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German Pages 535 Year 2017
Schriften zum Internationalen Recht Band 220
Japanischer Vorkämpfer für die Rechtsordnung des 21. Jahrhunderts Festschrift für Koresuke Yamauchi zum 70. Geburtstag
Herausgegeben von
Heinrich Menkhaus und Midori Narazaki
Duncker & Humblot · Berlin
HEINRICH MENKHAUS / MIDORI NARAZAKI (Hrsg.)
Japanischer Vorkämpfer für die Rechtsordnung des 21. Jahrhunderts
Schriften zum Internationalen Recht Band 220
Japanischer Vorkämpfer für die Rechtsordnung des 21. Jahrhunderts Festschrift für Koresuke Yamauchi zum 70. Geburtstag
Herausgegeben von
Heinrich Menkhaus und Midori Narazaki
Duncker & Humblot · Berlin
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2017 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: Konrad Triltsch GmbH, Ochsenfurt Druck: Das Druckteam Berlin Printed in Germany ISSN 0720-7646 ISBN 978-3-428-14845-5 (Print) ISBN 978-3-428-54845-3 (E-Book) ISBN 978-3-428-84845-4 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort der Herausgeber Koresuke Yamauchi ist zum 60. Geburtstag eine Festschrift gewidmet worden. (Menkhaus, Heinrich/Sato, Fumihiko (Hg.): Japanischer Brückenbauer zum deutschen Rechtskreis. Festschrift für Koresuke Yamauchi zum 60. Geburtstag. Duncker & Humblot: Berlin 2006). Die in Japan relevanten Gründe für die Überreichung einer Festschrift zum 60. Geburtstag wurden seinerzeit im Vorwort erklärt. Die hier vorgelegte Festschrift nun ehrt ihn zu seinem 70. Geburtstag, den er am 18. August 2016 beging. Das folgt wiederum japanischem Brauch. Die Vollendung des 70. Lebensjahres wird in Japan koki genannt, wobei ko die in Japan gebräuchliche chinesische Lesung des Schriftzeichens für alt ist und ki die Bedeutung von Seltenheit hat. Die Schriftzeichenkombination koki stammt aus einem alten chinesischen Gedicht, wo sie den Inhalt hat: Ein Überleben bis zum 70. Geburtstag ist seit alter Zeit ganz selten. In Deutschland würde man vielleicht eher „biblisches Alter“ sagen; jedenfalls ein Alter, das es z. B. durch die Herausgabe einer Festschrift zu würdigen sich lohnt. Nun ist das vollendete 70. Lebensjahr an der Chu¯o¯-Universität, an der der Jubilar lehrt, zugleich das Jahr der Emeritierung der Professoren. Da das Studienjahr in Japan aber erst zum 31. März eines Jahres endet und – wie gesagt – Koresuke Yamauchi seinen 70. Geburtstag im Sommer 2016 beging, erfolgt die Emeritierung erst zum 31. März 2017. An diesem Datum orientiert sich die andere Festschrift, die dem Pensionär in Japan selbst gewidmet wurde. Die Umschlagseiten dieser Festschrift sind hier abgebildet, um dem westlichen Leser einen Eindruck von der japanischen Handhabung zu geben.
第 123巻 第 5・6 号
山 内 惟 介 先 生 退職記念論文集
平明 成治 二二 十十 八四 年年 十 一四 月月 二二 十十 七五 日日
法
発創 行刊
山 内 惟 介 先 生 退 職 記 念 論 文 集 (
学
THE CHUO LAW REVIEW
新 Vol. CXXIII No. 5
報
ESSAYS IN HONOR OF
五一
六三 号巻
中央大学法学会
) 平 成 二 十 八 年 十 一 月
Nov., 2016
PROFESSOR YAMAUCHI KORESUKE’S RETIREMENT
第第
・二
・6
定 価 本 体 一 〇 〇 〇 円 ( 税 別 )
6
Vorwort der Herausgeber
Die Festschrift ist Band einer Zeitschrift. In Japan hat fast jede juristische Fakultät ihre eigene Zeitschrift. Am Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Chu¯o¯ trägt diese den Titel ho¯gaku shimpo¯, was etwa mit „Neue Mitteilungen der juristischen Fakultät“ übersetzt werden kann. Die englischsprachige Version „The Chuo Law Review“ hat die dortige Redaktion selbst gewählt. Diese Zeitschrift ist in Japan in juristischen Fachkreisen sehr bekannt, weil die Universität Chu¯o¯ nicht nur über einen der bedeutendsten juristischen Fachbereiche in Japan verfügt, sondern als Rechtsschule des englischen Rechts im Jahre 1885 zu einer Zeit gegründet wurde, als das Studium der Rechte der Signatarstaaten der sogenannten „ungleichen Verträge“ für Japan ein zwingendes Erfordernis war, um die Revision dieser Abkommen und damit seine völkerrechtliche Gleichstellung zu erreichen. 1891 ist die Zeitschrift erstmals und seither fast ohne Unterbrechung fortlaufend erschienen. Der Band, der die Festschrift für Koresuke Yamauchi enthält, trägt den Titel Koresuke Yamauchi sensei taishoku ki’nen ronbunshu¯, was mit „Sammlung von Aufsätzen aus Anlass der Emeritierung von Professor Koresuke Yamauchi“ zu übersetzen ist. Gleichzeitig hat die Juristische Fakultät der Universität Chu¯o¯ beschlossen, den Jubilar mit dem zusätzlichen Titel meiyo kyo¯ju auszustatten. Das ist ins Deutsche vielleicht am Besten mit dem Begriff „Ehrenprofessor“ zu übersetzen. Es handelt sich um einen Titel, der durchaus nicht allen Professoren zum Abschluss ihrer universitären Karriere verliehen wird. Er berechtigt u. a. zur Nutzung eines „Ehrenprofessoren“ zur Verfügung stehenden Raumes der Universität. Am 19. Januar 2017 hat Koresuke Yamauchi vor großem Auditorium aus Kollegen, Ehemaligen und Studierenden seine Abschiedsvorlesung zum Thema „Die Aufgaben der Jurisprudenz im 21. Jahrhundert und die Verantwortung der Juristen – basierend auf den Erfahrungen eines Vierteljahrhunderts mit dem Studiengang Internationales Unternehmensrecht“ gehalten. Hier liegt einer der Gründe, warum als Titel für die hiesige Festschrift „Vorkämpfer für die Rechtsordnung des 21. Jahrhunderts“ gewählt wurde. Denn neben den beiden Studiengängen Rechtswissenschaften und Politikwissenschaften, die nebeneinander in der Juristischen Fakultät der Universität Chu¯o¯ schon seit langem existieren, gibt es seit 1993 dort einen dritten Studiengang, den er selbst maßgeblich aus der Taufe gehoben hat und den es, soweit ersichtlich, bisher an keiner anderen juristischen Fakultät in Japan gibt. Hier drückt sich seine tiefe Überzeugung aus, dass die traditionellen Grenzen der zu unterrichtenden Rechtsgebiete im Zeitalter der Globalisierung überwunden werden müssen und man das Phänomen Unternehmen, das nicht nur für Japan eine große Rolle spielt, aus dem Blickwinkel aller juristischen Disziplinen gleichzeitig betrachten muss. Auch sein Einsatz für sein eigentliches Lehrfach, das Internationale Privatrecht, war vorbildlich. Er hat gegen alle Widerstände die selbstständige Bedeutung dieses Faches durch die Mitgründung der „Japanischen Forschungsvereinigung für Internationales Privatrecht“ (kokusai shiho¯ gakkai) durchgesetzt und diese durch die Übernahme der Präsidentschaft in den Jahren 2008 – 2016 gefestigt. Er hat versucht, das
Vorwort der Herausgeber
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Fach selbst aus seiner engen Bezogenheit auf nationale Interessen herauszuführen. Das wird für den deutschen Sprachraum deutlich erkennbar aus seiner Schrift „Das globale Internationale Privatrecht im 21. Jahrhundert – Wendung des klassischen Paradigmas des IPRs zur Globalisierung“, die auf einen Vortrag an der Universität Halle-Wittenberg zurückgeht. Schließlich hat er in einer Welt, die sich bei der grenzüberschreitenden Kommunikation praktisch nur noch der englischen Sprache bedient, deutlich gemacht, dass es zwar zwingend erforderlich ist, auch englisch zu können und zu nutzen, dass aber für Personen aus Japan und Deutschland die Beherrschung einer zweiten Fremdsprache bedeutsam ist, weil sie andere Rechtsordnungen haben, als sie in englischsprachigen Staaten anzutreffen sind. Diese zweite Fremdsprache war für ihn – basierend auf den besonderen historischen Beziehungen zwischen Deutschland und Japan auf juristischem Gebiet – Deutsch, was seine vielfältigen Vorträge und Veröffentlichungen auf Deutsch ebenso beweisen wie der Reimar Lüst-Forschungspreis der Alexander von Humboldt-Stiftung und die Betreuung deutscher Jurastudenten an seinem Lehrstuhl. Eine besondere Verbindung hat er damit zwischen seiner japanischen alma mater und der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster hergestellt. Er hat in Münster in den Jahren 1983/84 studiert und sich danach für den Abschluss eines Partnerschaftsvertrages zwischen den beiden juristischen Fakultäten eingesetzt. Diese Verbindung ist nach wie vor außerordentlich lebendig, wie die jüngste Ausgabe des Newsletter des Japanischen Instituts für Rechtsvergleichung der Universität Chu¯o¯ (chu¯o¯ daigaku hikakuho¯ kenkyu¯sho) vom Februar 2017 ebenso deutlich macht wie die aus Anlass des 20-jährigen Bestehens der Partnerschaft der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und der Chu¯o¯-Universität Tokyo auf dem Gebiet der Rechtswissenschaft im Jahre 2006 erschienene deutschsprachige Festschrift. Das ist qualitativ etwas anderes als die bloße Anhäufung von Kooperationsvereinbarungen, die ebenso rasch entstehen, wie sie in der Bedeutungslosigkeit versinken. Es ist so nachhaltig, dass sich die Fakultät in Münster 2012 entschlossen hat, ihm die dortige Ehrendoktorwürde anzutragen. Der Eintritt Koresuke Yamauchis in den Ruhestand wird keiner sein. Noch immer ist er Herausgeber verschiedener Zeitschriften, sitzt er im Vorstand verschiedener Forschungsvereine und ist einer der Prüfer für das Erste Juristische Staatsexamen im Justizministerium. Außerdem hat er Pläne für weitere Veröffentlichungen. Er wird also weiter sehr beschäftigt sein, und wir dürfen uns auf die Ergebnisse seiner Arbeit freuen. Die Herausgeber bedanken sich bei den Autoren für ihre Beiträge und beim Verlag für die Betreuung. Gemeinsam wünschen sie dem Geehrten ad multos annos! Heinrich Menkhaus Universität Meiji
Midori Narazaki Universität Chu¯o¯
Inhaltsverzeichnis Rolf Birk Grenzüberschreitendes Arbeitsrecht in Ostasien. Ein Vergleich der kollisionsrechtlichen Regelungen zum Arbeitsvertrag in Taiwan, der Volksrepublik China, Japan und Südkorea . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Reinhard Bork Die grenzüberschreitende Aussonderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Klaus Brondics Arbeitsrechtliche Probleme des Profifußballs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Werner F. Ebke Are Interpretations by the International Monetary Fund of Article VIII, Section 2 (b) of the IMF Articles of Agreement Binding Upon the Courts of the IMF Member States? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Dirk Ehlers Innerstaatliche Umsetzung von Völkerrecht – dargestellt am Beispiel der Umsetzung der ILO-Konvention 182 in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Gilbert Gornig Wiedervereinigung Deutschlands und Verlust der deutschen Ostgebiete. Ein Beitrag zur Rechtslage Deutschlands nach 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Gerard-René de Groot und Hildegard Schneider Willkürlicher Entzug der Staatsangehörigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Bernhard Großfeld Geographie und Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Thomas Hoeren und Julia Dreyer Interkultureller Austausch von Archivgut. Überlegungen zum datenschutzrechtlichen Verhältnis zwischen EU-Mitgliedsstaaten und den USA am Beispiel der öffentlichen Archive in NRW und US-amerikanischen Museen unter dem ArchivG NRW . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179
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Inhaltsverzeichnis
Peter Jung Die Wahrnehmung von Geschäftsführungsfunktionen durch juristische Personen. Eine Skizze zum schweizerischen Gesellschaftsrecht mit rechtsvergleichenden Hinweisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Stefan Kadelbach Jenseits der Anarchie – Entwicklungstendenzen im Völkerrecht . . . . . . . . . . . . 225 Michael Kling Japanische Unternehmen vor dem EuGH? Die Verantwortlichkeit japanischer Unternehmen für Kartellverstöße nach Europäischem Kartellrecht . . . . . . . . . . . 243 Chie Kojima Maritime Security Implications of Climate Change and the Arctic under International Law: A Japanese Perspective . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 Karl Kreuzer Zur Funktion des Schuldvertrags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 Won-ho Lee Unfaire Handelspraktiken und Marktstörungsaktivitäten im koreanischen Kapitalmarktrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 Heinrich Menkhaus Saiban? – Nein, Shinpan! Ein weiteres Instrument der japanischen Judikative? Hier: Verwaltungsrechtliche Streitigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 Midori Narazaki Das Risikomanagementsystem und die Verantwortung des Vorstandes in der japanischen Finanz-Branche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 Petra Pohlmann „Ewiges“ Widerrufsrecht und Treu und Glauben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 Ingo Saenger Offenlegung von „Social Responsibility Standards“ – Auswirkungen der Richtlinie 2014/95/EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 Otto Sandrock Besonderheiten des Schiedsverfahrensrechts im Übereinkommen über eine Trans-Pacific Partnership (TPP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 Fumihiko Sato¯ Der Zwang zum gemeinsamen Ehenamen und dessen Verfassungsmäßigkeit in Japan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421
Inhaltsverzeichnis
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Cordula Stumpf Paradigmenwechsel im Recht der familienrechtlichen Personenverbindungen: Von der Institution zur Funktion? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433 Hiroshi Taki Recognition of States and Conflict of Laws . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481 Ken’ichi Tanaka A Legal Reform for Small Public Interest Associations in Japan . . . . . . . . . . . . 491 Verzeichnis der Schriften von Prof. Dr. Dr. h.c. Koresuke Yamauchi . . . . . . . . . . . . 505 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 533
Grenzüberschreitendes Arbeitsrecht in Ostasien Ein Vergleich der kollisionsrechtlichen Regelungen zum Arbeitsvertrag in Taiwan, der Volksrepublik China, Japan und Südkorea Von Rolf Birk
I. Einleitung Arbeitskollisionsrecht führt meist nach wie vor ein Schattendasein. Die Globalisierung der Arbeitswelt schreitet zwar immer weiter voran, doch nimmt weder das Arbeitsrecht noch das Kollisionsrecht davon ausreichend Kenntnis. Ein praktischer Fall kann die Bedeutung der Thematik leicht sichtbar machen: Ein taiwanesisches Unternehmen schickt einen Mitarbeiter zu einem Tochterunternehmen nach Tokyo, dort soll er die Software modernisieren, aber die Muttergesellschaft ist mit seiner Arbeit aus verschiedenen Gründen nicht zufrieden und entlässt ihn daher. Wo kann der Arbeitnehmer gegen die Kündigung klagen, und richtet sich diese nach dem Recht von Japan? Ist der Fall gleich zu lösen, wenn der Arbeitnehmer nach Shanghai geschickt wird? Was würde sich ändern, wenn der Sachverhalt entgegengesetzt wäre? Hier stellen sich viele Fragen, für die es häufig keine klaren Antworten gibt. Wir beschränken uns hier auf die materielle Seite einer solchen Klage aus der Sicht der wichtigsten Industriestaaten in Fernost: Taiwan, PRC, Japan und Südkorea. Die rechtliche Ausgangslage hat bei der Beantwortung der Frage anzusetzen, welches Recht auf das Arbeitsverhältnis anzuwenden ist, denn wir haben es hier ersichtlich mit der Auflösung eines Arbeitsverhältnisses und damit einer vertragsrechtlich relevanten Frage zu tun. Die Anknüpfung des Arbeitsverhältnisses bzw. des Arbeitsvertrages erfolgt nach den Kollisionsregeln für schuldrechtliche Verträge. Die für diese Art von Rechtsgeschäften maßgeblichen Regeln wurden in den letzten Jahren sowohl in West wie in Ost reformiert. Zunächst begann damit die Europäische Union, etwas später folgten dann die eingangs erwähnten ostasiatischen Staaten mit der Reform ihrer dafür maßgeblichen Vorschriften für das Internationale Privatrecht: zuerst Südkorea 2001, dann Japan 2008 und schließlich 2010 die Volksrepublik China und Taiwan. Bis auf Taiwan enthalten alle neuen IPR-Gesetze eine besondere Vorschrift für den Ar-
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beitsvertrag. In Taiwan fehlt also eine spezielle Regelung, so dass die allgemeinen Normen über internationale Schuldverträge Anwendung finden müssen. In der EU sind seit 1980 alle Mitgliedstaaten verpflichtet, die gemeinsamen Regeln für grenzüberschreitende Schuldverträge anzuwenden, die sich zunächst in einem eigenen völkerrechtlichen Vertrag vom 19. Juni 1980, dem Römischen EWG-Übereinkommen über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht befanden, das aber durch die Verordnung (EG) Nr. 593/2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom I) vom 17. Juni 2008 abgelöst wurde. Letzteres enthält in Art. 8 eine spezielle Vorschrift über Individualarbeitsverträge. Weiter ist zu beachten die Richtlinie 96/71/EG des Europäischen Parlaments und Rates über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen. Auf diese Regelungen konnten daher die ostasiatischen Staaten bei ihrer Reform als Modell zurückgreifen, was auch weitgehend geschehen ist. Maßgebend für unseren Vergleich sind folgende nationalen IPR-Gesetze: Das taiwanesische IPR-Gesetz von 2010, das chinesische IPR-Gesetz von 2010, das japanische IPR-Gesetz von 2008 sowie das südkoreanische IPR-Gesetz von 2001. Die besonderen Vorschriften zum Arbeitsvertrag sind Art. 43 im chinesischen Gesetz und Art. 12 des IPR-Gesetzes von Japan und Art. 28 des IPR-Gesetzes von Südkorea. Diese Regeln sind freilich sehr rudimentär und erfassen nur das individuelle Arbeitsrecht, während Fragen des kollektiven Arbeitsrechts und der internationalen Zuständigkeit bis auf Art. 28 IPR-Gesetz Südkorea ungeregelt bleiben. Letztlich ist die maßgebliche Gesetzeslage unbefriedigend, was im Übrigen teilweise auch für die Rechtslage in der EU gilt.
II. Die Regelung des Arbeitsvertragsrechts der einzelnen Staaten: Taiwan, der Volksrepublik China, Japan und Südkorea 1. Taiwan Warum das IPR-Gesetz von 2010 keine Spezialvorschrift zum Arbeitsvertrag enthält, entzieht sich meiner Kenntnis, angesichts der ausführlichen Regelungen des Verbrauchervertrags vermag das nur zu verwundern. Demnach ist das auf das Arbeitsverhältnis bzw. den Arbeitsvertrag anwendbare Recht nur aufgrund der allgemeinen Regel über den Schuldvertrag gem. Art. 20 IPR-Gesetz zu ermitteln. Danach richten sich Abschluss und Wirkung des Arbeitsvertrages nach dem Parteiwillen (Abs. 1). Fehlt ein ausdrücklicher Wille, entscheidet das Recht der engsten Verbindung (Abs. 2), diese wiederum zeigt sich in der charakteristischen Leistung (vgl. Abs. 3). Beim Arbeitsverhältnis ist dies das Recht der Arbeitsleistung am gewöhnlichen Arbeitsort, was freilich hier aus dem Gesetz nicht unmittelbar entnommen werden kann, da dieses auf den Wohnsitz des Schuldners der
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charakteristischen Leistung abstellt, was indes für den Arbeitsvertrag unbrauchbar ist. Mehr enthält Art. 20 IPR-Gesetz leider nicht. Damit bleibt fast alles offen. Die Situation ist daher sehr unbefriedigend. Niemand kann deshalb sagen, wie die taiwanesischen Gerichte zur Anwendung des Art. 20 IPR-Gesetz auf den Arbeitsvertrag entscheiden werden. Leider sind mir keine einschlägigen Entscheidungen bekannt. 2. Volksrepublik China Demgegenüber enthält das chinesische IPR-Gesetz in Art. 43 eine ausdrückliche Bestimmung über das auf den Arbeitsvertrag anwendbare Recht. Es ordnet ganz lapidar die Maßgeblichkeit des Rechts des Arbeitsortes an (Art. 43 Satz 1). Soweit der Arbeitsort des Arbeitnehmers nicht bestimmt ist, entscheidet der Hauptsitz des Betriebes (principle place of business) des Arbeitgebers (Art. 43 Satz 2). Zeitweilige Entsendung (labour dispatch) richtet sich gem. Art. 43 Satz 3 nach dem Recht des Entsendeortes (law of the place of dispatch). Dazu ist Art. 10 der Auslegungsregeln zum IPR von 2012 des Obersten Volksgerichtshofs zu beachten, der als zwingende, unmittelbar anzuwendende chinesischen Vorschriften unabhängig von sonst anzuwendendem Recht solche bezeichnet, welche den Schutz der Arbeitnehmer berühren (where the protection of the interests is involved). 3. Japan Durch die IPR-Reform wurde Art. 12 des IPR-Gesetzes von 2008 als Spezialnorm für den individuellen Arbeitsvertrag eingeführt. Er schränkt die freie Rechtswahl für den Arbeitsvertrag nach Art. 7 IPR-Gesetz durch Anwendung bestimmten zwingenden Rechts ein (Abs. 1), soweit der Arbeitnehmer ausdrücklich gegenüber dem Arbeitgeber den Willen zum Ausdruck gebracht hat, dass diese zwingenden Vorschriften des Rechts des Ortes, mit dem der Arbeitsvertrag seine engste Beziehung aufweist, angewendet werden sollen. Dies ist eine besonders unglücklich und sonst nirgends vorzufindende Vorschrift, die dem Arbeitnehmer die Last aufbürdet, das zwingende Recht zu benennen, statt vom Gericht feststellen zu lassen. Als Recht des Ortes, an dem nach dem Arbeitsvertrag die Arbeit zu leisten ist, gilt das Recht des Ortes mit dem der Arbeitsvertrag die engste Beziehung aufweist (Abs. 2). Ist der Arbeitsort nicht festzustellen, tritt an seine Stelle das Recht des Ortes, an dem sich der einstellende Betrieb befindet. Haben die Parteien keine Rechtswahl getroffen, ist das Recht des Arbeitsortes als Recht der engsten Beziehung anzusehen. Insgesamt betrachtet überzeugt das japanische Recht vor allem insoweit nicht, als es eine völlig verfehlte Regelung hinsichtlich der Grenzen des Arbeitsvertragsstatuts im Hinblick auf das zwingende Recht als Grenzen der Rechtswahlfreiheit trifft.
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4. Südkorea In Art. 28 IPR-Gesetz ist die koreanische Regelung sowohl für das Kollisionsrecht (Art. 28 Abs. 1 – 2) als auch das internationale Verfahrensrecht (Art. 28 Abs. 3 – 5) des Arbeitsvertrages geregelt. Diese Kombination in einem Gesetz ist insoweit einmalig. Zunächst zum Kollisionsrecht: Danach ist zwar die Rechtwahl für den Arbeitsvertrag gestattet, aber nur unter der Maßgabe des Vorrangs des zwingenden Rechts des gewöhnlichen Arbeitsortes (Abs. 1 und 2 Satz 1). Soweit ein Arbeitnehmer nicht nur in einem Staat seine Arbeitsleistung erbringt, entscheidet das Recht des Ortes, wo sich der Geschäftssitz des Arbeitgebers, der den Arbeitnehmer eingestellt hat, befindet. Für die internationale Zuständigkeit einer Klage des Arbeitnehmers gegen den Arbeitgeber bestimmt Art. 28 Abs. 3, dass der Arbeitnehmer entweder in einem Land Klage gegen den Arbeitgeber erheben kann, in dem er seine Arbeit gewöhnlicherweise zu erbringen hat oder gewöhnlich erbracht hat (Art. 28 Abs. 3 Satz 1). Soweit sich seine Tätigkeit nicht auf ein Land beschränkt oder beschränkt hat, kann er am einstellenden Geschäftssitz des Arbeitgebers klagen (Art. 28 Abs. 3 Satz 2). Demgegenüber kann der Arbeitgeber nur am gewöhnlichen Wohnsitz des Arbeitnehmers oder dessen gewöhnlichen Arbeitsort diesen verklagen (Art. 28 Abs. 4). Nach Art. 28 Abs. 5 können die Parteien des Arbeitsvertrags eine schriftliche Vereinbarung über die internationale Zuständigkeit vereinbaren, und zwar entweder erst nach Entstehen des Rechtsstreits oder wenn dem Arbeitnehmer ein zusätzlicher Gerichtsstand eingeräumt wird (Art. 28 Abs. 5 Satz 1 und 2) Es liegt auf der Hand, dass die klarste Regelung durch Südkorea getroffen worden ist. Sie steht derjenigen der EU sowohl im Kollisionsrecht wie im internationalen Verfahrensrecht am Nächsten.
III. Unvollständigkeit der Reform Die hier besprochenen Länder haben sich nur sehr unvollständig der Problematik des internationalen Arbeitsrechts angenommen. Die Regelungen sind in erheblichem Maße unvollständig und zeigen nur sehr beschränkte Sachkenntnis. Offensichtlich haben hier keine Fachleute des Arbeitsrechts mitgewirkt. Fragen des kollektiven Arbeitsrechts wurden von den nationalen Gesetzgebern wohl ängstlich vermieden. Die Reform erreicht nicht einmal den Stand der EU, obwohl zum Teil jedenfalls – wie bei Südkorea – eine gewisse Anlehnung spürbar wird. Das Ungleichgewicht in einigen Regelungen (Taiwan, Japan) zwischen Verbraucherschutzrecht und Arbeitsrecht ist ähnlich unverständlich wie in den entsprechenden Regelungen der Europäischen Union. Das Arbeitsrecht hat noch einen langen Weg vor sich.
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IV. Hauptprobleme des individuellen Arbeitsrechts im internationalen Privatrecht 1. Rechtswahl Früher wurde allgemein die Rechtswahl beim Arbeitsvertrag nicht zugelassen. Diese Situation spiegelt sich noch im Art. 43 IPR-Gesetz der Volksrepublik China wider, wo sie zwar nicht ausdrücklich verboten, aber mittelbar durch Nichterwähnen ausgeschlossen wird. Die Rechtswahl hat für das Arbeitsverhältnis nur dann einen Sinn, wenn dadurch für beide Seiten eine sinnvolle Vertragsordnung zustande kommt. Ansonsten ist sie allenfalls eine Machtdemonstration des Arbeitgebers, denn dieser setzt sich in aller Regel durch und sie erfolgt auch praktisch nur in Form einer Unterwerfung unter sein Angebot, das u. U. auch nur in Form Allgemeiner Vertragsbedingungen erfolgt. Eine solche Rechtswahl kann meist nur sehr eingeschränkt als „fair“ gelten. Sie erlaubt freilich eine leichtere Vertragsverwaltung seitens des Arbeitgebers. In extremeren Fällen führt sie auch zur gezielten Ausschaltung für ihn ungünstigen Rechts. Wird ein bisher im Inland beschäftigter Arbeitnehmer etwa ins Ausland geschickt, so erlaubt die spätere Rechtswahl, dass der Arbeitnehmer sein bisher ihm gewohntes Rechts mit in seinem Gepäck auf seine Reise mitnimmt. Freilich spielt heute die wesentliche Rolle, ob bestimmte Regeln des bisherigen Arbeitsortes solche des neuen Arbeitsortes durchsetzen, wie immer dies rechtstechnisch geschieht. Darüber ist schon viel diskutiert worden, ohne dass natürlich Einverständnis erzielt worden wäre. Im Zeichen der Digitalisierung der Arbeitswelt und damit der stärker werdenden „mobilen Arbeit“ kann u. U. die Rechtswahl neue Bedeutung für eine Vereinheitlichung der Arbeitsbedingungen beim mobilen Personal gewinnen. Es muss freilich erst die Zukunft lehren, ob insoweit auch ein zusätzlicher Bedarf entstehen wird. 2. Gleichbehandlungsfragen Die noch weitgehend ungleiche Rechtslage bei der Gleichbehandlung im Arbeitsrecht zwischen den Rechtsordnungen – auch ein Zeichen großer kultureller und sozialer Unterschiede – gewinnt auf der Ebene globalisierter Arbeit zunehmende Bedeutung im täglichen Miteinander. Darauf fehlt bis auf Ansätze in einigen EU-Staaten, insbesondere in Deutschland und Großbritannien, sowie in den USA ein entsprechendes Suchen nach Lösungen. Die generellen Antworten der Diskussion zur Anwendung zwingenden inländischen und ausländischen Rechts helfen hier nicht viel weiter, vielmehr muss hier jeder Sach- und Normenkomplex zunächst eigenständig auf seine besonderen Probleme abgesucht und diese deutlich gemacht werden. Geschlecht, Rasse, sexuelle Orientierung wie Alter verlangen jeweils gesonderte, vertiefte Betrachtung.
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Es geht hier vor allem darum, für diese Fragen und Probleme Verständnis für deren kollisionsrechtlichen Zusammenhänge zu wecken. Früher oder später müssen auch hier Antworten gegeben werden. 3. Beendigung des Arbeitsverhältnisses Das Bestehen eines Arbeitsverhältnisses ist für die Allermeisten eine Existenzfrage, sozial wie wirtschaftlich. Es genügt daher auch kollisionsrechtlich nicht, hier einfach das Vertragsstatut für maßgeblich zu erklären, wenn mehrere beteiligte Rechtsordnungen etwa fundamental divergieren. In Japan ist man sich dieser Frage bewusst und hat in einigen praktischen Fällen die Schwierigkeiten erkannt und zu lösen versucht. Aber der Schutz der Arbeitnehmer ist in den hier behandelten Ländern sehr unterschiedlich. Wie wirkt sich dies in grenzüberschreitenden Fällen aus? Auch hier gibt es viele Fragen und Probleme im Rahmen der Anwendbarkeit nationaler Systeme auf internationaler Ebene. Mit den dargestellten Regeln zum grenzüberschreitenden Arbeitsvertrag ist damit wenig zu gewinnen. Das ist auf europäischer Ebene aber auch nicht wesentlich anders.
Die grenzüberschreitende Aussonderung Von Reinhard Bork Die nachfolgenden Überlegungen befassen sich mit der Frage, nach welchen Regeln jemand geltend machen kann, dass ein vom Insolvenzverwalter in Anspruch genommener Gegenstand nicht zur Insolvenzmasse gehöre, wenn sich Gegenstand oder Gläubiger nicht in dem Land befinden, in dem das Insolvenzverfahren eröffnet wurde. Das ist auf den ersten Blick ein insolvenzrechtliches Thema, aber es strahlt auch aus in das Internationale Privat- und Prozessrecht (einschließlich des Internationalen Insolvenzrechts) und hat erhebliche wirtschaftsrechtliche Bezüge. Es ist daher zu hoffen, dass es das Interesse des Jubilars findet, dem der Beitrag in freundschaftlicher Verbundenheit zugeeignet ist.
I. Einleitung In vielen Insolvenzverfahren begehren Gläubiger vom Insolvenzverwalter Herausgabe bestimmter Gegenstände mit der Begründung, sie gehörten diesem Gläubiger und hätten deshalb mit dem Insolvenzverfahren, in dem (nur) die dem Schuldner gehörende Insolvenzmasse verwertet werden soll, nichts zu tun. Gläubiger dieser Art, die vom Insolvenzverwalter Aussonderung eines Gegenstandes aus der Insolvenzmasse verlangen, sind etwa der Lieferant, der sich am gelieferten Gegenstand das Eigentum vorbehalten hat und der vom Kaufvertrag wegen Zahlungsverzugs des Käufers zurückgetreten ist, oder der Vermieter oder Leasinggeber, der nach Beendigung des Miet- oder Leasingvertrages Rückgabe der Mietsache bzw. des Leasinggutes begehrt. Nach deutschem Recht (§ 47 InsO) können diese Gläubiger ihre Herausgabeansprüche, die sie ohne Insolvenz auch gegen den Schuldner selbst hätten, vor den allgemeinen Zivilgerichten unabhängig vom Insolvenzverfahren verfolgen, also ohne an die besonderen insolvenzrechtlichen Verteilungsregeln gebunden zu sein, und zwar ganz unabhängig davon, ob sich der Herausgabeanspruch aus dem Sachenrecht (z. B. § 985 BGB) oder aus dem Schuldrecht (z. B. § 546 BGB) ergibt. Sitzt der Gläubiger im Ausland oder befindet sich der auszusondernde Gegenstand nicht im Eröffnungsstaat, dann ist die Anwendung deutschen Rechts keineswegs gesichert. Vielmehr kommen bei solchen grenzüberschreitenden Sachverhalten noch die Fragen nach dem richtigen Gerichtsstand sowie dem Bestand des Aussonderungsrechts hinzu. Einerseits laufen die Gläubiger hier Gefahr, dass ihr Aussonde-
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rungsrecht in einem ausländischen Insolvenzverfahren lediglich als Absonderungsrecht oder gar nicht anerkannt wird.1 Andererseits kann dieses Risiko in einem zufälligen Profit münden, weil die fremde Rechtsordnung eine Rechtsposition entgegen der eigenen Rechtsauffassung als Aussonderungsrecht einstuft. Folglich ist es – nicht zuletzt aus Gründen der Rechtssicherheit – von Belang, welche Gerichte für das Aussonderungsbegehren zuständig sind und welches Recht auf den Aussonderungsanspruch Anwendung findet. Antworten erhofft man sich u. a. von der Europäischen Insolvenzverordnung (EuInsVO)2, auf deren Geltungsbereich die nachfolgenden Überlegungen beschränkt bleiben müssen. Die EuInsVO kennt freilich den Begriff der Aussonderung nicht, sodass sich die Ausführungen für den vorliegenden Zweck insoweit zunächst an dem in § 47 InsO verwendeten nationalen deutschen Begriff orientieren müssen. Als Gegenstand der Aussonderung können danach sowohl bewegliche als auch unbewegliche Sachen sowie dingliche, persönliche und possessorische Rechte fungieren.3 Für die Einordnung in den internationalen Kontext soll hier, einer verbreiteten deutschen Sichtweise folgend,4 lediglich zwischen dinglicher und schuldrechtlicher Aussonderungsberechtigung differenziert werden, zumal die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen insoweit in materiell-rechtlicher Hinsicht unterschiedlich ausgestaltet sind.
II. Internationale Zuständigkeit Bestreitet der Insolvenzverwalter das Aussonderungsrecht des Gläubigers, dann stellt sich die Frage, vor welchen Gerichten das Recht geltend zu machen oder, je nach Parteirolle, abzuwehren ist. Da der Beklagte ein Insolvenzverwalter ist, ergibt sich die Antwort möglicherweise aus der EuInsVO. Andererseits sind Aussonderungsrechte – zumindest nach § 47 InsO – außerhalb des Insolvenzverfahrens geltend zu machen, da es um Gegenstände oder Rechte geht, die nicht der Masse angehören, und der Rechtsstreit somit rein schuldrechtliche oder sachenrechtliche Materien, nicht aber das Insolvenzrecht betrifft. Damit kommt alternativ auch die Anwendbarkeit der Brüssel Ia-VO5 in Betracht. Eine schnelle Lösung dieses Problems bieten die 1 Vgl. Cranshaw, DZWIR 2010, 89, 91; Duursma-Kepplinger/Chalupsky/DuursmaDuursma-Kepplinger, Europäische Insolvenzordnung, Wien 2002, Art. 7 Rdnr. 6; Lehr, KTS 2000, 581. 2 Verordnung (EU) 2015/848 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Mai 2015 über Insolvenzverfahren, ABl. L 141/19. 3 Nerlich/Römermann-Andres, Insolvenzordnung, Stand: Januar 2016, § 47 Rdnr. 2; Uhlenbruck-Brinkmann, Insolvenzordnung, 14. Aufl., München 2015, § 47 Rdnr. 9. 4 Vgl. zu dieser Unterscheidung nur Münchener Kommentar zur InsO (= MünchKomm.InsO)-Ganter, Bd. 1, 3. Aufl., München 2013, § 47 Rdnr. 37-339 (dingliche Aussonderungsrechte), Rdnr. 340-436 (schuldrechtliche Aussonderungsrechte). 5 Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, ABl. L 351/1.
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beiden Verordnungen nicht an. Art. 1 Abs. 2 lit. b) Brüssel Ia-VO nimmt zwar Konkurse, Vergleiche und ähnliche Verfahren vom Anwendungsbereich der Verordnung aus und Art. 6 EuInsVO begründet die Zuständigkeit für Annexverfahren. Die Qualifizierung von Einzelfragen ist aber weiterhin umstritten6 und eine eindeutige Zuordnung der Aussonderung ist nicht ohne weiteres erkennbar. Es ist deshalb Aufgabe von Rechtsprechung und Literatur, Abgrenzungskriterien für die Anwendbarkeit von EuInsVO und Brüssel Ia-VO zu entwickeln. 1. EuInsVO Grundsätzlich ist eine internationale insolvenzrechtliche Zuständigkeit anhand der allgemeinen Vorschrift des Art. 3 Abs. 1 EuInsVO zu bestimmen. Diese Norm verleiht einem mitgliedstaatlichen Gericht die Entscheidungskompetenz jedoch nur für die Eröffnung der in Anhang A aufgeführten Hauptinsolvenzverfahren. Aussonderungsklagen enthalten die nationalen Auflistungen hingegen nicht, sodass diese nicht direkt in den Tatbestand des Art. 3 EuInsVO fallen. Es handelt sich um eigenständige Klageverfahren gegen den Insolvenzverwalter, die entweder auf gerichtliche Feststellung eines Rechtsverhältnisses oder auf Leistung an den Gläubiger gerichtet sind;7 bei einer Klage des Insolvenzverwalters kann das Aussonderungsrecht einredeweise geltend gemacht werden. In beiden Fällen geht es also nicht um die Eröffnung des Hauptinsolvenzverfahrens. Der Europäische Gerichtshof hat allerdings aus Art. 3 EuInsVO schon früh eine internationale Annexzuständigkeit für Rechtsstreitigkeiten hergeleitet, die unmittelbar aus dem Insolvenzverfahren hervorgehen und in engem Zusammenhang damit stehen,8 und eine entsprechende Vorschrift findet sich nunmehr in Art. 6 EuInsVO. 2. Artikel 6 EuInsVO Nach der im Jahre 2015 abgeschlossenen Reform verfügt die EuInsVO über eine Zuständigkeitsregelung für insolvenzbezogene Annexverfahren. Ob diese Regelung auch Aussonderungsklagen mit einbezieht und das Forum des Insolvenzverfahrens auch für diese eröffnet, ist allerdings fraglich.9 Grundsätzlich gilt die Norm für Klagen, „die unmittelbar aus dem Insolvenzverfahren hervorgehen und in engem Zusammenhang damit stehen“. Als Regelbeispiel wird in der Norm selbst die Anfech6
Brinkmann, IPRax. 2010, 324, 325; Haas, ZIP 2013, 2381, 2384; Haß/Huber/Gruber/ Heiderhoff-Gruber, Kommentar zur VO (EG) Nr. 1346/2000 über Insolvenzverfahren, München 2005, Art. 25 Rdnr. 14; Haubold, IPRax. 2002, 157; Strobel, Die Abgrenzung zwischen EuGVVO und EuInsVO im Bereich insolvenzbezogener Einzelentscheidungen, Frankfurt am Main 2006, S. 257. 7 Bork, Einführung in das Insolvenzrecht, 7. Aufl., Tübingen 2014, Rdnr. 243. 8 Zuerst in der Rechtssache C-133/78 Gourdain/Nadler, ECLI:EU:C:1979:49; zuletzt in der Rechtssache C-594/14 Simona Kornhaas/Thomas Dithmar, ECLI:EU:C:2015:806. 9 Vgl. auch MünchKomm.InsO-Reinhart, Bd. 3, 2. Aufl. 2008, Art. 3 Rdnr. 91.
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tungsklage angeführt. Zur Aussonderung äußert sich der Verordnungstext hingegen nicht. Durch Art. 6 EuInsVO dürfte zwar immerhin geklärt sein, dass Annexverfahren nicht grundsätzlich dem Zuständigkeitsbereich der Brüssel Ia-VO angehören.10 Inhaltlich ist mit der Regelung aber nicht viel gewonnen, denn der Europäische Gesetzgeber hat im Grunde nur die bisher geltende Gourdain-Formel des EuGH kodifiziert, die ihrerseits nur aus unbestimmten Rechtsbegriffen besteht.11 Da nur die Anfechtungsklage als Regelbeispiel in den Artikel aufgenommen wurde, liegt der Gedanke nahe, dass alle weiteren Fragen – insbesondere auch die Aussonderung – einzelfallabhängig zu entscheiden sind und keiner Generalisierung unterliegen. Der EuGH hat sich zur ursprünglichen Fassung der EuInsVO mehrmals der Frage einer insolvenzrechtlichen Qualifikation von Annexklagen angenommen. Eine allgemeingültige Abgrenzungsformel existiert dennoch nicht,12 sodass eine Gesamtauswertung der wichtigsten Urteile sinnvoll erscheint. a) Gourdain/Nadler Der EuGH hat sich erstmals 1979 in der Rechtssache Gourdain/Nadler zur Annexzuständigkeit für insolvenzbezogene Klagen geäußert.13 Nach dieser Entscheidung sind Klagen dann insolvenzrechtlich zu qualifizieren, wenn sie unmittelbar aus dem Konkursverfahren hervorgehen und sich eng innerhalb des Rahmens des Konkurs- oder Vergleichsverfahrens halten. Diese Kriterien haben sich als ständige Rechtsprechung etabliert.14 Für die Qualifikation der Aussonderung bieten diese Eigenschaften hingegen keinen besonderen Mehrwert, da sie nicht konkret formuliert sind und viel Raum lassen für Interpretation.15 Der unmittelbare Zusammenhang von Aussonderung und Insolvenzverfahren wird trotz der autonomen Auslegung innerhalb der EuInsVO national bestimmt und je nach insolvenzrechtlicher Ausgestaltung des jeweiligen Mitgliedstaates unterschiedlich beurteilt.16 Legt man eine deutsche Wertung zugrunde, so würde man einen unmittelbaren Zusammenhang eher verneinen, zumal § 47 S. 2 InsO klarstellt, dass sich ein Aussonderungsanspruch nach denjenigen Gesetzen richtet, die außerhalb des Insolvenzverfahrens gelten. Es muss also nicht auf insolvenzrechtliche, sondern nur auf sachen- oder schuldrechtliche Vorschriften zurückgegriffen werden. Der Vorteil des Aussonderungsberechtigten be10 Für diese Lösung aber Schlosser, EU-ZPR, 2. Aufl. 2003, Art. 1 EuGVVO Rdnr. 21a; Oberhammer, KTS 2009, 25, 46. 11 Kindler, KTS 2014, 25, 35; Thole, ZEuP 2014, 39, 59. 12 Haas, ZIP 2013, 2381, 2383; Kindler, EuZW 2015, 141, 143; Lüttringhaus/Weber, RIW 2010, 45, 48; Mankowski, NZI 2014, 919, 922; Sujecki, EuZW 2012, 430, 427. 13 Rechtssache C-133/78 Gourdain/Nadler, ECLI:EU:C:1979:49 = Slg. 1979, 733, 744. 14 Übersichten bei Bork/van Zwieten-Oberhammer, European Insolvency Regulation, Oxford 2016, Rdnr. 32.15 ff.; Garcimartín, ZEuP 2015, 694, 712 ff. 15 Vgl. Brinkmann, IPRax. 2010, 324, 325; Haas, ZIP 2013, 2381, 2382; Haubold, IPRax. 2002, 157, 163; Kindler, KTS 2009, 27, 45: Lüttringhaus/Weber, RIW 2010, 45, 47. 16 Kindler, KTS 2009, 27, 46.
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steht dabei gerade darin, nicht in das Insolvenzverfahren eingebunden zu werden und unabhängig davon Befriedigung zu erlangen. Zudem kann eine Aussonderungsklage unabhängig von der Eröffnung eines Insolvenzverfahrens angestrebt werden. Der Zusammenhang von Aussonderungsansprüchen und Insolvenzverfahren kann indes – selbst aus deutscher Sicht – nicht gänzlich verneint werden, zumal ein Aussonderungsanspruch gegenüber dem Insolvenzverwalter geltend gemacht wird und zumindest indirekte Auswirkungen auf die Insolvenzmasse hat. Denn sofern ein Gegenstand nicht ausgesondert wird, kann er Bestandteil der Masse sein. Mithin bildet die Aussonderung aus Verfahrenssicht einen Risikofaktor für eine (gleichmäßige) Gläubigerbefriedigung, sodass eine insolvenzrechtliche Einordnung nicht völlig fern liegt. Insgesamt weist der Anspruch jedoch mehr Berührungspunkte zum allgemeinen Zivilrecht als zum Insolvenzrecht auf. b) German Graphics Eine eindeutige Antwort auf die Frage nach einer Qualifikation von Aussonderungen hat der EuGH im Jahre 2006 für eine Aussonderung auf der Grundlage eines Eigentumsvorbehalts in der Entscheidung German Graphics gegeben.17 In diesem Urteil hat der Gerichtshof klargestellt, dass die Rückgabe von Eigentum unabhängig von der Eröffnung eines Insolvenzverfahrens erfolge, zumal die Klage ihre Grundlage weder im Insolvenzrecht habe noch eine Verfahrenseröffnung und oder die Bestellung eines Insolvenzverwalters voraussetze. Dass ein Insolvenzverwalter an dem Rechtsstreit beteiligt ist, reiche als Argument allein nicht aus, um die Aussonderung als ein Verfahren anzusehen, das unmittelbar aus dem Konkurs hervorgeht und sich eng innerhalb eines solchen Verfahrens hält. In der Konsequenz hat der EuGH die Zuständigkeit nach den Regeln der Brüssel Ia-VO bestimmt. Seit dieser Entscheidung herrscht zumindest Klarheit für alle eigentumsrechtlichen Aussonderungen. Unklar bleibt aber, ob Streitgegenstand die Eigentümerstellung des Aussonderungsberechtigten ist und ob die Eröffnung des Insolvenzverfahrens eine unbeachtliche Vorfrage bildet oder ob die Aussonderung eines dinglichen Rechts in der Insolvenz Schwerpunkt der Streitigkeit ist.18 Da sich der Gerichtshof nicht für eine insolvenzrechtliche Qualifikation entschieden hat, dürfte Ersteres der Fall sein. Insgesamt lässt sich diese Argumentation zwar auch auf schuldrechtliche Aussonderungsrechte übertragen. Da aber innerhalb der EuInsVO wertungsmäßig zwischen dinglichen und schuldrechtlichen Rechten unterschieden wird (vgl. Art. 8 und 10 einerseits, Art. 11 ff. andererseits), könnte im Einzelfall auch eine andere Entscheidung geboten sein, sodass die Zuständigkeit dann nach Art. 6 EuInsVO zu bestimmen wäre.
17 Rechtssache C-292/08 German Graphics Graphische Maschinen GmbH/Alice van der Schee, ECLI:EU:C:2009:544 = Slg. 2009 I-8421, Rdnr. 31 ff. 18 Vgl. Lüttringhaus/Weber, RIW 2010, 45, 47.
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Es fällt auf, dass Art. 6 EuInsVO keine der Aussagen des German Graphics-Urteils kodifiziert hat. Ob dies auf eine Einzelfallrechtsprechung hindeutet oder negative Tatbestandsmerkmale im Verordnungstext lediglich unerwünscht waren, bleibt unklar. Ersteres erscheint allerdings wahrscheinlicher, zumal die Reform bewusst Teile der EuGH-Rechtsprechung in den Verordnungstext integriert hat. Dass das für das German Graphics-Urteil nicht geschehen ist, dürfte also beabsichtigt sein. c) Seagon In der Rechtssache Seagon hat der EuGH dem Insolvenzverfahrensstaat die Zuständigkeit für Insolvenzanfechtungsklagen zugesprochen.19 Der Gerichtshof hat auch hier wieder betont, dass eine Klage von der Eröffnung eines Insolvenzverfahrens abhängig sein muss, um als Annex gelten zu können. Die Verfahrenseröffnung müsse condicio sine qua non für das andere Klageverfahren sein.20 Zusätzlich müsse sie im Interesse der Gesamtheit der Gläubiger erhoben werden oder zumindest sämtliche Gläubiger berühren. Auch wenn dieser Beurteilungsmaßstab spezifisch auf die Thematik der Insolvenzanfechtung zugeschnitten ist, so stehen damit doch zusätzliche Auslegungskriterien zur Einordnung anderer Sachverhalte zur Verfügung. Überträgt man diese Argumentation auf die Aussonderung, so spricht viel dafür, sie nicht dem Interessenkreis der Insolvenzgläubiger zuzuordnen. Vielmehr kollidieren die jeweiligen Interessen miteinander. Während die Gläubiger das Ziel der Massemehrung verfolgen, will der Aussonderungsberechtigte seinen Gegenstand oder sein Recht gerade aus der Masse extrahieren. Indes, gerade aufgrund dieser konträren Positionen existieren auch Berührungspunkte zwischen den Gläubigern und dem Aussonderungsberechtigten, denn sofern der Gegenstand keiner Aussonderung unterliegt, kann er Massebestandteil werden und sie erweitern. Dieser Negativ-Zusammenhang erscheint indessen unzureichend, um eine Zuständigkeitserstreckung zu begründen. Folglich spricht auch diese Rechtsprechung gegen eine insolvenzspezifische Einordnung der Aussonderung. d) H./H.K. In der Entscheidung H/H.K. stellt der Gerichtshof weitere Kriterien zur insolvenzrechtlichen Qualifikation von Annexklagen auf.21 In der Sache ging es um die Einordnung von Klagen gegen den Geschäftsführer einer GmbH nach § 64 GmbHG. Der Gerichtshof hat dafür die Annexzuständigkeit bejaht, da die Klage anlässlich eines 19
Rechtssache C-339/07 Seagon/Deko Marty Belgium NV, ECLI:EU:C:2009:83 = Slg. 2009, I-767, Rdnr. 16. 20 Vgl. Haß/Huber/Gruber/Heiderhoff-Gruber (Fn. 6) Art. 25 Rdnr. 13; Lüke, ZZP 111 (1998), 275, 293; Lüttringshaus/Weber, RIW 2010, 45, 47. 21 Rechtssache C-295/13 H./H.K., ECLI:EU:C:2014:2410, Rdnr. 19 ff.
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Insolvenzverfahrens erhoben wurde und die Anspruchsgrundlage (§ 64 GmbHG) die materielle Zahlungsunfähigkeit des Schuldners voraussetze. Ergänzend hat der EuGH auf die Kriterien des Seagon-Urteils zurückgegriffen und in diesem Zusammenhang klargestellt, dass der Haftungstatbestand nicht schon deshalb rein gesellschaftsrechtlich zu qualifizieren sei, weil ein Anspruch aus § 64 GmbHG auch unabhängig von der Eröffnung eines Insolvenzverfahrens erhoben werden könne. Vielmehr sei entscheidend, dass der Anspruch tatsächlich im Insolvenzverfahren geltend gemacht werde. Letzteres ist regelmäßig auch bei Aussonderungsklagen der Fall. Es bleibt aber festzuhalten, dass diese weder die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens noch die materielle Insolvenz voraussetzen und in vergleichbarer Art und Weise auch gegen den solventen Schuldner hätten erhoben werden können. Das spricht auch auf der Grundlage der Entscheidung H./H.K. weiterhin gegen die Einbeziehung in die Annexzuständigkeit aus Art. 6 EuInsVO. 3. Fazit Trotz der eindeutigen German Graphics-Rechtsprechung ergibt sich in der Gesamtschau der vorgenannten Urteile kein abschließendes Ergebnis für die Zuständigkeit von Aussonderungsklagen. Insbesondere ist darauf hinzuweisen, dass die Qualifikation trotz autonomer Auslegung auf nationalen Sichtweisen in Abhängigkeit von der jeweiligen Rechtsordnung beruht. In diesem Zusammenhang kann man unter dem Aspekt der Rechtssicherheit kritisieren, dass Art. 6 EuInsVO lediglich die allgemein gehaltene Gourdain-Formel des EuGH übernimmt, ohne weitere Konkretisierungen vorzunehmen. Auch der Art. 6 EuInsVO erläuternde Erwägungsgrund (35) hilft da nicht weiter. Wünschenswert wären Regelbeispiele, die Aussonderungsklagen – über die ausdrücklich erwähnten Anfechtungsklagen hinaus – explizit nennen, oder aber Bestimmungen, die zumindest eine Orientierung für konkrete Fragestellungen wie diese ermöglichen.22 Auch eine Kodifizierung der German Graphics-Aussagen würde Aufschluss bieten über die Intention des Verordnungsgebers. So hingegen lässt sich nicht erkennen, ob die Einführung des Artikels tatsächlich eine Erweiterung der bisherigen Rechtspraxis darstellen soll oder nicht, die, wenn es um die Aussonderung geht, weiterhin als wichtigste Orientierungshilfe zu gelten hat. Insoweit erscheint wichtig, dass es nach der Entscheidung H./H.K. unerheblich sein soll, ob ein Anspruch auch ohne die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens geltend gemacht werden kann, und dass lediglich die Erhebung der Aussonderungsklage im Insolvenzverfahren entscheidend ist. Das Argument, man könne Herausgabeklagen auch ohne die Insolvenz des Schuldners erheben, kann also allein nicht mehr durchschlagen. Wohl aber ist zu berücksichtigen, dass Aussonderungen nicht zwingend an die materielle Insolvenz anknüpfen. Zudem wird eine Aussonderungsklage nicht im, sondern nur parallel zum Insolvenzverfahren erhoben, sodass auch dieses Kriterium zur Abkehr einer insolvenzspezifischen Einordnung beiträgt. 22
Thole, ZEuP 2014, 39, 59.
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Insgesamt sprechen daher die besseren Argumente für eine Einordnung nach der Brüssel Ia-VO.23 Der Vorteil des Aussonderungsberechtigten resultiert gerade aus seiner Unabhängigkeit von der Insolvenz. Würde man die Annexzuständigkeit als ausschließlichen Gerichtsstand bejahen, so würde dies den Vorteil der Inanspruchnahme besonderer und ausschließlicher Gerichtsstände der Brüssel Ia-VO unterlaufen. Hinzu kommt, dass die Natur eines Aussonderungsanspruches schwerpunktmäßig im allgemeinen Zivil- und nicht im Insolvenzrecht begründet liegt. Er ist dafür geschaffen, die Insolvenz nicht zu beeinträchtigen und an dieser auch nicht teilzunehmen. Ferner ist der Argumentation des Gerichtshofes in German Graphics zu folgen, die sich auf den grundsätzlich weit auszulegenden Anwendungsbereich der Brüssel Ia-VO stützt.24 Spiegelbildlich dazu ist der Anwendungsbereich der EuInsVO infolge des Art. 6 Abs. 1 EuInsVO, der lediglich bei unmittelbarem Zusammenhang sowie enger Verbindung zum Insolvenzverfahren eine Zuständigkeitsbegründung gewährt, restriktiv auszulegen.25 Eine andere Bewertung ist dennoch denkbar, zumal Aussonderungen innerhalb verschiedener Rechtsordnungen auch unterschiedlicher Natur sein können und somit die Möglichkeit einer insolvenzrechtlichen Einordnung besteht.26 Deshalb kann letztlich keine pauschale Lösung des Problems der internationalen Zuständigkeit für Aussonderungsklagen angeboten werden. Lediglich aus deutscher Sicht ist ein insolvenzspezifischer Gerichtsstand zu verneinen. Eine einheitliche Struktur von Aussonderungen lässt sich letztlich nur durch die Harmonisierung nationaler Sachrechte etablieren.
III. Brüssel Ia-VO Ist Art. 6 EuInsVO nicht anwendbar, muss die Zuständigkeit für Aussonderungsklagen nach der Brüssel Ia-VO bestimmt werden. Auf dieser Grundlage stehen dem Kläger im Vergleich zur EuInsVO mehrere Gerichtsstände zur Verfügung. Das erscheint besonders im Falle des ausschließlichen Gerichtsstandes für Immobiliarstreitigkeiten (Art. 24 Nr. 1 Brüssel Ia-VO) sachgerecht, zumal dadurch die Sachnähe zum betreffenden Gegenstand sowie eine die lokalen Umstände berücksichtigende 23 Bork/van Zwieten-Ringe (Fn. 14) Rdnr. 6.27; Brinkmann, IPRax. 2010, 324, 325; Duursma-Kepplinger/Duursma/Chalupsky-Duursma-Kepplinger (Fn. 1) Art. 25 Rdnr. 55; Haß/Huber/Gruber/Heiderhoff-Gruber (Fn. 6) Art. 25 Rdnr. 14; Haubold, IPRax. 2002, 157, 163; Strobel (Fn. 6) S. 261; Stürner, IPRax. 2005, 416, 419; Willemer, Vis attractiva concursus, Tübingen 2006, S. 359 ff.; a.M. Lipp, RIW 1994, 18, 19; Pannen-Pannen, EuInsVO, Berlin 2007, Art. 3 Rdnr. 114; Weller, ZHR 169 (2005), 570, 577. 24 EuGH, Rechtssache C-292/08 German Graphics Graphische Maschinen GmbH/Alice van der Schee, ECLI:EU:C:2009:544 = Slg. 2009 I-8421, Rdnr. 23, 24. 25 Ebenso zur alten Fassung der EuInsVO Röthel, Europäische Einflüsse auf den deutschitalienischen Rechtsverkehr, Heidelberg 2013, S. 97. 26 So beispielsweise noch zum EuGVÜ Cour d’appel Douai, 21. 6. 1990, Anm. Huet, JDI 1992, 187, 191.
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Entscheidung gewährleistet wird.27 Grundsätzlich ist der Insolvenzverwalter jedoch nach Maßgabe der Art. 4 ff. Brüssel Ia-VO am allgemeinen Beklagtengerichtsstand zu verklagen. Dieser wird bei Klage des Gläubigers überwiegend mit dem COMI des Schuldners und damit dem Ort des Insolvenzverfahrens übereinstimmen, so dass die Bestimmung der internationalen Zuständigkeit nach der Brüssel Ia-VO häufig zum selben Ergebnis kommen wird wie nach der EuInsVO. Für Mobiliaraussonderungsrechte stehen dem Berechtigten zusätzlich die besonderen Gerichtsstände der Art. 7 ff. Brüssel Ia-VO zur Verfügung. Negativ zu bewerten ist allenfalls die Gefahr des forum shopping. Diese Begleiterscheinung hat der Verordnungsgeber jedoch in Kauf genommen.
IV. Anwendbares Recht Bei der Bestimmung des anwendbaren Rechts sind zwei Fragen zu unterscheiden: (1) Hat der Gläubiger eine wirksame materielle Rechtsposition und (2) berechtigt sie in der Insolvenz des Schuldners zur Aussonderung? Es ist also zwischen der Wirksamkeit des (dinglichen oder schuldrechtlichen) materiellen Rechts sowie dessen Behandlung in der Insolvenz zu unterscheiden. Diese Fragen stehen dabei im Verhältnis von Haupt- und Vorfrage zueinander.28 Dabei ist die Bestimmung des auf die Rechtsposition des Gläubigers in der Insolvenz anwendbaren Rechts die Hauptfrage, während die Wirksamkeit dieses Rechts die Vorfrage bildet. Für den Aussonderungsberechtigten ist Ersteres von entscheidender Bedeutung, zumal sich die Voraussetzungen der Aussonderung nach diesem Recht beurteilen.
V. Entstehung, Wirksamkeit, Inhalt des Rechts als Vorfrage Welches Recht auf die Wirksamkeit des (möglicherweise zur Aussonderung berechtigenden) materiellen Rechts Anwendung findet, hängt maßgeblich von der Anknüpfung dieser Vorfrage ab. Grundsätzlich ist umstritten, ob Vorfragen einer selbstständigen Anknüpfung unterliegen oder nicht.29 Während Letzteres den internatio27
Strobel (Fn. 6) S. 261. So auch zu dinglichen Rechten Duursma-Kepplinger/Duursma/Chalupsky-DuursmaKepplinger (Fn. 1) Art. 5 Rdnr. 21; Gottwald-Kolmann/Keller, Insolvenzrechts-Handbuch, 5. Aufl., München 2015, § 133 Rdnr. 34; Haß/Huber/Gruber/Heiderhoff-Huber (Fn. 6) Art. 5 Rdnr. 8; Huber, ZZP 114 (2001), 133, 154; Kindler/Nachmann-Kindler, Handbuch Insolvenzrecht Europa, Teil 1, Stand: 4/2014, § 4 Rdnr. 33; MünchKomm.BGB-Kindler, Bd. 11, 6. Aufl., München 2015, Art. 7 Rdnr. 5; MünchKomm.InsO-Reinhart, Bd. 3, 2. Aufl. 2008, Art. 5 Rdnr. 5. 29 MünchKomm.BGB-v. Hein, Bd. 10, 6. Aufl. 2015, Einl. IPR Rdnr. 169 ff.; PalandtThorn, BGB, 75. Aufl. 2016, Einl. EGBGB Rdnr. 29; Winkler v. Mohrenfels, RabelsZ 51 (1987), 20 ff. 28
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nalen Entscheidungseinklang fördert, dient die selbstständige Anknüpfung dem internen Entscheidungseinklang des Gerichtsstaates.30 Obwohl es Stimmen gibt, die eine unselbstständige Anknüpfung und die Anwendbarkeit der lex fori concursus für dingliche Rechte befürworten,31 entspricht es dennoch überwiegender Ansicht, dass diese Vorfragen grundsätzlich selbstständig zu bestimmen sind.32 Dies entspricht auch dem Willen des Verordnungsgebers, der in Erwägungsgrund (68) für dingliche Rechte klargestellt hat, dass die Begründung, Gültigkeit und Tragweite des Rechts regelmäßig nach dem Belegenheitsort der Sache zu bestimmten ist und vom Insolvenzverfahren nicht berührt wird. Auch der Virgós/Schmit-Report spricht davon, dass sich die Einstufung als dingliches Rechts nach den üblichen Kollisionsnormen richtet, wie sie vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens galten.33 Eine unselbstständige Lösung hätte zudem den Nachteil, dass sich Sicherungsnehmer nicht auf ihre Sicherheiten verlassen können.34 Allerdings erscheint es zunächst nicht möglich, diesen Gedanken auch auf schuldrechtliche (Aussonderungs-)Rechte zu übertragen, zumal die EuInsVO den besonderen Status dinglicher Rechte mit der Funktionsfähigkeit der Wirtschaft und dem Aspekt des Vertrauensschutzes begründet.35 Eine unselbstständige Anknüpfung scheitert aber argumentum e contrario an Art. 7 Abs. 2 lit. e) EuInsVO, der das anwendbare Recht der lex fori concursus bei laufenden Verträgen nur auf die insolvenzspezifischen Wirkungen beschränkt. Dieser systematische Zusammenhang macht deutlich, dass die Wirksamkeit eines Rechts nicht mithilfe der Verordnung, sondern nur eigenständig beantwortet werden kann. Mithin bleibt die Bestimmung des anwendbaren Rechts dem autonomen Kollisionsrecht überlassen.36
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Kropholler, Internationales Privatrecht, 6. Aufl., Tübingen 2006, S. 226; Palandt-Thorn (Fn. 29) Einl. EGBGB Rdnr. 29. 31 v. Wilmowsky, EWS 1997, 297; Taupitz, ZZP 111 (1998), 315, 334. 32 Gottwald-Kolmann/Keller (Fn. 28) § 133 Rdnr. 34; Herchen, Das Übereinkommen über Insolvenzverfahren der Mitgliedstaaten der Europäischen Union vom 23. 11. 1995: eine Analyse zentraler Fragen des internationalen Insolvenzrechts unter besonderer Berücksichtigung dinglicher Sicherungsrechte, Würzburg 2000, S. 55; Huber, ZZP 114 (2001), 133, 154; Leible/ Staudinger, KTS 2000, 551; Paulus, NZI 2001, 505, 513; Wimmer, NJW 2002, 2427, 2429. 33 Virgós/Schmit, Erläuternder Bericht, erschienen in: Stoll, Vorschläge und Gutachten zur Umsetzung des EU-Übereinkommens im deutschen Recht, Tübingen 1997, S. 32 ff.; englische Fassung in: Bork/Mangano, European Insolvency Law – Texts and Cases, Cologne 2012, S. 51 ff. – jeweils Rdnr. 95. 34 Virgós/Schmit, Erläuternder Bericht (Fn. 33) Rdnr. 100; Huber, ZZP 114 (2001), 133, 153; v. Wilmowsky, EWS 1997, 295, 296. 35 Erwägungsgründe (67), (68); Virgós/Schmit, Erläuternder Bericht (Fn. 33) Rdnr. 97. 36 Virgós/Schmit, Erläuternder Bericht (Fn. 33) Rdnr. 95; ferner Haas, Festschrift für Walter Gerhardt, Köln 2004, S. 319, 333; MünchKomm.InsO-Reinhart (Fn. 28) Art. 5 Rdnr. 6.
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Zur Heranziehung der richtigen Norm muss die Vorfrage qualifiziert werden.37 Betrachtet man die Wirksamkeit des (deutschen) Aussonderungsrechts isoliert, so richtet sich diese nur nach schuld- und sachenrechtlichen Normen. Sofern es sich um dingliche Sicherungsrechte handelt, bestimmt sich das Recht somit in Ermangelung einer europäischen Verordnung nach Art. 43 ff. EGBGB und somit nach der lex rei sitae.38 Allerdings bietet diese Lösung kein sicheres Pflaster, da bei Gebietswechseln vor Verfahrenseröffnung Statutenwechsel drohen, die den Untergang des Rechts zur Folge haben können.39 Zudem ist eine Weiterverweisung nach Art. 4 Abs. 1 S. 1 EGBGB möglich. Für schuldrechtliche Aussonderungsrechte bestimmt sich das anwendbare Recht nach den einschlägigen Normen der Rom I-VO. Auch im Rahmen dinglicher Rechte ist zur Bestimmung eines etwaigen Besitzrechts auf diese Regelungen zurückzugreifen. Sie berufen nach Art. 20 Rom I-VO das Sachrecht der Mitgliedstaaten unter Ausschluss des internationalen Privatrechts zur Anwendung. Folglich ist eine Weiterverweisung zumindest hier ausgeschlossen.
VI. Insolvenzrechtliche Behandlung des Rechts als Hauptfrage Die Wirkungen der Eröffnung eines Insolvenzverfahrens auf (möglicherweise zur Aussonderung berechtigende) Gläubigerrechte sind eindeutig der Materie des Insolvenzrechts zuzuordnen. Mithin bestimmt sich das anwendbare Recht nach der EuInsVO. Die Kollisionsnormen der Verordnung enthalten dabei stets Sachrechtsverweisungen, sodass das IPR des jeweiligen Mitgliedstaates weitgehend verdrängt wird. Für den Aussonderungsberechtigten ist die Einordnung seines dinglichen oder schuldrechtlichen Rechts in eine konkrete Rechtsordnung in der Insolvenz von höchster Relevanz, da diese Rechtsordnung festlegt, ob dieses Recht zur Aussonderung oder nur zur abgesonderten Befriedigung berechtigt. 1. Dingliche Aussonderungsrechte Die Verordnung selbst nimmt zur Behandlung von dinglichen Rechten im grenzüberschreitenden Verfahren Stellung in Erwägungsgrund (68): Inhaber dinglicher 37 Bernitt, Die Anknüpfung von Vorfragen im europäischen Kollisionsrecht, Tübingen 2010, S. 23, 24; Hoffmeyer, Das internationalprivatrechtliche Vorfragenproblem, Hamburg 1956, S. 15 ff. 38 Cranshaw, DWIR 2010, 89, 91; Duursma-Kepplinger/Chalupsky/Duursma-DuursmaKepplinger (Fn. 1) Art. 5 Rdnr. 14; Gottwald-Kolmann/Keller (Fn. 28) § 133 Rdnr. 35; Herchen (Fn. 32) S. 55; Huber, ZZP 114 (2001), 133, 153; MünchKomm.BGB-Kindler (Fn. 28) Art. 5 Rdnr. 8; Paulus, NZI 2001, 505, 513; Plappert, Dingliche Sicherungsrechte in der Insolvenz, Baden-Baden 2008, S. 250 ff. 39 Brinkmann, Kreditsicherheiten an beweglichen Sachen und Forderungen, Tübingen 2011, S. 339; Gottwald-Kolmann/Keller (Fn. 28) § 133 Rdnr. 35; Haas (Fn. 36) S. 319, 333; Herchen (Fn. 32) S. 56; Pieckenbrock, KTS 2010, 208, 210.
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Rechte sollen ihre Rechte an dem Vermögensgegenstand weiter geltend machen können, sofern er sich außerhalb des Territoriums des Verfahrenseröffnungsstaates befindet. Diesen Gedanken greifen Art. 8 EuInsVO und Art. 10 Abs. 1 EuInsVO auf, indem sie normieren, dass exterritoriale dingliche Rechte von der Eröffnung des Insolvenzverfahrens unberührt bleiben. Überlegungen zum auf Aussonderungsrechte anwendbaren Recht müssen deshalb im Geltungsbereich der EuInsVO ihren Ausgang bei Art. 7 Abs. 2 lit. b) EuInsVO nehmen. Nach dieser Vorschrift bestimmt das Recht des Eröffnungsstaates (lex fori concursus), welche Vermögenswerte zur Insolvenzmasse gehören. Allerdings enthält Art. 8 EuInsVO dazu für „dingliche Rechte“, die sich bei Verfahrenseröffnung nicht im Eröffnungsstaat, sondern in einem anderen Mitgliedstaat befinden, eine Ausnahme. Noch spezieller regelt Art. 10 Abs. 1 EuInsVO den Eigentumsvorbehalt in der Insolvenz des Käufers für den Fall, dass sich der Kaufgegenstand bei Verfahrenseröffnung in einem anderen Mitgliedstaat als dem Eröffnungsstaat befindet; anderenfalls bleibt es nach Maßgabe des Art. 7 Abs. 2 lit. b) EuInsVO bei der Anwendung der lex fori concursus.40 a) Art. 8 EuInsVO Obwohl die Erwägungsgründe explizit auf die lex rei sitae verweisen, lässt die Formulierung des Art. 8 Abs. 1 EuInsVO selbst eine solche Klarheit vermissen. Die Norm enthält keine Verweisung, sondern besagt abstrakt, dass dingliche Rechte von der Eröffnung eines Insolvenzverfahrens nicht berührt werden. Ob es sich dabei um eine Kollisionsnorm handelt, die das anwendbare Recht festlegt,41 oder aber um eine reine Sachnorm, die für exterritoriale Gegenstände die Anwendung jeglichen Insolvenzrechts ausschließt,42 hat lange Zeit die zentrale Streitfrage innerhalb der Verordnung gebildet.43 Letzteres hat sich mit den Argumenten des Wortlauts sowie der Systematik der Verordnung etabliert und auch beim EuGH durchgesetzt.44 Wenig behandelt ist freilich die Frage, ob Art. 8 EuInsVO auf Aussonderungsrechte überhaupt anwendbar ist. Die Norm befasst sich nämlich nur mit Rechten „an Gegenständen des Schuldners“, und Gegenstände, deren Aussonderung begehrt wird, gehören nun gerade nicht dem Schuldner. Gleichwohl wird allgemein die Auf40 So auch EuGH Rechtssache C-292/08 German Graphics Graphische Maschinen GmbH/ Alice van der Schee, ECLI:EU:C:2009:544 = Slg. 2009 I-8421, Rdnr. 35 ff. 41 So vor allem Flessner, Festschrift für Ulrich Drobnig, Tübingen 1998, S. 277, 280; ferner Fritz/Bähr, DZWIR 2001, 221, 228. 42 In diesem Sinne Balz, ZIP 1996, 948, 950; Duursma-Kepplinger/Chalupsky/DuursmaDuursma-Kepplinger (Fn. 1) Art. 5 Rdnr. 21; Leible/Staudinger, KTS 2000, 550; Paulus, NZI 2001, 505, 513; Taupitz, ZZP 111 (1998), 335, 335. 43 Herchen (Fn. 32) S. 74. 44 Rechtssache C-527/10 ERSTE Bank Hungary Nyrt/Magyar Állam and Others, ECLI:EU:C:2012:417, Rdnr. 41; Rechtssache C-557/13 Hermann Lutz/Elke Bäuerle, ECLI:EU:C:2015:227, Rdnr. 38 ff.
