in die Irre gehen. Denn alle, die sich auf vielerlei einlassen, machen vielerlei Fehler, und versessen auf ihre verschiedenen Tätigkeiten dienen sie nicht ihrem Herrn22." So ist, wie Philo es aus eigener Erfahrung auszudrücken pflegte, „die alte Münze durch neue Prägung zu neuem Gebrauch bereitgestellt"23. So war es die älteste christliche Mission, welche die Missionare oder Apostel dazu zwang, die Formen der griechischen Literatur und der Rede zu gebrauchen, wenn sie sich an die hellenisierten Juden als ihre ersten Hörer und ihre Partner in allen großen Städten der Mittelmeerwelt wendeten. Dies wurde noch viel nötiger, seitdem Paulus den Übergang zu den Heiden vollzog und den Anfang mit ihrer Bekehrung machte. Diese protreptische Tätigkeit war an sich schon eine charakteristische Eigenheit der griechischen Philosophie in hellenistischer Zeit. Die verschiedenen Schulen versuchten Anhänger durch protreptische Reden zu werben und empfahlen ihnen darin ihr philosophisches Wissen oder ihr als den einzigen Weg zur Glückseligkeit. Wir begegnen dieser Art von Beredsamkeit zuerst in der Lehre der griechischen Sophisten und bei Sokrates, so wie er in den platonischen Dialogen erscheint24. Sogar das Wort „Bekehrung" stammt von Plato, denn die Wendung zur Philosophie meint in erster Linie den Wechsel der Lebenshaltung25. Trotz verschiedener Motivierung des Übertritts sprach auch das christliche Kerygma von der Unwissenheit der Menschen und verhieß ihnen ein besseres Wissen. Genau wie alle Philosophie bezog es sich auf einen Meister und Lehrer zurück, der die Wahrheit besaß und offenbarte. Diese Entsprechung zur Situation der griechischen Philosophen veranlaßte die christlichen Missionare, daraus ihren Vorteil zu ziehen. Auch der Gott der Philosophen war verschieden von den olympischen Göttern der heidnischen Überlieferung, und die philosophischen Systeme des Hellenismus boten für ihre Anhänger eine Art von geistlichem Schutz. Die christlichen Missionare folgten in ihren Fußstapfen. Wenn wir den Berichten der Apostelgeschichte
vertrauen dürfen, so entlehnten sie zeitweilig die Argumente von ihren Vorgängern, zumal dann wenn sie sich an ein gebildetes griechisches Publikum wendeten26. Dies war der entscheidende Augenblick in der Begegnung von Griechen und Christen. Die Zukunft des Christentums als einer Weltreligion hing von ihm ab. Der Verfasser der Apostelgeschichte hatte einen klaren Blick dafür: läßt er doch den Apostel Paulus Athen besuchen, den geistigen und kulturellen Mittelpunkt der klassischen griechischen Welt und das Symbol ihrer geschichtlichen Überlieferung; und er läßt ihn über den unbekannten Gott predigen an der altehrwürdigen Stätte, dem Areopag, vor einem Auditorium von stoischen und epikureischen Philosophen27. Er zitiert den Vers eines griechischen Dichters „Wir sind seines Geschlechts". Seine Beweise sind weithin, stoisch und darauf berechnet, einen philosophisch Gebildeten zu überzeugen28. Mag diese unvergeßliche Szene geschichtlich oder mag sie frei gestaltet sein, um die historische Situation des beginnenden Ringens zwischen Christentum und klassischer Welt anschaulich zu machen, die ganze dramatische Ausmalung läßt es klar werden, wie der Verfasser der Apostelgeschichte sie verstand29. Diese Auseinandersetzung erforderte eine gemeinsame Basis, sonst wäre sie nicht möglich gewesen. Als diese Basis wählte Paulus die griechische philosophische Tradition, die am lebendigsten das vertrat, was zu seiner Zeit von der griechischen Kultur vorhanden war. Ein späterer christlicher Schriftsteller, der Verfasser der Philippusakten, hat die Absicht der Apostelgeschichte auf dieselbe Weise verdeutlicht. In Nachahmung unserer kanonischen Apostelgeschichte, läßt er Philippus wie Paulus nach Athen kommen und läßt ihn genauso zu einem ähnlichen Auditorium über dasselbe Thema sprechen. Er läßt den Apostel Philippus sagen: „Ich bin nach Athen gekommen, um euch die Paideia Christi zu offenbaren." Genau dies war in der Tat auch die Absicht des Verfassers unserer Apostelgeschichte gewesen30. Durch die Bezeichnung des Christentums als Paideia Christi unterstreicht der Imitator die Absicht des Apostels, das Christentum als eine Fortsetzung der klassischen Paideia der Griechen erscheinen zu lassen. So sollte der Übertritt zu ihm für
die Inhaber der alten Paideia gewissermaßen zwingend werden. Zugleich deutet er an, daß die klassische Paideia im Begriff stand, durch Christus als den Mittelpunkt einer neuen Kultur ersetzt zu werden, deren Werkzeug sie wurde.
II
DER ERSTE CLEMENSBRIEF: PAIDEIA ALS ORDNUNG
Das lteste datierbare literarische Dokument der christlichen Religion bald nach der Zeit der Apostel ist der Brief des Clemens von Rom an die Korinther, geschrieben im letzten Jahrzehnt des ersten Jahrhunderts. Es ist von Interesse, die Ver nderung des Christentums in den drei ig Jahren seit dem Tode des Paulus zu beobachten. Hatte doch dieser selbst an die korinthische Gemeinde geschrieben, um den Streit ihrer Parteiungen und die Differenzen in ihrer Auffassung des christlichen Glaubens zu schlichten. Jetzt war eine einflu reiche Gruppe in Korinth gegen die Autorit t ihres Bischofs aufgetreten, und die Gemeinde befand sich in offener Spaltung. Clemens, Bischof von Rom, schreibt den Korinthern in seiner Eigenschaft als Vertreter der Gemeinde, die das gr te Ansehen geno 1. In der Art der alten Rhetorik weist er ihnen durch verschiedene gutgew hlte Beispiele (υποδείγματα) die verh ngnisvollen Wirkungen von Parteienstreit (στάσι$) und Ungehorsam nach. Dem stellt er die Segnungen von Eintracht und Gehorsam gegen ber. Die Beispiele daf r teilt er, wie ein zweiter Demosthenes, genau in solche aus der Vergangenheit ein und in andere aus der neueren, den Lesern selbst noch bekannten, Zeit2. An dem Punkt, wo nach den Regeln der Rhetorik der ersch tterndste TOTTOS auftreten m te, da innerer Zwiespalt gro e K nige gest rzt und m chtige Staaten zerst rt habe, verzichtet Clemens auf Beispiele, um sich nicht zu tief in die weltliche Geschichte zu verstricken. Aber es ist klar, da er die Regeln der politischen Beredsamkeit anwendet. Wir erinnern uns daran, da Eintracht (ομόνοια) schon immer im klassischen Zeitalter der griechischen ττόλις die Losung von friedestiftenden F hrern und politischen Erziehern war, von Dichtem, Sophisten und Staatsm nnern3. In r mischer Zeit ist Concordia so-
gar zu einer Göttin geworden. Wir können sie auf römischen Münzen abgebildet sehen, sie wurde bei privaten Hochzeitszeremonien angerufen, bei Festlichkeiten ganzer Städte und von den römischen Kaisern. Philosophen hatten sie als die göttliche Macht verherrlicht, die das Universum regiert, sowie Ordnung und Frieden in der Welt aufrecht erhält. So sind wir nicht überrascht — und sind es wiederum doch —, daß Clemens sich in dem wundervollen zwanzigsten Kapitel seines Briefes auf die kosmische Ordnung des Alls beruft. Sie ist ihm das oberste, von dem Willen Gottes, des Schöpfers, eingesetzte Prinzip, ein sichtbares Vorbild für das menschliche Leben und für friedliche Zusammenarbeit. Das Beispiel des Paulus im I. Korintherbrief 12 muß Clemens ermutigt haben, in diesem Zusammenhang zur klassischen Tradition der Griechen zurückzukehren. Paulus hatte den Korinthern die bekannte Geschichte von dem einstigen Streit zwischen den Teilen des menschlichen Körpers erzählt. Sie weigerten sich, ihre besonderen Funktionen im Ganzen des Organismus zu erfüllen, bis sie einsehen mußten, daß sie alle Teile eines Leibes seien und allein als solche existieren könnten. Diese Fabel hatte Menenius Agrippa der Plebs in Rom erzählt, als sie die Stadt verlassen hatte und auf den Mons Sacer ausgewandert war, weil sie nicht mehr länger mit den Patriziern zusammen leben wollte. Durch sie hatte Menenius die Plebs zur Rückkehr veranlaßt. Wir kennen alle die Geschichte aus Livius, aber sie begegnet auch bei mehreren griechischen Historikern4. Sie scheint auf den Vortrag eines griechischen Sophisten über zurückzugehen5. Aber die Beweisführung bei Clemens ist verschieden. Er führt alle Beispiele einer friedlichen Zusammenarbeit im Weltall auf6. Auch diesen Beweis können wir bis zu den Phoenissae des Euripides zurückverfolgen. Hier versucht lokaste ihren herrschsüchtigen Sohn Eteokles davon zu überzeugen, daß friedliche Zusammenarbeit mit dem verbannten Polyneikes der einzige natürliche für ihn offene Weg sei7. Clemens hat eine stoische Quelle für seine Argumentation benutzt, wie aus zahlreichen Indizien deutlich wird8. Diese Quelle enthielt einen enthusiastischen Lobpreis auf Frieden und Eintracht als den Herrn, der die ganze Natur regiert, angefan10
gen von Tag und Nacht und dem geordneten Gang der Himmelskörper bis herab zu den kleinsten Lebewesen, wie Ameisen und Bienen mit ihrer wunderbaren Gesellschaftsordnung. Es ist bedeutsam, daß in diesem kritischen Augenblick die Ideale der politischen Philosophie des alten griechischen Stadtstaates in die Diskussion über den neuen christlichen Typus der menschlichen Gesellschaft eindrangen. Was sich jetzt Kirche nannte, hieß griechisch , und damit war ursprünglich die Bürgerversammlung einer griechischen Polis gemeint. In Korinth, der Hauptstadt der Provinz Achaia, wie Griechenland amtlich in der römischen Verwaltungssprache hieß, stritten alle Arten von Geistesträgern miteinander, Lehrer und Propheten, solche, die sich auf „Sprachen" verstanden, und solche, die selbst in Zungen redeten, d. h. Ekstatiker9 waren. Dagegen auf dem Boden Roms trat ein neues Gefühl für Ordnung in Erscheinung und wandte sich mit ganzem Nachdruck an die Individualisten der griechischen Stadt10. Die Namen der römischen Märtyrer Petrus und Paulus werden von Clemens als Vorbilder des Gehorsams beschworen. Das oberste Vorbild für freiwillige Unterordnung ist Christus selbst — aber es fehlt auch nicht der Hinweis auf die beispielhafte Disziplin im römischen Heer11. Und obwohl das Schwergewicht, das Paulus dem Glauben gibt, im Brief des Clemens unverändert bleibt, liegt doch der eigentliche Nachdruck auf den guten Werken. Darin gleicht der Clemensbrief dem Brief des Jakobus, der in die gleiche Zeit gehören dürfte und dessen Polemik gegen Paulus sich nicht verkennen läßt12. Ein ganzes System von christlichen Tugenden ist in dem bedeutsamen historischen Dokument, das uns Clemens liefert, bereits in Entwicklung begriffen. Seine Ansicht vom Christentum steht dem stoischen Moralismus näher als Paulus und seinem Römerbrief. Daß dem so ist und daß das christliche Kerygma so verstanden werden konnte, darf uns freilich nicht wundernehmen. Die Auffassung des Christentums als eines im Grunde ethischen Individualismus kann bereits, innerhalb des Neuen Testaments, auf Schritt und Tritt in den sog. Pastoralbriefen festgestellt werden. Der jüdischen Religion mußte diese Auffassung entgegenkommen, und gerade weil das Hauptproblem der 11
paulinischen Zeit, das hebräische Ritualgesetz, Clemens und seine Zeitgenossen nicht mehr beschäftigte, stimmen sie in der Vertretung einer vernünftigen Sittenlehre mit der jüdischen Diaspora überein13. Wenn wir den Geist des Clemensbriefes schildern wollen, so genügt es nicht, ihn als das Zeugnis brüderlicher Liebe und christlicher Fürsorge zu rühmen. Noch weniger reicht es aus, ihn als Äußerung von Unwillen und Zorn, oder als Einmischung in die Verhältnisse der korinthischen Gemeinde auszulegen. Hinter ihm steht eine Auffassung vom Wesen der Kirche, die ganz verschieden von der bei den Korinthern ist. Die langen und eindrucksvollen Ausführungen über Eintracht und Einigkeit im Brief der römischen Gemeinde bringen die grundsätzliche Einstellung an den Tag, daß die christliche Religion, wenn anders sie eine wirkliche Gemeinschaft zu bilden sucht, eine innere Disziplin erfordert ähnlich der der Bürger eines gut geordneten Staates mit einem alle beherrschenden Gemeingeist. Noch ist hier Raum für den Pluralismus der alten christlichen Ortsgemeinden, aber sie können nicht mehr einfach tun, was ihnen beliebt. Ihre Handlungsfreiheit und ihr Benehmen haben eine Grenze an der Mißbilligung möglicher Mißstände durch die christlichen Schwestergemeinden in anderen Städten. Eine von ihnen wird diese Mißbilligung öffentlich ausdrücken, eine Gemeinde von anerkannter geistlicher und sittlicher Autorität. Es gilt in dem Brief für ausgemacht, daß die korinthische Anarchie solche öffentliche Ermahnung nötig hat; aber es gilt ebenso für ausgemacht, daß in der christlichen Welt keine andere Autorität vorhanden ist, die dieses Recht, die Stimme der Öffentlichkeit in solcher Lage zu sein, beanspruchen könnte, als die Kirche in Rom. Der Brief nennt keinen bestimmten Verfasser. Der Name des Clemens begegnet nicht in ihm, aber er ist in der Überschrift des Briefes in unserer handschriftlichen Überlieferung enthalten. Auch wird er als der Verfasser von den Korinthern selbst und ihrem Bischof Dionysius nicht lange danach, um 170 n. Chr., zitiert. Teile des Briefes wurden noch im korinthischen Gottesdienst während der 12
nächsten Generationen verlesen. Aber Clemens vermeidet es, im Brief als Verfasser und überhaupt als individuelle Persönlichkeit aufzutreten. Das verträgt sich gut mit der Lektion, die er den Korinthern über allgemeine Zucht und Ordnung in der christlichen Gemeinde erteilt. Die Art und Weise, wie er seine Vorstellung von Ordnung und Frieden in der menschlichen Gemeinschaft der Kirche entwickelt, macht es deutlich, daß sie bewußt auf philosophisches Nachdenken über das vorliegende allgemeine Problem begründet ist. Clemens scheint zu empfinden, daß die bloße Wiederholung des Appells an das Gefühl der oder der Liebe (I. Korinther 13), das bei den Korinthern so vollständig fehlt, nicht allzuviel helfen würde. Diese Art des Zuredens muß schon oftmals von ihren führenden Männern versucht worden sein. Aber da sie ja, wenigstens zum Teil, Gebildete und im Besitz der griechischen Paideia sind, so gibt er seiner Betonung einer bürgerlichen Ordnung in der christlichen einen doppelten philosophischen Hintergrund: den der Erfahrung auf politischem und sozial ethischem Gebiet und den ändern der kosmologischen Philosophie. Das ist ebenso in der griechischen Paideia geschehen. Diese hat ständig die Normen für menschliches und soziales Verhalten von den göttlichen Normen des Universums abgeleitet, die „Natur" ( ) hießen. Die Theologen (und nicht allein sie!) sollten sich daran erinnern, daß der griechische Naturbegriif nicht identisch mit dem modernen Naturalismus ist, sondern geradezu sein Gegenteil darstellt. Nicht allein in dem berühmten 20. Kapitel des Briefes wird dieser kosmische Aspekt für das Problem des Friedens in der menschlichen Welt den Lesern vor die Augen gerückt. Auch in den folgenden Kapiteln hält sich derselbe Gesichtspunkt durch, obwohl immer der praktische Zweck des Briefes sich mit ihm verbindet. Deswegen werden die Gedanken über das Grundsätzliche in den Augen eines Griechen nicht weniger philosophisch, denn Denken und Leben müssen immer zusammengehen. Nur wenn sie in dieser Weise verstanden sind, kann der Philosoph für sich beanspruchen, die wahre Paideia zu vermitteln. 13
An diesem Punkt greift Clemens wiederum auf die Tradition der klassischen Paideia zurück, in der er mit so festen Füßen steht. Die Vorstellung einer gegliederten Gesellschaft wird von ihm aus dem griechischen politischen Denken entlehnt. In seinen Händen gewinnt sie eine beinahe mystische Färbung, weil er sie in seiner christlichen Weise als die Einheit des Leibes Christi versteht. Dieser mystische KirchenbegrifT, der von Paulus stammt, ist von Clemens mit der Weisheit griechischer politischer Erfahrung und Theorie gefüllt. In Kapitel 37 weist er zunächst auf die Parallele mit dem römischen Heer und seiner hierarchischen Disziplin hin. Diese war schon der Gegenstand mancher staunenden Neugier unter der nichtrömischen Bevölkerung des Reiches gewesen (es sei nur erinnert an die langen Beschreibungen der Organisation und der unbezwingbaren Macht des römischen Heeres bei Polybius, der sich darüber gegen die Griechen äußert, und bei Josephus, der sich an die Juden wendet). Dann greift Clemens zurück auf die griechische Tragödie und zitiert Sophokles oder Euripides, wobei er vielleicht die Worte aus einer griechischen philosophischen Quelle entnimmt: auch der Große kann nicht ohne den Kleinen existieren und der Kleine kann nicht ohne den Großen sein. Sophokles hat dies in dem berühmten Chorlied seines Ajax (158) gesagt, aber diese Erfahrung erscheint bei Clemens verbunden mit der allgemeinen Feststellung, daß dies so sei, weil eine gründliche Mischung in allen Dingen bestünde, die sie erst praktisch brauchbar mache. Die Kombination dieses Gedankens mit dem von der wechselseitigen Zusammenarbeit des Großen und des Kleinen in der menschlichen Gesellschaft findet sich nicht im Ajax des Sophokles, aber sie begegnet in einem ähnlichen Fragment (21) aus dem Aeolus des Euripides. Diese Beobachtung stammt von Gelehrten, die solche scheinbar kleinen Dinge wichtig genug nahmen, um Zeit und Arbeit an sie zu wenden. Ihre Entdeckungen sind bedeutsam für unsern Versuch, das Vorhandensein einer lebendigen Tradition der griechischen Paideia in der Griechisch sprechenden Gemeinde zu Rom festzustellen. Sie sprach Griechisch, weil sie aus hellenisierten Juden vom Anfang bis zum Ende des ersten Jahrhunderts bestand und sogar noch darüber hin14
aus. So konnte sie den Korinthern ihre christliche Kritik in der Sprache ihrer klassischen Bildung vortragen. Es handelte sich dabei f r sie nicht blo um eine Frage des Stils, sondern brachte es mit sich, da sie sich jedweden Problems nur im R ckgriff auf ein nach Allgemeing ltigkeit strebendes Denken bem chtigen konnte. Das aber macht das Kennzeichen der griechischen Paideia aus. Das griechische Wort, das wir mit „gr ndliche Mischung" bersetzt haben, bezeichnet eine besondere Art von Mischung, die auf Griechisch κρασις hei t und sich unterscheidet von einem blo en Nebeneinander der gemischten Elemente ohne gegenseitige Durchdringung (griechisch μΐξι$). Das sowohl von Clemens wie von Euripides in diesem Zusammenhang gebrauchte Wort ist ein Kompositum von κρασις = σύγκρασις. Es unterstreicht den Gedanken der gegenseitigen Durchdringung noch st rker als das Simplex. Wir m ssen es also mit „ Blende"13a bersetzen. Es war ein Wort von zumeist technischer Bedeutung und hatte eine lange interessante Geschichte. In der Begrifflichkeit der alten griechischen Medizin bedeutete es ein Etwas, das, obwohl es aus zwei oder mehr Elementen bestand, zu einer unl sbaren und ausgeglichenen Einheit verschmolzen war. Politische und soziale Denker beschlagnahmten das Wort, um ihr Ideal von politischer Einheit als eine gesunde Verschmelzung verschiedener sozialer Elemente in der Polis zu beschreiben. Es wurde auch auf den Kosmos und die Einheit und Ordnung seiner Elemente oder Teile angewandt. Mit ndern Worten, die Einheit der Gemeinde, die Clemens im Sinn hat und vertritt, entspricht diesem Ideal der griechischen Philosophie. Er kann sie am leichtesten durch diese Analogie erl utern, obwohl die christliche Religion aus ihrem Eigenen den alten Begriff mit neuem Geist erf llte. Aber bei dieser Gelegenheit wird deutlich, da so wie der Grieche, wenn er es mit dem Problem des Aufbaus der menschlichen Gesellschaft zu tun hatte, von dem einzelnen Anla auf die Erscheinung im Gro en zur ckzugehen pflegte, so auch das christliche Problem des Aufbaus der neuen Kirchengemeinde von Clemens im R ckgriff auf das Allgemeine unter philosophischer Beleuchtung gel st werden mu te. Das wiederholte sich immer wieder in der Geschichte des Christen15
turns, insoweit das klassische Erbe in das christliche Denken und seine Struktur eingegliedert wird. Jenes Erbe ist nicht nur als Bestandteil der Dogmatik sp ter in das Christliche gelangt, sondern es geh rt ihm seit allem Anfang und in ganz praktischer Form an, als ein unabtrennbares St ck seines Lebens selbst. Clemens hatte die Einheit zuerst durch die Ordnung im r mischen Heer und dann durch die Entsprechung zwischen dem Gro en und dem Kleinen im Zusammenhang der menschlichen Gesellschaft erl utert. Dann f hrt er fort mit der Feststellung, da diese Einheit eine ganz nat rliche sei, und vergleicht sie mit der Verbindung des menschlichen K rpers mit seinen Teilen. Hier zitiert er den Apostel Paulus (I. Korinther 12,21—22), der als erster christlicher Lehrer auf dieses Ideal hingewiesen hatte und es als Rahmen f r seine ber hmte Botschaft von der christlichen αγάπη benutzte. Clemens wiederholt keineswegs die ergreifenden Einzelheiten des paulinischen Hymnus auf die αγάπη, den die Korinther nat rlich auswendig wu ten. Er hebt nur die Bedeutung des kleinsten Teils des menschlichen K rpers f r das Leben des ganzen hervor und schlie t triumphierend seinen Beweis, am Ende von Kapitel 37, mit der Versicherung, da „sie alle gemeinsam atmen" (griechisch συμπνεΐ, lateinisch cons irant') und gerade dadurch sich selbst der Erhaltung des ganzen K rpers unterordnen. Wiederum haben wir hier einen echt griechischen Gedanken vor uns von geradezu grundlegendem Charakter f r eine ganze Philosophie. Das Verbum σνμττνέω bedeutet, ein gemeinsames ττνεομα, einen gemeinsamen Hauch (Geist) haben. Wenn Clemens dieses Wort von den Teilen des K rpers gebraucht, so will er damit andeuten, da ein Hauch den ganzen Organismus des K rpers durchdringt und belebt. Diese Vorstellung kam aus der griechischen Medizin14 und war von daher von der stoischen Philosophie bernommen worden. Was urspr nglich das organische Leben im menschlichen K rper erkl ren sollte, das wurde jetzt auf das Leben des Universums bertragen: es war ganz durchdrungen von dem lebenspendenden pneuma, in Entsprechung zur stoischen Theorie der φύσι$. Der gemeinsame Atem ( σύμπνοια ) der Teile, den die rzte mit Bezug auf den menschlichen K rper an16
genommen hatten, war jetzt zum Grundprinzip für das Leben des Universums geworden, es wurde nun zur . Von der stoischen Kosmologie aus können wir diese Vorstellung über den Neuplatonismus bis herab zu Leibniz verfolgen. Und Clemens benutzt sie, um sein Ideal der geistlichen Einheit der Gemeinde daran zu erläutern. Der christliche Begriff des „heiligen Geistes" mag ihm die Übernahme dieser Vorstellung erleichtert haben. Auf jeden Fall ist sie eine dieser bildhaften Wendungen, die sich als auf die verschiedensten Dinge anwendbar erwiesen haben. Beide Vorstellungen, die $ und die , gehören zusammen und decken ihren Ursprung aus derselben philosophischen Quelle auf. In dieser muß es sich um das Problem des politischen Einklangs in der menschlichen Gesellschaft gehandelt haben. Daran war Clemens notwendig interessiert, wollte er doch in der rasch wachsenden Kirche sein Ideal eines ordo Christianus fest begründen und damit jedem Glied dieser Gemeinschaft seinen bestimmten Platz und den Weg zur Zusammenarbeit nach seinen Fähigkeiten anweisen können. Es gibt eine bestimmte Stellung und Aufgabe für den Hohenpriester und sein Amt, eine andere für die Priester, eine andere für die Leviten und Diakone und noch eine andere für die Laien. Keiner von ihnen darf die Grenze seines Amtes überschreiten, sondern jeder muß mit ihm zufrieden sein. Diese Beispiele entnimmt Clemens dem jüdischen Gesetz und seiner Überlieferung in der Heiligen Schrift. Sie sind nicht im buchstäblichen Sinne auf die Kirche übertragbar, aber sie haben offensichtlich die Tendenz, das Muster für ihre neue Hierarchie zu werden. Die durch den Brief zur korinthischen Gemeinde Sprechenden behaupten eine Autorität, die auf der Voraussetzung beruht, daß sie nicht Anmaßung vonseiten der römischen Gemeinde ist, sondern Erfüllung einer christlichen Pflicht gegenüber den irrenden Brüdern. Am Schluß des Briefes, unmittelbar vor dem feierlichen und schönen Gebet, mit dem er endet, gibt Clemens weitere abschreckende Beispiele aus der Schrift und der heidnischen Geschichte (wie er ausdrücklich im Kapitel 55 feststellt). Dann wendet er sich dem Lobe der Paideia zu, womit er seinen ganzen Brief-als einen Akt christ2 Jaeger, Christentum
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lieber Erziehung hinstellt. Diese muß ihm als eine wirkliche Rechtfertigung seines Unternehmens erschienen sein. Und in ihrem Licht müssen auch die Briefe der Apostel, die später als ein Teil des „Neuen Testaments" gesammelt wurden, gesehen worden sein. Kein Wunder, daß sein Brief an die Korinther jahrhundertelang zu dieser Gruppe von Büchern gehörte. Für einen Mann von griechischer Erziehung muß sich das Wort Paideia ganz natürlich für Sinn und Zweck des Briefes aufgedrängt haben. Das biblische Zeugnis dafür — noch war es unser Altes Testament — fehlte keineswegs und wird reichlich im Schlußteil des Briefes angeführt. Die Septuaginta spricht oft von Paideia; sie meint damit noch das, was das hebräische Original darunter in den von Clemens angeführten Stellen verstand : die Züchtigung des Sünders, die eine Sinnesänderung in ihm herbeiführt. Für Clemens ist diese alte Bedeutung des Wortes ebenso überall gegenwärtig. Aber es ist deutlich, daß er es in einem viel weiteren Sinne in seinem Brief anwendet und auch, während er das Schriftzeugnis anführt, bei sich selbst genau die Vorstellung von Paideia hat, wie er sie den Korinthern in dem ganzen Brief vorträgt. In diesem Sinne sprachen der Epheserbrief und einige andere Stellen in den apostolischen Schriften, die zu seiner Zeit in den christlichen Gemeinden in hohem Ansehen standen, von der . Dieses Wort muß Clemens im Sinn haben, wenn er an verschiedenen Stellen gegen Ende seines Briefes von der „Paideia Gottes" oder der „Paideia Christi" als der großen schützenden Macht im Leben der Christen spricht15. Es kann kein Zweifel sein, daß das, was er in seinem Brief aus einer großen philosophischen Tradition und aus ändern heidnischen Quellen übernimmt, von ihm einbegriffen wird in diese umfassende Vorstellung einer göttlichen Paideia. Wäre es anders, so hätte er es nicht für seinen Vorsatz, das Kirchenvolk in Korinth von der Wahrheit seiner Lehre zu überzeugen, gebrauchen können. Diese allgemeinen Wahrheiten und Aussagen griechischer Dichter und Denker gliedert er in seine christliche Paideia ein als verstärkenden Nachweis und um seinem Werk den deutlichen Charakter einer Paideia zu geben. Auf diese Weise will er seinen eigenen „Rat" den mißleiteten korinthischen Brüdern leich18
ter annehmbar machen. Als dauerndes Gesetzbuch der neuen Paideia hat das Dokument Anlaß und Zweck seiner Entstehung überlebt. Es hängt mit der Grundidee des Verfassers bei seinem Werk zusammen, daß er sogar in dem Schlußgebet Gott für die Sendung Christi zu uns dankt, „durch den Du uns erzogen und geheiligt und uns geehrt hast." Die hohe Bedeutung der Paideia im letzten Teil des Briefes, in dem Clemens den Versuch macht, bei seinen Lesern Verständnis für die Absicht ( ) seines Briefes zu wecken, kann nicht ganz aus der Rolle, die die Vorstellung bis dahin in der christlichen Gedankenwelt gespielt hatte, erklärt werden. Sie ist ohne Zweifel durch ihre ausschlaggebende Geltung in der griechischen Gesittung gesteigert worden.