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fassung vertreten, Art. 8 EuInsVO erfasse, wie sich aus seinem Absatz 2 lit. c) ergebe, auch das Volleigentum.45 Dem wird man aus zwei Gründen zustimmen müssen: Zum einen gebietet dieses Ergebnis ein argumentum a minore ad maius: Wenn schon (exterritoriale) dingliche Sicherungsrechte an schuldnereigenen Gegenständen von der lex fori concursus unberührt bleiben, dann muss das erst recht für dingliche Vollrechte gelten. Zum selben Ergebnis führt Art. 10 Abs. 1 EuInsVO, dem die nachfolgenden Überlegungen gewidmet sind. Wenn dort für einen bestimmten, aus dogmatischen Gründen als speziell regelungsbedürftig angesehenen Fall des Volleigentums die Verschonung vom Insolvenzrecht geregelt ist, dann ist anzunehmen, dass für alle anderen Fälle des Volleigentums Art. 8 EuInsVO gelten soll. b) Art. 10 Abs. 1 EuInsVO Die insolvenzrechtliche Behandlung des Eigentumsvorbehalts ist in Art. 10 EuInsVO normiert. Die Verordnung qualifiziert das Rechtsinstitut als ein Annexrecht zum Kaufvertrag46 und regelt es deshalb im Verhältnis zu Art. 8 EuInsVO eigenständig. Grundsätzlich unterscheidet die Norm zwischen der Insolvenz des Vorbehaltskäufers (Abs. 1) und der des Verkäufers (Abs. 2). Letzteres ist eine den Käufer schützende Sachnorm, die keinen unmittelbaren aussonderungsrelevanten Bezug aufweist und deshalb hier nicht weiter behandelt werden muss. Art. 10 Abs. 1 ist hingegen als Pendant zu Art. 8 EuInsVO ausgestaltet und lässt die Rechte des Verkäufers aus Eigentum von der Eröffnung des Verfahrens unberührt, wenn sich die Sache zum Zeitpunkt der Verfahrenseröffnung in einem anderen Mitgliedstaat befindet. Sofern der Gegenstand im Eröffnungsstaat selbst belegen ist, bleibt es wiederum bei der lex fori concursus.47 Auch hier gilt grundsätzlich wie bei Art. 8 EuInsVO der absolute Ausschluss insolvenzrechtlicher Wirkungen, sodass es für die Aussonderung i.d.R nur auf die wirksame Entstehung des Eigentumsvorbehalts nach der lex rei sitae ankommt.48 Allerdings muss das Belegenheitsrecht den Eigentumsvorbehalt auch anerkennen, damit der Verkäufer den Schutz des Art. 10 Abs. 1 EuInsVO genießen kann.49 Auf Grund unterschiedlicher mitgliedstaatlicher Einordnungen50 und zur 45 Vgl. MünchKomm.BGB-Kindler (Fn. 28) Art. 5 Rdnr. 8; K. Schmidt-Brinkmann, InsO, 19. Aufl., München 2016, Art. 5 EuInsVO Rdnr. 6; wohl auch Kübler/Prütting/Bork-Kemper, InsO, Stand Mai 2016, Art. 5 EuInsVO Rdnr. 7 („Eigentumsherausgabeanspruch“). 46 Haß/Huber/Gruber/Heiderhoff-Huber (Fn. 6) Art. 7 Rdnr. 1; Huber, ZZP 114 (2001), 133, 160; Taupitz, ZZP 111 (1998), 315, 342. 47 EuGH Rechtssache C-292/08 German Graphics Graphische Maschinen GmbH/Alice van der Schee, ECLI:EU:C:2009:544 = Slg. 2009 I-8421, Rdnr. 35 ff. 48 Zur Anwendbarkeit der lex rei sitae kommt man durch das Kollisionsrecht des jeweiligen Mitgliedstaates, MünchKomm.InsO-Reinhart (Fn. 28) Art. 7 Rdnr. 3. 49 Fritz/Bähr, DZWIR 2001, 221, 228; Leible/Staudinger, KTS 2000, 533, 554; Taupitz, ZZP 111 (1998), 315, 342. 50 Vgl. zur unterschiedlichen Einordnung des Eigentumsvorbehaltes der Mitgliedstaaten Lehr, RIW 2000, 747, 749; Leible, Der Eigentumsvorbehalt bei Warenlieferungen in EUStaaten, Praxis-Handbuch Export, Freiburg 1996, Gruppe 6/7, S. 1 ff.
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Verhinderung eines Rechtsverlustes bei Statutenwechsel verpflichtet Art. 4 Abs. 1 der Zahlungsverzugsrichtlinie51 alle Mitgliedstaaten zur Anerkennung eines einfachen Eigentumsvorbehalts. Der verlängerte oder erweiterte Eigentumsvorbehalt wird hingegen nicht von Art. 10 Abs. 1 EuInsVO,52 sondern – im Ergebnis neutral – von Art. 8 EuInsVO erfasst.53 2. Schuldrechtliche Aussonderungsrechte und für dingliche Rechte relevante Verträge Schuldrechtliche Aussonderungsrechte werden im Rahmen der EuInsVO nicht ausdrücklich thematisiert. Insbesondere Erwägungsgrund (68) macht deutlich, dass lediglich dingliche Rechte als Aussonderungsrechte Beachtung finden und Ausnahmeregelungen zur lex fori concursus unterliegen können. Die insolvenzrechtlichen Wirkungen sind auch nicht vom Vertragsstatut der Rom-I-VO umfasst. Folglich ist im Falle schuldrechtlicher Aussonderungsrechte auf die allgemeinen vertragsrechtlichen Regelungen der Verordnung zurückzugreifen, auch wenn die Aussonderung in den Rechtsfolgen nicht frei bleibt von einer dinglichen Komponente. a) Artikel 11 EuInsVO Für Verträge zum Erwerb oder zur Nutzung unbeweglicher Gegenstände ist nach Maßgabe des Art. 11 Abs. 1 EuInsVO ausschließlich die lex rei sitae anwendbar, was freilich zur Anwendung eines anderen Rechts als der lex fori concursus auch hier nur dann führen kann, wenn sich die Gegenstände bei Verfahrenseröffnung in einem anderen Mitgliedstaat als dem Eröffnungsstaat befinden. Mit dieser Direktanknüpfung soll verhindert werden, dass über eine Rechtswahl die Interessen des Lagestaates gefährdet werden.54 Zwar ist umstritten, ob es sich hierbei um eine Sach- oder Gesamtrechtsverweisung handelt. In Anbetracht der inländischen Schutzinteressen ist jedoch von einer Sachrechtsverweisung auszugehen.55 Die Vorschrift erfasst Miet-, Leasing- und Pachtverträge56 und regelt das anwendbare Recht für das Schicksal 51 Richtlinie 2000/35/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. Juni 2000 zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr, ABl. EG L 200/35. 52 Cranshaw, DZWIR 2010, 89, 91; Duursma-Kepplinger/Chalupsky/Duursma-DuursmaKepplinger (Fn. 1) Art. 7 Rdnr. 32; Haß/Huber/Gruber/Heiderhoff-Huber (Fn. 6) Art. 7 Rdnr. 3; Herchen (Fn. 32) S. 120; Leible/Staudinger, KTS 2000, 533, 553. 53 Duursma-Kepplinger/Chalupsky/Duursma-Duursma-Kepplinger (Fn. 1) Art. 7 Rdnr. 38; Haß/Huber/Gruber/Heiderhoff-Huber (Fn. 6) Art. 7 Rdnr. 3; Pannen-Ingelmann (Fn. 23) Art. 7 Rdnr. 4; Herchen (Fn. 32) S. 120. 54 Virgós/Schmit, Erläuternder Bericht (Fn. 33) Rdnr. 118; Pannen-Riedemann (Fn. 23) Art. 8 Rdnr. 8; Taupitz, ZZP 111 (1998), 315, 345. 55 Duursma-Kepplinger/Chalupsky/Duursma-Duursma-Kepplinger (Fn. 1) Art. 8 Rdnr. 9; Huber, ZZP 114 (2001), 133, 163; Leible/Staudinger, KTS 2000, 533, 557; MünchKomm.BGB-Kindler (Fn. 28) Art. 8 Rdnr. 1; Taupitz, ZZP 111 (1998), 315, 345. 56 Virgós/Schmit, Erläuternder Bericht (Fn. 33) Rdnr. 119.
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des Vertrages und damit auch für daraus resultierende Herausgabeansprüche. Positiv zu bewerten ist der mithilfe dieser Regelung hergestellte Gleichlauf zum Sachstatut (Art. 43 EGBGB) sowie zum Vertragsstatut der Rom I-VO (Art. 4 Abs. 1 lit. c Rom IVO).57 Ob überhaupt ein wirksames Schuldverhältnis besteht, wird spiegelbildlich zur Frage nach dem Bestand eines dinglichen Rechts nach der Rom I-VO beantwortet. b) Art. 7 Abs. 2 lit. e) EuInsVO Bezieht sich der schuldrechtliche Herausgabeanspruch hingegen auf eine bewegliche Sache, so lässt sich eine besondere Schutzbedürftigkeit nicht feststellen. Deshalb überantwortet Art. 7 Abs. 2 lit. e) EuInsVO die insolvenzspezifischen Wirkungen auf laufende Verträge des Schuldners der lex fori concursus.
VII. Fazit Die Aussonderung erfährt in grenzüberschreitenden Verfahren keine einheitliche Behandlung. Vielmehr setzt sich der Rechtsrahmen je nach Aussonderungsrecht und Eröffnungsstaat mosaikartig aus mehreren Komponenten zusammen. Dies ist insbesondere auf Qualifikations- und Abgrenzungsschwierigkeiten zurückzuführen, die darauf beruhen, dass sich Aussonderungsrechte an der Schnittstelle von Insolvenzund Sachen- bzw. Schuldrecht befinden und je nach nationaler Sichtweise stark variieren können. Soweit es um die internationale Entscheidungszuständigkeit geht, bleibt abzuwarten, ob der EuGH mit der Einführung des Art. 6 EuInsVO von seinen im German Graphics-Urteil aufgestellten Grundsätzen Abstand nimmt und einen anderen Kurs einschlägt. Die Zuständigkeitserstreckung auf Aussonderungsklagen würde in positiver Hinsicht zum Gleichlauf von Zuständigkeit und anwendbarem Recht beitragen und die einheitliche Anwendung der Verordnung fördern. Allerdings bleibt der Einwand einer unzureichenden insolvenzspezifischen Verbindung weiterhin bestehen, sodass auch im Lichte des Wortlautes von Art. 6 EuInsVO nicht mit einer Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung zu rechnen ist. Das anwendbare Recht richtet sich grundsätzlich nach der lex fori concursus, Art. 7 Abs. 2 lit. b) und e) EuInsVO. Ausnahmen werden nach Art. 8, 10, 11 EuInsVO nur bei exterritorialen Gegenständen zugelassen. Insgesamt leidet die Bestimmung des anwendbaren Rechts freilich darunter, dass die Vorfrage der Wirksamkeit des Aussonderungsrechts nach einem anderen Recht zu bestimmen ist als die Hauptfrage der insolvenzrechtlichen Wirkungen. Ist das Aussonderungsrecht zusätzlich noch von schuldrechtlichen Aspekten abhängig, so ist für die wirksame Entstehung auf die Rom I-VO und hinsichtlich der insolvenzrechtlichen Behandlung auf die lex 57
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fori concursus oder die lex rei sitae zurückzugreifen. Es ergeben sich folglich Schachtelprüfungen, die einen einheitlichen Sachverhalt aufspalten und mit erheblicher Rechtsunsicherheit verbunden sind. Solange jedoch keine Harmonisierung aller europäischen Sachrechte erfolgt, muss man sich mit dieser Vorgehensweise begnügen.
Arbeitsrechtliche Probleme des Profifußballs* Von Klaus Brondics
I. Einleitung „Für die Anhänger der ,schönsten Nebensache der Welt‘ ist Fußball eine Leidenschaft – ja sogar eine Religion. Treue Fans reisen in Massen durch die gesamte Union, um ihre Mannschaft bei jedem Spiel zu unterstützen, und die zu erwartenden Leistungen möglicher Neuzugänge (gegebenenfalls Transfers von anderen Vereinen und Nachwuchsspieler aus den eigenen Reihen) sind von höchster Bedeutung.“
Mit diesen Worten leitete die Generalanwältin Eleanor Sharpston unter dem 16. 07. 2009 ihre Schlussanträge in der Sache Olympique Lyonnais (C-325/08) vor dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg ein.1 Auch den Jubilar und den Verfasser dieses Beitrags verbindet die Begeisterung für den Fußball, gemeinsam besuchte Fußballspiele in Bremen2 zeugen davon. Auch wenn der Fußball von Athletik und Emotion lebt, findet er längst nicht mehr im rechtsfreien Raum statt. Seine Bedeutung als Wirtschaftsfaktor ist mittlerweile zu groß. Infolge der Ökonomisierung des Profifußballs ist er in vielfältiger Weise einem komplexen Regelwerk unterworfen.3 Die Konsequenz dieser Entwicklung ist die rechtliche Stellung des Fußballprofis als Arbeitnehmer: Gegenstand seines Arbeitsvertrages mit dem Verein ist die Sportleistung in Trainings- und Wettkampfveranstaltungen selbst nebst ihrer wirtschaftlichen Verwertung in Form von Werbeleistungen für den Verein und/oder den Sponsor.4 Organisiert wird der Profi-Fußball der 1. und 2. Bundesliga von der 2001 gegründeten Deutsche Fußballliga (DFL) GmbH. In dieser Funktion erteilt sie die Lizenzen an die Clubs und an die Spieler.5 Der Profifußball bietet reichlich Anlass, an seine Praxis die Messlatte des nationalen und europäischen Arbeitsrechts anzulegen. Im Folgenden werden drei Themenkreise näher betrachtet: Die Befristung von Verträgen und die Verlängerungsop* Bei der Recherche und der Korrektur waren mir meine Kinder stud. iur. Eva Westmark und stud. iur. Lennart Westmark eine große Hilfe. 1 EuGH, Schlussanträge vom 16. 07. 2009, C-325/08, Celex-Nr. 62008CC0325. 2 Von 1981 bis 1986 spielte der ehemalige japanische Nationalspieler Yasuhiko Okudera beim SV Werder Bremen. 3 PHB SportR-Fristweiler, 3. Teil Rn. 1. 4 PHB SportR-Fristweiler, 3. Teil Rn. 3. 5 Holzhäuser, SpuRt, 2004, 145 f.
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tionen im Profifußball (II.), das Ausleihen von Profispielern (III.) und die Ablösepraxis aus Anlass des Vereinswechsels (IV.).
II. Die Befristung von Profiverträgen und Verlängerungsoptionen Im bezahlten Fußball sind alle Spieler aufgrund befristeter Verträge tätig, unbefristete Verträge sind dem Profifußball fremd. Zudem sind sie oft verknüpft mit einer sogenannten Verlängerungsoption, die einseitig ausgeübt werden kann mit der Folge, dass sich die Laufzeit des Vertrages um einen zuvor festgelegten Zeitraum verlängert. 1. Die Befristung von Profiverträgen a) Ein Überblick Die Befristungspraxis soll am Beispiel von Manuell Neuer, Torwart des FC Bayern München, verdeutlicht werden: Er wechselte von seinem Ursprungsverein Schalke 04 zum 01. 07. 2011 befristet bis zum 30. 06. 2016 zum Deutschen Meister FC Bayern München. Bereits im Mai 2014 wurde der Vertrag bis zum 30. 09. 2019 verlängert. In 2016 erfolgte eine weitere Verlängerung bis zum Jahr 2021. Der vom Deutschen Fußballbund (DFB) vorgegebene Mustervertrag für Vertragsspieler sieht in S. 11 vor: 1. Der Vertrag gilt für die Zeit vom ………… bis zum 30. Juni ………… (Ende des Spieljahres ……/……). 2. Der Vertrag endet vorzeitig mit dem Wirksamwerden eines von den Parteien geschlossenen Aufhebungsvertrages oder einer wirksamen fristlosen Kündigung aus wichtigem Grund.
Nach § 14 Abs. 2 des Teilzeit- und Befristungsgesetzes (TzBfG) ist die Befristung von Arbeitsverhältnissen bei Neueinstellungen für die Dauer von maximal 24 Monaten zulässig. Der Gesetzgeber verlangt keinen sachlichen Grund für diese Befristung. Kommt also ein Spieler als Berufsspieler erstmals zu einem Verein, kann er für die Dauer von zwei Jahren einen befristeten Vertrag erhalten, ohne dass dies rechtliche Probleme aufwirft. Im Fall von Manuell Neuer ist die gesetzlich zulässige Dauer von zwei Jahren erkennbar überschritten, so dass es an der Voraussetzung für eine sachgrundlose Befristung fehlt. Die Befristung ist nur zulässig, wenn ein konkreter sachlicher Grund diese rechtfertigt: § 14 Abs. 1 TzBfG. Der Gesetzgeber gibt in § 14 Abs. 1 TzBfG beispielhaft Gründe an, von denen im Bereich des Profifußballs regelmäßig die Nummer 4 bemüht wird: Danach liegt ein sachlicher Grund vor, wenn die Eigenart der Arbeitsleistung die Befristung rechtfertigt. Mit dem Begriff der „Eigenart der
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Arbeitsleistung“ sollten ausweislich der Gesetzesbegründung6 insbesondere die in der Rechtsprechung anerkannten Fälle im Rundfunk- und Bühnenbereich erfasst werden, ohne dass jedoch eine abschließende und ausschließlich auf diese Fälle bezogene Regelung gewollt war.7 Welche Fallgestaltungen erfasst nun dieser Befristungsgrund genau, lässt sich der Profifußball darunter fassen? Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Profispieler gibt es (noch?) nicht. Lediglich zur Befristung von Sporttrainern hat sich das Bundesarbeitsgericht positioniert.8 Der zuständige 7. Senat führte aus, nur der drohende Verschleiß der persönlichen Beziehung des Trainers zu den einzelnen Sportlern könne das Auswechslungsbedürfnis begründen und weist ausdrücklich darauf hin, „dass der allgemeine Verschleiß durch längere Ausübung desselben Berufs eine Befristung auch bei Trainern nicht rechtfertigen kann. Zahlreiche Berufstätigkeiten, insbesondere bei der Vermittlung von Kenntnissen und Fähigkeiten, können einem zur bloßen Routine führenden Abnutzungsprozess unterliegen. Die objektive Umgehung von Kündigungsschutz im Arbeitsverhältnis ist damit nicht zu rechtfertigen.“9 Die Entscheidung des LAG Nürnberg10 zum Profifußballer beurteilt einen vor Geltung des Teilzeit- und Befristungsgesetzes geschlossenen befristeten Vertrag und wendet S. 14 TzBfG, insbesondere dessen Abs. 1 Nummer 4 nicht an: Für die vierjährige Befristungsdauer eines Vertrages zwischen einem 30-jährigen Fußballspieler und einem Bundesligaclub bejahte das Gericht deren Zulässigkeit wegen des dem Arbeitnehmer erwachsenden Vorteils der Unkündbarkeit für die Dauer der Befristung, der Branchenüblichkeit von Befristungen und der Höhe der laufenden Vergütungen. Das Meinungsbild in der Literatur ist zweigeteilt. Teilweise wird die Auffassung vertreten, es erscheine gerechtfertigt, bei Spitzensportlern wegen der Ähnlichkeit mit der Unterhaltungsbranche von Funk und Fernsehen Befristungen aufgrund der Eigenart der Arbeitsleistung zuzulassen.11 Beide Berufsgruppen verbinde die starke kommerzielle Ausrichtung der Unterhaltungsbranche,12 die von der Erwartungshaltung des Publikums wesentlich mitbestimmt werde. Andere stellen darauf ab, dass ein Trainer die Möglichkeit haben müsse, seine sportlichen Vorstellungen mit den ihm geeignet erscheinenden Sportlern umzusetzen; dies setze deren erleichterte Ablösung voraus.13 Bayreuther14 hält die Befristung von Verträgen mit Spitzensportlern 6
BT-Drucksache 14/4374. APS/Backhaus, 4. Auflage, § 14 TzBfG, Rn. 94. 8 BAG, Urteil vom 19. 06. 1986 – 2 AZR 570/85; Urteil vom 29. 10. 1998 – 7 AZR 436/97; Urteil vom 15. 04. 1999 – 7 AZR 437/97. 9 BAG, Urteil vom 15. 04. 1999 – 7 AZR 437/97. 10 LAG Nürnberg, Urteil vom 28. 03. 2006 – 7 Sa 405/05. 11 MüKo TzBfG/Hesse, S. 14, Rn. 46. 12 MüKo TzBfG/Hesse, § 14, Rn. 46. 13 KR Lipke, § 14 TzBfG, Rn. 209. 14 Beckscher Online Kommentar § 14 TzBfG, Rn. 56. 7
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für erforderlich, da die Tätigkeit des Arbeitnehmers typischerweise Verschleißerscheinungen erwarten lasse und es der Verkehrsanschauung entspreche, dass die Tätigkeit nur solange ausgeübt werde, wie der Arbeitnehmer Leistungen in seiner persönlichen Bestform erbringen könne. Der hohe körperliche Verschleiß im Fußballsport müsse als ein in der Person des Lizenzfußballspielers liegender Befristungsgrund anerkannt werden, da eine Kündigung wegen verminderter Leistungsfähigkeit eines Profifußballers nahezu unmöglich sei: Der Verein hätte im Kündigungsschutzprozess präzise die Daten und Fakten vorzutragen, aus denen sich der Grad des Leistungsdefizits objektiv nachvollziehen lasse, ein im Profisport wegen der fehlenden Objektivierbarkeit der Leistungsfähigkeit aussichtsloses Unterfangen. Entsprechendes gelte für die negative Gesundheitsprognose. Andere verneinen die Eignung des Verschleißtatbestandes als Sachgrund im Sinne des Teilzeit- und Befristungsgesetzes. Allein die abstrakte Möglichkeit eines Verschleißes durch Nachlassen der Motivation, der viele Arbeitsverhältnisse kennzeichnet, gestatte es dem Arbeitgeber nicht, sich mittels eines befristeten Arbeitsvertrages von seinem Arbeitnehmer zu trennen. Vielleicht ist er ja bei Befristungsende noch gar nicht „verschlissen“. Die Befristung von Arbeitsverhältnissen dürfe nicht von Unsicherheiten und Zufälligkeiten abhängen, die bei Vertragsschluss nicht hinreichend konkret prognostiziert werden können.15 b) Der Fall des Fußballspielers Heinz Müller Die Frage, ob Verträge mit Fußballprofis befristet abgeschlossen werden dürfen, beschäftigte im März 2015 das Arbeitsgericht Mainz16: Der Fußballprofi Heinz Müller war seit dem 01. 07. 2009 beim FSV Mainz 05 als Torwart beschäftigt aufgrund eines bis zum 30. 06. 2012 befristeten Vertrages. Mit Wirkung ab dem 01. 07. 2012 wurde ein weiterer befristeter Vertrag bis zum 30. 06. 2014 mit einer Verlängerungsoption für beide Vertragsparteien um ein Jahr unter der Voraussetzung von 23 Mindesteinsätzen in der Fußballbundesliga in der Spielsaison 2013/14 geschlossen. In der Hinrunde bestritt der Spieler verletzungsbedingt nur elf Einsätze, ab dem Ende der Hinrunde, also nach dem 17. Spieltag, wurde ihm seitens des beklagten Vereins die Teilnahme am Trainings- und Spielbetrieb der 2. Mannschaft, die in der Regionalliga spielte, zugewiesen. Nachdem der Verein sein Verlangen, ihn wieder in das Training der Lizenzspielermannschaft aufzunehmen, abgelehnt hatte, erhob er Klage unter anderem auf Feststellung des unbefristeten Fortbestands des Arbeitsverhältnisses ungeachtet der vertraglichen Befristungsvereinbarung.17 Zum Zeitpunkt der Vertragsverlängerung sei 15
Bruns, Befristung von Arbeitsverträgen mit Sporttrainern, NZA 2008, 1269; Persch, Zur Anwendung des Verschleißtatbestandes im Sport, RdA 2006, 166 ff.; ähnlich auch APS/ Backhaus, 4. Auflage, S. 14 TzBfG Rn. 295. 16 ArbG Mainz, Urteil vom 19. 03. 2015 – 3 Ca 1197/14. 17 ArbG Mainz, Urteil vom 19. 03. 2015 – 3 Ca 1197/14.
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der Kläger bereits seit drei Jahren bei dem Verein beschäftigt gewesen. Sämtliche Umstände beim Kläger (Alter, Leistungsvermögen, gesundheitliche Disposition) seien dort bestens bekannt gewesen. Die in den Vertrag aufgenommene Verlängerungsoption mache deutlich, dass dem Kläger sehr wohl eine Vertragszeit bis zum 30. 06. 2015 zugetraut worden sei. Die erneute Befristung des Arbeitsvertrages vom 07. 05. 2012 erweise sich daher nach S. 14 TzBfG als unwirksam. Der Verein rechtfertigt die Befristung mit der unsicheren Entwicklung des Leistungsvermögens eines Lizenzfußballspielers, der zur Erfüllung seiner Vertragspflicht eine hohe Leistungsfähigkeit aufweisen müsse. Er führt die Branchenüblichkeit als Indiz für anzuerkennende Bedürfnisse der Praxis an. Es sei zu berücksichtigen, dass der am 30. 05. 1978 geborene Kläger zum Zeitpunkt des Abschlusses des letzten befristeten Arbeitsvertrages am 07. 05. 2012 fast 34 Jahre alt gewesen sei und ihm dennoch zum damaligen Zeitpunkt eine zweijährige Verlängerung des Arbeitsvertrages angeboten worden sei. Dies sei bei einem Lizenzfußballspieler ungewöhnlich, denn bei Vertragsschluss habe angenommen werden müssen, dass seine Leistungsfähigkeit im Zeitpunkt des Befristungsendes nicht mehr in dem Maße gegeben sein würde, die seinen Einsatz in einer Bundesligamannschaft gerechtfertigt hätte. Profifußballer hätten im Alter von über 30 Jahren ihren Leistungshöhepunkt überschritten und seien verletzungsanfälliger. Damit sind sie an sich einem erhöhten Risiko ausgesetzt, durch eine personenbedingte Kündigung ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Dass dieses Risiko für die Dauer der Befristung durch Einräumung einer Unkündbarkeit abgenommen werde, sei ein Vorteil, der den Nachteil des Verlustes des Kündigungsschutzes durch die Befristung ausgleiche. Weiterhin hätten die Parteien bei Vertragsschluss davon ausgehen können, dass nach einer gewissen Zeit das Publikum eine Änderung des Spielerkaders sehen möchte. Dem stehe auch nicht entgegen, dass ihm eine Verlängerungsoption eingeräumt worden sei.18 Das Arbeitsgericht Mainz stellte in seiner vielbeachteten Entscheidung fest, dass die vereinbarte Befristung weder aufgrund in der Person des Arbeitnehmers liegender Gründe (§14 Abs. 1 Satz 2 Nummer 6 TzBfG) noch wegen der Eigenart der Arbeitsleistung (S. 14 Abs. 1 Satz 2 Nummer 4 TzBfG) gerechtfertigt sei: Der Wunsch des Arbeitnehmers ist als Sachgrund für die Rechtfertigung einer Befristungsvereinbarung nur geeignet, wenn dieser gerade auf die Befristung des Arbeitsverhältnisses zielt. Davon zu unterscheiden ist das Interesse des Arbeitnehmers, den Vertragsschluss herbeizuführen. Um ein echtes eigenes Interesse an der Befristung des Arbeitsvertrages handelt es sich nur, wenn bei Vertragsschluss objektive Anhaltspunkte dafür bestanden haben, dass der Arbeitnehmer trotz eines Angebotes auf Abschluss eines unbefristeten Vertrages nur ein befristetes Arbeitsverhältnis gewählt hätte.19 Voraussetzung ist somit, dass das eigene Interesse an Flexibilität so groß ist, dass er sich gegen ein unbefristetes Arbeitsverhältnis entschieden hätte. Ein solches Angebot ist der Praxis des Profifußballs fremd. 18 19
ArbG Mainz, Urteil vom 19. 03. 2015 – 3 Ca 1197/14. BAG, Urteil vom 19. 01. 2005 – 7 AZR 115/04.
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Für großes Aufsehen sorgte allerdings die Feststellung des Arbeitsgerichts Mainz, dass auch der Sachgrund der „Eigenart der Arbeitsleistung“ nach Nummer 4 des S. 14 Abs. 1 TzBfG nicht die Befristung des Arbeitsverhältnisses rechtfertige. „Dem Interesse an einer überschaubaren und kürzeren Vertragsbindungsdauer seitens der Bundesligavereine … kommt aber nicht ein solches Gewicht zu, das dies eine Sachgrundbefristung rechtfertigen könne.“ Auch der Sachgrund der „Eigenart der Arbeitsleistung“ sei im Lichte des Unionsrechts und hinsichtlich der Gewichtung im Vergleich mit den anderen Sachgründen, die nach dem Gesetz eine Befristung rechtfertigen, zu betrachten und mit dem Interesse des Arbeitnehmers an einem Bestandsschutz als Ausprägung seiner grundrechtlich durch Art. 12 GG geschützten Berufsfreiheit auszulegen. Es fährt weiter fort: „Dass im vorliegenden Fall die Befristung neben dem möglichen, drohenden Verschleiß aufgrund der Beanspruchung im Beruf auch auf die altersbedingte Ungewissheit der Leistungsentwicklung gestützt wird und damit zumindest mittelbar das Alter zum Befristungsgrund erhoben wird, ist dem Sachvortrag der Parteien mit aller Deutlichkeit zu entnehmen. Hiergegen bestehen durchgreifende Bedenken. Eine Erhebung des Alters zum Befristungsgrund kommt schon wegen des Verbots der Altersdiskriminierung, §S. 7, 1 AGG nicht in Betracht. Der Ausnahmetatbestand des S. 10 Ziffer 5 AGG (Renteneintrittsalter) kann sie angesichts des Alters des Klägers nicht rechtfertigen.“ Überwiegend stieß die Entscheidung auf Kritik, da sie die besonderen Umstände des Profisports nicht ausreichend berücksichtige. Die Befristung sei schließlich im Interesse beider Parteien, indem sie dem Sportler den Bestand des Arbeitsverhältnisses über die gesamte Laufzeit auch bei verletzungsbedingten Ausfällen zusichere und dem Verein Flexibilität bei der Zusammensetzung des Kaders gewährleiste.20 Für andere stellt der Aspekt der Ungewissheit über die Leistungsentwicklung eines Profifußballers ein sachliches Kriterium für die Befristung dar.21 Für zumindest vertretbar, in Teilen sogar überzeugend schätzen andere Stimmen in der arbeitsrechtlichen Literatur die Entscheidung des Arbeitsgerichts Mainz ein.22 Das Entfristungsverfahren des Fußballprofis Müller ging in die Verlängerung: Der Verein legte Berufung ein und das Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz als Berufungsgericht rückte die bisherige Befristungspraxis wieder gerade. Es stellte fest, dass die Befristungsabrede im Profifußball doch durch den sachlichen Grund der Eigenart der Arbeitsleistung (S. 14 Abs. 1 Satz 2 Nummer 4 TzBfG) gerechtfertigt und daher wirksam sei:23 Eine Gesamtbetrachtung des Rechtsverhältnisses zwischen einem Verein der Fußball-Bundesliga und einem Lizenzspieler ergebe, dass dieses von Besonderheiten gekennzeichnet sei, aus denen sich das berechtigte Interesse 20
Krieger, Anmerkung zu Arbeitsgerichts Mainz vom 19. März 2015, ArbR 2015, 328; Katzer/Frodl, Wird Müller den Sieg festhalten? NZA 2015, 657. 21 M. Fröhlich/H.-W. Fröhlich, Entscheidungsbesprechung, CaS 2015, 145 – 149. 22 Boemke/Jäger, jurisPR-ArbR 31/2015 Anm. 4; unentschieden: Staudinger/Preis (2016), BGB § 620 Rn. 123. 23 LAG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 17. 02. 2016 – 4 Sa 202/15.
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des Vereins folgern lasse, mit dem Spieler statt eines unbefristeten lediglich einen – wie im Bereich des Profifußballs ausnahmslos gehandhabt – befristeten Arbeitsvertrag abzuschließen. Hinzu komme die notwendige Flexibilität bei der Personalplanung und Teamzusammenstellung sowie das Fluktuations-, Austausch- bzw. Rotationsprinzip im europaweiten Transfersystem. Der sportliche Leiter eines Fußballclubs müsse die Möglichkeit haben, seine Akteure auszuwechseln, auch wenn seine Gründe hierfür nicht objektivierbar sind. c) Stellungnahme Der professionelle Mannschaftssport, gerade in Gestalt des Fußballs, ist von besonderen Merkmalen gekennzeichnet. Dazu zählen die notwendige Flexibilität bei der Personalplanung und Teamzusammenstellung, die Kombination der besonderen Erfolgsbezogenheit des sportlichen Wettkampfs mit der Leistungsfähigkeit der Akteure auf höchstem Niveau sowie das Fluktuations-, Austausch- bzw. Rotationsprinzip im europaweiten Transfersystem.24 Ein Interesse der Vereine, den Kader Saison für Saison zu erneuern, erscheint auch vor dem Hintergrund nachvollziehbar, dass sich häufig erst nach einer Spielsaison zeigt, dass bestimmte Personen gut, andere hingegen überhaupt nicht mehr mit den vorgegebenen Konzepten harmonierten. Sogar herausragende Spitzenspieler lassen sich trotz höchster sportlicher Leistungsfähigkeit nicht in jedes Mannschaftsgefüge einbinden. Gleichwohl erscheint es höchst fraglich, ob diese Aspekte der Flexibilität und damit der Wirtschaftlichkeit es zu rechtfertigen vermögen, das Instrument der Befristung derart weit auszudehnen. Legt man an jeden einzelnen Aspekt, mit dem die Befristung im Profifußball begründet werden soll, kritisch die Messlatte „Eigenart der Arbeitsleistung“ an, fällt das Ergebnis negativ aus: Nahezu jede Arbeitsleistung weist Besonderheiten auf. Schlagwortartig wird als Hauptargument pro Befristung der „allgemeine Verschleiß“ ins Feld geführt. Verschleiß kann sich in unterschiedlichen Facetten darstellen: Neben dem körperlichen oder mentalen Verschleiß, der sich in „Erfolglosigkeit“ manifestiert, ist auch der Verschleiß in der Beziehung zum Trainer, zur Mannschaft oder zum Publikum denkbar. Betrachtet man die Sache jedoch genauer, vermag der „allgemeine Verschleiß“ als Sachgrund für eine Befristung nicht zu überzeugen.25 Bei Arbeits- und Dienstverträgen wird kein Erfolg geschuldet. Die Befristung eines Vertrages ist auch schwerlich geeignet, der Gefahr eines – oftmals kurzfristigen – Verschleißes etwa durch Verletzungen oder Erkrankungen entgegenzuwirken.26 Zudem haben Abnutzungsprozesse nicht unmittelbar etwas mit der Eigenart der Arbeitsleistung zu tun, sondern sind schlicht dem Zeitfaktor geschuldet.27 24
LAG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 17. 02. 2016 – 4 Sa 202/15. Im Ergebnis ebenso: M. Fröhlich/H.-W. Fröhlich, Entscheidungsbesprechung, CaS 2015, 145 – 149; Staudinger/Preis (2016), BGB S. 620 Rn. 146. 26 Staudinger/Preis (2016), BGB S. 620 Rn. 123. 25
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Auch in anderen Bereichen des Wirtschaftslebens sind bei längerer Berufsausübung nachlassende Motivation und nachlassendes Leistungsvermögen anzutreffen, ohne dass daraus eine Einschränkung des Kündigungsschutzes abgeleitet wird. Der zur bloßen Routine führende Abnutzungsprozess ist zudem nur schwer objektivierbar Er zeigt sich jedenfalls nicht bereits bei Vertragsabschluss, sondern erst im Verlauf des Arbeitsverhältnisses, mal stärker, mal schwächer, bei dem einen Arbeitnehmer früher, beim anderen später. Gerade diese Unwägbarkeit steht der durch die Befristung bewirkten Ausschaltung des Kündigungsschutzes entgegen. Der Befristungsgrund muss sich nämlich bei Vertragsabschluss bereits konkret darstellen lassen. Das folgt aus dem Vergleich mit den anderen Sachgründen, etwa der Nummer 1 des § 14 Abs. 1 TzBfG: „Vorübergehender betrieblicher Bedarf“. Hier muss schon bei Abschluss des befristeten Vertrages feststehen, ab wann und in welcher Quantität der Mehrbedarf entsteht und wann er wieder ersatzlos endet.28 Eine vergleichbare Relevanz und Intensität der Prognose ist bei dem Verschleißtatbestand in Bezug auf Profispieler nicht erreichbar. Im Rechtsstreit mit dem Fußballprofi Müller trug sein Arbeitgeber, der FSV Mainz 05, vor, dass bei Abschluss des befristeten Vertrages mit einem Abfall der Leistungsfähigkeit des Spielers alsbald zu rechnen war: Das fortgeschrittene Alter des Klägers sowie einige schwerwiegende Verletzungen in der Vergangenheit hätten bereits in den vorangegangenen Spielzeiten dafür gesorgt, dass der Kläger nur unregelmäßig eingesetzt worden sei. Daraus allein lässt sich jedoch keine gesicherte Prognose herleiten. Im Gegenteil: Die vereinbarte Verlängerungsoption macht doch deutlich, dass sich der Verein eine Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses auch nach Ablauf der Befristung durchaus vorstellen konnte. Das Alter der Spieler scheidet ebenfalls als pauschale Rechtfertigung der Befristung aus. Es ist zuzugeben, dass Fußballspieler deutlich früher als andere Arbeitnehmer ihre berufliche Tätigkeit einstellen. Als dienstältester Fußballspieler bestritt Klaus Fichtel mit fast 44 Jahren im Mai 1988 seines letztes Bundesligaspiel. Seit der Spielzeit 2010/ 11 ist kein Spieler mehr eingesetzt worden, der 40 Jahre oder älter war. Die ältesten Spieler der letzten Jahre waren Mondragon (1. FC Köln, 39), Pieckenhagen (Arminia Bielefeld, 39), Nikolov (Eintracht Frankfurt, 38). Aktuell sind Pizarro (Werder Bremen, 37), Olic (TSV 1860 München, 36) und Drobny (SV Werder Bremen, 36) die ältesten eingesetzten Lizenzspieler. Das scheint auf ein Bedürfnis der Praxis hinzudeuten, einer Überalterung des Spieler-Kaders entgegen zu wirken, ein Anliegen, dass nahezu allen wirtschaftlichen Bereichen gemein ist. Dieser Entwicklung hat die Rechtsprechung in vielfältiger Weise einen Riegel vorgeschoben. So ist der Versuch des Gesetzgebers, Arbeitnehmer, die das 52. Lebensjahr überschritten haben, sachgrundlos für die Dauer von fünf Jahren befristet einstellen zu lassen, grandios beim Europäischen Gerichtshof wegen Verstoßes gegen die Altersdiskriminierung mit der Mangold-Entscheidung29 gescheitert. Auch die Rechtsprechung des EuGH30 zur Alters27
Boecken/Joussen, TzBfG, 2. Aufl. 2010, S. 14 Rn. 75. BAG, Urteil vom 15. 10. 2014 – 7 AZR 893/12. 29 EuGH, Urteil vom 22. 11. 2005, C-144/04, Celex-Nr. 62004CJ0144. 28
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grenze macht deutlich, dass nicht allein das Alter die Befristung zu rechtfertigen vermag. Wer gleichwohl das Alter als Grund für eine Befristung heranziehen möchte, muss die Frage beantworten, warum ein 19-jähriger Spieler mit Blick auf sein Alter nur einen Dreijahresvertrag angeboten bekommt. Bei Ablauf des Vertragslaufzeit ist der Spieler erst 22 Jahre alt und damit durchaus in einem Alter, das noch weit entfernt ist vom üblichen Karriereende. Die Befristung der Arbeitsverträge von Profispielern lässt sich auch nicht aufgrund hoher Gehälter oder besonderen Renommees der Spieler rechtfertigen, da der Befristungsschutz ebenso wenig wie der Kündigungsschutz „abkaufbar“ ist.31 Entsprechendes gilt für das Argument, der Trainer müsse jederzeit in der Lage sein, seine Mannschaft taktisch umzustellen, was oftmals mit dem Austausch von Spielern im Kader verbunden sei. Auch die Veränderung bestehender taktischer Konzepte ist kein tragfähiger Befristungsgrund, da auch andere Arbeitnehmer eine gewisse Flexibilität an ihrem Arbeitsplatz an den Tag legen müssen.32 Man denke etwa an den vormals normalen Malerbetrieb, der sich über die Jahre hinweg zu einem Fachunternehmen für Kirchenmalerei spezialisiert hat. Es ist auch keinesfalls so, dass der Wegfall der Befristungsmöglichkeit zu einer Vergreisung des Spielerkaders führen muss. Es sind zahlreiche Fälle (etwa Simon Rolfes oder auch Sebastian Kehl) bekannt, in denen die Spieler von sich aus die Profikarriere beendet haben, obwohl der Verein eine Fortsetzung der Zusammenarbeit wünschte. Zudem ist die Beendigung aufgrund einer Befristung keineswegs die ultima ratio, immerhin besteht in vielen Fällen die Möglichkeit, mit dem Spieler vertraglich eine Weiterbeschäftigung als Trainer, Scout, Betreuer etc. für den Fall zu vereinbaren, dass der Einsatz als Fußballprofi nicht mehr möglich oder gewollt ist. Für die Zulässigkeit der Befristung wird schließlich das Argument genannt, die Befristungsabrede sei für den Fußballprofi vorteilhafter als ein zwar unbefristeter, aber personenbedingt kündbarer Arbeitsvertrag.33 Auch dies überzeugt nicht. Im unbefristeten Arbeitsverhältnis kann der Arbeitnehmer eine Kündigung ohne Begründung unter Wahrung der Kündigungsfrist aussprechen. Vereinbaren die Parteien eines Arbeitsverhältnisses eine Befristung, entfällt kraft Gesetzes das Recht, das Arbeitsverhältnis vor Ablauf der Befristung durch Ausspruch einer ordentlichen Kündigung zu beenden, es sei denn, die Kündigungsmöglichkeit ist ausdrücklich im Arbeitsvertrag vorgesehen, S. 15 Abs. 3 TzBfG. Der Ausschluss der ordentlichen Kündigung gilt aber für beide Seiten: Nicht nur der Verein als Arbeitgeber ist nun gehin30 EuGH Urteil vom 16. 10. 2007 (C-411/05 Palacios de la Villa); BAG, Urteil vom 23. 06. 2010 – 7 AZR 1021/08. 31 ArbG Mainz, Urteil vom 19. 03. 2015 – 3 Ca 1197/14; Boecker/Joussen, TzBfG, 2. Aufl. 2010, S. 14 Rn. 39. 32 Im Ergebnis ebenso: M. Fröhlich/H.-W. Fröhlich, Entscheidungsbesprechung, CaS 2015, 145 – 149. 33 Katzer/Frodl, Wird Müller den Sieg festhalten? NZA 2015, 657.
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dert, das Arbeitsverhältnis vor dem Befristungsablauf zu beenden, sondern auch der Fußballprofi als Arbeitnehmer. Und gerade für Letzteren wirkt sich der Ausschluss der ordentlichen Kündigung im Ergebnis nachteilig aus, ist er doch gehindert, aus eigenem Antrieb während der Laufzeit des Vertrages den Verein zu verlassen und sich einem anderen Verein anzuschließen. Der bisherige Verein hat es allein in der Hand zu entscheiden, ob der Spieler vorzeitig wechseln darf oder nicht. Im Regelfall hängt die Entscheidung davon ab, ob der aufnehmende Verein bereit ist, die vom abgebenden Verein geforderte Ablösesumme zu zahlen. Bei dieser Konstellation von einer Bevorteilung des Spielers zu sprechen, ist in keiner Weise nachvollziehbar. Auch im Profisport ist im Zweifel das unbefristete Arbeitsverhältnis mit Kündigungsmöglichkeit für den Sportler die günstigere Variante.34 Anderenfalls hat er den Nachteil zu tragen, nicht ohne Zustimmung seines Vereins diesen vor Ablauf der Befristung verlassen zu können. Und der Verein lässt sich diese Zustimmung regelmäßig gut bezahlen. Die vorstehend dargestellte Rechtsauffassung steht auch nicht im Gegensatz zur vergleichsweise großzügigen Rechtsprechung zu Theaterschaffenden und anderen Künstlern.35 Das Interesse an einer überschaubaren und geringeren Bindungsdauer des Vertrages ist in den Bereichen programmgestaltender Mitarbeiter von Rundfunkund Fernsehanstalten, von Mitarbeitern der Presse, mit Künstlern und Bühnendarstellern aufgrund des spezifischen Grundrechtsschutzes von Rundfunk, Presse und Kunst anerkannt,36 sodass das Interesse dieser Grundrechtsträger, sich eine hohe Flexibilität bei der Programmgestaltung etc. zu erhalten, die Befristung von Arbeitsverhältnissen rechtfertigen kann.37 Hingegen sind die Interessen der kommerzialisierten Fußballclubs nicht wie die Kunstfreiheit durch spezifische Grundrechte geschützt.38 Und dass das Publikum im Stadion irgendwann einmal lautstark den Rauswurf eines Spielers fordert, darf kein Grund sein, ihn nur befristet anzustellen.39 Will man dem Interesse der Profi-Vereine an der Erhaltung dieses internationalen Systems, befristete Arbeitsverträge abzuschließen, entsprechen, scheint es rechtlich überaus problematisch, sich dabei auf die Sachgrundbefristung des § 14 Abs. 1 Nummer 4 TzBfG zu stützen. Hilfe könnten Tarifverträge bieten: Mit der Vereinigung der Vertragsfußballspieler (VdV) stünde eine tarifwillige und wohl auch tariffähige Spielergewerkschaft bereit. Auf Arbeitgeberseite könnten sich die Deutsche Fußballliga 34
Boemke/Jäger, jurisPR-ArbR 31/2015, Rn. 4. Meinel/Heyn/Herms, TzBfG, 4. Aufl. 2012, S. 14 Rn. 94 ff.; Boecker/Joussen, TzBfG, 2. Aufl. 2010, S. 14 Rn. 68. 36 Statt aller: BAG, Urteil vom 04. 12. 2013 – 7 AZR 457/12. 37 So ausdrücklich ArbG Mainz, Urteil vom 19. 03. 2015 – 3 Ca 1197/14; ebenso APS/ Backhaus, S. 14 TzBfG Rn 298; KR/Lipke, § 14 TzBfG Rn. 334; Staudinger/Preis (2016), BGB S. 620 Rn. 123a, 146. 38 Im Ergebnis ebenso: M. Fröhlich/H.-W. Fröhlich, Entscheidungsbesprechung, CaS 2015, 145 – 149. 39 Bepler, 1. Deutscher Arbeitsrechtstag des Deutschen Anwaltvereins in Berlin, zit. nach FAZ vom 16. 02. 2016 „Beruf und Chance“. 35
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(DFL) und der Deutsche Fußballbund (DFB) zu einem Arbeitgeberverband zusammenschließen. Sollte sich dies nicht bewerkstelligen lassen, bliebe immer noch die Möglichkeit der sogenannten Haustarifverträge.40 Um branchenspezifische Lösungen zu erleichtern, eröffnet S. 14 Abs. 2 Satz 3 TzBfG den Tarifvertragsparteien die Möglichkeit, Höchstdauer und/oder Anzahl der Befristungsintervalle abweichend von S. 14 Abs. 2 Satz 1 TzBfG zu regeln, nach S. 22 Abs. 1 TzBfG sogar zulasten der Arbeitnehmer. Die Tarifvertragsparteien für den Bereich des Profifußballs wären demnach nicht gehindert, die Höchstdauer der in Satz 1 vorgesehen Befristung etwa auf vier Jahre zu erhöhen.41 Damit könnte bei der erstmaligen Verpflichtung eines Spielers die Befristungsdauer deutlich aufgestockt werden, ohne dass es auf einen Sachgrund ankäme. Zudem drängt es sich im Interesse der Rechtssicherheit geradezu auf, in einen Tarifvertrag den Befristungsgrund „drohender Leistungsverlust des Profifußballers“ aufzunehmen. Ob S. 14 Abs. 2 Satz 3 den Tarifvertragsparteien die Möglichkeit eröffnet, ergänzende Sachgründe zwingend festzulegen, lässt sich dem Wortlaut des S. 14 TzBfG nur schwer entnehmen, wird jedoch in der Literatur mit guten Gründen vertreten.42 Jedenfalls aufgrund der für Tarifverträge geltenden Angemessenheitsvermutung43 könnte der von Tarifvertragsparteien geschaffene besondere Sachgrund für eine Befristung im Profifußball einer gerichtlichen Kontrolle umso eher standhalten als diese Regelung Teil eines in sich abgewogenen tariflichen Gesamtpakets ist.44 Durch einen solchen Tarifvertrag ließe sich das aktuelle Befristungs-Dilemma weitgehend rechtssicher lösen,45 ein Grund mehr, dass die Tarifvertragsparteien im Profifußball zueinander finden. 2. Die Verlängerungsoption Eng mit dem Thema „Befristung“ verbunden ist die „Verlängerungsoption“.46 Etwa mit der Formulierung „Der Verein erhält eine Option für ein weiteres Jahr, wenn er dies bis zum … einfordert.“47 40
Darunter versteht man einen Tarifvertrag, den die Gewerkschaft mit einzelnen Arbeitgebern abschließt. 41 Nach BAG, Urteil vom 18. 03. 2015 – 7 AZR 272/13 ist eine Verlängerung auf vier Jahre nicht zu beanstanden; vgl. auch HWK/Rennpferdt, TzBfG, § 14 Rn. 116. LAG Düsseldorf, Urteil vom 09. 12. 2014 – 17 Sa 892/14 lässt sogar eine 5-jährige Befristungsdauer zu. 42 Zustimmend: ErfK/Müller-Glöge, § 14 TzBfG Rn. 102. 43 BAG, Urteil vom 18. 09. 2012 – 9 AZR 1/11; Urteil vom 22. 04. 2009 – 4 AZR 100/08. 44 Bepler, Arbeitsrechtliche Sonderwege im bezahlten Fußball?, jM 2016, 151. 45 Urban-Crell, Dem Profifußball wird der Prozess gemacht, DB 2015, 1413. 46 Ausführlich hierzu: Vogt, Befristungs- und Optionsvereinbarungen im professionellen Mannschaftssport, Frankfurt/Main 2013. 47 Im Mustervertrag für Vertragsspieler des DFB ist ein einseitiges Optionsrecht des Vereins nicht enthalten.
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ist die in der Praxis vorherrschende einseitige Option zugunsten des Vereins vereinbart.48 Sie ermöglicht es dem Arbeitgeber, den Vertrag einseitig vor Vertragsende für einen bestimmten, im vorhinein festgelegten Zeitraum zu verlängern. Die einseitige Verlängerungsoption hat folgende praktische Relevanz: Will der Fußballspieler seinen bisherigen Verein mit Ablauf der Befristung verlassen und zu einem anderen Verein wechseln, kann der Arbeitgeber den Arbeitsvertrag durch Ausübung des Optionsrechts verlängern, so dass der neue Verein den Spieler aus einem laufenden Vertrag „herauskaufen“ müsste. Rein bezeichnet die Optionsklausel als „Einfallstor für Transfererlöse“.49 Dieser finanzielle Aufwand könnte einen Verein abhalten, den Spieler zu verpflichten. Ist keine Verlängerungsoption vereinbart, kann der Spieler den Verein nach Ablauf der Vertragslaufzeit ohne Transferentschädigung wechseln. Ein wechselwilliger Spieler, für den keine Ablösesumme zu bezahlen ist, hat größere Chance auf eine Beschäftigung bei einem neuen Arbeitgeber. Das Arbeitsgericht Ulm hatte die Wirksamkeit einer solchen einseitigen Vertragsklausel zu prüfen und kam 2008 zu dem Ergebnis, dass in dem konkreten Fall das einseitige Optionsrecht für den Verein unwirksam sei. Eine solche Vereinbarung verstoße wegen unangemessener Benachteiligung gegen S. 307 I BGB50 : Der Spieler werde in unzulässiger Weise in seiner Berufsfreiheit behindert, da die Optionsklausel oftmals allein dazu diene, dem Verein beim Spielertransfer eine zusätzliche Einnahmequelle in Form einer Transferentschädigung zu verschaffen: Übe der Arbeitgeber sein einseitiges Vertragsverlängerungsrecht rechtzeitig aus, werde ein aufnahmebereiter Arbeitgeber eine Freigabe des Spielers durch den bisherigen Arbeitgeber nur gegen Zahlung einer Transferentschädigung erhalten. Dadurch reduzieren sich die Aufnahmebereitschaft neuer Arbeitgeber und die Verdienstmöglichkeit des Spielers bei neuen Arbeitgebern. Das grundgesetzliche Recht der freien Wahl der Arbeitsstätte darf nicht hinter das Interesse des Vereins an einer Einnahmequelle aus einem Spielertransfer zurücktreten. Für die Zulässigkeit derartiger Verlängerungsoptionen wird das Argument ins Feld geführt, sie diene jungen Talenten, deren sportliche Entwicklung sich nur schwierig abschätzen lässt. Die Clubs werden den Jungprofis eher eine Chance geben, sich im Profibereich zu etablieren, wenn sie sie langfristig mit einseitiger Verlängerungsmöglichkeit an sich binden können. Dieses Argument vermag nicht zu 48 Seltener ist eine Verlängerungsoption für den Spieler, die aber regelmäßig an bestimmte Voraussetzungen geknüpft ist, etwa im Fall des Fußballprofis Müller in Form von bestimmten Einsatzzeiten. 49 Rein, Kontrolle einseitiger Verlängerungsoptionen in einem Spielervertrag, NZA-RR 2009, 246. 50 Zur Frage, ob eine einseitige Verlängerungsoption auch einen Umgehung des § 622 Abs. 6 BGB darstellt, bejahend Kindler, NZA 2000, 744 ff.; ArbG Ulm, Urteil vom 14. 11. 2008 – 3 Ca 244/08; Lindhorst, SpuRt 2007, 215; Wertenbruch, SpuRt 2004, 135; Kindler, NZA 2000, 745; Rein, Kontrolle einseitiger Verlängerungsoptionen in einem Spielervertrag, NZA-RR 2009, 246; dagegen: ArbG Nürnberg, Urteil vom 04. 06. 2007 – 3 Ga 32/07; Menke, NJW 2007, 2821.
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überzeugen. Sicher hängt der dauerhafte Erfolg der Profifußballclubs vom Nachwuchsbereich ab. Es erscheint aber fraglich, ob Vereine tatsächlich nicht mehr bereit sein werden, junge Talente in den Kader aufzunehmen, wenn die Möglichkeit einer einseitigen Vertragsverlängerungsoption nicht mehr besteht. Letztlich aber erscheint es absolut unverhältnismäßig, zum Nachteil des Spielers die sportlich-finanziellen Risiken des Vereins auf Null zu reduzieren. Lehnt man die Sachgrundbefristung nach S. 14 Abs. 1 Nummer 4 TzBfG ab, erübrigt sich in den meisten Fällen auch die Diskussion um die Wirksamkeit einer Verlängerungsoption. Allein in Fällen der sachgrundlosen Befristung bleibt sie relevant, wenn die Gesamtdauer der Beschäftigung einschließlich der Option zwei Jahre nicht übersteigt.
III. Die Spieler-Leihe Ein besonderes Phänomen im Transfergeschäft ist der vorübergehende Einsatz eines Profifußballers bei einem anderen Profiverein, im Jargon der Fußballfans als „Spieler-Leihe“ bezeichnet. Sie ist ein höchst effektives Mittel, kurzfristig den Kader zu verschlanken oder aufzustocken. In der nationalen und internationalen Praxis des Profifußballs ist sie längst keine Seltenheit mehr. Allein in der Spielzeit 2015/ 16 wurden innerhalb der 1. Bundesliga 9 Spieler verliehen, 38 Spieler sind von einem Erstliga-Klub in eine untere Liga ausgeliehen worden, in der Bundesliga spielen zudem 16 Profis, die von einem ausländischen Verein ausgeliehen sind, 19 Spieler sind von einem Bundesligaverein an einen ausländischen Verein verliehen.51 Bei dem Bundesligisten Bayer Leverkusen ist das Leihsystem seit Jahren zentraler Teil seiner Personalpolitik. Aber auch bei anderen Vereinen ist die Leihe ein verbreitetes Mittel der Personalentwicklung: Bayern München ließ Lahm (VfB Stuttgart), Kroos (Bayer Leverkusen) und zuletzt Alaba (TSG 1899 Hoffenheim) woanders Erfahrung sammeln, ehe der deutsche Rekordmeister sie gut genug für den eigenen Kader befand. Die Vereine legen nach eigenem Bekunden Wert darauf, dass nichts gegen den Willen der Spieler geschieht, Leihgeschäfte werden daher in der Branche gerne als „Win-Win-Win-Situation“ wahrgenommen: „Der aufnehmende Verein bekommt Qualität, die er sonst nicht bezahlen kann, und der Spieler erhält Spielpraxis auf dem Niveau, das ihm hilft“, so der Manager des FC Augsburg, Andreas Rettig.52 Der ausleihende Verein profitiert, indem er Gehalt einspart. Die Verlierer des Leihgeschäfts sind aber oft die Spieler, die beim eigenen Verein nie den Durchbruch schaffen und fortwährend weggeschickt werden, um Gehalt einzusparen. Der VFL Wolfsburg hatte vor einigen Spielzeiten gleichzeitig 9 Profis verliehen, um den aufgeblähten Kader auszudünnen. Beim aufnehmenden Verein fassen sie oft nur schwer Tritt, da ihr Einsatz im Regelfall relativ kurz ist und die Mannschaft an ihnen vorbei für die längerfristige Zukunft aufgebaut wird. „Das Schicksal der Leihspieler – Nie51 52
Angaben nach transfermarkt.de. Augsburger-Allgemeine vom 01. 09. 2012: Leihspieler-im-Blick.
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mand vermisst dich“ titelte folgerichtig 2009 das Fachmagazin für Fußballkultur „11 Freunde“ in seiner Juli-Ausgabe. Laut Transferabgleichungssystem der FIFA ist das Volumen für Leihgeschäfte von 185 Millionen Dollar im Jahr 2011 auf 475 Millionen Dollar im Jahr 2014 gestiegen.53 Der Grund? Das Financial Fairplay!54 Das Regelwerk der UEFA zwingt Vereine zur Haushaltsdisziplin, sie dürfen derzeit maximal 45 Millionen Euro Verlust machen. Ein Millionentransfer ist keine Frage des wirtschaftlichen Könnens mehr, sondern des rechtlichen Dürfens. Der FC Chelsea ist aktuell der aktivste Verleiher im europäischen Fußball: 27 Spieler hat er in 8 europäische Ligen verliehen, darunter 4 Spieler in die Bundesliga. Es gibt auch Kritik an dieser Praxis: So sieht „Die Welt“ die Spieler als rechtlose „Manövriermasse“ der Vereine, auch ArsenalTrainer Arsene Wenger beklagt, das Verleihsystem sei nicht mehr zu verteidigen.55 Folgendes Beispiel soll das Problem verdeutlichen: Der Spieler X ist – etwa wegen eines hohen Gehalts – zum Verein A gewechselt. Dort erhält er wenig Spielpraxis, eine für Spieler und Verein unglückliche Gemengelage. Um dem Spieler die Möglichkeit zu verschaffen, sich weiterzuentwickeln und gleichzeitig von den hohen Gehaltszahlungen an Spieler X runter zu kommen, verleiht der Verein A den Spieler X an den Verein B. Auch für den Verein B ist diese Vorgehensweise wirtschaftlich interessant; anstelle der marktüblichen Ablösesumme zahlt er an den Verein A eine Leihgebühr als Entschädigung dafür, dass der Spieler X dem Verein A nicht zur Verfügung steht, sondern fortan vom Verein B eingesetzt werden kann. Aber auch der Verein, der ein Überangebot an jungen talentierten Spielern aus der eigenen Jugendarbeit hervorbringt, kann sich deren Dienste langfristig ohne Risiko sichern, indem er sie verleiht und aufgrund der vereinbarten Rückkehroption wieder für sich spielen lässt, wenn sie sich beim Entleihverein zu vollwertigen Stammspielern entwickelt haben. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, welchen Regeln Verleihgeschäfte im Profifußball unterfallen, vor allem, ob die Rechtsordnung solche Vertragsgestaltungen überhaupt erlaubt. In Deutschland ist das Leihgeschäft durch das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG) seit 1972 reglementiert. Die Arbeitnehmerüberlassung unterliegt einem Verbot mit Erlaubnisvorbehalt: Leiharbeitsunternehmen bedürfen zur Arbeitnehmerüberlassung im Rahmen ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit einer besonderen Erlaubnis der Bundesagentur für Arbeit, die gegen Gebühr erteilt wird, S. 2a AÜG. Die Erlaubnis oder ihre Verlängerung darf unter den in S. 3 AÜG genannten Voraussetzungen versagt oder mit Auflagen versehen werden. Das weitreichende Verbot mit Erlaubnisvorbehalt dient der Verhinderung von Missbrauch der Arbeitnehmerüberlassung und setzt die Richtlinie 2008/104/EG 53
Die Welt vom 21. 03. 2015: Die fragwürdigen Verleihtricks des FC Chelsea. Das Financial Fairplay (FFP) ist ein Reglement der UEFA zur Klublizenzierung für die Teilnahme an den europäischen Klubwettbewerben der UEFA, gültig für die Zeit von 2015 bis 2018. 55 Die Welt vom 21. 03. 2015: Die fragwürdigen Verleihtricks des FC Chelsea. 54
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um. Nach dem deutschen Recht liegt eine Arbeitnehmerüberlassung vor, wenn ein Arbeitgeber (Verleiher) einem Dritten (Entleiher) aufgrund einer Vereinbarung vorübergehend geeignete, bei ihm angestellte Arbeitskräfte (Leiharbeitnehmer) zur Verfügung stellt, die dieser nach seinen Vorstellungen und Zielen in seinem Betrieb wie seine eigenen Arbeitnehmer zur Förderung seiner Betriebszwecke einsetzt.56 Erforderlich ist, dass der Leiharbeitnehmer bei vollständiger Eingliederung in den Betrieb des Dritten für diesen und nicht weiterhin für seinen Arbeitgeber tätig wird.57 Die Arbeitnehmerüberlassung wird damit innerhalb eines Dreiecksverhältnisses Verleiher – Entleiher – Leiharbeitnehmer abgewickelt, in dem die Arbeitgeberstellung teilweise auf den Entleiher als Dritten übertragen wird. Betrachtet man die nach außen hin sichtbare Praxis im Profifußball, insbesondere die etablierte Bezeichnung als „Leihe“, drängt sich die Frage auf, ob nicht auch Profivereine einer Erlaubnis nach § 1 AÜG bedürfen.58 Tatsächlich verfügt kein deutscher Proficlub über eine derartige Erlaubnis. Das rechtliche Konstrukt der dreiseitigen „Spielerleihe“ ist unklar, auf europäischer Ebene gibt es keine UEFA-Vorgaben, auch der DFB oder die DFL halten keine Musterverträge bereit. In Betracht kommen Vertragskomponenten des Kaufvertrags, der Arbeitnehmerüberlassung, der Miete bis hin zur Annahme eines „Vertrags eigener Art“.59 Die in der Branche gebräuchliche Bezeichnung als „Spielerleihe“ ist irreführend. Gewöhnlich wird dieses Vertragsmodell ähnlich einem Spielertransfer durchgeführt.60 Der befristete Lizenzspielervertrag mit dem bisherigen Verein wird in seinen Hauptpflichten und hinsichtlich des arbeitsvertraglichen Konkurrenzverbots suspendiert, und dem Arbeitnehmer wird im Rahmen eines dreiseitigen Vertrages die Erlaubnis gegeben, mit einem anderen Verein einen auf einen bestimmten Zeitraum befristeten Lizenzspielervertrag zu schließen. Der abgebende Verein und der Spieler beenden also ihre Vertragsbeziehungen, was den entleihenden Verein in die Lage versetzt, mit dem Spieler einen Arbeitsvertrag abzuschließen und auf dieser Grundlage beim Deutschen Fußball-Bund eine Spielerlizenz für den „ausgeliehenen“ Spieler zu beantragen. Im Gegenzug verpflichtet sich der entleihende Verein zur Zahlung einer Vergütung an den ausleihenden Verein. Gleichzeitig vereinbaren abgebender Verein und Spieler, nach Ablauf der „Verleihe“ ihre Vertragsbeziehungen wieder aufleben zu lassen: Der Spieler ist zur Rückkehr verpflichtet, der Verein zur Beschäftigung und Zahlung des Spielergehalts.
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BAG Urteil vom 18. 01. 2012 – 7 AZR 723/10. BAG Urteil vom 03. 12. 2997 – 7 AZR 764/96. 58 Westerkamp, Ablöseentschädigungen im bezahlten Sport, Münster 1980, S. 57, hält die Ausleihe von Lizenzspielern für Arbeitnehmerüberlassung. 59 Brömmekamp, Die Spielerleihe – Tatsächliche und alternative Formen der vorübergehenden Spielerüberlassung im Fußballsport, Diss. Bielefeld 1988, S. 50 ff. 60 Bohnau, Der Vereinswechsel des Lizenzfußballspielers in arbeitsrechtlicher Betrachtung, Diss. Bielefeld 2003, S. 153 ff. 57
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Hintergrund dieser Vorgehensweise sind wohl die Geschäftsanweisungen der Bundesagentur für Arbeit zum Arbeitnehmerüberlassungsgesetz, die mit dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales abgestimmt sind. Dort heißt es in Nr. 1.1.5. Ziffer 10 zu S. 1 AÜG: „Beim sog. ,Verleih‘ von Berufssportlern liegt keine Arbeitnehmerüberlassung im Sinne des AÜG vor, wenn das Arbeitsverhältnis zwischen dem abgebenden Verein und dem Sportler gekündigt oder beendet und für die Zeit des sog. ,Verleihs‘ ein neues Arbeitsverhältnis zwischen dem aufnehmenden Verein und dem ,verliehenen‘ Sportler begründet wird. Eine vertraglich ausbedungene Rückkehrmöglichkeit zum abgebenden Verein ist dabei unschädlich. Keine Arbeitnehmerüberlassung liegt außerdem vor, wenn das Arbeitsverhältnis des Berufssportlers mit dem abgebenden Verein während des sog. ,Verleihs‘ nicht vollkommen gelöst, sondern ruhend gestellt wird. Für die erlaubnisfreien Formen der ,Sportlerleihe‘ ist der Wechsel des Vertragsarbeitgebers typisch. Der abgebende Verein verliert jede Weisungsgewalt über den ,verliehenen‘ Sportler. Bei einer Arbeitnehmerüberlassung im Sinne des AÜG bleibt der Verleiher hingegen auch während der Überlassung Vertragsarbeitgeber. Die Arbeitgeberfunktion zwischen ihm und dem Dritten (Entleiher) wird aufgespalten. Auf den Entleiher wird nur ein Teil des (arbeitsplatzbezogenen) Weisungsrechts übertragen.“61
Der abgebende Verein löst ersatzlos seine arbeitsvertraglichen Beziehungen zum Spieler, und dieser begründet ein neues Vertragsverhältnis mit dem aufnehmenden Verein. Letztgenannter erwirbt nicht nur das arbeitsplatzbezogene Weisungsrecht, sondern das volle Weisungsrecht. Damit liegt keine erlaubnispflichtige Arbeitnehmerüberlassung vor. Einer formalrechtlichen Beendigung bedarf es nach dem ausdrücklichen Wortlaut der Geschäftsanweisung nicht einmal, wenn der abgebende Verein und der Spieler ihre Rechtsbeziehungen ruhen lassen. Selbst eine vertraglich ausbedungene Rückkehrmöglichkeit zum abgebenden Verein ist unschädlich. Diese Schlussfolgerung findet sich in der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs bestätigt: Im Streitfall hatte ein inländischer Bundesliga-Verein von einem ausländischen Verein einen Fußballspieler „ausgeliehen“. Das Finanzgericht München ging bei seiner steuerrechtlichen Prüfung davon aus, dass eine steuerpflichtige Überlassung eines Rechts in Gestalt der Spielerlaubnis vorliege.62 Dem ist der Bundesfinanzhof entgegengetreten: Von einer Überlassung eines Rechts könne nicht die Rede sein, da die (frühere) Spielerlaubnis nicht zur Nutzung überlassen, sondern vom entleihenden Verein eine eigenständige (neue) Spielerlaubnis erlangt worden sei. Die „Spielerleihe“ versetze den aufnehmenden Verein nur in die Lage, die erforderliche Spielerlaubnis selbst beantragen zu können. Es handelt sich nicht um die entgeltliche „Miete“ eines Spielers oder um eine Nutzungsüberlassung von Rechten.63 Eine erlaubnispflichtige Arbeitnehmerüberlassung könnte jedoch dann vorliegen, wenn die Rechtsbeziehungen zwischen abgebendem Verein und Spieler nicht voll61
GR22-7160.4(1) gültig ab 20. 01. 2016. FG München, Urteil vom 13. 11. 2007 – 2 K 2892/03. 63 BFH, Urteil vom 27. 05. 2009 IR 86/07; bestätigt in BFH, Urteil vom 14. 12. 2011 – IR 108/10. 62
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ständig beendet sind, etwa wenn der Spieler sein bisheriges Gehalt ganz oder teilweise vom abgebenden Verein erhielte. Das wäre zum Beispiel dann denkbar, wenn der aufnehmende Verein nicht bereit ist, die Spielervergütung in der bisherigen Höhe zu zahlen, oder wenn der Spieler im Fall der drohenden Zahlungsunfähigkeit des aufnehmenden Vereins – etwa bei drohendem Lizenzentzug – sich weiter an den abgebenden Verein halten will. Gleiches muss gelten, wenn nach den Vereinbarungen des „Leihvertrages“ der aufnehmende Verein seine Vergütungszahlungen einstellen kann, sobald der Spieler verletzungsbedingt über einen bestimmten Zeitraum krankheitsbedingt ausfällt. In diesem Fall lebt die Zahlungspflicht des abgebenden Vereins wieder auf, wenn dies zuvor vertraglich vereinbart wurde. Die Spielerleihe in der oben skizzierten Form ist aus dem Profifußball nicht mehr wegzudenken. Durchgreifende rechtliche Probleme sind mit ihr nicht verbunden, solange der abgebende Verein seine Vertragsbeziehungen mit dem Fußballspieler beendet, zumindest aber vollständig ruhend stellt. Interessant, aber von Rechtsprechung und Literatur noch nicht abschließend behandelt, ist die Frage, ob der Spieler einen Anspruch darauf hat, während der Laufzeit seines Vertrages für einen vorübergehenden Einsatz bei einem anderen Profiverein freigegeben zu werden. Das kann nur in besonders gelagerten Ausnahmefällen in Betracht kommen, etwa wenn der Spieler erklärtermaßen nicht mehr in der 1. Mannschaft eingesetzt werden soll oder wie im Fall Müller „unter diesem Trainer“ nicht mehr eingesetzt werden wird.64 Für solch einen „modifizierten Beschäftigungsanspruch“ sprechen zwei gewichtige Umstände: Erstens steht dem Fußballprofi nur eine ganz begrenzte Anzahl von Jahren zur Verfügung, in denen er seinen Beruf auf dem geforderten hohen Leitungsniveau ausüben kann. Zweitens sinkt sein „Marktwert“ infolge fehlender Spielpraxis.