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Ill
DIE RELIGION DER VERNUNFT BEI DEN APOLOGETEN
Die älteste christliche Literatur ist für Christen bestimmt und für alle, die auf dem Wege zur christlichen Religion sind. Insoweit ist sie eine innere Angelegenheit der christlichen Gemeinden. Aber die christlichen Schriftsteller wurden durch die grausame Verfolgung gegen die Anhänger Christi überall im römischen Reich geradezu gezwungen, sich an ein nichtchristliches Publikum zu wenden. So trat um die Mitte des zweiten Jahrhunderts eine große Fülle von Schriften ans Licht, in denen sich die Christen gegen die heidnische Majorität der Bevölkerung zu verteidigen suchten. Es liegt auf der Hand, daß der vielstimmige Chor solcher Apologeten nicht für bewiesen voraussetzen konnte, was er zu verteidigen sich anschickte. Darin unterschied sich die Lage von der der früheren christlichen Literatur. Die neuen Verteidiger ihrer Religion mußten einen gemeinsamen Boden für sich und ihre Adressaten suchen, wenn sie Verständnis finden wollten. So wurden sie veranlaßt, sich starker darum zu bemühen, wie sie mit vernünftigen Gründen für ihren Standpunkt eintreten könnten, um andere in ein wirkliches Gespräch mit sich zu bringen. Die meisten wählten die Form lehrhafter Darlegung, um mögliche Einwürfe oder Verleumdungen zu beantworten. Aber die Situation selbst führte zu einer Neubelebung des Dialogs, wie z. B. in Justins des Märtyrers Dialog mit Trypho. Da haben wir ein klassisches Beispiel dafür, wie man nicht in äußerlicher Nachahmung eines versteinerten literarischen Vorbildes stekken zu bleiben braucht, sondern die Partner des Dialogs sich wirklich darum bemühen lassen kann, einander zu verstehen, anstatt die Fragen lediglich zum Zweck der Widerlegung zu stellen1. Dieses Experiment konnte nur in der Luft griechischer Geisteskultur und Vernunft gelingen. Die Sprache ist darum in der Tonlage verschieden von der älteren enthusiastischen christlichen Redeweise. Die Schrift20
steller versuchen nicht, sich an die ungebildete Masse zu wenden, sondern schreiben für Leute, die lesen, um besser unterrichtet zu werden. Sie richten sich an die wenigen Gebildeten, einschließlich der römischen Kaiser2, und reden sie persönlich als Männer mit höherer Bildung an, die an ein solches Problem in philosophischer Absicht herantreten3. Das beruht keineswegs auf Schmeichelei; kein irdischer Herrscher verdiente eine solche Einschätzung mehr als Hadrian, Antoninus Pius oder Marc Aurel, an die einige dieser Werke ausdrücklich gerichtet sind. Die Christen sahen sich geradezu der Anklage des Kannibalismus gegenüber, weil sie beim Abendmahl das Fleisch und das Blut ihres Gottes genossen. Sie galten als Atheisten, weil sie die Staatsgötter nicht verehrten. Sie verweigerten den Kaiserkult, und darum war ihr Atheismus zugleich eine politische Umsturzbewegung4. Die Verteidigung des Christentums mußte sich auf der ganzen Linie philosophischer Argumente bedienen. Hatten nicht die großen Philosophen Sokrates, Plato und viele andere ebenso gelehrt5? Unglaube gegenüber den Göttern der alten Dichter und der Volksreligion war so alt wie die Philosophie selbst6. Und hatte nicht Sokrates bereits den Tod eines Märtyrers für seine reinere Auffassung des Göttlichen erlitten7? Er war der Prototyp des leidenden Gerechten, ein wirklicher , wie einige Gestalten des Alten Testaments, die auf das Kommen Christi hinweisen sollten. Die Stoiker hatten gelehrt, daß der göttliche Verursacher der Welt der Logos war und alles Seiende durchdrang. Dieser Logos, schon von Sokrates teilweise vorweggenommen, war in Christus als Mensch erschienen. So sagt es das vierte Evangelium, denn hier tritt Christus als 'die schöpferische Macht des Wortes hervor, durch das die Welt geschaffen wurde8. Justin erzählt in seinem Dialog, wie er sich seit frühester Jugend zur griechischen Philosophie hingezogen fühlte. In der Tat hatte er sich mit einem ihrer Systeme nach dem ändern beschäftigt, weil keines ihn vollständig befriedigen konnte, bis er endlich die Antwort in der christlichen Religon fand9. Aber auch als Christ legte er den Mantel des griechischen Philosophen nicht ab, weil ihm das Christentum als die absolute Philosophie galt10. Die 21
ganze Frage ist nicht nur für Justin, sondern weithin für seine Zeitgenossen ein philosophisches Problem. Die Auffassung des Christentums als einer Philosophie wird uns nicht überraschen, wenn wir einen Augenblick haltmachen und uns besinnen, womit ein Grieche den jüdisch-christlichen Monotheismus vergleichen konnte. Denn da entdecken wir in der griechischen Gedankenwelt eine Entsprechung allein in der Philosophie. Als die Griechen erstmals in Alexandrien auf die jüdische Religion trafen — das geschah im dritten Jahrhundert vor Christus, nicht lange nach Alexander dem Großen — da sprechen die griechischen Autoren ständig von den Juden als einer „philosophischen Menschenart": z. B. Hekatäus von Abdera, Megasthenes und Klearchus von Soli auf Zypern, der Schüler Theophrasts, die uns ihre ersten Eindrücke von der Begegnung mit dem jüdischen Volk hinterlassen haben11. Sie meinen natürlich, daß die Juden schon immer eine bestimmte Vorstellung von der Einzigkeit des göttlichen Prinzips der Welt besaßen, während die griechischen Philosophen dazu erst in jüngster Zeit gelangt waren. So diente die Philosophie als Plattform für die ersten Versuche eines engeren Kontaktes zwischen Ost und West zu einer Zeit, als die griechische Zivilisation unter Alexander ostwärts wanderte, und möglicherweise noch vorher. Der Jude in dem verlorenen Dialog Klearchs, der mit Aristoteles zusammentraf, als dieser im kleinasiatischen Assos lehrte, wird als ein perfekter Grieche nicht nur seiner Sprache, sondern auch seinem inneren Wesen nach beschrieben12. Was ist das „Wesen" des Griechen in den Augen eines peripatetischen Philosophen? Nicht das, was die moderne historische oder philologische Wissenschaft aus Homer, Pindar, oder dem perikleischen Athen abzuleiten sucht. Das Wesen des Griechen stellt sich für ihn in dem zu Verstand und Einsicht gekommenen Menschen dar. An seiner kristallklaren Welt konnte auch der hochbegabte, intelligente Fremde teilhaben und sich in ihr mit vollkommener Leichtigkeit und Grazie bewegen. Vielleicht konnten sie einander niemals bis in die letzten Tiefen ihrer Seele verstehen, vielleicht vermochte das geistige Ohr des einen nicht die feinen Obertöne in der Sprache des ändern aufzunehmen. Aber genug — sie 22
glaubten einander verstehen zu können, und ihre tapferen Versuche schienen einen überraschenden Erfolg zu verheißen. Vielleicht wäre das heilige Buch der Juden niemals übersetzt worden und die Septuaginta niemals zustande gekommen, hätten nicht die alexandrinischen Griechen gemeint, darin das Geheimnis dessen zu finden, was sie respektvoll die barbarische Philosophie nannten18. Hinter diesem Unternehmen steht der neue Gedanke der „einen Menschheit", den Alexander durch seine Politik nach der Eroberung des Perserreiches verbreitet hatte14. Für uns ist Philo von Alexandrien der Prototyp des jüdischen Philosophen im Vollbesitz der griechischen Tradition. Aus ihrem reichen Begriffsschatz und aus ihren literarischen Mitteln schöpft er mit vollen Händen, um sich durchzusetzen, nicht bei den Griechen, sondern bei seinen jüdischen Landsleuten15. Das ist wichtig, zeigt es doch, daß alles Verstehen, selbst unter Nicht-Griechen, das verbindende Medium des griechischen Denksystems benötigte. Es war unentbehrlich insbesondere für die Erörterung der religiösen Frage, weil die Philosophie in dieser Zeit für die Griechen die Aufgabe der natürlichen Theologie übernommen hatte16. Aristoteles hatte im Gefolge der entschiedenen Neigungen des späten Plato seine „erste Philosophie" als Theologie entworfen17. Aber der Ansatz zur philosophischen Religion, getrennt von Physik und Kosmologie, ist im griechischen Denken, mehr oder weniger entwickelt, seit den Anfängen da gewesen18. Seitdem Aristoteles ihren Primat erklärt hatte, kann sie in jedem System der griechischen Philosophie, dem platonischen, stoischen, ja auch dem epikureischen, mit alleiniger Ausnahme der Skeptiker, gefunden werden. Im Dialog Justins des Märtyrers geht die Unterhaltung des Juden Trypho von seiner Begegnung19 mit dem griechischen Philosophen bei einem Spaziergang in der Säulenhalle eines Gymnasiums aus20. Er sagt zu ihm: „Ich sehe, du bist ein Philosoph" und setzt deshalb voraus, daß er sich mit Gott und dem Problem der Theologie befasse21. Das bestätigt ihm der andere ohne weiteres. Also ist die Vorstellung vom Philosophen als einem Mann, der sich mit Gott beschäftigt, in der Mitte des zweiten Jahrhunderts n. Chr. ganz gebräuchlich. 23
Galt das Christentum in dieser Zeit als Philosophie, so wegen seiner Ethik und Kosmologie, besonders aber wegen seiner Theologie. So urteilte nicht nur der jüdische, sondern ebenso der heidnische Beobachter. Darum fängt man damals in der heidnischen Literatur an, christliche Ansichten zu erwähnen. Noch Tacitus hatte die Christen als eine politische fanatische Gruppe im jüdischen Volk angesehen, das sich gegen die römische Vorherrschaft in einem mit der Zerstörung Jerusalems unter Titus endenden Aufstand empört hatte22. Auch noch Marc Aurel spricht von den christlichen Märtyrern als von religiösen Fanatikern. Er hätte ihre Tapferkeit und Standhaftigkeit gern bewundert, wenn sie ihm nicht als theatralische Übersteigerung verächtlich gewesen wären23. So schreckte der enthusiastische Wille, den Tod durch die wilden Tiere im Kolosseum zu erleiden, in den Briefen des Ignatius von Antiochien24 den melancholischen stoischen Philosophen auf dem Thron ab. Aber ein anderer berühmter Zeitgenosse, der heidnische Arzt und Philosoph Galen, spricht von Juden und Christen als von Philosophen. Er vergleicht die Kosmologie des Moses mit der Epikurs und Platos, dessen Timaeus er bevorzugt, weil Plato sich nicht ausschließlich mit dem Willen des Schöpfers beschäftigt, mit dem göttlichen fiat, sondern ein Gemälde des göttlichen Schaffens entwirft und so den Kunstsinn und die Vernunft der Griechen befriedigt25. In seinem Bericht über die Philosophie der Christen tadelt Galen ihre Abhängigkeit vom „Glauben". Dieser stellt für ihn ein rein subjektives Beweismittel dar und zeigt den gänzlichen Mangel einer ausreichenden wissenschaftlichen Begründung ihres Systems an28. Das Problem Glaube und Vernunft hat sich noch nicht erhoben, ausgenommen bei dem nichtgriechischen christlichen Apologeten, dem Afrikaner Tertullian. In seinen Beweisen gegen die Götter und abergläubischen Vorstellungen der Heiden ist Tertullian ganz und gar abhängig von seinen griechischen christlichen Vorgängern, die ihrerseits ihre Argumente von den griechischen Philosophen übernommen hatten. Aber er teilt ihre Ansicht nicht, daß das Christentum selbst eine Philosophie sei27. Er unterscheidet scharf zwischen der christlichen Religion als Glauben und der Philosophie als einer rein rationalen Haltung. Die Überlegen24
heit des Glaubens über die Vernunft besteht für ihn gerade in seinem suprarationalen Charakter. Hierin nimmt er Entwicklungen des lateinischen Christentums vorweg, Erscheinungen von größter Wichtigkeit und ganz verschieden von der griechischen Auffassung. Die Griechen halten sich stets für die Unterstützung durch die Vernunft offen; dagegen betont der Römer mit Nachdruck erstens das persönliche Moment bei der Annahme des christlichen Glaubens und zweitens die überpersönliche Rolle der Autorität. Diese grundsätzliche Verschiedenheit in dem Verhältnis der Römer und Griechen zu dem Problem der religiösen Gewißheit zeigte sich nicht erst beim Auftreten des Christentums. Sie begegnet schon mit Bezug auf die römische Religion und Tradition in Ciceros drittem Buch De natura deorum. Zunächst legen die Epikureer und Stoiker dar, was ihre philosophischen Systeme zu dem Problem beizutragen haben. Dann lehnt der Wortführer in Buch III, philosophisch ein Skeptiker, aber zugleich Pontifex Maximus des römischen Staates, ihre für das Dasein und die Natur der Götter vorgebrachten Vernunftbeweise ab. Weil sie aus Grundsatz logischer Kritik ausgesetzt seien, erklärt er sich für außerstande, sie als Voraussetzung seiner religiösen Haltung anzunehmen. Für ihn käme allein die Annahme der Religion in Frage, auf die der römische Staat sich gründe, anders ausgedrückt: die Autorität der Tradition28. Ich habe immer geglaubt, daß diese echt römische Antwort Ciceros die spätere Entwicklung vorwegnimmt: denn das Problem tauchte wieder auf, nachdem der christliche Glaube an die Stelle der alten heidnischen Götter getreten war. Doch nun zurück zu den griechischen Apologeten. Sie waren wie gesagt weniger radikal in ihren Zweifeln gegenüber Philosophie und Vernunft. Der einzige, der im Osten Tertullians Haltung teilte, war der Syrer Tatian. Er schrieb griechisch wie alle ändern und besaß griechische Bildung. Aber er glaubte nicht an ihre Ideale29, sondern tadelte heftig die Richtung, in der sich das Christentum seiner Zeit entwickelte: die Zukunft hinge nicht davon ab, daß die Christen sich stufenweise der griechischen Kultur anpaßten, sondern verlange von ihnen die unverfälschte Reinerhaltung ihres barbarischen 25
Gottesdienstes. Justin erscheint geradezu als ein Ausbund von Bildung im Vergleich mit diesem Vorkämpfer des Anti-Hellenismus. Tatian kann jedoch nicht allein gestanden haben. Nach dem östlichen Vormarsch des Hellenismus während der ersten Jahrhunderte mußte eine heftige Reaktion des Ostens erfolgen. Das Vordringen der jüdischen und der christlichen Religion war ein Teil davon. Aber diese ungezügelte Form der Reaktion hatte nur schwache Aussichten, in Ländern wirklich Fuß zu fassen, die tiefer vom Hellenismus durchdrungen waren; und wo dies doch zeitweilig gelungen schien, dauerte es nicht lange. Andererseits: wie steht es mit dem, der mit den Worten Justins bei seinem Gespräch mit dem fremden alten Mann in der Einöde30 einst an Plato und Pythagoras als die festen Mauern der Philosophie und aller geistigen Werte geglaubt hatte? Er mußte von daher zu gewissen Folgerungen über die Rolle der göttlichen Vorsehung in der Geschichte kommen. Hatte Gott sich nur den Juden durch Gesetz und Propheten offenbart? Hatte nicht schon Paulus im Römerbrief den Beitrag heidnischer Weisheit hinsichtlich der Wahrheit anerkannt31? Allerdings anerkannte er ihn keineswegs sofort als eine andere Seite von Gottes Offenbarung. Aber auch wenn man über diese begrenzte Anerkennung nicht hinausging: haben die Griechen ihren bedeutsamen Weg in der Geschichte unabhängig von dem Erziehungsplan der göttlichen Vorsehung zurückgelegt? Solchen Fragen sah sich das vordringende Christentum in den Tagen der Apologeten gegenüber. Sie öffneten die Tür, durch die griechische Kultur und Tradition in die Kirche strömten und sich mit ihrem Leben und ihrer Lehre verbanden. Das Zeitalter der großen Lehrer und Denker des alten Christentums brach an.
26
IV
DER PHILOSOPHISCHE GLAUBE UND DAS CHRISTENTUM
Man kann die geschichtliche Entwicklung der christlichen Religion in den ersten Jahrhunderten als den Prozeß einer fortgesetzten „Übersetzung" ihrer Quellen auffassen mit dem Ziel, der Welt in immer wachsendem Maße das Verständnis und die Verwirklichung ihres Inhalts zu vermitteln. Der Prozeß begann damit, daß die ersten Evangelisten auf die ältesten mündlichen oder schriftlichen Berichte über die Worte und Taten Jesu zurückgriffen, sie aus der aramäischen Ursprache ins Griechische übersetzten und sie in ihre heutige Ordnung brachten. Einen weiteren Schritt tat Lukas, ein Schriftsteller mit besserer griechischer Schulbildung. Ihm erschienen die alten Übersetzungen mangelhaft in Sprache und Darbietung des Materials. Daher versuchte er, sie mit seinen eigenen höheren Ansprüchen in Einklang zu bringen. Aber die Übersetzung in dieser buchstäblichen Bedeutung war nur ein. erster Versuch, auf den Sinn der ursprünglichen Worte zurückzugehen. Bald erwies sich eine andere Art von Erklärung als nötig. Sie wollte nicht nur die bloßen Worte der Textüberlieferung wiedergeben, sondern machte es sich zur Aufgabe, die tiefere Bedeutung der christlichen Botschaft zu erfassen, d. h. zu fragen „Wer war Jesus ?" und „Welche göttliche Vollmacht besaß er?" Die Antworten bewegten sich zunächst innerhalb des jüdischen Rahmens von Gesetz und Propheten, sowie innerhalb der messianischen Überlieferung Israels. Aber bald wurde der Versuch unternommen, sie für griechische Ohren verständlich zu machen, um ihre Aufnahme in der hellenischen Welt zu ermöglichen. Dadurch wurde der Vorgang der geistigen Aneignung ganz von selbst auf eine höhere Ebene verlagert, und besondere Anstrengungen waren für diese gewaltige Aufgabe erforderlich. Die Apologeten des zweiten Jahrhunderts waren Männer mit 27
achtbaren Kenntnissen. Aber jetzt brauchte das Christentum den Dienst jener Persönlichkeiten von höherer geistiger Prägung, die sich in dem kulturellen Klima von Alexandria, dem Mittelpunkt der hellenistischen Welt, fanden. Ost und West waren sich dort begegnet und standen im Wetteifer miteinander, seitdem Alexander der Große die Stadt gegründet hatte. Dort versuchte Philo, der jüdische Philosoph, in der Zeit von Jesus und Paulus in zahlreichen griechisch geschriebenen Werken zu zeigen, daß seine hebräische Religion in der Sprache der griechischen Philosophie dargestellt und verstanden werden konnte. Er rechtfertigte sie vor dem Richterstuhl der Vernunft, und so war es nicht ohne Vorgang, als zwei Jahrhunderte später die hellenische und christliche Überlieferung einander Auge in Auge an diesem Kreuzweg der Geschichte gegenübertraten. Bis dahin hatten sie in derselben Umgebung in einem Zustand unausgesprochener Feindseligkeit gelebt, und nur gelegentlich war man auf einander eingegangen, um geistig die Klingen zu kreuzen. Das wiederholte sich von jetzt ab in größerem Maßstab und auf höherer Ebene. Die berühmtesten Beispiele für diese große Auseinandersetzung zwischen griechischen und christlichen Gelehrten im dritten Jahrhundert sind Origenes' Bücher Contra Celsum und das große Werk des Neuplatonikers Porphyrius Gegen die Christen. Aber diese Angriffe setzen bereits im christlichen Lager die Entstehung einer echt wissenschaftlichen Haltung und einer philosophischen „Theologie" voraus, was wiederum erst eintreten konnte, nachdem christlicher Glaube und griechische philosophische Überlieferung sich in einem und demselben Individuum verkörpert hatten. Das war der Fall bei Clemens von Alexandrien und seinem größeren Schüler Origenes. Die Vereinigung der beiden Welten in diesen Persönlichkeiten brachte eine außerordentlich vielseitige Synthese von Griechentum und Christentum hervor. Man muß sich die Frage vorlegen, warum das Christentum als Schößling des Spätjudentums eine so völlige Umformung auf sich nahm, oder warum die alte griechische Kultur in ihrem Endzustand sich diesen orientalischen Glauben aneignete, obwohl er doch ihrem Wesen so fremd war. Bei der Antwort geraten sowohl der klassische 28
Philologe, wie der christliche Theologe in große Schwierigkeiten. Der heutige Klassizismus möchte das griechische Erbe als in sich selbst ruhende und wesentlich anthropozentrische Kultur ansehen. Er hat kein Verständnis dafür, daß diese Seelenhaltung offensichtlich, wenn es sie überhaupt jemals gab, nicht mehr bestand, als das Christentum seine eigene Auffassung vom Menschen und menschlichen Leben einem späten Geschlecht der „griechischen" Zivilisation anbot. Er vergißt gern, daß Athen, wo Paulus bei seinem Gang durch die Straßen auf Schritt und Tritt den Spuren der Gottesfurcht im Volk begegnete1, mit beinahe denselben Worten von Sophokles in seinem Oedipus auj Kolonos geschildert wird2. In dieser Stadt besaß die Frömmigkeit tiefe Wurzeln. Monotheistische Vorstellungen hatten sich aus der Philosophie in den alten Glauben eingeschlichen, war doch ihre Erörterung zur Zeit des Paulus schon Jahrhunderte alt und bis zum Mann auf der Straße durchgedrungen3. — Andererseits kann der heutige Christ mit einer ausgeprägten theologischen Überzeugung, mag sie von Thomas Aquinas oder von Martin Luther stammen, sich schwerlich eine Form des Christentums aneignen, in deren Zentrum noch nicht die ihm selbst wesentlichen Gedanken stehen. Wollen wir ein treues Bild des geschichtlichen Phänomens gewinnen, so dürfen wir nicht erwarten, daß unser moderner einseitiger Purismus, mag er humanistisch oder theologisch geartet sein, durch die Gedankenwelt der alten griechischen Christen bestätigt würde. Wir finden in der Geschichte meistens das genaue Gegenteil solcher logisch scharfen Prägung, auf die wir uns in unsern Theorien versteifen. In Wirklichkeit mischten sich die Ideale der griechischen Kultur und der christliche Glaube, wie sehr wir uns auch Mühe geben, sie säuberlich zu scheiden. Auf beiden Seiten regte sich ein mächtiges Verlangen, in einander aufzugehen, unbekümmert darum, wie sehr sich die Sprache hier und dort einem Ausgleich widersetzte, weil in ihr eine je andere Stimmung nach bildhaftem Ausdruck drängte. Beide Seiten mußten schließlich doch erkennen, daß unter alledem eine letzte Einheit zwischen ihnen bestand. Ich meine einen innersten Kreis von Gedanken, den ein so feinfühliger Denker wie Santayana ohne Zögern „humanistisch" 29