IV. Die „Ablöse“ im Profifußball Allein für den Spieler André Schürrle zahlten seine bisherigen Arbeitgeber zusammengezählt gut 90 Millionen Euro „Ablöse“ (einschließlich der 30 Millionen Euro anlässlich des Wechsels vom VfL Wolfsburg zum BVB Borussia Dortmund zu Beginn der Spielzeit 2016/17). Mesut Özil folgt dahinter auf Platz 2 abgeschlagen mit insgesamt bei 62 Millionen Euro. Der BVB Borussia Dortmund hat durch die Verkäufe von Henrich Mchitarjan, Mats Hummels und Ilkay Gündogan im Sommer 2016 mehr als 100 Millionen Euro eingenommen. Europaweit betrachtet sind die Summen noch schwindelerregender. So wechselte Gonzalo Higuain laut transfermarkt.de für 90 Millionen Euro im Sommer 2016 vom SSC Neapel zu Juventus Turin. Stets stellen sich bei solchen Nachrichten folgende Fragen: Rechtfertigen die fußballerischen Fähigkeiten der Spieler diese Dimensionen? Steht das AblöseSystem überhaupt im Einklang mit unserer Rechtsordnung? 64
ArbG Mainz, Urteil vom 19. 03. 2015 – 3 Ca 1197/14.
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Mit dem Bosman-Urteil vom 15. 12. 199565 hat der EuGH bislang zentrale Regelungen für den Berufsfußball innerhalb der EU, die nahezu übereinstimmend in den Verbandssatzungen sämtlicher nationaler Fußballverbände der EU wie auch in den Regelwerken der UEFA und der FIFA enthalten waren, wegen Unvereinbarkeit mit dem Gemeinschaftsrecht für unanwendbar erklärt. Im Vordergrund standen Transferregelungen, nach denen ein Berufsfußballspieler auch nach Ablauf seines Arbeitsvertrages nur bei einem anderen Verein beschäftigt werden konnte, wenn dieser dem bisherigen Verein eine Transfer-, Ausbildungs- oder Förderungsentschädigung zahlte. 1. Das Bosman-Urteil Der Belgier Jean-Marc Bosman ist als Fußballer nur wenigen in Erinnerung geblieben. Sein Name ist in Europa aber untrennbar verbunden mit einem Meilenstein in der europäischen Fußballgeschichte, mit dem er die bis dahin gültigen Fußballregeln auf den Kopf stellte. Die Laufbahn des 1964 geborenen Mittelfeldspielers begann bei dem belgischen Erstligaverein RC Lüttich. Dort besaß er seit 1988 einen Profi-Vertrag, der zum 30. Juni 1990 auslief. Im April 1990 wurde Bosman vom RC Lüttich ein neuer Vertrag für eine Spielzeit angeboten, jedoch mit einer deutlich geringeren Vergütung. Bosman weigerte sich daraufhin, den neuen Vertrag zu unterschreiben und wurde auf die Transferliste gesetzt. Die Höhe der Ausbildungsentschädigung für ihn wurde auf 11.743.000 BFR66 festgesetzt. Da sich bei dieser hohen Ablöse kein Verein interessiert zeigte, machte sich Bosman selbst auf die Suche nach einem neuen Arbeitgeber. Fündig wurde er beim französischen Zweitligisten US Dünkirchen. Es kam zu einer Verpflichtung für ein Monatsgehalt von etwa 100.000 BFR67 und ein Handgeld von etwa 900.000 BFR.68 Der RC Lüttich und US Dünkirchen verständigten sich auf einen Transfer von Bosman für die Dauer eines Jahres gegen Zahlung einer Entschädigung von 1.200.000 BFR.69 Die beiden Verträge zwischen der US Dünkirchen und dem RC Lüttich einerseits sowie zwischen der US Dünkirchen und Bosman andererseits standen jedoch unter der aufschiebenden Bedingung, dass die Freigabe des Spielers vor dem ersten Saisonspiel erfolgen sollte. Aufgrund wirtschaftlicher Probleme bei der US Dünkirchen hatte der RC Lüttich Zweifel an der Zahlungsfähigkeit des Vereins. Daher beantragte er keine Freigabe beim belgischen Fußballverband. Dies führte dazu, dass Bosman keine Spielberechtigung in Frankreich bekam. Der Wechsel scheiterte, Bosman wurde gesperrt. Noch im selben Jahr reichte Bosman Klage 65
EuGH, Urteil vom 15. 12. 1995 – C-415/93. Dies entspricht knapp 300.000 EUR. 67 Dies entspricht knapp 2.500 EUR. 68 Dies entspricht etwa 22.300 EUR. 69 Dies entspricht knapp 30.000 EUR. 66
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vor einem belgischen Gericht gegen den RC Lüttich ein. Fünf Jahre später wird sein Fall vor dem EuGH im Rahmen einer Vorabentscheidung nach Art. 177 EGV verhandelt. Und dieser trifft mit dem Bosman-Urteil eine seiner Aufsehen erregendsten Entscheidungen. Gerade von Vereinen und Verbänden war der Sport stets als ein von der Geltung des EU-Rechts ausgenommenes, eigenständiges gesellschaftliches Subsystem angesehen worden. Verbände und Vereine beriefen sich auf die Vereinigungsfreiheit. Der EuGH stellte jedoch im Bosman-Urteil unter Berufung auf seine Entscheidungen Donà70 und Walrave71 fest, dass das Gemeinschaftsrecht und damit Art. 48 EGV72 auch im Bereich des Sports gelten, soweit dieser dem Wirtschaftsleben im Sinne des Art. 2 EGV zuzuordnen ist. Eben diese Voraussetzung sei – so der EuGH – im Profifußball uneingeschränkt gegeben. Der EuGH ging noch einen Schritt weiter: Im Bosman-Urteil wandte er Art. 48 EGV als ein Grundrecht an, das die Freizügigkeit des Unionsbürgers umfassend schützt, gleichgültig, ob die Freizügigkeitsbeschränkung diskriminierenden Charakter hat oder nicht. Damit erteilte das Gericht dem zuvor verbreiteten Verständnis des Art. 48 EGV als ein nur spezielles freizügigkeitsbezogenes Diskriminierungsverbot eine Absage. Gegen Art. 48 EGV verstoßen danach also auch nichtdiskriminierende Regelungen oder Maßnahmen, wenn sie nur geeignet sind, die Freizügigkeit der Staatsangehörigen eines Mitgliedstaates zu beeinträchtigen, die in einem anderen Mitgliedstaat eine unselbstständige Tätigkeit ausüben wollen. Angesichts dieser Auslegung des Schutzumfangs stellte der EuGH einen Verstoß durch die Transferregeln fest, obwohl diese auf In- wie Ausländer und auf innerstaatliche wie zwischenstaatliche Transfers anwendbar waren. Eine tatsächliche Beeinträchtigung der grenzüberschreitenden Freizügigkeit durch die Transferregeln reichte für einen Verstoß aus: Durch Transferzahlungspflicht und Sanktionen für das Ausbleiben der Zahlung werden die tatsächliche Möglichkeit zur Aufnahme einer Tätigkeit als Fußballprofi im Ausland und damit die Freizügigkeit der Berufsfußballer erheblich beeinträchtigt. Der EuGH prüfte in diesem Zusammenhang auch die Frage, ob die Transferregeln trotz Verstoßes gegen Art. 48 EGVausnahmsweise gerechtfertigt sein könnten, wenn sie einen mit dem Vertrag zu vereinbarenden Zweck in verhältnismäßiger Weise verfolgten. Als berechtigte Zwecke kommen sowohl die Aufrechterhaltung des finanziellen Gleichgewichts zwischen den Vereinen als auch die Einstellung und Ausbildung junger Talente angesichts der beträchtlichen sozialen Bedeutung des Sports im Allgemeinen und des Fußballs im Besonderen in Betracht. Gerechtfertigt sind solche Beschränkungen der Freizügigkeit allerdings nur dann, wenn sie tatsächlich geeignet sind, den verfolgten Zweck zu erreichen, ohne über das hinauszugehen, was zur Erreichung dieses Zwecks erforderlich ist. Der EuGH verneinte dies im Fall Bosman: Zur Aufrechterhaltung des finanziellen und sportlichen Gleichgewichts zwischen 70
EuGH, Urteil vom 14. 07. 1976 – C-13/76, Celex-Nr. 61976CJ0013. EuGH, Urteil vom 12. 12. 1974 – C-36/74. 72 Heute Art. 54 AEUV.
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den Vereinen sind die Transferregeln schon nicht geeignet, weil auch bisher die reichsten Vereine die besten Spieler verpflichten konnten und finanzielle Mittel stets ein entscheidender Faktor auch beim sportlichen Wettkampf waren. Die Eignung der Transferregeln zur Förderung der Nachwuchsarbeit bezweifelt der EuGH ebenfalls, da nicht systematische Jugendarbeit und betriebener Aufwand, sondern Zufälle und Unwägbarkeiten darüber entscheiden, welche Vereine zu welcher Zeit welche Transferentschädigungen erhalten. Der EuGH hat also die seinerzeit geltenden Transferregeln im Hinblick auf die von der Freizügigkeitsgarantie erfassten Personen als mit Art. 48 EGV unvereinbar und damit für unanwendbar erklärt. Das Urteil überraschte in seiner Rigorosität, nachdem die Kommission vorher gegen die entsprechenden Regelwerke nur zögerlich vorgegangen war.73 Dem Bosman-Urteil schlug eine enorme Welle der Kritik entgegen. In den ersten Reaktionen wurde es als sportwidrig, lebensfremd und ahnungslos oder als Versuch zur Zerstörung des Vereinsfußballs bewertet.74 Gerd Niebaum, der ehemalige Präsident von Borussia Dortmund, hielt das Urteil sogar für einen „fast rührend anmutenden Dilettantismus“.75 Manch einer ging sogar so weit, dass er die an der Entscheidung beteiligten Richter als völlige Laien einschätzte.76 Die Bosman-Entscheidung brachte eine wichtige Einnahmequelle der Vereine zum Versiegen. Daher versuchten die Vereine in der Folgezeit, einen wirtschaftlichen Ausgleich über eine sogenannte Ausbildungsentschädigung zu erreichen. Im Jahr 2010 befasste sich der Gerichtshof der Europäischen Union erstmals mit diesem neuen Phänomen im bezahlten Fußball. Dem lag folgender Sachverhalt zugrunde: 1997 unterzeichnete Olivier Bernard mit dem französischen Fußballverein Olympique Lyonnais einen Vertrag für drei Spielzeiten als „joueur espoir“.77 Den im Anschluss daran angebotenen Vertrag als Berufsspieler lehnte er ab und schloss stattdessen einen Profivertrag mit dem englischen Verein Newcastle United. Zum damaligen Zeitpunkt bestimmte die französische Berufsfußball-Charta, dass „joueurs espoir“ einen ihnen vom Ausbildungsverein angebotenen Profivertrag annehmen mussten. Wer ein solches Angebot ablehnte, durfte während eines Zeitraums von drei Jahren ohne schriftliche Zustimmung des Ausbildungsvereins zu keinem anderen Club wechseln oder musste einen von den tatsächlichen Ausbildungskosten unabhängigen 73
Hilf/Pache, Das Bosman-Urteil des EuGH, NJW 1996, 1169 m.w.N. Vgl. Hilf/Pache, Das Bosman-Urteil des EuGH, NJW 1996, 1169; FAZ v. 16./17. 12. 1995, S. 32, 43; Süddeutsche Zeitung v. 16./17. 12. 1995, S. 4, 43; Die Welt v. 16./17. 12. 1995, S. 1, 3; Welt am Sonntag v. 17. 12. 1995, S. 19. 75 Hilf/Pache, Das Bosman-Urteil des EuGH, NJW 1996, 1169 unter Hinweis auf FAZ v. 20. 1. 1996, S. 27. 76 Hilf/Pache, Das Bosman-Urteil des EuGH, NJW 1996, 1169; Hamburger Abendblatt v. 17. 1. 1996. 77 Darunter versteht das französische Regelwerk viel versprechende Spieler im Alter von 16 bis 22 Jahren, die bei einem professionellen Verein im Rahmen eines befristeten Vertrags als Auszubildende beschäftigt sind. 74
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Schadensersatz leisten. Olympique Lyonnais verklagte den Spieler Bernard und Newcastle United vor französischen Gerichten auf Zahlung von 53.357,16 Euro, einem Jahresverdienst auf der Grundlage des nicht angenommen Vertrages. Im Laufe des Verfahrens wurde der EuGH nach der Vereinbarkeit der fraglichen Regelung mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit befragt. In seiner Entscheidung vom 16. März 201078 stellte das Gericht zwar fest, dass Ausbildungsentschädigungen an den ausbildenden Verein bei einem Vereinswechsel grundsätzlich gerechtfertigt seien, soweit sie den Zweck der Förderung der Anwerbung und Ausbildung von Nachwuchsspielern berücksichtigen und für die Erreichung dieses Zwecks geeignet und verhältnismäßig seien. Im konkreten Fall aber hielt der Gerichtshof eine Bestimmung des französischen Fußballverbandes in seiner Berufsfußballcharta, nach der Nachwuchsspieler nach Abschluss ihrer Ausbildung entweder die von dem Verein ausgeübte Vertragsverlängerungsoption zu bedienen oder aber einen Schadensersatz zu leisten hätten, im Ergebnis für unverhältnismäßig.79 Auch das Bundesarbeitsgericht befasste sich fast zeitgleich mit der sogenannten Ausbildungsentschädigung. Seiner Entscheidung80 lag folgender Sachverhalt zugrunde: Der Spielervertrag war befristet bis zum 30. 06. 2010 ohne ordentliche Kündigungsmöglichkeit geschlossen. Darüber hinaus wurde dem Verein eine Verlängerungsoption bis zum 30. 6. 2011 eingeräumt. Auf Betreiben des Spielers schlossen die Parteien einen Aufhebungsvertrag, in dem sie vereinbarten, das zwischen ihnen bestehende Vertragsverhältnis zum 19. 8. 2008 zu beenden. Gleichzeitig verpflichtete sich der Spieler unter anderem, für die vorzeitige Beendigung des Vertragsverhältnisses eine Entschädigung in Höhe von 40.000 Euro an den Verein zu zahlen. Der Spieler klagte auf Rückzahlung der geleisteten Entschädigung. Das Bundesarbeitsgericht stellte in seinen Entscheidungsgründen fest, es verstoße nicht gegen die durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützte Berufsausübungsfreiheit, wenn sich Verein und Spieler auf die Zahlung einer „Entschädigung“, d. h. einer „Ablöse“ in Höhe von 40.000,00 Euro einigten. Diese Leistung hätte den Zweck, eine bestehende Vertragsbindung zu beenden. Verein und Spieler haben sich darauf geeinigt, dass der Verein der Aufhebung des Spielervertrages zustimmt und der Spieler im Gegenzug eine „Ablöse“ zahlt. Es handelt sich gerade nicht um den Fall, dass die durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützte Berufsausübungsfreiheit dadurch verletzt werde, dass in abstrakten Verbandsreglements die Zahlung einer Transferentschädigung vorgesehen ist, die ein Spieler auch nach Auslaufen seines Vertrages bei dem ausbildenden Verein zahlen muss, wenn er sich einen neuen Arbeitgeber suchen will. Solche Regeln sind geeignet, dem Spieler den Wechsel seines Vereinsarbeitgebers zu erschweren und damit in seine Berufsausübungsfreiheit einzugreifen. Mit dieser Begründung erklärte das BAG 1996 eine Transferentschädigung in der Eishockeyliga sogar für
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EuGH 16. 3. 2010 – C-325/08 – [Olympique Lyonnais]. EuGH 16. 3. 2010 – C-325/08 – [Olympique Lyonnais]. 80 Urteil vom 25. 04. 2013 – 8 AZR 453/12. 79
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sittenwidrig, (S. 138 BGB, Art. 12 Abs. 1 GG), da das Arbeitsverhältnis bei dem abgebenden Verein bereits beendet war.81 Infolge des Bosman-Urteils vereinbarten die Europäische Kommission, die FIFA und die UEFA 2001 verbindliche Transferregeln. Seither muss für den Transfer eines Spielers, der jünger als 28 Jahre ist und seinen Vertrag vor Ablauf von drei Jahren auflöst, eine „Ablöse“ an den abgebenden Verein gezahlt werden. Bei älteren Spielern ist die Ablösepflicht auf eine Vertragslaufzeit von zwei Jahren reduziert. Zudem sind Vereinswechsel nur innerhalb der sogenannten Transferfenster im Sommer und Winter erlaubt. Front gegen dieses Transfer- und Ablösesystem macht die internationale Fußballer-Gewerkschaft FiFpro.82 Sie beklagt ein finanzielles und damit sportliches Missverhältnis zwischen den wirtschaftlich mächtigen Ligen und Klubs gegenüber schwächeren Wettbewerbern, ein Missbrauch ihrer marktbeherrschenden Stellung.83 Die Spieler verfügten gegenüber ihren Arbeitgebern nicht über die gleichen Rechte wie Arbeitnehmer in anderen Branchen.84 Sie müssten leichter aus laufenden Verträgen heraus wechseln, ohne durch überzogene Ablöseforderungen eingeschränkt zu werden. Folgerichtig fordert sie die vollständige Abschaffung der „Ablöse“. Ende 2015 legte die FiFpro Beschwerde gegen das vereinbarte Transfersystem einschließlich der „Ablöse“ bei der EU-Kommission in Brüssel ein. weil es ihrer Ansicht nach gegen das europäische Wettbewerbsrecht verstoße.85 Zudem soll nach Ansicht der FiFpro Ausleihen abgeschafft, Kadergrößen limitiert und Zahlungen an Spielerberater begrenzt werden.86 Soweit ersichtlich, liegt eine Stellungnahme der EU-Kommission hierzu noch nicht vor. Zusammenfassend bleibt festzustellen: Soll ein Spieler aus einem laufenden Vertragsverhältnis heraus gekauft werden, ist die Zahlung einer „Ablöse“ derzeit rechtlich nicht zu beanstanden. Anders verhält es sich, wenn der Spieler nach Ablauf seiner Vertragslaufzeit zu einem anderen Club wechseln möchte. Die Erteilung einer Spielererlaubnis für den neuen Verein darf nicht davon abhängig gemacht werden, dass der abgebende Verein vom neuen Verein eine „Ablöse“ erhält. Ethische Bedenken im Hinblick auf die zwischenzeitlich erreichten Größenordnungen schlagen rechtlich nicht durch. Ablösezahlungen, die von Vereinen der Fußball-Bundesliga im Zusammenhang mit dem Wechsel von Lizenzspielern an die abgebenden Vereine gezahlt werden, sind als Anschaffungskosten auf das immaterielle Wirtschaftsgut der
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BAG Urteil vom 20. 11. 1996 – 5 AZR 518/95. Der Vereinigung gehören nach eigenen Angaben weltweit mehr als 65.000 Fußballpro-
FAZ vom 18. 09. 2015. Süddeutsche Zeitung vom 18. 09. 2015. 85 Die Fifpro ist als Kartell im Sinne des Artikels 101 des Vertrags über Arbeitsweise der Europäischen Union beschwerdeberechtigt. 86 FAZ vom 18. 09. 2015. 84
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exklusiven Nutzungsmöglichkeit „an dem Spieler“ zu aktivieren und auf die Vertragslaufzeit abzuschreiben.87 Infolge der vorstehend aufgeführten gerichtlichen Entscheidungen kann sich jetzt jeder Spieler nach Ablauf des Vertrages einem neuen Verein anschließen, ohne dass Ablösezahlungen an den bisherigen Verein die Vertragsverhandlungen mit dem neuen Verein belasten. Fußballspieler und auch andere Sportler profitierten davon, da ihre Gehälter infolge des Wegfalls der „Ablöse“ stetig angestiegen sind: Der viermalige Weltfußballer Lionel Messi (Argentinien/FC Barcelona) war der bestbezahlte Fußballer des Jahres 2014.88 Laut des französischen Fachmagazins France Football nahm der damals 27-Jährige in der Addition aus Gehalt und Werbeeinnahmen 65 Millionen Euro ein. Dauerrivale Cristiano Ronaldo (Portugal/Real Madrid) belegt mit 54 Millionen den zweiten Platz vor Messis Vereinskollegen Neymar (Brasilien/ Real Madrid) mit 36,5 Millionen Einkommen. Bestplatzierter Deutscher ist WM-Finaltorschütze Mario Götze (Deutschland/Borussia Dortmund) auf Rang 20. Der 22Jährige kassierte laut des Magazins 2015 16,9 Millionen Euro jährlich während seiner Zeit beim FC Bayern München. Topverdiener der Bundesliga ist Robert Lewandowski (Polen), der mit geschätzten Einnahmen von 20,2 Millionen Euro 2016 der zehntbestbezahlte Spieler Europas war. Bosman selbst profitierte nicht. Erst neun Jahre nach Prozessbeginn bekam Bosman rund 780.000 Euro Entschädigung für sein vorzeitiges Karriereende zugesprochen. Nach eigenen Angaben lebt er am Existenzminimum und wird von der internationalen Spieler-Gewerkschaft Fifpro finanziell unterstützt.89 Auch wenn die bisherige Transferentschädigungen für den Profifußball von zentraler wirtschaftlicher Bedeutung war und das Urteil ohne Übergangsregeln mitten in der laufenden Saison erging: Die Befürchtungen um den infolge des Urteils zu erwartenden Eintritt eines Chaos, den Bankrott zahlreicher Vereine oder gar das Ende des Vereinsfußballs in Europa haben sich nicht bestätigt.
V. Fazit Schon die drei Themenfelder: Befristung, Ausleihe und Ablöse zeigen, dass die Praxis des Profifußballs die Dogmatik des Arbeitsrechts laut knirschen lässt. Recht und Wirklichkeit klaffen weit auseinander. Dass die Mechanismen des Arbeitsrechts für Lizenzfußballspieler schlichtweg nicht passen, ist evident. So versagt etwa der im Arbeitsrecht anerkannte Beschäftigungsanspruch in der Fußballwelt und könnte zu aberwitzigen Ergebnissen führen: Wollte man den allgemeinen Beschäftigungsanspruch lupenrein auf den Fußball übertragen, hätte jeder Lizenzspieler das Recht, sich selbst – gegebenenfalls mit Hilfe der Arbeitsgerichte – für das Spiel aufzustellen. 87
BFH, Urteil vom 26. 8. 1992 – IR 24/91; Urteil vom 14. 12. 2011 – IR 108/10. Angaben nach fußballtransfers.com. (Stand: 3. August 2016). 89 Süddeutsche Zeitung vom 14. Dezember 2015.
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Da aber nur elf Spieler aus einem oft 20-köpfigen oder größeren Kader gleichzeitig eingesetzt werden dürfen, ist der Konflikt vorprogrammiert. Die Rechtsprechung umgeht diese Problematik, indem sie den Anspruch auf arbeitsvertragsgemäße tatsächliche Beschäftigung des Profifußballers auf die Teilnahme am Trainings- und Spielbetrieb beschränkt,90 ein Lösungsansatz, der größter Begründungsanstrengungen bedarf. Im Spitzensport mit seinen Millionengagen haben sich faktisch eigene Regeln herausgebildet, die sich mit den Instrumenten des Arbeitsrechts nur schwer bewältigen lassen. Bepler beklagt „einen fast rechtsfreien Raum im Sport, wo Vereine Bedingungen in Arbeitsverträge reinbringen können, die uns Arbeitsrechtler schaudern lassen.“91 Will man sich nicht mit dem Argument zufrieden geben, der Fußball in seiner heutigen Ausgestaltung sei für die Fangemeinde optimal, muss man nach Lösungen suchen, wie sich die heute geübte Praxis in die Rechtsordnung einfügen kann. Fußballprofis jedenfalls der 1., oft auch der 2. Bundesliga sind rechtlich betrachtet Angestellte mit zahlreichen Besonderheiten, die normalen Arbeitnehmern fehlen: Etwa das Millionengehalt oder die permanente Betreuung durch Berater. Das drängt die Frage auf, ob es überhaupt notwendig ist, diese Profispieler durch die umfassenden Regeln des Arbeitsrechts schützen zu lassen. Brauchen sie tatsächlich Mindestarbeitsbedingungen wie normale Arbeitnehmer oder sind sie in der Lage, für sich selbst Vorsorge zu treffen? Es spricht viel dafür, den Profifußball vollständig vom Arbeitsrecht zu entkoppeln und nicht ein abgestuftes Arbeitsrecht für Spitzenverdiener zu schaffen, wie Bepler es vorschlägt.92 Nur so wäre sicher gestellt, dass die gesetzlich vorgegebenen Instrumente des Arbeitsrechts nicht soweit aufgeweicht werden müssen, bis sie der Praxis des Berufsfußballs endlich gerecht würden. Ziel des Arbeitsrechts soll es bleiben, den abhängig beschäftigten Arbeitnehmer vor der vermeintlichen Übermacht des Arbeitgebers zu schützen. Das Arbeitsrecht setzt einen Rahmen, indem es Mindestschutzbedingungen normiert, die die Prekarisierung der Lage der Beschäftigten verhindern sollen. Dieser Ansatz versagt im Bereich des Profifußballs erkennbar, es fällt schwer, die Parallele zum Normalfall des abhängig Beschäftigten zu ziehen, für den die Schutzmechanismen eigentlich geschaffen wurden. Bepler stellt in seinem Beitrag „Arbeitsrechtliche Sonderwege im bezahlten Fußball?“ die Frage nach einem Sonderweg im Arbeitsrecht93. Konsequenter dürfte es sein, die Frage nach dem Weg aus dem Arbeitsrecht zu stellen: Nicht nur die Höhe der Bezüge hebt den Fußballprofi von dem durchschnittlichen Arbeitnehmer deutlich ab, vielmehr hat er sich 90 BAG Urteil vom 22. 08. 1984 – 5 AZR 539/81; ArbG Mainz, Urteil vom 19. 03. 2015 – 3 Ca 1197/14. 91 Bepler, 1. Deutscher Arbeitsrechtstag des Deutschen Anwaltvereins in Berlin, zit. nach FAZ Dienstag, 16. 02. 2016 „Beruf und Chance“. 92 Bepler, 1. Deutscher Arbeitsrechtstag des Deutschen Anwaltvereins in Berlin, zit. nach FAZ Dienstag, 16. 02. 2016 „Beruf und Chance“. 93 jM 2016, 151.
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oft auch durch Werbeverträge etc. weitere Einnahmequellen gesichert, die einem anderen Arbeitnehmer im Regelfall verschlossen sind. Hinzu kommt der häufige Vereinswechsel, die Beziehungen zwischen Lizenzspieler und Verein sind gerade nicht auf Dauer angelegt. Es geht auch nicht um das gesamte Arbeitsleben, sondern nur um einen etwa 15 Jahre währenden Zeitraum, in dem der Lizenzspieler seiner Tätigkeit auf hohem Leistungsniveau tatsächlich nachgehen kann. Der Profispieler entspricht eher dem Bild des selbstständigen Unternehmers als dem des Arbeitnehmers. Er ist ein Unternehmer in eigener Sache, der in ein Dienstleistungsverhältnis besonderer Art zum Verein tritt. Gerd Niebaum, der ehemalige Präsident von Borussia Dortmund, weist in seiner Reaktion auf das Bosman-Urteil in dieselbe Richtung: Berufsfußballspieler dürften nicht als Arbeitnehmer, sondern müssten als Unternehmer angesehen werden, wie dies ihrer heutigen Stellung im Wirtschaftsleben entspreche. Der Arbeitsmarkt „Profifußball“ hat sich selbst den Anforderungen des Weltverbandes FIFA sowie des Deutschen Fußballbundes unterworfen und wickelt sein Vertragsgebaren etwa bei Vereinswechsel faktisch autonom nach einem internationalen Transfersystem ab. Auch dies spricht dafür, den Profifußball vollständig aus dem Regelwerk des Arbeitsrechts auszunehmen.94 Solange aber dieser vorstehend gekennzeichnete Weg nicht beschritten wird, gilt das deutsche Arbeitsrecht für die Verträge der Profimannschaften der Bundesligen mit ihren Spielern in vollem Umfang. Eine nach Praktikabilitätsgründen vorgenommene Aufweichung der gesetzlich vorgegebenen Kriterien ist mit der Rechtsordnung nicht vereinbar. Das Fazit lautet daher: „Arbeitsrecht findet auch auf dem Fußballplatz statt.“
94 In diese Richtung weisen auch: M. Fröhlich/H.-W. Fröhlich, Entscheidungsbesprechung, CaS 2015, 145 – 149.
Are Interpretations by the International Monetary Fund of Article VIII, Section 2(b) of the IMF Articles of Agreement Binding Upon the Courts of the IMF Member States? By Werner F. Ebke* The present essay is dedicated to Professor Dr. iur. Dr. iur. h.c. Koresuke Yamauchi on the occasion of his seventieth birthday on August 18, 2016.1 The essay examines the question of whether interpretations by the Executive Board, the Board of Governors or the Legal Department of the International Monetary Fund (IMF) of article VIII, section 2(b) of the Articles of Agreement of the International Monetary Fund (IMF Articles of Agreement or Fund Agreement) are binding upon the courts of the IMF Member States in disputes between private parties.2 Subsumed within this question are the issues of whether the IMF Executive Board, the IMF Board of Governors and the IMF Legal Department have the power, under the IMF Articles of Agreement, to provide (authoritative) interpretations of article VIII, section 2(b) of the IMF Articles of Agreement, and whether IMF Member States, their courts or private litigants are required to seek the Fund’s advice in disputes between private parties involving article VIII, section 2(b) of the Fund Agreement. Rather than dwelling in detail on the interpretation of the provision by courts and arbitral tribunals, this essay explores the IMF’s present devices and possible future means to ensure a legally consistent and economicly adequate interpretation of article VIII, section 2 (b) of the Fund Agreement in the context of private international commercial and financial transactions. The discussion first focuses upon the difficulties of interpretation of the various elements of article VIII, section 2(b) of the IMF Articles of Agreement that have aris* A previous version of this essay was published in ZVglRWiss 115 (2016) 299 – 357. 1 On the occasion of his sixtieth birthday, a Festschrift was published in his honor. See Menkhaus/Sato (eds.), Japanischer Brückenbauer zum deutschen Rechtskreis – Festschrift für Koresuke Yamauchi zum 60. Geburtstag, Berlin 2006. 2 For an earlier exposition of this question, see Ebke, Internationales Devisenrecht [International Exchange Control Law], 1990, pp. 264 – 270. I am grateful to Professor Yamauchi, ), and Professor Kazuko Jitsukawa, Law Faculty of Law Faculty of Chu¯o¯ University ( Yamanashi Gakuin University ( ), for their translation of my book “Internationales Devisenrecht” into Japanese: F 1995 . A translation into Russian was published in 1997: 3Va^Va E. NR[V, =VWUd^Qa_U^_V SQ\oc^_V `aQS_, 1997.
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en in the practice of courts and arbitral tribunals around the globe and the effects, both actual and potential, of a disparity of interpretations (I.). For a better understanding, the essay will then briefly shed light on the history, nature and scope of article VIII, section 2(b) of the IMF Articles of Agreement (II.). The subsequent section of this essay will explore the role, nature, significance and implications of interpretations by the IMF Executive Board, the IMF Board of Governors, and the IMF Legal Department, the IMF’s policy and practice of information, the functional and professional competences of the persons providing information on behalf of the IMF and various independence issues (III.). In the fourth section, the essay will introduce pertinent case law (IV.). At the end, final conclusions will be drawn (V.).
I. Introduction The modern international monetary system is rooted in the Articles of Agreement of the International Monetary Fund that were negotiated in Bretton Woods, New Hampshire (USA), from July 1 through July 22, 1944. The Bretton Woods conference was to lay the ground for a post-World War II international monetary system. On December 27, 1945, the IMF Articles of Agreement entered into force and the International Monetary Fund came into being as an international organization.3 In his book The Rules of the Game, Kenneth W. Dam rightly calls the constitutionalization of the international monetary system in the IMF Articles of Agreement “the key international monetary policy decision of the [twentieth] century.”4 As set out in article I of the IMF Articles of Agreement, the Fund aims to promote international monetary cooperation, to facilitate the expansion and balanced growth of international trade, stability and equity in the exchanges, the convertibility of currencies, the availability of resources to give Members the opportunity to correct imbalances in their balance 3 See 2 U.N.T.S. 39 (Dec. 27, 1945). The IMF became a “specialized agency” of the United Nations (UN) by virtue of the 1947 Agreement of the United Nations and the International Monetary Fund (so-called “Relationship Agreement”). The Agreement was approved by the IMF Board of Governors on September 17, 1947 and by the General Assembly of the UN on November 15, 1947, and came into force on November 15, 1947. See 16 U.N.T.S. 325, 328 (1948). As a specialized agency of the UN, the Fund enjoys certain privileges and immunities under the UN Convention on the Privileges and Immunities of the Specialized Agencies, which was approved on November 21, 1947, and entered into force on December 2, 1948. See 33 U.N.T.S. 261 (1948). For details of the relationship between the IMF and the UN, see, e. g., Holder, The Relationship of the International Monetary Fund and the United Nations, in: Effros (ed.), Current Legal Issues Affecting Central Banks, vol. IV, 1997, pp. 16 – 25. For a discussion of the relationship between the IMF and the World Bank, see Shihata, The World Bank and the IMF Relationship – Quo Vadis?, 35 Int’l Law. 1349 (2001). For the relationship between the IMF and the WTO, see Siegel, Legal Aspects of the IMF/WTO Relationship: The Fund’s Articles of Agreement and the WTO Agreements, 96 Am. J. Int’l L. 561 (2002). 4 Dam, The Rules of the Game, 1982, p. 71. For a brief historical account of the genesis and development of the IMF, see Lowenfeld, The International Monetary System: A Look Back over Seven Decades, 13 J. Int’l Econ. L. 575 (2010).
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of payments, and to shorten the duration and lessen the degree of disequilibrium in balances of payments of Members. Additionally, article IV, section 1 of the IMF Articles of Agreement recognizes that it is an “essential purpose” of the international monetary system “to provide a framework that facilitates the exchange of goods, services, and capital among countries, and that sustains sound economic growth.” Article IV, section 1 also stresses as a “principal objective” of the international monetary system the “continuing development of the orderly underlying conditions that are necessary for financial and economic stability.” While the various objectives and purposes stated in article I and article IV, section 1 of the Fund Agreement are to a considerable extent interdependent and overlapping and, in some cases, conflict with each other, a principled and considered evaluation of each of them at the various stages of governmental, judicial or administrative action or inaction will eventually contribute to the attainment of those purposes and objectives.5 1. The IMF Articles of Agreement and Private International Transactions Article VIII, section 2(b) of the IMF Articles of Agreement6 provides a (potentially) powerful instrument in the hands of courts and administrative agencies7 of the IMF Member States that is designed to foster, within the IMF,8 the institutional objectives of international monetary cooperation (coopération monétaire international) at various stages and levels of international commercial and finance transactions.9 5
For a comprehensive analysis of the legal foundations of international monetary stability, see Lastra, International Financial and Monetary Law, 2nd ed., 2015. 6 The first sentence of article VIII, section 2(b) of the IMF Articles of Agreement provides: “(b) Exchange contracts which involve the currency of any member and which are contrary to the exchange control regulations of that member maintained or imposed consistently with this Agreement shall be unenforceable in the territories of any member.” Article VIII, section 2(b) remained unchanged in the course of the Fund Agreement’s amendments in 1969, 1978, 1992, 2009 and 2011. 7 Article VIII, section 2(b) of the IMF Articles of Agreement applies to both courts and administrative agencies of the IMF Member States. See Ebke, Article VIII, Section 2(b), International Monetary Cooperation, and the Courts, 23 Int’l Law. 677, 679 n. 8 (1989); accord Booysen, Principles of International Trade Law as a Monistic System, 2007, p. 353. Unfortunately, however, our knowledge of the practice of the Member States’ agencies in relation to article VIII, section 2(b) of the Fund Agreement is rather limited, partly because of the lack of public reports of the agencies with respect to the application and enforcement of exchange restrictions. For this reason, this essay examines only the practice of IMF Member State courts. 8 Article VIII, section 2(b) of the IMF Articles of Agreement does not apply in relations between IMF Member States and non-Member States. See Delaume, Law and Practice of Transnational Contracts, 1988, p. 72; Ebke, supra note 2, at pp. 258 and 312. 9 See, generally, Carreau, Souveraineté et coopération monétaire international, 1970. For an early account, see Halasi, International Monetary Cooperation, 9 Social Research 183
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Properly construed, article VIII, section 2(b) of the IMF Articles of Agreement “would cause effects similar to a standstill and it could even be used as a basis to defend a consensual reorganisation agreement against dissenting creditors” in cases of sovereign default.10 a) Institutional Level The first sentence of Article VIII, section 2(b) of the IMF Articles of Agreement deals with the question of whether and, if so, to what extent a Member State of the IMF is to give effect to exchange control regulations maintained or imposed by other Member States. The provision is applicable not only to disputes between states or states and private parties but also to controversies between private parties whose legal relationship is affected by exchange control regulations imposed by an IMF Member State.11 “By accepting the Fund Agreement”, the IMF observed as early as 1949, “members have undertaken to make [article VIII, section 2(b) of the IMF Articles of Agreement] effectively part of their national law.”12 Despite their general acceptance of the need for international monetary cooperation and their general support of the Fund’s macro objectives, the Member States of the IMF are apt to be deflected by national interests. The events preceding and immediately following the “closing of the gold window” (i. e., the unilateral termination of the convertibility of U.S. dollars to gold) in 197113 and the collapse of the par-value (fixed exchange rates) system in 197314 are classic examples in support of this proposition. The deflection is not, however, confined to the institutional level of international monetary cooperation. (1942); de Kock, World Monetary Policy After the Present War, 9 South African J. Econ. 113 (1941). 10 Schier, Towards a Reorganisation System for Sovereign Debt. An International Law Perspective, 2007, p. 250. 11 Ebke, State Debt Crisis, Private Creditors, and the IMF Articles of Agreement, in: Hestermeyer/König/Matz-Lück/Röben/Seibert-Fohr/Stoll/Vöneky (eds.), Coexistence, Cooperation and Solidarity – Liber Amicorum Rüdiger Wolfrum, 2012, pp. 17, 19; Litvack, Losing Control: IMF Article VIII(2)(b) May Nullify the Enforceability of Financing Contracts When Spiraling Oil Prices Prompt the Use of Exchange Controls, 13 Fordham J. Corp. & Fin. L. 805, 807 (2008). 12 See Decision No. 446-4 of June 10, 1949, reprinted in: IMF, Selected Decisions and Selected Documents of the International Monetary Fund, 36th issue, 2012, pp. 583, 583 – 584, and reproduced in 14 Fed. Reg. 5208 (August 19, 1949). For the text of this Decision, see infra notes 77 and 112. 13 See, e. g., Gold, Strengthening the Soft International Law of Exchange Arrangements, 77 Am. J. Int’l L. 443, 447 – 450 (1983); see also Simmons, The Legalization of International Monetary Affairs, 54 Int’l Org. 573, 579 (2000) (“The most spectacular instance of noncompliance”). 14 See Gold, Unauthorized Changes of Par Value and Fluctuating Exchange Rates in the Bretton Woods System, 65 Am. J. Int’l L. 113 (1971); see also, generally, Gold, Exchange Rates in International Law and Organization, 1988.
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b) Transactional Level At the transactional level, too, courts of IMF Member States occasionally have not been sympathetic to the macro objectives of the IMF when, at least for a certain period of time, they should have taken precedence over micro interests of the forum. While they seem to realize that the objective of international monetary cooperation may require, at least temporarily,15 the recognition and enforcement of exchange control regulations that have been approved by the Fund16 or are authorized under the IMF Articles of Agreement17 “to shorten the duration and lessen the degree of disequilibrium in the international balances of payments of members”,18 national selfishness and special interests such as the desire to strengthen their domestic financial markets or to protect local creditors (e. g., banks) and investors against exchange controls of other IMF Member States, can become so dominant as to lead courts of the IMF Member States to take a rather restrictive view with respect to the interpretation of the various elements19 of article VIII, section 2(b) of the IMF Articles of Agreement.20 15 Cf. Article I(vi) of the IMF Articles of Agreement. However, article VIII, section 2(a) of the IMF Articles of Agreement provides that “[s]ubject to the provisions of Article VII, Section 3(b) [see infra note 16] and Article XIV, Section 2 [see infra note 17], no member shall, without the approval of the Fund, impose restrictions on the making of payments and transfers for current international transactions”. 16 Article VII, section 3(b) of the IMF Articles of Agreement allows an IMF Member State “temporarily to impose limitations on the freedom of exchange operations”. Yet, this authorization applies only under limited circumstances and, most importantly, only in cases in which the currency has been declared “scarce” by the Fund (cf. article VII, section 3[a] of the Fund Agreement). A formal declaration under article VII, section 3(a) of the Fund Agreement operates as an authorization to any Member State, after consultation with the Fund, temporarily to impose limitations on the freedom of exchange in the scarce currency. Subject to the provisions of article IV of the Fund Agreement, the IMF Member State has complete jurisdiction in determining the nature of such limitations, but the limitations shall be no more restrictive than is necessary to limit the demand for the scarce currency to the supply held by, or accruing to, the Member State in question. And the limitations need to be relaxed and removed as rapidly as conditions permit (see article VII, section 3[b] of the IMF Articles of Agreement). The authorization under article VII, section 3(b) of the IMF Articles of Agreement expires whenever the Fund formally declares the currency in question “to be no longer scarce” (see article VII, section 3[c] of the IMF Articles of Agreement). 17 Article XIV, Section 2 of the IMF Articles of Agreement deals with the special case in which a (new) IMF Member State has notified the Fund that it is not yet prepared to accept the obligations under Article VIII, Section 2, 3 and 4 of the Fund Agreement to liberalize payments and transfers for current international transactions and that it intends, for a transitional period of time, to maintain and adapt to changing circumstances the restrictions on payments and transfers for current international transactions that were in effect on the date on which it became a member of the IMF. 18 Article I(vi) of the IMF Articles of Agreement. 19 The key elements are “exchange contracts”, “which involve the currency of any member”, “exchange control regulations”, “maintained or imposed consistently with this Agreement”, “which are contrary to” and “unenforceable”. For the most recent comparative analysis of these elements, see Ebke, Commentary, in: J. von Staudinger, Bürgerliches Gesetzbuch:
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2. Article VIII, Section 2(b) of the IMF Articles of Agreement in Practice a) “Exchange Contracts” and “Capital Transfers” The highly controversial debate over the “narrow” versus the “broad” interpretation of the term “exchange contracts”, a key element of article VIII, section 2(b) of the IMF Articles of Agreement, vividly illustrates this point.21 The discussion of the equally contentious issue whether article VIII, section 2(b) of the Fund Agreement applies to international capital transfers or only to payments for current international transactions (cf. article XXX[d] of the Fund Agreement),22 too, shows that a growing Internationales Vertragsrecht, vol. 1 (15th ed., 2016), Anhang zu Art. 9 Rom-I VO at paras. 22 – 80. 20 See Gold, Article VIII, Section 2(b) of the IMF Articles of Agreement in Its International Setting, in: Horn (ed.), The Law of International Trade Finance, 1989, pp. 65, 66 – 67: “The balancing of international and national interests and of public and private interests is not simple. It can be argued that as it is a purpose of the IMF ‘to shorten the duration and lessen the degree of disequilibrium’ in a member’s balance of payments, all interests are served by giving a member in balance of payments disequilibrium time to solve its difficulty. Nevertheless, not everyone deduces from this argument that it is desirable to contribute to the process by a broad application of Article VIII, Section 2(b) whenever the opportunity occurs, particularly if private interests would suffer for the time being.” 21 For a thorough historical and comparative analysis of the debate concerning the “narrow” versus the “broad” interpretation of the term “exchange contracts”, see, e. g., Ebke, supra note 2, at pp. 203 – 246; Ziegler, Russische Kapitalverkehrs- und Kulturgüterschutzbestimmungen im deutschen Internationalen Privatrecht, 2006, pp. 179 – 190; Baker, Enforcement of Contracts Violating Foreign Exchange Control Laws, 3 Int’l Trade L.J. 247, 252 – 262 (1977). For the current state of the law on the meaning of the term “exchange contracts”, see Ebke, supra note 19, Anh zu Art. 9 Rom-I VO at paras. 23 – 32. For a summary of the different views in English, see, e. g., Booysen, supra note 7, at pp. 354 – 356 (arguing himself in favor of a narrow interpretation). 22 For details of this discussion, see, e. g., Ebke, supra note 19, Anh zu Art. 9 Rom-I VO at paras. 4, 26, 31 and 43; see also Ebke, Article VIII, Section 2(b) of the IMF Articles of Agreement and International Capital Transfers: Perspectives from the German Supreme Court, 28 Int’l Law. 761 (1994); Müller, Staatsbankrott und private Gläubiger, 2015, pp. 85 – 92 and 97 – 99. It is difficult to draw an exact line between payments for current transactions and capital transfers (cf. article XXX[d] of the Fund Agreement). For details, see Ebke, supra note 11, at pp. 28 – 30; Evans, Current and Capital Transactions: How the Fund Defines Them, 5 Fin. & Dev. 30 (1968); Gold, supra note 20, at p. 97. The distinction between capital transfers and payments for current transactions was a central issue, for example, in Hood Corp. v. The Islamic Republic of Iran, Bank Markazi Iran and Bank Mellat, Case No. 100, Case No. 142-100-3, signed July 13, 1984, 7 Iran-U.S. Claims Tribunal Reports 36, 45 – 46 (1984) [Iran-U.S. Cl. Trib.]. A related and equally controversial issue is whether payments due as interest on loans are covered by article VIII, section 2(b) of the IMF Articles of Agreement. This issue came up, for example, in Germany in connection with the recent debt crisis of Argentina. See Ebke, supra note 19, Anh zu Art. 9 Rom-I VO at paras. 31 and 43a. In light of article XXX(d)(2) of the IMF Articles of Agreement, interest payments would seem to be within the ambit of article VIII, section 2(b) of the Fund Agreement, regardless of whether the interest is due on “normal short-term banking and credit facilities” (cf. article XXX[d][1] of the Fund Agreement) or economicly substantial, long-term loans. See Ebke, supra note 11, at p. 29; contra District Court (Landgericht) of Frankfurt am Main, judgment of March 14, 2003,
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number of courts of capital-exporting Member States of the IMF favor a rather restrictive interpretation of article VIII, section 2(b) of the Fund Agreement in order to foster the interests of the forum as well as domestic creditors and investors.23 By construing the phrase “exchange contracts” narrowly and not applying the provision to international capital transfers (e. g., international lending transactions or issuance of sovereign bonds), English courts, like their American counterparts, have limited the scope of article VIII, section 2(b) “almost to the point at which the provision vanishes”.24 As a result, article VIII, section 2(b) of the Fund Agreement plays almost no role in alleviating the effects of the current international state debt crisis.25 57 WM 783, 785 (2003), aff’d, Court of Appeals (Oberlandesgericht) of Frankfurt am Main, judgment of June 13, 2006, 59 NJW 2931 (2006). 23 See Mann/Proctor, Mann on the Legal Aspect of Money, 6th ed., 2005, p. 423 n. 93 (“Those of a cynical mindset may feel that courts in England and in New York had good reason for adopting a narrower approach to the term. A broader approach might have provided grounds for a challenge to the validity of some of the financial contracts which are made and traded in the London and New York markets”); accord Zamora, Recognition of Foreign Exchange Controls in International Creditors’ Rights Cases: The State of the Art, 21 Int’l Law. 1055, 1065 (1987). In reviewing U.S. American court cases that have favored a narrow interpretation of the phrase “exchange contracts”, Zamora concludes that “[t]his creditororiented view may be seen to strengthen U.S. financial markets, but it does not necessarily accord with the goal of international monetary cooperation that the Fund Agreement was intended to foster.” But see also Yianni/de Vera, The Return of Capital Controls?, 73 Law & Contemp. Probs. 357, 363 (2010), arguing that “[i]n practice, the narrow construction can provide efficacy to the international financial system in those jurisdictions where it prevails.“ 24 Gold, Exchange Controls and External Indebtedness: Are the Bretton Woods Concepts Still Workable?, 7 Houston J. Int’l L. 1, 11 (1984). 25 See Müller, supra note 22, at p. 117 (“Die mittlerweile fast durchweg restriktive Interpretation der Norm führt dazu, dass Art. VIII Abschn. 2[b] IWFÜ faktisch im Recht der Staateninsolvenz keine Rolle spielt”); accord Schier, supra note 10, at p. 250 (… “it is strongly established that the use of section 2[b] as a defence in sovereign default has ceased almost completely”); Fuchs, Lateinamerikanische Devisenkontrollen in der internationalen Schuldenkrise und Art. VIII Abschn. 2 b) IWF-Abkommen, 1995, p. 215. For the significance of article VIII, section 2(b) of the Fund Agreement in connection with Argentina’s default on its external debt vis-à-vis creditors in Germany and the United States, including the NML Capital, Ltd. litigation, see, e. g., Ebke, supra note 19, Anh zu Art. 9 Rom-I VO at para. 43a – 43f; Müller, Zum Verhältnis von Staaten und ihren privaten Anleihegläubigern, 61 RIW 717, 727 (2015). For a thoughtful analysis of the implications that an application of article VIII, section 2(b) of the Fund Agreement would have had in the Allied Bank litigation, see Coyne, Allied Bank III and the United States Treatment of Foreign Exchange Controls: The Effects of the Act of State Doctrine, the Principle of Comity, and Article VIII, Section 2(b) of the International Monetary Fund Agreement, 9 B.C. Int’l & Comp. L. Rev. 409, 441 – 449 (1986). For the use of article VIII, section 2(b) of the IMF Articles of Agreement as an alternative to current IMF sovereign debt restructuring mechanisms, see Euliss, The Feasibility of the IMF Debt Restructuring Mechanism: An Alternative Statutory Approach to Mollify American Reservations, 9 Am. U. Int’l L. Rev. 107, 128 – 148 (2003). For details of the NML Capital, Ltd. litigation, see, e. g., Halverson Cross, The Extraterritorial Reach of Sovereign Debt Enforcement, 12 Berkeley Bus. L.J. 111 (2015); Note, NML Capital, Ltd. v. Republic of Argentina and the Changing Roles of the Pari Passu and Collective Action Clauses in Sovereign Debt Agreements, 53 Colum. J. Transnat’l L. 396 (2015).
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As a further consequence, the impact of exchange control regulations approved by the Fund or authorized under the IMF Articles of Agreement to assist IMF Members with balance of payments difficulties is unevenly distributed among IMF Members.26 b) “Shall be unenforceable” The phrase “shall be unenforceable” is yet another example of a key element of article VIII, section 2(b) of the IMF Articles of Agreement the meaning of which is so obscure (especially for lawyers trained in the civil law tradition)27 that the Fund, Belgium, France and Switzerland could not even agree on a mutually acceptable translation of the term ”unenforceable“ into French.28 The term “unenforceable” appears to be rooted in the Roman and common law notions of action.29 Yet, as Krispis has pointed out correctly, the “fact that, linguistically, the term … happens to coincide with a principle of the Anglo-Saxon system is not, of itself, a reason to accept the proposition that it bears the same meaning as the similar-sounding Anglo-Saxon term. Nor is such a reason constituted by the fact that Article VIII resulted from the initiative at Bretton Woods of the U.S. and British representatives.”30 While the need to transpose the term “unenforceable” into Member State law, regardless of common or civil law, to give legal effect to article VIII, section 2(b) of the Fund Agreement is generally recognized,31 the actual transposition and the ensuing legal effects vary widely from one legal system to another.32 As a result, IMF Member State courts disagree on central issues such as the validity of an exchange contract that violates foreign exchange control regulations of an IMF Member State, the burden of proof, and the retroactive applicability of article VIII, section 2(b) of the Fund Agreement to exchange contracts which when entered into did not violate exchange control regulations of an IMF Member State but did so at the time of performance or 26
See Gold, The Fund Agreement in the Courts, vol. IV, 1989, p. 30. See Folsom/Gordon, International Business Transactions, vol. 2, 1995, p. 209 n. 2 (“This word may seem meaningful to a common law trained lawyer, but it has no clear meaning in civil law tradition nations”). 28 See Ebke, supra note 19, Anh zu Art. 9 Rom-I VO at para. 9 (“n’auront pas force obligatoire”, “ne seront pas exécutoires”, “ne sont pas exécutoires”). 29 Ebke, Die Rechtsprechung zur “Unklagbarkeit” gemäß Art. VIII Abschn. 2(b) Satz 1 IWF-Übereinkommen im Zeichen des Wandels, 47 WM 1169, 1170 (1993). 30 Krispis, Money in Private International Law, 120 RdC 191, 299 (1967-I). Contra van Campenhout, Note: Perutz v. Bohemian Discount, 2 Am. J. Comp. L. 389, 391 (1953) („… basically the same concept as that of unenforceability in Anglo-American law“). 31 See, e. g., Court of Appeals (Oberlandesgericht) of Frankfurt am Main, judgment of Feb. 27, 1969, IPRspr. 1971 No. 116a, pp. 358, 361 (“Übertragung und Anpassung an die innerstaatlichen Rechtsbegriffe der jeweiligen Vertragsstaaten”). See also Ebke, Das Internationale Devisenrecht im Spannungsfeld völkerrechtlicher Vorgaben, nationaler Interessen und parteiautonomer Gestaltungsfreiheit, ZVglRWiss 100 (2001) 365, 379 – 380. 32 See, e. g., Ebke, supra note 7, 23 Int’l Law. 677, 700 – 702 (1989); Ebke, supra note 19, Anh zu Art. 9 Rom-I VO at paras. 48 – 80; cf. Booysen, supra note 7, at pp. 361 – 364. 27
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the last hearing in a law suit arising out of or in connection with the exchange contract, or vice versa.33 c) “Exchange Control Regulations” In practice, difficult questions of interpretation have also arisen in connection with the construction of other elements of article VIII, section 2(b) of the Fund Agreement, such as the phrase “exchange control regulations”.34 The phrase is not defined in the IMF Articles of Agreement even though it is of utmost importance for the determination of the scope of article VIII, section 2(b) of the IMF Articles of Agreement. Does the phrase “exchange control regulations”, François Gianviti, a former General Counsel and Director of the Legal Department of the IMF (1986 – 2004), has asked, “include only restrictions on current payments referred to in Article VIII, Section 2(a), which are subject to approval by the Fund? Does it also include restrictions maintained under Article XIV on current payment, exchange measures that are not restrictions, and even restrictions on capital transfers maintained under Article VI, Section 3?”35 Case law, though plentiful, does not provide clear guidance. 33 See, e. g., Ebke, supra note 19, Anh zu Art. 9 Rom-I VO at paras. 52 – 62; Booysen, supra note 7, at pp. 361 – 364. 34 Exchange controls are typically imposed by a country’s central bank or finance ministry and are administered by authorized financial institutions. Countries principally use exchange controls to protect their balance of payments position. See Leckow/Rendak/Strauss, Currency Controls, in: Max Planck Encyclopedia of Public International Law, 2014 (online edition), at para. 2: “While their precise scope varies from country to country, currency controls generally govern: [i] the making of payments of currency between a country’s residents and nonresidents, and the transfer abroad of foreign currency by residents and non-residents; [ii] the purchase, holding or use of foreign currency, gold, and certain other assets denominated in foreign currency [e. g., securities] within the country’s territory and by residents abroad; and [iii] the holding and transfer of domestic currency by non-residents.”); see also Yianni/de Vera, supra note 23, 73 Law & Contemp. Probs. 357, 358 (2010) (“Exchange controls are a type of capital control that regulates the way the domestic currency relates to international currency markets. These may include prohibitions, restrictions [or limits] on the ability to exchange domestic currency for foreign currency, or multiple currency practices in which differing exchange rates are used for different purposes. Repatriation requirements, under which foreign exchange earned through the export of goods or services need to be sold to the home-country central bank, are also a common feature of exchange-control regimes.”). 35 Gianviti, The Fund Agreement in the Courts, in: Effros (ed.), Current Legal Issues Affecting Central Banks, vol. 1, 1992, pp. 1, 11. The term “exchange control regulations” in article VIII section 2(b) of the IMF Articles of Agreement does not have the same meaning as the term “exchange restrictions” in Article VIII, Section 2(a) of the Fund Agreement but is much broader than “exchange restrictions”. As François Gianviti has pointed out, a restriction within the meaning of Article VIII, Section 2(a) of the Fund Agreement “signifie qu’il doit y avoir une interdiction, un refus d’autorisation (même partiel ou conditionnel), des frais anormaux ou un retard anormal de la part de l’administration.” See Gianviti, Réflexions sur l’article VIII, section 2 b) des Statuts du Fonds monétaire international, 62 Rev. crit. d. i. p. 629, 636 – 637 (1973) (in English, the statement reads as follows: “… signifies that there must be a prohibition, a refusal of approval [whether partial or conditional], unusual costs or unusual delay on the part of the administration”). The Fund defines “exchange restrictions” for pur-
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Thus, for example, a German appellate court had to decide whether a Brazilian law according to which it was illegal for private parties to agree in a contract to be performed in Brazil that the currency of payment be a currency other than the official currency of Brazil, was an exchange control regulation within the meaning of article VIII, section 2(b) of the Fund Agreement.36 In another case, the District Court (Landgericht) of Hamburg had to decide whether the trustee in bankruptcy of a German limited liability company (GmbH) could enforce, on behalf of the bankrupt company, a claim for money against the Brazilian shareholders that was based upon an illegal repayment of a loan to the shareholders, even though the transfer of the money in dispute had not been approved by the Brazilian authorities.37 The Court of Appeals (Oberlandesgericht) of Düsseldorf was asked to determine whether Egyptian restrictions on the transfer abroad by non-residents of funds earned in Egypt were exchange control regulations within the meaning of article VIII, section 2(b) of the Fund Agreement.38 In a more recent case, a Dutch court of first instance had to tackle the issue whether a provision of Russia’s Federal Law No. 173-FZ “On Currency Regulation and Currency Control” which required that the export from the Russian Federation by residents and non-residents of, inter alia, Russian or foreign currency, travellers’ cheques, promissory notes and certain other negotiable instruments be declared to the customs authority by submitting a written customs declaration was an “exchange control regulation” within the meaning of article VIII, section 2(b) of the IMF Articles of Agreement.39 poses of its jurisdiction in a limited fashion: “The guiding principle in ascertaining whether a measure is a restriction on payments and transfers for current transactions under Article VIII, Section 2 is whether it involves a direct governmental limitation on the availability or use of exchange as such.” See Decision No. 1034-(60/27) of June 1, 1960, at para. 1, reprinted in: IMF, Selected Decisions and Selected Documents of the International Monetary Fund, 36th issue, 2012, pp. 590, 591. For details, see, e. g., Ebke, supra note 2, at pp. 252 – 253. 36 Court of Appeals (Oberlandesgericht) of Karlsruhe, judgment of Dec. 15, 1965, 20 WM 1312, 1314 (1966). For details of this decision, see infra note 243. 37 District Court (Landgericht) of Hamburg, judgment of July 26, 1990, IPRspr. 1990 No. 159, pp. 317, 320. 38 Court of Appeals (Oberlandesgericht) of Düsseldorf, judgment of Nov. 7, 1991, OLGR Düsseldorf 1992, 37, 38; Court of Appeals (Oberlandesgericht) of Düsseldorf, judgment of Sept. 28, 1989, 35 RIW 987, 987 – 988 (1989). 39 See District Court (Rechtbank) of Amsterdam, Private Law Division (Afdeling privaatrecht), judgment of May 29, 2013 – Case no. 461863/HA ZA 08/1463. For details of this case, see infra notes 170 and 222. The European Union, too, has adopted “cash control regulations” that establish a uniform EU approach towards cash controls based on a mandatory declaration system for amounts of cash entering or leaving the EU with a value of 10.000 E or more. See Article 2(2) of the Regulation (EC) No. 1889/2005 of the European Parliament and of the Council of 26 October 2005 on controls of cash entering or leaving the Community, O.J. EU L 309/9, Nov. 25, 2005. As early as 1995, the European Court of Justice recognized an EU Member State’s right to adopt a system of declarations “in order to uphold public policy, effective supervision to prevent infringements of national laws and regulations”; provided, the system is such that it indicates “the nature of the planned operation and the identity of the declarant, which would require the competent authorities to proceed with a rapid examination of the declaration and enable them, if necessary, to carry out in due time the investigations
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Difficult issues of interpretation have also arisen in connection with restrictions on the payment for current international transactions which were introduced by an IMF Member State as part of a trade embargo against another IMF Member State,40 asset freeze orders,41 payment moratoria,42 cours forcé legislation43 and, more recently, regulations that have been introduced to fight against money laundering and terrorism financing.44 found to be necessary to determine whether capital was being unlawfully transferred and to impose the requisite penalties if national legislation was being contravened.” See European Court of Justice, judgment of Dec. 14, 1995, Case C-163/94 – Sanz de Lera, ECJ Rep. 1995 I4821. 40 See, e. g., Booysen, supra note 7, at pp. 353 – 354, stating that “[r]estrictions on the payment of international current transactions which a state has introduced as a part of a trade embargo against another state should, however, not be given effect via the IMF agreement”. Cf. Ebke, supra note 19, Anh zu Art. 9 Rom-I VO at para. 42. 41 See, e. g., Corten/Daems/Robert, Les Questions Monétaires devant le Tribunal des Différends Irano-Américains, 33 Revue belge de droit international 142 (1998); Edwards, Extraterritorial Application of the U.S. Iranian Assets Control Regulations, 75 Am. J. Int’l L. 870 (1981); Simon, The Iranian Assets Control Regulations and the International Monetary Fund Agreement: Are the Regulations “Exchange Control Regulations”?, 4 B.C. Int’l & Comp. L. Rev. 203, 207 – 213 (1981); Rutzke, The Libyan Asset Freeze and Its Application to Foreign Government Deposits in Overseas Branches of United States Banks: Libyan Arab Foreign Bank v. Bankers Trust Co., 3 Am. U. J. Int’l L. & Pol’y 241 (1988). 42 Müller, supra note 22, at pp. 99 – 101 (with further references). For the view of the IMF Legal Department, see Rogoff/Zettelmeyer, Bankruptcy Procedures for Sovereigns: A History of Ideas, 1976 – 2001, p. 13 n. 21 (IMF Working Paper, 2002). 43 See, e. g., Ebke, supra note 19, Anh zu Art. 9 Rom-I VO at para. 42. See also de Sayve v. de la Valdene, 124 N.Y.S.2d 143 (Sup.Ct. N.Y. 1953). 44 See Ebke, supra note 19, Anh zu Art. 9 Rom-I VO at para. 42 (stating that regulations that have been introduced to fight against terrorism financing and money laundering may qualify as exchange control regulations within the meaning of article VIII, section 2[b] of the IMF Articles of Agreement); see also Viterbo, International Economic Law and Monetary Measures, 2012, p. 177; Ziegler, supra note 21, at pp. 198 – 199 and 257 – 260. As was pointed out by the IMF in its Factsheet of September 30, 2013, entitled “The IMF and the Fight against Money Laundering and Financing of Terrorism” (see http://www.imf.org/external/np/exr/facts/ aml.htm), the Fund “is especially concerned about the possible consequences money laundering, terrorist financing, and related governance issues have on the integrity and stability of the financial sector and the broader economy. These activities can undermine the integrity and stability of financial institutions and systems, discourage foreign investment, and distort international capital flows. They may have negative consequences for a country’s financial stability and macroeconomic performance, resulting in welfare losses, draining resources from more productive economic activities, and even have destabilizing spillover effects on the economies of other countries. In an increasingly interconnected world, the negative effects of these activities are global, and their impact on the financial integrity and stability of countries is widely recognized. Money launderers exploit both the complexity inherent in the global financial system as well as differences between national anti-money laundering laws and systems, and they are especially attracted to jurisdictions with weak or ineffective controls where they can move their funds more easily without detection. Moreover, problems in one country can quickly spread to other countries in the region or in other parts of the world.” See http://www.imf.org/external/np/exr/facts/aml.htm (emphasis added). As a result, the Fund has increased its efforts to shape international policies against money laundering and to combat
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d) “Maintained or Imposed Consistently” Problems of interpretation of a different kind can arise under article VIII, section 2 (b) of the Fund Agreement if a court needs to decide whether pertinent exchange control regulations of an IMF Member State are “maintained or imposed consistently” with the IMFArticles of Agreement. The consistency of an exchange control measure of an IMF Member State with the IMF Articles of Agreement is often the most difficult question in litigation involving foreign exchange controls.45 In particular, it is difficult for a court to determine whether certain exchange controls were approved by the IMF under article VIII, sections 2(a), 3 and 4 of the Fund Agreement. It is even more difficult, if not impossible, for a court to decide whether restrictions on payments and transfers for current international transactions that were in effect on the date on which the country became a Member of the IMF are “maintained” or “adopted to changing circumstances” within the meaning of article XIV, section 2 of the Fund Agreement.46 Thus, for example, in Braka v. Bancomer, S.A.47 and Callejo v. Bancomer, S.A.,48 one of the central issues was whether the decree of the Mexican government prohibiting use of United States dollars as legal tender to repay the deposits and any interest due on certificates of deposit issued by Mexican banks was consistent with the IMF Articles of Agreement. Consistency cannot be ascertained easily. Answers certainly cannot be deduced from the Fund Agreement by interpretation alone.49 And they cannot be derived from a perusal of the Fund’s publications (e. g., the IMF’s Annual Report on Exchange Arrangements and Exchange Restrictions50) or IMF Country Reports sumthe financing of terrorism and other illegal activities (see http://www.imf.org/external/np/exr/ facts/aml.htm). 45 See, e. g., Lowenfeld, International Economic Law, 2nd ed., 2008, p. 810. 46 Ebke, supra note 19, Anh zu Art. 9 Rom-I VO at para. 44. Cf. § 822 comment c of the American Law Institute’s Restatement (Third) of the Foreign Relations Law of the United States (1987). 47 Braka v. Bancomer, S.A., 589 F.Supp. 1465 (S.D.N.Y. 1984), aff’d, 762 F.2d 222 (2d Cir. 1985). See also infra notes 239 – 242. 48 Callejo v. Bancomer, S.A., 764 F.2d 1101 (5th Cir. 1985). See also infra notes 224 – 237. 49 See § 822 comment c of the American Law Institute’s Restatement (Third) of the Foreign Relations Law of the United States (1987) (“… consistency of a particular exchange restriction with the Articles of Agreement often cannot be determinined simply by reference to the Articles …”). But see Wilson, Smithett & Cope Ltd. v. Terruzzi, [1976] 1 Q.B. 683 (C.A.), where the Court of Appeal treated the question whether certain Italian exchange control regulations were “maintained or imposed consistently” with the IMF Articles of Agreement as if the court could resolve this question by interpretation. For critical comments on this decision, see Gold, “Exchange Contracts”, Exchange Control, and the IMF Articles of Agreement: Some Animadversions on Wilson, Smithett & Cope Ltd. v. Terruzzi, 33 ICLQ 777 (1984). 50 See Gold, Interpretation by the International Monetary Fund of Its Articles of Agreement – II, 16 ICLQ 289, 315 (1967); accord Ebke, supra note 2, at pp. 268 – 269; Lowenfeld, supra note 45, at p. 810, stating that “the fact that a regulation is described in the Report does not mean that it is maintained or imposed consistently with the Fund Agreement”; Mouri, Treatment of the Rules of the International Law of Money by the Iran-US Claims Tribunal, 3 Asian
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marizing the results of the Fund’s surveillance in “Article IV consultations”51 either because the Fund does not publicly announce whether a given measure of exchange control has been either approved or not approved. A so-called “pragmatic approach” as to what constitutes “approval” (cf. article VIII, section 2[a] of the IMF Articles of Agreement) by the Fund of Member State exchange controls is, contrary to the view expressed by some courts and commentators,52 not particularly helpful either as one cannot draw inferences from, for instance, court rulings on exchange controls of other IMF Member States, the Fund’s “general” practice as to exchange control regulations or the fact that the Fund has granted financial assistance to an IMF Member State that has imposed the exchange control regulations in question because “the Fund has permitted the use of its resources by a member without approving the member’s restrictions.”53 The use of the Fund’s resources in such circumstances, Gold notes, “shows the fallacy of the presumption sometimes relied on by courts that restrictions are maintained or imposed consistently with the [IMF Articles of Agreement] because a member was permitted to use the Fund’s resources.”54 Similarly, the Fund’s silence as to certain exchange control regulations of a Member does not amount to “tacit” or
Yb. Int’l L. 71, 92 (1993), emphasizing “that publication of exchange regulations in the IMF’s Annual Reports does not constitute or indicate the Fund’s approval of such regulations, if they are subject to Article VIII”; § 822 comment c of the American Law Institute’s Restatement (Third) of the Foreign Relations Law of the United States (1987). 51 See Ziegler, supra note 21, at p. 203. 52 See Kolo, Transfer of Funds: The Interaction Between the IMF Articles of Agreement and Modern Investment Treaties – A Comparative Law Perspective, in: Schill (ed.), International Investment Law and Comparative Public Law, 2010, pp. 345, 371 – 372 (“… some courts have taken a pragmatic approach on what amounts to ‘approval’ by holding that ‘express approval by the Fund of the regulations was not required to establish that the regulations were consistent with the Fund Agreement’ [citations omitted]. Thus, they have held that it would be sufficient if the regulations’ existence and nature had been approved by the Fund, and that the court may infer authorization of a general character from the fact that similar exchange control regulations existed in many other countries [citations ommitted]. Similarly, the consistency of the restrictions could be presumed where the Fund had not expressed any concerns or made representations to the Member State concerning the maintenance of or amendments to the said regulations [citations ommitted], or where the Fund has provided financial help to the Member State even though it did not explicitly approve of the regulations”). Contra Böhlhoff/Baumanns, Extraterritorial Recognition of Exchange Control Regulations – A German Viewpoint, in: Horn (ed.), The Law of International Trade Finance, 1989, pp. 107, 119 (“Obviously, it is considerably more difficult to examine now whether exchange restrictions comply with the Bretton Woods Agreement”). 53 Gold, supra note 26, at p. 31. 54 Gold, supra note 26, at p. 31. For further details of the proposition that, as a general rule, there is no presumption (Vermutung) that pertinent exchange control regulations of an IMF Member State are consistent with the IMF Articles of Agreement, see Ebke, supra note 19, Anh zu Art. 9 Rom-I VO at para. 44 (with a list of references to the different views expressed by courts and commentators); accord Müller, supra note 22, at p. 71; Commercial Tribunal of Courtrai, Belgium, Decision of May 9, 1955, in re Emek v. Bossers & Mouthaan, 22 ILR 722, 724 (1955); but see also Kolo, supra note 52, at p. 372.