nannte, obwohl er vielleicht damit nicht ein uneingeschränktes Lob spenden wollte. Das Ergebnis darf dann nicht als ein typisches Beispiel des religiösen Synkretismus abgetan werden, an dem jene frühen Jahrhunderte so reich sind. Verstand sich doch die Religion mit den Symbolen der Incarnation und des Ecce homo unter dem Zwang der geschichtlichen Logik. Gewisse Grundbegriffe, sozusagen die ideae mnatae der Griechen, erlebten durch sie eine Wiedergeburt. Sie gewannen neue Stärke und Selbstsicherheit an Stelle des äußeren Anscheins von Verfall und radikaler Veränderung. Aber auch für das Christentum bedeutete die schöpferische Berührung mit den bleibenden Ideen der griechischen Überlieferung eine Festigung in der Überzeugung von seiner eigenen Universalität (Katholizität). Diesen Anspruch hatte die christliche Religion von Anfang an erhoben und ständig behauptet, den Anspruch auf Wahrheit. Er mußte ganz unvermeidlich sich selbst an den einzigen geistigen Werten messen, die Universalität beansprucht und erlangt hatten, denen der griechischen Kulturwelt rund um das Mittelmeer. Der Traum Alexanders bei Gründung der Stadt seines Namens stand im Begriff, sich nun zu verwirklichen: zwei universale Systeme, griechische Kultur und christliche Kirche, vereinigten sich unter dem mächtigen Gewölbe der alexandrinischen Theologie. Damit beginnt der christliche Glaube an dem großen Vorgang der griechischen Geistesgeschichte teilzunehmen und sich mit dem fortdauernden Rhythmus ihres Lebens zu vereinigen. Denn es wäre falsch anzunehmen, daß die Hellenisierung des Christentums in diesem Augenblick eine einseitige Angelegenheit war. Sie erfolgte nicht ohne Beziehung auf die inneren Bedürfnisse des griechischen Menschen dieser Zeit. Die griechische Geistesgeschichte zeigt, nach einer anfänglichen mythologischen Periode, von frühester Zeit an eine wachsende Neigung zur Rationalisierung aller Arten menschlichen Tuns und Denkens. Als ihre erhabenste Kundmachung brachte sie die Philosophie hervor, die bezeichnendste und ihm ganz eigene Form des griechischen Genius und einer der vornehmsten Rechtstitel seines Anspruchs auf geschichtliche Größe. Der Gipfel dieser fortschreitenden Entwicklung war mit den Schulen Platos und 30
Aristoteles' erreicht. Die im frühen Hellenismus folgenden Systeme der Stoiker und Epikureer bedeuten den Wendepunkt und zeigen den Abstieg von der schöpferischen Macht jener Periode. Die Philosophie wird eine Sammlung von Lehrsätzen und beschäftigt sich, obwohl sie auf einer bestimmten Vorstellung von Welt und Natur beruht, in erster Linie damit, das menschliche Leben durch philosophische Belehrung zu lenken und ihm eine innere Sicherheit zu verleihen, die nicht mehr in der Außenwelt gewonnen werden kann. Damit übernimmt die neue Philosophie eine religiöse Aufgabe. Um das zu verstehen, braucht man sich nur an den Zeushymnus des Stoikers Kleanthes oder an das enthusiastische Lob zu erinnern, das Lukrez seinem Meister Epikur und seiner Lehre spendet. Stoizismus und Epikureismus stehen meistens gegensätzlich zueinander, haben aber das gemeinsam, daß sie ein irrationales religiöses Bedürfnis befriedigen und damit ein Vakuum der alten griechischen Staatsreligion der olympischen Götter auszufüllen versuchen. Jedoch der Geist kühler Forschung und kritischer Zergliederung der menschlichen Erkenntnismöglichkeiten war noch stark genug für den schwersten Angriff, den jemals ein griechischer Denker gegen ein derartiges Heilswissen als Prinzip geführt hat. Das Ergebnis war, daß die griechische Philosophie in einem heroischen Skeptizismus endete und radikal alle dogmatische Philosophie der Vergangenheit und Gegenwart verleugnete, ja darüber hinaus erklärte, sich völlig jeder positiven Aussage über wahr und falsch nicht nur in Hinsicht auf die metaphysische Spekulation, sondern auch in der Mathematik und Naturwissenschaft enthalten zu wollen. Die Griechen haben sich in gewisser Weise niemals von diesem Schlage erholt und nach dem Aufkommen der Skepsis keine große Philosophie mehr im alten Sinne entwickelt. Aber die alten philosophischen Schulen brachten allmählich eine seltsame Art von Selbstverteidigung zustande. Sie vereinigten ihre Kräfte und schlössen eine gründe alliance, zu der Platoniker, Stoiker, Pythagoreer und (in geringerem Umfange) Aristoteliker beitrugen. Das war nur möglich durch Vernachlässigung ihrer Differenzen, von denen die Skeptiker in ihrer Polemik viel Wesens gemacht hatten, und durch 31
den Versuch, eine gemeinsame Grundlage zu finden. In ihrer Forderung nach philosophischer Gewißheit waren sie sehr bescheiden geworden. Während die alten Schulen noch immer ihre Beweise wiederholten, zeigte Cicero in seinem Dialog Über die Natur der Götter, wie die positive Religion, z. B. die alte römische religiöse Überlieferung, aus dem ungläubigen Skeptizismus der griechischen Philosophen Nutzen ziehen könne. Denn, wie wir beobachtet haben, der hochgebildete Aurelius Cotta will lieber philosophisch ein Skeptiker sein als die Vernunftbeweise der stoischen natürlichen Theologie annehmen, wiewohl er auf dem Gebiet des positiven Religionsdienstes einfach die alte römische Tradition als dazugehörigen Teil des vollen politischen Systems der res publica übernimmt4. Aber auch dort, wo die Philosophen sich der Metaphysik gegenüber aufgeschlossener verhielten, wie die Platoniker und Stoiker es taten, griffen sie auf die noch lebendige alte Kultreligion und auf die allegorische Interpretation ihrer Mythen zurück. Ebenso legten sie ein besonderes Interesse für die Religionen der „Barbaren" an den Tag, besonders alle orientalischen, darunter für die der Juden und ihren bildlosen Gottesdienst. Das eigentliche philosophische Fachstudium wurde mehr und mehr zur esoterischen Domäne einiger weniger gelehrter Kommentatoren, deren riesige Werke niemand las5. Zur Zeit Ciceros zum Beispiel konnte, wie er mit wahrscheinlich nur leichter Ubertreibung angibt, kein griechischer Philosoph den Aristoteles verstehen6. Die philosophische Bemühung mußte in ihrer literarischen Form sich dem Verständnis des lesenden Publikums anpassen. So wich die Darbietung in systematischem Zusammenhang mehr und mehr dem Essay oder der volkstümlichen Diatribe mit dem Schwergewicht auf den theologischen Fragen. Musonius, Epiktet, Plutarch, Pseudo-Longinus, Dion von Prusa und Kaiser Marc Aurel, um von Apollonius von Tyana und ähnlichen fremdartigen Erscheinungen zu schweigen, zeigen alle diese Neigung. Sogar die Hüter der klassizistischen Überlieferung wie Aelius Aristides fühlten, daß ihre schwungvollen Reden auf die Religion eingehen mußten, denn davon wollten jetzt die meisten hören7. Satiren fehlten nicht, aber Lukians beißender Hohn ist die Ausnahme, 32
die die Regel bestätigt. Er liefert uns ein äußerst lebensnahes Gemälde von den Auswüchsen des zeitgenössischen bigotten Aberglaubens. Es nimmt weiter nicht wunder, daß sogar die Schulphilosophie dem allgemeinen Zug der Zeit folgte. Davon bietet die Auslegung Platos durch die platonische Akademie des zweiten Jahrhunderts n. Chr., gewöhnlich mittlerer Platonismus genannt, ein sprechendes Spiegelbild. Man könnte mit vollem Recht behaupten, daß die allgemeine große Renaissance Platos in der damaligen griechischen Welt nicht auf die Vertiefung des gelehrten Studiums zurückgeht, das sie begleitet. Die wahre Ursache für sie ist vielmehr die Rolle des „göttlichen Plato" als oberste religiöse und theologische Autorität, eine Rolle, die er im Lauf des zweiten Jahrhunderts übernimmt und die ihren Höhepunkt im sogenannten Neuplatonismus der Generation des Origenes im dritten Jahrhundert erreicht8. Nicht ein bloßer formaler Klassizismus konnte das alte Menschtum retten. Der Grund für sein Überleben als Ganzes war die Tatsache, daß es Plato besaß. Hätte es sich nicht um ihn gekümmert, so wäre wohl der Rest der hellenischen Kultur zugleich mit den alten olympischen Göttern gestorben. Die griechischen Humanisten verstanden ihre Lage recht gut, und das gleiche gilt für die Philosophen der platonischen Akademie, die sich des Zugs zur Religion in ihrer Zeit bedienten. Es wollte nicht mehr ausreichen, wenn man wie der Rhetor Aristides einen prächtigen Prosahymnus zu Ehren der alten griechischen Gottheiten verfaßte und dabei jeder einzelnen von ihnen eine philosophische Bedeutung nach der allegorischen Manier der Stoiker unterlegte. Darum erfüllten andere Klassizisten die griechische Kultur mit Plato als einer lebendigen Feuerseele, um dem kalten Marmor ihrer adligen Gestalt neue Wärme und neue Leuchtkraft zu verleihen. Sie dachten bei Plato nicht an eine Wissenschaftslehre oder an die sozialen Theorien seines Staates. Die enthielten noch viel zu viel von dem entschlossenen Geist des alten Polisstaates für Menschen, die der Friedhofsstille der römischen Reichsverwaltung unterworfen waren. Platos Ideen, einst von Aristoteles als Kern der Philosophie seines Lehrers angegriffen, galten 3 Jaeger, Christentum
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jetzt als Gedanken Gottes, um der platonischen Theologie eine konkretere Gestalt zu geben9. Clemens und Origenes wuchsen in dieser kulturellen Umwelt auf. Sie beherrschte nicht nur die damaligen philosophischen Schulen, sondern ebenso die herkömmliche hellenische Paideia. Der syrische Neuplatoniker Porphyrius leitete seinen platonischen Glauben nicht von seinem Lehrer in der Philosophie, Plotin, her, dem er in einem späteren Lebensabschnitt in Rom begegnete. Er erwarb ihn an der besten Quelle klassischer Kultur und Bildung zu Athen in der Schule des Rhetorikers Longinus. Nach Plotin war dieser kein Philosoph, sondern der größte Philologe seiner Zeit10. Sowohl Philologie wie Philosophie bewegten sich in derselben Richtung. Sie begannen ihren Unterricht mit Homer, aber beendeten ihn mit Plato, dessen Dialoge sie lasen und erklärten11. Sie führten ihre Schüler auf den Weg zur Vergeistigung, die alle höhere Religion der Spätantike verband. Aus dieser Quelle des religiösen Empfindens wurden heidnische und christliche Überlieferung insgesamt einer neuen Deutung unterworfen, um sie den Menschen einer veränderten Zeit annehmbar zu machen. Sie begannen sich daran zu erinnern, daß Plato als erster dem innern Auge die Welt der Seele sichtbar gemacht hatte, und sie erkannten, wie diese Entdeckung von Grund aus das menschliche Leben gewandelt hatte. So wurde Plato auf dem Weg zur Höhe ihr Führer und lenkte ihre Augen fort von der sinnlich-stofflichen Wirklichkeit zu einer immateriellen Welt, in der die edleren Geister der Menschheit sich heimisch zu machen suchten.
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GLAUBE UND WISSEN BEI DEN ALEXANDRINERN
Unter solchen Vorausetzungen wurden Clemens von Alexandrien, das Haupt der christlichen Katechetenschule, und Origenes die Begründer einer christlichen Philosophie. Sie umfaßte kein vollständiges System mit allen Disziplinen, Logik, Physik und Ethik, wie bei den Aristotelikern und Stoikern. Sie bestand vielmehr ausschließlich in dem, was die früheren heidnischen Denker Theologie genannt hatten. Darum war die Theologie an sich nichts neues in der Philosophie der Alexandriner1. Neu war, daß die philosophische Spekulation von ihnen zur Unterstützung einer positiven Religion herangezogen wurde, die ihrerseits nicht das Ergebnis unabhängigen menschlichen Wahrheitssuchens war, wie die älteren griechischen philosophischen Systeme, sondern von der göttlichen Offenbarung in einem heiligen Buch, der Bibel, herrührte. Sogar das war nicht ganz ohne Vorgang! Denn Philo, wie wir sahen, hatte etwas Ähnliches mit der jüdischen Religion gemacht, und in der griechischen Philosophie hatten die Stoiker die alten griechischen Mythen allegorisch ausgelegt. Selbst Aristoteles hatte erklärt, daß die alten Götter der griechischen Volksreligion dasselbe bedeuteten wie die Theologie seines unbewegten Bewegers, nur in mythischer Form ausgedrückt2. Von der Theogonie Hesiods hatte er genauso behauptet, sie sei ein in mythischer Form3. Die alexandrinische Bibelauslegung, besonders die des Origenes, wandte diese Methode systematisch auf die Quellen der christlichen Religon an, wie seine heidnischen Genossen in der Platoverehrung aus den Schulen des Longinus und Plotinus sie für die Erklärung Homers laut den Homerischen Fragen des Porphyrius benutzt hatten4. Dahinter steckt, was die heidnische Tradition angeht, die stark konservative Haltung des griechischen philosophischen Rationalismus. Er wollte 3»
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die ganze Überlieferung der vorrationalen Schichten des Griechentums bewahren. Plato hatte in seinem Staat Homer und Hesiod abgelehnt, nicht weil sie poetische Erfindung brachten, sondern als Paideia, denn die konnte in seinen Augen nur der Ausdruck reinster Wahrheit sein5. Im Gegensatz zu ihm hatte die stoische Schule an Homer und Hesiod als den gültigen Ausprägungen der Wahrheit festgehalten, weil die alten Dichterwerke die Grundlage der griechischen Paideia bleiben sollten. Zu diesem Zweck hatten sie ein ganzes System allegorischer Bedeutungen geschaffen, die sie in den mythischen Geschichten aufspürten. Das geschah hauptsächlich aus theologischen Gründen, um die älteste schriftliche Überlieferung der Griechen gegen den Vorwurf der Gotteslästerung in Schutz zu nehmen6. Genauso suchten die Alexandriner das Alte Testament aus den Händen seiner radikalen Kritiker, die es verwarfen und es ganz und gar loswerden wollten, zu erretten. Das gelang ihnen in der Theologie des Origenes durch die Unterscheidung eines buchstäblichen, eines historischen und eines geistigen Sinnes der Schriftstellen. Sie machte es ihnen möglich, den philosophischen Vorwurf eines rohen Anthropomorphismus für die Art, wie das Alte Testament von Gott sprach, zu vermeiden. War doch der anthropomorphe Charakter der Götter in den griechischen Mythen von Anfang an die Zielscheibe für die Angriffe der griechischen Philosophie gewesen. Sie begannen mit Xenophanes von Colophon. Er übte an den Göttern Homers und Hesiods Kritik, weil sie allzu menschlich seien und nicht die Würde besäßen, wie sie der göttlichen Natur anstünde. Spätere Griechen sprachen von ihr als dem , und dies Wort geht wie ein Leitmotiv durch die Geschichte der philosophischen Theologie der Griechen7. Der Streit des Origenes mit Celsus zeigt, daß der tiefste Vorwurf der zeitgenössischen heidnischen Philosophen gegen das Christentum in seinem mythologischen Charakter bestand. So begann denn Origenes mit seinem lebenslangen Versuch, die Bibel von der Stufe ihres buchstäblichen Sinnes auf die Höhe geistlicher Bedeutung zu heben. Damit rettete er das, was wir die christliche Paideia nennen können, und ihre Begründung in der Bibel, wie die Stoiker dasselbe mit Homers Theologie getan hatten. 36
Er schrieb Kommentare über die meisten wichtigen Bücher des Alten Testaments und über viele des Neuen Testaments, nicht ohne seine philosophische Theologie mit dem genauesten philologischen Studium der heiligen Texte zu verbinden, die er in seinem monumentalen Werk, der Hexapla, neu konstituiert hatte. Was ist die Aufgabe der Philosophie in Origenes' theologischer Methode? Es liegt auf der Hand, daß er von ihr während seiner ganzen Schriftlektüre Gebrauch macht. Sie ist kein abstraktes dogmatisches System ohne Beziehung auf seine Exegese, sondern durchdringt sein gesamtes Verständnis der Religion Jesu und der Apostel, indem er sie in Theologie nach Art der Griechen verwandelt. Dabei ist er nicht einfach veranlagt. Er kann die Bibel vollkommen wie ein Kind lesen und seine Freude an ihr in der Einfalt eines demütigen Herzens haben. Beispiele dafür finden wir in seinen Predigten, wo er zu den einfachen Leuten spricht, ohne viel Gebrauch von seiner Gelehrsamkeit zu machen8. So mag ein großer Astronom, Tag für Tag mit seinen komplizierten mathematischen Berechnungen beschäftigt, doch in der Stille der Nacht zu den Sternen aufblicken und sich ihrer Schönheit erfreuen können, ohne im geringsten von seinem gewöhnlichen Rüstzeug an Fernrohren und arithmetischen Formeln beeinträchtigt zu sein. — Aber auch Philosophie lehrte Origenes in ihrer reinen Form. Das mußte er, weil sein philosophisches Denken überall von den großen geschichtlichen Systemen der Vergangenheit und den Texten der Philosophen selbst ausging. Wir sind in der glücklichen Lage, über seine Lehrweise gut unterrichtet zu sein, da wir noch die Berichte über sie bei seinen Gegnern und bei seinen bewundernden Schülern lesen können. Origenes dankte seine Bildung der griechischen Philosophie. Der Neuplatoniker Porphyrius hat uns ein sehr anschauliches Gemälde des großen christlichen Platonikers hinterlassen. Origenes muß die heidnischen Platoniker seiner Zeit in eben demselben Grade angezogen haben, wie er für sie ein schweres Ärgernis war. Porphyrius hat noch selbst in früher Jugend den berühmten Mann gesehen. Er gibt der Paradoxie von Origenes' doppelter Lebensweise Ausdruck, indem er davon spricht, daß Origenes, als Grieche grie37
chisch erzogen, trotzdem ein Förderer dieser barbarischen Angelegenheit, des Christentums, geworden sei. Aber obwohl er das Leben eines Christen lebte, blieb er bei den hellenischen Ansichten über alles, einschließlich Gottes, und gab allen den ausländischen Mythen einen griechischen Sinn. Denn er lebte ständig mit Plato und las die ganze Literatur der Platoniker und Pythagoreer der vorhergehenden Generation. Jedoch dann, so fährt Porphyrius fort, liest er alle Geheimnisse der Griechen in die jüdischen Schriften hinein (er bezieht sich auf die Kommentare des Origenes über die verschiedenen Bücher des Alten Testaments)9. Dieses Gemälde von Origenes' Verhältnis zur Philosophie wird durch einen seiner Schüler, den Kappadokier Gregorius Thaumaturgus, bestätigt. Der wurde später der Apostel seiner kappadokischen Heimat, und auf diese Weise entstand die Verbindung zwischen Origenes und den kappadokischen Vätern Basilius, Gregor von Nazianz und Gregor von Nyssa, alle eifrige Leser und Bewunderer des Origenes. Gregorius Thaumaturgus hielt eine Abschiedsrede an ihn, als er nach fünf Studienjahren bei Origenes während seines Exils in Palästina ihn verließ. Darin erzählt er, daß der Lehrer bei seinen Schülern sehr darauf sah, sie möchten sich mit jeder Philosphie der Griechen bekanntmachen, und daß er sie als kritischer Exeget ausbildete. Er nahm sie mit auf eine lange Bildungsreise, überall das entfernend, was schwach und sophistisch erschien, und ihnen das anbietend, was nach seiner Ansicht gut und gesund war10. Das ist die Unterrichtsmethode in den Schulen der griechischen Philosophie und noch bis heute, weil die Philosophie ihrer wahren Natur nach in ihrer eigenen großen Geschichte erscheint, weit mehr als irgendeine bloße Wissenschaft. Wir finden dieselbe Methode in den Schriften Plotins, die seine eigene Unterrichtsweise widerspiegeln. Da läßt er oft ein Problem aus einem der älteren Philosophen erstehen, zumal aus Plato und Aristoteles, die in den Schulen gelesen wurden. Wie dies geschah, erfahren wir aus den erhaltenen Kommentaren der späteren Platoniker wie Jamblich, Simplicius und Proclus11. Die Worte des Porphyrius lassen keinen Zweifel darüber, daß Origenes sich sein Leben lang dem Studium der bedeutenden 38
Philosophen in der Vergangenheit widmete und daß er eine umfassende Kenntnis der reichen Spezialliteratur über Plato in monographischer Form besaß12. Porphyrius' Bericht kann den Eindruck erwecken, daß Origenes jene Kenntnis besonders bei Auslegung der Schrift in Anwendung brachte. Doch die Worte Gregors des Wundertäters über die beharrliche Einübung im Studium „aller Philosophen" durch den Meister liefern wohl den Beweis dafür, daß er auch gesonderte Kurse in Philosophie hielt, neben seinen biblischen Vorlesungen und um seiner selbst willen. Durch solche philosophischen Kurse ist vielleicht Porphyrius auch auf die biblischen hingewiesen worden, aber hier wurde er enttäuscht durch die allegorische Methode, obwohl er sie später selbst bei der Homerexegese anwandte13. Im christlichen Lager fehlte die wissenschaftliche Kritik auch nicht ganz, und die antiochenische Schule legte die Bibel mehr im wörtlichen und historischen Sinne aus. Jedoch die kappadokischen Kirchenväter schlössen sich Origenes in seiner Methode an und ebenso viele andere christliche Theologen, ohne Rücksicht darauf, ob sie die Eigenheiten seiner Auslegung durchweg annahmen oder nicht. Was in ihren Augen einen solchen Ausweg zu rechtfertigen schien, war die Tatsache, daß die allegorische Methode in einigen Fällen schon von den biblischen Verfassern, sogar vom Apostel Paulus selbst, benutzt worden war. Das muß auf die rabbinische Schule seiner Zeit zurückgehen, und man kann sich in der Tat schwer vorstellen, wie Juden und Christen mit einem Buch wie dem Hohenliede ohne allegorisches Verständnis fertigwerden wollten. In der Gruppe der Apostolischen Väter ist der Brief des Barnabas in dieser Richtung fortgeschritten14. Aber die neue Theologie der Alexandriner war in der systematischen Anwendung der Methode viel weiter gekommen. Autoren wie Origenes und im Gefolge von ihm Gregor von Nyssa drangen darauf, daß auch die historischen Bücher des Alten Testaments auf diese Weise verstanden werden müßten, d. h. als durchscheinende Illustrationen großer metaphysischer oder ethischer Wahrheiten15. Darin zeigte sich für sie ein schlagender Beweis für die Pädagogik des heiligen Geistes. Die Unterscheidung zwischen den „einfacheren" Christen, den 39
bloß „Glaubenden", und den Theologen, die den wahren Sinn der heiligen Bücher „erkennen", findet sich bei Clemens ebenso wie bei Origenes. Sie war eine unvermeidliche logische Folge ihrer Behandlung der Schrift16. Auch in dieser Hinsicht müssen sie Vorläufer schon in der christlichen Überlieferung gehabt haben. „Gnosis" ist das Modewort für diese Neigung, den Raum denrio-ns zu überfliegen, die in der philosophischen Sprache der Griechen überall die Nebenbedeutung des Subjektiven besaß. Solche Unterscheidung begegnet bereits in den paulinischen Briefen, was immer ihr genauer Sinn sein mag. Die Tendenz verstärkt sich im zweiten Jahrhundert, als ganze Lehrgebäude, die sich „gnostisch" nannten, erschienen. Ihre Lehren waren sehr verschieden. Diejenigen, die sich irgendwie mit dem Christentum berührten, hatten die Neigung gemein, in der Schrift einen geheimen Sinn zu finden. Andere bezogen sich zum Teil auf eine phantastische mythologische Spekulation über die verschiedenen Stufen der kosmischen Entwicklung in Hinsicht auf die menschliche Seele und ihr Schicksal. Es ist in diesem Zusammenhang unmöglich, über die Gnosis und ihren geschichtlichen Ursprung in einem Augenblick nachzusinnen, wo ein großes Korpus gnostischen Quellenmaterials gerade entdeckt worden ist. Es könnte, obwohl noch nicht einmal veröffentlicht, doch die übliche Schilderung dieser religiösen Erscheinung verändern17. Aber ihr bloßes Vorhandensein im zweiten und dritten Jahrhundert ist ein ausreichender Beweis dafür, daß damals einiges Bedürfnis für diese befremdliche Art von Ersatzreligion bestand, zumal ihre Ausbreitung im römischen Reich so schnell und weiträumig vor sich ging. Die gewichtige Rolle der Gnosis bei Clemens und Origenes zeigt, daß sie ihre Aufmerksamkeit auf diese neue Macht richten mußten, die ein gefährlicher Rivale des Christentums zu werden drohte und mit der man wie mit dem Manichäismus und der Mithrasverehrung rechnen mußte. Was die Alexandriner unter dem Namen Gnosis anzubieten hatten, ist selbstverständlich sehr verschieden von den Systemen eines Basilides oder eines Valentinus. Doch erklärt sich die christliche Gnosis bei Clemens oder Origenes unzweideutig als ein Versuch, dem gnostischen Geschmack ihrer Zeit40