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“de facto” approval by the Fund of exchange controls in force at the time.55 Accordingly, the question of consistency with the IMF Articles of Agreement must be decided in relation to each exchange control measure. 3. Disparity of Interpretations In theory, it is clear, of course, that courts need to construe the elements of article VIII, section 2(b) of the IMF Articles of Agreement in accordance with the generally accepted principles of interpretation of international treaties (cf. Articles 31 – 33 of the Vienna Convention on the Law of Treaties).56 According to these principles, provisions of international treaties are to be interpreted on the basis of the wording of the respective provision, its historical background, the systematic context and in light of the purpose(s) of the international treaty.57 In their endeavor to interpret the elements of article VIII, section 2(b) of the Fund Agreement, courts of the IMF Member States are required to construe the provision “autonomously” (autonome Auslegung), i. e., separate from the concepts, institutions and traditions of their own national legal system and without regard to translations of the terms into their national legal language, but solely on the basis of the authentic and authoritative English text and by means of the comparative law method, taking into consideration the objectives and the economic rationale58 of the IMF Articles of Agreement in general and the purposes and objectives of Article VIII, Section 2(b) of the IMF Agreement in particular.59 55 But see Zamora, Peso-Dollar Economics and the Imposition of Foreign Exchange Controls in Mexico, 32 Am. J. Comp. L. 99, 147 (1984). 56 1155 U.N.T.S. 331 (1980). The Convention entered into force on January 27, 1980 in accordance with its Article 84(1). 57 Accord Steinhauer, Die Auslegung, Kontrolle und Durchsetzung mitgliedstaatlicher Pflichten im Recht des Internationalen Währungsfonds und der Europäischen Gemeinschaft, 1997, p. 37; Seuß, Extraterritoriale Geltung von Devisenkontrollen. Art. VIII 2 b) des Übereinkommens über den Internationalen Währungsfonds, 1991, p. 35. 58 The term was coined by Sir Joseph Gold. See, e. g., Gold, supra note 20, at p. 77. For the relevance of taking into account the economic rationale of article VIII, section 2(b) of the IMF Articles of Agreement, see, e. g., Gold, The Fund Agreement in the Courts, vol. II, 1982, p. 3, calling it “a cardinal rule of interpretation that the solution of a legal problem involving the [IMF Articles of Agreement] should make maximum economic sense”; see also Gold, IMF: Some Effects on Private Parties and Private Transactions, in: Norton (ed.), Prospects for International Lending and Reschedulings, 1988, pp. 13-1, 13-68 (“Whenever a court is called on to interpret some aspect of Article VIII, Section 2[b], the court should be aware that the provision appears in an economic treaty. Interpretations, therefore, should make economic sense in relation to the Articles.”). See also Court of Appeals (Kammergericht) of Berlin, judgment of July 8, 1974, IPRspr. 1974 No. 138, pp. 364, 366 (holding that only a broad interpretation of Article VIII, Section 2(b) of the IMF Agreement “takes adequate account of the economic rationale of the Fund Agreement”). For the different views as to what is the economic rationale of article VIII, section 2 (b) of the IMF Articles of Agreement, see Gold, The Restatement of the Foreign Relations Law of the United States (Third) and Monetary Law, in: Ebke/Norton/Balch (eds.), Commentaries on the Restatement (Third) of the Foreign Relations Law of the United States, 1992, pp. 243, 257 – 260.
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In practice, the situation is more complex, however, because article VIII, section 2 (b) of the IMFArticles of Agreement itself does not facilitate the desirable movement toward international consistency of interpretation of the various elements of the provision on the basis of the IMF’s macro objectives.60 The language of the IMF Articles of Agreement in general and article VIII, section 2(b) in particular have contributed much to the disparity of interpretations.61 The search by the courts of the IMF Member States of the “true” meaning of the elements of article VIII, section 2(b) of the IMF Articles of Agreement is complicated further by the fact that English is the only authentic and authoritative language of the Fund Agreement.62 Accordingly, a comparison of various language versions of the IMF Articles of Agreement, which is a commonly accepted method of interpretation of multinational treaties, is not available.63 Numerous textual and contextual difficulties inherent in article VIII, section 2 (b) of the Fund Agreement add further complexity and impede a proper, globally acceptable construction of the provision.64 In addition, the meaning of the various elements of article VIII, section 2(b) of the IMF Articles of Agreement does not become clearer in light of the history of the provision because the historical background of article VIII, section 2(b) of the Fund Agreement is not well documented.65 59
See Ebke, supra note 19, Anh zu Art. 9 Rom-I VO at para. 20 (with numerous references); accord Mann/Proctor, supra note 23, at p. 417, observing that “[t]he language should not … be approached as if it were found in a piece of domestic legislation. Rather, the provision must be construed as a part of a multilateral treaty and thus interpreted in accordance with principles of interpretation developed by public international law”; see also Booysen, supra note 7, at p. 352, stating that the view that “the provision must be interpreted independently and in its international setting [citations omitted], is acceptable from an international law perspective. However, decisions of domestic courts play an important role as part of relevant state practice in the international understanding of the provision.” For details of the significance of pertinent state practice, see infra note 232. 60 See Ebke, Sir Joseph Gold and the International Law of Exchange Controls, 35 Int’l Law. 1475, 1486 – 1487 (2001). 61 Ebke, supra note 7, 23 Int’l Law. 677, 698 – 703 (1989); Ebke, supra note 31, ZVglRWiss 100 (2001) 365, 379 – 380. 62 Ebke, supra note 19, Anh zu Art. 9 Rom-I VO at para. 7. 63 Cf. Ebke, supra note 7, 23 Int’l Law. 677, 699 (1989). 64 See Ebke, supra note 7, 23 Int’l Law. 677, 698 – 703 (1989); Ebke, Staatsinsolvenz, private Gläubiger und Internationales Privatrecht, in: Beckmann/Mansel/Matusche-Beckmann (eds.), Weitsicht in Versicherung und Wirtschaft – Gedächtnisschrift für Ulrich Hübner, 2012, pp. 653, 658 – 667. 65 The travaux préparatoires of the Bretton Woods Conference of July 1944, at which agreement was reached on the IMF Articles of Agreement, were published in 1948 and are fragmentary. See Proceedings and Documents of the United Nations Monetary and Financial Conference, Bretton Woods, New Hampshire, 1 – 22 July 1944, vol. I and II (Department of State Publication 2866), 1948. The documents of the Atlantic City Conference of June 1944, attended by the representatives of some countries to prepare for the Bretton Woods Conference, have not been published. Volume XXVI of The Collected Writings of John Maynard Keynes, the leader of the United Kingdom delegation at Bretton Woods, have added some useful material on numerous aspects of the original Articles of Agreement, including article VIII, section 2(b). See Moggridge (ed.), The Collected Writings of John Maynard Keynes,
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4. The IMF’s Power of Interpretation Against this backdrop, one might ask whether the IMF could play a more active role in connection with the interpretation and application of article VIII, section 2(b) of the IMF Articles of Agreement. After all, article XXIX(a) of the IMF Articles of Agreement confers upon the IMF’s Executive Board the power to issue authoritative interpretations of the provisions of the IMF Articles of Agreement.66 a) Article XXIX of the IMF Articles of Agreement However, in light of the unambiguous language of the provision, article XXIX(a) of the IMF Articles of Agreement applies only to questions of interpretation of the provisions of the Fund Agreement arising between any member and the Fund or between any members of the Fund. As is well known, the Executive Board has used its interpretative power under article XXIX(a) of the Fund Agreement only rarely.67 The vol. XXVI: Activities 1941 – 1946 – Shaping the Post-War World, Bretton Woods, and Reparations, 1980. For a detailed examination of the travaux préparatoires on article VIII, section 2(b) of the IMF Articles of Agreement, see Gold, Fund Agreement II, supra note 58, at pp. 429 – 438. 66 For details, see Edwards, International Monetary Collaboration, 1985, pp. 37 – 39; Steinhauer, supra note 57, at pp. 37 – 51. For the question of whether authoritative decisions by the IMF Executive Board under article XXIX(a) of the IMF Articles of Agreement are binding upon IMF Member State courts, see, e. g., Edwards, ibid. at p. 37 (“… interpretative decisions of the IMF taken under Article XXIX are binding on national courts as well as executive and other organs of the member countries”); Foltea, International Organizations in WTO Dispute Settlement. How Much Institutional Sensitivity?, 2012, p. 146 (“… such formal decisions are generally considered binding on national courts”); but see also Steinhauer, ibid. at p. 45 (stating that the modern view is that the answer depends upon the law of each IMF Member State and that the prevailing view in most Member States today is: “persuasive rather than binding”); Gianviti, Resolution of Sovereign Liquidity Crises: Recourse to an Interpretation of Article VIII, Section 2(b) of the International Monetary Fund’s Articles, in: Effros (ed.), Current Legal Issues Affecting Central Banks, vol. 5, 1989, pp. 359, 360 (“… would not necessarily be binding on their national courts. Depending on each country’s constitutional system, some form of incorporation of the Fund’s interpretation into domestic law may be necessary. Otherwise, the interpretation would be regarded only as advisory, with no more than a persuasive effect”). Germany has not taken steps to make authoritative interpretations by the IMF Executive Board under article XXIX(a) of the Fund Agreement binding upon German courts. See Steinhauer, ibid. at p. 45. For the legal effects of authoritative interpretations of the IMF Executive Board under article XXIX(a) of the IMF Articles of Agreement on courts in the United States, see, e. g., Parker, The International Monetary Fund: Public and Private International Law Aspects, 47 N. C. L. Rev. 836, 855 – 856 (1969); cf. Litvack, supra note 11, 13 Fordham J. Corp. & Fin. L. 805, 824 (2008) (stating that an IMF Executive Board’s interpretation under article XXIX[a] of the IMF Articles of Agreement “would only command persuasive authority”). 67 See Schlemmer-Schulte, International Monetary Fund, in: Max Planck Encyclopedia of Public International Law, 2014 (online edition), at para. 23 (stating that the explicit interpretation procedure under article XXIX[a] of the IMF Articles of Agreement “has been used not more than a dozen times …”).
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promulgation of a formal authoritative decision within the meaning of article XXIX (a) of the IMF Articles of Agreement is a political step to which the Executive Board seems to resort only cautiously and only in special cases.68 Also, as Gold observed, the procedure for authoritative interpretation pursuant to article XXIX(a) of the IMF Articles of Agreement “is considered more suitable for questions that have intergovernmental impact with little or no direct impact on private parties.”69 Yet, are the interpretative powers of the Fund (through its Executive Board) under article XXIX(a) of the IMF Articles of Agreement limited to questions arising between any member and the Fund or between members of the Fund? “It seems”, Kolo observes, that “there is nothing in the text of the Fund Agreement to suggest that it was the intention of the drafters to extend such interpretative powers to cover disputes between private parties in which questions about the consistency of a Member State’s exchange restrictions were raised; otherwise they would have stated so.”70 Although, at first glance, this observation appears to be accurate, it should be noted that the Fund’s Executive Board, “on a basis other than invoking the formal interpretation powers”71 under article XXIX(a) of the Fund Agreement (e. g., on the basis of implied powers),72 has taken over 13.000 decisions interpreting the 68
See, e. g., Ebke, supra note 7, 23 Int’l Law. 677, 697 (1989); Edwards, supra note 66, at p. 38 (“In the Fund’s history only a few of the many Executive Board decisions have been characterized by the Board as formal interpretations of the Articles. In each case there was a special reason why it was thought desirable to characterize the decision as a formal binding interpretation …”); Steinhauer, supra note 57, at p. 37 (“unter Berücksichtigung der politischen Opportunität”). 69 Gold, Fund Agreement II, supra note 58, at pp. 7 – 8; see also Gold, supra note 26, at pp. 28 – 29 (stating that when problems of interpretation arise in the context of controversies between private parties, “the Executive Board has shown a strong preference for informal decisions rather than authoritative interpretations”). 70 Kolo, supra note 52, at p. 370. 71 Schlemmer-Schulte, supra note 67, at para. 23. Cf. Gold, supra note 26, at pp. 28 – 29 (distinguishing between “authoritative interpretations” and “informal decisions”); Gold, supra note 20, at p. 94 (drawing a distinction between “authoritative” and “less formal” interpretations). See also Steinhauer, supra note 57, at p. 48, who distinguishes between “official authoritative decisions” under article XXIX(a) of the IMF Articles of Agreement and “unofficial interpretations”, stating that “[z]u den inoffiziellen Auslegungsentscheidungen … diejenigen Entscheidungen des Fonds [gehören], die als Leitfaden für die Orientierung aller Mitglieder erlassen wurden und generelle Anwendung finden” (in English: “… unofficial interpretation decisions … encompass decisions of the Fund that are promulgated as guidelines for the orientation of all members and are of general application”). See also text accompanying infra note 153. 72 Cf. Amerasinghe, Principles of the Institutional Law of International Organizations, 2nd ed., 2005, p. 24. See also Sato, Evolving Constitutions of International Organizations: A Critical Analysis of the Interpretative Framework of the Constituent Instruments of International Organizations, 1996, p. 195, stating that “there is no essential difference between interpretations adopted under Article 29 and those not adopted under that provision, apart from the more formal and authoritative character of the former.” Sato then cites Gold who noted that “the adoption of interpretations outside Article [XXIX] preserves a certain informality precisely because these interpretations are not given the stamp of final authorita-
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IMF Articles of Agreement and secondary law.73 While most of the decisions relate to operational matters, some of them are intended to explain the Executive Board’s interpretation of the Articles of Agreement.74 Thus, the Executive Board could use a less formal decision to clarify the meaning and effect of the various elements of article VIII, section 2(b) of the Fund Agreement. It should be emphasized, however, that among the Executive Board’s formal authoritative decisions there is one that interprets article VIII, section 2(b) of the IMF Articles of Agreement, and other decisions have an indirect bearing on certain aspects of the provision.75 b) Decision No. 446-4 As early as 1949, the Fund’s Executive Board, under the authority of Article XVIII of the original IMF Articles of Agreement (which corresponds to article XXIX of the Fund Agreement after the Second Amendment),76 issued Decision No. 446-4 which tiveness that they would have under Article [XXIX]. The practice is thus more consistent with the spirit of consultation and collaboration which is the first declared purpose of the Fund and which is essential for its success.” 73 Schlemmer-Schulte, supra note 67, at para. 23. The IMF Executive Board publishes its most important decisions in: IMF, Selected Decisions and Selected Documents of the International Monetary Fund, which is frequently updated. 74 See Bradlow, International Law and the Operations of the International Financial Institutions, in: Bradlow/Hunter (eds.), International Financial Institutions and International Law, 2010, pp. 1, 13. 75 See Gold, supra note 20, at pp. 69 – 70 (listing Executive Board decisions having an indirect bearing on article VIII, section 2[b] of the IMF Articles of Agreement). 76 Although Decision No. 446-6 expressly states that the “Board of Executive Directors of the International Monetary Fund has interpreted, under Article XVIII [now article XXIX of the IMF Articles of Agreement], the first sentence of Article VIII, Section 2(b) …”, there is some discussion as to whether the Decision is an “authoritative interpretation” or a less formal decision. The District Court (Landgericht) of Hamburg is of the opinion that Decision No. 446-4 of June 10, 1949 is an authoritative interpretation under article XXIX(a) (ex article XVIII) of the IMF Articles of Agreement. See District Court (Landgericht) of Hamburg, judgment of July 26, 1990, IPRspr. 1990 No. 159, pp. 317, 321. Similarly, the Tribunal d’Arrondissement de Luxembourg, in its judgment of Feb. 1, 1956, Pasicrisie Luxembourgeoise 1957, 36 – 39, stated: “By virtue of the authority conferred by Article XVIII [of the original IMF Articles of Agreement, which corresponds to article XXIX of the IMF Articles of Agreement after the Second Amendment] … the Fund has interpreted the meaning and purpose of Article VIII, Section 2(b), as follows …”. Accord Gold, supra note 20, at p. 94 (stating that “[t]he first and only interpretation of [article VIII, section 2(b) of the Fund Agreement], the decision on 10 June 1949, was taken under Article XVIII of the original Articles [now article XXIX of the IMF Articles of Agreement] so as to give the interpretation maximum solemnity when cited in judicial proceedings”); Baker, supra note 21, 3 Int’l Trade L.J. 247, 248 (1977) (“… the Executive Directors of the Fund have exercised their right under Article XVIII[a] [now article XXIX[a] of the Fund Agreement] to interpret the provisions of the Fund Agreement only once with respect to Article VIII[2][b] …”); contra Müller, supra note 22, at p. 84 (“no official interpretation by the Executive Board within the meaning of article XXIX of the Fund Agreement”); see also Booysen, supra note 7, at p. 364 (noticing the absence of a “final” decision of the Board of Governors, but it should be noted that the absence of a „final“
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explains “the meaning and effect” of the first sentence of article VIII, section 2(b) of the IMF Articles of Agreement.77 Unfortunately, the Decision addresses only a few of the fundamental issues that have arisen since then under article VIII, section 2(b) of the Fund Agreement. Also, the Executive Board’s explanations are relatively broad and not very precise. That may explain why, in practice, the effect of Decision No. 446-4 has been rather limited. In the early days of the Fund, several IMF Member State courts referred to the Decision or even relied upon it in cases involving article VIII, section 2(b) of the IMF Articles of Agreement.78 Thus, for example, in its judgment of February 1, 1956, the Tribunal d’Arrondissement de Luxembourg stated: “By virtue of the authority conferred by Article XVIII [of the original IMF Articles of Agreement, which corresponds to article XXIX of the IMF Articles of Agreement after the Second Amendment] … the Fund has interpreted the meaning and purpose of Article VIII, Section 2(b), as follows …”, an interpretation which subsequently the Court took into account.79 In this case, proceedings were brought to obtain execution in decision of the Board of Governors indicates only that no IMF Member State initiated the review procedure under the first sentence of article XXIX[b] of the Fund Agreement; for further details, see text accompanying infra note 149). 77 See Decision No. 446 – 4 of June 10, 1949, reprinted in: IMF, Selected Decisions and Selected Documents of the International Monetary Fund, 36th issue, 2012, pp. 583 – 584, and reproduced in 14 Fed. Reg. 5208 (August 19, 1949). In its pertinent parts, the Decision reads as follows: “… The meaning and effect of this provision are as follows: 1. Parties entering into exchange contracts involving the currency of any member of the Fund and contrary to exchange control regulations of that member which are maintained or imposed consistently with the Fund Agreement will not receive the assistance of the judicial or administrative authorities of other members in obtaining the performance of such contracts. That is to say, the obligations of such contracts will not be implemented by the judicial or administrative authorities of member countries, for example by decreeing performance of the contracts or by awarding damages for their non-performance. 2. By accepting the Fund Agreement members have undertaken to make the principle mentioned above effectively part of their national law. This applied to all members, whether or not they have availed themselves of the transitional arrangements of Article XIV, Section 2. An obvious result of the foregoing undertaking is that if a party to an exchange contract of the kind referred to in Article VIII, Section 2(b) seeks to enforce such a contract, the tribunal of the member country before which the proceedings are brought will not, on the ground that they are contrary to the public policy (ordre public) of the forum, refuse recognition of the exchange control regulations of the other member which are maintained or imposed consistently with the Fund Agreement. It also follows that such contracts will be treated as unenforceable notwithstanding that under the private international law of the forum, the law under which the foreign exchange control regulations are maintained or imposed is not the law which governs the exchange contract or its performance. …”. For a detailed analysis of this decision, see Seidl-Hohenveldern, Probleme der Anerkennung ausländischer Devisenbewirtschaftungsmaßnahmen, 8 öZöR 82, 93 – 101 (1957). 78 See Gold, Interpretation by the Fund, 1968, pp. 31 – 42. 79 Tribunal d’Arrondissement de Luxembourg, judgment of Feb. 1, 1956, Pasicrisie Luxembourgeoise 1957, 36 – 39. See also Southwestern Shipping Corp. v. National City Bank of
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the Grand Duchy of Luxembourg of a judgment rendered by a French court, the Tribunal de première instance de Mulhouse. In the Luxembourg proceedings, the defendants argued that the Court should not decree execution of the Mulhouse judgment because the French exchange control legislation upon which it was based was contrary to the public policy (ordre public) of Luxembourg. The Luxembourg Court rejected the argument, stating that the Grand Duchy of Luxembourg, by virtue of the Law of December 24, 1945, is a member of the International Monetary Fund and, therefore, “the domestic courts are bound by the Fund Agreement and may not refuse to apply exchange control regulations of a member of the Fund which have been created or are being maintained in accordance with this Agreement, for the reason that they go against internal public policy.”80 In support of its holding, the Court cited Decision No. 446-4 of June 10, 1949 which, inter alia, provides that “the tribunal of the member country before which the proceedings are brought will not, on the ground that they are contrary to the public policy (ordre public) of the forum, refuse recognition of the exchange control regulations of the other member which are maintained or imposed consistently with the Fund Agreement.”81 In more recent years, courts have paid less attention to Decision No. 446-4, however. Thus, for example, the English Court of Appeal, in Sharif v. Azad, could have found the IMF Executive Board’s Decision useful, but did not even refer to it.82 The absence of a reference is noteworthy because the case includes the first close scrutiny of article VIII, section 2(b) of the IMF Articles of Agreement by an English court.83 Similarly, the New York Court of Appeals, in Banco do Brasil, S.A. v. A.C. Israel Commodity Co., Inc., did not ask the IMF for a ruling on the relevant Brazilian exchange controls in accordance with Decisions No. 446-4 even though the Court was dealing with novel legal issues and was likely to set an important precedent.84 It should be emphasized, however, that, as far as can be seen, no court has ever refused to take Decision No. 446-4 into account on the ground that it lacks legal authority, New York, 11 Misc.2d 397, 173 N.Y.S.2d 509 (Sup. Ct. N.Y. 1958) (the court referred to Decision No. 446-4 but did not comment on the interpretation of article VIII, section 2[b] of the IMF Articles of Agreement). 80 Tribunal d’Arrondissement de Luxembourg, judgment of Feb. 1, 1956, Pasicrisie Luxembourgeoise 1957, 36 – 39 (translation by Gold, The Fund Agreement in the Courts, 1962, p. 95). 81 See supra note 77. For possible exceptions to the general rule, see infra note 132. 82 Sharif v. Azad, [1967] 1 Q.B. 605; [1966] 3 W.L.R. 1285; [1966] 3 All E.R. 785 (C.A.). 83 Gold, Fund Agreement II, supra note 58, at p. 110, presumes that “[t]he reason for the absence of any reference to the interpretation may have been the question that would be raised of the effect of Article VIII interpretations under English law.” 84 Banco do Brasil, S.A. v. A.C. Israel Commodity Co., Inc., 12 N.Y.2d 371, 239 N.Y.S.2d 872, 190 N.E.2d 235 (1963), cert. denied, 376 U.S. 906 (1964). In this case, the central bank of Brazil sought to recover in tort from a New York buyer of coffee exported from Brazil, alleging that the buyer had participated in a scheme to use forged export documents to deprive the central bank of the dollar proceeds of the sale due to it under Brazilian exchange control regulations.
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binding effects, transformation into the domestic law of the forum, direct applicability, direct effects or that it is inconsistent with relevant national or international law.85 c) Authoritative Interpretations versus Less Formal Decisions Nevertheless, given the political nature of rendering a decision on the meaning and scope of a highly sensitive provision such as article VIII, section 2(b) of the Fund Agreement and the disparity of views expressed by IMF Member State courts regarding the meaning of the various elements of article VIII, section 2(b) of the Fund Agreement, it is not surprising that the Fund’s Executive Board, thus far, has taken only one authoritative decision to provide assistance as to the interpretation of article VIII, section 2(b) of the Fund Agreement. While a new and more detailed interpretation, authoritative or less formal,86 could shed some light on the meaning and effect of at least some of the elements of article VIII, section 2(b) of the Fund Agreement (e. g., “exchange contracts”, “capital transfers” or “unenforceability”) to eliminate or at least reduce controversy and promote consistency of interpretation among IMF Member States,87 it is highly unlikely that the Executive Board of the IMF will issue additional decisions dealing with questions of interpretation of article VIII, section 2(b) of the Fund Agreement.88 Rogoff and Zettelmeyer report that in January 1988 the IMF Legal Department proposed, in an internal paper, “that consideration be given by the Executive Board to the adoption of an authoritative interpretation of Article VIII, Section 2(b) [of the IMF Articles of Agreement]” to “promote more uniformity in the interpretation of Article VIII, Section 2(b).”89 The proposed interpretation, the authors state, included a broad definition of the term “exchange contract”.
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See Schreuer, Die Behandlung internationaler Organakte durch staatliche Gerichte, 1977, pp. 118 – 121. 86 See Gold, supra note 20, at p. 94. Cf. Edwards, The Role of the General Counsel of an International Financial Institution, 17 Kansas J. L. & Pub. Pol’y 254, 266 (2007 – 2008), stating that the “distinction between formally binding interpretations and other interpretations by the executive board is not a sharp one in practice, as both are taken seriously.” Accord Sato, supra note 72, at p. 195 (“no essential difference”). See also supra notes 67 – 72. 87 See Litvack, supra note 11, 13 Fordham J. Corp. & Fin. L. 805, 824 (2008); see also Eichengreen, Can the Moral Hazard Caused by IMF Bailouts be Reduced?, 2000, p. 21 (considering, as “somewhat less ambitiously” than an amendment of article VIII, section 2[b] of the Fund Agreement, “a new, definite interpretation [by the IMF Executive Board of article VIII, section 2(b) of the Fund Agreement] consistent with this broader coverage without taking a vote”). For problems and consequences of diverse interpretation of article VIII, section 2(b) of the Fund Agreement, see, e. g., Gold, supra note 26, at pp. 12 – 22; Ebke, supra note 7, 23 Int’l Law. 677, 691 – 695 (1989). 88 Accord Gold, supra note 26, at p. 37 (calling it “unrealistic to expect that the Fund will adopt new interpretations of Article VIII, Section 2[b]”). See also Gold, supra note 20, at 94 (“The IMF has not considered, and has not been invited to consider, additional interpretations of Article VIII, Section 2[b], whether authoritative or less formal”). 89 Rogoff/Zettelmeyer, supra note 42, at p. 12. See also Gold, supra note 26, at p. 29.
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However, according to the authors, the IMF Executive Board “decided not to pursue the issue.”90 As Gold pointed out, the “IMF has not wanted to encourage members, and members have not shown any desire to encourage the IMF, to treat the organs of the IMF as a Supreme Court to which issues of interpretations could be referred either before or after adjudication by national Supreme Courts.”91 The Fund is, it seems, “not disposed to be drawn into litigation involving [article VIII, section 2(b) of the IMF Articles of Agreement],”92 one way or the other.93 A broad interpretation, for example, of the term “exchange contracts” would not be acceptable to the industrialized, capital exporting Members of the Fund.94 And the proposal of a restrictive interpretation of article VIII section 2(b) of the IMF Articles of Agreement might encounter opposition, particularly on behalf of developing countries that are applying exchange control regulations, and also on behalf of IMF Members that are burdened with heavy external indebtedness. In view of the voting majorities for Executive Board decisions on interpretation under article XXIX of the Fund Agreement (cf. article XII, section 5 of the Fund Agreement), developing countries and indebted countries, voting together, would not be able to prevent the industrialized IMF Members from prevailing if those Members were to vote as a bloc.95 In any case, neither an authoritative decision nor a less formal interpretation by the IMF Executive Board could solve the question of whether a particular exchange control of an IMF Member State constitutes an “exchange control regulation” within the meaning of article VIII, section 2(b) of the IMF Articles of Agreement. Because of the broad variety of exchange control measures that an IMF Member State may im90
Rogoff/Zettelmeyer, supra note 42, at p. 13. Gold, supra note 20, at p. 94. 92 Gold, supra note 26, at p. 28. 93 For the pros and cons of an additional interpretation, whether authoritative or less formal, by the Fund of article VIII, section 2(b) of the IMF Articles of Agreement, see Gold, supra note 26, at pp. 28 – 33. 94 See text accompanying supra note 23; see also Gianviti, supra note 66, at p. 360. 95 Cf. Gold, supra note 20, at p. 96. The IMF Executive Board, which is chaired by the Managing Director of the Fund, consists presently of 24 directors (and 24 alternates) representing countries or groups of countries. The Executive Board normally makes decisions based upon consensus, but sometimes formal votes are taken. The votes of each IMF Member equal the sum of its basic votes (equally distributed among all Members) and quota-based votes (cf. article XII, section 5 of the IMF Articles of Agreement). Therefore, a Member’s quota determines its voting power. Following the 2008 Amendment of the IMF Articles of Agreement to Enhance Voice and Participation in the IMF which came into effect on March 3, 2011, eight countries (i. e., the United States, Japan, China, Germany, France, the UK, the Russian Federation, and Saudi Arabia) each appoint an Executive Director. The remaining 16 Directors represent regional constituencies consisting of four or more countries. Following the entry into force of the Board Reform Amendment on January 26, 2016, and starting with the next regular election in October 2016, there will be two fewer Executive Directors from advanced European countries and all 24 Executive Directors will be elected, ending the category of appointed Executive Directors. 91
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pose during the course of its IMF membership, it would be virtually impossible to develop a general and abstract definition of that term which would enable Member State courts to determine, without more, whether the Member State’s exchange controls under review constitute “exchange control regulations” within the meaning of article VIII, section 2(b) of the IMF Articles of Agreement. Most importantly, however, given the broad variety and dynamic development of the law of exchange controls and the creativity of national legislatures, the question of whether a particular exchange control regulation of an IMF Member State is “maintained or imposed consistently” with the IMFArticles of Agreement could not possibly be solved in a single interpretation by the IMF Executive Board. d) Amendment of the IMF Articles of Agreement It is also highly unlikely that article VIII, section 2(b) of the IMF Articles of Agreement will be amended in the near future in order to clarify the meaning and enhance the effect of the provision.96 According to the third sentence of article XXVIII(a) of the IMF Articles of Agreement, amendments of the Fund Agreement require acceptance by at least three-fifth of the currently 189 IMF Members (i. e., 113 countries), representing eighty-five per-cent of the IMF’s total voting power. Thereby, the IMF Articles of Agreement grant a de facto veto power to the IMF Member States holding the largest IMF quota.97 Among these countries are IMF Members the courts of which have opted for a restrictive interpretation of article VIII, section 2(b) of the Fund Agreement. Hence, the desire to revitalize article VIII, section 2(b) of the IMF Articles of Agreement by broadening its scope for the benefit of countries with balance of payments difficulties that are utilizing exchange control regulations and IMF Members that are burdened with heavy external indebtedness would seem to be rather limited at this point.98
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See Litvack, supra note 11, 13 Fordham J. Corp. & Fin. L. 805, 824 (2008) (suggesting that “an amendment [of the IMF Articles of Agreement] would be a better solution than an official interpretation by the IMF”). See also Euliss, supra note 25, 9 Am. U. Int’l L. Rev. 107, 128 (2003) (stating, with a view towards using article VIII, section 2[b] of the Fund Agreement as an alternative to current IMF sovereign debt restructuring mechanisms, that by “making specific additions and amendments to the Agreement, the IMF may not only preserve section 2[b]’s positive attributes, but may also buttress its efficacy by ridding the provision of its shortcomings”); accord Schier, supra note 10, at p. 250, observing that “[w]ithout a significant overhaul, the provision is … not appropriate to address the issues of a [reorganization system for sovereign debt].” 97 See Schlemmer-Schulte, supra note 67, at para. 24. See also text accompanying supra note 95. 98 Accord Eichengreen, supra note 87, at p. 21, stating that “[g]iven the prevailing political climate, it seems unlikely that such a large majority of the IMF’s shareholders would agree to vesting additional powers in the hands of the institution”).
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5. The Role of Information Against this background, other mechanisms are needed to clarify the meaning and enhance the effect of article VIII, section 2(b) of the IMF Articles of Agreement. Clearly, in many cases, IMF Member State courts as well as arbitral tribunals applying article VIII, section 2(b) of the IMFArticles of Agreement need guidance as to the proper interpretation and application of this provision. a) Information from Central Banks Case law suggests that such guidance is sometimes provided by the central bank of the forum (typically in writing,99 but occasionally also by phone100), especially regarding the interpretation of the phrase “exchange control regulations” and the determination of the consistency of a national exchange control measure with the IMF Articles of Agreement. In a few cases, courts have requested advice from their national central bank as to whether a particular country was a member of the IMF or whether certain exchange controls were in force at the time the transaction under review was entered into.101 In another case, the court issued an order according to which the defendant had to submit a letter from a foreign national reserve bank (in casu the South African Reserve Bank) confirming that the transfer abroad of certain funds (in casu licensing fees) required government approval.102 The District Court (Landgericht) of Hamburg requested, through the Landeszentralbank Hamburg, advice from the Central Bank of Kenia as to whether, under Kenian law, residents of Kenia were permitted to transfer domestic or foreign currency from Kenia to a foreign country without government approval.103 It should be noted, however, that requests for advice are not only directed to central banks. Thus, for example, the 99 See, e. g., Court of Appeals (Oberlandesgericht) of Düsseldorf, judgment of Nov. 7, 1991, OLGR Düsseldorf 1992, 37, 39 (advice received from the Deutsche Bundesbank); Court of Appeals (Oberlandesgericht) of Düsseldorf, judgment of Sept. 28, 1989, 35 RIW 987, 988 (1989) (advice received from the Deutsche Bundesbank); Court of Appeals (Oberlandesgericht) of Hamburg, judgment of Sept. 28, 1959, IPRspr. 1958 – 1959 No. 168, pp. 547, 548 (advice received from the Württembergische Girozentrale); Court of Appeals (Oberlandesgericht) of Karlsruhe, judgment of Dec. 15, 1965, 20 WM 1312, 1314 (1966) (advice received from both the Deutsche Bundesbank and the Legal Department of the IMF); District Court (Landgericht) of Hamburg, judgment of Feb. 24, 1978, IPRspr. 1978 No. 126, pp. 304, 306 (advice received from the Landeszentralbank Hamburg). 100 See, e. g., Court of Appeals (Oberlandesgericht) of Cologne, judgment of June 8, 200120 U 133/00, openJur 2011, 15775 (advice requested and received by telephone from the Deutsche Bundesbank). 101 Court of Appeals (Oberlandesgericht) of Düsseldorf, judgment of Sept. 28, 1989, 35 RIW 987, 987 – 988 (1989) (re Egypt). 102 Court of Appeals (Oberlandesgericht) of Bamberg, judgment of July 5, 1978, IPRspr. 1978 No. 127, pp. 310, 311. 103 District Court (Landgericht) of Hamburg, judgment of Feb. 24, 1978, IPRspr. 1978 No. 126, pp. 304, 306.
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Court of Appeals (Oberlandesgericht) of Frankfurt am Main requested and relied upon an “official advice” (amtliche Auskunft) from the German Ministry for Economic Affairs (Bundeswirtschaftsministerium) as to whether a switch of not freely convertible Sperrfranken (which, prior to January 31, 1964, were available only for bilateral transactions between France and the former East Germany) for Deutsche Mark required government approval.104 It is also worth noting that courts seeking advice from central banks or government agencies do not always follow the advice given. Thus, for example, in a case before the Bundesgerichtshof, Germany’s highest court in civil matters, the court below had concluded that a Swedish exchange control regulation was applicable to the defendant in the case at hand because the court was of the opinion that, contrary to the information given by the Swedish National Bank (Sveriges Riksbank), the defendant was actually a resident of Sweden.105 Therefore, the lower court, in accordance with settled German case law,106 had dismissed the lawsuit as inadmissable (unzulässig) without reaching a decision on the merits. The Bundesgerichtshof did not have to rule on the residence issue directly as it had to decide only which party had to bear the costs of the litigation (i. e., court and attorneys’ fees). The Bundesgerichtshof dealt with the issue indirectly, however, and concluded that if the defendant was in fact not a resident of Sweden for purposes of the Swedish exchange control regulations, the loan agreement between the plaintiff and the defendant would have been enforceable and the plaintiff would have been entitled to a judgment in his favor. Accordingly, the 104 Court of Appeals (Oberlandesgericht) of Frankfurt am Main, judgment of Feb. 27, 1969, IPRspr. 1971 No. 116a, pp. 358, 360. 105 See German Supreme Court (Bundesgerichtshof), judgment of Dec. 21, 1976, IPRspr. 1976 No. 118, pp. 342, 344. 106 For decades, German courts have held that the phrase “unenforceable” is best effectuated under German law if viewed as a “pre-condition to suit” (Sachentscheidungsvoraussetzung), rather than a defense (e. g., voidability). The procedural qualification has farreaching implications and leads to results that differ fundamentally from the jurisprudence of other IMF Member States, especially common law jurisdictions such as the United States of America and the United Kingdom. For the interpretation of the term “unenforceable” in Germany and its effects, see, e. g., Ebke, supra note 7, 23 Int’l Law. 677, 700 – 703 (1989); Booysen, supra note 7, at pp. 361 – 364; Müller, supra note 22, at pp. 110 – 116; for a more extensive analysis, see Ebke, supra note 19, Anh zu Art. 9 Rom-I VO at paras. 48 – 80. Fortunately, in the mid-1990s, the German Supreme Court, in an important obiter dictum, indicated its willingness to change its view and to treat “unenforceability” no longer as a “precondition to suit” but as unvollkommene Verbindlichkeit (obligatio naturalis or imperfect obligation). For a more detailed exposition of the Court’s holding and its implications, see Ebke, supra note 29, 47 WM 1169 (1993). See also Wegen, 2(b) or not 2(b): Fifty Years of Questions – The Practical Implications of Article VIII, Section 2(b), 62 Fordham L. Rev. 1931, 1941 (1994) (“Luckily there are signs that the situation may change in Germany, particularly due to the scholarly work of Professor Ebke – that is, that section 2[b] may be looked upon as a defense which is based on the concept of imperfect obligation”). “If this approach were to be followed by German courts”, Professor Martiny concludes, “it would bridge at least a part of the existing gap between the Anglo-American and the German interpretation.” See Martiny, Book Review, 26 Int’l Law. 255, 257 (1992). Unfortunately, however, the Bundesgerichtshof has not had an opportunity yet expressly to rule on this issue.
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Bundesgerichtshof decided that each party had to bear its own attorney’s fees as well as half of the court fees. b) Lack of a Judicial Body Information and advice from an IMF Member State’s government or central bank may be easy to get but it offers no assurance of an accurate, not to mention internationally consistent interpretation by the courts of IMF Member States. In addition, advice from a central bank or governmental agency whose exchange control regulations are at stake in proceedings between private parties may be perceived by some to be questionable because of a potential conflict of interests or national bias as these authorities may be inclined, in cases of doubt, to take a position in favor of the state imposing the exchange control regulations concernd as a safeguard against the state’s balance of payments difficulties.107 Be that as it may, there is, without doubt, a need for other methods and devices to clarify questions of interpretation of the elements of article VIII section 2(b) of the IMF Articles of Agreement arising in court or arbitral proceedings between private litigants. Yet, unlike, for example, the Treaty on the Functioning of the European Union (TFEU)108 which vests the power of interpretation in a Court of Justice,109 the IMF Articles of Agreement do not create a special judicial body for the exercise of the power of interpretation to which IMF Member State courts or private individ-
107 Similar concerns have been expressed with regard to interpretations by the Legal Department of the IMF. See text accompanying infra notes 199 – 200. In practice, those concerns seem to be unfounded, however. A good example in support of this proposition is the letter of the Swedish National Bank (Sveriges Riksbank) in the German Supreme Court Case No. III ZR 83/74 (supra note 105 and accompanying text) in which the Bank had stated that, in its opinion, the Swedish Exchange Control Regulation in question did not apply to the defendant because the defendant, who lived with his in-laws in Germany, could no longer be regarded as resident of Sweden within the meaning of the Swedish Exchange Control Regulation, rendering the Swedish Exchange Control Regulations concerned inapplicable. The Court of Appeals (Oberlandesgericht) of Frankfurt am Main had disagreed, however, with the Bank’s view and held that the defendant, who was registered in Sweden and had an apartment in his sister’s house in Sweden where he lived from time to time, was in fact a resident of Sweden and, therefore, subject to the Swedish Exchange Control Regulation in question. Consequently, the Court of Appeals had held that the loan agreement between the American plaintiff (lender) and the Swedish defendant (borrower) was unenforceable under article VIII, section 2 (b) of the IMF Articles of Agreement. 108 O.J. EU L 326 of Oct. 26, 2012, at p. 49. 109 According to article 267 of the TFEU, the European Court of Justice (ECJ) is empowered to give preliminary rulings concerning the interpretation of the Treaties and acts of the institutions, bodies, offices or agencies of the Union. An important function of preliminary rulings is to ensure the homogeneous interpretation and application of EU law throughout the Union. See, e. g., Bieber/Epiney/Haag, Die Europäische Union, 11th ed., 2015, p. 278 (“… die Homogenität der Auslegung und Anwendung des Unionsrechts zu sichern”).
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uals can resort.110 To fill the gap, the IMF promotes a more consistent interpretation and application of, for instance, article VIII, section 2(b) of the IMF Articles of Agreement in national courts by means of a policy of information.111 c) The IMF’s Policy of Information As early as 1949, the Fund offered its assistance to the courts of the IMF Member States in connection with questions of interpretation of article VIII, section 2(b) of the IMF Articles of Agreement in disputes between private parties.112 Of course, the IMF, through its Legal Department, will provide information only if expressly asked to do so. While courts of IMF Member States, international tribunals (e. g., the Iran-United States Claims Tribunal)113 and commercial arbitral tribunals have been rather reluctant to ask the Fund for advice as to the interpretation of article VIII, section 2(b) of the IMF Articles of Agreement, the Fund’s Legal Department has had the opportunity, at least in a few cases, to respond to inquiries from IMF Member State courts or private litigants. Occasionally, the IMF Legal Department seems to have responded 110
See Gold, The Interpretation by the International Monetary Fund of Its Articles of Agreement, 3 ICLQ 256, 257 (1954). Authoritative decisions by the IMF Executive Board under article XXIX(a) of the IMF Articles of Agreement may be referred to the IMF Board of Governors for a “final” decision, but the review can be initiated only by an IMF Member State. See article XXIX(b) of the IMF Articles of Agreement. See also text accompanying infra note 149. 111 See Schermers/Blokker, International Institutional Law, 5th ed., 2011, p. 853. The encyclopedic writings of Sir Joseph Gold, a long-term official of the IMF (1946 – 1960), General Counsel and Director of the Legal Department (1960 – 1979) and Senior Consultant of the IMF thereafter, on the law of the IMF and international monetary law may be seen as part of the Fund’s information policy even though Gold did not publish his books and articles in his capacity as a Fund official. Accord Schermers/Blokker, ibid., at p. 857; Riesenhuber, The International Monetary Fund Under Constraint. Legitimacy of Its Crisis Management, 2001, p. 277 n. 66. The Fund did, nevertheless, publish some, albeit not all of Gold’s books. A list of selected publications of Sir Joseph Gold can be found in Ebke/Norton (eds.), Festschrift in Honor of Sir Joseph Gold, 1990, pp. 459 – 470. Similarly, the multi-volume treatise entitled The International Monetary Fund 1945 – 1965, vol. I, II and III, 1969, by J. Keith Horsefield, and The International Monetary Fund 1966 – 1971, vol. I and II, 1976, and The International Monetary Fund 1972 – 1978, vol. I, II and III, 1985, by Margaret Gerritsen de Vries, are “history written from the inside” (Foreword) and contribute to a better understanding of the IMF and international monetary law even though they were written in the authors’ personal capacity rather than in the name of the Fund (which nevertheless published the volumes). 112 See Decision No. 446-4 of June 10, 1949, reprinted in: IMF, Selected Decisions and Selected Documents of the International Monetary Fund, 36th issue, 2012, pp. 583, 584: “… The Fund will be pleased to lend its assistance in connection with any problem which may arise in relation to the foregoing interpretation or any other aspect of Article VIII, Section 2(b). In addition, the Fund is prepared to advise whether particular exchange control regulations are maintained or imposed consistently with the Fund Agreement.” 113 See, generally, Gold, The Iran-United States Claims Tribunal and the Articles of Agreement of the International Monetary Fund, 18 Geo. Wash. J. Int’l L. & Econ. 537 (1985); Mouri, supra note 50, 3 Asian Yb. Int‘l L. 71 (1993).
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to requests from legal scholars for information about article VIII, section 2(b) of the IMFArticles of Agreement even though the information was requested solely for academic purposes. Thus, for example, Professor Richard W. Edwards reports that George P. Nicoletopoulos, Director of the IMF Legal Department (1979 – 1986), in a letter to him dated January 9, 1981, had stated that the U.S. Treasury’s Iranian Assets Control Regulations “constitute exchange control regulations maintained consistently with the Fund’s Articles in the sense of Article VIII, Section 2(b)”114 and that Nicoletopoulos had repeated the position in a letter dated March 2, 1981, to Professor Cynthia C. Lichtenstein.115 Edwards also indicates that, in a letter dated November 18, 1983, Nicoletopoulos had informed him that the “IMF, in response to an inquiry from the attorney for one of the parties in a case before the Iran-United States Claims Tribunal at the Hague, stated that the Fund had not approved under Article VIII any exchange measures imposed or reimposed by Iran since 1974.”116 For purposes of a better understanding of the role and significance of interpretations by the IMF Legal Department in court proceedings between private parties involving article VIII, section 2(b) of the IMF Articles of Agreement, let us first take a brief look at the history, nature and scope of the provision.
II. The Rise of Article VIII, Section 2(b) of the IMF Articles of Agreement The rise of article VIII, section 2(b) of the IMF Articles of Agreement is an unparalleled phenomenon in international law. 1. History The history of international law reveals no other provision that has had such an impact upon private parties and states alike. In some seventy years, the provision has carried along with it academics who were once dismissive and judges who once rejected, misconstrued or overlooked it. Article VIII, section 2(b) of the Fund Agreement is no longer a conflict solution device associated solely with the capital exporting countries of the Western Hemisphere. Instead, countries on every continent including developing and capital importing countries are now subject to article VIII, section 2(b) of the IMF Articles of Agreement, and many of them implement the provision judicially and administratively, though with substantial varia114
Edwards, supra note 66, at p. 482 n. 481. Edwards, supra note 66, at p. 480 n. 469. But see also Ziegler, supra note 21, at p. 204 n. 1203, stating that, in a letter dated January 20, 2003, the IMF informed her that it provides advice as to the consistency of a Member State’s exchange controls with the IMF Articles of Agreement only within the framework of a legal controversy but not in case of a purely academic interest. 116 Edwards, supra note 66, at p. 482 n. 481. 115
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tion. There are numerous court decisions reviewing article VIII, section 2(b) of the Fund Agreement, and many publications that analyze the provision and the case law interpreting and applying it.117 More and more frequently, arbitral tribunals, too, take article VIII, section 2(b) of the Fund Agreement into consideration.118 Most importantly, the American Law Institute’s Restatement (Third) of the Foreign Relations Law of the United States of 1987 includes a provision on the enforcement of foreign exchange controls that paraphrases article VIII, section 2(b) of the IMF Articles of Agreement.119 As has been correctly pointed out, this was a significant development at a time, when exchange controls were revived by numerous IMF Member States as part of their effort to alleviate the burden of external debt.120 The American Law Institute recently began work on Restatement Fourth, The Foreign Relations Law of the United States. Initial topics for consideration include jurisdiction, the domestic effects of treaties, and sovereign immunity.121 As of September 18, 2016, § 822 of the Restatement (Third) of the Foreign Relations Law of the United States has not been revised. 117 For details of article VIII, section 2(b) of the IMF Articles of Agreement, see, e. g., Ebke, supra note 2, at pp. 158 – 311; Edwards, supra note 66, at pp. 477 – 490; Gianviti, Le contrôle des changes étranger devant le juge national, Part 1, 69 Rev. crit. d. i. p. 479 (1980); Part 2, 69 Rev. crit. d. i. p. 659 (1980); Huguenin, L’application du contrôle des changes étranger par le juge national. Etude comparé de l’article VIII (2) (b) des Statuts du F.M.I., de la théorie américaine de l’Act of State et de la loi suisse de droit international privé, en particulier les articles 13 et 19 LDIP, 2000; Klein, De l’application de l’Article VIII (2)(b) des Statuts du Fonds Monétaire International en Suisse, in: Dominicé/Patry/Reymond (eds.), Études de droit international en l’honneur de Pierre Lalive, 1993, pp. 261; Lowenfeld, The International Monetary System, 1984, pp. 322 – 404; Mann/Proctor, supra note 23, at pp. 364 – 396; Marty, Ausländische Devisenkontrollregulierungen gemäss Art. VIII Abschn. 2 lit. b IWF-Abkommen und die “unenforceability” der Verträge nach schweizerischem Recht, 2009. 118 See, e. g., ad hoc Arbitral Tribunal, Arbitral Award of March 23, 1981, 131 J. Trib. 727, 729 (1983). See also Lew, Applicable Law in International Arbitration: A Study in Commercial Arbitration Awards, 1978, pp. 405 – 409; cf. Booysen, supra note 7, at pp. 367 – 369. For a thorough analysis of the arbitrability of article VIII, section 2(b) of the IMF Articles of Agreement, see Sandrock, Are Disputes Over the Application of Article VIII, Section 2(b) of the IMF Treaty Arbitrable?, 23 Int’l Law. 933 (1989); Sandrock, Is International Arbitration Inept to Solve Disputes Arising out of International Loan Agreements?, 11 J. Int. Arb. 33 (1994). For a discussion of the general role of overriding mandatory rules (Eingriffsnormen) in international arbitration, see, e. g., Bermann/Mistelis (eds.), Mandatory Rules in International Arbitration, 2011; Beulker, Die Eingriffsnormenproblematik in internationalen Schiedsverfahren, 2005. 119 See § 822 of the Restatement (Third) of the Foreign Relations Law of the United States (1987). For a critical analysis of § 822, see Gold, The Restatement of the Foreign Relatons Law of the United States (Revised) and International Monetary Law, 22 Int’l Law. 3 (1988). 120 Silkenat, The Restatement and International Monetary Law: The Practitioner’s Perspective, 22 Int’l Law. 31, 32 (1988). 121 See Restatement Fourth, The Foreign Relations Law of the United States (Tentative Draft No. 1 “Treaties”, Tentative Draft No. 2 “Jurisdiction”, Tentative Draft No. 2 “Sovereign Immunity”, March 22, 2016).
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When we deal with article VIII, section 2(b) of the IMF Articles of Agreement, we deal with a judicial oak that has grown from little more than a legislative acorn. Neither the drafters of the IMF Articles of Agreement in 1944 nor the legislatures of the IMF Member States when giving effect under their national law to article VIII, section 2(b) of the IMF Articles of Agreement,122 foresaw, I suppose, the present state of the law with respect to article VIII, section 2(b). During the past seventy years, we have witnessed a rapid increase in actions in which article VIII, section 2(b) of the Fund Agreement has been invoked by debtors.123 Infrequent in the 1950s, such actions have ripened into a complex body of law in the 1960s and 1970s. During the Latin American debt crises in the 1980s, article VIII, section 2(b) of the IMF Articles of Agreement gained again rapid attention.124 Many of the court decisions handed down in the 1980s profoundly shaped the scope of the provision. This is particularly true for American and English court decisions.125 In order to avoid the application of article VIII, section 2(b) of the Fund Agreement, the judiciary of capital exporting countries such as the United Kingdom and the United States of America began to favor a narrow construction of the provision which allowed them to resort to domestic laws and principles (including conflict-of-laws rules, the act-of-state doctrine, comity rules and any other principles concerning the recognition and enforcement of foreign public law)126 that take account of actual or perceived interests of the forum and frequently favor local creditors and investors over foreign debtors.127 The courts of other capital exporting IMF Member States (e. g., Germany) followed suit.128 122 Whether article VIII, section 2(b) of the IMF Articles of Agreement is directly applicable by IMF Member State courts (like, for example, in Switzerland) or has legal effects only if it has been incorporated into the Member State’s domestic law by legislation (like, for example, in Germany, the UK and the USA), depends upon the national law of the respective IMF Member State. See Ebke, supra note 19, Anh zu Art. 9 Rom-I VO at para. 18; accord Booysen, supra note 7, at p. 352; but see also Bergthaler, The Relationship Between International Monetary Fund Law and European Law: Influence, Impact, Effect, in: Wessel/ Blockmans (eds.), Between Autonomy and Dependence. The EU Legal Order Under the Influence of International Organisations, 2013, pp. 159, 169 – 170. 123 Ebke, supra note 2, at pp. 171 – 177 and 191 – 202. 124 See, e. g., Gold, Algunos Efectos de los Articulos del Convenio Constitutivo del Fondo Monetario Internacional en el Derecho Internacional Privado, 14 Jurídica 295 (1982); Gold, Control de Cambios: Acto de Estado, Interés Público, Los Artículos del Convenio con el Fondo Monetario Internacional y Otras Complicaciones, 6 Revista del Tribunal Fiscal de la Federación 1053 (1985); Fuchs, supra note 25, at pp. 51 – 128. 125 See, e. g., Lichtenstein, The Battle for International Bank Accounts: Restrictions on International Payments for Political Ends and Article VIII of the Fund Agreement, 19 N.Y.U. J. Int’l L. & Pol. 981 (1987); Zamora, supra note 23, 21 Int’l Law. 1055 (1987); BogdanowiczBindert, The Debt Crisis: The Case of the Small and Medium Size Debtors, 17 N.Y.U. J. Int’l L. & Pol. 527 (1985); Ebke, supra note 2, at pp. 206 – 228. 126 See, e. g., Coyne, supra note 25, 9 B.C. Int’l & Comp. L. Rev. 409 (1986); Ebenroth/ Teitz, Winning (or Losing) by Default: The Act of State Doctrine, Sovereign Immunity and Comity in International Business Transactions, 19 Int’l Law. 225 (1985). 127 For details, see text accompanying supra note 23.
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2. Nature and Scope The reason for this development becomes clear when one looks at the nature and scope of article VIII, section 2(b) of the Fund Agreement.129 Article VIII, section 2(b) is a truly revolutionary provision. It constitutes a radical departure from the traditional (i. e., pre-Bretton Woods) views of the courts of most countries, namely that exchange control regulations, like tax and penal laws, are entitled to recognition only in the territory of the state that promulgated them (so-called “revenue rule”).130 Under the first sentence of article VIII, section 2(b) of the Fund Agreement, by contrast, a court of an IMF Member State may not disregard another Fund Member’s exchange control regulations even if an “exchange contract” is, by its terms or by virtue of the conflict-of-laws rules of the forum, not subject to the laws of the Member State maintaining or imposing the exchange controls in question.131 Furthermore, a Fund Member may not, as a general rule, refuse to enforce another Member’s exchange controls on the ground that recognition and enforcement of them would be contrary to the public order (ordre public) of the forum.132 128 See German Supreme Court (Bundesgerichtshof), judgment of Nov. 8, 1993, 40 RIW 151 (1994); see also German Supreme Court (Bundesgerichtshof), judgment of Feb. 22, 1994, 40 RIW 327, 328 – 329 (1994). For a critical review of these decisions, see, e. g., Ebke, supra note 22, 28 Int’l Law. 761 (1994); Ebke, Kapitalverkehrskontrollen und das Internationale Privatrecht nach der Bulgarien-Entscheidung des Bundesgerichtshofs, 48 WM 1357 (1994); Müller, supra note 22, at pp. 85 – 92. 129 Article VIII, section 2(b) of the IMF Articles of Agreement is considered by many, though not all, commentators to be both a conflict-of-laws rule and rule of substantive public international law. See, e. g., Ebke, supra note 19, Anh zu Art. 9 Rom-I VO at para. 16 (with further references of the different views expressed by courts and commentators). 130 The pre-Bretton Woods common law rule, never precisely analyzed but quite regularly followed, was derived from Lord Mansfield’s famous dictum in Holman v. Johnson, 1 Cowp. 341, 58 Eng. Rep. 1120 (1775). For the modern view, see, e. g., Briggs, The Revenue Rule in the Conflict of Laws: Time for a Makeover, 2001 Singapore J. Leg. Stud. 280; Mallinak, The Revenue Rule: A Common Law Doctrine for the Twenty-First Century, 16 Duke J. Comp. & Int. L. 79 (2006). 131 See Ebke, supra note 7, 23 Int’l Law. 677, 683 (1989); Ebke, supra note 19, Anh zu Art. 9 Rom-I VO at para. 10 (with a list of references); Booysen, supra note 7, at p. 353. 132 See Decision No. 446-4 of June 10, 1949, reprinted in: IMF, Selected Decisions and Selected Documents of the International Monetary Fund, 36th issue, 2012, pp. 583, 584; accord Tribunal d’Arrondissement de Luxembourg, in its judgment of Feb. 1, 1956, Pasicrisie Luxembourgeoise 1957, 36 – 39. An exception to the general rule should be recognized, however, if, but only if, an exchange control regulation carrying the Fund’s endorsement is applied, by the Member State that has maintained or imposed it consistently with the IMF Articles of Agreement, in a manner which aims to discriminate, or in effect discriminates, against individuals or groups of people on the ground of race, color, creed, religion, nationality or age. An exception may also apply if the exchange control regulation in question constitutes a confiscation without fair and just compensation. For a more detailed exposition of this highly controversial issue, see Ebke, supra note 19, Anh zu Art. 9 Rom-I VO at para. 14 (with many references); Seidl-Hohenveldern, Article VIII, Section 2(b) of the IMF Articles of Agreement and Public Policy, 23 Int’l Law. 957 (1989); Baker, supra note 21, 3 Int’l Trade L.J. 247, 262 – 271 and 275 – 281 (1977).
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Also, enforcement of another IMF Member State’s exchange controls does not depend upon whether that State is diplomatically recognized by the forum state.133 Last but not least, article VIII, section 2(b) of the IMF Articles of Agreement binds all Member States of the IMF, whether or not they are availing themselves of the transitional arrangements in accordance with article XIV, section 2 of the IMF Articles of Agreement.134 Thus, even IMF Members that have notified the Fund that they are not yet prepared to undertake the obligations set out in article VIII, sections 2, 3 and 4 of the IMF Articles of Agreement are bound by the obligations under article VIII, section 2(b) of the Fund Agreement; provided, of course, all of the numerous prerequisites of the provision are met. Where article VIII, section 2 (b) of the IMF Articles of Agreement applies, it preempts other statutory or judicially created rules of conflict of laws under national law.135
III. Interpretations and the IMF To enable courts to fulfill their task of interpreting and applying the IMF Articles of Agreement, the Executive Board of the IMF has made it clear, as early as 1949, that it will “lend its assistance in connection with any problem” which may arise in relation to the interpretation of article VIII, section 2(b) of the IMF Articles of Agreement and that it is “prepared to advise whether particular exchange control regulations are maintained or imposed consistently with the Fund Agreement.”136 1. Lending Assistance While under the IMF Articles of Agreement there is no express legal obligation on the part of the Fund or its bodies to provide advice as to the interpretation or application of article VIII, section 2(b) of the Fund Agreement in legal proceedings before Member State courts or (commercial) arbitral tribunals, the Fund, to the best of my knowledge, has never refused to respond to an inquiry in connection with litigation
133 Ebke, Artikel VIII Abschnitt 2(b) des Übereinkommens über den Internationalen Währungsfonds und die Schweiz: “2(b) or Not 2(b)”, in: Gehrig/Schwander (eds.), Banken und Bankrecht im Wandel – Festschrift für Beat Kleiner, 1993, pp. 303, 307; accord Marty, supra note 117, at pp. 67 – 68. 134 Ebke, supra note 7, 23 Int’l Law. 677, 684 (1989). Accord Decision No. 446-4 of June 10, 1949, reprinted in: IMF, Selected Decisions and Selected Documents of the International Monetary Fund, 36th issue, 2012, pp. 583, 583 – 584. 135 Ebke, supra note 19, Anh zu Art. 9 Rom-I VO at paras. 1 and 81. 136 See Decision No. 446-4 of June 10, 1949, reprinted in: IMF, Selected Decisions and Selected Documents of the International Monetary Fund, 36th issue, 2012, pp. 583, 584. For details of the meaning and effect of this Decision, see Seidl-Hohenveldern, supra note 77, 8 öZöR 82, 93 – 101 (1957).
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between private persons.137 As Sir Joseph Gold, a former General Counsel and Director of the Legal Department of the IMF, pointed out, the Fund has frequently provided information, in response to requests, on whether certain laws of IMF Member State are “maintained or imposed consistently” with the IMF Articles of Agreement138 and “[i]t has done this without hesitation on the ground that these were requests for information of a kind that was likely to be available only to the Fund.”139 According to Gold, “the Fund’s practice has been to assume that an inquiry relates to the consistency at the time when enforcement of an exchange contract is sought, unless the inquiry expressly specifies a different date.”140 “[I]t is likely”, Gold continued, “that the Fund would provide information about the consistency of regulations with the Articles as at the time when the contract was entered into if the inquiry was explicit on this point.”141 Case law illustrates, however, that the IMF provides information not only on the question of consistency of a national exchange control measure with the Fund Agreement but also on other aspects of article VIII, section 2(b) of the IMFArticles of Agreement (e. g., whether a national measure constitutes an “exchange control regulation” within the meaning of article VIII, section 2[b] of the Fund Agreement)142 and, Gold emphasized, it “ha[s] been prepared to do this for the benefit of both parties to an action.”143 2. Guardian of the IMF Articles of Agreement The IMF’s policy to lend its assistance in connection with the interpretation and application of article VIII, section 2(b) of the Fund Agreement is the direct and in137
Information letters or correspondence between the Fund and IMF Member State courts or private litigants do not constitute a waiver of the IMF’s immunities and privileges as set out in article IX of the IMF Articles of Agreement. According to article IX, sections 3 and 4 of the IMF Articles of Agreement, the Fund enjoys absolute immunity. Consequently, the Fund cannot be challenged in any court of the IMF Member States, and it is not subject to local law enforcement actions, taxation, or customs. Moreover, there is no international court or arbitration forum that has jurisdiction over the Fund. In particular, the International Court of Justice does not entertain actions brought by or against the IMF. Under the Relationship Agreement between the UN and the IMF, supra note 3, the Fund may, however, request an advisory opinion from the International Court of Justice. The Fund has never taken advantage of this authorization. For the reasons, see, e. g., Gold, supra note 26, at p. 7; Edwards, supra note 66, at pp. 38 – 39. 138 Gold, supra note 50, 16 ICLQ 289, 315 (1967). 139 Gold, supra note 50, 16 ICLQ 289, 315 (1967). 140 Gold, supra note 26, at pp. 32 – 33. 141 Gold, supra note 26, at p. 33. 142 See, e. g., Court of Appeals (Oberlandesgericht) of Karlsruhe, judgment of Dec. 15, 1965, 20 WM 1312, 1314 (1966). But see Reporters’ Note 1 to § 822 of the Restatement (Third) of the Foreign Relations Law of the United States (1987), questioning whether the Fund would “respond to an inquiry from a court as to whether a given transaction was an exchange contract within the meaning of Article VIII(2)(b).” 143 Gold, supra note 50, 16 ICLQ 289, 315 – 316 (1967).
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evitable consequence of the Fund’s role and function as the guardian of the IMF Articles of Agreement. In its capacity as guardian of the IMF Articles of Agreement, the Fund needs to ensure that the provisions of the Fund Agreement are interpreted accurately and applied consistently throughout its presently (as of September 18, 2016) 189 Member States.144 As stated before, article VIII, section 2(b) of the IMF Articles of Agreement is applicable not only to disputes between states or between states and private persons but also to controversies between private parties whose legal relationship is affected by exchange controls imposed or maintained by an IMF Member State.145 Accordingly, lending its assistance in connection with the interpretation and application of article VIII, section 2(b) of the Fund Agreement in legal proceedings between private litigants is part of the Fund’s implied powers granted by the IMF Articles of Agreement. As a primarily transaction-oriented (as opposed to political, regulatory, constitutional or institutional) provision, article VIII, section 2(b) of the IMF Articles of Agreement is entrusted with the maintenance of the existing and future systems of exchange restrictions and exchange control regulations carrying the Fund’s endorsement and with preserving the smooth functioning of these systems by means of mutual recognition and enforcement of the exchange restrictions and exchange control regulations at the level of cross-border (i. e., international) commercial or financial transactions between private persons. Hence, it is in the best interest of the IMF, its Member States and the international monetary system as a whole to have in place a mechanism, such as a policy of information that ensures a proper construction of the elements of articles VIII, section 2(b) of the IMF Articles of Agreement in controversies between private parties. That is particularly true in situations where the relevant information is most likely available only to Fund (e. g., issues of consistency of national exchange controls with the Fund Agreement) or it is difficult for anyone else to determine whether the prerequisites of a term or phrase of article VIII, section 2(b) of the Fund Agreement are met (e. g., the phrase “exchange control regulations”).
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See Gold, supra note 26, at p. 4, stating that “the problem of achieving uniform interpretation is particularly acute if provisions of a treaty are going to be interpreted by the courts of the contracting states.” See also Callejo v. Bancomer, S.A., 764 F.2d 1101, 1120 (5th Cir. 1985), referring to “the Fund Agreement’s underlying policy of promoting uniformity in international finance.” As stated before, conceptual problems, textual and contextual difficulties, and institutional limitations cast some doubts, however, on whether the courts of the IMF Member States can actually meet their responsibility to achieve uniformity of interpretation. See Ebke, supra note 7, 23 Int’l Law. 677, 696 – 705 (1989). 145 See text accompanying supra notes 129 – 135.
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3. Interpretations by the IMF’s Legal Department The IMF Articles of Agreement are silent as to the legal nature, implications, significance or weight of an information letter by the General Counsel146 of the IMF, with or without express endorsement by the Fund’s Executive Board, to an inquiry by a court or private party addressed to the Fund in connection with a pending civil litigation. The lack of a provision in the IMF Articles of Agreement dealing expressly with the legal nature, implications, significance or weight of an information letter by the IMF’s Legal Department does not mean, however, that such a letter is legally irrelevant under the IMF Articles of Agreement. Quite the contrary: Like other international organizations, the IMF, since its inception, has developed its own organizational and administrative law and practice and used, for example, its implied powers under the IMF Articles of Agreement to give effect to the objectives and purposes of the IMF Articles of Agreement.147 The certificate by the IMF’s General Counsel whether particular laws or regulations of an IMF Member State constitute “exchange control regulations” within the meaning of article VIII, section 2(b) of the Fund Agreement or whether those laws or regulations are “maintained or imposed consistently” with the Fund Agreement is of utmost legal importance and carries great legal weight as such a reply is the standard instrument by means of which the IMF communicates with courts or private litigants.148 In fact, in practice, it is the only instrument by means of which the IMF can lend its assistance to courts or private litigants in connection with problems arising in relation to the interpretation or application of article VIII, section 2(b) of the Fund Agreement and the only way in which it can advise whether certain laws or regulations of an IMF Member State qualify as “exchange control regulations” or whether they are “maintained or imposed consistently” with the IMF Articles of Agreement. For, as stated above, the Fund Agreement deals with interpretations of its provisions in article XXIX. Article XXIX(a) of the IMF Articles of Agreement grants the Executive Board of the IMF the right to render an authoritative decision on any question of interpretation of the provisions of the Fund Agreement arising between any 146 In the history of the Legal Department of the IMF, the title General Counsel was given to some, but not all chief legal officers of the IMF. Thus, for example, George P. Nicoletopoulos who succeeded Sir Joseph Gold as head of the IMF Legal Department in 1979, was never named General Counsel but only Director of the Legal Department. His successor, François Gianviti, became Director of the Legal Department of the IMF in 1986, but it was not until 1987 that he received the additional title of General Counsel. Gianviti’s successor and current head of the IMF Legal Department, Sean Hagan, was given the titles General Counsel and Director of the Legal Department upon his appointment. See Edwards, supra note 86, 17 Kansas J. L. & Pub. Pol’y 254, 270 – 271 (2007 – 2008). Nevertheless, for purposes of this essay, the terms “General Counsel” and “Director of the Legal Department” of the IMF will be used interchangeably. 147 See, e. g., Riesenhuber, supra note 111, at p. 345. 148 See infra notes 160 – 162.