genossen in legitimer Form Genüge zu tun. Sie stellten der orientalischen Gnosis und ihrem rohen Symbolismus ihre eigene Gnosis entgegen, die weithin aus der griechischen Philosphie abgeleitet war. Wir erfahren von Plotin, daß die heidnischen Neuplatoniker ebenfalls den gnostischen Neigungen ihrer Zeit heftig widerstanden18. Heidnische und christliche Platoniker empfanden beide, daß sie bei dem Versuch, dem Problem beizukommen, die reine „Wissenschaft" vertraten, weil sie die geistige Tradition der Griechen hinter sich hatten. Sie bot ihnen die Unterscheidung einer esoterischen und einer exoterischen Art des Wissens an, die dem Gegensatz von Wahrheit ( ) und bloßem Schein ( ) entsprach. Mehr als ein philosophisches System der Zeit hatte diesen Unterschied gemacht. Er wurde sogar in die älteren Systeme, wie die des Plato und Aristoteles, nachträglich hineingedeutet oder führte zu Mystifikationen wie die eines angeblichen esoterischen Pythagoreismus. Um seinetwillen wurde eine fiktive Literatur geschaffen, die sich in die Zeit des Pythagoras und seiner eingeweihten Schüler zurückdatierte. — Die christliche Theologie fügte sich leicht einer ähnlichen Interpretation, und die Vorstellung von der christlichen Religion als einem Mysterium, die alsbald allgemein angenommen wurde und in der christlichen Literatur und im Gottesdienst die Oberhand gewann, begünstigte diese Entwicklung. Die scharfe Polemik des Clemens gegen die heidnischen Mysterienreligionen in seinem Protrepficus ist leichter erklärt, wenn wir in Betracht ziehen, daß vom vierten Jahrhundert v. Chr. an die Form der griechischen Religion mit der stärksten Anziehungskraft bei den Gebildeten nicht die Religion der olympischen Götter, sondern die der Mysterien war. Denn hier fand der einzelne eine persönlichere Beziehung zur Gottheit. Wo immer Philosophen ihre Lehren mit der Weisheit der Religion verglichen, da bezogen sie sich auf die Mysterien als die höhere Form der Religion, die eine Botschaft für die Menschheit besaß19. Dieser Vergleich war sehr alt; er fand sich sogar auch bei ändern Männern, die der verborgenen Wahrheit nachspürten, zum Beispiel in den Hippokratesschriften, wo der Doktor mit den wahren medizinischen Kenntnissen mit 41
einem in die heiligen Mysterien Eingeweihten verglichen wird, um ihn von einem Scharlatan und unwissenden Laien zu unterscheiden20. Es handelt sich um einen im Verlauf der Zeit ständig wachsenden Zug der griechischen Philosophie, und er ist selbstverständlich am natürlichsten in der Sprache der philosophischen Theologie. Im Wortschatz des Clemens und Origenes spielte der Ausdruck Mysterium eine große Rolle, und was zunächst eine bloße Metapher war, erhielt jetzt den Charakter der Wirklichkeit. Die Gnosis, die die christliche Theologie anzubieten beanspruchte, war für ihre Anhänger das allein wahre Mysterium in der Welt, und sein Sieg über die vielen Pseudomysterien der heidnischen Religion galt ihnen als sicher21. Der Anspruch des Christentums, eine Botschaft für jedermann zu sein, schien einer Unterscheidung der Gläubigen, die nur ihren einfachen Glauben besaßen, und derer, die im Besitz einer höheren und geheimen Gnosis waren, zu widersprechen. Aber diese Tendenz scheint in den Tagen des Clemens und besonders in Alexandria, dem Treffpunkt so mancher Mysterienkulte, beinahe unwiderstehlich gewesen zu sein. Eine häretische Gruppe wie dieKarpokratianer, die sich hier zur Zeit des Clemens entwickelte, rühmte sich, im Besitz einer Geheimfassung des Markusevangeliums zu sein. Sie enthalte ihre Lehre, aber werde angeblich von der Kirche zurückgehalten und für die wenigen reserviert, die sie lesen durften. Clemens erklärt in einem erst jüngst entdeckten Brief, daß eine solche Geheimfassung einer vollständigen Form des Markus wirklich existiere, daß aber die von den häretischen Karpokratianern in Umlauf gesetzte Fassung eine schlechte Mischung des echten Geheimevangeliums des Markus und der Lieblingsirrtümer der Sekte sei, die die Karpokratianer hineingebracht hätten22. Die Versuchung, solche geheimen Fassungen herzustellen, muß in einer Zeit groß gewesen sein, die für fast jede philosophische Schule das Vorhandensein von esoterischen Quellen behauptete. Sogar das orthodoxe Christentum bedurfte seiner hierophantischen Auslegung, die als seine besondere Art von Gnosis gelten kann — der wahren Gnosis im Gegensatz zu der „pseudonymen Gnosis" derer, die „draußen* sind ( ! § ). An dieser Stelle sei ein Wort über die literarische Form gesagt, 42
in der sich das neue geistige Leben in der christlichen Schule von Alexandria niederschlug. Origenes' Denken stellt ein fortgeschrittenes Stadium in dieser Entwicklung dar. Sein Vorgänger Clemens steht noch in Zusammenhang mit den Apologeten und kann als der letzte und bedeutendste von ihnen gelten. Dementsprechend unterscheidet sich das Schrifttum des Origenes und des Clemens der Form nach erheblich. Origenes ist ein Gelehrter. Er wendet erstmalig in der christlichen Literatur die üblichen Stilarten der griechischen Wissenschaft an, als da sind die kritische Ausgabe, der Kommentar, das Scholion, die gelehrte Abhandlung, der Dialog, um sein immenses Wissen zu entfalten und es für zukünftige Generationen zur Verfügung zu stellen. Er hält diesen Teil seines Schrifttums streng getrennt von seinen Predigten mit ihrem erbaulichen Charakter23. Der Ton seiner wissenschaftlichen Bücher ist nüchtern und gescheit. Hieronymus gibt in der Vorrede seines Kommentars zu Jesaia offen an, daß er ihn geschrieben habe, um Origenes' gelehrte Theologie dem lateinischen Westen bekannt zu machen, aber er äußert einigen Zweifel an der Wirkung auf die abendländische Kirche, wo die Leute die Schaustellung von rednerischem Prunk und nichts anderes erwarten und bewundern wollen24. Das charakterisiert Origenes vortrefflich als einen späten Erben des Geistes griechischer Wissenschaft, des Geistes gründlicher Forschung und der Hingabe an ein Leben der . Er spiegelt sich sogar in der Art seiner Schriftstellerei: obwohl sie klar und wohl geordnet ist, hält sie sich frei von dem klassizistischen Stil der Zeit und legt mehr Wert auf den Inhalt als auf die Form. Die großen Werke De principüs und Contra Celsum zeigen ihn als einen Meister der philosophischen Erörterung in der Art der gleichzeitigen griechischen Literatur. Dagegen wendet er in seinen Kommentaren die Methoden und die Terminologie der Textkritik und der exegetischen Literatur an, wie sie von der alexandrinischen Philologenschule entwickelt worden waren, die Jahrhunderte vor ihm geblüht hatte. Er spiegelt das voluminöse Wissen dieser Schule auch in den ungeheuren Ausmaßen seines gelehrten Schaffens wieder, das sich nicht ohne den asketischen Typus seiner Persönlichkeit vorstellen läßt. Selbst dann 43
bleibt seine Leistung nur schwer verständlich ohne die Erinnerung daran, daß er seine Werke einem Stab von Schreibern diktierte, die abwechselnd sich den ganzen Tag lang Notizen machten. Clemens ist ein Schriftsteller ändern Formats. In seinem Protrepticus übernimmt er eine Literaturform, welche die griechischen Philosophen seit Sokrates und Aristoteles oft angewendet hatten, um zu ihrer Lebensauffassung einzuladen und aufzufordern. Die Philosophie wurde im protreptischen als der Weg zur Glückseligkeit und als das Wissen um den Sinn des menschlichen Lebens empfohlen, das nötig war, um zum wahren Guten zu gelangen28. Seine Form hatte oft gewechselt je nach dem Typus der Philosophie, die hinter ihm stand, und sie war nicht so gleichmäßig ausgeprägt, wie sich das manchmal die Gelehrten vorgestellt haben. Ich habe das an dem Protrepticus des Aristoteles gezeigt26, und das Loblied auf das Christentum bei Clemens ist in der Tat sehr verschieden von solchen heidnischen Vorbildern. In großen Partien handelt es sich um Polemik gegen die griechische Religion und Philosophie, aber die Nachahmung des philosophischen Typus dieses literarischen Genus ist trotzdem deutlich genug. Auch die Stromata des Clemens folgten einem griechischen Vorbild. Seine Sprache ist viel anspruchsvoller und ausgefeilter als die des Origenes. Auch darin handelt es sich um Nachahmung des literarischen Stils der zweiten Sophistik, die im zweiten Jahrhundert begann. Sie ist sehr gekünstelt und verschmäht keineswegs die Effekthascherei der zeitgenössischen Rhetorik27. Schon vor Clemens hatte die christliche Literatur, besonders die homiletische, einen weiten Weg zurückgelegt, um sich den Forderungen der modernen asianischen Rhetorik anzupassen, welche die weltliche Literatur beherrschten. Die Entdeckung einer Predigt des Bischofs Melito von Sardes (Mitte des zweiten Jahrhunderts) in einem Papyrus28 war eine große Überraschung, vergleicht man sie mit dem sogenannten Zweiten Brief des Clemens von Rom, der in Wahrheit die älteste christliche Predigt in der nachapostolischen Literatur ist. Es ist ein weiter Weg von der kunstlosen Einfachheit dieses Dokuments bis zu dem aufgeblasenen Manierismus von Melitos Osterpredigt mit ihren endlosen Kaska44
den von Anaphern und der dramatisierten Tragik ihres Themas, der Abschlachtung der ägyptischen Erstgeburt durch den Engel Jahwes. Clemens von Alexandria predigt nicht, er bringt Beweise vor. Aber seine Prosa schließt oft an die Poesie an, und ihr Rhythmus, der den Takt der Musik nachahmt, ist nicht durchweg erfreulich für moderne Ohren. In seinem Paedagogus zielt Clemens auf die griechische Kultur, auf die hellenische Paideia. In diesem Buch stellt er Christus in seiner Rolle als göttlichen Erzieher dar, der alles derartige in der bisherigen Menschheitsgeschichte Dagewesene übersteigt. — Bis zu dieser Stelle haben wir die christlichen Denker mit ihren Vorgängern in der griechischen Bildung auf ihre Philosophie und literarische Schule hin verglichen. Jetzt werden wir Zeugen ihres Versuchs, das ganze Wesen der griechischen Kultur in den Blick zu bekommen29. Sie bemühen sich, das Christentum im Licht der erhabensten Vorstellung von dem zu sehen, was die Griechen zu einem höheren Leben der Menschheit beigetragen hatten. Sie bestreiten den Wert dieser Tradition nicht, aber sie behaupten, ihr Glaube erfülle diese paideutische Mission an der Menschheit in höherem Maße, als es bis dahin erreicht worden sei. Beachtet man die Wichtigkeit der alles beherrschenden Idee der Paideia für die Entwicklung einer einheitlichen Kultur der geistigen griechischen Welt, so ist dieser Schritt in der Auseinandersetzung zwischen Christentum und hellenistischer Tradition das Kennzeichen für den Beginn eines entscheidenden Abschnitts in dem Streben der Christen in Richtung auf das Ziel einer christlichen Uberformung der Welt, wie sogleich deutlich werden wird. Clemens schwankt zwischen schroff polemischen Äußerungen mit völliger Ablehnung des religiösen Wertes der älteren heidnischen Kultur und einer gelegentlichen gerechteren kulturellen Wertung ihrer historischen Verdienste. Wenn er sich einer Erscheinung gegenüber sieht, die er nur schwer begrüßen, aber unmöglich abstreiten kann, z. B. der geistigen Bedeutung von Platos Philosophie, dann muß er entweder behaupten, alles sei von Moses entlehnt und Plato sei einMcouorfe , oder er muß zugeben, daß sie das Alte Testament der 45
Heiden sei, wie immer es sich mit der historischen Beziehung zur hebräischen Tradition verhielte30. Als überzeugter Christ kann Clemens nicht glauben, daß die griechischen Philosophen, wenn sie einen Teil der Wahrheit zu erkennen vermochten, dies aus Zufall und ohne göttliche Fügung gekonnt hätten31. Von diesem Ausgangspunkt aus schreitet sein theologisches Nachdenken zu einer neuen Sicht der göttlichen Vorsehung fort. Clemens folgt den griechischen Philosophiehistorikern und unterscheidet eine Philosophie der Barbaren und eine der Griechen32: das macht es für ihn leichter, einen Plan in der Entwicklung des menschlichen Geistes zu sehen. Beide ergänzen einander, und so kann Clemens die Philosophie, obwohl nichts Vollkommenes, als die Propaideia des vollkommenen Gnostikers anerkennen33. Die wahre Paideia ist die christliche Religion selbst, aber Christentum in theologischer Gestalt, wie sie in Clemens' eigenem System, der christlichen Gnosis, auftritt; denn es ist klar, daß die Auffassung des Christentums als Gnosis per se vorausgesetzt, daß sie die göttliche Paideia ist. Wir beobachten, wie Clemens an verschiedenen Stellen seiner Werke auf das Problem zurückkommt und ein Fenster öffnet, durch das wir einen Blick auf die Welt in dieser neuen Perspektive tun können. Augenscheinlich muß die Frage, die wesentlich für ihn ist, weiterführen und Konsequenzen für das christliche Selbstverständnis haben. Wir finden das bei der Lektüre des Origenes bestätigt. Er nimmt die Gedanken des Clemens auf und entwickelt sie mit größerer Straffheit und mehr im einzelnen. Tatsächlich ziehen sie sich durch sein ganzes Denken hindurch. Wir fragen uns, wo wir die innere Einheit von Origenes' ausgebreiteter und unübersehbarer theologischer Denkarbeit fassen können. Sie besteht nicht in der Verbindung mit einem einzelnen philosophischen System, wie dem Platonismus oder dem Stoizismus, oder in einer eklektischen Mischung beider, sondern in einer grundlegenden Geschichtsansicht. Diese entsprang aus dem Gesamtbild eines Zeitalters, das die klassische Kultur der Griechen und die christliche Kirche sich einem Prozeß gegenseitiger Anpassung unterziehen sah. Die Verschmel46
zung der christlichen Religion mit dem griechischen Gedankenerbe ließ die Menschen lebhaft empfinden, daß beide Traditionen viel Gemeinsames besaßen, betrachtete man sie von dem höheren Gesichtspunkt aus, den die griechische Idee der Paideia oder Erziehung als gemeinsamer Generalnenner beider anbot. Wir haben den Gedanken an eine solche Verschmelzung schon so frühzeitig wie in der Rede des Paulus zu Athen in der Apostelgeschichte vorweggenommen werden sehen, jenem Buch mit einer weiten Schau der Geschichte. Aber erst jetzt kommt er zu seiner vollen Verwirklichung. Das Denken des Origenes läuft auf eine echte Geschichtsphilosophie hinaus, die auf dem Boden des klassischen Griechenlandes niemals gedeihen konnte. Denn die Griechen waren in jener Periode nur mit sich und mit keiner der ändern Kulturen beschäftigt. Mit Herodot kamen sie einer Philosophie — oder besser Theologie — der Geschichte am nächsten, aber im ganzen waren sie mehr an dem typischen Aufstieg des Menschen von primitiver Stufe zu höherer Kultur interessiert als an einem Nachdenken über den geschichtlichen Aufbau des menschlichen Geistes und seine Entwicklung. Sie versuchten, das Werden der Kultur entweder in der Terminologie des demokritischen Kausalitätsdenkens oder vom Standpunkt der Teleologie des Aristoteles aus darzustellen. Beides konnte einen Christen nicht befriedigen. Er hatte eine grundsätzlich abweichende Vorstellung von der Entstehung der Welt (die Welt als Schöpfung), und das hatte zur notwendigen Folge eine Geistes- und Kulturphilosophie, die auf einen Plan in der Welt der Geschichte aus war, wie es eine göttliche Planung in der Welt der Natur gab. Das geschichtliche Denken des Christen mußte der ständig wachsenden Koordination und Zusammenarbeit der verschiedenen Menschenarten unter dem christlichen Glauben Rechnung tragen. Die Griechen hatten die Vorstellung von einer zukünftigen Einheit des Menschengeschlechts unter griechischer Paideia: Sie erscheint bei Isokrates34 im frühen vierten Jahrhundert v. Chr. und war nach Alexanders Eroberung des Ostens Wirklichkeit geworden. Auf der Grundlage dieser internationalen Kultur wurde jetzt das Christentum zur neuen Paideia mit ihrer Quelle im göttlichen Logos selbst, dem Wort, das die Welt 47
geschaffen hatte. Griechen und Barbaren waren beide seine Werkzeuge. Origenes' Hang zur Philosophie war keine rein akademische Angelegenheit. Wir müssen ihn auf dem Hintergrund des strengen Manichäismus und der gängigen gnostischen Vorstellungen im damaligen religiösen Synkretismus des Orients sehen. Er steht im Gegensatz zu dem tiefen Pessimismus bei zahllosen nachdenklichen Menschen, die sich niederdrücken ließen, wenn sie die Mächte des Bösen überall in der Welt über das Gute triumphieren sahen. Gegen diese Hochflut von Mutlosigkeit stand Plato wie ein Felsen mit seiner Überzeugung, daß das Samenkorn des Guten in jedem Dinge stecke und in der Natur des Seins selbst35. Einzig was er das agathoide Element in allen Dingen nennt, „ist" wirklich. Auf diesem Fundament konnte man eine christliche Welt errichten und es rechtfertigen, wenn der Schöpfer seinem eigenen Werk Beifall spendete und es gut nannte. Aber wie kann man diese Behauptung mit der ändern gleichstarken Überzeugung bei Juden und Christen vereinigen, daß die menschliche Natur sündig sei? Das war noch schwieriger für alle, die glaubten, Christus sei gekommen, die Welt zu erlösen, und doch zugeben mußten, daß die Menschen auch nach ihrer Erlösung fortfuhren zu sündigen. War Gott allmächtig, warum war er der Sünde nicht zuvorgekommen, indem er den Menschen vollkommen und schuldlos schuf? Warum war es notwendig für Gott, vom Himmel herabzusteigen und Mensch zu werden, um seinen Fehler, daß er die menschliche Übertretung nicht gleich von Anfang an ausgeschlossen hatte, wiedergutzumachen? Die Philosophie hatte gelehrt, des Menschen Würde bestehe in seinem freien Willen. Den mußten natürlich die bestreiten, die an das Böse als eine unabhängige, sich fortzeugende Macht in der Welt und in der Tiefe der menschlichen Natur glaubten. Die Christen nahmen ihrerseits an, daß des Menschen Wille nicht mehr so frei war, wie er es gewesen, als er vollkommen aus der Hand des Schöpfers hervorging. Aber sie konnten andererseits nicht zugeben, es sei, selbst nachdem durch den Fall Adams die Reinheit seiner Natur verdun48
kelt worden war, unmöglich für ihn geworden, zwischen gut und böse zu wählen und sich für das Gute zu entscheiden. Origenes hat den Menschen als sittlich frei handlungsfähig konzipiert. Darum konnte er es sich nicht vorstellen, Gottes Schöpfungswerk wäre vollkommener, wenn er den Menschen ohne diese zu seinem Wesen gehörige Eigenschaft gelassen hätte, der Fähigkeit zur freien Wahl des Guten um seiner selbst willen. So wurde seine platonische und stoische Ansicht zum Ausgangspunkt für den ganzen Entwurf der menschlichen Geschichte bei ihm. Alles hängt von des Menschen Fähigkeit ab, zu erkennen, was das Gute ist, und es vom Schlechten zu unterscheiden. Das bedeutet in platonischer Terminologie, alles hängt von des Menschen Fähigkeit ab, das wirklich Gute zu trennen von dem bloßen Schein des Guten, das Wahre vom Falschen, das Sein vom Nichtsein, Von daher war für Plato die Philosophie zur Paideia geworden, zur Erziehung des Menschen. Genau so verstand Origenes das Christentum. Es war die größte Erziehungsmacht in der Geschichte und befand sich in wesenhafter Übereinstimmung mit Plato und der Philosophie. So wurden Plato und die Philosophie für Origenes die mächtigsten Verbündeten des Christentums in seinem damaligen Kampf. Die nächste Frage war, wie dieser Plan einer Erziehung und in Stufen vor sich gehenden Befreiung des menschlichen Willens mit Christus zusammenhing. Für Origenes war Christus der große Lehrer, und von da aus erlaubte ihm seine Sicht des Christentums als Paideia der Menschheit, sich eng an die Schrift zu halten und an die Schilderung Jesu in den Evangelien. Aber Jesus ist kein Lehrer mit nur menschlicher Ausstattung: in ihm hat sich der göttliche Logos verkörpert. Darin liegt der große Unterschied des Christentums von aller bloß menschlichen Philosophie, daß es das Kommen des Logos zu den Menschen nicht nur als menschliche Bemühung, sondern als Vorgang aus göttlicher Initiative darstellt. Aber hatte nicht Plato in seinem letzten großen Werk, den Gesetzen, gelehrt, der Logos sei das goldene Bindeglied, durch das der Gesetzgeber und der Lehrer und sein Werk mit dem göttlichen Nous zusammenhängen36? Hatte er nicht den Menschen in ein Universum gesetzt, das in seiner voll4 Jaeger, Christentum
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kommenen Ordnung und Harmonie ein ewiges Vorbild f r das menschliche Leben war? Der Kosmos in Platos Timaeus machte die Erziehung des Menschen m glich, denn sie verlangt f r ihre Verwirklichung einen Kosmos und kein Chaos. In seinen Gesetzen gibt es eine Aussage, die alle Worte in diesem Werk ber die richtige, auf Gott als ihre letzte Quelle bezogene Paideia verkn pft. Gott ist der P dagog des Universums: ό θεός παιδαγωγεϊ τον κόσμον37. Der Sophist Protagoras hatte einst erkl rt, der Mensch sei das Ma aller Dinge, und hatte damit alle Erziehung relativiert. Plato dreht diese ber hmte Behauptung um und verbessert sie in die Aussage, Gott sei das Ma aller Dinge38. F r Origenes ist Christus der Erzieher, der diese erhabenen Ideen in die Wirklichkeit bertr gt. Aber die Erl sung durch Christus ist f r ihn kein einmaliges historisches Ereignis. So einzigartig ihre Bedeutung ist, es gehen ihr viele Schritte von hnlicher Art voraus. Zuerst die Sch pfung selbst, die den Menschen zum Bilde Gottes machte; und nach dem Falle Adams ist da der lange Zug der Propheten Israels, der gro en. Philosophen Griechenlands und der weisen Gesetzgeber. Durch sie alle hat Gott „gesprochen", wenn wir einen so anthropomorphen Ausdruck gebrauchen wollen. Die Stoiker hatten den Begriff der πρόνοια eingef hrt, einer g ttlichen Vorsehung, die f r die Welt und die Menschen sorgt. Sie sahen den Beweis daf r in der Natur des ganzen Kosmos. Seine ewigen Gesetze offenbaren den alles Sein durchdringenden g ttlichen Logos. Origenes findet den Beweis f r den Logos und f r die Vorsehung in der Geschichte der Menschheit und entwirft ein Gem lde der Geschichte, das die biblische Geschichte und die griechische Geistesgeschichte in engster Verbindung zeigt. Paideia also ist die in Stufen fortschreitende Erf llung der g ttlichen Vorsehung39.
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DAS CHRISTENTUM ALS KULTURMACHT IM VIERTEN JAHRHUNDERT
Auf dem begrenzten mir zur Verfügung stehenden Raum kann ich keine theologischen Folgerungen aus dieser Auffassung des Christentums ziehen. Wir müssen uns mit der Erkenntnis der bedeutsamen historischen Tatsache begnügen, daß die Theologie des Origenes sich auf die griechische Idee der Paideia in ihrer höchsten philosophischen Form gründet1. So wird sie für ihn der Schlüssel zu dem Problem der wahren Verwandtschaft zwischen christlicher Religion und griechischer Kultur. Sie ist der bis dahin größte Versuch, die Kultur im griechischen Verständnis des Wortes dem Christentum einzuverleiben und das Christentum und seine geschichtliche Aufgabe in griechischer philosophischer Terminologie auszudrücken. Wenn wir Origenes wirklich verstehen wollen, so hilft es uns nicht viel, ihn an den einzelnen dogmatischen Loci (Dreieinigkeit, Menschwerdung usw.) der folgenden Jahrhunderte zu messen und zu fragen, wie weit er jeden von ihnen vorweggenommen hat, oder festzustellen, wie unbestimmt oder falsch er in Hinsicht auf einige sich ausdrückt. Auch ist es ungenügend, auf ihn die guten altbeliebten Methoden der Quellenanalyse des neunzehnten Jahrhunderts anzuwenden, und zu fragen, wer die philosophischen Autoren sind, die ihn beeinflußt haben. Wir müssen vielmehr den Aufbau seiner Gedanken im ganzen zu überblicken suchen und uns fragen, welche Stellung gewisse leitende Ideen darin haben. Die hauptsächliche Form seiner Darbietung ist die exegetische. Er bewegt sich mit seinen Texten und läßt sich von dem, was sie sagen, weiter führen. Aber es gibt deutlich gewisse immer wiederkehrende Motive von bestimmendem Einfluß auf die Art der von ihm gestellten Fragen. Unter ihnen ist der Paideia-Begriff der Griechen von grundlegender Bedeutung. Das rührt nicht nur von Origenes' eigenen Neigungen her, sondern beruht auch auf der zentralen Stellung, den jener Jahrhun