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Member and the Fund or between any Members of the Fund. If the Executive Board has given a formal decision under article XXIX(a) of the IMF Articles of Agreement, any IMF Member may require, within three months from the date of the decision, that the question be referred to the IMF’s Board of Governors whose decision shall be “final” (cf. article XXIX[b] of the Fund Agreement).149 Obviously, the unambiguous language of article XXIX(a) of the IMF Articles of Agreement and the review procedure according to article XXIX(b) of the IMF Articles of Agreement suggest that article XXIX(a) of the Fund Agreement is not designed primarily to empower the Executive Board to issue an authoritative decision in case of a dispute arising between two or more private litigants whether particular laws or regulations of an IMF Member State are exchange control regulations within the meaning of article VIII, section 2(b) of the IMF Articles of Agreement or whether they are maintained or imposed consistently with the IMF Articles of Agreement.150 Consequently, an inquiry relating to a dispute between private litigants concerning certain aspects of article VIII, section 2(b) of the Fund Agreement needs to be addressed to the Fund in accordance with Decision No. 446-4 of 1949151 rather than to the IMF Executive Board pursuant to article XXIX(a) of the IMFArticles of Agreement because the Executive Board is not empowered under the IMF Articles of Agreement to issue a formal authoritative decision within the meaning of article XXIX(a) of the IMF Articles of Agreement in case of a concrete dispute between private persons, having effect only between the litigants in the legal proceedings in question (inter partes). Similarly, while the IMF Executive Board may, “on a basis other than invoking the formal interpretation powers”152 under article XXIX (a) of the Fund Agreement (e. g., on the basis of its implied powers under the Fund Agreement), issue a less formal, “unofficial” decision,153 such a decision can, as Steinhauer has noted correctly, be promulgated only as a “guideline for the orientation of all Members”, and needs to be of “general application” (erga omnes).154 In accordance with its policy of information, by contrast, the Fund may, through its Legal Department with or without the IMF Executive Board’s endorsement, respond to the inquiry of a court, arbitral tribunal or private litigant in connection with the interpretation or application of article VIII, section 2(b) of the Fund 149
For details, see, e. g., Steinhauer, supra note 57, at pp. 40 – 41. For details, see text accompanying supra notes 92 – 93. 151 See supra note 112. 152 Schlemmer-Schulte, supra note 67, at para. 23. 153 See Gold, supra note 20, at p. 94 (distinguishing between “authoritative” and “less formal” interpretations); see also Gold, supra note 26, at pp. 28 – 29 (drawing a distinction between “authoritative interpretations“ and “informal decisions ”); Steinhauer, supra note 57, at p. 48 (who distinguishes between “official authoritative decisions” under article XXIX[a] of the IMF Articles of Agreement and “unofficial interpretations”). For further details, see supra notes 71 – 72. 154 Steinhauer, supra note 57, at p. 48. See also Gianviti, supra note 66, at p. 360, stating that “an interpretation is a general, abstract statement clarifying the meaning of a rule of law. It is not sufficient by itself to determine the application of the rule in a concrete case”. 150
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Agreement arising in a particular case. Such a response will then have effects only as between the private litigants (inter partes). 4. Requests for Information As stated before, the number of requests for information about article VIII, section 2(b) of the IMF Articles of Agreement has been relatively small.155 According to the prevailing view among European and American scholars, there is no general obligation, under neither public international law156 nor the domestic law of most IMF Member Countries,157 on the part of courts or private litigants to request advice from the IMF as to, for example, whether a particular law or regulation of an IMF Member State qualifies as “exchange control regulation” or whether the law or regulation is “maintained or imposed consistently” with the IMF Articles of Agreement. That explains why there is relatively little (published) case law on point.158 In a few cases, Member States transmitted to the Fund a request from a court or a litigant within the respective Member State’s jurisdiction for advice on certain aspects of article VIII, section 2(b) of the IMF Articles of Agreement.159 In practice, 155 See Ebke, supra note 19, Anh zu Art. 9 Rom-I VO at para. 45; accord Steinhauer, supra note 57, at p. 56; Ziegler, supra note 21, at p. 203 n. 1201. But see also Gold, supra note 80, at p. 116, stating in 1961 that “the Fund has been frequently approached for a statement certifying whether or not certain regulations were maintained or imposed consistently with the Articles”). 156 See, e. g., Lowenfeld, supra note 45, at pp. 669 – 670; Steinhauer, supra note 57, at p. 56; Ebke, supra note 19, Anh zu Art. 9 Rom-I VO at para. 45 (with further references); Ziegler, supra note 21, at p. 203. 157 Ebke, supra note 19, Anh zu Art. 9 Rom-I VO at para. 45 (with further references). 158 Ebke, supra note 2, at pp. 264 – 266. The Fund itself does not, as a general rule, publish its replies to inquiries from courts or private litigants. But see Gold, The Fund Agreement in the Courts, vol. III, 1986, pp. 303 – 304 (reprinting in part the reply of the Director of the IMF Legal Department of July 22, 1983 to an inquiry from the claimant’s attorneys in Schering Corporation v. The Islamic Republic of Iran, Case No. 38, Award No. 122-38-3, signed April 13, 1984, 5 Iran-U.S. Claims Tribunal Reports 361 [1984], 1984 WL 301285 [Iran-U.S. Cl. Trib.]). See also Gold, Fund Agreement II, supra note 58, at p. 45, reprinting the full text of the IMF Legal Department’s reply to inquiries from counsels in the so-called Cuban insurance cases, which had been authorized by the IMF Executive Directors. In some instances, the Fund has provided advice to legal scholars on consistency questions arising in connection with scholarly publications. See supra notes 114 – 116. Of course, in their opinions, courts quote from, or at least refer to, the IMF Legal Department’s letters if they are submitted to the court, for example, by one of the litigants. See, e. g., the cases cited infra notes 167, 176 and 224 – 243. 159 See Gold, supra note 158, at p. 650 (noting that “[t]he United States has not followed this practice. Lawyers for litigants in courts in the United States, or lawyers for parties to arbitral proceedings, have applied directly to the Fund for such certification, and neither the United States nor other authorities have objected”). See also Gold, supra note 20, at p. 89 (“The Court can make an inquiry of its own, and must do so or direct litigants to do so, if litigants have not taken the initiative”). But see also Southwestern Shipping Corp. v. National
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however, courts160 or litigants in court161 or arbitral162 proceedings have applied directly to the Fund for a response to a particular question, e. g., the question of whether certain laws of an IMF Member State qualify as “exchange control regulations” within the meaning of article VIII, section 2(b) of the Fund Agreement or whether certain exchange control regulations were “maintained or imposed consistently” with the IMF Articles of Agreement at the time when the exchange contract was entered into or enforcement of an exchange contract was sought.163 Member States or other authorities have, as far as can be seen, not objected to such direct inquiries.164 5. The IMF’s Information Practice As described by Gold, a response can be given by either of two procedures: “An official of the Fund, normally the General Counsel or the Director of the Legal Department, can reply to an inquiry without seeking the endorsement of the Executive Board for his reply. Alternatively, the draft of a response can be submitted to the Executive Board for its approval.”165
City Bank of New York, 11 Misc.2d 397, 173 N.Y.S.2d 509 (Sup. Ct. N.Y. 1958) (the IMF Executive Board sent a letter to the Secretary of the Treasury of the United States concerning the question of whether certain Italian exchange control regulations were “maintained or imposted consistently” with the IMF Articles of Agreement). Gold, supra note 80, at pp. 99 – 100, suggests that, in this case, the Fund’s letter was sent to the U.S. Treasury for procedural reasons under New York’s Civil Practice Law and Rules (CPLR). 160 See, e. g., Court of Appeals (Oberlandesgericht) of Karlsruhe, judgment of Dec. 15, 1965, 20 WM 1312, 1314 (1966). For details of this case, see text accompanying infra note 243. In Domex, S.A. v. Schlüter, Doc. No. 12 O 226/75, the District Court (Landgericht) of Hamburg made an inquiry to the Legal Department of the IMF concerning the consistency of certain Ethiopian exchange controls with the IMF Articles of Agreement. Two months later, the Fund’s Legal Department confirmed that the exchange control regulations concerned were consistent with the Fund Agreement. Thereupon, the parties settled the case out of court. See Ebke, supra note 7, 23 Int’l Law. 677, 697 n. 114 (1989). 161 See, e. g., Callejo v. Bancomer, S.A., 764 F.2d 1101 (5th Cir. 1985); District Court (Rechtbank) of Amsterdam, Private Law Division (Afdeling privaatrecht), judgment of May 29, 2013 – Case no. 461863/HA ZA 08/1463. See also Blanco v. Pan-American Life Insurance Co., 221 F.Supp. 219, 224 – 225 (S. D. Fla. 1963) (counsels of several plaintiffs had applied to the Fund for a copy of a general statement authorized by the IMF Executive Directors as to the legal position of “[a] member of the Fund, like Cuba”, under article VIII, sections 2, 3 and 4 and article VI, section 3 of the IMF Articles of Agreement). For the text of the Executive Board’s statement, see Gold, Fund Agreement II, supra note 58, at p. 45. 162 See, e. g., Gold, supra note 158, at p. 303, discussing Schering Corporation v. The Islamic Republic of Iran, Case No. 38, Award No. 122-38-3, signed April 13, 1984, 5 IranU.S. Claims Tribunal Reports 361 (1984), 1984 WL 301285 (Iran-U.S. Cl. Trib.). See also ad hoc Arbitral Tribunal, Arbitral Award of March 23, 1981, 131 J. Trib. 727, 729 (1983). 163 See Gold, supra note 158, at p. 650. 164 See Gold, supra note 158, at p. 650. 165 Gold, supra note 158, at p. 650.
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a) Different Procedures While the first procedure provides expert advice of the Director of the Fund’s Legal Department without conveying decisions of the Executive Board, the second procedure carries the approval of the Executive Board.166 In practice, private litigants who wish to introduce the Fund’s certificate in legal proceedings before a court or arbitral tribunal seem to send their inquiries directly to the Director of the Fund’s Legal Department rather than the Executive Board of the IMF or the Fund’s Managing Director.167 It also appears that, in practice, the Fund’s General Counsel does not always submit his draft response to a private litigant’s inquiry to the Executive Board for its approval. As Gold suggests with a view towards Schering Corporation v. The Islamic Republic of Iran,168 the IMF’s Legal Department seems to be prepared, however, to submit its draft letter to the Executive Board for its approval if the Executive Board’s endorsement has been expressly requested by the private litigant.169
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Gold, supra note 158, at p. 650. In connection with Blanco v. Pan-American Life Insurance Co., 221 F.Supp. 219 (S. D. Fla. 1963), one of the “Cuban insurance” cases, the Fund used a different information technique. The background of this decision is as follows: In 1959, the Republic of Cuba, headed by Fidel Castro, had expropriated Pan-America’s agency operations and seized all of its assets in Cuba; it had also taken over its office and records located in Cuba and enacted laws and decrees which allegedly affected the payment of benefits of, for example, certain annuity contracts in U.S. dollars. The relevant Cuban Law 568 of September 29, 1959 which PanAmerican alleged prohibited the defendant from paying any monies to Cuban nationals anywhere except in Cuba (see Pan-American Life Insurance Co. v. Blanco, 311 F.2d 424, 425 [5th Cir. 1962]) had not been subject of a specific interpretation of the IMF Executive Directors. The IMF Executive Board had, however, authorized a general statement as to the legal position of a “member of the Fund, like Cuba”, under article VIII, sections 2, 3 and 4 and article VI, section 3 of the IMF Articles of Agreement, noting that “[i]n accordance with the Articles of Agreement, Fund approval for controls of capital transfers is not required. Thus, to the extent any controls are confined to capital transfers, they are maintained or imposed consistently with the Fund’s Articles of Agreement”. The Fund stated that, apart from a 2 per cent exchange tax on remittances abroad, the Fund had not approved any restrictions under article VIII, section 2(a) of the Fund Agreement or any of the other exchange practices that require approval under article VIII, section 3 of the Fund Agreement. The Fund authorized the issuance of its statement to counsel for a number of plaintiffs in Blanco v. Pan-American Life Insurance Co., who had applied for it in an action to collect reasonable attorney’s fees from the defendant. In its decision in Blanco v. Pan-American Life Insurance Co., 221 F.Supp. 219, 224 – 225 (S. D. Fla. 1963), the Federal District Court referred to the Fund’s statement, but awarded the plaintiffs reasonable attorney’s fees on other legal grounds. 168 Schering Corporation v. The Islamic Republic of Iran, Case No. 38, Award No. 122-383, signed April 13, 1984, 5 Iran-U.S. Claims Tribunal Reports 361 (1984), 1984 WL 301285 (Iran-U.S. Cl. Trib.). 169 See Gold, supra note 158, at p. 303 n. 25. 167
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b) Reference to the IMF Executive Board’s Endorsement In any event, case law supports the proposition that letters by the IMF’s General Counsel in response to a court’s or private litigant’s request for advice do not, as a general rule, indicate whether they were written with the IMF Executive Board’s approval. Thus, for example, in a recent Dutch court case,170 the letter of the Fund’s General Counsel of December 7, 2012 which was submitted by the defendant to the District Court (Rechtbank), and the confirmation letter by the Fund’s Acting General Counsel of August 20, 2013 which was introduced into the appellate proceedings, did not indicate whether the view expressed in both letters carried the IMF Executive Board’s endorsement. In response to the defendant’s subsequent inquiry, the Acting General Counsel confirmed that the General Counsel’s “letter dated December 7, 2012 was approved by the IMF Executive Board in accordance with IMF Executive Board Decision No. 446-4, adopted on June 10, 1949 (enclosed).” The letter continues to say that “[g]iven that my letter dated August 20, 2013 provided a clarification in response to a follow up question from you on [the General Counsel’s] letter, no Executive Board approval was necessary for the same.” Similarly, in the matter of Callejo v. Bancomer, S.A., involving the Mexican debt crisis, the letter of the Director of the IMF’s Legal Department dated May 3, 1983, in response to an inquiry by Bancomer’s counsel did not purport to be written with the Executive Board’s approval. It was not until the appeal that Bancomer attached as appendix to its brief a letter from the Secretariat of the IMF stating that “the May 3 letter had been authorized by the Executive Board of the IMF.”171 Like the reply letters by the IMF’s Legal Department in Schering Corporation v. The Islamic Republic of Iran and Callejo v. Bancomer, S.A., the letters of the Director of the Legal Department in other cases do not indicate either whether the court’s or litigant’s request for the Fund’s advice was brought to the attention of the IMF Executive Board and whether the Executive Board endorsed the content of the letters. Nevertheless, those letters are perfectly consistent with the Fund’s policy of information. The lack of a reference, in the IMF Legal Department’s reply letters to inquiries of courts or private litigants, to the Executive Board’s endorsement in practice indicates clearly that, under the IMFArticles of Agreement, it is the IMF’s General Counsel who is not only legally entrusted with providing the responses in question but also considered by both the Fund and the Member States to be fully competent to provide the requested information or advice, on behalf of the Fund, to courts or private litigants because of his legal function and professional competence.172 Otherwise, IMF Member States would have objected to the Fund’s long-standing policy and practice.
170 District Court (Rechtbank) of Amsterdam, Private Law Division (Afdeling privaatrecht), judgment of May 29, 2013 – Case no. 461863/HA ZA 08/1463. See also infra note 222. 171 Callejo v. Bancomer, S.A., 764 F.2d 1101, 1119 n. 25 (5th Cir. 1985). 172 For further details, see text accompanying infra notes 194 – 198.
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c) Consequences Consistent with this practice, Gold, in the third volume of his treatise The Fund Agreement in the Courts, does not distinguish between the two procedures173 in the rest of his summary of the “Practice of the Fund on Certifications”, stating that “references to the Fund mean either that the Executive Board has taken a decision or that an official of the Fund is responding in accordance with his functions”.174 Thereby, Gold acknowledges that, notwithstanding the differences between the two procedures stated, responses to private litigants’ inquiries are legally attributable to the Fund175 irrespective of whether they were issued by the Director of the Legal Department with or without the Executive Board’s endorsement.176 Similarly, in footnote 25 on page 303 of said treatise Gold states that the fact that the letter of the Director of the IMF’s Legal Department in response to the claimant’s attorney in the matter of Schering Corporation v. The Islamic Republic of Iran177 did not carry the IMF Executive Board’s endorsement implied “only that it was not requested by a party to the proceedings.”178 6. Functional Competence It follows that, in Gold’s opinion, the legal significance and weight of a letter by the Director of the IMF’s Legal Department does not depend upon whether it carries the Executive Board’s endorsement or not. Gold’s view is not only plausible but also legally convincing.
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See text accompanying supra note 165. Gold, supra note 158, at p. 650. 175 Accord Callejo v. Bancomer, S.A., 764 F.2d 1101, 1119 (5th Cir. 1985), stating that “[w]e consider the Fund’s interpretations to be persuasive authority on the meaning of the Fund Agreement” (emphasis added). 176 Accord Callejo v. Bancomer, S.A., 764 F.2d 1101, 1119 (5th Cir. 1985). Referring to the letter of the Director of the Fund’s Legal Department dated May 3, 1983 (which did not purport to be written with the Executive Board’s approval), the Court concluded that it did not need to “pass on [the question of whether certain provisions of the IMF Agreement apply to ‘current’ or ‘capital’ transactions] in the abstract, since the IMF has itself clarified the meaning of the Fund Agreement as it applies to the Mexican regulations by indicating that they are consistent with the Agreement.” See Callejo v. Bancomer, S.A., 764 F.2d 1101, 1119 (5th Cir. 1985) (emphasis added). 177 Schering Corporation v. The Islamic Republic of Iran, Case No. 38, Award No. 122-383, signed April 13, 1984, 5 Iran-U.S. Claims Tribunal Reports 361 (1984), 1984 WL 301285 (Iran-U.S. Cl. Trib.). 178 Gold, supra note 158, at p. 303 n. 25. 174
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a) The Executive Board’s Endorsement From a legal point of view, there is no need for the Director of the IMF’s Legal Department to submit, without exception, a draft response to a defendant’s inquiry to the Executive Board for its approval. Clearly, Decision No. 446-4 of June 10, 1949 does not, by its terms, require that interpretations by the IMF’s General Counsel of article VIII, section 2(b) of the Fund Agreement be expressly approved or endorsed by the IMF Executive Board. More importantly, however, the question of whether an IMF Member State’s law or regulation constitutes an “exchange control regulation” within the meaning of article VIII, section 2(b) of the IMF Articles of Agreement or whether a particular exchange control measure constitutes an exchange control regulation pursuant to the provision is a strictly legal (as opposed to political, regulatory, constitutional or institutional) and non-discretionary question. This question can be answered best by the Fund’s General Counsel. In this context it should be noted that the Executive Board of the IMF is composed of executive directors among whom there are few lawyers.179 Although the IMF Executive Board is called upon frequently to interpret the IMF Articles of Agreement, the problems with which the IMF Executive Board deals are rarely of the kind that arise under private law.180 According to Gold, the IMF Executive Board appears to be “reluctant to assume the role of a tribunal deciding issues” that have arisen, or are likely to arise, in controversies between private parties under private law.181 In this context, it is also important to note that unlike the IMF Board of Governors (cf. article XXIX[b] of the Fund Agreement), the IMF Executive Board does not have available to it an active committee on interpretation.182 Thus, if asked by the Fund’s General Counsel to en179 Gold, supra note 26, at p. 28; see also Gold, International Law and the IMF, 14 Fin. & Dev. 35, 37 (1977); this aspect is also stressed by Ebke, supra note 7, 23 Int’l Law. 677, 697 – 698 (1989). 180 But see Southwestern Shipping Corp.v. National City Bank of New York, 11 Misc.2d 397, 173 N.Y.S.2d 509 (Sup. Ct. N.Y. 1958) (by letter dated Aug. 8, 1957, addressed to the Secretary of the Treasury of the United States, the IMF Executive Directors confirmed that six Italian exchange control decrees had been “maintained and imposed consistently” with the Fund Agreement). For a discussion of this case, see Gold, supra note 80, at pp. 97 – 100 and 102 – 108. See also Blanco v. Pan-American Life Insurance Co., 221 F.Supp. 219, 224 – 225 (S. D. Fla. 1963) (several plaintiffs had applied to the Fund for a copy of a general statement of the IMF Executive Directors as to whether certain Cuban exchange control regulations were “maintained or imposed consistently” with the IMF Articles of Agreement). For details of this case, see supra note 167. 181 Cf. Gold, Fund Agreement II, supra note 58, at p. 7. See also Gold, supra note 26, at p. 28. 182 An IMF Executive Board Committee on Interpretation which is not expressly provided for in the IMF Articles of Agreement, was established as early as 1947. See Chelsky, The Role and Evolution of Executive Board Standing Committees in IMF Corporate Governance, 2008, p. 9: “As a wholly new international organization, the Fund had no outside body or precedents that could help clarify the meaning of its statutes. The [Committee on Interpretation], chaired by an executive director, provided a channel for its shareholders (and founders) to sheperd the Fund’s mandate by retaining control over the interpretation of its founding documents.” The
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dorse a draft response prepared by the General Counsel to a private litigant’s inquiry on certain aspects of article VIII, section 2(b) of the IMF Articles of Agreement, the IMF Executive Board will, for all practical purposes, rely upon the knowledge, expertise and professional experience of the Director of the Fund’s Legal Department who prepares the response letter. Consequently, while the endorsement by the IMF Executive Board of a letter by the Director of the IMF Legal Department to an inquiry by a court or private litigant as to whether certain Member State laws or regulations constitute “exchange control regulations” within the meaning of article VIII, section 2(b) of the Fund Agreement or whether they are “maintained or imposed consistently” with the IMF Articles of Agreement would undoubtedly constitute a formal approval by the Executive Board of the Legal Department’s interpretation, the endorsement could and would not, substantively, provide additional legal significance or weight because the IMF Executive Board itself is not in a position to conduct an independent legal review of the issues addressed in the draft response letter of the Director of the Legal Department and, therefore, will rely for the most part, and rightly so, upon the legal analysis and the views of the Director of the Legal Department who, due to his function within the IMF, advices, among others, the IMF Executive Board “on all legal aspects of the Fund’s operations, including its regulatory, advisory and lending functions”.183 b) Theory and Practice The legal significance and weight attributed to replies by the Director of the Fund’s Legal Department is justified because the IMF’s chief legal officers are, due to their function, thoroughly familiar with not only the IMF Articles of Agreement as written and well-established (“black letter law”) but also their functioning in practice.184 They are also familiar with the results of bilateral consultations between the Fund and a Member State as to, for instance, the Member’s exchange controls and
Committee still exists but, according to Chelsky, ibid. at pp. 9 and 30, has not met since 1958. See also Gold, The Rule of Law in the International Monetary Fund, 1980, pp. 45 – 46 (suggesting that the “dormancy” of the Executive Board’s Committee on Interpretation has “caused no inconvenience because questions of interpretation have been less divisive than they were in the early years of the Fund”). 183 See https://www.imf.org/external/np/bio/eng/sh.htm (last viewed on September 18, 2016). For the role of the IMF Legal Department in the decision-making processes of the IMF Executive Board, see Edwards, supra note 66, at p. 37 (“… memoranda prepared by the Legal Department have been given great weight in the interpretative process“); Steinhauer, supra note 57, at p. 38. 184 Accord Edwards, supra note 66, at p. 37 (“In the IMF system interpretative decisions are made by officials who are familiar with the working of the IMF Agreement”). See also Callejo v. Bancomer, S.A., 764 F.2d 1101, 1120 (5th Cir. 1985), referring “to the greater expertise of the Fund”.
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their consistency with the IMF Articles of Agreement.185 In this context it should be noted that, under article IV, section 3(a) of the IMF Articles of Agreement, the IMF is charged with overseeing the international monetary system and the compliance of each Member State with its obligations under articles I and IV of the IMF Articles of Agreement. This activity is known as “surveillance” or “Article IV consultations”.186 The Fund uses surveillance as an instrument to accomplish its purposes as defined in article I and article IV, section 1 of the IMF Articles of Agreement. Surveillance is a legal function which today focuses upon a wide range of economic policies, encompassing not only exchange rates, monetary and fiscal policies, but also financial sector issues, structural issues, institutional developments and, last but not least, legal developments.187 As part of this process which takes place at both the global and (usually annually) Member State levels, the IMF highlights possible risks to stability and advises on needed policy or legal adjustments.188 In this way, the IMF helps the international monetary system serve its essential purpose of facilitating the exchange of goods, services, and capital between and among countries, thereby sustaining sound economic growth (cf. article IV, section 1 of the Fund Agreement). Bilateral and multilateral surveillance in its present form was established by article IV of the IMF Articles of Agreement, as revised in the 1970s following the collapse of the Bretton Woods system of fixed exchange rates.189 Under article IV, section 1 of the IMF Articles of Agreement, IMF Member States undertake to collaborate with the Fund and one another to promote, inter alia, stability by fostering orderly underlying economic and financial conditions and a monetary system that does not tend to produce erratic disruptions. For its part, the IMF is charged with (i) overseeing the international monetary system to ensure its effective operation and (ii) monitoring each Member’s compliance with its obligations under article I of the 185
See article XIV, section 3 of the IMF Articles of Agreement which states: “Any member retaining any restrictions inconsistent with Article VIII, Sections 2, 3 or 4 shall consult the Fund annually as to their further retention.” For details, see, e. g., Unteregge, Ausländisches Devisenrecht und internationale Kreditverträge, 1991, p. 48. 186 For details, see Bossone, IMF Surveillance: A Case Study on IMF Governance (IMF/ IEO Background Paper, 2008). 187 See Bossone, supra note 186, at p. 10 (“… although the Article IV consultation was originally intended only to cover a narrowly defined set of macroeconomic issues, the international community selected the Fund to implement a broad range of the new tasks that emerged for international policy action, and directed it to adapt surveillance accordingly – even if the new tasks lay outside the core mandate.”). See also http://www.imf.org/external/np/ exr/facts/surv.htm (IMF Factsheet “IMF Surveillance”) (last viewed September 18, 2016). 188 See Simmons, supra note 13, 54 Int’l Org. 573, 581 (2000), stating that “[i]n the course of these consultations the IMF tries to persuade members gradually to move from ‘transitional’ practices – foreign exchange rationing, multiple exchange rates, foreign exchange licensing systems – to the IMF’s traditional approach: reduction of domestic inflation, comprehensive fiscal reform, devaluation if necessary, and simplification of exchange restrictions to remove their tax and subsidy effects. Once these fundamentals are in place the IMF usually urges the Article XIV country to commit itself to Article VIII status.” 189 Bossone, supra note 186, at p. 9.
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IMF Articles of Agreement (cf. article IV, section 3[a] of the Fund Agreement). In the course of the annual “Article IV consultations”, the Fund will consult with any Member State retaining any restrictions inconsistent with Article VIII, Sections 2, 3 or 4 of the Fund Agreement as to their further retention.190 The results of the Fund’s surveillance of a Member State’s policies and laws, including exchange control regulations, are summarized in a country report191 that is, without exception and unconditionally, available to the Fund, its organs (e. g., the Board of Governors and the Executive Board) and officials, including the Director of the IMF’s Legal Department.192 Accordingly, it is fair to conclude that because the IMF monitors compliance of the IMF Member States with their obligations under the IMF Agreement, the Fund and its organs as well as the Director of its Legal Department are in a position to answer questions concerning the Member States’ compliance with their obligations under article I and article IV, section 1 of the Fund Agreement in general and their compliance with the IMF laws on exchange control regulations in particular. “It is virtually impossible for anyone else,” Gold states correctly, “to make the determination of consistency [of a national exchange control regulation with the IMF Articles of Agreement], and it certainly cannot be derived from a perusal of the Articles [of Agreement].”193 7. Professional Competence Moreover, in light of their professional qualifications, knowledge, and experience,194 the lawyers providing, on behalf of the IMF’s Legal Department, the requested information are, no doubt, qualified to answer inquiries as to whether a certain law or regulation of an IMF Member State constitutes an “exchange control regulation” within the meaning of article VIII, section 2(b) of the IMF Articles of Agreement or 190
Cf. article XIV, section 3 of the IMF Articles of Agreement. See, e. g., Ziegler, supra note 21, at p. 203 (citing country reports in which the IMF Executive Directors emphasized the significant progress made by Russia in implementing an effective anti-money laundering and anti-terrorist financing regime). 192 In recent years, surveillance has become increasingly transparent. Almost all IMF Members now agree to publication of a Public Information Notice which summarizes the views of the IMF Executive Board. In nine out of ten cases, the staff report and accompanying analysis are also published on the IMF’s website. For a list of recent Article IV Consultations, see http://www.imf.org/external/np/sec/aiv/index.aspx?listby=c (last viewed on September 18, 2016). For a thoughtful analysis of policy recommendations in Article IV Reports, see Roy/ Almeida Ramos, IMF Article IV Reports: An Analysis of Policy Recommendations (Working Paper No. 86, International Policy Centre for Inclusive Growth, UNDP, February 2012). 193 Gold, supra note 50, 16 ICLQ 289, 315 (1967). See also Wegen, supra note 106, 62 Fordham L. Rev. 1931, 1939 (1994) (“Since most courts, not to mention attorneys, are hardly experts in the technicalities of foreign exchange regulations, under the Bretton Woods Agreement it is possible to request the Executive Board of the International Monetary Fund to make this assessment”). 194 For the role of the general counsel of an international financial institution, see, generally, Edwards, supra note 86, 17 Kansas J. L. & Pub. Pol’y 254 (2007 – 2008). 191
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whether such a regulation is “maintained or imposed consistently” with the IMF Articles of Agreement. The General Counsels and Directors of the Fund’s Legal Department have been outstanding lawyers with the ability to grasp the economic and financial context of legal issues and the economic rationale195 of the IMF Articles of Agreement. Thus, for example, Sir Joseph Gold, a member of the Fund’s Legal Department from 1946 to 1960, General Counsel and Director of the IMF’s Legal Department from 1960 to 1979 and Senior Consultant to the Fund thereafter, is generally recognized as a leading authority on international monetary law.196 François Gianviti, a former law professor and prolific writer, who was Director of the IMF Legal Department from 1986 and General Counsel from 1987 until his retirement from the IMF in December 2004, is also generally regarded as a highly distinguished authority on international monetary law.197 Similarly, his successor as General Counsel and Director of the Legal Department at the IMF, Sean Hagan, is an excellently qualified and highly experienced lawyer and outstanding expert on the law of the IMF and international monetary law, both in theory and practice.198 It would be difficult to find more authoritative experts on this field of the law.
8. Nemo iudex in causa sua However, at least one author has expressed concern that the significance and credibility of the IMF General Counsel’s opinion on the issue of consistency of a Member State’s exchange control regulations with the IMF Articles of Agreement might be 195
See text accompanying supra note 58. See, e. g., Norton, Editor’s Tribute, 23 Int’l Law. 799, 799 (1989), stating that “[i]n the area of international monetary law, Sir Joseph has been more than the pathfinding legal scholar of the post-war era; he has often created and defined the parameters of the intellectual journey. In this respect, Sir Joseph is unrivaled as a public international law scholar”; Edwards, supra note 86, 17 Kansas J. L. & Pub. Pol’y 254, 271 (2007 – 2008) (calling Sir Joseph Gold “truly remarkable” and a “model of what the general counsel of an international financial institution should be”. For further details of Sir Joseph Gold’s role and work, see Ebke, supra note 60, 35 Int’l Law. 1475 (2001); Zamora, Sir Joseph Gold and the Development of International Monetary Law, 23 Int’l Law. 1009 (1989). 197 See, e. g., Edwards, supra note 86, 17 Kansas J. L. & Pub. Pol’y 254, 270 – 271 (2007 – 2008) (“A French scholar and well-known author of books and articles on international monetary law”); see also http://www.imf.org/external/np/bio/eng/fg.htm (last viewed on September 18, 2016). 198 On November 3, 2004, when he announced his decision to inform the 24-member Executive Board of the IMF of his intention to name Sean Hagan as General Counsel and Director of the IMF Legal Department, Rodrigo de Rato as Managing Director of the IMF stated: “Throughout his Fund career, Sean Hagan has demonstrated outstanding intellectual qualities and analytical skills. He combines first rate organizational skills with the ability to grasp complex and dynamic legal areas and a sound understanding of the economic and financial context of legal issues.” See https://www.imf.org/external/np/sec/pr/2004/pr04234. htm. See also https://www.imf.org/external/np/bio/eng/sh.htm. For the excellent qualifications and experience of Ross Leckow, see http://info.worldbank.org/etools/docs/library/154624/criti calissues2003/leckow.html. 196
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questionable “from a policy perspective” as the Fund in its capacity as both lender of last resort and regulator of monetary matters “could be perceived to have a vested interest in ensuring that the exchange control restrictions imposed by Member States are declared consistent with the Fund Agreement.”199 Another author recognizes that “the IMF may be the best source of authority about which exchange control regulations are consistent with the Bretton Woods Agreement”, but stresses at the same time that the “IMF’s conflicting institutional roles as international lender, national policymaker, and global economic watchdog prevent it from offering consistent, objective evaluations of exchange control regulations on a case-by-case basis.”200 Similar concerns have been advanced regarding authoritative interpretations by the IMF Executive Board pursuant to article XXIX(a) of the IMF Articles of Agreement.201 The concerns expressed are ultimately based upon the generally accepted principle that no one ought to be a judge in his own cause (Nemo iudex in causa sua).202 We do not need to express a view on the question of whether interpretations by the Fund (through its Legal Department, with or without the Executive Board’s endorsement) are the product of a judicial process to which the principle just stated would apply. Nor do we need to pass on the question whether the principle stated applies to non-judicial processes as well. In any case, the view, never precisely analyzed but quite easily asserted, that IMF officials like the Fund’s General Counsel are judges in their own cause and, by implication, lack independence, both in fact and in appearance, and impartiality when they deliver an interpretation of article VIII, section 2(b) of the Fund Agreement for purposes of the resolution of a dispute between private parties, would seem to be unfounded and one-sided.203
199 Kolo, supra note 52, at p. 373, stating that “[f]rom a policy perspective, it can be argued that the conflicting position of the Fund as a lender of last resort to Member States and a regulator of monetary matters at the same time undermines the independence of the Fund and, by implication, the significance or credibility on its opinion of consistency of exchange regulations as the Fund could be perceived to have a vested interest in ensuring that the exchange control restrictions imposed by Member States are declared consistent with the Fund Agreement.” See also Gold, supra note 26, at pp. 30 – 31, observing that “[a] member’s economic program supported by the Fund’s resources and the Fund’s approval of restrictions could be endangered if creditors were able to recover on their claims in litigation notwithstanding the restrictions.” 200 Marks, Exchange Control Regulations Within the Meaning of the Bretton Woods Agreement: A Comparison of Judicial Interpretation in the United States and Europe, 8 Berkeley J. Int’l L. 104, 124 – 125 (1990). 201 For details of the discussion, see Steinhauer, supra note 57, at p. 47. 202 See Steinhauer, supra note 57, at p. 47. 203 Cf. Steinhauer, supra note 57, at p. 47 (with a view towards official interpretations by the IMF’s Executive Board under article XXIX[a] of the IMF Articles of Agreement).
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a) Loss of Authority Such interpretations address strictly legal (as opposed to political, regulatory, constitutional or institutional), non-discretionary issues.204 Hence, there would be hardly any room for non-legal (e. g., political, regulatory or institutional) considerations. As Edwards has noted correctly, “interpretation … has been approached as a distinctly legal task”.205 As interpretations of article VIII, section 2(b) of the Fund Agreement in connection with controversies between private parties, in particular the consistency question, may affect the international monetary system or, at least, the balance of payments of the country imposing the exchange control regulation concerned, the issuance of politically motivated or otherwise questionable, inconsistent or irreconcilable interpretations by the Fund’s Legal Department that advance objectives other than the purposes of the international monetary system under the IMF Articles of Agreement would undermine the Fund’s authority and is, therefore, unlikely to occur. This is true regardless of whether the IMF Legal Department provides advice, in accordance with Decisison No. 446-4, on the interpretation of article VIII, section 2(b) of the Fund Agreement, in particular the consistency question, which applies only inter partes (i. e., between litigants) or the IMF Executive Board promulgates an authoritative interpretation of general application and as a guideline for the orientation of all IMF Members (erga omnes) pursuant to article XXIX(a) of the Fund Agreement. b) Loss of Reputation The same observation applies to the individual lawyers rendering the advice or interpretation on behalf of the Fund (e. g., the IMF’s General Counsel). A questionable advice or dubious interpretation would lessen the respect and reputation which the lawyers enjoy inside and outside the Fund, would stigmatize them, and may, ultimately, lead to a complete loss of trust and confidence on the part of those who are affected by the Legal Department’s interpretation as well as IMF Member State courts or arbitral tribunals that ultimately have the power in their decision to disregard the Fund’s opinion, if necessary.206 The undoubtedly existing professionalism as well as the undeniable professional competence of the lawyers in the Fund’s Legal Department are the best safeguards against questionable interpretations or dubious constructions of the elements of article VIII, section 2(b) of the Fund Agreement. Hence, as the late Professor Hugo J. Hahn, a German authority on monetary law, has pointed out correctly, the lack of “judicial independence” on the part of the 204
See supra note 179. Edwards, supra note 86, 17 Kansas J. L. & Pub. Pol’y 254, 266 (2007 – 2008). 206 Since, in most IMF Member States, interpretations by the IMF’s Legal Department of article VIII, section 2(b) of the IMF Articles of Agreement are not binding upon Member State courts (see text accompanying infra note 210), courts would have little theoretical difficulties with disregarding questionable advice received from the IMF Legal Department. 205
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IMF and its Legal Department does not reduce “the special value of a response by the Fund” because it results from the lawyers’ “professional competence” (Sachkompetenz).207 9. Legal Significance and Weight From the foregoing it is inevitable to conclude that letters of the Director of the IMF’s Legal Department regarding a question of interpretation of an element of article VIII, section 2(b) of the IMF Articles of Agreement in the context of litigation between private parties constitute professional expert advice,208 which may, if requested by the IMF Legal Department or the advice seeking court, tribunal or litigant, carry the IMF Executive Board’s endorsement. a) Implications That does not necessarily mean, however, that the IMF Member States are required, under the IMF Articles of Agreement, to request advice from the Fund’s Legal Department in case a controversy has arisen between private parties as to the meaning of elements of article VIII, section 2(b) of the Fund Agreement.209 Also, the fact that interpretations by the Fund (through its Legal Department) of article VIII, section 2(b) of the IMF Articles of Agreement carry significant weight as professional expert advice (with or without the IMF Executive Board’s approval) does not necessarily mean that they are legally binding upon the courts of an IMF Member State. Clearly, there is nothing in the text of the IMF Articles of Agreement that would suggest that such interpretations are in fact legally binding upon IMF Member State courts.210 And there is nothing in the text of the IMF Articles of Agreement either that would require IMF Member States to ensure that the IMF General 207
See Hahn, Währungsrecht, 1990, p. 396. Accord Ebke, supra note 2, at p. 270. Accord Gold, supra note 158, at p. 650; see also Müller, supra note 22, at p. 104; Gianviti, supra note 66, at p. 360. 209 See Ebke, supra note 2, at pp. 266 – 268 (concluding that IMF Members States are not required, under the IMF Articles of Agreement, to request advice from the Fund to solve issues of interpretations arising in controversies between private parties in connection with article VIII, section 2[b] of the IMF Articles of Agreement). For a list of current references, see Ebke, supra note 19, Anh zu Art. 9 Rom-I VO at para. 45. 210 Ebke, supra note 19, Anh zu Art. 9 Rom-I VO at para. 45 (with numerous references); accord Litvack, supra note 11, 13 Fordham J. Corp. & Fin. L. 805, 824 (2008); Müller, supra note 22, at p. 105 (“Es bleibt also den deutschen Gerichten eine eigene Entscheidungskompetenz bzgl. des Merkmals der Übereinkommenskonformität vorbehalten”); Unteregge, supra note 185, at p. 45. But see Williams, Foreign Exchange Control Regulation and the New York Court of Appeals: J. Zeevi & Sons v. Gridlays Bank (Uganda), Ltd., 9 Cornell Int’l L.J. 239, 243 n. 19 (1976) (stating that the interpretation in Decision No. 446-4 “is binding on domestic courts”); accord Kwaw, The Law & Practice of Offshore Banking & Finance, 1996, p. 226 (stating that it is “appropriate that the Fund reserve to itself the exclusive right to determine the consistency of exchange control regulations with the Fund Agreement”) (emphasis added). 208
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Counsel’s interpretations be binding upon their courts.211 Hence, whether and, if so, to what extent interpretations by the IMF’s General Counsel of article VIII, section 2 (b) of the IMF Articles of Agreement, with or without the IMF Executive Board’s endorsement, are legally binding upon IMF Member State courts will ultimately depend upon the domestic law of each Member State.212 Also, a Member State’s national law determines whether a domestic court is required to request advice from the Fund if, in a controversy between private parties, a question of interpretation arises under article VIII, section 2(b) of the Fund Agreement.213 b) Persuasive Authority Yet, even in IMF Member States where courts are not legally bound to follow an advice within the meaning of Decision No. 446-4214 by the Fund concerning article VIII, section 2(b) of the IMF Articles of Agreement, courts should regard interpretations of strictly legal (as opposed to political, regulatory, constitutional or institutional), non-discretionary issues that are prepared on behalf of the IMF by the IMF’s General Counsel as persuasive authority on the meaning of the particular provision of the IMF Articles of Agreement.215 While, in said jurisdictions, their use as persuasive authority is permissive rather than mandatory,216 Fund interpretations of article VIII, section 2(b) of the IMF Articles of Agreement within the meaning of Decision No. 446-4 carry legal significance and are entitled to great weight because of the
211 Cf. Steinhauer, supra note 57, at pp. 46 – 47; but see Gold, supra note 26, at p. 9, stating with a view to authoritative interpretations under article XXIX(a) of the IMF Articles of Agreement that “the member must take whatever action is necessary to achieve the effectiveness of the interpretation and make good the representation the member made in the instrument it deposited under Article XXXI, Section 2(a) or under the resolution authorizing membership”. See also Gold, Fund Agreement II, supra note 58, at p. 291 (“If the authoritative interpretation is not binding under the law of the forum of a member, the member is obliged by the Articles [of Agreement of the IMF] to take the necessary steps to make the interpretation binding”). 212 Ebke, supra note 19, Anh zu Art. 9 Rom-I VO at para. 45a (with further references). Accord Gold, supra note 110, 3 ICLQ 256, 265 (1954), stating that “[t]he binding effect of an interpretation [by the Fund] on a forum in a member country will depend upon the domestic law of that country”; Müller, supra note 22, at pp. 104 – 105. 213 Ebke, supra note 2, at pp. 266 – 268 (with numerous references). 214 See supra notes 76 – 77. 215 For a legal and philosophical analysis of the role of persuasive authority in common law reasoning, see Lamond, Persuasive Authority in the Law, 17 Harv. Rev. Phil. 16 (2010). See also Flanders, Toward a Theory of Persuasive Authority, 62 Oklahoma L.Rev. 55 (2009); Glenn, Persuasive Authority, 32 McGill L.J. 261 (1987); Schauer, Authority and Authorities, 94 Va. L. Rev. 1931 (2008). 216 But see van Campenhout, supra note 30, 2 Am. J. Comp. L. 389, 391 (1953) (“conclusive effect”).
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functional competence and professional knowledge, expertise, and experience of the Fund’s General Counsel.217 The weight given to the Fund’s interpretation pursuant to Decision No. 446-4 should not depend upon whether reference is made in the IMF General Counsel’s letter to the IMF Executive Board’s endorsement.218 Similarly, the legal significance attached to such an interpretation should not depend upon whether the IMF Executive Board expressly endorsed or approved the General Counsel’s letter.219 While replies of the IMF’s General Counsel to requests for advice from private litigants appear to be routinely submitted to the IMF Executive Board for its endorsement, lack of the Board’s express approval in a particular case does not necessarily lessen the legal significance and weight of the General Counsel’s reply because, as was stated above,220 the IMF Executive Board itself is not in a position to conduct a full-fledged legal examination and is understandably reluctant to assume the role of a “appellate division” or “supreme court” that decides issues in controversies between private parties. Also, the weight given to the Fund’s interpretation of article VIII, section 2(b) of the IMF Articles of Agreement should, contrary to the view expressed in § 822 comment c of the Restatement (Third) of the Foreign Relations Law of the United States, not depend upon whether the General Counsel’s advice concerning the consistency of particular exchange control regulations with the Fund Agreement is affirmative or negative.221
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Cf. Edwards, supra note 86, 17 Kansas J. L. & Pub. Pol’y 254, 266 (2007 – 2008), stating that “[m]emoranda prepared by the legal departments [i. e., of the IMF and the World Bank] are given ‘great weight’ (usually conclusive weight) in the interpretation process.”; accord Hahn, supra note 207, at p. 396. 218 Cf. Callejo v. Bancomer, S.A., 764 F.2d 1101, 1119 n. 25 (5th Cir. 1985). 219 Cf. Callejo v. Bancomer, S.A., 764 F.2d 1101, 1119 n. 25 (5th Cir. 1985). 220 See text accompanying supra note 179. 221 See § 822 comment c of the American Law Institute’s Restatement (Third) of the Foreign Relations Law of the United States (1987) (“A statement by the Fund that a particular control is not maintained or imposed consistently with the Articles of Agreement is conclusive; a statement that the control is maintained or imposed consistently with the Articles of Agreement is entitled to great weight, but the court will make the final decision”); accord Lowenfeld, supra note 45, at p. 670, who suggests that courts distinguish between affirmative and negative statements of the IMF’s Legal Department: “It seems that a statement by the Fund (normally by the head of the Legal Department) to the effect that a regulation is not maintained or imposed consistently with the Agreement – for example that approval by the Fund would be required and has not been granted – is conclusive; a statement that a control is maintained consistently with the Agreement is entitled to great weight” (emphasis added); contra Gold, supra note 119, 22 Int’l Law. 3, 23 (1988) (calling the distinction “insupportable for a number of reasons”); Gianviti, supra note 66, at p. 360 (calling the distinction “odd”).
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IV. Case Law Courts, though not all,222 and commentators223 share this view. 1. United States Court of Appeals for the Fifth Circuit Thus, for example, in Callejo v. Bancomer, S.A., the United States Court of Appeals for the Fifth Circuit, relied heavily on a letter from the Director of the Legal Department of the IMF dated May 3, 1983.224 In response to an inquiry from Bancomer’s counsel, the Director of the Fund’s Legal Department had stated that Mexican currency regulations which required repayment of deposits in Mexican banks to be made in Mexican pesos regardless of the currency in which the deposits are de222 See, e. g., District Court (Rechtbank) of Amsterdam, Private Law Division (Afdeling privaatrecht), judgment of May 29, 2013 – Case no. 461863/HA ZA 08/1463. While it mentioned the letter of the IMF’s General Counsel of December 7, 2012, in its judgment, the Court ignored the opinion given by the General Counsel of the IMF in a letter which stated “that the exchange control regulations set out in Russia’s Federal Law No. 173-FZ ‘On Currency Regulation and Currency Control’, as amended, and, in particular, Article 15 of such law, are imposed and maintained consistently with the Fund’s Articles of Agreement.” Nevertheless, the Court concluded that article 15(4) does not qualify as an exchange control regulation within the meaning of article VIII, section 2(b) of the IMF Articles of Agreement because, according to the Court, article 15(4) “does not restrict the free convertibility of the Russian rouble anywhere in the world.” In a letter dated August 20, 2013, and signed by the Acting General Counsel of the Fund, Ross Leckow, the Fund confirmed that, as stated by the General Counsel in his letter of December 7, 2012, “the Fund is of the view that Article 15 of [Russia’s Federal Law No. 173-FZ ‘On Currency Regulation and Currency Control’], as it was in force on December 7, 2012, is an exchange control regulation and that it is imposed consistently with the Fund’s Articles.” See also text accompanying supra note 170. 223 See, e. g., Gold, Fund Agreement II, supra note 58, at p. 291 (stating that if an IMF Member State has not made authoritative interpretations by the Fund binding upon its courts, “the forum should regard the interpretation as persuasive”); Marks, supra note 200, 8 Berkeley J. Int’l L. 104, 124 (1990), who notwithstanding his criticism (see text accompanying supra note 200) considers interpretations by the Fund as “persuasive authority”; see also Obeyesekere, International Economic Co-operation Through International Law: The IMF Agreement and the Recognition of Foreign Exchange Control Regulations, 27 German Yb. Int’l L. 142, 154 (1984) (“strong persuasive effect”); Gianviti, supra note 66, at p. 360 (“persuasive effect”); Edwards, supra note 66, at p. 482 (“The court should treat itself as bound by the Fund’s determination, unless there is good reason to believe that the Fund was not fully informed of the member’s currency practices or that there were irregularities in the process by which the Fund made its determination”); Mann/Proctor, supra note 23, at p. 434 n. 142, calling the General Counsel’s letter in Callejo v. Bancomer, S.A., 764 F.2d 1101, 1119 – 1120 (5th Cir. 1985), “a very valuable piece of evidence”. But see also Lowenfeld, supra note 45, at p. 670 (“conclusive” or “great weight”, respectively, depending upon the Legal Department’s conclusion). 224 Callejo v. Bancomer, S.A., 764 F.2d 1101 (5th Cir. 1985). For the background and facts of this case, see, e. g., Marks, supra note 200, 8 Berkeley J. Int’l L. 104, 120 – 124 (1990). For the implications of the act-of-state doctrine in this case, see Blankfield, Callejo v. Bancomer, S.A.: The Need for a Commercial Activity Exception to the Act of State Doctrine, 7 Nw. J. Int’l L. & Bus. 413 (1985).
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nominated did not violate and were consistent with the IMF Articles of Agreement.225 Citing from the Director’s letter, the Fifth Circuit Court of Appeals concluded: “This determination at once renders the Fund Agreement unambiguous in its application to the present case, but also defeats, on the merits, the Callejos’ Article VIII, Section 2 (a) claim.”226 While it did not express a view on the question of whether interpretations by the Fund are binding upon the courts of IMF Member States in general and in the United States in particular,227 the Court made it clear, in no uncertain terms, that it considered the Fund’s interpretations to be “persuasive authority on the meaning of the Fund Agreement.”228 The Court emphasized that the “Fund Agreement is a complex regulatory document whose sense is often obscure. In interpreting it, we defer to the greater expertise of the Fund.”229 This deference, the Court observed, “is akin to the deference that we accord to an administrative agency’s interpretations of its own statutory scheme.”230 In the case of the IMF Agreement, however, the Court pointed out, “an additional policy counsels in favor of deference: promoting uniform interpretations of the Fund Agreement.”231 Recognizing that courts of IMF Member States cannot give interpretations of the Fund Agreement that are binding upon other Member Nations and their courts,232 the Court correctly noted: “If each member of the Fund were to interpret the Fund Agreement separately – deciding when and when not to follow the Fund’s own interpretations – this would detract from the Fund Agreement’s under-
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Callejo v. Bancomer, S.A., 764 F.2d 1101, 1119 (5th Cir. 1985). Callejo v. Bancomer, S.A., 764 F.2d 1101, 1119 (5th Cir. 1985). 227 Callejo v. Bancomer, S.A., 764 F.2d 1101, 1119 n. 26 (5th Cir. 1985). For details of this issue, see supra note 66. 228 Callejo v. Bancomer, S.A., 764 F.2d 1101, 1119 & 1119 n. 26 (5th Cir. 1985) (emphasis added). 229 Callejo v. Bancomer, S.A., 764 F.2d 1101, 1120 (5th Cir. 1985). 230 Callejo v. Bancomer, S.A., 764 F.2d 1101, 1120 (5th Cir. 1985) (citing the United States Supreme Court’s decisions in Chevron, USA, Inc. v. National Resources Defense Council, 104 S.Ct. 2778, 2782 – 2783 [1984] and NLRB v. Bell Aerospace Co. Division of Textron, Inc., 416 U.S. 267, 275 [1974]). 231 Callejo v. Bancomer, S.A., 764 F.2d 1101, 1120 (5th Cir. 1985). 232 Accord Canaris, Die Bedeutung allgemeiner Auslegungs- und Rechtsfortbildungskriterien im Wechselrecht, 42 JZ 543, 549 (1987). But see also Ebke, supra note 133, at p. 315, stating that while the holdings of foreign courts relating to article VIII, section 2(b) of the IMF Articles of Agreement are not binding upon domestic courts, decisions of foreign courts play a role as part of relevant state practice in the international understanding of the provision. For the role of “state practice”, see also Booysen, supra note 7, at pp. 364 – 366. However, state practice is not the only benchmark for the interpretation and application of article VIII, section 2(b) of the IMF Articles of Agreement. When they construe the provision, courts must not decide only on the basis of what is nationally or internationally customary but also of what is necessary to effectuate the provision’s objectives, taking the economic rationale of article VIII, section 2(b) of the IMF Articles of Agreement into account. Cf. Ebke, supra note 60, 35 Int’l Law. 1475, 1482 (2001). 226
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lying policy of promoting uniformity in international finance.”233 Consequently, the United States Court of Appeals for the Fifth Circuit held that if the Fund’s interpretation of a provision of the IMF Articles of Agreement relates to a strictly legal, nondiscretionary issue (i. e., whether the foreign exchange control regulations govern capital transfers rather than current transactions, in which case approval pursuant to article VIII, section 2[a] of the Fund Agreement was not required234), “at most, we can only review the Fund’s interpretation to determine whether it is reasonable, since we consider the Fund’s interpretation to be highly persuasive authority.”235 The Court continued to state, however, that if the Fund’s conclusion that the Mexican exchange controls under review are consistent with the Fund Agreement was based upon its granting approval of the regulations pursuant to article VIII, section 2(a) of the IMF Articles of Agreement, “then we are precluded from exercising even this limited level of review.”236 In the Court’s opinion, article VIII, section 2(a) of the IMF Articles of Agreement “only requires that exchange control regulations receive the approval of the Fund. We have no power to review the Fund’s exercise of this discretion. Thus, even if we did not accept the Fund’s interpretation of the Fund Agreement as persuasive authority, its decision to approve exchange control regulations pursuant to Article VIII, Section 2(a) would be final.”237 2. United States District Court for the Southern District of New York In Callejo v. Bancomer, S.A.,238 the United States Court of Appeals for the Fifth Circuit referred to the decision of the United States District Court for the Southern District of New York in Braka v. Bancomer, S.A.239 which had cited a letter from the Director of the IMF’s Legal Department as “authority” that exchange control regulations enacted by Mexico “do not violate and are not inconsistent with the Articles of Agreement of the International Monetary Fund.”240 The District Court dismissed the action by American investors against a Mexican bank on other grounds, however, holding that the act of state doctrine barred suit and the Hickenlooper Amendment241 233
Callejo v. Bancomer, S.A., 764 F.2d 1101, 1120 (5th Cir. 1985). Cf. article XXX(d) of the IMF Articles of Agreement. For details, see supra note 22. 235 Callejo v. Bancomer, S.A., 764 F.2d 1101, 1120 (5th Cir. 1985) (emphasis added). Cf. Mann/Proctor, supra note 23, at p. 434 n. 142. 236 Callejo v. Bancomer, S.A., 764 F.2d 1101, 1120 (5th Cir. 1985). 237 Callejo v. Bancomer, S.A., 764 F.2d 1101, 1120 (5th Cir. 1985). 238 Callejo v. Bancomer, S.A., 764 F.2d 1101, 1119 – 1120 n. 26 (5th Cir. 1985). 239 Braka v. Bancomer, S.A., 589 F.Supp. 1465 (S.D.N.Y. 1984), aff’d, 762 F.2d 222 (2d Cir. 1985). For the background and facts of this case, see, e. g., Marks, supra note 200, 8 Berkeley J. Int’l L. 104, 120 – 122 (1990). 240 Braka v. Bancomer, S.A., 589 F.Supp. 1465, 1473 (S.D.N.Y. 1984), aff’d, 762 F.2d 222 (2d Cir. 1985). 241 22 U.S.C. § 2370(e)(2). 234
Interpretations of Art. VIII, Sec. 2(b) of the IMF Articles of Agreement
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did not apply to prevent application of the act of state doctrine to bar suit. The defendant Mexican bank had issued certificates of deposit and then subsequently breached its contractual obligation to repay the deposits and any interest due in United States dollars based upon a decree of the Mexican government flatly prohibiting use of U.S. dollars as legal tender.242 3. Court of Appeals of Karlsruhe As early as 1965, the Court of Appeals (Oberlandesgericht) of Karlsruhe, Germany, expressed a similar view. In its judgment of December 15, 1965, the Court held that from the advice it had received, inter alia, from the Legal Department of the International Monetary Fund, in a letter dated September 22, 1965, it “must” (“muß”) conclude that the Brazilian Decree No. 23501 (that made it illegal for private parties to agree in a contract to be performed in Brazil that the currency of payment be a currency other than the official currency of Brazil) did not constitute an “exchange control regulation” within the meaning of article VIII, section 2(b) of the IMF Articles of Agreement. In the words of the Court: “This must be concluded from the advice received from … the Legal Department of the International Monetary Fund dated September 22, 1965.”243 Thus, the Court of Appeals of Karlsruhe, too, treated the IMF Legal Department’s reply to its inquiry as highly persuasive, maybe even conclusive (“This must be concluded …”) evidence that the Brazilian law in question was not an “exchange control regulation” within the meaning of article VIII, section 2 (b) of the IMF Articles of Agreement.
V. Conclusions From the outset, the IMF Articles of Agreement left it to the courts and administrative agencies of the IMF Member States to give effect to the fundamental objectives of the Fund in the context of private international business and finance transactions. Conceptually, the courts of the Member States have a de facto monopoly 242 See also Libra Bank v. Banco Nacional de Costa Rica, 570 F.Supp. 870 (S.D.N.Y. 1983) (the Costa Rican government had passed a law that prevented the repayment of dollar-denominated loans to foreigners). For details of the Libra Bank litigation, see, e. g., Ebenroth, Banking on the Act of State, 1985, pp. 61 – 67. For the related Allied Bank litigation, see, e. g., Carreau, La nouvelle décision américaine Allied Bank International ou un retour ambigu à la protection juridique des créanciers dans la procédure des rééchelonnements de dettes internationales, 113 J.dr.int. 123 (1986); Coyne, supra note 25, 9 B.C. Int’l & Comp. L. Rev. 409 (1986); Ebke, supra note 2, at pp. 223 – 228; Rendell, The Allied Bank Case and Its Aftermath, 20 Int’l Law. 819 (1986). 243 See Court of Appeals (Oberlandesgericht) of Karlsruhe, judgment of Dec. 15, 1965, 20 WM 1312, 1314 (1966) (“Das muß aus den Auskünften der Deutschen Bundesbank und der Rechtsabteilung des Internationalen Währungsfonds vom 22. 9. 1965 entnommen werden”) (emphasis added).
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of ensuring implementation of the Fund’s institutional objectives under article I and article IV, section 1 of the IMF Articles of Agreement at the transactional level of international business and finance. In this regard, the IMF Member State courts are the principal guardians of the IMF Articles of Agreement. By requiring the Member States to take the necessary steps to carry out or give effect, under their national law, to the IMF Articles of Agreement, the Fund Agreement underscores the special responsibility that Member States and their courts have assumed regarding the implementation of the macro objectives of the Fund in connection with the enforcement of exchange control regulations that are maintained or imposed consistently with the IMF Articles of Agreement. To facilitate the task of the IMF Member States’ courts, the Fund lends its assistance to courts, arbitral tribunals and private litigants in connection with questions of interpretation of article VIII, section 2(b) of the Fund Agreement in disputes between private parties. The Fund’s policy of information is an important measure, especially in situations where the relevant information is most likely available only to Fund (e. g., issues of consistency of national exchange controls with the Fund Agreement) or it is difficult for anyone else to determine whether the prerequisites of an element of article VIII, section 2(b) of the Fund Agreement are met (e. g., the phrase “exchange control regulations”). As the IMF Articles of Agreement are politely silent on the issue, each Member State needs to decide how the Fund’s interpretations of article VIII, section 2(b) of the Fund Agreement shall be given effect within the forum, in particular whether such interpretations shall be binding upon the courts of the Member State concerned. In the absence of a legal obligation under national law that makes them binding upon courts, IMF Member State courts should consider interpretations of article VIII, section 2(b) of the IMFArticles of Agreement prepared on behalf of the IMF by its General Counsel in accordance with his functional competence and on the basis of his professional knowledge, expertise, and experience, as persuasive authority, regardless of whether the General Counsel’s letter carries the IMF Executive Board’s endorsement or approval. To regard such interpretations as persuasive authority is legally cogent and economicly sound.
Innerstaatliche Umsetzung von Völkerrecht – dargestellt am Beispiel der Umsetzung der ILO-Konvention 182 in Deutschland Von Dirk Ehlers Die Internationalisierung von immer mehr Politik- und Lebensbereichen ist der große Zug unserer Zeit.1 Gesteuert wird der internationale Prozess durch das Völkerrecht und in Europa (auch und gerade) durch das supranationale Recht (der Europäischen Union). Hauptrechtsquellen des Völkerrechts sind die von den Völkerrechtssubjekten abgeschlossenen völkerrechtlichen Verträge. Völkerrechtssubjektivität kommt neben den Staaten und den von den Staaten gegründeten internationalen Organisationen zwar partiell weiteren Subjekten zu – wie den Individuen, gesellschaftlichen Vereinigungen oder Verbänden (zum Beispiel dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz, den transnational tätig werdenden Unternehmen oder den internationalen Non-Governmental Organizations) sowie unter Umständen sogar den Völkern selbst und den de facto-Regimen2 –, wenn und soweit ihnen das Völkerrecht eine Rechts- und/oder eine Pflichtenstellung eingeräumt hat. Die Rechtssetzung durch völkerrechtlichen Vertrag obliegt aber den Staaten. Soweit neben dem Gewohnheitsrecht und den allgemeinen Rechtsgrundsätzen weitere Rechtsquellen des Völkerrechts anerkannt werden, lassen sich diese zumeist auf eine vertragliche Grundlage der Staaten zurückführen. Dies gilt auch für das von den internationalen Organisationen geschaffene Recht – etwa durch Beschlüsse oder Resolutionen. Soweit es sich ohnehin nicht nur um soft law, das heißt nicht rechtsverbindliches Recht, handelt, pflegen die breit aufgestellten Internationalen Organisationen in der Regel nur Konventionen (Übereinkommen) zu entwerfen, die von den beteiligten Staaten (gegebenenfalls mit einem Quorum) angenommen werden müssen3 und völkerrechtliche Verbindlichkeit erst durch Zustimmung erlangen, wobei Ein- oder Mehrphasigkeit vorgesehen werden kann.4 In Fällen bedeutsamerer Verträge wird letzteres Verfahren gewählt. Die Zustimmung vollzieht sich dann in einem gesonderten Schritt, 1
Vgl. Ehlers, Die Verwaltung 2013, 467 (476). Vgl. Vitzthum, in: ders./Proelß (Hg.), Völkerrecht, 6. Aufl. Berlin 2013, 1. Abschnitt, I. Rn. 16 ff.; von Arnauld, Völkerrecht, 2. Aufl. Karlsruhe 2014, §§ 2 ff.; Epping/Heinze, in: Ipsen (Hg.), Völkerrecht, 6. Aufl. München 2014, §§ 4 ff.; Herdegen, Völkerrecht, 14. Aufl. München 2015, §§ 7 ff. 3 Vgl. Art. 9 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge (WVK, BGBl. 1985 II S. 926). 4 Vgl. Art. 12 ff. WVK. 2
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zumeist durch Ratifikation.5 Dies bedeutet noch nicht, dass den Konventionen zugleich innerstaatliche Wirksamkeit zukommt. Die meisten Staaten haben sich bei der Verhältnisbestimmung von Völkerrecht und innerstaatlichem Recht nicht für eine monistische, sondern dualistische Zuordnung entschieden.6 Es handelt sich danach um zwei unterschiedliche Rechtskreise, deren Zuordnung durch das nationale Recht bestimmt wird.7 So bedürfen in Deutschland Verträge, welche die politischen Beziehungen des Bundes regeln oder sich auf Gegenstände der Bundesgesetzgebung beziehen nach Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG der Zustimmung oder Mitwirkung der jeweils für die Bundesgesetzgebung zuständigen Körperschaften in Form eines Bundesgesetzes. Da es der Norm um die Abgrenzung von Gesetzgebung und Verwaltung geht, wird ein Gegenstand der Bundesgesetzgebung auch dann angenommen, wenn der Bund berechtigt ist, Verträge über Gegenstände der Landesgesetzgebung abzuschließen (Art. 32 Abs. 1 GG).8 Liegt die Abschlusskompetenz bei den Ländern (Art. 32 Abs. 3 GG) kommt es darauf an, ob es für die innerstaatliche Umsetzung nach den allgemeinen Regeln des Parlamentsvorbehalts eines (Landes-)Gesetzes bedarf. Der Abschluss solcher Verträge ist nur nach vorheriger Zustimmung der Bundesregierung zulässig.9 Erst das Vertragsgesetz ermächtigt die Exekutive zum Vertragsabschluss und bewirkt, dass der völkerrechtliche Vertrag innerstaatliche Wirkung erlangt. Verwaltungsabkommen (das heißt Verträge, die weder der Zustimmung des Gesetzgebers noch der Mitwirkung des Bundespräsidenten nach Art. 59 Abs. 1 GG bedürfen) stellen eine Sonderform völkerrechtlicher Verträge dar.10 Sie bedürfen nicht der Zustimmung des Gesetzgebers, sondern nur der Anerkennung durch einen Administrativakt (beispielsweise eine Verordnung oder einen sonstigen Akt der Exekutive). Die weitere Umsetzung des Völkerrechts bestimmt sich nach den Vorschriften des staatlichen Rechts. Gemäß der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind diese völkerrechtsfreundlich auszulegen.11 Dies gilt selbst für das Verfassungsrecht sowie für Gesetze, die nach Inkrafttreten eines völkerrechtlichen Vertrages erlassen worden sind, weil, von dem Fall einer klaren entgegengesetzten Bekundung abgesehen, nicht anzunehmen ist, dass der deutschen Staatsgewalt ein Hinwegsetzen über völkerrechtliche Verpflichtungen gestattet werden soll.12 Das Grundgesetz hat die deutsche öffentliche Gewalt „programmatisch auf die interna5
Art. 14 WVK. Zum Unterschied vgl. Herdegen (Fn. 2) § 22. 7 Vgl. BVerfGE 111, 307 (318). 8 Vgl. Streinz, in: Sachs (Hg.), Grundgesetz, 7. Aufl. München 2014, Art. 59 Rn. 33. 9 Vgl. Art. 32 Abs. 3 GG; BVerfGE 2, 347 (369 f.). 10 Vgl. Jarass, in: ders./Pieroth (Hg.), Grundgesetz, 13. Aufl. München 2014, Art. 32 Rn. 15. 11 Vgl. BVerfGE 6, 309 (362 f.); 31, 58 (75 f.); 111, 307 (317 f.); 120, 180 (200 f.); 128, 326 (366 f.). 12 Vgl. BVerfGE 74, 358 (370). 6
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tionale Zusammenarbeit“ (und die europäische Integration) angelegt.13 Die Normen müssen daher „nach Möglichkeit“ so ausgelegt werden, dass ein Konflikt mit völkerrechtlichen Verpflichtungen nicht entsteht. Doch setzt jede Auslegung voraus, dass das auszulegende Recht – gemessen an den nationalen Auslegungsregeln – mehrere Deutungen zulässt. Ist dies nicht der Fall, kommt auch eine völkerrechtsfreundliche Auslegung nicht in Betracht. Zudem vermag das Völkerrecht nicht die Bindung an die staatliche Kompetenzordnung oder klare verfassungsrechtliche respektive gesetzliche Vorgaben aufzuheben oder zu relativieren. Welche Problemstellungen sich daraus ergeben können, soll am Beispiel der Konvention 182 der International Labour Organization (ILO) verdeutlicht werden. Da das Internationale Recht zu den bevorzugten Forschungsgebieten von Koresuke Yamauchi zählt und er unter anderem Geschäftsführendes Mitglied der Japanischen Vereinigung für Völkerrecht gewesen ist, darf angenommen werden, dass die Klärung einer solchen Fragestellung auf sein Interesse stoßen wird.
I. Die ILO-Konvention 182 Die schon 1919 gegründete International Labour Organization ist heute eine Sonderorganisation der Vereinten Nationen. Sie hat eine einzigartige Struktur, weil in der Organisation nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch die Arbeitgeber und Arbeitnehmer repräsentiert sind (Tripartismus im Verhältnis 2:1:114). Aufgabe der International Labour Organization ist es, in den 186 Mitgliedstaaten Mindestarbeitsbedingungen des individuellen und kollektiven Arbeitsrechts zu gewährleisten, um menschenwürdige Arbeitsbedingungen sicherzustellen. Zu diesem Zweck erarbeitet sie Empfehlungen und Konventionen. Letztere werden innerstaatlich verbindlich, wenn und soweit sie von den Mitgliedstaaten ratifiziert werden und die im jeweiligen Übereinkommen vorgegebene Ratifikationsquote erreicht wird.15 Unter anderem bekämpft die International Labour Organization „die schlimmsten Formen der Kinderarbeit“. Am 17. Juni 1999 hat die Allgemeine Konferenz der International Labour Organization die Konvention über das Verbot und unverzügliche Maßnahmen zur Beseitigung der schlimmsten Formen der Kinderarbeit angenommen. Danach hat jedes Mitglied, das die Konvention ratifiziert, unverzügliche und wirksame Maßnahmen zu treffen, um sicherzustellen, dass die schlimmsten Formen der Kinderarbeit verboten und beseitigt werden (Art. 1). Als Kinder im Sinne der Konvention gelten alle Personen unter 18 Jahren (Art. 2).16 Zu den schlimmsten Formen der Kinderar13
BVerfGE 111, 307 (318). Vgl. dazu Schwerin, Tripartismus im Europäischen Arbeitsrecht, München 2006, S. 133 f.; Mielke, in: Ehmke/Fichter/Simon/Zeuner (Hg.), Internationale Arbeitsstandards in einer globalisierten Welt, Wiesbaden 2009, S. 175. 15 Art. 19 der ILO-Constitution. 16 Vgl. auch das ILO-Übereinkommen 138 über das Mindestalter für die Zulassung zur Beschäftigung (BGBl. 1976 II S. 1739). 14
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beit werden gemäß Art. 3 alle Formen der Sklaverei oder alle sklavereiähnlichen Praktiken (a), das Heranziehen, Vermitteln oder Anbieten eines Kindes zur Prostitution, zur Herstellung von Pornographie oder zu pornographischen Darbietungen (b), das Heranziehen, Vermitteln oder Anbieten eines Kindes zu unerlaubten Tätigkeiten wie insbesondere zur Gewinnung von und zum Handel mit Drogen (c) sowie Arbeiten gerechnet, die ihrer Natur nach oder aufgrund der Umstände, unter denen sie verrichtet werden, voraussichtlich für die Gesundheit, die Sicherheit oder die Sittlichkeit von Kindern schädlich sind (d). Die Mitgliedstaaten haben die zuletzt genannten Arbeiten zu bestimmen und zu ermitteln, wo sie vorkommen (Art. 4). Ferner sind alle erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um die wirksame Durchführung und Durchsetzung der Bestimmungen zur Umsetzung der Konvention 182 sicherzustellen (Art. 7 Abs. 1). Diese ILO-Konvention ist bisher von 180 Mitgliedstaaten ratifiziert worden.17 Die Bundesrepublik Deutschland ist der Konvention am 11. Dezember 2001 beigetreten.18 Gültigkeit erlangt hat die Konvention in Deutschland am 18. April 2003.19 Trotz erheblicher Erfolge des Kampfes gegen die schlimmsten Formen der Kinderarbeit soll sich die Zahl der arbeitenden Kinder nach Schätzungen der International Labour Organization derzeit noch auf 168 Millionen belaufen, von denen 85 Millionen gefährliche Arbeiten verrichten.20
II. Kommunale Maßnahmen gegen das Aufstellen von Grabsteinen und Grabeinfassungen aus ausbeuterischer Kinderarbeit Zu den schlimmsten Formen der Kinderarbeit gehören die Arbeiten in Steinbrüchen. In Deutschland verwenden Steinmetze Grabmale für Friedhöfe in großem Ausmaße aus Ländern der sogenannten Dritten Welt. Es wird geschätzt, dass zwei Drittel aller in Deutschland aufgestellten Grabsteine aus Indien stammen und rund 150.000 Kinder dort in Steinbrüchen arbeiten.21 Dies hat die Gemeinden, die neben den Religionsgemeinschaften in der Organisationsform der Körperschaft des öffentlichen Rechts sowie – seit relativ kurzer Zeit – auch den privatrechtlichen Religionsgemeinschaften22 zur Anlage und Unterhaltung von Friedhöfen in Deutschland berechtigt und (im Falle der Gemeinden) verpflichtet sind, auf den Plan gerufen. Viele Gemeinden haben Satzungen erlassen, wonach nur noch Grabmale auf dem Friedhof aufge17
Manuskriptabschluss Mai 2016. Zustimmungsgesetz, BGBl. II S. 1290. 19 Bekanntmachung vom 28. 06. 2002, BGBl. II S. 2352. 20 Nachricht vom 23. 09. 2013, http://www.ilo.org/berlin/presseinformationen/WCMS_ 221844/lang-de/index.htm. 21 Vgl. Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke, BTDrs. 17/2406, S. 1 (02. 07. 2010); siehe ferner Kaltenborn/Reith, NVwZ 2012, 925 (926); Godry/Micke/Stollmann, NWVBl 2015, 176 (179). 22 Vgl. z. B. § 1 Abs. 4 S. 2, Abs. 5 BestG NRW. 18
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stellt werden dürfen, die nachweislich in der gesamten Wertschöpfungskette ohne ausbeuterische Kinderarbeit im Sinne der ILO-Konvention 182 hergestellt sind. Teilweise ist des Weiteren vorgesehen worden, dass Nachweise über die Produktionsbedingungen beigefügt werden müssen. Kontrovers beantwortet wurde die Frage, ob die genannten kommunalen Satzungsbestimmungen, die im Einzelnen voneinander abweichen, als gültig anzusehen sind. Das setzt die Vereinbarkeit der Regelungen mit der Verbandskompetenz der Gemeinden (III.) sowie dem Prinzip vom Vorbehalt des Gesetzes (IV.) voraus. Soweit es gesetzliche Spezialnormen gibt, bedarf ferner der Klärung, ob diese den unions- und verfassungsrechtlichen Anforderungen genügen (V.). Neben der Wahrung der Gesetzgebungskompetenz kommt es vor allem auf die Vereinbarkeit mit dem Welthandelsrecht und dem Europäischen Unionsrecht sowie den Geboten der Normenklarheit, Normenbestimmtheit und Verhältnismäßigkeit an. Schließlich ist der Frage nachzugehen, ob der Gesetzgeber tätig werden muss, wenn er dies bisher noch nicht getan hat (VI.). Ein kurzes Fazit schließt die Ausführungen ab (VII.).
III. Vereinbarkeit der kommunalen Satzungsregelungen mit der Verbandskompetenz der Gemeinden Gemeinden dürfen Satzungen nur erlassen, wenn ihnen hierfür eine Regelungskompetenz zusteht. Dies setzt zunächst voraus, dass die handelnde Gemeinde zuständig ist, d. h. die Wahrnehmung der Aufgaben in ihrem Wirkungskreis – der gemeindlichen Verbandskompetenz – liegt. 1. Verbandskompetenz im Falle des Fehlens spezieller gesetzlicher Regelungen Art. 28 Abs. 2 S. 1 GG gewährleistet den Gemeinden das Recht, alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung zu regeln. Ungeachtet des Umstandes, dass Art. 28 Abs. 2 S. 1 GG den Gemeinden unmittelbar ein mit der Verfassungsbeschwerdebefugnis23 abgesichertes Selbstverwaltungsrecht garantiert24, ergibt sich aus der Norm für alle in Kommunen untergliederte Länder25 ein Gesetzgebungsauftrag, dem die Länder in den Landesverfassungen und Gemeindeordnungen nachgekommen sind. Inhaltlich entsprechen sich die Selbstverwaltungsgarantien zwar nicht vollständig, doch wird (und muss) stets die
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Vgl. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 b GG. Näher dazu Ehlers, DVBl 2000, 1301 (1304). 25 Nicht in Kommunen untergliedert sind die Stadtstaaten Berlin und Hamburg. Dagegen bilden die Stadt Bremen und die Stadt Bremerhaven je für sich eine Gemeinde des bremischen Stadtstaates (Art. 143 Abs. 1 Brem LV). 24
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Mindestgarantie26 des Art. 28 Abs. 2 S. 1 GG gewahrt (werden), so dass die Gemeinden in jedem Falle das Recht (und die Pflicht) haben, die Angelegenheiten ihrer örtlichen Gemeinschaft zu regeln. Hierzu werden diejenigen Bedürfnisse und Interessen gezählt, die in der örtlichen Gemeinschaft wurzeln oder auf sie einen spezifischen Bezug haben, die also den Gemeindeeinwohnern gerade als solchen gemeinsam sind, indem sie das Zusammenleben und –wohnen der Menschen in der (politischen) Gemeinde betreffen.27 Um selbstverwaltend tätig werden zu können, müssen die Gemeinden in der Lage sein, ohne staatliche Bevormundung selbst Recht zu setzen. Das klassische Instrument der kommunalen Rechtssetzung ist die Satzunggebung, die in allen Gemeindeordnungen geregelt ist. Doch dürfen die Gemeinden (und alle sonstigen Selbstverwaltungsträger) Satzungen nur zur Regelung „ihrer Angelegenheiten“28 erlassen. Die (von Steinmetzbetrieben angerufenen) Verwaltungsgerichte haben zunächst die Auffassung vertreten, dass es sich bei den in Rede stehenden Regelungen der Friedhofssatzungen, denen zufolge Grabmale nachweislich in der gesamten Wertschöpfungskette ohne ausbeuterische Kinderarbeit hergestellt worden sein müssen, nicht um gemeindliche Angelegenheiten handelt. So hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof ausgeführt, dass es der Gemeinde in einem solchen Falle nicht um die Benutzung einer kommunalen Einrichtung (Friedhof) und damit eine Angelegenheit der örtlichen Gemeinschaft, sondern um einrichtungsfremde Zwecke gehe, nämlich um die Bekämpfung der Kinderarbeit in Umsetzung eines weltweiten politischen Anliegens.29 Eine hierauf bezogene Beschwerde hat das Bundesverwaltungsgericht zurückgewiesen, weil keine klärungsfähige Frage des revisiblen Bundesrechts aufgezeigt worden sei.30 Gegen das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs ist Verfassungsbeschwerde beim Bayerischen Verfassungsgerichtshof eingelegt worden.31 Der Verfassungsgerichtshof hat der Beschwerde stattgegeben. Zum eigenen Wirkungskreis der Gemeinde gehöre die Totenbestattung, sie umfasse unter anderem die Herstellung und Unterhaltung von Bestattungseinrichtungen, insbesondere von Friedhöfen als öffentliche Einrichtungen. Allein der Umstand, dass die Satzungsregelung der Gemeinde geeignet sei, dem weltweiten politischen Anliegen der ILO-Konvention 182 Rechnung zu tragen, besage noch nicht, dass mit der Norm nicht eine Regelung getroffen werde, welche unmittelbar die Nutzung des Friedhofs zur Totenbestattung betreffe. Die Satzungsregelung beziehe sich ausschließlich auf die Aufstellung von Grabmalen auf den örtlichen Friedhöfen. Dies sei weder sachfremd noch willkürlich. 26
BVerwGE 148, 133 (138). BVerfGE 79, 127 (151 f.). 28 Vgl. statt vieler § 7 Abs. 1 GO NRW. 29 BayVBl 2009, 367; vgl. auch OVG RP NVwZ-RR 2009, 394 (396 – es handelt sich nicht um Vorgänge mit einem spezifischen örtlichen Bezug). 30 BVerwG LKV 2010, 509 f. 31 NVwZ-RR 2012, 50. 27
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Die Gemeinde bewege sich innerhalb des gemeindlichen normativen Einschätzungsspielraums, wenn sie davon ausgehe, dass es im Interesse der Würde des Ortes der Totenbestattung liege, dass dort keine Grabsteine aufgestellt werden, deren Material in einem weltweit geächteten Herstellungsprozess durch schlimmste Formen der Kinderarbeit gewonnen wurden. In Reaktion auf diese Entscheidung ist der Bayerische Verwaltungsgerichtshof dem Bayerischen Verfassungsgerichtshof gefolgt.32 Gegen die Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs ist im Wege der Revision aber erneut das Bundesverwaltungsgericht angerufen worden. Dieses hat sich in seiner Entscheidung vom 16. Oktober 201333 rechtsgrundsätzlich der Sache angenommen und im Ergebnis die angegriffene Friedhofssatzung für unwirksam erklärt. Hierbei hat sich das Bundesverwaltungsgericht aber gerade nicht darauf gestützt, dass die Gemeinde ihren Wirkungskreis überschritten habe. Eine Regelung über das Aufstellen von Grabstellen auf kommunalen Friedhöfen betreffe die Nutzung des Friedhofs und damit eine Angelegenheit der örtlichen Gemeinschaft. Eine andere Frage sei, ob die Satzungsbestimmung dem Zweck der Einrichtung zu dienen bestimmt ist. Es sei jedenfalls nicht mit Art. 28 Abs. 2 S. 1 GG unvereinbar, wenn eine Kommune die Auffassung vertrete, eine pietätvolle und würdige Friedhofsgestaltung setze voraus, dass ein Friedhofsnutzer die Einrichtung in dem Bewusstsein aufsuchen kann, nicht mit Grabsteinen konfrontiert zu werden, die in grob menschenrechtswidriger Weise hergestellt worden sind. Obwohl das Bundesverwaltungsgericht nicht für die Auslegung und Anwendung des Landesrechts zuständig ist, lassen sich diese Aussagen sowohl auf Bayern als auch auf alle anderen in Kommunen untergliederte Länder der Bundesrepublik Deutschland erstrecken. Offen geblieben ist aber, ob es auf die Begründung der Gemeinden für die erlassenen Satzungsregelungen ankommt: also darauf, ob die Gemeinden sich auf die örtlichen Verhältnisse bezogen haben (d. h. die Sicherstellung der „Würde des Ortes der Totenbestattung“) oder ob sie nur einem weltweiten politischen Anliegen Rechnung tragen wollen. Letzteres wäre keine Angelegenheit der örtlichen Gemeinschaft mehr. Die Frage, ob es für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit von Normen auf das Geben oder Haben von Gründen ankommt, dürfte zu den umstrittensten Fragen des Verfassungs- und Verwaltungsrechts gehören.34 Grundsätzlich ist anzunehmen, dass nur das Ergebnis einer Normprüfung mit der Ermächtigungsgrundlage und dem höherrangigen Recht vereinbar sein muss, nicht aber die Beweggründe des Normgebers.35 Dement32
BayVGH Beck-RS 2012, 56028. BVerwGE 148, 133. 34 Vgl. statt vieler Hebeler, DÖV 2010, 754 f.; Sannwald, in: Hofmann/Henneke (Hg.), Kommentar zum Grundgesetz, 13. Aufl. Köln 2014, Art. 76 Rn. 20 ff. Teilweise sehen die Geschäftsordnungen der Volksvertretungen Begründungspflichten vor (vgl. z. B. §§ 76 Abs. 2 GO-BT). Im Europäischen Unionsrecht gilt ein Begründungserfordernis für den Erlass von Rechtsakten (Art. 296 Abs. 2 AEUV). 35 Hat der Normgeber einen Gestaltungsspielraum, muss er jedenfalls im gerichtlichen Verfahren darlegen können, wie er zu dem Ergebnis gekommen ist. 33
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sprechend hat der Bayerische Verfassungsgerichtshof ausgeführt, dass es auf die Motive derjenigen, die beim Erlass der Friedhofssatzungsregelung mitgewirkt haben, für die rechtliche Beurteilung der Norm „von vornherein“ nicht ankommt. Entscheidend sei nur, ob die Regelung objektiv dem Kreis der (örtlich radizierten) Totenbestattung zugeordnet werden kann. Die Frage sei zu bejahen, auch wenn zugleich einem weltweiten politischen Anliegen Rechnung getragen werden sollte. 2. Verbandskompetenz im Falle spezieller gesetzlicher Regelungen Wie noch zu zeigen sein wird, haben verschiedene Bundesländer in ihren Bestattungsgesetzen mittlerweile Regelungen aufgenommen, die es den Friedhofsträgern (und damit auch den Gemeinden) gestatten, in einer Satzung oder in einer Friedhofsordnung festzulegen, dass nur Grabsteine und Grabeinfassungen verwendet werden dürfen, die nachweislich aus fairem Handel stammen und ohne ausbeuterische Kinderarbeit im Sinne der ILO-Konvention 182 hergestellt worden sind (V.). In BadenWürttemberg kann eine entsprechende Bestimmung auch zum Gegenstand einer (von der Gemeinde zu erlassenen) Polizeiverordnung gemacht werden. Sofern die Gesetze gültig sind und sich die Gemeinden gesetzeskonform verhalten, kommt es nicht darauf an, ob das Handeln innerhalb oder außerhalb des verfassungsrechtlich garantierten Wirkungskreises anzusiedeln ist. Der Gesetzgeber kann den Gemeinden nämlich (im Rahmen der sich insbesondere aus dem Demokratieprinzip ergebenen Grenzen) auch die Regelung überörtlicher Angelegenheiten erlauben.
IV. Vereinbarkeit der kommunalen Satzungsregelungen mit dem Prinzip vom Vorbehalt des Gesetzes Die Befugnis der Gemeinde zum Erlass von Satzungen, die sich bereits aus den verfassungsrechtlichen Garantien der kommunalen Selbstverwaltung ergibt und zugleich einfachgesetzlich abgesichert ist, genügt nicht generell dem Parlamentsvorbehalt. Für Grundrechtseingriffe in Freiheit und Eigentum sowie alle sonstigen wesentlichen Entscheidungen im Bereich der Grundrechtsausübung benötigen auch die Gemeinden eine besondere Ermächtigung in Gestalt eines Parlamentsgesetzes.36 Dabei sind die Anforderungen an die Bestimmtheit der Ermächtigung umso höher, je empfindlicher die grundrechtliche Betätigung beeinträchtigt wird und je stärker die Interessen der Allgemeinheit von der Art und Weise der Tätigkeit berührt werden.37 Die allgemeinen Regelungen der Gemeindeordnungen und der Bestattungsgesetze, gemeindliche Satzungen erlassen zu dürfen, können als ausreichend angesehen werden, wenn es um Regelungen zur Benutzung der Einrichtungen geht, die mit dem 36 Grundlegend zum Verhältnis von Gesetz und Satzung BVerfGE 33, 125 (158 f.); ferner BVerfGE 94, 372 (390); 98, 49 (60); 101, 312 (322 f., 328 f.); 111, 191 (214 ff.). 37 BVerfGE 71, 162 (172); 98, 49 (60); 101, 312 (323); BVerwGE 148, 133 (143).
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Einrichtungszweck (nicht nur dem Nutzungsvorteil, sondern auch den entsprechenden Belastungen) unmittelbar verbunden sind.38 Als solche Regelungen, denen sich die Nutzer (hier die Inhaber der Grabstellen) gleichsam mit der Inanspruchnahme der Einrichtung unterwerfen, können zum Beispiel Bestimmungen über die Art und Größe der Grabmale und ihre Standsicherheit angesehen werden.39 Doch gehen die kommunalen Satzungsbestimmungen, die ein Verwendungsverbot für Grabmale aus ausbeuterischer Kinderarbeit enthalten, weit darüber hinaus. Wie das Bundesverwaltungsgericht zu Recht ausgeführt hat, greifen sie jedenfalls in die durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützte Berufsausübungsfreiheit der Steinmetze (sowie von Bildhauern und Händlern von Steinen) ein.40 Zwar seien die Steinmetze nicht unmittelbare Adressaten der kommunalen Satzungsbestimmungen, wohl aber in das Nutzungsverhältnis einbezogen, weil sie eine Zulassung durch die Friedhofsverwaltung benötigten und die gemeindlichen Bestimmungen infolge ihrer spürbaren tatsächlichen Auswirkungen geeignet seien, den Schutzbereich des Art. 12 Abs. 1 GG mittelbar erheblich zu beeinträchtigen. Da viele Steinmetze in Deutschland Grabmale aus Ländern beziehen, in denen Kinderarbeit verbreitet ist, komme der Satzungsregelung eine objektiv berufsregelnde Tendenz zu. Für solche Eingriffe in den Schutzbereich der Berufsausübungsfreiheit ist ein hinreichend bestimmtes Parlamentsgesetz erforderlich. Soweit solche Gesetze fehlen, müssen die kommunalen Satzungsbestimmungen daher als ungültig angesehen werden.41
V. Verfassungsmäßigkeit der bestehenden spezialgesetzlichen Regelungen Neben den Gemeinden haben sich mittlerweile auch die Gesetzgeber in vier Bundesländern des Themas angenommen. Der Klärung bedarf, ob die gesetzlichen Regelungen mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben vereinbar sind. Hierbei ist zwischen der Rechtslage in Baden-Württemberg, Bremen und im Saarland (1.), sowie derjenigen in Nordrhein-Westfalen (2.) zu unterscheiden. 1. Rechtslage in Baden-Württemberg, Bremen und im Saarland Die Bundesländer Baden-Württemberg, der Stadtstaat Bremen sowie das Saarland haben weitgehend inhaltsgleiche Verwendungsverbote für Grabmale und Grabeinfassungen aus ausbeuterischer Kinderarbeit in ihre Bestattungsgesetze aufgenom38 Vgl. OVG RP NVwZ-RR 2009, 394 f.; Ehlers, in: ders./Pünder (Hg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 15. Aufl. Berlin 2016, § 2 Rn. 59. 39 Vgl. OVG RP NVwZ-RR 2009, 394 (395). 40 BVerwGE 148, 133 (141 f.). Zum Grundrechtsschutz der Inhaber der Grabstätten vgl. V. 2. a) bb). 41 A.A. noch bei BayVGH Beck-RS 2012, 56028; Kaltenborn/Reit, NVwZ 2012, 925 (925 ff.).
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men. In Bremen42 und im Saarland43 können die Friedhofsträger Verwendungsverbote zur Umsetzung der ILO-Konvention 182 in einer Satzung beziehungsweise Friedhofsordnung normieren. In Baden-Württemberg bezieht sich die Ermächtigung auf den Erlass von „Friedhofsordnungen und Polizeiverordnungen“44 (III. 2.). Die Anforderungen an den Nachweis, dass die Grabsteine und Grabeinfassungen aus fairem Handel stammen und ohne ausbeuterische Kinderarbeit hergestellt worden sind, werden in allen Fällen den Satzungen respektive Friedhofsordnungen (der Religionsgemeinschaften) oder Polizeiverordnungen überlassen. a) Gesetzgebungskompetenz der Länder Kompetenzielle Abgrenzungsfragen stellen sich zunächst gegenüber der Europäischen Union und sodann gegenüber dem Bundesgesetzgeber. Nach Art. 3 Abs. 1 lit. e i.V.m. Art. 207 AEUV gehört im Unionsgebiet die gemeinsame Handelspolitik (und damit der grenzüberschreitende Handel mit Waren) zur ausschließlichen Zuständigkeit der Europäischen Union. Innerstaatlich haben die Länder nach Art. 70 Abs. 1 GG das Recht der Gesetzgebung nur, soweit das Grundgesetz nicht dem Bund Gesetzgebungsbefugnisse verleiht. In Betracht kommt hier die ausschließliche Zuständigkeit des Bundes für auswärtige Angelegenheiten (Art. 73 Abs. 1 Nr. 1 GG) und für den Warenverkehr mit dem Ausland (Art. 73 Abs. 1 Nr. 5 GG) sowie die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz für das Recht der Wirtschaft (Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG). Normierungen, die sich auf die Verwendung von Materialien auf örtlichen Friedhöfen beziehen, regeln nicht den Import der Ware. Insbesondere enthalten sie keine Einfuhrverbote. Zwar haben die hier untersuchten Gesetzesregelungen mittelbare Auswirkungen auf den grenzüberschreitenden Handel beziehungsweise den Warenverkehr mit dem Ausland.45 Dies allein reicht aber – auch wegen der unübersehbaren Vielzahl mittelbarer Auswirkungen – noch nicht aus, um den Ländern eine Regelungskompetenz abzusprechen. Bei der Auslegung von Kompetenznormen ist jedenfalls primär auf den unmittelbaren Gegenstand der Regelung abzustellen.46 Die Zuständigkeit für das Kommunal-, Friedhofs- und Bestattungsrecht liegt zweifelsfrei bei den Ländern. Nimmt man wegen der mittelbaren Auswirkungen auf den grenzüberschreitenden Handel gleichwohl einen Überschneidungsbereich mit den Kompetenzen der Europäischen Union und/oder des Bundes an, wird herkömmlich auf den stärkeren Sachzusammenhang beziehungsweise Schwerpunkt abgestellt.47 42
§ 4 Abs. 5 BestG Bremen (Brem. GBl. 1990, S. 303). § 8 Abs. 4 BestG Saarl (Amtsbl. 2003, S. 2920). 44 § 15 Abs. 1 BestG B-W (GBl. 1970, S. 395). 45 Vgl. auch BVerwGE 148, 133 (140); Kaltenborn/Reit, NVwZ 2012, 925 (929). 46 Vgl. auch Kaltenborn/Reit, NVwZ 2012, 925 (929). 47 Vgl. BVerfGE 97, 228 (252); 98, 265 (299); 121, 30 (47). Soweit ersichtlich ist bisher nicht geklärt, ob das Abstellen auf den Schwerpunkt auch im Unionsrecht statthaft ist. 43
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Schwerpunktmäßig geht es bei den die Aufstellung von Grabmalen und Grabeinfassungen auf örtlichen Friedhöfen betreffenden Gesetzesbestimmungen aber nicht um den Außenhandel, sondern den Rechtskreis der Totenbestattung. Somit entfalten die Art. 207 AEUV und Art. 73 Abs. 1 Nr. 5 GG keine Sperrwirkungen für die Länder. Die Zuständigkeiten des Bundes für auswärtige Angelegenheiten (Art. 73 Abs. 1 Nr. 1 GG) sowie für das Recht der Wirtschaft (Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG) werden von den Landesbestimmungen nicht berührt, weil es einerseits nur um örtliche Regelungen geht und andererseits der Bund von der Gesetzgebungskompetenz des Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG in diesem Bereich bisher keinen Gebrauch gemacht hat. Demgemäß ist festzuhalten, dass es den Ländern nicht an der Gesetzgebungskompetenz fehlt.48 b) Vereinbarkeit der Regelungen mit dem materiellen WTOund Europäischen Unionsrecht Sowohl das Recht der Welthandelsorganisation (WTO) als auch das Europäische Unionsrecht schützen die Freiheit des Warenverkehrs49 auch vor mittelbaren (versteckten, faktischen) Diskriminierungen.50 Ob die gesetzlichen Ermächtigungen, Verwendungsverbote für Grabsteine und Grabeinfassungen vorzusehen, die nicht nachweislich aus fairem Handel stammen und ohne ausbeuterische Kinderarbeit hergestellt worden sind, den grenzüberschreitenden Warenverkehr tangieren, ist zweifelhaft, weil missbräuchliche Inanspruchnahmen die Berufung auf die Freiheit jedenfalls im Unionsrecht ausschließen.51 Hält man die Freiheitsregelungen für anwendbar, lässt sich den gesetzlichen Ermächtigungen eine mittelbare Diskriminierungswirkung wegen der erheblichen Auswirkungen auf den Außenhandel nicht absprechen. Doch sind die mittelbaren Diskriminierungen jedenfalls gerechtfertigt, da sie der Umsetzung der ILO-Konvention 182 dienen.52 Die Konvention ist zu einem erheblichen Teil zum ius cogens53 zu rechnen (Schutz der Menschenwürde54, Verbot der Sklaverei55). Daraus ergeben sich erga omnes-Verpflichtungen. Sowohl die völkerrechtlichen Verträge (wie das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen der Welt48
Im Ergebnis so auch BVerwGE 148, 133 (140); Kaltenborn/Reit, NVwZ 2012, 925 (928 ff.); vgl. auch Barthel, in: Gaedke (Hg.), Handbuch des Friedhofs- und Bestattungsrechts, 11. Aufl. Köln 2016, Kap. 13 Rn. 32. 49 Vgl. insbesondere Art. XI GATT 1994; Art. 34 AEUV. 50 Vgl. z. B. Art. XX GATT 1994; näher zum Unionsrecht Ehlers, in: ders. (Hg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 4. Aufl. Berlin 2014, § 7 Rn. 24 ff. 51 Vgl. (in Bezug auf das Unionsrecht) Ehlers (Fn. 50), § 7 Rn. 79. 52 Allgemein zum Verhältnis zum WTO- und Völkerrecht Neumann, Die Koordination des WTO-Rechts mit anderen völkerrechtlichen Ordnungen, Berlin 2002. 53 Vgl. Art. 53, 64 WVK. 54 Vgl. Art. 1 GRCh EU. 55 Zur Zurechnung des Sklavereiverbots zum zwingenden Völkergewohnheitsrecht vgl. statt vieler von Arnauld (Fn. 2), Rn. 248; Herdegen (Fn. 2) § 16 Rn. 14.
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handelsorganisation) als auch das Europäische Unionsrecht sind völkerrechtsfreundlich – hier im Sinne der ILO-Normen – auszulegen. Zudem dient die Bekämpfung der ausbeuterischen Kinderarbeit zwingenden Erfordernissen im Sinne der CassisRechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs.56 c) Vereinbarkeit der Regelungen mit dem Gebot der Normenklarheit und Normenbestimmtheit Eine Norm entspricht nur dann rechtsstaatlichen Grundsätzen, wenn sich aus ihr mit hinreichender Bestimmtheit entnehmen lässt, was von den Normadressaten verlangt wird.57 Das Erfordernis, nur Grabsteine und Grabeinfassungen zu verwenden, die „nachweislich aus fairem Handel stammen“, überlässt es den Friedhofsträgern zu bestimmen, welche Anforderungen an den Nachweis zu stellen sind. Eigenerklärungen von Herstellern der Steine, Lieferanten oder Steinmetzen vermitteln keinen ausreichenden Grad an Sicherheit darüber, ob die grundlegenden Kinderrechte eingehalten worden sind.58 Somit bleibt gänzlich unklar, wie der Nachweis geführt werden soll und welche Nachweise anzuerkennen sind. Dies reicht für die gesetzliche Vorprogrammierung nicht aus, zumal nicht nur Gemeinden, sondern auch Private (wie die korporierten oder nichtkorporierten Religionsgemeinschaften) Friedhofsträger sein können und neben den Inhabern der Grabstätten nicht nur die Steinmetze (Bildhauer und Händler) im jeweiligen räumlichen Einzugsbereich des Friedhofsträgers, sondern alle Steinmetze (Bildhauer und Händler) betroffen sind. Dementsprechend hat auch das Bundesverwaltungsgericht angenommen, dass der Gesetzgeber das erforderliche Nachweissystem wegen seiner Bedeutung für die Grundrechtsausübung – auch der Händler – jedenfalls in seinen Grundzügen selbst regeln muss.59 d) Vereinbarkeit der Regelungen mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Beschränkungen der Grundrechte sind nur zulässig, wenn sie dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen60, also einen legitimen Zweck verfolgen und dafür geeignete, erforderliche und angemessene Mittel einsetzen. Solange der Gesetzgeber nicht klargestellt hat, welcher Art der für einen fairen Handel geforderte Nachweis zu sein hat und welche Nachweise als ausreichend angesehen werden, wird den betroffenen Inhabern von Grabstätten, Steinmetzen, Bildhauern und Händlern von Stei56 Grundlegend für die Einschränkung der Europäischen Grundfreiheiten durch zwingende Erfordernisse EuGH, Slg 1997, 649 Rn. 8 – Cassis De Dijon. 57 BVerfGE 110, 370 (396); BVerwG NVwZ 2006, 589. 58 Vgl. auch BVerwGE 148, 133 (141); Godry/Micke/Stollmann, NWVBl 2015, 176 (181). Wegen des Verbotscharakters der gesetzlichen Bestimmungen unterscheidet sich die Rechtslage grundlegend von derjenigen im Vergaberecht, das Eigenerklärungen ausreichen lässt (vgl. z. B. § 14 Abs. 4 RVO TVgG-NRW). 59 BVerwGE 148, 133. 60 Allgemeine Auffassung. Vgl. BVerfGE 85, 248 (259).
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nen ein unkalkulierbares Risiko aufgebürdet. Dies widerspricht der Angemessenheit (Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne). e) Ergebnis Die Länder haben zwar die Gesetzgebungskompetenz für den Erlass von Verwendungsverboten für Grabmale aus ausbeuterischer Kinderarbeit. Die in Baden-Württemberg, Bremen und im Saarland geschaffenen Gesetzesregelungen genügen aber nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen und sind daher ungültig.61 2. Rechtslage in Nordrhein-Westfalen Als bisher einziges Bundesland hat das Land Nordrhein-Westfalen auf das Grundsatzurteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 16. Oktober 2013 reagiert und im Jahre 2014 eine neue Vorschrift über Grabsteine aus Kinderarbeit in sein Bestattungsgesetz aufgenommen (§ 4a BestG NRW62). Diese erlaubt die Aufstellung von Grabmälern und Grabeinfassungen aus Naturstein auf einem Friedhof nur, wenn sie 1. in Staaten gewonnen, be- und verarbeitet (Herstellung) worden sind, auf deren Staatsgebiet bei der Herstellung von Naturstein nicht gegen die ILO-Konvention 182 verstoßen wird, oder 2. durch eine Zertifizierungsstelle bestätigt worden ist, dass die Herstellung ohne schlimmste Formen von Kinderarbeit erfolgte, und die Steine durch das Aufbringen eines Siegels oder in anderer Weise unveränderlich als zertifiziert gekennzeichnet sind. Die Regelung gilt nicht für Natursteine, die vor dem 1. Mai 2015 in das Bundesgebiet eingeführt wurden (§ 4a Abs. 3 BestG NRW). Eine Organisation wird von dem für Eine-Welt-Politik zuständigen Ressort (anerkennende Behörde) als Zertifizierungsstelle anerkannt, „wenn sie 1. über einschlägige Erfahrungen und Kenntnisse verfügt, 2. weder unmittelbar noch mittelbar an der Herstellung oder am Handel mit Steinen beteiligt ist, 3. sich schriftlich verpflichtet, eine Bestätigung … nur auszustellen, wenn sie sich zuvor über das Fehlen schlimmster Formen von Kinderarbeit durch unangekündigte Kontrollen im Herstellungsstaat, die nicht länger als 6 Monate zurückliegen dürfen, vergewissert hat, 4. ihre Tätigkeit dokumentiert“. Die anerkennende Behörde kann die Anerkennung mit Nebenbestimmungen versehen; die Gültigkeitsdauer ist auf höchstens fünf Jahre zu befristen (§ 4a Abs. 2 BestG NRW). Ob es sich bei dem Verfahren zur Anerkennung von Zertifizierungsstellen um eine Akkreditierung im Sinne des § 1 Abs. 1 des Bundesgesetzes über die Akkreditie61
Eine bloße Unvereinbarkeit mit dem Verfassungsrecht (vgl. dazu V. 2. b)) kommt deshalb nicht in Betracht, weil es jedenfalls nicht den Friedhofsträgern überlassen bleiben darf zu bestimmen, welche Anforderungen an den Nachweis zu stellen sind. 62 GV NRW S. 405.
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rungsstelle vom 31. Juli 200963 handelt64, kann dahinstehen. Jedenfalls hat die anerkennende Behörde durch Verwaltungsakt zu entscheiden. Im Falle der Anerkennung werden die Zertifizierungsstellen nicht als Personen tätig, die mit Staatsgewalt beliehen worden sind, sondern als Private (d. h. hoheitlich zugelassene Sachverständige oder Verifikateure).65 a) Verfassungsmäßigkeit der nordrhein-westfälischen Regelungen Um Geltung beanspruchen zu können, müssen die Vorschriften des § 4a BestG NRW verfassungsrechtlichen Anforderungen genügen. Im Rahmen dieses Beitrags ist es nicht möglich, allen verfassungsrechtlichen Problemstellungen nachzugehen. Vielmehr muss es mit einigen Anmerkungen zu den besonders beachtlichen Rechtsfragen sein Bewenden haben. aa) Verfassungsrechtlicher Schutz der Friedhofsträger Das gesetzliche Aufstellungsverbot des § 4a BestG NRW betrifft nicht nur die Inhaber von Grabstätten sowie die Steinmetze, Bildhauer und Händler von Steinen, sondern auch die Friedhofsträger. Das Bestattungswesen wird zwar zumeist als staatliche Angelegenheit angesehen.66 Soweit die Gemeinden Friedhöfe betreiben, kann es sich aber nur um Selbstverwaltung handeln, selbst wenn eine Pflichtaufgabe zur Erfüllung nach Weisung gegeben sein sollte.67 Damit müssen sich die gesetzlichen Regelungen an Art. 28 Abs. 2 S. 1 GG und den entsprechenden landesverfassungsrechtlichen Garantien messen lassen. Das Friedhofswesen der korporierten Religionsgemeinschaften unterfällt dem Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften (Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 III WRV).68 Auch im Falle einer Beleihung privatrechtlich organisierter Religionsgemeinschaften69 wird das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften nicht vollständig verdrängt. Mit § 4a BestG NRW hat der nordrhein-westfälische Gesetzgeber eine bereichsspezifische 63
BGBl. I, S. 2625. Verneinend Godry/Micke/Stollmann, NWVBl 2015, 167 (181). Zu den Anforderungen an eine Akkreditierung (von universitären Studiengängen) vgl. BVerfG Beschluss vom 17. 02. 2016 – 1 BvL 8/10. 65 Zu einer vergleichbaren Fallgestaltung vgl. Ehlers (Fn. 38), § 5 Rn. 67. 66 Vgl. BVerwGE 25, 364 (366); 105, 117; Maurer, FS Menger, Köln 1985, S. 285 (288); Lorenz, JuS 1995, 492 (495). 67 Zum Selbstverwaltungscharakter vgl. VerfGH NRW DVBl 1985, 685 (687); BbgVerfG NVwZ-RR 1997, 352; OVG NRW NWVBl 1995, 300 (301). Näher zum Meinungsstand Burgi, Kommunalrecht, 5. Aufl. München 2015, § 8 Rn. 22 ff. 68 Str. wie hier: v. Campenhausen/de Wall, Staatskirchenrecht, 4. Aufl. München 2006, S. 185 ff., Ehlers, in: Sachs (Fn. 8), Art. 140 GG, 137 WRV Rn. 8; Unruh, Religionsverfassungsrecht, 3. Aufl. Baden-Baden 2015, Rn. 166; a.A. Morlok, in: Dreier (Hg.), Grundgesetz, Bd. 1, 3. Aufl. Tübingen 2013, Art. 4 Rn. 105. 69 Vgl. § 1 Abs. 4 S. 2, Abs. 5 BestG NRW. 64
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Vollregelung getroffen. Für weitere Festlegungen der Friedhofsträger bleibt insofern kein Raum. Das schmälert das Selbstverwaltungsrecht der Gemeinden und Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften. Doch werden die diesbezüglichen Rechte nur im Rahmen der Gesetze garantiert. Verfassungsrechtliche Bedenken gegen eine vollständige gesetzliche Regelung sind nicht ersichtlich. Vielmehr verhindert eine landesweite Normierung einen Wildwuchs örtlicher Bestimmungen mit unterschiedlichen Maßstäben für die Bekämpfung der ausbeuterischen Kinderarbeit.70 bb) Verfassungsrechtlicher Schutz der Grabstätteninhaber, Steinmetze, Bildhauer und Händler von Steinen Als wesentlich gravierender erweist sich, dass das Verbot des § 4a BestG NRW sowohl in das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit der zur Bestattung verpflichteten71 Grabstelleninhaber (Art. 2 Abs. 1 GG) als auch (und vor allem) in die Berufsausübungsfreiheit der Steinmetze, Bildhauer und Händler von Steinen (Art. 12 Abs. 1 GG) eingreift. Im Grundsatz rechtfertigt das Anliegen des Gesetzgebers jedoch den Eingriff. Dies gilt insbesondere auch für die Differenzierung zwischen dem Aufstellen von Steinen mit und ohne Zertifikat, weil ein ausnahmsloses Zertifikatsystem als eine unverhältnismäßige Beschränkung der Grundrechte (und auch der WTO-Bestimmungen sowie der Freiheit des Warenverkehrs der Europäischen Union) anzusehen gewesen wäre.72 Muss die Bestätigung einer Zertifizierungsstelle eingeholt werden, verursacht dies zwar einen erheblichen Aufwand, der sich in höheren Entgelten niederschlagen wird. Angesichts der zu bekämpfenden Gefahren widerspricht allein dies aber nicht den Verhältnismäßigkeitsanforderungen. Jedoch kommt es wiederum auf die Wahrung der Bestimmtheit und Verhältnismäßigkeit en detail an. Die Bestimmtheit ist nicht gegeben, weil gänzlich offen bleibt, wie ermittelt werden soll, in welchen Staatsgebieten gegen die ILO-Konvention 182 verstoßen wird und in welchen nicht. Weder von Seiten der ILO noch von Seiten Nordrhein-Westfalens oder anderer Staaten gibt es bisher verlässliche Ermittlungen und Berichterstattungen, wie das Land Nordrhein-Westfalen durch Runderlass (d. h. Verwaltungsvorschrift) vom 15. April 2015 im Ministerialblatt eingeräumt hat.73 Des Weiteren bleibt unklar, ob einzelne Verstöße in an sich konventionstreuen Staaten relevant sein sollen. Auch in Industriestaaten lässt sich nicht ausschließen, dass singulär oder gelegentlich schlimmste Formen der Kinderarbeit vorkommen. Dies alles 70 Vgl. auch BVerwGE 148, 133 (145), wonach es auch vor dem Hintergrund der Wettbewerbsgleichheit unter den Steinmetzen schwer erträglich wäre, wenn jede Gemeinde in ihrem Gebiet Nachweisanforderungen stellen würde, die sich von denjenigen der Nachbargemeinde erheblich unterscheiden. 71 Vgl. § 8 BestG NRW. 72 Vgl. auch Godry/Micke/Stollmann, NWVBl 2015, 176 (180). 73 MBl NRW 2015, Nr. 2190, S. 231.
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führt dazu, dass zugleich unklar bleibt, wann es der Bestätigung einer Zertifizierungsstelle bedarf.74 Um der Unschärfe zu begegnen, wäre es erforderlich gewesen, an verbindliche Listen von Staaten anzuknüpfen, in denen die ILO-Konvention 182 in einer dem Gesetz genügenden Weise beachtet oder nicht beachtet wird. Soweit eine Bestätigung der Zertifizierungsstelle erforderlich ist (§ 4a Abs. 1 Nr. 2 BestG NRW) müsste eine solche schließlich zu erlangen sein. In der Vergangenheit hat es verlässliche Zertifizierungssysteme und Gütesiegel unabhängiger Organisationen nicht gegeben.75 Jedenfalls bis Mai 2016 ist noch keine Organisation als Zertifizierungsstelle anerkannt worden. Nach alledem ist der Eingriff in die grundrechtlichen Gewährleistungen nicht als gerechtfertigt anzusehen. b) Fehlerfolge der Verfassungswidrigkeit Die Ministerialverwaltung des Landes Nordrhein-Westfalen hat nach Erlass des § 4a BestG NRW erkannt, dass sich gegenwärtig nicht feststellen lässt, auf welchen Staatsgebieten gegen die ILO-Konvention 182 verstoßen wird.76 Deshalb hat sie in dem erwähnten Runderlass77 verfügt, dass „derzeit noch keine Zertifizierungspflicht“ besteht und eine Ahndung von Verstößen gem. der Bußgeldbestimmung des § 19 Abs. 1 Nr. 1 BestG NRW „dementsprechend derzeit nicht erfolgen“ kann. Dies dürfte dahingehend zu verstehen sein, dass die Bestimmung des § 4a BestG NRW vorläufig nicht anwendbar sein soll. Stehen die Staaten fest, auf deren Staatsgebiet gegen die ILO-Konvention 182 verstoßen wird, soll der Anwendung offenbar nichts mehr im Wege stehen. Doch sind verfassungswidrige Gesetze grundsätzlich ungültig (nichtig) und – anders als im Falle einer Kollision von Europäischem Unionsrecht und nationalem Recht78 – nicht nur nicht anwendbar. Zwar können Verfassungsgerichte verfassungswidrige Normen auch für lediglich unvereinbar mit der Verfassung und deshalb für vorläufig nicht anwendbar erklären (statt für ungültig).79 Dies kann unter anderem in Betracht kommen, wenn der Gesetzgeber (mehrere) Möglichkeiten hat, den verfassungswidrigen Zustand zu besei-
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Darüber hinaus problematisch ist nach Barthel (Fn. 48), Kap. 13 Rn. 31, die Möglichkeit der Umgehung der Zertifizierungspflicht durch Zwischenimport in ein Mitgliedsland der Europäischen Union. 75 Vgl. BT-Drs. 16/12988, S. 5 f. 76 Keine Stellung genommen wurde zur bisher fehlenden Anerkennung von Zertifizierungsstellen. 77 Vgl. Fn. 73. 78 Vgl. zum diesbezüglichen Anwendungsvorrang des Unionsrechts EuGH Slg 1964, 1251 (1296 ff.) – Costa/ENEL; Slg 1991, I-297 Rn. 19 ff. – Nimz; BVerfGE 75, 223 (244); 85, 191 (204); 123, 267 (398 ff.); 126, 286 (301 f.). 79 Vgl. §§ 31 Abs. 2 S. 2, 3; 79 Abs. 1 BVerfGG.
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tigen.80 Doch sind Regierung oder Verwaltung nicht befugt, über die Außerachtlassung von Parlamentsgesetzen zu entscheiden, wie sich aus dem in Art. 100 Abs. 1 GG garantierten Entscheidungsmonopol der Verfassungsgerichte ergibt.81 Zudem kann die Bestimmung des § 4a BestG NRWohnehin nur durch Nachbesserung in Gestalt einer Neuregelung aufrechterhalten werden. Wenn der Gesetzgeber nicht selbst die Staaten bestimmen will, auf deren Gebiet (nicht) gegen die ILO-Konvention 182 verstoßen wird82, bedarf es im Gesetzestext einer Ermächtigung der Regierung oder Verwaltung, eine verbindliche Liste von Staaten aufzustellen. Ob Verlautbarungen der Exekutive ausreichen würden, ist sehr zweifelhaft. Vorzuziehen ist in jedem Falle eine Ermächtigung zum Erlass einer Verordnung, in der die Staatsgebiete benannt werden, auf denen Kinderarbeit vorkommt. Zudem müsste § 4a BestG NRW so gefasst werden, dass mit Inkrafttreten der Bestimmung sichergestellt ist, dass auf anerkannte Zertifizierungsstellen zurückgegriffen werden kann. In der jetzigen Fassung ist § 4a BestG NRW als ungültig anzusehen.
VI. Gesetzgeberischer Regelungsbedarf Wie ausgeführt, ist die ILO-Konvention 182 durch den Bundesgesetzgeber in das Bundesrecht inkorporiert worden, wohingegen konkretisierende landesgesetzliche Regelungen entweder ganz fehlen oder aus verfassungsrechtlichen Gründen als ungültig anzusehen sind. Dies wirft die Frage auf, ob die Landesgesetzgeber zum Handeln verpflichtet sind. Da alle Mitglieder, welche die ILO-Konvention 182 ratifiziert haben, unverzüglich wirksame (also weitere) Maßnahmen zu treffen haben (I.) und die Gefahrenabwehr gebietet, Verwendungsverbote für Grabmale oder Grabeinfassungen aus ausbeuterischer Kinderarbeit vorzusehen, ist die Frage zu bejahen. Der Umstand, dass es um die Umsetzung von Bundesrecht durch den Landesgesetzgeber geht, schließt einen Gesetzgebungsauftrag nicht aus, da der Grundsatz bundesfreundlichen Verhaltens83 eine Rücksichtnahme auf die vom Bund eingegangenen völkerrechtlichen Verpflichtungen gebietet und der Regelungsspielraum der Landesgesetzgeber nicht übermäßig beschnitten wird.84 Umgekehrt würde es zugleich dem bundesfreundlichen Verhalten dienen, wenn der Bund den Ländern Informationen darüber zur Verfügung stellt, auf welchen Staatsgebieten gegen die ILO-Konvention 182 verstoßen wird. Es ist damit zu rechnen, dass sich die verschiedenen Gesetzgeber der 80
Dies trifft insbesondere auf Gleichheitsverstöße zu (BVerfGE 99, 280, 298; 105, 73, 133; 121, 108, 131 f.), geht aber auch in anderen Fällen (BVerfGE 100, 226, 247 f.; 101, 397, 409; 128, 326, 404). 81 Streitig. Vgl. Ehlers (Fn. 38), § 2 Rn. 133; ausführlich zum Ganzen Horn, FS Stern, 2012, 353 ff.; Gärditz, in: Friauf/Höfling (Hg.), Berliner Kommentar zum Grundgesetz, 44. EL Berlin 2014, Art. 20 (6. Teil) Rn. 108 ff. 82 Eine solche Regelung im Parlamentsgesetz wäre äußerst unzweckmäßig, weil die Verhältnisse sich ständig ändern können, das Gesetz also jeweils neu angepasst werden müsste. 83 BVerfGE 92, 203 (234). 84 Vgl. dazu BVerfGE 34, 9 (20).
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Aufgabenstellung annehmen werden, wenn in Nordrhein-Westfalen eine verfassungskonforme Lösung gefunden worden ist.
VII. Fazit Als Resümee lässt sich feststellen, dass eine Ratifizierung völkerrechtlicher Verträge und eine Inkorporation der Verträge in das innerstaatliche Recht noch nicht bedeutet, dass das Völkerrecht reale Kraft erlangt. Dies gilt zumal dann, wenn die völkerrechtlichen Verträge weitere Maßnahmen erfordern, wie dies auf die ILO-Konvention 182 über das Verbot und unverzügliche Maßnahmen zur Beseitigung der schlimmsten Formen der Kinderarbeit zutrifft. Die Schwierigkeiten, die Konvention im Friedhofswesen handhabbar zu machen, dürften kein deutsches Spezifikum sein, jedoch stellen sich in einem Bundesstaat zusätzliche Probleme. Für die bisherige gesetzgeberische Arbeit gilt die alte Weisheit, dass gut gemeint noch nicht gut gemacht ist.
Wiedervereinigung Deutschlands und Verlust der deutschen Ostgebiete Ein Beitrag zur Rechtslage Deutschlands nach 1945 Von Gilbert Gornig Am 3. Oktober 1990 erfolgte der Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) zur Bundesrepublik Deutschland. Über 25 Jahre nach diesem Ergebnis einer friedlichen Revolution soll zu Ehren von Yamauchi Koresuke und in Würdigung seiner Verdienste als Brückenbauer zum deutschen Recht dieses denkwürdige Ereignis in seinen insbesondere völkerrechtlichen Dimensionen dargestellt werden.1 Wird nach dem Zeitpunkt des Entstehens des jetzigen deutschen Staates gefragt, werden unterschiedliche Antworten gegeben. Jahreszahlen wie 911, 919, 1648, 1867, 1871, 1933, 1949, 1955 und 1990 werden erwähnt. Nach dem Untergang des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation 1806 ist der zweite deutsche Staat am 1. Juli 1867 als Norddeutscher Bund entstanden, dem sich 1870 die süddeutschen Staaten Bayern, Württemberg, Baden und Hessen-Darmstadt anschlossen, so dass am 1. Januar 1871 die Verfassung des Deutschen Reiches in Kraft treten konnte. Unklarheit herrscht ferner darüber, ob dieser deutsche Staat 1945 untergegangen ist. Sehr häufig ist die Rede davon, dass die Bundesrepublik Deutschland der „Rechtsnachfolger“ des Deutschen Reiches sei. Das würde den Untergang des deutschen Staates – irgendwann vor dem 23. Mai 1949, dem Tag der Konstituierung der Bundesrepublik Deutschland – voraussetzen, da nur dann eine Rechtsnachfolge denkbar ist. Läge jedoch kein Untergang vor, dann könnte die Bundesrepublik Deutschland als Rechtssubjekt mit dem Reich „identisch“ sein. Allerdings könnte die DDR mit dem Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland untergegangen sein, die Bundesrepublik Deutschland wäre insoweit Rechtsnachfolger.
I. Deutschlands Schicksal 1945 bis 1990 1. Viermächteverantwortung Schon nach der Beendigung des Zweiten Weltkriegs stellte sich die Frage nach der Kontinuität oder Diskontinuität des deutschen Staates. Ausgangspunkt der Diskus1 Vgl. dazu ausführlich Gornig, Gilbert, Der völkerrechtliche Status Deutschlands zwischen 1945 und 1990. Auch ein Beitrag zu Problemen der Staatensukzession, München 2007.
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sion ist die „Drei-Elemente-Lehre“, wonach ein Staat aus Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt besteht und nur dann untergeht, wenn eines dieser Elemente wegfällt. Unter Staatsgebiet ist der gesicherte Raum zu verstehen, in dem ein Volk seine Herrschaft effektiv ausüben kann und über den ihm die Verfügungsgewalt zusteht. Beim Staatsvolk2 handelt es sich um einen dauerhaften Personenverband, der in der Geschlechterfolge fortlebt. Staatsgewalt3 schließlich ist die Herrschaftsgewalt über diesen Personenverband und das Gebiet.4 Konstituierend ist letztlich die Zusammengehörigkeit5 der drei Elemente sowie die Effektivität der Ordnung6. Ein solches Gemeinwesen ist ein Staat und damit ipso facto Völkerrechtssubjekt7, also völkerrechtlichen Rechten und Pflichten unterworfen. Die Vier Mächte schlossen in der Erklärung der vier Hauptsiegermächte „in Anbetracht der Niederlage Deutschlands und der Übernahme der obersten Regierungsgewalt hinsichtlich Deutschlands“ am 5. Juni 19458, der sogenannte Berliner Erklärung, eine Annexion Deutschlands ausdrücklich aus. Unter Annexion versteht man die gewaltsame, regelmäßig im Anschluss an eine militärische Niederlage des Gegners erfolgende Einverleibung fremden Territoriums mit Aneignungsabsicht. Die Alliierten wollten Deutschland nur besetzen. Insoweit fehlte es schon am subjektiven Element der Annexion, dem Annexionswillen. An der Kontinuität des Staatsvolkes als des personalen Staatselementes bestand im Übrigen auch kein Zweifel. Die die Staatsangehörigkeit als solche betreffenden Regelungen blieben nämlich unberührt. Der Fortbestand der deutschen Staatsgewalt lässt sich mit der Staatenpraxis der Siegermächte nach dem Zusammenbruch 1945 belegen. Zum einen ging das Deutsche Reich nicht durch die bedingungslose Kapitulation der Streitkräfte am 7. und 8. Mai 19459 unter, da diese nur ein militärischer Akt war und die deutsche Staatsgewalt nicht beseitigte. Auch konnte in der Verhaftung der letzten Reichsregierung, der sogenannten Regierung Dönitz,10 am 23. Mai 1945 kein Wegfall der deutschen Staats2 Vgl. Jellinek, Georg, Allgemeine Staatslehre 3. Aufl. Berlin/Heidelberg 1921, S. 406 f.; vgl. ferner Verdross, Alfred/Simma, Bruno, Universelles Völkerrecht, 3. Aufl. Berlin 1984, § 380, S. 225. 3 Vgl. Jellinek (Fn. 2), S. 427 ff.; vgl. ferner: Verdross/Simma (Fn. 2) § 380, S. 225 f. 4 Zur Frage der Souveränität als Teil der Staatsgewalt vgl. Kimminich, Otto, Die Souveränität der Bundesrepublik Deutschland, Hamburg 1970, S. 11; Fiedler, Wilfried, Staatskontinuität und Verfassungsrechtsprechung, Freiburg/München 1970, S. 34, 57 f.; Wilke, KayMichael, Bundesrepublik Deutschland und Deutsche Demokratische Republik. Grundlagen und ausgewählte Probleme des gegenseitigen Verhältnisses der beiden deutschen Staaten, Berlin 1976, S. 56 ff.; Teyssen, Georg, Deutschlandtheorien auf der Grundlage der Ostvertragspolitik, Frankfurt/Main 1987, S. 55 ff. 5 Vgl. Kimminich (Fn. 4) S. 135. 6 Vgl. Verdross/Simma (Fn. 2) § 383, S. 226. 7 Vgl. Kimminich (Fn. 4) S. 130. 8 Text: Amtsblatt des Kontrollrats in Deutschland, Ergänzungsblatt Nr. 1, S. 7 ff. 9 Text: Amtsblatt des Kontrollrats in Deutschland, Ergänzungsblatt Nr. 1, S. 6. 10 Zur Verhaftung von Dönitz als Staatsoberhaupt vgl. Bücking, Hans-Jörg, Der Rechtsstatus des Deutschen Reiches, Berlin 1979, S. 30 ff.
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gewalt gesehen werden. Zum einen wurde durch diese Verhaftung der Kern der deutschen Staatsgewalt nicht getroffen, zum anderen hängt das Schicksal der Staatsgewalt nicht vom Schicksal ihrer Funktionsträger ab.11 Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass auf mittlerer und unterer Ebene immer noch deutsche Staatsgewalt ausgeübt wurde.12 Selbst wenn also der deutsche Staat durch die Verhaftung der Regierung Dönitz handlungsunfähig geworden sein sollte, ist deshalb die Staatsgewalt als solche nicht untergegangen. Entscheidend für das rechtliche Schicksal Deutschlands war somit die Berliner Erklärung. Darin übernahmen die Großmächte „die oberste Regierungsgewalt in Deutschland“. Dies geschah nach den Worten der Großmächte, um „Vorkehrungen für die Einstellung weiterer Feindseligkeiten seitens der deutschen Streitkräfte für die Aufrechterhaltung der Ordnung in Deutschland und für die Verwaltung des Landes zu treffen.“ Ob hiermit die vier Siegermächte die deutsche Staatsgewalt treuhänderisch wahrnahmen, ist streitig. So wird vertreten, die Vier Mächte konnten sich insoweit weder auf eine Vollmachterteilung vom Treugeber, von Deutschland oder von einer anderen Institution, berufen, noch hätten sie den Willen zur Ausübung der Treuhand.13 Sie hätten vielmehr eigennützig im irrtümlichen Glauben gehandelt, dass ihre Handlungen durch das Völkerrecht, insbesondere die Bestimmungen der Haager Landkriegsordnung gedeckt seien.14 Nach anderer Ansicht hingegen wurde die deutsche Staatsgewalt treuhänderisch von den Siegermächten fortgeführt.15 Insgesamt konnte man jedenfalls davon ausgehen, dass die deutsche Staatsgewalt fortexistierte.16 Dies geschah auch, um die Fortexistenz des Schuldners Deutsches Reich zu sichern, da Neustaaten auf deutschem Boden mangels völkerrechtlicher Verpflichtung zur Übernahme von Reparationen sich auf den Standpunkt hätten stellen können, sie 11
Vgl. Blumenwitz, Dieter, Was ist Deutschland? Staats- und völkerrechtliche Grundsätze zur Deutschen Frage und ihre Konsequenzen für die deutsche Ostpolitik, 3. Aufl. Bonn 1989, S. 33; Teyssen (Fn. 4) S. 165. 12 Zu den neu entstandenen bzw. fortexistierenden deutschen Ländern vgl. Gornig, Gilbert, Territoriale Entwicklung und Untergang Preußens. Eine historisch-völkerrechtliche Untersuchung, Köln 2000, S. 99 ff.; vgl. ferner Blumenwitz, Was ist Deutschland? (Fn. 11) S. 33; Teyssen (Fn. 4) S. 165. 13 Vgl. Teyssen (Fn. 4) S. 165 f. 14 Vgl. auch Rumpf, Helmut, Deutschlands Rechtslage seit 1973, in: Rumpf, Helmut, Vom Niemandsland zum deutschen Kernstaat. Beiträge zur Entwicklung der Deutschlandfrage seit 1945, Hamburg 1979, S. 167 ff. (179). 15 Vgl. auch Kimminich (Fn. 4) S. 38 ff.; ders., Deutschland als Rechtsbegriff und die Anerkennung der DDR, DVBl. 1970, S. 437 (439); Blumenwitz, Was ist Deutschland? (Fn. 11) S. 36; Waitz v. Eschen, Friedrich, Die völkerrechtliche Kompetenz der Vier Mächte zur Gestaltung der Rechtslage Deutschlands nach dem Abschluß der Ostvertragspolitik, Frankfurt/ Main u. a. 1988, S. 24 ff., 52 ff. 16 Vgl. Schuster, Rudolf, Deutschlands staatliche Existenz im Widerschein politischer und rechtlicher Gesichtspunkte, 1945 – 1963, München 1963, S. 44; Fiedler (Fn. 4) S. 142 ff.; Rauschning, Dietrich, Der Fortbestand des deutschen Staates und die Verträge von Bonn und Paris, in: Göttinger Arbeitskreis (Hg.), Deutschlandvertrag, westliches Bündnis und Wiedervereinigung, Berlin 1986, S. 23 ff. (25 ff.); Waitz v. Eschen (Fn. 15) S. 1 ff.
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seien erst nach 1945 entstanden und konnten somit 1945 noch keinen Krieg verloren haben. Das Deutsche Reich war damit nach 1945 nicht untergegangen. Alle Staatsorgane der Bundesrepublik Deutschland haben sich von Anfang an uneingeschränkt zum Fortbestand des Deutschen Reiches bekannt. Man sprach nun aber von Deutschland als Ganzem. 2. Entstehung zweier Staaten in Deutschland Die Fortexistenz Deutschlands in den Grenzen vom 31. Dezember 1937 war 1949 erneut gefährdet durch die Konstituierung der Bundesrepublik Deutschland am 23. Mai 1949 und die Konstituierung der DDR am 7. Oktober 194917. Subsumiert man die Ereignisse 1949 unter die Kriterien der Drei-Elemente-Lehre, so ist weder von einer Dismembration noch von einer Sezession auszugehen. Zwar war bei beiden deutschen Teilstaaten Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt festzustellen, aber diese Gebilde unterstanden noch den als Besatzungsrecht deklarierten Vier-Mächte-Rechten.18 Den neu entstandenen deutschen Teilstaaten wurden somit durch das Fortschreiben der alliierten Siegerrechte entscheidende Souveränitätsrechte vorenthalten. Im Übrigen hatten weder die Bundesrepublik Deutschland noch die DDR im Jahre 1949 einen Sezessionswillen. Vielmehr gingen beide Staaten von einer unveränderten Rechtslage Deutschlands aus.19 Damit bestand Deutschland als teilweise handlungsunfähiges Völkerrechtssubjekt und somit als Staat fort, während die Bundesrepublik Deutschland und die DDR jeweils beschränkt handlungsfähige, also beschränkt souveräne Völkerrechtssubjekte mit einem qualitativ geminderten Völkerrechtsstatus waren.20 Die Frage der Kontinuität bzw. Diskontinuität stellte sich erneut 1954/1955, als die Bundesrepublik Deutschland und die DDR eine allerdings beschränkte Souveränität erlangten. Nach Art. 1 Abs. 2 des am 5. Mai 1955 in Kraft getretenen Deutschlandvertrages21 soll die Bundesrepublik Deutschland nur „demgemäß die volle Macht eines souveränen Staates ihrer inneren und äußeren Angelegenheiten haben.“ Die Abstriche am vollen Souveränitätsstatus werden in Art. 2 deutlich. Entsprechende Souveränitätseinbußen der DDR lassen sich völkerrechtlich zwar nicht so klar erkennen, sie waren aber gleichwohl vorhanden und werden deutlich in 17
Text der Verfassung vom 07. 10. 1949: GBl. DDR 1949, S. 5 ff. Vgl. etwa Kimminich (Fn. 4) S. 63, 82; Wilke (Fn. 4) S. 71; Blumenwitz, Dieter, Die Grundlagen eines Friedensvertrages mit Deutschland. Ein völkerrechtlicher Beitrag zur künftigen Deutschlandpolitik, Berlin 1966, S. 25; Waitz v. Eschen (Fn. 15) S. 110 ff.; Rauschning, Dietrich, Die Wiedervereinigung vor dem Hintergrund der Rechtslage Deutschlands, JuS 1991, S. 977 (978). 19 Vgl. Schuster (Fn. 16) S. 61 ff.; Gleich, Johann G., Die Anerkennung der DDR durch die Bundesrepublik Frankfurt/Main 1975, S. 81 ff.; Teyssen (Fn. 4) S. 171. 20 Vgl. Blumenwitz (Fn. 18) S. 115; Waitz v. Eschen (Fn. 15) S. 115 ff. 21 Text: BGBl. 1955 II, S. 301 ff. 18
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der Souveränitätserklärung der Sowjetregierung gegenüber der DDR vom 25. März 195422, in der die DDR zwar als souverän bezeichnet wurde, sich die Sowjetunion allerdings „Funktionen“ vorbehielt, „die mit der Gewährleistung der Sicherheit im Zusammenhang stehen und sich aus den Verpflichtungen ergeben, die der UdSSR aus dem Viermächteabkommen erwachsen“. Auf deutschem Boden gab es nun somit einen fortexistierenden Gesamtstaat sowie die beiden Staaten Bundesrepublik Deutschland und DDR. Aufgrund der komplizierten Rechtslage Deutschlands entwickelten sich mehrere Deutschland-Theorien. Da davon auszugehen ist, dass das Deutsche Reich jedenfalls fortbestand und zwar in den Grenzen vom 31. Dezember 1937, sind alle diejenigen Theorien, die von anderen Prämissen ausgehen, zu vernachlässigen. Als eine der herrschenden Theorien ist die Identitätstheorie23 zu erwähnen. Die Bundesrepublik Deutschland war mit Gesamtdeutschland identisch.24 Ein Problem der Identitätstheorie war das Verhältnis der bundesdeutschen Staatsgewalt zur gesamtdeutschen Staatsgewalt.25 Die Bundesrepublik Deutschland konnte den deutschen Gesamtstaat vertreten, soweit die Souveränität dieses Staates nicht durch die Vier-Mächte-Rechte beschränkt war. Soweit also die Bundesrepublik Deutschland Staatsgewalt ausübte, war es gleichzeitig deutsche Staatsgewalt. Diese Identitätstheorie beschäftigte sich in Untertheorien auch mit dem Verhältnis der Bundesrepublik Deutschland zur DDR. Nach der Staatskerntheorie26 war die Bundesrepublik Deutschland als Staatskern eines größeren Deutschlands mit dem Deutschen Reich identisch. Ihre aktuelle Staatsgewalt erstreckte sich jedoch mangels Effektivität nicht auf das ganze Staatsgebiet. Die DDR war in einem Sezessionsvorgang begriffen. Staats- und Verfassungsgebiet fielen nach dieser Theorie also auseinander. Das Bundesverfassungsgericht sprach von einer Teilidentität.27 Die Teilidentitätslehre lässt sich im Sinne der Staatskerntheorie so deuten, dass die Rechtssubjekte Bundesrepublik Deutschland und Deutsches Reich identisch sind, dass aber wegen des völkerrechtlichen Effekti22 Text: Deutsches Institut für Zeitgeschichte. Dokumente zur Außenpolitik der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik, Bd. I, Berlin (Ost) 1954, S. 303. 23 Vgl. Scheuner, Ulrich, Die staatsrechtliche Kontinuität in Deutschland, DVBl. 1950, S. 481 ff.; 514 ff.; Marschall von Bieberstein, Walther, Zum Problem der völkerrechtlichen Anerkennung der beiden deutschen Regierungen. Ein Beitrag zur Diskussion über die Rechtslage Deutschlands, Frankfurt/Main 1959, S. 121 ff.; Arndt, Adolf, Der Deutsche Staat als Rechtsproblem, Berlin 1960, S. 36 ff.; Scheuer, Gerhard, Die Rechtslage des geteilten Deutschland, Frankfurt a. M./Berlin 1960, S. 108; Schuster (Fn. 16) S. 77 ff. 24 Die DDR hat ihren Identitätsanspruch etwa 1952 aufgegeben. Bis dahin bestand zwischen der Bundesrepublik und der DDR ein Prätendentenstreit, in dem beide Ordnungen für sich in Anspruch nahmen, mit dem Gesamtstaat identisch zu sein. Vgl. Rauschning (Fn. 18) JuS 1991, S. 977 (978). 25 Vgl. hierzu Teyssen (Fn. 4) S. 210 ff. 26 Vgl. Schuster (Fn. 16) S. 84 f.; Blumenwitz (Fn. 18) S. 38; Teyssen (Fn. 4) S. 223 f. 27 Vgl. BVerfGE 36, S. 1 ff. (16) – Grundvertrag. Zur Lehre Krügers von der Teilidentität vgl. Krüger, Herbert, Bundesrepublik Deutschland und Deutsches Reich, SJZ 1950, Sp. 133 ff.; Schuster (Fn. 6) S. 91 ff.
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vitätsgrundsatzes nicht alle rechtlichen Folgerungen gezogen werden können, die sich sonst aus der Identität ergeben.28 Nach der Schrumpfstaatstheorie war das Deutsche Reich auf den aktuellen Geltungsbereich des Grundgesetzes bei Wahrung seiner rechtlichen Identität zusammengeschrumpft. Staats- und Verfassungsgebiet waren identisch, aber lediglich bezogen auf das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland. Diese Theorie war weder mit dem Grundgesetz noch mit dem Völkerrecht im Einklang, da sie zum einen dem Einheitswahrungsgebot widersprach, zum anderen von einer nicht erfolgten Sezession der DDR ausging und die Viermächteverantwortung über Deutschland als Ganzes nicht respektierte. Nach der Teilordnungslehre oder Dachtheorie ist die mit dem Grundgesetz geschaffene Ordnung nicht die des Gesamtstaates, will diese jedoch nicht verdrängen, sondern sich ihr als Reichsdach gliedstaatsähnlich unterordnen. Bundesrepublik und DDR treten sich in diesem Modell gleichberechtigt auf einer Stufe unterhalb der vollen staatlichen Souveränität gegenüber. Vor dem Hintergrund dieser Theorien ist dann auch der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland zu werten. 3. Vereinigung der beiden deutschen Staaten Bei der Vereinigung der beiden deutschen Staaten tauchte die Frage auf, wie diese Vereinigung bewältigt werden sollte. Es stand die Möglichkeit zur Debatte, dass nach einem Untergang des deutschen Gesamtstaates die beiden dann voll souveränen deutschen Staaten, Bundesrepublik Deutschland und DDR, fusionieren und ein einheitliches Völkerrechtssubjekt bilden könnten. Diese Überlegung, die vor allem von denjenigen bevorzugt wurde, die mit dem Untergang der DDR auch einen Untergang der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Gesellschaftsordnung erzwingen wollten, setzte sich nicht durch.29 Vielmehr wurde von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, die Art. 23 Satz 2 GG alter Fassung vorsah, wonach das Grundgesetz in anderen Teilen Deutschlands nach deren Beitritt in Kraft zu setzen ist. Am 23. August 1991 erklärte die Volkskammer „den Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes nach Art. 23 zum 3. Oktober 1990.“30 Bei der Vereinigung der beiden deutschen Staaten auf den durch Art. 23 Satz 2 GG alter Fassung zur Verfügung gestellten Weg handelt es sich um den Beitritt der DDR zum Staatsverband der Bundesrepublik Deutschland. Die völkerrechtliche Identität des Deutschen Staates mit dem Namen Bundesrepublik Deutschland, die ihrerseits identisch mit dem deutschen Gesamtstaat ist, blieb damit bestehen, die 28
So Blumenwitz (Fn. 18) S. 38. Vgl. z. B. auch Isensee, Josef, Staatseinheit und Verfassungskontinuität, VVDStRL 49 (1990), S. 39 ff.; Rauschning (Fn. 18) JuS 1991, S. 977 ff. (979 ff.); ders., Deutschlands aktuelle Verfassungslage, DVBl. 1990, S. 393 ff.; Klein, Eckart, An der Schwelle zur Vereinigung Deutschlands, NJW 1990, S. 1065 ff.; Starck, Christian, Deutschland auf dem Weg zur staatlichen Einheit, JZ 1990, S. 349 ff.; Gornig, Gilbert, Deutschlands aktuelle Verfassungslage, Der Staat 1990, S. 371 ff. 30 Text der Beitrittserklärung: GBl. DDR 1990, S. 1324. 29
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DDR hingegen ging unter. Der Beitritt der DDR zum Staatsverband der Bundesrepublik Deutschland lässt sich aus völkerrechtlicher Sicht als Inkorporation qualifizieren. Mit Wirksamwerden des Beitritts trat am 3. Oktober 1990 der Einigungsvertrag in Kraft. Durch Art. 3 Einigungsvertrag wurde zunächst das Grundgesetz im Beitrittsgebiet in Kraft gesetzt und damit der Verfassungsauftrag aus Art. 23 GG alter Fassung teilweise31 erfüllt. Der Einigungsvertrag regelte die Konsequenzen des Untergangs der DDR. Die Bundesrepublik Deutschland wurde Rechtsnachfolgerin der DDR. Wenn nun insoweit im Einigungsvertrag ausdrücklich angeordnet wird, dass Rechtsverhältnisse fortbestehen, kann von einer Einzelrechtsnachfolge gesprochen werden.32 Eine Universalsukzession von Bund und Ländern in die Rechtspositionen der DDR wird nicht angeordnet. Wegen der Fortexistenz der Bundesrepublik Deutschland galten grundsätzlich die Gesetze und Verträge der Bundesrepublik Deutschland und des Reiches fort. Ihr Vermögen und ihre Schulden blieben unberührt. Die deutschen Staatsangehörigen behielten ihre Staatsangehörigkeit nach dem Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz vom 22. Juli 1913. Die Gesetze der Bundesrepublik Deutschland gelten gemäß Art. 8 Einigungsvertrag auch in den neuen Bundesländern, soweit sie sich nicht in ihrem Geltungsbereich auf bestimmte Länder oder Landesteile beschränken. Der Einigungsvertrag enthält in Art. 11 eine Regelung über das Schicksal von völkerrechtlichen Verträgen und Vereinbarungen der Bundesrepublik Deutschland nach dem 3. Oktober 1990. Danach gehen die Vertragsparteien davon aus, dass völkerrechtliche Verträge und Vereinbarungen, denen die Bundesrepublik Deutschland als Vertragspartei angehört, einschließlich solcher Verträge, die Mitgliedschaften in internationalen Organisationen oder Institutionen begründen, ihre Gültigkeit behalten. Nach dem Grundsatz der beweglichen Vertragsgrenzen dehnten sich alle Verträge der Bundesrepublik Deutschland auf das Gebiet der fünf neuen Bundesländer aus. Dies galt insbesondere auch für die Verträge, die eine Mitgliedschaft in einer internationalen Organisation zur Folge hatten. Nach Art. 7 des Zwei-plus-vier-Vertrages beendeten die Vier Mächte „ihre Rechte und Verantwortlichkeiten“ in Bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes. Art. 7 Abs. 1 bezieht sich aber auf die Vereinbarungen der vier Siegermächte über Deutschland. Nach Art. 7 Abs. 1 Satz 2 wurden als Ergebnis der Beendigung der ViermächteRechte „die entsprechenden damit zusammenhängenden vierseitigen Vereinbarungen, Beschlüsse und Praktiken beendet und alle entsprechenden Einrichtungen der
31 Zum Geltungsbereich des Wiedervereinigungsgebots vgl. Klein, Eckart, Die territoriale Reichweite des Wiedervereinigungsgebots, 2. Aufl. Bonn 1984, S. 14; seiner richtigen Ansicht nach erfasst er alle Gebiete, die nach dem Stand vom 31. 12. 1937 zu Deutschland gehörten. 32 Vgl. Rauschning (Fn. 18), JuS 1991, S. 977 (982).
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Viermächte aufgelöst“.33 Weil nach Art. 7 Abs. 2 des Zwei-plus-vier-Vertrages das vereinte Deutschland „demgemäß die volle Souveränität über seine inneren und äußeren Angelegenheiten“ hat, könnten auch die Regelungen der Verträge der drei Westmächte mit der Bundesrepublik Deutschland, die die deutsche Souveränität beeinträchtigen, ihre Bedeutung verloren haben.34 Folge wäre damit die Beendigung des Deutschlandvertrages35 und auch des Vertrags zur Regelung aus Krieg und Besatzung entstandener Fragen vom 26. Mai 1952 (Überleitungsvertrag)36. Beide Verträge sind jedoch Gegenstand eines Notenwechsels vom 27./28. September 199037, einem Verwaltungsabkommen gemäß Art. 59 Abs. 2 S. 2 GG, zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und den Regierungen der drei Westalliierten, in dem vereinbart wurde, dass Deutschlandvertrag und Überleitungsvertrag außer Kraft treten.38 Allerdings werden die für die eigentumsrechtliche Problematik relevanten Bestimmungen des Sechsten und Neunten Teils durch den Notenwechsel nicht außer Kraft gesetzt. Sie haben damit auch künftig Gültigkeit.39 Innerstaatlich haben die fortgeltenden Normen nun den Charakter einer Rechtsverordnung des Bundes. Der Einwendungsverzicht aus Art. 3 Abs. 1 Sechster Teil Überleitungsvertrag führte dazu, dass die Bundesregierung auf die Geltendmachung völkerrechtlicher Ersatzansprüche im Wege des diplomatischen Schutzes gegenüber den Alliierten verzichtete. Die Rechtswegpräklusion aus Art. 3 Abs. 3 Sechster Teil Überleitungsvertrag schließt aber lediglich prozessrechtlich die Geltendmachung der Ansprüche aus. Art. 3 enthält aber keine Aussage über den rechtlichen Bestand der Ansprüche, hebt diese also materiell-rechtlich nicht auf.40
33 Damit sind z. B. außer Kraft getreten: das Protokoll über die Besatzungszonen in Deutschland und die Verwaltung von Groß-Berlin vom 12. 09. 1944; das Abkommen über die Kontrolleinrichtungen in Deutschland vom 14. 11. 1944; die Erklärung in Anbetracht der Niederlage Deutschlands vom 05. 06. 1945; die Potsdamer Beschlüsse vom 02. 08. 1945; das Viermächte-Abkommen vom 03. 09. 1971; vgl. Gornig, Gilbert, Der Zwei-plus-vier-Vertrag unter besonderer Berücksichtigung gebietsbezogener Regelungen, ROW 1991, S. 97 ff. (105). 34 Vgl. Gornig (Fn. 33) ROW 1991, S. 97 ff. (105); Fiedler, Wilfried, Die Wiedererlangung der Souveränität Deutschlands und die Einigung Europas, JZ 1991, S. 685 ff. (690). 35 Text: BGBl. 1955 II, S. 301 ff. Vgl. auch Art. 10 Deutschlandvertrag, wonach die Vertragsparteien auf Ersuchen eines von ihnen im Falle der Wiedervereinigung Deutschlands die Bestimmungen des Vertrages erneut überprüfen. 36 Text: BGBl. 1955 II, S. 405 ff. (944). 37 Text: BGBl. 1990 II, S. 1386 ff. Der Notenwechsel war erforderlich, weil diese Verträge keine Beendigungsklausel für den Fall einer friedensvertraglichen Regelung bzw. für den Fall der Wiederherstellung der Deutschen Einheit enthielten. 38 Vgl. dazu ausführlich Gornig, Gilbert, Drei-Mächte-Rechte in Deutschland, in: Gornig, Gilbert in Zusammenarbeit mit Philipp Stompfe (Hg.), Rechtspolitische Entwicklungen im nationalen und internationalen Kontext. Festschrift für Friedrich Bohl zum 70. Geburtstag, Berlin 2015, S. 393 ff. 39 Vgl. Gornig (Anm. 33), ROW 1991, S. 105. 40 Blumenwitz, Dieter, Das Offenhalten der Vermögensfrage in den deutsch-polnischen Beziehungen, Bonn 1992, S. 63.
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Das Recht der DDR bleibt, soweit es Gesetzgebungsmaterien der Länder betrifft und mit dem Grundgesetz, dem übrigen Bundesrecht und dem Recht der Europäischen Gemeinschaften im Einklang steht, nach Art. 9 Einigungsvertrag in Kraft. Die Verträge der DDR sind grundsätzlich mit dem Untergang der DDR als Völkerrechtssubjekt erloschen. Nach Art. 12 Einigungsvertrag wird aber vorgesehen, dass das Erlöschen der Verträge nach Konsultation mit den früheren Vertragspartnern festzustellen ist. Danach kann unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes und der Interessenlage der beteiligten Staaten auch die Fortgeltung und Anpassung der Verträge geregelt werden. Da Mitgliedschaften in internationalen Organisationen als höchstpersönliche Rechte nicht nachfolgefähig sind, wurde die Bundesrepublik Deutschland nicht automatisch Mitglied der internationalen Organisationen, deren Mitglied die DDR war. Eine Aufnahme der Bundesrepublik in solche Organisationen konnte nach Art. 12 Abs. 3 Einigungsvertrag nur im Einvernehmen mit den jeweiligen Vertragspartnern erfolgen. Das Verwaltungsvermögen der DDR wurde Bundesvermögen, soweit es nicht für Aufgaben bestimmt war, die nun von Ländern und Gemeinden wahrzunehmen sind. Soweit es nicht Bundesvermögen wurde, ging es auf die neuen Träger der Verwaltungsaufgabe gemäß Art. 21 Einigungsvertrag über. Ähnliche Regelungen gelten für das Finanzvermögen. Hinsichtlich des Verwaltungsvermögens in Drittstaaten fehlt in Art. 21 Einigungsvertrag jegliche Regelung. Es ist daher davon auszugehen, dass für das in Drittstaaten belegene Verwaltungsvermögen der Deutschen Demokratischen Republik im Zeitpunkt des Beitritts zur Bundesrepublik Deutschland die allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechts gelten. Das Verwaltungsvermögen der DDR, das sich am Tage des Beitritts der Bundesrepublik Deutschland in Drittstaaten befand, fiel damit der Bundesrepublik Deutschland zu. So sind insbesondere die zum Verwaltungsvermögen gehörenden Gesandtschaftsgebäude der DDR durch den Wegfall ihrer Zweckbestimmung in das Finanzvermögen des Bundes gefallen.41 In Übereinstimmung mit den allgemeinen Regeln des Völkerrechts ging auch das in Drittstaaten belegene Finanzvermögen der Deutschen Demokratischen Republik auf die Bundesrepublik Deutschland über.42 Die umfassende Schuldenregelung des Einigungsvertrages in Art. 23 zeigt deutlich die Intention der Vertragspartner, dass mit dem Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik Deutschland am 3. Oktober 1990 auch der vollständige Eintritt der Bundesrepublik in die Schuldenverpflichtungen der DDR verbunden sein soll. Die vertragliche Schuldenregelung geht hinsichtlich der Verwaltungsschulden, soweit Bestimmungen getroffen werden, über die Anforderungen des allgemeinen Völkerrechts hinaus. Sie trennt ferner nicht nach deutschen und ausländischen Gläubigern, sondern behandelt die Schuldenfrage davon unabhängig. Es findet sich in der vertraglichen Regelung auch keine Vorschrift, die den Übergang bzw. die Übernahme der sog. odious debts grundsätzlich ausschließt. Es werden sämtliche Verwaltungsschulden über41 Vgl. Gornig, Gilbert, Staatennachfolge und Einigung Deutschlands, Teil II, Berlin 1992, S. 67. 42 Vgl. Gornig (Fn. 41) S. 87, 97.
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nommen, die in Geld bestehen. Erfasst sind davon auch die Verwaltungsschulden lokaler Untergliederungen, da der Staatshaushalt der DDR als einheitlicher Staatshaushalt ausgestaltet war. Auch erfolgt ein Übergang der Finanzschulden der Deutschen Demokratischen Republik auf die Bundesrepublik Deutschland. Es erfolgt auch hier kein Ausschluss des Schuldenübergangs für sog. odious debts, wie es aus Billigkeitsgründen nach allgemeinem Völkerrecht durchaus möglich gewesen wäre.43 Man folgte damit hinsichtlich der Schuldenregelung dem auch im Völkerrecht immer wieder vertretene Grundsatz „res transit cum suo onere“.
II. Verlust der deutschen Ostgebiete 1. Einverleibung der Oder-Neiße-Gebiete durch Polen und die Sowjetunion a) Schaffung vollendeter Tatsachen Noch während der Verhandlungen über das Schicksal Deutschlands und der deutschen Ostgebiete versuchte Polen durch Vertreibung der Deutschen und Ansiedlung polnischer Bevölkerung sowie durch administrative Akte in den Gebieten östlich von Oder und Lausitzer Neiße vollendete Tatsachen zu schaffen. Während der Konferenz von Jalta hat der kommunistische Präsident des polnischen Nationalrates, Boleslaw Bierut, bekannt gegeben, dass die provisorische polnische Regierung unverzüglich die Zivilverwaltung in den sog. „befreiten“ Gebieten übernehmen werde. Am 2. März 1945, also vor dem Potsdamer Abkommen, erließ die polnische Regierung ein Dekret44 „über aufgegebenes und verlassenes Vermögen“, wonach aller Besitz von Personen, die vor der Roten Armee geflohen waren, dem polnischen Staat gehören und das gesamte Vermögen deutscher Staatsangehöriger als „aufgegebenes Vermögen“ behandelt werden sollte. Am 14. März 1945 verkündete die provisorische polnische Regierung die Einrichtung von vier neuen Woiwodschaften45, nämlich: Masuren, Oberschlesien, Niederschlesien und Pommern. Nach Eroberung der Freien Stadt Danzig kam am 30. März 1945 Danzig als fünfte Woiwodschaft hinzu.46 Am 43
Vgl. Gornig (Fn. 41) S. 173. Text: Dzennik Ustaw, Pos. 45/45, ersetzt durch Dekret vom 06. 05. 1945, Pos. 97/45, abgeändert durch Dekret vom 23. 07. 1945, Pos. 179/45 und ersetzt durch Dekret vom 08. 03. 1946, Pos. 87/46; vgl. Bundesministerium für Vertriebene (Hg.), Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa I. Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den Gebieten östlich von Oder und Neiße, Bd. 1, München 1984, S. 114 E Anm. 4. 45 Vgl. Wagner, Wolfgang, Die Entstehung der Oder-Neiße-Linie in den diplomatischen Verhandlungen während des Zweiten Weltkrieges, 3. Aufl. Marburg 1968, S. 144. 46 Dziennik Ustaw, Pos. 57/11. Text: Bundesministerium für Vertriebene (Hg.), Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa I. Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den Gebieten östlich von Oder und Neiße, Bd. 3, München 1984, S. 49, Nr. 15. Vgl. Keesings Archiv 1945, S. 158; Wagner (Fn. 45) S. 144, spricht vom 20. 03. 1945. 44
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3. Mai 1945 wurde vom polnischen Nationalrat angekündigt, dass die sog. „wiedergewonnenen“ Gebiete der polnischen Kultur zurückgegeben und die Spuren der jahrhundertealten Germanisierung getilgt werden sollten.47 Am 24. Mai 1945 wurde das Dekret „betreffend die Verwaltung der wiedergewonnenen Gebiete“ erlassen, das bestimmte, dass die deutschen Ostgebiete den Organen des polnischen Staates unterstellt werden.48 Ende Juni 1945 erklärte ein offizieller Sprecher der vorläufigen polnischen Regierung, dass man mit aller Entschlossenheit die Aussiedlung der etwa zweieinhalb Millionen Deutschen anstreben werde, die sich noch in den Gebieten östlich der Oder-Neiße-Linie befinden.49 Am 13. November 1945 schuf der polnische Staat ein gesondertes „Ministerium für die wiedergewonnenen Gebiete“50, das für die planmäßige Ansiedlung von Polen in Ostdeutschland zuständig sein sollte. Ende 1948 wurden die Gebiete östlich von Oder und Neiße schließlich durch einen Verwaltungsakt dem Verband des polnischen Staates eingegliedert.51 Dadurch gab Polen zu verstehen, dass es die Verwaltungshoheit über Ostdeutschland nicht als Provisorium betrachtete, sondern für immer als einen Teil Polens behalten wollte. Die Sowjetunion schloss nach der Erringung der Gebietshoheit am 16. August 1945 ein Grenzabkommen mit Polen52, in dem noch von einer vorläufigen Grenzziehung ausgegangen wird. Durch Dekret des Präsidiums des Obersten Sowjet vom 7. April 194653 wird dann aber Nordostpreußen in das Staatsgebiet der UdSSR ein47
Vgl. Keesings Archiv 1945, S. 212. Vgl. Bundesministerium für Vertriebene (Hg.), Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa I. Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den Gebieten östlich von Oder und Neiße, Bd. 1, München 1984, S. 108 E. 49 Vgl. Keesings Archiv 1945, S. 297. 50 Vgl. Dekret vom 13. 11. 1945, Dziennik Ustaw, Pos. 295/51; Text: Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte (Hg.), Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa I. Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den Gebieten östlich von Oder-Neiße, Bd. 3, München 1984, S. 95, sowie BVerfGE 40, S. 141 ff. (159). 51 Vgl. Bundesministerium für Vertriebene (Hg.), Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa I. Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den Gebieten östlich von Oder und Neiße, Bd. 1, München 1984, S. 123 E. 52 Text: UNTS, vol. 10, S. 193 ff. Vgl. auch Geilke, Georg, Das Staatsangehörigkeitsrecht der Sowjetunion, Frankfurt a. M. 1964, S. 236. Im Herbst 1945 wurde die Grenze zugunsten der sowjetisch besetzten Zone nach Süden verschoben; vgl. Neuschäffer, Hubertus, Das „Königsberger Gebiet“. Die Entwicklung des Königsberger Gebiets nach 1945 im Rahmen der baltischen Region im Vergleich mit Nord-Ostpreußen der Vorkriegszeit, Plön 1991, S. 105. Vgl. auch das geheime Abkommen über die polnischen Staatsgrenzen zwischen dem polnischen Komitee der Nationalen Befreiung und der Regierung der UdSSR vom 27. 07. 1944, Text: Gornig, Gilbert, Das Nördliche Ostpreußen. Gestern und heute. Eine historische und rechtliche Betrachtung, 2. Aufl. Bonn 1996, S. 301. 53 Vgl. Kraus, Herbert, Der völkerrechtliche Status der deutschen Ostgebiete innerhalb der Reichsgrenzen nach dem Stande vom 31. Dezember 1937, Göttingen 1964, S. 74 Anm. 145; Verdross, Alfred/Simma, Bruno/Geiger, Rudolf, Territoriale Souveränität und Gebietshoheit. Zur völkerrechtlichen Lage der Oder-Neiße-Gebiete, Bonn 1980, S. 69. 48
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gegliedert. Im Dekret heißt es, dass das Königsberger Gebiet auf dem Territorium der Stadt Königsberg und den umliegenden Rayons mit dem Zentrum in der Stadt Königsberg zu bilden sei. b) Völkerrechtliche Würdigung Diese einseitige gewaltsame Einverleibung der deutschen Ostgebiete in den polnischen und sowjetischen Staatsverband stellt eine Annexion dar. Die Gebiete östlich von Oder und Neiße wurden nach der Vertreibung der deutschen Bevölkerung und der Ansiedlung der Polen und Bewohner der Sowjetunion effektiv in Besitz genommen. Als Manifestation des Annexionswillens Polens kommt das Dekret vom 13. November 1945 betreffend die Verwaltung der wiedergewonnenen Gebiete in Betracht, in dem die Einverleibung der deutschen Ostgebiete in den polnischen Staatsverband erfolgte. Auch die später ergangenen Gesetze und Verordnungen dokumentieren den polnischen Annexionswillen. Der Annexionswille der Sowjetunion hinsichtlich des Königsberger Gebiets kommt im Anschluss des nördlichen Teils von Ostpreußen an die Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik durch das Dekret vom 7. April 1946 und durch die Verfassungsänderung vom 25. Februar 1947 zum Ausdruck. Diese Annexionen waren völkerrechtswidrig, da seit der völkergewohnheitsrechtlichen Verankerung des Kriegsverbots auch eine Annexion mit dem Völkerrecht nicht mehr vereinbar war. Wie früher aus der Kriegsfreiheit die Annexionsfreiheit folgte, folgt nun aus dem Kriegsverbot das Annexionsverbot. c) Rechtsstatus der unter polnischer und sowjetischer Verwaltung stehenden Gebiete Die Einräumung der Gebietshoheit durch die Alliierten war mit dem Völkerrecht also nicht vereinbar und stellt somit einen Eingriff in die territoriale Integrität Deutschlands dar. Die von den deutschen Staats- und Völkerrechtlern vertretenen Deutschland-Theorien trugen dieser Tatsache Rechnung. Nach der sog. Staatskerntheorie bestand Deutschland in den alten Grenzen vom 31. Dezember 1937 fort. Die Bundesrepublik Deutschland war als Staatskern eines größeren Deutschland mit dem Deutschen Reich identisch, ihre aktuelle Staatsgewalt erstreckte sich jedoch mangels Effektivität nicht auf das ganze Staatsgebiet, insbesondere auch nicht auf das Gebiet östlich von Oder und Neiße. Staatsgebiet und Verfassungsgebiet waren also nach dieser Theorie nicht identisch. Während die territoriale Souveränität beim deutschen Gesamtstaat verblieb, hatten Polen und die Sowjetunion durch die von ihnen geschaffenen Fakten die Gebietshoheit inne. Die in den Ostgebieten wohnhaft gebliebenen Deutschen wurden nicht kollektiv polnische und sowjetische Staatsbürger. Soweit im Einzelfall Einbürgerungen erfolgten, führten sie für den Betroffenen zum Erwerb der polnischen und sowjetischen
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Staatsbürgerschaft.54 Ein Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit ist jedoch gemäß § 25 RuStAG nicht eingetreten, da die Ostgebiete nicht als Ausland zu betrachten waren.55 2. Görlitzer Vertrag Am 6. Juli 1950 stellten die DDR und die Volksrepublik Polen in einem Abkommen „über die Anerkennung der festgelegten und bestehenden deutsch-polnischen Staatsgrenze, dem sog. Görlitzer Vertrag56, übereinstimmend fest, dass die OderNeiße-Linie „die Staatsgrenze zwischen Deutschland und Polen bildet“. Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland erklärte hierzu, dass sie die Festlegung der Oder-Neiße-Linie als endgültige Grenze zwischen Deutschland und Polen nicht anerkennen werde und die Regierung der Sowjetzone keinerlei Recht habe, für das deutsche Volk zu sprechen. Die Entscheidung über die zur Zeit unter polnischer und sowjetischer Verwaltung stehenden deutschen Ostgebiete könne erst in einem mit Gesamtdeutschland abzuschließenden Friedensvertrag erfolgen. Die Bundesregierung, so hieß es weiter, werde sich „niemals mit der allen Grundsätzen des Rechts und der Menschlichkeit widersprechenden Wegnahme dieser rein deutschen Gebiete abfinden“. Und in einer interfraktionellen Erklärung des Alterspräsidenten Löbe von der SPD im Deutschen Bundestag57 hieß es, „niemand hat das Recht, aus eigener Machtvollkommenheit Land und Leute preiszugeben oder eine Politik des Verzichts zu betreiben“.
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Vgl. Zieger, Gottfried, Die gesamtdeutsche Staatsangehörigkeit als rechtliches Band des deutschen Staatsvolks unter besonderer Berücksichtigung der Ostdeutschen, in: Uibopuu, Henn-Jüri/Uschakow, Alexander/Klein, Eckart/Zieger, Gottfried, Die Auslegung der Ostverträge und Fragen der gesamtdeutschen Staatsangehörigkeit der Ostdeutschen, Bonn 1980, S. 85 ff. (102). Seeler, Hans Joachim, Die Staatsangehörigkeit der Volksdeutschen, Frankfurt a. M. 1960, S. 51. 55 Vgl. Seeler (Fn. 54) S. 52. 56 Text: GBl. DDR 1950 II, S. 1205 ff. 57 Text: Verhandlungen des Deutschen Bundestages, 1. Wahlperiode, Stenographische Berichte, Bd. 4, S. 2457. Die drei westlichen alliierten Hochkommissare überreichten dem sowjetischen Oberbefehlshaber eine Note der Bundesregierung, in der gegen die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als endgültige deutsche Ostgrenze durch das Görlitzer Abkommen protestiert wurde und in der verdeutlicht wurde, dass die deutschen Grenzen „nach der in Potsdam erzielten formellen Übereinkunft erst im Friedensvertrag endgültig festgelegt werden sollen“. Text: Archiv der Gegenwart, Königswinter 1950, S. 2611 A. Vgl. auch die Erklärungen des Bundesministers von Brentano vom 03. 05. 1956 sowie dessen Erklärungen vom 31. 01. 1957 und vom 05. 11. 1959. Texte: von Siegler, Heinrich, Dokumentation zur Deutschlandfrage, Bd. 1, 2. Aufl. Bonn/Wien/Zürich 1961, S. 536, 592; Bd. 2, 2. Aufl. Bonn/Wien/Zürich 1961, S. 337 f.
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3. Moskauer und Warschauer Vertrag a) Inhalt Am 12. August 197058 wurde mit der Sowjetunion im Moskauer Vertrag die Verpflichtung eingegangen, „die territoriale Integrität aller Staaten in Europa in ihren heutigen Grenzen uneingeschränkt zu achten.“ Die Vertragsparteien Bundesrepublik Deutschland und Sowjetunion erklärten ferner, dass sie heute und künftig die Grenzen aller Staaten in Europa als unverletzlich betrachten, „einschließlich der OderNeiße-Linie, die die Westgrenze der Volksrepublik Polen bildet“. Im Warschauer Vertrag vom 7. Dezember 197059 stimmten die Bundesrepublik Deutschland und die Volksrepublik Polen überein, dass die Oder-Neiße-Linie „die westliche Staatsgrenze der Volksrepublik Polen bildet“ und dass sie gegeneinander „keine Gebietsansprüche haben und solche auch in Zukunft nicht erheben werden“. Die Grenzregelungen des Moskauer und Warschauer Vertrags führten in der Bundesrepublik Deutschland zu scharfen innenpolitischen Auseinandersetzungen zwischen der Regierungskoalition auf der einen Seite und der CDU/CSU-Opposition auf der anderen.60 Während die Opposition befürchtete, mit den Ostverträgen verfüge die Bundesrepublik Deutschland – obwohl nicht zuständig – über deutsches Staatsgebiet, ging die Regierungskoalition davon aus, dass die Festlegung61 der Grenzen nach wie vor einer friedensvertraglichen Regelung vorbehalten bleibe. Am 10. Mai 1972, vor der Ratifikation der Verträge, einigte sich der Deutsche Bundestag auf eine Entschließung62, in der die Fraktionen des Deutschen Bundestages erklärten, dass die Bundesrepublik Deutschland die in den Verträgen eingegangenen Verpflichtungen im eigenen Namen – also nicht im Namen des Deutschen Reiches – auf sich genommen habe und die Verträge eine friedensvertragliche Regelung nicht vorwegnähmen und keine Rechtsgrundlage für die heute bestehenden Grenzen schüfen. Der Moskauer und Warschauer Vertrag waren auch Gegenstand verfassungsgerichtlicher Kontrolle. Gegen beide Verträge wurden von Bürgern Verfassungsbe58
Text: BGBl. 1972 II, S. 354 f. Text: BGBl. 1972 II, S. 362 f. 60 Vgl. z. B. Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Fraktion der CDU/ CSU betr. Deutschland und Außenpolitik, Text: Verhandlungen des Deutschen Bundestages, 6. Wahlperiode, Anlagenband 155, Drucksache 2828; Stellungnahme des Bundesrates zu den Entwürfen der Vertragsgesetze zum Moskauer Vertrag vom 12. 08. 1970 und zum Warschauer Vertrag vom 07. 12. 1970 und Gegenäußerung der Bundesregierung zu dieser Stellungnahme, Text: Verhandlungen des Deutschen Bundestages, 6. Wahlperiode, Anlagenband 158, Drucksache 3156, 3157. 61 Vgl. die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Fraktion der CDU/ CSU betr. Deutschland und Außenpolitik vom 11. 11. 1971, Frage 1, Text: vgl. Anm. 60. Vgl. ferner die Stellungnahme des Bundesrates zu den Entwürfen der Vertragsgesetze zum Moskauer Vertrag vom 12. 08. 1970 und zum Warschauer Vertrag vom 07. 12. 1970 und Gegenäußerung der Bundesregierung zu dieser Stellungnahme, III.4, Text: vgl. Anm. 60. 62 Text: Verhandlungen des Deutschen Bundestages, 6. Wahlperiode, Stenographische Berichte, Bd. 80, S. 10960 f. 59
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schwerden anhängig gemacht. Das Bundesverfassungsgericht betonte in den daraufhin ergangenen Ostvertragsbeschlüssen vom 7. Juli 1975, dass die Gebiete östlich von Oder und Neiße mit dem Inkrafttreten der Ostverträge „nicht aus der rechtlichen Zugehörigkeit zu Deutschland entlassen und der Souveränität, also sowohl der territorialen wie der personalen Hoheitsgewalt Polens endgültig unterstellt“ worden seien. b) Stellungnahme Der Ansicht des Bundesverfassungsgerichts ist zuzustimmen. In den Ostverträgen verfügte die Bundesrepublik Deutschland nicht über deutsche Gebiete. Dies ergibt sich aus dem Wortlaut63, in dem von Gebietsveränderungen, von Gebietsabtretungen und Gebietsanerkennung nicht die Rede ist. Eine derartige Anerkennung konnte auch nicht konkludent dem in den Verträgen ausgesprochenen Verzicht auf Gebietsansprüche entnommen werden, zumal dem auch die Vertragsparteien widersprachen.64 Die in Art. 4 des Moskauer und Art. IV des Warschauer Vertrages enthaltenen Unberührtheitsklauseln schließlich hatten die Aufgabe, die Viermächteverantwortung über Deutschland als Ganzes fortzuschreiben. Die früher von den Parteien geschlossenen oder sie betreffenden zweiseitigen oder mehrseitigen Verträge sollten unberührt bleiben, so dass auch der im Potsdamer Abkommen vom 2. August 1945 und im Deutschlandvertrag vom 26. Mai 1952 i. d. F. v. 23. Oktober 195465 verankerte Friedensvertragsvorbehalt seine Gültigkeit behielt. Auch nach dem Moskauer und dem Warschauer Vertrag bestand somit Deutschland zumindest in den Grenzen vom 31. Dezember 1937 fort. Die territoriale Souveränität der Gebiete östlich von Oder und Neiße blieb beim deutschen Gesamtstaat. Die endgültige Festlegung der deutschen Ostgrenze sollte einer friedensvertraglichen Regelung vorbehalten bleiben.66 Die Verträge enthalten also keine Territorial- oder Grenzgarantie. Die Vertragsparteien verpflichteten sich somit nicht, eine Politik der Grenzveränderung zu unter63 Auch der seinerzeitige Bundesminister des Auswärtigen, Walter Scheel, brachte dies in seiner Rede vor dem Bundesrat am 09. 02. 1972 zum Ausdruck, Text: Bericht über die 376. Sitzung des Bundesrates am 09. 02. 1972, S. 405 ff. Vgl. ferner Blumenwitz (Fn. 18) S. 52; Teyssen (Fn. 4) S. 323 f.; Arndt, Claus, Die Verträge von Moskau und Warschau, politische, verfassungsrechtliche und völkerrechtliche Aspekte, Bonn 1982, S. 160; die Formulierung von Art. I Abs. 1 Warschauer Vertrag wurde so gewählt, dass die gegensätzlichen Standpunkte Polens und der Bundesrepublik zur rechtlichen Bedeutung der Beschlüsse des Potsdamer Konferenz aufrechterhalten werden konnten. 64 Vgl. Erklärungen des seinerzeitigen Bundesministers des Auswärtigen, Walter Scheel, vor dem Bundesrat am 09. 02. 1972, Text: Anm. 342; vgl. ferner die Äußerung des seinerzeitigen sowjetischen Außenministers Gromyko am 29. 07. 1970 gegenüber Bundesaußenminister Walter Scheel, Archiv der Gegenwart 1971, S. 16756. 65 Text: BGBl. 1955 II, S. 305 ff. 66 Vgl. BVerfGE 40, S. 141 ff.; ferner: Blumenwitz, Was ist Deutschland? (Fn. 11) S. 51 ff.; Teyssen (Fn. 4) S. 322 ff.
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lassen. Solange diese Politik nicht gegen das Gewaltverbot oder sonst gegen das Völkerrecht verstößt, konnte nach wie vor auf eine Grenzveränderung hingewirkt werden. Art. 3 Moskauer Vertrag und Art. I Warschauer Vertrag legen den Parteien nur die Verpflichtung auf, den territorialen Besitzstand in Europa nicht mit Gewalt oder mit sonst völkerrechtswidrigen Mitteln anzutasten.67 Mit den Verträgen wurde somit nicht über deutsche Gebiete verfügt. Auch wenn die Ostverträge den Rechtsstatus der Gebiete östlich von Oder und Neiße nicht änderten, so bewirkten sie doch, dass in der deutschen Bevölkerung das Bewusstsein erzeugt wurde, alle Gebiete östlich von Oder und Neiße, auch das Königsberger Gebiet, seien nunmehr verloren. Obwohl die Ostverträge keineswegs zu einer Statusänderung führten, trugen diese Verträge und bewusst sowie unbewusst falsche Äußerungen von Politikern dazu bei, die Rechtsauffassung in der Bevölkerung zu vertiefen, die Ostgebiete seien nun abgetreten worden. 4. Zwei-plus-vier-Vertrag a) Allgemein Nach der friedlichen Revolution in der DDR im Herbst 1989 ging es nicht nur darum, die Wiedervereinigung aus staatsrechtlicher Sicht zu vollenden. Vielmehr mussten auch die äußeren Aspekte der Wiedervereinigung Berücksichtigung finden und gegebenenfalls, da die Sowjetunion zunächst darauf bestand, einer friedensvertraglichen Regelung zugeführt werden. Um die Zustimmung der vier Siegermächte, insbesondere aber der Sowjetunion für die deutsche Wiedervereinigung zu gewinnen, waren einige politische Fragen zur allseitigen Zufriedenheit zu beantworten, insbesondere ob ein souveränes, wiedervereinigtes Deutschland bereit sein würde, die bestehenden Grenzen in Europa anzuerkennen.68 Die Forderungen der Vertreter 67 Vgl. Steinberger, Helmut, Völkerrechtliche Aspekte des deutsch-sowjetischen Vertragswerks vom 12. August 1970, ZaöRV, Bd. 31 (1971), S. 63 ff. (101); Arndt (Fn. 63), S. 79. 68 So gaben die Vertreter der Vier Mächte entsprechende Erklärungen ab; vgl. US-Außenminister Baker am 19. 11. 1989, vgl. FAZ vom 12. 12. 1989; der französische Staatspräsident Mitterand am 11. 12. 1989, vgl. FAZ vom 12. 12. 1989; der französische Außenminister Dumas am 13. 12. 1989, vgl. FAZ vom 14. 12. 1989, der sowjetische Außenminister Schewardnadse am 19. 12. 1989, vgl. FAZ vom 20. 12. 1989; am 25. 02. 1990, vgl. FAZ vom 26. 02. 1990; die britische Premierministerin Thatcher am 18. 02. 1990, vgl. FAZ vom 19. 02. 1990; der britische Außenminister Hurd am 05. 03. 1990, vgl. FAZ vom 06. 03. 1990; zur britischen Regierung vgl. ebenfalls FAZ vom 11. 12. 1989. Auch andere Politiker forderten die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie, vgl. FAZ vom 12. 12. 1989, 14. 12. 1989 (Chirac, früherer französischer Premierminister); FAZ vom 26. 01. 1990 (Van den Broek, niederländischer Außenminister); FAZ vom 24. 02. 1990 (niederländische Christdemokraten); FAZ vom 10. 03. 1990 (Schlüter, dänischer Ministerpräsident); FAZ vom 19. 03. 1990 (Havel, tschechoslowakischer Staatspräsident). Häufig wurde mit dem Hinweis auf die KSZE-Schlussakte die Forderung nach Anerkennung der Oder-Neiße-Linie zum Ausdruck gebracht, vgl. FAZ vom 01. 12. 1989 (Gerassimov, Sprecher des sowjetischen Außenministeriums); 11. 12. 1989 (Mitterand und Andreotti); 12. 12. 1989 (Mitterand); 12. 12. 1989 (Baker, Bush); 27. 02. 1990
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der westlichen Siegermächte, die Oder-Neiße-Linie als Westgrenze Polens zu akzeptieren, waren mit Art. 7 Abs. 1 des Deutschlandvertrages nur schwer in Einklang zu bringen, wonach als gemeinsames Ziel eine „frei vereinbarte friedensvertragliche Regelung für ganz Deutschland“ festgelegt wurde und gleichzeitig Einigkeit darüber bestand, dass „die endgültige Festlegung der Grenzen Deutschlands“ bis zu dieser Regelung aufgeschoben werden müsse. Über einen Punkt war man sich einig, nämlich, dass nur das souveräne vereinte Deutschland über Gebiete verfügen konnte, nicht aber die nichtsouveräne Bundesrepublik Deutschland und die nichtsouveräne DDR oder ein nicht souveräner deutscher Gesamtstaat.69 Wenn aber nur ein souveräner deutscher Gesamtstaat die territoriale Souveränität über Gebiete aufgeben konnte, so bestand die Gefahr, dass nach der Wiedervereinigung und Erhaltung der Souveränität sich der deutsche Gesamtstaat anders entscheiden könnte. Wiedervereinigung, Souveränitätserlangung und Gebietsabtretung sollten daher in einem Akt zusammenfallen. Man sah aber bald ein, dass dieses Ziel nicht zu erreichen war. Zumindest das Wirksamwerden des Vertrages, der die äußeren Aspekte der Wiedervereinigung regeln sollte, würde wohl erst nach der vollzogenen Vereinigung eintreten, da die Ratifizierung des Zwei-plus-vier-Vertrages nicht in der Kürze der Zeit möglich sein würde.70 Dass die Wiedervereinigung Deutschlands aber mit einer Grenzanerkennung gekoppelt werden sollte, bedeutete, dass das Selbstbestimmungsrecht der Völker für Deutschland von der Erfüllung außenpolitischer Forderungen abhängig gemacht wurde.71 Am 12. September 1990 wurde der Zwei-plus-vier-Vertrag unterzeichnet72, der den Namen „Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland“ erhielt. Der Vertrag trat am 15. März 1991, also vor 25 Jahren, in Kraft. Rechtzeitig vor der staatlichen Vereinigung wurde die abschließende völkerrechtliche Regelung der äußeren Aspekte der deutschen Einigung getroffen. (Bush). Am 14. 12. 1989 forderte das Europäische Parlament in Strassburg die Bundesregierung auf, die Oder-Neiße-Linie „unverzüglich und unzweideutig“ anzuerkennen, vgl. FAZ vom 15. 12. 1989. Auf dem Gipfeltreffen der Staats-und Regierungschefs der Europäischen Gemeinschaften hat Bundeskanzler Helmut Kohl versichert, dass die Bundesrepublik Deutschland die polnische Westgrenze nicht in Frage stellen werde, vgl. FAZ vom 09. 12. 1989; vgl. auch insoweit die Aussagen des deutschen Außenministers Hans-Dietrich Genscher, FAZ vom 07. 02. 1990. In der Denkschrift der Bundesregierung zum Zwei-plus-vierVertrag (Text: Verhandlungen des Deutschen Bundestages, 11. Wahlperiode, Drucksache 8024) heißt es: „Die äußeren und inneren Aspekte der Herstellung der deutschen Einheit sind untrennbar verbunden.“ Vgl. ferner Gornig, Gilbert, Die vertragliche Regelung der mit der deutschen Vereinigung verbundenen auswärtigen Probleme, Außenpolitik 1991, S. 3 ff. (5 f.); ders., (Fn. 33), ROW 1991, S. 97 ff. 69 Vgl. Kommuniqué der Bundesregierung zum Warschauer Vertrag, Text: Presse- und Informationsdienst der Bundesregierung (Hrsg.), Bulletin vom 08. 12. 1970, Nr. 171, S. 1819; vgl. auch BVerfGE 40, S. 141 ff. (172, 174). 70 Vgl. Gornig (Fn. 68) Außenpolitik 1991, S. 5 ff. 71 Vgl. Rauschning, Dietrich, Beendigung der Nachkriegszeit mit dem Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland, DVBl. 1990, S. 1281. 72 Text: BGBl. 1990 II, S. 1318 ff. zum Inkrafttreten vgl. BGBl. 1991 II, S. 587.
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b) Gebietsbezogene Regelung Gleich der erste Artikel des Zwei-plus-vier-Vertrages nimmt sich der Grenzfrage an. Es werden aber nicht die einzelnen Gebiete, über die eine abschließende Regelung noch ausstand, expressis verbis angesprochen. In Art. 1 Abs. 173 wird lediglich festgestellt, dass das vereinte Deutschland die Gebiete der Bundesrepublik Deutschland, der DDR und ganz Berlin umfassen werde und seine Außengrenzen die Grenzen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR sein werden. Diese Regelung mag durchaus vernünftig, ja vielleicht die einzig realisierbare gewesen sein, weil damit völkerrechtlich komplizierte und kontrovers diskutierte Rechtsfragen über den Status umstrittener Gebiete74 unbeantwortet bleiben konnten. Gleichwohl bleibt damit offen, wann und durch welche konstitutiven Akte die territoriale Souveränität – von welchen Gebieten? – auf die neuen Gebietsherrn übergegangen ist. Geht man davon aus, dass die Gebiete östlich von Oder und Neiße noch der territorialen Souveränität des deutschen Gesamtstaates unterstanden, so lässt sich der Gebietserwerb der neuen territorialen Souveräne, der Republik Polen und der Sowjetunion, durch Dereliktion75, also Aufgabe der territorialen Souveränität durch das souveräne Deutschland und Okkupation durch den Staat, der bereits die effektive Herrschaft ausübte, – nach einer logischen Sekunde der Herrenlosigkeit – konstruieren. Es kann aber auch ein Verzicht Deutschlands über die territoriale Souveränität angenommen werden. Diese Konstruktion liefe damit letztlich auch auf eine Dereliktion hinaus. Würde man die Auffassung vertreten, dass Deutschland schon längst die territoriale Souveränität verloren habe, etwa mit dem Argument, dass Deutschland irgendwann nach 1945 untergegangen76 sei, so könnte die Bestimmung des Art. 1 Abs. 1 allenfalls als deklaratorisch aufgefasst werden. Dafür, dass dem Zwei-plus-vier-Vertrag jene Auffassung zugrunde lag, könnte Art. 1 Abs. 1 S. 3 herangezogen werden, 73
Vgl. hierzu auch Gornig (Fn. 33) ROW 1991, S. 101. Es gab ja noch weitere regelungsbedürftige Gebietsfragen, man denke etwa an Stettin, an Danzig, an das Memelland, an das Sudetenland, aber auch an die Gebietsaustauschverträge mit der Schweiz; vgl. Gornig (Fn. 33) ROW 1991, S. 98. 75 Dereliktion verlangt grundsätzlich Räumung des Gebietes mit der Absicht, auf die territoriale Souveränität zu verzichten (animus derelinquendi); vgl. hierzu Verdross/Simma (Fn. 2) S. 754, § 1156. 76 Vgl. Kelsen, Hans, The Legal Status of Germany According to the Declaration of Berlin, AJIL, vol. 39 (1945), S. 518 ff. (523 ff.); vor allem Autoren aus der ehemaligen DDR behaupteten den Untergang des Deutschen Reiches; vgl. Peck, Joachim, Die Völkerrechtssubjektivität der DDR, Berlin (Ost) 1960, S. 13 ff.; 28 ff.; Kirsten, Johannes, Zum völkerrechtlichen Institut der Staatennachfolge, in: Deutschlandfrage und Völkerrecht, Teil II, Berlin (Ost) 1962, S. 110 ff. (122); vgl. ferner Urteil des Obersten Gerichts der DDR vom 31. 10. 1951, Neue Justiz 1952, S. 222 ff.; Urteil des OLG Schwerin vom 18. 06. 1951, Neue Justiz 1951, S. 468 ff. (469); vgl. hierzu Beyer, R., Zum gegenwärtigen völkerrechtlichen Status Deutschlands, Neue Justiz 1952, S. 535 ff.; vgl. weitere Nachweise bei Mahnke, Hans-Heinrich, Fragen der Staatensukzession in Deutschland – unter besonderer Berücksichtigung der sowjetzonalen und sowjetischen Völkerrechtspublizistik, in: Berichte des Bundesinstituts zur Erforschung des Marxismus-Leninismus, Reihe III, 2, Nr. 12, Mai Berlin (Ost) 1965, S. 15 Anm. 86. 74
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wonach die „Bestätigung“ des endgültigen Charakters der Grenzen ein wesentlicher Bestandteil der Friedensordnung in Europa sei. Da die ehemals von den Ostblockstaaten vertretene Auffassung juristisch aber kaum haltbar ist77 und daher von keiner Bundesregierung akzeptiert wurde, ist es unwahrscheinlich, dass die handelnde Bundesregierung jene Konzeption dem Vertrag zugrunde legen wollte. Damit wäre nämlich nicht nur die Politik der Bundesrepublik Deutschland unglaubwürdig, da man sich von einem 40 Jahre lang vertretenen Identitätsverständnis78 – rückwirkend – löste; es hätte auch weitreichende Konsequenzen, da dann das Deutsche Reich – irgendwann – untergegangen sein müsste, die Bundesrepublik Deutschland also ein Neustaat wäre. Unter der Prämisse, dass die Bundesregierung – der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts79 folgend – von der Kontinuität ausging, ließe sich die Bestätigung aber dann als sinnvoller Bestandteil des Vertrages erweisen, wenn Polen und die Sowjetunion die deutschen Ostgebiete bereits ersessen hätten. Nur hätte dann – bejaht man überhaupt das Rechtsinstitut der Ersitzung im Völkerrecht – die Ausübung der territorialen Souveränität durch den ersitzenwollenden Staat „undisturbed“, „unchallenged“ und „uninterrupted“ erfolgt sein müssen, was nicht der Fall war.80 Eine „Bestätigung des endgültigen Charakters der Grenzen des vereinten Deutschland“ hätte dann noch einen Sinn, wenn sie sich auf eine durch Polen erfolgte Annexion bezöge. Es ist aber fraglich, ob eine völkerrechtswidrige Handlung wie eine Annexion „anerkannt“ werden kann. Ein Verstoß gegen das Gewaltverbot, die Stimson-Doktrin und das Selbstbestimmungsrecht der Völker wäre naheliegend. Im übrigen ist es unwahrscheinlich, dass die Sowjetunion dem Vertrag eine Konzeption zugrunde legen wollte, wonach die Einverleibung der deutschen Ostgebiete durch Polen und die Sowjetunion zunächst durch einen völkerrechtswidrigen Akt erfolgte, der dann durch das vereinte Deutschland gebilligt wurde. Bejahte man jedoch die Anerkennung einer Annexion, so stellt sich die Frage, ob die Anerkennung völkerrechtlich anfechtbar oder unwirksam ist. 77
Vgl. Fiedler (Fn. 4), S. 142 ff.; Teyssen (Fn. 4), S. 196 ff.; Blumenwitz, Was ist Deutschland? (Fn. 11), S. 33 ff. 78 Die Bundesrepublik Deutschland führte die vom Deutschen Reich abgeschlossenen biund multilateralen Verträge fort und bekannte sich völkerrechtlich zu dessen Schulden. Vgl. Klein, Eckart, Kontinuitätsproblematik und Rechtsstellung der deutschen Ostgebiete, in: Meissner, Boris/Zieger, Gottfried (Hg.), Staatliche Kontinuität unter besonderer Berücksichtigung der Rechtslage Deutschlands, Köln 1983, S. 129 ff. (134); vgl. auch die Gesamtdarstellungen zu den Theorien bei Schmidt, Karin, Die deutsche Frage im Staats- und Völkerrecht, Baden-Baden 1980, S. 27 ff.; Teyssen (Fn. 4), S. 196 ff.; 209 ff. Das Grundgesetz enthält sowohl Elemente der Identitätstheorie wie der Teilordnungslehre, vgl. Schuster (Fn. 16), S. 138 ff.; Menzel, Eberhard, Die Ostverträge von 1970 und der „Deutschland“-Begriff des Grundgesetzes, DÖV 1972, S. 1 ff. (8, 10). 79 Vgl. BVerfGE 36, S. 1 ff. (16) – Grundvertrag; 2, S. 1 ff. (56) – SRP-Urteil; 3, S. 288 ff. (319) -Soldaten-Urteil; 5, S. 85 ff. (126) – KPD-Urteil. 80 Vgl. den Schiedsspruch El Chamizal vom 15. 06. 1911, Reports of International Arbitral Awards, vol. XI, S. 309 ff. (328); AJIL, vol. V (1911), S. 782 ff. (806).
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Man könnte auch vermuten, dass man mit der gewählten Formulierung die Grenzfrage lediglich „außer Streit stellen“ wolle. Dies hätte dann die Konsequenz, dass eine Änderung der territorialen Souveränität noch nicht eingetreten wäre. Mit der territorialbezogenen Bestimmung des Art. 1 Abs. 1 S. 1 des Zwei-plus-vier-Vertrages lässt sich aber diese Ansicht nur schwer in Einklang bringen. Es ist damit immer noch nicht geklärt, welchen Sinn diese Bestätigung haben solle. Es verbleibt die Möglichkeit, dass das Wort „Bestätigung“ darauf bezogen wird, dass die territoriale Souveränität nur der faktischen Lage angepasst werden solle, also die faktische Lage bestätigt werde. Insoweit ist der Art. 1 Abs. 1 S. 3 des Zwei-plus-vier-Vertrages aber wenig sinnvoll. Im zweiten Absatz des Art. 1 des Zwei-plus-vier-Vertrages taucht der Begriff „Bestätigung“ wieder auf. So heißt es dort, dass das vereinte Deutschland und die Republik Polen die zwischen ihnen bestehende Grenze in einem völkerrechtlich verbindlichen Vertrag „bestätigen“ werden. Diese Bestimmung verpflichtet nur das vereinte Deutschland, nicht aber die Republik Polen, die nicht Vertragspartner des Zweiplus-vier-Vertrages ist. Da Deutschland die Oder-Neiße-Linie bereits in Art. 1 Abs. 1 akzeptiert hat, stellt sich die Frage, welche Bedeutung der Art. 1 Abs. 2 haben soll. Ein „pactum de negotiando“ kann nicht vorliegen, da das Ergebnis der Einigung schon in Art. 1 Abs. 1 des Zwei-plus-vier-Vertrages enthalten ist. Es ist also wohl ein „pactum de contrahendo“. Ein solcher Vertrag hat aber nur dann einen Sinn, wenn es noch etwas zu regeln gibt. Es könnte also der Art. 1 Abs. 2 des Zwei-plus-vier-Vertrages dafür sprechen, dass die Grenze lediglich ihrer Substanz nach feststehen solle, dass man aber durchaus noch kleinere Grenzkorrekturen treffen könne, und insoweit gäbe es durchaus noch regelungsbedürftige Fragen. Wer dies hoffte, musste jedoch vom deutsch-polnischen Bestätigungsvertrag arg enttäuscht sein. Der Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über die Bestätigung der zwischen ihnen bestehenden Grenze vom 14. November 1990 81 enthält lediglich eine Bestätigung der Oder-Neiße-Linie, nichts mehr. Deren Verlauf bestimmt sich gemäß Art. 1 des Bestätigungsvertrages nach dem Görlitzer Abkommen vom 6. Juli 1950 zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Volksrepublik Polen und seinen Ergänzungsvereinbarungen sowie dem Warschauer Vertrag vom 7. Dezember 1970 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen. Es erstaunt, dass man die zwischen zwei stalinistischen Regierungen ausgehandelten Grenzvereinbarungen, deren Gültigkeit die Bundesregierungen stets bestritten haben, nun als verbindlich betrachtet. So erklärte am 9. Juni 195082 die Bundesregierung zur Görlitzer Vereinbarung, dass die „sogenannte Regierung der Sowjetzone … 81
Text: BGBl. 1991 II S. 1329. Erklärung der Bundesregierung vom 09. 06. 1950, Text: Archiv der Gegenwart 1950, S. 2426 D. 82
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keinerlei Recht“ habe, „für das deutsche Volk zu sprechen“. Alle ihre Abreden und Vereinbarungen, so hieß es, seien „null und nichtig“. Es ist völkerrechtlich ein bemerkenswerter Vorgang, dass der Inhalt eines Vertrages, der als null und nichtig betrachtet wurde, in einem späteren völkerrechtlichen Vertrag rezipiert wird.83 Die Grenzregelungen, die die beiden deutschen Staaten voneinander getrennt getroffen haben, sind jedenfalls nunmehr insoweit auch für das vereinte Deutschland verbindlich. In Art. 2 des Grenzbestätigungsvertrages erklärten die Vertragsparteien, „dass die zwischen ihnen bestehende Grenze jetzt und in Zukunft unverletzlich ist“, sie verpflichten sich gegenseitig „zu uneingeschränkter Achtung ihrer Souveränität und territorialer Integrität“. In Art. 3 erklärten sie, „dass sie gegeneinander keinerlei Gebietsansprüche haben und solche auch in Zukunft nicht erheben werden“. Beide Artikel wurden in Anlehnung an Art. 1 Abs. 2 und 3 des Vertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über die Grundlagen der Normalisierung ihrer gegenseitigen Beziehungen vom 7. Dezember 1970 formuliert.84 Der Grenzbestätigungsvertrag bestätigt also gegenüber Polen, was im Zwei-plus-vier-Vertrag schon gegenüber den Vier Mächten „bestätigt“ worden ist. Die Feststellung des Art. 1 Abs. 3 des Zwei-plus-vier-Vertrages, dass das vereinte Deutschland „keinerlei Gebietsansprüche gegen andere Staaten“ hat und solche auch in Zukunft nicht erheben wird, findet sich immer wieder in Friedensverträgen und tauchte bereits in den Ostverträgen auf. Die Klausel hat insbesondere dann einen Sinn, wenn bislang Ansprüche geltend gemacht wurden. Da die territoriale Souveränität über die Oder-Neiße-Gebiete beim deutschen Gesamtstaat lag, ging es eigentlich nicht um Ansprüche Deutschlands, sondern um Ansprüche Polens, das zu seiner effektiven Herrschaft die territoriale Souveränität hinzugewinnen wollte. Da nun wegen Art. 1 Abs. 1 des Zwei-plus-vier-Vertrages die territoriale Souveränität über die Ostgebiete nicht mehr bei Deutschland liegt, kann der erste Teil des Art. 1 Abs. 3 lediglich deklaratorische Bedeutung haben. Der in die Zukunft gerichtete Satzteil hingegen verpflichtet den deutschen Staat zu einem bestimmten Verhalten, steht aber grundsätzlich friedlichen Grenzänderungen durch zwischenstaatliche Vereinbarungen nicht im Wege. Art. 1 Abs. 4 des Zwei-plus-vier-Vertrages verpflichtet die beiden deutschen Staaten sicherzustellen, dass die Verfassung des vereinigten Deutschland keinerlei Bestimmungen enthält, die mit jenen Regelungen zu Gebietsfragen unvereinbar sind. Diese Forderung wurde bereits durch den Einigungsvertrag vom 31. August 1990 erfüllt, der festlegt, dass Art. 23 GG alter Fassung aufgehoben wird. Dieser Artikel ist allerdings rechtlich insoweit wenig geglückt, als sich die Frage stellt, wie denn die DDR den Vertrag, den sie unterzeichnet hat, befolgen soll, wenn sie nach Wirksamwerden des Vertrages nicht mehr existiert. 83 84
Vgl. Gornig (Fn. 33) ROW 1991, S. 103. Text: BGBl. 1972 II, S. 362 f.
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III. Abschließende Würdigung Die friedliche Revolution in der DDR führte zum Ende des Unrechtsstaates DDR und zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten. Durch den Beitritt der DDR zum Staatsverband der Bundesrepublik Deutschland ging die DDR unter, während die Bundesreplik Deutschland als territorial vergrößertes identisches Völkerrechtssubjekt fortexistiert. Der Einigungsvertrag regelte den Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik nach Art. 23 GG a.F. zum Geltungsbereich des deutschen Grundgesetzes und legt fest, dass die Bundesrepublik das DDR-Vermögen übernimmt und für die Staatsschulden der DDR haftet. Nach dem Zwei-plus-vier-Vertrag haben die Republik Polen und die Sowjetunion die territoriale Souveränität über die Gebiete östlich von Oder und Neiße erlangt, über ein Gebiet, das die Vier-Mächte auf der Potsdamer Konferenz unter besonderem Druck der Sowjetunion den Polen zur Verwaltung übertrugen. Dem Völkerrechtler stellt sich die Frage, ob nach dem Selbstbestimmungsrecht der Völker85, das heute im Schrifttum als ius cogens, als zwingendes Völkerrecht, anerkannt wird, eine Gebietsabtretung überhaupt zulässig ist, ohne den Willen des betroffenen Volkes – wer immer das in diesem Fall sein mag – zu erkunden. Das Völkerrecht verneint diese Frage, denn nach dem Selbstbestimmungsrecht der Völker darf kein Staat einen Gebietsabtretungsvertrag abschließen, ohne dass die betroffene Bevölkerung von ihrem Selbstbestimmungsrecht in einer Weise Gebrauch gemacht hat, die diesen Vertrag legitimiert. Man muss Bedenken haben, ob denn die Zustimmung eines in demokratischen Wahlen zustande gekommenen Parlaments den Anforderungen des Selbstbestimmungsrechts der Völker genügt. Vielmehr ist der Selbstbestimmungsakt als Kollektivakt getragen von der freien Willensentscheidung des Einzelnen. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker wird mit Volksabstimmungen wahrgenommen! Könnten sich die Regierungen über den Willen der Menschen hinwegsetzen, würde das Selbstbestimmungsrecht der Völker zur Farce. Im Übrigen kann von „freier“ Selbstbestimmung keine Rede sein, wenn ohne Gebietsabtretungen den Deutschen die Vereinigung versagt worden wäre. Schließlich stellt sich die Frage, wie denn die vier Siegermächte als Unterzeichnerstaaten der Atlantik Charta vom 12. August 194186 – aber auch Polen – ihr Handeln mit Art. 2 der Charta vereinbaren wollen, in dem sie sich versichern, keine Gebietsveränderungen zuzulassen, „die nicht mit den frei zum Ausdruck gebrachten Wünschen der betroffenen Völker übereinstimmen.“ Auch in den weiteren Deutschland betreffenden Vereinbarungen nach dem Zweiten Weltkrieg ging man von Deutschland in den Grenzen vom 31. Dezember 1937 aus, so dass sich die Frage stellt, welche Ereignisse zu einem solchen Gesinnungswandel, insbesondere der Westmächte, führten. 85 Vgl. dazu Gornig, Gilbert, Der Inhalt des Selbstbestimmungsrecht, in: Politische Studien, Sonderheft 6, 1993, S. 11 ff. 86 Text: Yearbook of the United Nations 1946 – 47, S. 2.
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Letztlich führte die menschenrechtswidrige, gegen zwingendes Völkerrecht verstoßende Vertreibung dazu, dass die Polen die territoriale Souveränität über die Gebiete östlich von Oder und Neiße erhielten. Lebten weiterhin achteinhalb Millionen Deutsche in jenen Gebieten, wäre diese Gebietsübertragung, die heute als Preis für die Einheit bezeichnet wird, wohl nicht durchsetzbar gewesen. Allerdings ist zu bedenken, dass im Jahre 1990 neben den seit 1945 vertriebenen Deutschen auch die in den Ostgebieten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs Angesiedelten dort ein Recht auf die Heimat genießen.87
87 Gornig, Gilbert, „Ethnische Säuberungen“. Recht auf die Heimat und die Verantwortlichkeit der Vertreiber, AWR-Bulletin 2000, Bd. 1, S. 19 ff. (21 f.); vgl. ferner allgemein: ders., Das Recht auf Heimat und das Recht auf die Heimat. Völkerrechtliche Überlegungen, in: Weigand, Katharina (Hg.), Heimat. Konstanten und Wandel im 19./20. Jahrhundert. Vorstellungen und Wirklichkeiten, München 1997, S. 33 ff.; Gornig, Gilbert/Murswiek, Dietrich (Hg.), Das Recht auf die Heimat. Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht, Band 23, Berlin 2006.
Willkürlicher Entzug der Staatsangehörigkeit Von Gerard-René de Groot und Hildegard Schneider
I. Zur Einführung Die beiden Verfasser dieses Beitrages, René de Groot und Hildegard Schneider, kennen den Jubilar bereits seit mehr als 30 Jahren. Sie trafen Koresuke Yamauchi in Münster am Lehrstuhl von Bernhard Großfeld zu Beginn der 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts. Während seines Europaaufenthalts war Koresuke Yamauchi auch als Gastreferent in Maastricht, um über die neuesten Entwicklungen auf dem Gebiet des Staatsangehörigkeitsrechts in Japan zu sprechen. Das Jahr 1985 war sowohl in Japan als in den Niederlanden ein wichtiges Jahr für das Staatsangehörigkeitsrecht. In beiden Staaten trat nämlich ein neues Staatsangehörigkeitsrecht in Kraft.1 Unter anderem deswegen lud Koresuke Yamauchi dann auch René de Groot 1985 nach Japan ein, um dort mehrere Gastvorträge zu halten.2 Sie führten damals angeregte Diskussionen über mögliche zukünftige Entwicklungen im Staatsangehörigkeits1
Änderung des japanischen Staatsangehörigkeitsgesetzes durch Gesetz Nr. 45/1984 und Rijkswet op het Nederlanderschap vom 19. Dezember 1984, Staatsblad 628. 2 Siehe: de Groot, Oranda kokusekiho¯ ni okeru ju¯kokuseki no kokufuku [ ], Japanische Übersetzung des Vortrages: Die Haltung des niederlänischen Staatsangehörigkeitsrechts zur doppelten Staatsangehörigkeit (Übersetzer: Koresuke Yamauchi), in: Ko¯seki-Jiho¯ ( , Japanische Zeitschrift für das Standesamtswesen), 1983 (Nr. 308), S. 13 – 25; de Groot, Nishi yoroppa ni okeru kokusekiho¯ no tenkai [ ], Japanische Übersetzung des Vortrages: Entwicklungen im westeuropäischen Staatsangehörigkeitsrecht (Übersetzer: Koresuke Yamauchi), in: Ko¯seki Jiho¯ ( ), 1985 (Nr. 328), S. 2 – 8; Nr. 329, S. 2 – 11; Nr. 330, S. 2 – 10; Nr. 331, S. 36 – 43; de Groot, Atarashii Oranda kokusekiho¯ ni tsuite [ ] Japanische Übersetzung des Vortrages: Das neue Staatsangehörigkeitsrecht der Niederlande (Übersetzer: Teruichi Kidana, in: Ritsumeikan Law Review ( ) 1985 (Nr. 5/6), S. 431 – 475, auch veröffentlicht in: Ko¯seki Jiho¯ ( ) 1986 (Nr. 339), S. 2 – 11; (Nr. 340), S. 2 – 13; (Nr. 341), S. 2 – 10. Siehe auch de Groot, Kokusai shiho¯ ni okeru „oranda gakuha“ ni tsuite [ “ ” ], Japanische Übersetzung des Vortrages: „Die ,holländische‘ Schule im internationalen Privatrecht“ (Übersetzer: Koresuke Yamauchi), in Ho¯gaku Shinpo¯ ( , Chuo Law Review) 1986 (Nr. 93), S. 139 – 167 und de Groot, Aru hikakuho¯ gakusha kara mita ho¯ritsu kaishaku no shomondai [ ], Japanische Übersetzung des Vortrages Probleme juristischer Übersetzungen aus der Perspektive eines Rechtsvergleichers (Übersetzer: Koresuke Yamauchi und Shiro¯ Shinoda), in: Meijo¯ Ho¯gaku ( Meijo¯ Law Review) 1985 (Nr. 1), S. 1 – 38 (auf Deutsch veröffentlicht in: Japanese Comparative Law Review/Revue Japonaise de Droit Comparé 1985 (Nr. 3), S. 1 – 45.
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recht. Einige dieser möglichen Entwicklungen sind inzwischen Wirklichkeit geworden. Es ist deshalb angemessen, diesen Beitrag in der Festschrift zum Eintritt in den Ruhestand von Koresuke Yamauchi dem Staatsangehörigkeitsrecht zu widmen, einem Rechtsgebiet, für das sich der Jubilar seit so vielen Jahren interessiert. Der Beitrag wird sich auf das Verbot des willkürlichen Entzugs der Staatsangehörigkeit konzentrieren. Dabei soll versucht werden, einige Grundsätze zu identifizieren, die unter diesem Entzugsverbot subsumiert werden können. Mit diesen Ausführungen soll auch ein Beitrag zur Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips im Staatsangehörigkeitsrecht geleistet werden. 1. Das Verbot des willkürlichen Entzugs der Staatsangehörigkeit in Art. 15 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und die Wiederholung dieses Verbots in weiteren internationalen Abkommen Art. 15 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte3 betont: 1. Jeder hat das Recht auf eine Staatsangehörigkeit. 2. Niemandem darf seine Staatsangehörigkeit willkürlich entzogen noch das Recht versagt werden, seine Staatsangehörigkeit zu wechseln.
Das Verbot des willkürlichen Entzugs der Staatsangehörigkeit bildete auch den Hintergrund der Art. 5 – 9 des UN-Abkommens zur Verminderung der Staatenlosigkeit aus 1961.4 Dieses Abkommen verbietet – mit nur wenigen Ausnahmen – den Verlust der Staatsangehörigkeit, wenn dies Staatenlosigkeit verursachen würde. Dieses Abkommen aus dem Jahre 1961 muss heutzutage im Lichte von späteren Menschenrechtsverträgen interpretiert werden. Zu nennen sind das Internationale Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung aus dem Jahre 1966,5 der ebenfalls aus dem Jahre 1966 stammende Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte6, das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau aus dem Jahre 1979,7 das Übereinkommen über die Rechte des Kindes aus dem Jahre 19898 sowie die im Jahre 2006 verabschiedete Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen.9 Eine genauere Übersicht zu den relevanten Vertragsverpflichtungen zum Verlust der Staatsangehörigkeit, die unter 3
Resolution 217 A (III) der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948. 4 Convention on the Reduction of Statelessness, UNTS 989, 175. 5 International Convention on the Elimination of All Forms of Racial Discrimination (CERD), UNTS 660, 195. 6 International Covenant on Civil and Political Rights (ICCPR), UNTS 999, 171. 7 Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination against Women (CEDAW), UNTS 1249, 13. 8 Convention on the Rights of the Child (CRC), UNTS 1577, 3. 9 Convention on the Rights of Persons with Disabilities (CRPD), UNTS 2515,3.
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Berücksichtigung dieser späteren Verträge aus dem UN-Abkommen von 1961 folgen, wird in den sogenannten Folgerungen von Tunis (Tunis Conclusions), die im Herbst 2013 veröffentlicht wurden, gegeben.10 Das ausdrückliche Verbot des willkürlichen Entzugs der Staatsangehörigkeit wird in mehreren internationalen Abkommen wiederholt. Dies ist unter anderem der Fall in Art. 4 unter c des Europäischen Übereinkommens über die Staatsangehörigkeit, das im Rahmen des Europarats 1997 geschlossen wurde.11 Art. 4 c dieses Abkommens lautet: „niemandem darf die Staatsangehörigkeit willkürlich entzogen werden.“ Entsprechendes wird auch in Art. 2 Abs. 3 der Amerikanischen Konvention über die Menschenrechte aus dem Jahre 1969,12 Art. 27 Abs. 2 der Konvention über die Menschenrechte und Fundamentellen Freiheiten der Gemeinschaft unabhängiger Staaten aus dem Jahre 1995,13 Art. 29 Abs. 1 der Arabischen Charter über die Menschenrechte aus dem Jahre 200414 und Art. 18 der ASEAN Erklärung der Menschenrechte aus dem Jahre 201215 betont. Angenommen wird daher heutzutage, dass diese Verbotsvorschrift zum völkerrechtlichen Gewohnheitsrecht gezählt werden muss.16 Weitere wichtige Grundsätze bezüglich des Verlusts der Staatsangehörigkeit findet man auch in Art. 7 des Europäischen Übereinkommens über die Staatsangehörigkeit. Jene Bestimmung enthält nämlich eine erschöpfende Auflistung von vertretbaren Verlustgründen. Verlust der Staatsangehörigkeit mit Staatenlosigkeit als Folge darf danach nur im Falle des Erwerbs der Staatsangehörigkeit durch arglistiges Verhalten, falsche Angaben oder die Verschleierung einer erheblichen Tatsache, die dem Antragsteller zuzurechnen ist, vorgesehen werden. Sehr wichtig ist auch, dass das Europäische Abkommen vorschreibt, dass Entscheidungen über den Verlust der Staatsangehörigkeit eine schriftliche Begründung enthalten müssen. Des Weiteren müssen solche Entscheidungen in Übereinstimmung mit dem innerstaatlichen Recht einer Überprüfung durch die Verwaltung oder durch 10 UN High Commissioner for Refugees (UNHCR), Expert Meeting – Interpreting the 1961 Statelessness Convention and Avoiding Statelessness resulting from Loss and Deprivation of Nationality („Tunis Conclusions“), siehe http://www.refworld.org/docid/533a754b4. html und de Groot, Gerard-René/Vonk, Olivier Willem, International standards on nationality law: Texts, cases and materials, Oisterwijk 2016, S. 193 – 207. Vergleiche dazu de Groot, Avoiding statelessness caused by loss or deprivation of nationality: Interpreting Articles 5 – 9 of the 1961 Convention on the reduction of statelessness and relevant international human rights norms, Background paper UNHCR, Genève 2013. 11 European Convention on Nationality (ECN), CETS 166. 12 American Convention on Human Rights, OAS Treaty Series 36; UNTS 1144, 123. 13 Commonwealth of Independent States Convention on Human Rights and Fundamental Freedoms (siehe http://refworld.org/docid/49997ac32c.html). 14 Arab Charter on Human Rights (siehe http://www1.umn.edu/humanrts/instree/loas2005. html?msource=UNWDEC19001&tr=y&auid=3337655). 15 ASEAN Declaration of Human Rights. 16 Siehe Resolution 50/152 der Generalversammlung der Vereinten Nationen.
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die Gerichte unterzogen werden können (Art. 11 und 12 des Europäischen Übereinkommens). Es ist in diesem Rahmen auch wichtig auf den Kommentar zu diesem Vertrag, dem sogenannten Explanatory Report to the European Convention on Nationality hinzuweisen, und zwar speziell auf den Kommentar zu Art. 4 (c) ECN: Several indications can be given concerning the prevention of an arbitrary deprivation of nationality. They relate both to the substantive grounds for deprivation and the procedural safeguards. As regards the substantive grounds, the deprivation must in general be foreseeable, proportional and prescribed by law. If it is based on any of the grounds contained in paragraph 1 of Article 5 [i. e. no discrimination on grounds of sex, religion, race, colour or national or ethnic origin; RdG/HS] it is contrary to this paragraph. Thus the withdrawal of nationality on political grounds would be considered arbitrary. More specifically, Article 7 of the Convention exhaustively lists the grounds for deprivation. Where deprivation would lead to statelessness, the prohibition contained in paragraph 3 of Article 7 applies. According to this paragraph the only exception concerns the acquisition of nationality by the improper conduct of the applicant (see paragraph 3 of Article 7).17
Für einen besseren Überblick über die Fälle, die einen willkürlichen Entzug der Staatsangehörigkeit darstellen, ist weiter ein Bericht des General-Sekretärs der Vereinten Nationen vom Dezember 2009 von großer Bedeutung.18 In diesem Bericht wird betont, dass der Entzug der Staatsangehörigkeit aus diskriminierenden Gründen als willkürlich einzustufen ist. Auch der Entzug der Staatsangehörigkeit mit Staatenlosigkeit als Folge sei willkürlich, wenn diese Folge als unverhältnismäßig einzustufen sei. Wichtige weitere Grundsätze zum Verlust der Staatsangehörigkeit folgten – weniger als drei Monate später – aus der Rottmann-Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 2. März 2010.19 Der Luxemburger Gerichtshof betonte in dieser Entscheidung, dass der Entzug der Staatsangehörigkeit und dadurch der Verlust der Europäischen Unionsbürgerschaft nur unter Anwendung und Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zulässig ist. Dieser Entscheidung lag folgender Sachverhalt zugrunde: Der Kläger des Ausgangsverfahrens, Herr Rottmann, wurde 1956 in Graz (Österreich) geboren und erwarb durch Geburt die österreichische Staatsbürgerschaft. Mit dem Beitritt der Republik Österreich zur Europäischen Union am 1. Januar 1995 wurde er in seiner Eigenschaft als österreichischer Staatsbürger auch Unionsbürger. 17
Explanatory Report ECN, No. 36. UN Human Rights Council, Human rights and arbitrary deprivation of nationality: Report of the Secretary-General, 14 December 2009, A/HRC/13/34, siehe http://www.refworld. org/docid/4b83a9cb2.html (SG UN 2009). Vergleiche auch UN Human Rights Council, Human rights and arbitrary deprivation of nationality: Report of the Secretary-General, 19 December 2013, A/HRC/25/28, siehe http://www.refworld.org/docid/52f8d19a4.html. Beide Berichte sind auch abgedruckt in de Groot/Vonk (Fn. 10), S. 407 – 435. 19 C-135/08, Rottmann [2010], EuGH I-01449; auch abgedruckt in de Groot/Vonk (Fn. 10), S. 572 – 599. 18
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Nachdem von der Bundespolizeidirektion Graz gegen ihn Ermittlungen wegen des Verdachts des schweren gewerbsmäßigen Betrugs eingeleitet worden waren, wurde er im Juli 1995 vom Landesgericht für Strafsachen in Graz als Beschuldigter vernommen. Daraufhin reiste er aus Österreich aus und nahm seinen Wohnsitz in München (Deutschland). Im Februar 1997 erließ das Landesgericht für Strafsachen in Graz einen nationalen Haftbefehl gegen ihn. Bei der Landeshauptstadt München beantragte Rottmann im Februar 1998 die deutsche Staatsangehörigkeit. In dem hierfür verwendeten, von ihm ausgefüllten Antragsformular verschwieg er, dass gegen ihn in Österreich ein Ermittlungsverfahren anhängig war. Die Einbürgerungsurkunde vom 25. Januar 1999 wurde Rottmann am 5. Februar 1999 ausgehändigt. Durch seine Einbürgerung in Deutschland verlor Herr Rottmann nach österreichischem Staatsangehörigkeitsrecht seine österreichische Staatsangehörigkeit. Wenige Monate später, im August 1999 erreichten die Stadt München Informationen der österreichischen Behörden, dass Herr Rottmann dort per Haftbefehl gesucht werde und bereits im Juli 1995 vom Landesgericht für Strafsachen in Graz als Beschuldigter vernommen worden war. Daraufhin nahm der Freistaat Bayern die Einbürgerung mit Bescheid vom 4. Juli 2000 rückwirkend zurück, weil der Kläger das österreichische Ermittlungsverfahren verschwiegen und dadurch die deutsche Staatsangehörigkeit erschlichen habe. Die deutschen Behörden stützten ihre Rücknahmeentscheidung auf Art. 48 Abs. 1 des Bayrischen Verwaltungsverfahrensgesetzes (BayVwVfG), in dem es heißt: „Ein rechtswidriger Verwaltungsakt kann, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden. …“. Rottmann erhob Anfechtungsklage gegen diesen Bescheid und machte geltend, durch die Rücknahme seiner Einbürgerung werde er völkerrechtswidrig staatenlos und verliere damit unter Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht auch seine Unionsbürgerschaft. Nachdem Klage und Berufung erfolglos blieben, legte Rottmann beim Bundesverwaltungsgericht Revision ein. Da das Bundesverwaltungsgericht angesichts des Umstands, dass mit dem Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit und dem dadurch bedingten Eintritt von Staatenlosigkeit regelmäßig auch der Verlust der europäischen Unionsbürgerschaft einhergeht, Zweifel an der Vereinbarkeit der streitigen Rücknahmeentscheidung und des Berufungsurteils mit europäischen Gemeinschaftsrecht hatte, setzte es das Verfahren aus und legte dem Europäischen Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vor: 1. Steht Gemeinschaftsrecht der Rechtsfolge des Verlusts der Unionsbürgerschaft (und der mit dieser verbundenen Rechte und Grundfreiheiten) entgegen, der sich daraus ergibt, dass eine nach nationalem (deutschen) Recht an sich rechtmäßige Rücknahme einer durch arglistige Täuschung erschlichenen Einbürgerung in den Staatsverband eines Mitgliedstaats (Deutschland) dazu führt, dass im Zusammenwirken mit dem nationalen Staatsangehörigkeitsrecht eines anderen Mitgliedstaats (Österreich) – wie hier im Falle des Klägers infolge des Nichtwieder-
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auflebens der ursprünglich österreichischen Staatsangehörigkeit – Staatenlosigkeit eintritt? 2. Für den Fall, dass die erste Frage bejaht wird: Muss der Mitgliedstaat (Deutschland), der den Unionsbürger eingebürgert hat und die erschlichene Einbürgerung wieder zurücknehmen will, unter Beachtung des Gemeinschaftsrechts von der Rücknahme der Einbürgerung ganz oder zeitweilig absehen, wenn oder solange sie die in Frage 1 beschriebene Rechtsfolge des Verlusts der Unionsbürgerschaft (und der mit dieser verbundenen Rechte und Grundfreiheiten) hätte, oder ist der andere Mitgliedstaat (Österreich) der früheren Staatsangehörigkeit unter Beachtung des Gemeinschaftsrechts verpflichtet, sein nationales Recht so auszulegen und anzuwenden oder auch anzupassen, dass diese Rechtsfolge nicht eintritt? In seinem Urteil stellte der EuGH deutlich fest, dass es nicht gegen das Unionsrecht, insbesondere Art. 17 EG (nun Art. 20 AVEU) verstößt, wenn ein Mitgliedstaat einem Unionsbürger die durch Einbürgerung erworbene Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats wieder entzieht, falls die Einbürgerung durch Täuschung erschlichen wurde, vorausgesetzt, dass die Rücknahmeentscheidung den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahrt. Die Entscheidung, eine Einbürgerung wegen betrügerischer Handlungen zurückzunehmen, entspricht nämlich einem im Allgemeininteresse liegenden Grund. In dieser Hinsicht ist es, nach Ansicht des Gerichtshofs legitim, dass ein Mitgliedstaat das zwischen ihm und seinen Staatsbürgern bestehende Verhältnis besonderer Verbundenheit und Loyalität sowie die Gegenseitigkeit der Rechte und Pflichten, die dem Staatsangehörigkeitsband zugrunde liegen, schützen will. Der EuGH betonte hierbei auch, dass gemäß Art. 8 Abs. 2 des Übereinkommens zur Verminderung der Staatenlosigkeit einer Person die Staatsangehörigkeit eines Vertragsstaats entzogen werden kann, wenn diese durch falsche Angaben oder betrügerische Handlungen erworben wurde. Auch Art. 7 Abs. 1 und 3 des Europäischen Übereinkommens über die Staatsangehörigkeit verbietet es einem Vertragsstaat nicht, einer Person seine Staatsangehörigkeit zu entziehen, auch wenn sie dadurch staatenlos wird, sofern die Staatsangehörigkeit durch arglistiges Verhalten, falsche Angaben oder die Verschleierung einer erheblichen Tatsache, die dieser Person zuzurechnen sind, erworben wurde. Die genannte Schlussfolgerung steht, so der EuGH, außerdem im Einklang mit dem in Art. 15 Abs. 2 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und den in Art. 4 Buchst. c des Europäischen Übereinkommens über die Staatsangehörigkeit niedergelegten allgemeinen völkerrechtlichen Grundsatz, wonach niemandem die Staatsangehörigkeit willkürlich entzogen werden darf. Entzieht ein Staat einer Person die Staatsangehörigkeit wegen ihres rechtmäßig nachgewiesenen betrügerischen Verhaltens, kann dies nämlich nicht als eine willkürliche Maßnahme angesehen werden. Diese Erwägungen zur grundsätzlichen Rechtmäßigkeit einer Entscheidung über die Rücknahme der Einbürgerung wegen betrügerischer Handlungen gelten gemäß dem Gerichtshof grundsätzlich auch dann, wenn eine solche Rücknahme zur Folge
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hat, dass der Betroffene neben der Staatsangehörigkeit des Mitgliedstaats der Einbürgerung die Unionsbürgerschaft verliert. In seinen Rechtserwägungen 55 und 56 stellte der EuGH dabei aber deutlich fest, dass in einem solchen Fall das vorlegende Gericht – gegebenenfalls über die Prüfung der Verhältnismäßigkeit nach rein nationalem Recht hinaus – zu prüfen hat, ob die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Rücknahmeentscheidung hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die unionsrechtliche Stellung des Betroffenen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahrt. Hierbei geht der EuGH deutlich davon aus, dass neben dem nationalen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auch ein unionsrechtlicher Verhältnismäßigkeitsgrundsatz besteht, der zu wahren ist. Der EuGH führte dabei aus, dass angesichts der Bedeutung, die das Primärrecht dem Unionsbürgerstatus beimisst, bei der Prüfung einer Entscheidung über die Rücknahme der Einbürgerung die möglichen Folgen zu berücksichtigen sind, die diese Entscheidung für den Betroffenen und gegebenenfalls für seine Familienangehörigen in Bezug auf den Verlust der Rechte, die jeder Unionsbürger genießt, mit sich bringt. Hierbei ist insbesondere zu prüfen, ob dieser Verlust im Verhältnis zur Schwere des vom Betroffenen begangenen Verstoßes gerechtfertigt ist. Ebenfalls berücksichtigt werden muss der Zeitraum, der zwischen der Einbürgerungsentscheidung und der Rücknahmeentscheidung vergangen ist, und zur Möglichkeit für den Betroffenen, seine ursprüngliche Staatsangehörigkeit wiederzuerlangen. Das Urteil des EuGHs in der Sache Rottmann wurde an vielen Stellen ausführlich diskutiert und kommentiert.20 Auch die Europäische Kommission interessierte sich sehr für die Folgen dieser Entscheidung für die Unionsbürgerschaft und ihr Verhältnis zur Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates sowie der Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Falle eines unfreiwilligen Verlustes der Unionsbürger20
Borrás Rodríguez, Alegría/Pellisé, Cristina, Jurisprudencia del Tribunal de Justicia de la Unión Europea, Revista Jurídica de Catalunya 2010, S. 289 – 290; Cortés Martín, José Manuel, Ciudadanía de la Unión, nacionalidad de los Estados Miembros y estatuto de apatridia, STJEU (Gran Sala) de 2 marzo de 2010, Rottmann C-135/08, Revista de Derecho Comunitario Europeo 2010 Nr. 36, S. 599 – 602; de Groot, Gerard-René/Seling, Anja, The consequences of the Rottmann judgment on Member State autonomy – The European Court of Justice’s avantgardism in nationality matters, European Constitutional Law Review 2011, S. 150 – 160; also published in: Jo Shaw (ed.), Has the European Court of Justice Challenged Member State Sovereignty in Nationality Law? (RSCAS Working Paper 2011/62), Florence: EUI 2011, S. 27 – 31 (also available on: http://cadmus.eui.eu/handle/1814/19654); Hailbronner, Kay, Staatsangehörigkeitsrecht und Unionsrecht, Das Standesamt 2011, S. 1 – 6; Jessurun d’Oliveira, Hans-Ulrich, Decoupling Nationality and Union Citizenship?, European Constitutional Law Review 2011, S. 138 – 149; Kochenov, Dimitry, A Real European Citizenship: A new Jusrisdiction Test; A Novel Chapter in the Development of the Union in Europe, Columbia Journal of European Law, Vol. 18, No. 1, 2011, S. 56 – 109; Toggenburg, Gabriel L., Zur Unionsbürgerschaft: Inwieweit entzieht sich ihr Entzug der Unionskontrolle?, European Law Reporter 2010, S. 165 – 172; Tewocht, Hannah, Unionsbürgerschaft, rückwirkender Verlust der durch Einbürgerung erworbenen Staatsangehörigkeit wegen betrügerischer Handlungen bei ihrem Erwerb, Staatenlosigkeit, Verlust der Unionsbürgerschaft, Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik 2010, S. 144 – 146.
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schaft. Von Bedeutung sind in diesem Zusammenhang vor allem auch die Richtlinien, die als Ergebnis des von der Europäischen Kommission finanzierten Forschungsprojektes über unfreiwilligen Verlust der Staatsangehörigkeit (Involuntary Loss of European Citizenship/ ILEC)21 aufgestellt wurden.22 Im Lichte der bisher erwähnten Dokumente und der Rechtsprechung können nun mehrere Fallgruppen unterschieden werden, nach denen ein willkürlicher Entzug der Staatsangehörigkeit vorliegt. Aus diesen Fallgruppen können wiederum mehrere Grundsätze abgeleitet werden, die hier vorgestellt werden sollen.
2. Wann ist ein Entzug der Staatsangehörigkeit willkürlich? 1. Der Verlust einer Staatsangehörigkeit muss immer auf einer Gesetzesbestimmung beruhen. Zu folgern, dass die Staatsangehörigkeit aufgrund ungeschriebenen Rechts verloren wurde, ist wegen Verstoßes gegen das Willkürverbot unzulässig. Rechtssicherheit ist insbesondere im Staatsangehörigkeitsrecht von allergrößter Bedeutung.23 Staaten sollten es daher unterlassen, die Staatsangehörigkeit aufgrund von allgemeinen Rechtsgrundsätzen oder aufgrund der Feststellung zu entziehen, dass die Staatsangehörigkeit nie erworben wurde.24 Verlustgründe müssen gesetzlich erschöpfend und detailliert festgelegt werden. 2. Eine Gesetzesvorschrift bezüglich des Verlustes der Staatsangehörigkeit oder die einen Entzug der Staatsangehörigkeit ermöglicht, darf nie mit rückwirkender Kraft eingeführt werden. Es gilt der Grundsatz „nulla perditio, sine praevia lege“: kein Verlust (der Staatsangehörigkeit) ohne vorherige Gesetzesbestimmung.25 Die Rechtsgrundlage für Verlust der Staatsangehörigkeit oder für einen möglichen Entzug der Staatsangehörigkeit soll bereits dann existieren, wenn eine Handlung oder Tatsache vorgenommen wurde, die Anlass für den Verlust oder den Entzug ist. Es 21 Involuntary Loss of European Citizenship/ILEC: Exchanging Knowledge and Identifying Guidelines for Europe, Co-funded by the European Commission’s DG for Justice, Citizenship and Fundamental Rights. Siehe weiter: www.ilecproject.eu. Siehe auch de Groot/Vonk (Fn. 10), S. 745 – 751. 22 Die ILEC Guidelines wurden aufgestellt aufgrund der Policy Briefs vorbereitet für die Schlusskonferenz des ILEC Projekts am 11. und 12. Dezember 2014 in Brüssel und der Diskussionen während jener Konferenz. 23 GS UN 2009, Par. 25; Tunis Conclusions 2014, Par. 16; ILEC 2015, Par. I.1 und V.b. Siehe auch de Groot, Gerard-René/Luk, Ngo Chun, Twenty Years of CJEU Jurisprudence on Citizenship, German Law Journal 2014, S. 821 – 834. 24 Siehe für Literaturhinweise zu dieser Problematik, die manchmal als Quasi-Verlust bezeichnet wird, die Angaben unten in Fn. 37. 25 Tunis Conclusions 2014, Par. 16; ILEC 2015, Par. I.2. Siehe auch Lambert, Hélène, Comparative Perspectives on Arbitrary Deprivation of Nationality and Refugee Status, International and Comparative Law Quarterly 64, no. 1 2015, S. 11; Molnár, Tamás, The Prohibition of Arbitrary Deprivation of Nationality under International and EU Law: New Perspectives, Hungarian Yearbook of International Law and European Law 2014, S. 76 und de Groot/Luk, German Law Journal 2014, S. 830.
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ist allerdings zulässig, dass Staaten eine Verlustbestimmung mit ruckwirkender Kraft einschränken. Eine solche Einschränkung bewirkt ja, dass – rückwirkend betrachtet – jemand die Staatsangehörigkeit nicht verloren hat. 3. Eine Verlustbestimmung darf nie extensiv ausgelegt werden.26 Eine extensive oder gar analoge Auslegung einer Verlustbestimmung würde bewirken, dass diese Bestimmung auf Handlungen oder Fakten angewandt wird, die nicht von der normalen, wörtlichen Bedeutung der Begriffe in der Verlustbestimmung gedeckt werden. 4. Im Falle der Einführung einer neuen Verlustbestimmung sollte eine angemessene Übergangsregelung vorgesehen werden, damit vorgebeugt wird, dass jemand die Staatsangehörigkeit verliert aufgrund von Handlungen, die bereits vor Inkrafttreten der neuen Bestimmung vorgenommen wurden oder begonnen sind.27 5. Ein Erwerbsgrund der Staatsangehörigkeit darf nie mit rückwirkender Kraft aufgehoben werden, da die danach folgende Feststellung, dass die Staatsangehörigkeit nie erworben wurde, als ein (rückwirkender) Verlust der Staatsangehörigkeit zu werten ist.28 Das gleiche gilt auch für die Einschränkung eines Erwerbsgrundes der Staatsangehörigkeit vermittels einer mit rückwirkender Kraft ausgestatteten Hinzufügung, einer neuen Voraussetzung für den Erwerb der Staatsangehörigkeit.29 6. Im Staatsangehörigkeitsrecht gilt immer das Prinzip „tempus regit factum“ (die Zeit regiert die Tatsache), d. h. zur Feststellung ob eine Person die Staatsangehörigkeit erworben oder verloren hat, sind immer jene Gesetzesbestimmungen anzuwenden, die im Zeitpunkt der relevanten Handlung(en) oder Tatsache(n) galten, die staatsangehörigkeitsrechtliche Folgen haben könnten.30 Ausnahmen auf diese Regel dürfen nicht gegen die Prinzipien 2 oder 5 verstoßen. 7. Verlustbestimmungen und Entzugsmöglichkeiten müssen vorhersehbar sein. Dieses Gebot umfasst auch, dass ähnliche Situationen nicht zu unterschiedlichen Ergebnissen führen dürfen (Gleichheitsgrundsatz) und dass Gesetzesbestimmungen über Entzug und Verlust der Staatsangehörigkeit nicht durch analoge Auslegung erweitert werden dürfen.31
26
Tunis Conclusions 2014, Par. 16; ILEC 2015, Par. I.3. Siehe auch Molnár (Fn. 25), S. 76. Tunis Conclusions 2014, Par. 17; ILEC 2015, Par. I.4. Siehe auch Molnár (Fn. 25), S. 76 und de Groot/Luk (Fn. 23) S. 831. 28 Tunis Conclusions 2014, Par. 16; ILEC 2015, Par. I.5. Siehe auch Molnár (Fn. 25), S. 76 und de Groot/Luk (Fn. 23) S. 831. 29 Dies gilt sowohl für das Hinzufügen einer Voraussetzung durch Änderung der gesetzlichen Bestimmung als für das Hinzufügen einer nicht gesetzlich festgelegten Voraussetzung durch gerichtliche Interpretation. 30 Tunis Conclusions 2014, Par. 17; ILEC 2015, Par. I.6. Siehe auch de Groot/Luk (Fn. 23), S. 831. 31 Tunis Conclusions 2014, Par. 16; ILEC 2015, Par. I.7. Siehe auch de Groot/Luk (Fn. 23), S. 832. 27
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8. Die Anwendung einer Verlustbestimmung oder einer Entzugsmöglichkeit darf nie diskriminierend sein.32 Die Tunis Folgerungen (Conclusions) betonen ausdrücklich, dass dieses Prinzip ein ius cogens Status hat. 9. Die Möglichkeit einer gerichtlichen Überprüfung der Anwendung einer Verlustbestimmung oder einer Entzugsmöglichkeit ist von essentieller Bedeutung.33 10. Eine Entscheidung über den Entzug der Staatsangehörigkeit darf lediglich nach Anwendung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erfolgen.34 Gemäß dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz muss eine Maßnahme geeignet, notwendig und verhältnismäßig sein im Lichte des Zieles, das erreicht werden soll. Ein Entzug der Staatsangehörigkeit muss das am wenigsten eingreifende Mittel (the least intrusive instrument) sein, mit dem das erwünschte Ergebnis erreicht werden kann und muss auch hinsichtlich der zu schützenden Interessen verhältnismäßig sein.35 3. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Das Prinzip der Verhältnismäßigkeit ist in allen Fällen bezüglich Verlust oder Entzug der Staatsangehörigkeit von wesentlicher Bedeutung.36 Dies gilt auch für Fälle in denen Behörden feststellen, dass eine bestimmte Person die Staatsangehörigkeit nie erworben hat, obwohl sie während eines längeren Zeitraums als Staatsangehörige behandelt wurde. Diese Fälle, die als Quasi-Verlust Tatbestände beschrieben werden können, sollen wie Verlusttatbestände behandelt werden.37 Falls dies unterbleibt, eröffnet sich hier die Möglichkeit für Staaten, um durch Quasi-Verlust Konstruktionen das Verbot des willkürlichen Entzugs der Staatsangehörigkeit zu umgehen. 32 GS UN 2009, Par. 18, 22, 26, 58; Tunis Conclusions 2014, Par. 18; ILEC 2015, Par. I.8. Siehe auch Human Right Council Resolution 10/13. Siehe auch Lambert (Fn. 25), S. 11; Molnár (Fn. 25), S. 79, 80 und de Groot/Luk (Fn. 23) S. 832. 33 GS UN 2009, Par. 25, 43 – 46, 63, 64; Tunis Conclusions 2014, Par. 26; ILEC 2015, Par. I.9. Siehe auch Lambert (Fn. 25), S.11 und de Groot/Luk (Fn. 23), S. 830. 34 GS UN 2009, Par. 25, 27, 29 – 35, 59; Tunis Conclusions 2014, Par. 19 – 24; ILEC 2015, Par. I.10. Siehe auch de Groot/Luk (Fn. 23), S. 832. 35 Tunis Conclusions 2014, Par. Par. 19 und 20; ILEC 2015, Par. I.10; EuGH in Rottmann, Par. 55. 36 Siehe auch de Groot/Luk (Fn. 23), S. 833, 834. 37 Siehe für Einzelheiten: de Groot, Gerard-René/Wautelet, Patrick, Reflections on Quasiloss of nationality from comparative, international and European perspective, Background paper ILEC-project (Project on Involuntary Loss of European Citizenship), CEPS Paper in Liberty and Security in Europe No. 66 (August 2014) (http://www.ceps.eu/publications/reflec tions-quasi-loss-nationality-comparative-international-and-european-perspective); auch veröffentlicht als Kapitel 4 in: Carrera Nuñez, Sergio/de Groot, Gerard-René, European citizenship at the Crossroads: The Role of the European Union on Loss and Acquisition of Nationality, Oisterwijk 2015, S. 117 – 157. Vergleiche auch de Groot, Gerard-René/Wautelet, Patrick, How to deal with quasi-loss of nationality situations? Learning from promising practices, ILEC Policy Brief, CEPS Paper in Liberty and Security, No. 71/November 2014.
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Das Verhältnismäßigkeitsprinzip ist auch anzuwenden, wenn der Verlust der Staatsangehörigkeit nicht eine behördliche Entscheidung erfordert, sondern von Gesetzes wegen eintritt (ex lege).38 Erstens soll die Verhältnismäßigkeit schon im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens berücksichtigt werden. Des Weiteren soll die Verhältnismäßigkeit im Rahmen der Auslegung einer ex lege Verlustbestimmung eine Hauptrolle spielen. Wenn Behörden das Verhältnismäßigkeitsprinzip anwenden, sollen sie zumindest die folgenden Grundsätze beachten: 1. Kein Verlust oder Entzug der Staatsangehörigkeit soll stattfinden aufgrund von nur leichten Straftaten mit einem sehr niedrigen Strafmaß. Ein Entzug der Staatsangehörigkeit muss im Verhältnis zur Schwere des vom Betroffenen begangenen Verstoßes gerechtfertigt sein.39 2. Sämtliche relevante persönliche Umstände sollen im Einzelfall berücksichtigt werden, insbesondere der Schuldumfang des Betroffenen an der vorgeworfenen Handlung und die Umstände unter denen die Handlung aufgrund derer der Entzug erfolgen soll, stattgefunden hat.40 3. Insbesondere muss berücksichtigt werden, wieviel Zeit seit der vorgeworfenen Handlung vergangen ist.41 Des Weiteren ist auch der Zeitraum von Bedeutung der zwischen der Entdeckung der vorgeworfenen Handlung durch die Behörden und dem Moment der behördlichen Entzugsentscheidung vergangen ist.42 Die Zeit, die seit der Handlung vergangen ist, ist auch von Bedeutung für die Beurteilung, ob die Schwere des vom Betroffenen begangenen Verstoßes einen Entzug der Staatsangehörigkeit rechtfertigt. Nach langem Zeitverlauf kann nur bei einem sehr ernsthaften Verstoß ein Entzug der Staatsangehörigkeit gerechtfertigt werden.43 4. Die möglichen Folgen der Entzugsentscheidung für den Betroffenen und dessen Familienangehörige müssen berücksichtigt werden, wobei insbesondere von Bedeutung ist, ob sie das Aufenthaltsrecht in dem Staat der zu entziehenden Staatsangehörigkeit verlieren würden.44 In diesem Rahmen ist bei möglichem Entzug der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates der Europäischen Union auch zu überprüfen ob Familienangehörige, die Drittstaatsangehörige sind, ihre Aufenthaltsrechte verlieren, die sie als Angehörige eines europäischen Unionsbürgers genießen, wenn Letzterer seine europäische Unionsbürgerschaft verliert.45
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ILEC 2015, Einführung zu Par. II. Tunis Conclusions 2014, Par. 21; ILEC 2015, Par. II.1; EuGH in Rottmann, Par. 56. 40 Tunis Conclusions 2014, Par. 21; ILEC 2015, Par. II.2; EuGH in Rottmann, Par. 56. 41 Tunis Conclusions 2014, Par. 21; ILEC 2015, Par. II.3; EuGH in Rottmann, Par. 56. 42 ILEC 2015, Par. II.3. 43 Tunis Conclusions 2014, Par. 21; ILEC 2015, Par. II.3. 44 Tunis Conclusions 2014, Par. 44; ILEC 2015, Par. II.4; EuGH in Rottmann, Par. 56. 45 ILEC 2015, Par. II.4.
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5. Die Verhältnismäßigkeitsprüfung soll für jede Person, deren Staatsangehörigkeit gefährdet ist, individuell vorgenommen werden.46 Eine Erstreckung des Entzugs der Staatsangehörigkeit auf Ehegatten und (minderjährige) Kinder ist unakzeptabel. 6. Besondere Berücksichtigung erfordert die staatsangehörigkeitsrechtliche Stellung von Kindern einer Person, deren Staatsangehörigkeit entzogen werden soll, wenn der Verlust der Staatsangehörigkeit für diese Kinder Staatenlosigkeit zur Folge haben würde, da Staatenlosigkeit eindeutig gegen das Interesse dieser Kinder verstoßen würde.47
II. Verfahrensrechtliche Grundsätze Das Verbot des willkürlichen Entzugs der Staatsangehörigkeit und die Verpflichtung zur Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bewirken, dass angemessene verfahrensrechtliche Garantien vorhanden sein müssen. Dies gilt nicht nur für Entscheidungen über den Entzug der Staatsangehörigkeit, sondern ebenfalls in Fällen, in denen die Gesetzgebung eines Staates den automatischen (ex lege) Verlust der Staatsangehörigkeit vorsieht oder wo Behörden zu der Folgerung kommen, dass eine bestimmte Person die Staatsangehörigkeit nie erworben hat.48 Die verfahrensrechtlichen Garantien sollen folgende Elemente enthalten: 1. Alle Entscheidungen über Verlust oder Entzug der Staatsangehörigkeit müssen schriftlich erfolgen und sollen die Gründe für den Verlust oder Entzug der Staatsangehörigkeit ausdrücklich nennen.49 2. Alle Entscheidungen über Verlust oder Entzug der Staatsangehörigkeit müssen durch einen unabhängigen Richter, der ebenfalls eine begründete Entscheidung gibt, überprüft werden können.50 3. Die Gerichtgebühren sollen kein Hindernis für den Antrag einer gerichtlichen Überprüfung bilden.51 Antragsteller sollen auch nicht verpflichtet werden können, die dem Staat wegen des Verfahrens entstandenen Kosten zu erstatten; dass gilt auch dann wenn der Antrag zurückgewiesen wird.52 4. Während des Gerichtsverfahrens sollte der Betroffene weiterhin als Staatsangehöriger behandelt werden; dies gilt ebenfalls im Falle eines Berufungsverfahrens,
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Tunis Conclusions 2014, Par. 61, 63; ILEC 2015, Par. II.5. Tunis Conclusions 2014, Par. 62; ILEC 2015, Par. II.3. 48 Tunis Conclusions 2014, Par. 13 und 25; ILEC 2015, Einführung zu Par. III. 49 Tunis Conclusions 2014, Par. 26; ILEC 2015, Par. III.1. Siehe auch Molnár, Hungarian Yearbook 2014, S. 78. 50 Tunis Conclusions 2014, Par. 26; ILEC 2015, Par. III.2. Molnár (Fn. 25), S. 78. 51 ILEC 2015, Par. III.3. 52 ILEC 2015, Par. III.3. 47
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einschließlich einer Berufung zu internationalen Gerichten beziehungsweise während eines Vorlageverfahrens beim EuGH.53 5. Entscheidungen bezüglich Verlust oder Entzug der Staatsangehörigkeit sollen lediglich wirksam werden, wenn diese nicht mehr angefochten werden können.54 Dieser Grundsatz schließt jedoch nicht aus, dass der Staat folgert, dass der Verlust oder Entzug der Staatsangehörigkeit mit rückwirkender Kraft eintritt, sobald keine Rechtsmittel mehr zur Verfügung stehen.55
III. Zum Schluss Nach der hier vertretenen Auffassung ist es von großer Bedeutung, darüber nach zu denken, durch welche Grundsätze das Verbot des willkürlichen Entzugs der Staatsangehörigkeit konkretisiert werden könnte. In diesem Beitrag erfolgte dies im Lichte der Tunis Conclusions, der ILEC Guidelines und der Rottmann-Entscheidung des Gerichtshofes der Europäischen Union. Weitere Diskussionen über die Konkretisierung des Willkürverbots sind wünschenswert. Die Autoren sind gespannt, welche Ansichten Koresuke Yamauchi zu dieser Problematik hat, und würden sich sehr freuen, wenn er bereit wäre, sich an dieser Diskussion zu beteiligen.
53
ILEC 2015, Par. III.4. Tunis Conclusions 2014, Par. 26; ILEC 2015, Par. III.5. 55 Dies geschah auch im Falle von Janko Rottmann. Siehe die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 11. November 2010 (BVerwG 5C12.10), in: de Groot, Gerard-René/ Wautelet, Patrick/Charalambidou, Nicola/Ersbøll, Eva/Kruma, Kristine/de Bono, Daniela/ Luk, Ngo Chun/Marrero González, Guayasén, Rottmann in the Courts of the Member States of the European Union: A Collection of 18 Judgements and Four Pending Cases with Case Notes (http://www.ilecproject.eu/sites/default/files/PART%20III%20-%20CASE%20NOTES% 20No%20Mark%20Up.pdf); siehe auch in: Carrera Nuñez/de Groot (Fn. 37), S. 383 – 396 (mit Anmerkung de Groot). 54
Geographie und Recht Von Bernhard Großfeld
I. Einführung Koresuke Yamauchi spannt einen weiten rechtsvergleichenden Bogen: Von Asien nach Europa. Dabei hat er Grundfragen der Rechtsvergleichung immer wieder angesprochen. Ich erwähne nur seinen Aufsatz „Welche Beziehung hat Rechtsvergleichung zum Internationalen Privatrecht?“1 Einen der Grundsteine möchte ich daher heute erneut erörtern: Die Beziehungen zwischen Geographie und Recht2. Das liegt deshalb nahe, weil die Rechtsvergleichung mit Japan das Thema geradezu herausfordert: Japan ist ein Inselstaat, Deutschland liegt im Zentrum Europas. Zudem wird Japan oft zum ostasiatischen Rechtskreis gerechnet, während es doch eigenständiger ist als dieser Ausdruck vermuten lässt: Mich beeindrucken tief die Unterschiede zwischen chinesischer, koreanischer und japanischer Rechtskultur. Diese Unterschiede beginnen bei der Geographie: China ist mehr als ein Staat: Es ist ein Kontinent, dessen Sicht nicht auf das Meer gerichtet ist. In Japan tritt einem dagegen die Abhängigkeit vom Meer überall entgegen. Korea ist dagegen mehr zentralasiatisch geprägt und spielt geographisch eine Brückenrolle zwischen China und Japan. Sprache und Schrift haben jeweils einen eigenständigen Charakter. Deshalb liegt es nahe, das Thema Geographie und Recht erneut zu behandeln, zumal sich die Literatur dieses Themas verstärkt annimmt3.
1 In: Yamauchi/Ebke (Hg.), Meilensteine im Internationalen Privat-und Wirtschaftsrecht, Tokio 1990, S. 277. 2 Großfeld, Geographie, Sprache und Recht, in: FS Kastner, Wien 1992, S. 175; ders., Geography and Law, Michigan L. Rev. 82 (1984) 1510; ders., Loss of Distance: Global Corporate Actors and Global Corporate Governance – Internet v. Geography, The International Lawyer 34 (2000) 963; Marshall, Die Macht der Geographie, München 2015. 3 Kedar, Critical Comparative Legal Geophysics: A Tentative Research Program, google.de; dies., Expanding Legal Geographies: A Call for a Critical Comparative Approach, in: Braverman/Blomley/Delaney/Kedar (Hg.), The Expanding Spaces of Law: A Timely Legal Geography, Stanford 2014, S. 95, 108; Grossfeld, Dreaming Law. Comparative Legal Semiotics, Stuttgart 2010, S. 11.
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II. Anstoß Die Anschauung in das Thema vermittelte mir die Rechtsvergleichung zwischen England und den Vereinigten Staaten von Amerika4. Dort begegnet einem der Rechtsunterschied zwischen der Enge Englands und Weite US-Amerikas beim „fencing“-Problem, nämlich bei der Frage, wer den Weidezaum setzen muss. Nach englischem Recht muss der Viehzüchter sein Vieh einzäunen (fencing in); tut er das nicht, so muss er Schadensersatz zahlen für den Schaden, den sein Vieh anrichtet auf den Feldern der Nachbarn. Im US-amerikanischen Mittelwesten und Südwesten wandelte sich das in den Grundsatz des „Auszäunens“ (fencing out): Die Farmer mussten ihre Felder selbst schützen durch Zäune gegen streunendes Vieh. Ein weiteres Beispiel ist die Frage nach dem Eigentum an einem Haus, das auf fremden Grundstück errichtet ist. Darüber hatte der Oberste Gerichtshof der USA im Jahre 1829 zu entscheiden. Gehörte das Haus dem Pächter oder dem Eigentümer des Grundstücks? Nach englischem Recht gehörte es dem Eigentümer des Grundstücks. Galt das auch für die USA? Das Gericht entschied5, dass man die Übernahme des englischen Common Law nicht vermuten könne: „Das Land war eine Wildnis, man wollte es schnell kultivieren. Grundeigentümer und Öffentlichkeit hatten allen Anlass, den Pächter um Ackerbau zu ermuntern und jeden Bau für diesen Zweck zu fördern. Doch welcher Pächter konnte es sich bei der Armut leisten, mit hohem Aufwand Gebäude zu errichten, wenn er sein Rechte daran gerade durch die Errichtung verlöre?“
III. Grundstücksrecht Die Beziehungen zur Geographie sind besonders eindringlich im Grundstücksrecht. Hier begegnen sie uns in der Rechtsvergleichung schlagend im australischen Grundstückrecht, wie es seit 1992 in Australien gilt: Dort bestimmen die „geosongs“ der Aborigines die Grenzen zwischen den Stämmen6. Nach der jahrtausendealten Tradition der Aborigines gibt es eine lebendige Verbindung zwischen ihnen und bestimmten Plätzen im Land. Das steht für eine besondere Weltsicht: Nach ihr hat das Land eine besondere Beziehung zu Personen und Gruppen; es besteht ein Verhältnis gegenseitiger Verantwortung.
4
Grossfeld, Geography and Law, Michigan L. Rev. 82 (1984) 1510. Van Ness v. Pacard, 7 L. Ed. 374 (1829). 6 Großfeld, Ordnungsgesänge: Interkulturelle Begegnung, Paderborn 2008. 5
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IV. Vertragsrecht Nehmen wir als weiteres Beispiel das Vertragsrecht in China: Dort führt die Bevölkerungsdichte zu anderen Beziehungsmustern7: Bevölkerungsdichte als Rechtsfaktor. Bei einer Vorlesung vor jungen chinesischen Professoren überraschte mich die Frage: „Wozu braucht man einen Vertrag?“8 Ich wies hin auf die Schaffung einer Vertrauensgrundlage und auf die Möglichkeit, evtl. Schadensersatz zu verlangen. Die erstaunte Reaktion: „Gegen meine Nachbarn, gegen meine Verwandten, meine Freunde?“ Man schließe sich durch eine Klage aus von der Gruppe, müsse rechnen mit unvorhersehbarer Vergeltung in einem dichten Netzwerk – man könne ja nicht wegziehen! Aus chinesischer Sicht wurde mir vermittelt: Der europäische Vertrag sage, wann und in welchem Maß man einem Nachbarn schaden dürfe. In China sei aber entscheidend, ein „Klima“ zu schaffen und zu erhalten, ein soziales Netzwerk („guanxi“). Man müsse auf wechselseitigen Goodwill bauen (GoodwillKonten)9. Die Bevölkerungsdichte und die Undurchschaubarkeit ändern rationale Sichten. Angesichts der großen wirtschaftlichen Bedeutung Chinas10 und der wachsenden Konzentration auf Frankfurt/M. als europäischem Finanzplatz für den Renminbi werden wir uns auf diese Sichten einstellen müssen11. Sie kommen zu uns über die „Neue Seidenstraße“12.
V. Internationales Unternehmensrecht Im Internationalen Gesellschaftsrecht hatten wir in Deutschland lange Zeit eine feste geographische Verankerung: Es galt die Sitztheorie. Eine ausländische juristische Person wurde nur dann als rechtsfähig anerkannt, wenn sie nach dem Recht ihres 7 Grossfeld/Hoeltzenbein, Globalization and the Limits of Languages: Comparative Legal Semiotics, Rechtstheorie 35 (2004) 87; Großfeld, Recht als Kulturvermittlung, in: Großfeld/ Yamauchi/Ehlers/Ishikawa (Hg.), Probleme des deutschen, europäischen und japanischen Rechts, Berlin 2006, S. 71; Ruskola, Legal Orientalism: China, the United States and Modern Law, Harvard 2013; Goh/Sullivan, The 5 Biggest Challenges Businesses Face When They Expand to China, Google.com; Heuser, Grundriss der Geschichte und Modernisierung des chinesischen Rechts, Baden-Baden 2013. 8 Szto, Contract in My Soup: Chinese Contract Formation and Ritual Eating and Drunkeness, Pace Int’l L. Rev. 25 (2013) 1. 9 MacCormack, „Agreement“, „Contract“ and „Debt“ in Early Chinese Law, Comparative Legal History 2 (2014) 1; Szto (Fn. 8); Sturbeck, Der „rote Umschlag“ als Zeichen der Wertschätzung, FAZ 8. 7. 2014 Nr. 155 S. 26; Cheng Li, Bürgschaft im chinesischen und deutschen Recht, Berlin 2014, S. 65 ff. 10 Heinelt (Hg.), Modernes Regieren in China, Baden-Baden 2014. 11 Vgl. Cremer, China mit Herz, Gelnhausen 2012. 12 Großfeld, Neue Seidenstraße, Zeitschrift für Vergleichende Rechtswissenschaft 103 (2004) 395.
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Verwaltungssitzes gegründet war. Das hat sich inzwischen geändert für Unternehmen aus der Europäischen Union und aus der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Der Bundesgerichthof hat das ausgeweitet auf Unternehmen aus den USA. Ganz allgemein sieht man in der Ausdehnung der Gründungstheorie über die Europäische Union hinaus oft die Zukunft, weil es sonst zu schwierigen Abgrenzungen komme. Dahin wirkt, dass es angesichts der Internetverknüpfungen zunehmend schwerer wird, den Verwaltungssitz zu bestimmen13 : Wie prägend ist noch die geographische Zuordnung? Das OLG Frankfurt hatte sich mit einer Gesellschaft ohne Verwaltungssitz zu befassen, und gelangte prompt an das Ende der Sitztheorie. Sie werde „verdrängt“ durch die Gründungstheorie, weil die Gesellschaft nicht „rechtlos gestellt“ werden könne14.
VI. Globale Unternehmen Die Ansätze erfahren aber ihre Herausforderung durch die stetige Verdichtung der internationalen Wirtschaftsbeziehungen und durch neue globale Verbindungsysteme, namentlich durch das Internet. Damit sind wir angelangt bei den globalen Unternehmen. Deren lokale Anknüpfung an einzelne Staaten wird der modernen Wirtschaft oft nicht gerecht. Dort wachsen grenzüberschreitende Vernetzungen und Lenkungsmechanismen; es geht um die Ordnung und um die Kontrolle in einer globalen Umwelt mit unterschiedlichen Kultureinflüssen. So wächst eine transnationale Wirtschaftsverfassung privater Macht heran. Zugleich entsteht ein Rechtsbewusstsein globaler Normen15: Die Verknüpfung der Produktion über das Internet („Industrie 4.0“) wird nur über international gültige Regeln erfolgen16. Wie weit reicht angesichts dessen unsere Zeichenmacht? Ist auf sie Verlass?
VII. Globale Rechnungslegung17 Die Globalität erweist sich besonders an der Rechnungslegung. In den Mittelpunkt rücken die „International Financial Reporting Standards“ (IFRS): sie zielen auf eine Weltsprache der Rechnungslegung. Wieweit sich die damit verbundenen Hoffnungen verwirklichen, bleibt abzuwarten. Stets müssen wir rechnen mit unterschiedlichen (oft unterbewussten) Orts- und Zeitsichten. Ort und Zeit aber entschei13
Großfeld, Rechtsinformatik, in: FS Elsing, Frankfurt/M. 2015, S. 937. OLG Frankfurt, Recht der Internationalen Wirtschaft 1999, 783, 784. 15 Varella, Internationalization of Law. Globalization. International Law and Complexity, Berlin 2014, S. V 6. 16 Giersberg, Die erste volldigitalisierte Fabrik gibt es in fünf Jahren, Frankfurter Allgemeine Zeitung. 9. 11. 2015 Nr. 260 S. 18. 17 Grossfeld, Global Accounting: A Challenge for Lawyers, in: Liber Amicorum Roberto MacLean, London 2007, S. 14. 14
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den im Recht über „Kopf und Kragen“ (Josef Kohler). Zu beachten ist auch der USamerikanische Einfluss. Die Bilanzstandards selbst sind Machtfaktor: „Wer die Spielregeln bestimmt, kontrolliert im Grunde das Spiel“18.
Trotz mancher Kritik werden die International Financial Reporting Standards unter dem Druck der Globalisierung im Ganzen oft eher positiv beurteilt.
VIII. Internationales Bilanzrecht Angesichts des globalen Umfeldes fragt sich, ob wir noch ein nationales Kollisionsrecht für das Bilanzrecht gebrauchen. Das ist eine offene Frage19. Der Verfasser erörtert hier nur, welches Recht die Prüfer bestimmt und deren Qualifikation. Das betrifft auch den Wettbewerb der Wirtschaftsprüfer: Sie kontrollieren zunehmend weit mehr als nur Zahlen; sie sind Wachstumsbegleiter, vermitteln Steuerungsimpulse. Aus welchem kulturellen Hintergrund? Wer entscheidet über ihre Zuständigkeit und ihre Zulassung? Kann ein Wirtschaftsprüfer aus den USA den true and fair view in Japan bestätigen? Die Frage beschäftigt uns gerade in der Europäischen Union: Wie ist es bei einer englischen Limited Partnership, die ihren Verwaltungssitz in Deutschland hat? Muss ein englischer oder deutscher Wirtschaftsprüfer sie prüfen? Kann ein englischer „Fachmann“ bestätigen, dass ihre Rechnungslegung in Deutschland „ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage der Kapitalgesellschaft“ vermittelt. Wie verhält sich das zu dem true and fair view, zum dem europäisch-bilanzrechtlichen „Wahrheitsgrundsatz“20 ? Wie ist es, wenn das Gebot der Freizügigkeit erweitert wird auf japanische oder chinesische Gesellschaften? Welche Rolle spielen da kulturelle Unterschiede?21 Es eröffnet sich ein weites Begegnungsfeld zwischen Juristen und Wirtschaftswissenschaftlern; es wächst ständig.
IX. Neue Herausforderungen „There is nothing like a dream to create the future“22.
18 Luttermann, Die Rechtsordnung der Rechnungslegung: Unternehmensfinanzierung, Ergebnisteilhabe und Haftung, in: Ebke/Luttermann/Siegel (Hg.), Internationale Rechnungslegungsstandards für börsenunabhängige Unternehmen?, Baden-Baden 2007, S. 47, 63. 19 Großfeld, Internationales Bilanzrecht, Paderborn 2011. 20 Europäischer Gerichtshof, C-234/94 Tomberg, Sammlung 1996 I 3133 Rn. 17. 21 Schindhelm, Accounting and Auditing in China. A System in Transition, Masterarbeit bei Prof. L. Schruff, Georg-August-Universität Göttingen 2008, S. 18; Lin/Yang/Wang, Accounting and Auditing in China, Farnham 1988. 22 Littauer, Dare to Dream, Dallas/London 1994, S. 567.
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Die globalen Unternehmen bringen uns einen neuen Aspekt des Themas „Geographie und Recht“. Sie stellen uns vor große Herausforderungen. Sie gehen oft hinaus über das dem Juristen Vertraute. Aber dem Leben verpflichtete Juristen sind nicht so eng, wie ihnen oft vorgehalten wird. Jurisprudenz ist nicht allein Normenlehre, sondern immer Lehre von der wertgebunden-zweckmäßigen Organisation des Zusammenlebens. Wir werden unsere geographischen Sichten bündeln müssen: Statt „global“ und „lokal“ zu „glokal“23.
X. Schluss Doch stoßen wir an Grenzen unserer Bemühungen. Sie ergeben sich aus kulturellen und zivilisatorischen Unterschieden, die wir überbrücken müssen: „We cannot pinpoint [gobal] reality through [local] words“24. Globale Unternehmen bleiben eine Herausforderung; die Digitalsierung ändert unsere Rechtssicht: Wie entgehen wir der „schleichenden25 Digitalsierung des Ich“?26 Wie „verorten“ wir globale Zeichenmacht?27 Was bleibt vom „bildhaften Rechtsdenken“?28 Die Geographie bleibt nach wie vor wichtig.29 Als Professoren müssen wir die Antwort darauf der jungen Generation nahebringen30. Unseren Studenten müssen wir Zuversicht vermitteln in ihre Fähigkeiten – sie sind unsere Zukunft!31
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Großfeld, Grundfragen der Rechtsvergleichung, in: FS Lukes, Köln 1998, S. 657. Grossfeld, Changing Concepts of Rules: Global Corporate Assessment, Law and Business Revue of the Americas 8 (2002) 341, 369. 25 Grossfeld, Loss of Distance: Global Corporate Actors and Global Corporate Governance – Internet v. Geography, The International Lawyer 34 (2000) 963. 26 Gelernter, Die schleichende Digitalisierung des Ich, Rotary Magazin 9/2015, S. 49. 27 Vgl. Grossfeld (Fn. 3). 28 Großfeld, Bildhaftes Rechtsdenken, Opladen 1995. 29 Aggarwal/Goodell, Governance transparency among the largest multinational corporations: influence of firm, industry and national factors, Transnational Corporations 22 (2015) 1. 30 Großfeld, Europäisches Erbe als europäische Zukunft, in: Meier-Schatz (Hg.), Die Zukunft des Rechts, Basel 1999, S. 9. 31 Großfeld, Unsere Aufgabe, in: Ebke/Kirchhof/Mincke (Hg.), Sprache und Recht – Recht und Sprache, Tübingen 2009, S. 53. 24
Interkultureller Austausch von Archivgut Überlegungen zum datenschutzrechtlichen Verhältnis zwischen EU-Mitgliedsstaaten und den USA am Beispiel der öffentlichen Archive in NRW und US-amerikanischen Museen unter dem ArchivG NRW Von Thomas Hoeren und Julia Dreyer
I. Einleitung Herr Kollege Koresuke Yamauchi von der Chu¯o¯-Universität in Tokyo ist einer der führenden Brückenbauer zum deutschen Recht. Während seiner vielzähligen Forschungsaufenthalte an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster1 hat er seine besondere Verbindung zu dieser Stadt ausgebaut. So wurde ihm 2012 die Ehrendoktorwürde der hiesigen Fakultät der Rechtswissenschaften aufgrund seiner Vermittlung deutschen Rechts in Japan und des seit über 25 Jahren bestehenden Austausches beider Fakultäten verliehen.2 Außerdem hat er bereits 2007 im Rahmen seines von der Humboldt-Stiftung preisgekrönten Forschungsaufenthalts den deutschen und europäischen Einfluss auf das internationale Unternehmensrecht und die Konkurrenz mit US-amerikanischen Rechtsansätzen untersucht.3 Es ist den Verfassern daher eine besondere Ehre und Freude, anlässlich seines Eintritts in den Ruhestand eine kleine Studie zu seinen Ehren vorstellen zu dürfen, die sich mit den kulturellen Unterschieden zwischen dem europäischen und US-amerikanischen Recht beschäftigt. „So viel Forschungsfreiheit wie möglich, so viel Persönlichkeitsschutz wie nötig.“4
1 Eine Übersicht findet sich in Menkhaus/Sato (Hg.), Japanischer Brückenbauer zum deutschen Rechtskreis, Festschrift für Koresuke Yamauchi zum 60. Geburtstag, Berlin 2006, S. 358 f. 2 Siehe http://www.uni-muenster.de/news/view.php?rubrik=Alle&neu=0&monat=201211 &cmdid=3931 (zuletzt abgerufen am 15. Juni 2016). 3 Siehe https://www.humboldt-foundation.de/web/6200.html (zuletzt abgerufen am 15. Juni 2016). 4 Oldenhage, Archivrecht? Überlegungen zu den rechtlichen Grundlagen des Archivwesens in der BRD, in: Boberach/Booms (Hg.), Aus der Arbeit des Bundesarchivs, Beiträge zum Archivwesen, zur Quellenkunde und Zeitgeschichte, Koblenz 1977, S. 187, 200.
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Vorstehendes Zitat fasst eine Debatte im Spannungsfeld zwischen der Freiheit der Wissenschaft einerseits und der informationellen Selbstbestimmung andererseits zusammen. Oft wird kritisiert, dass erstere nicht vollends im Interesse der Öffentlichkeit ausgeschöpft werden könne, sofern die Gesetze zum Datenschutz den ungehinderten Zugang zu Informationen aus Archiven versperren und deren vollumfassende Nutzung oder Weitergabe verhindern.5 Sinn und Zweck der Archive sei gerade die Beschaffung von Informationen und nicht die Unterverschlusshaltung selbiger.6 Einem liberalen Umgang mit Archivgut aus dem Zweiten Weltkrieg stehen oft die Persönlichkeitsrechte der Opfer des Nationalsozialismus entgegen. Ausgangspunkt dieser Studie ist die Frage, inwieweit Reproduktionen der Bestände aus deutschen Landesarchiven in öffentlicher Trägerschaft an Museen und Gedenkstätten in den Vereinigten Staaten von Amerika (USA) weitergegeben werden dürfen. Diese Frage ist seit Jahren – auch aufgrund der Wichtigkeit des interkulturellen Austausches und der Aufarbeitung gemeinsamer Geschichte – Gegenstand heftiger Kontroversen zwischen deutschen und US-amerikanischen Behörden. Das Land Nordrhein-Westfalen (NRW) hatte 2004 eine Vereinbarung mit der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem erreicht, in deren Rahmen Kopien von Mikrofilmen zum Schicksal verfolgter Personen während des NS-Regimes übergeben wurden.7 Ähnliche Vereinbarungen wurden 2012 von der Fondazione Museo della Shoa in Rom und der Mauthausen-Gedenkstätte in Wien geschlossen.8 Diese Verträge waren datenschutzrechtlich unproblematisch, da es sich entweder um EU-Mitgliedsstaaten oder im Fall Israels um einen Staat handelt, dessen Datenschutzrecht europäischen Standards entspricht.9 Auch Museen und Gedenkstätten in den USA bemü5 So z. B. Oldenhage, Archivrecht in der Informationsgesellschaft, Europäische und deutsche Perspektiven, in: LWL-Archivamt für Westfalen (Hg.), Archivpflege in Westfalen-Lippe, Heft 66, 2007, S. 11, 13. 6 Wiech, Ein Jahr danach und drei Jahre davor, Die Novellierung des Archivgesetzes NRW, S. 85 f., in: Schmitt (Hg.), Alles was Recht ist, Archivische Fragen – juristische Antworten, Fulda 2012, S. 85 – 94. 7 Dieses Vorhaben war Anlass für den Landesgesetzgeber zur Schaffung des § 7 Abs. 7 ArchivG NRW als Ermächtigungsgrundlage; 17. Datenschutz- und Informationsfreiheitsbericht der Landesbeauftragten für Datenschutz und Informationsfreiheit NRW, S. 133 f., abrufbar unter: https://www.ldi.nrw.de/mainmenu_Service/submenu_Berichte/Inhalt/17_DIB/17 __Datenschutz-_und_Informationsfreiheitsbericht.pdf (zuletzt abgerufen am 15. Juni 2016); siehe hierzu Schäfer, Sackgasse, Zur Übermittlung personenbezogener Daten aus Archivgut vor Ablauf der Schutz- und Sperrfristen, in: Kretzschmar (Hg.), Archive und Forschung, Siegburg 2003, S. 181, 189 f.; Wiech (Fn. 6) S. 85 – 94; als Beispiel zum innerdeutschen Umgang mit Archivgut aus der NS-Zeit siehe auch Metz, Das Schicksal der während der NSZeit beschlagnahmten Unterlagen katholischer Arbeitervereine im Bistum Münster, Ein Beispiel gelungener archivischer Kooperation, in: LWL-Archivamt für Westfalen (Hg.), Archivpflege in Westfalen-Lippe, Heft 70, 2009, S. 46 – 50. 8 Zur innerdeutschen Weitergabe von Archivgut an die Hadamar Gedenkstätte in Hessen vgl. auch Lilienthal, Die Doppelfunktion von Gedenkstätten als Archive und als Archivbenutzer, in: Schmitt (Fn. 6) S. 211 – 228. 9 Art. 1 Abs. 1 Beschluss der Europäischen Kommission vom 31. Januar 2011 gemäß der Richtlinie 95/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über die Angemessenheit des
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hen sich seit Jahren um die Überlassung von Reproduktionen der Bestände aus deutschen Archiven zur NS-Zeit und versuchen, dazu Verträge mit den großen Archiven in Deutschland abzuschließen. In einigen Fällen kam es in der Vergangenheit bereits zu einer Weitergabe an Stellen in den USA.10 Da es sich bei diesen um US-amerikanische Einrichtungen handelt, bereiten die datenschutzrechtlichen Anforderungen hier größere Hindernisse als bei einem Austausch von Archivgut mit Einrichtungen in Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (EU) oder Israel. Im Lichte der neuesten Entwicklungen um das Safe Harbor-Abkommen und um die EU-Datenschutzgrundverordnung verdient dieser Aspekt besondere Beachtung.
II. Die Datenschutzgrundverordnung Die USA gewährleisten kein mit europäischen Standards vergleichbares Datenschutzrechtniveau, weshalb der personenbezogene Datenaustausch bisher auf das sog. Safe Harbor-Abkommen gestützt wurde.11 Hierbei handelte es sich um ein Abkommen zwischen den USA und der EU gemäß Art. 25 Abs. 6 der Europäischen Datenschutzrichtlinie.12 Art. 25 Abs. 6 der Richtlinie bestimmt, dass ein Drittland, welches die europäischen Datenschutzstandards nach dortiger Rechtslage nicht gewährleistet, diese doch erfüllt, wenn sich ebenjenes Drittland internationalen Verpflichtungen zur Einhaltung eines angemessenen Schutzniveaus unterwirft. Auf dieser Grundlage stellte die EU-Kommission fest, dass datenverarbeitende Unternehmen und Organisationen in den USA dem europäischen Datenschutzniveau entsprechen, wenn sich diese zur Einhaltung der datenschutzrechtlichen Prinzipien verpflichteten. Bis zum Jahr 2015 war dies gängige Praxis und die Datenübertragung und -verarbeitung mit Bezug in die USA wurden hierauf gestützt. Das Safe Harbor-Abkommen Datenschutzniveaus im Staat Israel im Hinblick auf die automatisierte Verarbeitung personenbezogener Daten, K (2011) 223 (2011/61/EU); veröffentlicht im Amtsblatt der Europäischen Union 2011, L 27/39 – 42, abrufbar unter: http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUri Serv.do?uri=OJ:L:2011:027:0039:0042:DE:PDF (zuletzt besucht am 15. Juni 2016). 10 Oldenhage (Fn. 5) S. 12 mit Verweis auf Annex H zum Agreement concerning Holocaust Era Insurance Claims vom 16. Oktober 2002, abrufbar unter: www.icheic.org/pdf/agree ment-GFA.pdf (zuletzt abgerufen am 15. Juni 2015). 11 Safe-Harbor Entscheidung der Kommission (2000/520/EG) vom 26. Juli 2000 gemäß der Richtlinie 95/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über die Angemessenheit des von den Grundsätzen des „sicheren Hafens“ und der diesbezüglichen „häufig gestellten Fragen“ (FAQ) gewährleisteten Schutzes, vorgelegt vom Handelsministerium der USA (Bekannt gegeben unter Aktenzeichen K(2000) 2441), veröffentlicht im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften, vom 25. August 2000, L215, 43. Jahrgang, S. 7 – 47, abrufbar unter: http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=OJ:L:2000:215:TOC (zuletzt abgerufen am 15. Juni 2016); für weitere Informationen siehe auch https://www.bfdi.bund.de/DE/Euro pa_International/International/Artikel/SafeHarbor.html (zuletzt abgerufen am 15. Juni 2016). 12 Richtlinie 95/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. Oktober 1995 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr, abrufbar unter: http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri= celex%3A31995L0046 (zuletzt abgerufen am 15. Juni 2016).
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wurde allerdings durch das Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 6. Oktober 2015 aufgehoben.13 Ob Datenübermittlungen weiterhin auf EU-Standardvertragsklauseln gestützt werden können, ließ der EuGH bisher offen.14 Es ist jedoch wahrscheinlich, dass der EuGH auch deren Verwendung als Grundlage zur Datenübermittlung in die USA für unzulässig erklärt. Im Dezember 2015 einigten sich die Verhandlungsführer des EU-Parlaments und des Rates auf eine gemeinsame Textfassung einer EU-Datenschutzgrundverordnung (DSGVO)15, welche im Mai 2016 in Kraft getreten ist, allerdings gemäß Art. 99 Abs. 2 DSGVO erst im Mai 2018 Geltung erlangt. Das sog. EU-US-Privacy-Shield (im Folgenden: Privacy Shield) wurde im Februar 2016 durch die EU-Kommission vorgestellt.16 Die als Verordnung vor dem jeweiligen nationalen Recht eines Mitgliedsstaates Anwendungsvorrang genießende DSGVO soll das Datenschutzrecht in den EU-Mitgliedsstaaten vereinheitlichen und auf ein gemeinsames Schutzniveau führen.17 1. Übermittlung von Archivgut in die USA unter der Geltung der DSGVO Zu beachten ist zunächst, dass die DSGVO nicht für personenbezogene Daten Verstorbener gilt.18 Hierdurch könnte den Zweiten Weltkrieg betreffendes Archivmaterial schon teilweise deswegen aus dem Anwendungsbereich fallen, weil die Betroffenen nicht mehr leben. Es kann jedoch – auch über 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs – nicht ausgeschlossen werden, dass auch die Daten lebender Personen weiterhin betroffen sind. Folglich müsste eine Weitergabe solchen Archivguts, das personenbezogene Daten enthält, unter den Bestimmungen der DSGVO rechtmäßig sein.
13 EuGH, Urt. v. 6. Oktober 2015 – C-362/14, EuZW 2015, 881 – 888 = NJW 2015, 3151 – 3158. 14 Die Standardvertragsklauseln sind einsehbar unter http://ec.europa.eu/justice/data-protec tion/international-transfers/transfer/index_en.htm (zuletzt abgerufen am 15. Juni 2016). 15 Diesem Beitrag zugrunde gelegt wurde die Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG, abrufbar unter: http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/HTML/?uri= CELEX:32016R0679&from=DE (zuletzt abgerufen am 15. Juni 2016). 16 Vgl. hierzu auch Weichert, EU-US-Privacy-Shield, Ist der transatlantische Datentransfer nun grundrechtskonform?, ZD 2016, 209 – 217 mit Verweis auf http://europa.eu/rapid/press-re lease_IP-16-433_de.htm (zuletzt abgerufen am 15. Juni 2016). 17 Erwägungsgrund 10 der DSGVO. 18 Siehe hierzu auch die Erwägungsgründe 27 und 158 der DSGVO.
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a) Rechtmäßigkeit der Datenübertragung in Drittländer gemäß Art. 44 – 46 DSGVO Gemäß Art. 6 Abs. 1 lit. c) und lit. e) DSGVO ist eine Datenverarbeitung zulässig, wenn diese für die Datenverarbeitung u. a. auf der Grundlage einer rechtlichen Verpflichtung oder in Wahrnehmung öffentlicher Interessen erforderlich ist. Letzteres gilt über die Art. 44 ff. DSGVO auch für die Übermittlung in Drittstaaten, an welche die DSGVO strengere Anforderungen als an eine EU-interne Übermittlung stellt. So muss zum einen gemäß Art. 44 S. 1 DSGVO auch bei einer Datenübertragung und -verarbeitung in Drittländer die Einhaltung der Bestimmungen der Verordnung gewährleistet sein. Zum anderen ist außerhalb der privilegierten Fälle des Art. 49 DSGVO das Vorliegen eines Angemessenheitsbeschlusses der Kommission gemäß Art. 45 DSGVO hinsichtlich des Datenschutzniveaus im Drittland oder die Gewährleistung geeigneter Garantien und durchsetzbarer Rechte sowie wirksamer Rechtsbehelfe gemäß Art. 46 DSGVO Voraussetzung für eine rechtmäßige Übermittlung von Daten. Da die USA zurzeit kein Land sind, für dessen Datenschutzniveau ein Angemessenheitsbeschluss der Kommission vorliegt,19 kann die Rechtmäßigkeit einer Datenverarbeitung nur über das Bestehen geeigneter Garantien i.S.d. Art. 46 DSGVO erreicht werden. Neben einer Reihe formeller Verfahren kann eine solche Garantie auch in einem rechtlich bindenden und durchsetzbaren Dokument zwischen den Behörden oder öffentlichen Stellen und der EU abgegeben werden (Art. 46 Abs. 2 lit. a), Abs. 3 lit. a) DSGVO). Die Landesarchive müssten also vor der Weitergabe von Daten an die Museen und Gedenkstätten in den USA abwarten, ob letztere ein entsprechendes Abkommen abschließen, in dem sich diese den europäischen Datenschutzregeln rechtlich bindend und durchsetzbar unterwerfen. Außerdem müsste dieses vor der DSGVO und den Grundrechten, wie sie in der EU-Grundrechtecharta niedergelegt sind, Bestand haben. Dies hat der EuGH hinsichtlich des SafeHarbor Abkommens verneint.20 Hier wie bei internen Abreden zwischen den Archiven und den Museen besteht die Gefahr, dass es sich bei einer solchen Abrede aufgrund der im US-amerikanischen Recht verankerten umfassenden Eingriffsrechte der US-amerikanischen Behörden um ein stumpfes Schwert handelt und der versprochene Standard weder eingehalten noch durchgesetzt wird.21 In diesen Fällen fehlt es an der von Art. 46 Abs. 1 DSGVO geforderten Geeignetheit und Wirksamkeit etwaiger Garantien, sodass die zuständige Aufsichtsbehörde solche Abreden kaum geneh-
19 Der Angemessenheitsbeschluss der EU-Kommission ist Teil des Privacy-Shield und befindet sich abhängig von Zusagen verschiedener US-Regierungsstellen im Entwurf, Entwurf der Commission implementing decision persuant adequacy of the protection provided by the EU-U.S. Privacy Shield, abrufbar unter: http://ec.europa.eu/justice/data-protection/files/priva cy-shield-adequacy-decision_en.pdf (zuletzt abgerufen 15. Juni 2016). 20 EuGH, Urt. v. 6. Oktober 2015 – C-362/14, Rz. 94, NJW 2015, 3151 – 3158, 3157. 21 Vgl. hierzu Kühling/Heberlein, EuGH „reloaded“: „unsafe harbor“ USA vs. „Datenfestung“ EU, NVwZ 2016, 7, 10; Borges, Datentransfer in die USA nach Safe Harbor, NJW 2015, 3617, 3620.
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migen wird. Ohne diese Genehmigung besteht keine Rechtsgrundlage für einen Datentransfer in die USA. b) Ausnahmen nach Art. 49 DSGVO Auch greift für den vorliegenden Fall der Übermittlung von reproduziertem Archivgut keine Ausnahme des Art. 49 DSGVO. Dieser ermöglicht eine Datenübermittlung in Drittstaaten auch ohne die Erfüllung der Voraussetzungen der Art. 45, 46 DSGVO, wenn in eine solche eingewilligt wurde (Art. 49 Abs. 1 lit. a) DSGVO) oder diese aus wichtigen Gründen des öffentlichen Interesses (Art. 49 Abs. 1 lit. d) DSGVO) oder zur Erfüllung (vor-)vertraglicher Pflichten (Art. 49 Abs. 1 lit. b), lit. c) DSGVO) notwendig ist. aa) Einwilligung gemäß Art. 49 Abs. 1 lit. a) DSGVO Die Einwilligung in die Datenübermittlung personenbezogener Daten in Drittländer ohne angemessenes Schutzniveau setzt nach Art. 49 Abs. 1 lit. a) DSGVO eine umfassende Belehrung über die Risiken voraus. Dies ist bei Archivgut aus dem Zweiten Weltkrieg aufgrund der unzählbaren Opfer des NS-Regimes nicht praktikabel und selbigen angesichts der schweren Schicksalsschläge auch nicht zumutbar. bb) Wichtige Gründe des öffentlichen Interesses gemäß Art. 49 Abs. 1 lit. d) DSGVO Die Datenübermittlung kann auch aus wichtigen Gründen des öffentlichen Interesses gemäß Art. 49 Abs. 1 lit. d) DSGVO notwendig sein, wenn die Gründe zur Datenübermittlung über die Erfüllung bloßer Individualinteressen im Einzelfall hinausgehen. Dies ist im Archivrecht zu bejahen, wenn „ein historischer Vorgang von besonderer Bedeutung oder exemplarischer Bedeutung für die Erforschung der Geschichte oder für das Verständnis der Gegenwart“ vorliegt.22 Zwar kann ein grundsätzliches öffentliches Interesse an der Pflege und Erweiterung von Archiven und Museen zur Wissenschaft und Forschung angenommen werden. Die Unterhaltung von Gedenkstätten liegt ebenso im öffentlichen Interesse.23 Das öffentliche Interesse an der Datenübertragung ist allerdings vor europäischem Hintergrund zu sehen und besteht zu besagten Zwecken lediglich, wenn sich die empfangenden Stel22 Vgl. zum Begriff des „öffentlichen Interesses“ im nationalen Recht z. B. § 9 Abs. 5 ArchivG Berlin; Klein, Die Benutzung von eingeschränkt zugänglichen Archivalien – Archivgesetzliche Bestimmungen und praktische Anwendung, in: LWL-Archivamt für Westfalen (Hg.), Archivpflege in Westfalen-Lippe, Heft 58, 2003, S. 24; Manegold, Archivrecht? Archivrecht! Zu den verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen öffentlicher Archive in Deutschland, in: Schmitt (Fn. 6) S. 31, 46. 23 Vgl. zum öffentlichen Interesse im Sinne der deutschen Archivgesetze Lilienthal (Fn. 8) S. 227.
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len innerhalb der EU befinden oder den datenschutzrechtlichen Vorschriften des Unionsrechts entsprechen. Auch vor dem Hintergrund des Art. 8 der EU-Grundrechtecharta ist eine restriktive Auslegung geboten. Die Unterhaltung von archivarischen Beständen der Museen in Ländern wie den USA, welche kein angemessenes Datenschutzniveau bieten, kann nicht vom europäischen öffentlichen Interesse umfasst sein. cc) Erfüllung (vor-)vertraglicher Pflichten gemäß Art. 49 Abs. 1 lit. b), lit c) DSGVO Des Weiteren sieht Art. 49 Abs. 1 DSGVO Ausnahmen für Fälle vor, in denen die Datenübermittlung zur Erfüllung (vor-)vertraglicher Maßnahmen oder Pflichten aus geschlossenen Verträgen erforderlich ist (Art. 49 Abs. 1 lit. b) und lit. c) DSGVO). Diese betreffen jedoch nicht die Verträge, welche die Landesarchive mit Stellen in den USA schließen. Die Ausnahmen umfassen ihrem Wortlaut nach lediglich Verträge, bei denen der Betroffene, also der durch die personenbezogenen Daten Identifizierbare, selbst Vertragspartner ist. 2. Öffnungsklausel für Archivzwecke und wissenschaftliche oder historische Forschungszwecke, Art. 89 DSGVO Allerdings enthalten die Art. 85 – 91 DSGVO sog. Öffnungsklauseln für besondere Situationen der Datenverarbeitung, welche es den Mitgliedsstaaten in einigen Bereichen erlauben, von der Verordnung abweichende Regelungen zu treffen (Art. 6 Abs. 2 i.V.m. Art. 85 – 91 DSGVO). Diese Situationen können abweichende oder speziellere Regelungen aufgrund besonderer Interessenlagen, beispielsweise auf dem Gebiet der Betriebsstätten (Art. 88 DSGVO) oder aufgrund besonders hochrangiger Schutzgüter, wie der Wissenschaft und der Meinungs- und Informationsfreiheit (Art. 85 DSGVO), rechtfertigen. Eine solche Öffnungsklausel ist in Art. 89 DSGVO für die Verarbeitung zu im öffentlichen Interesse liegenden Archivzwecken, zu wissenschaftlichen oder historischen Forschungszwecken und zu statistischen Zwecken vorgesehen. Schon aus den Erwägungsgründen zur DSGVO ergibt sich die besondere Bedeutung, welche die Verordnung den Archiven und der Forschung beimisst.24 So soll die Weiterverarbeitung für im öffentlichen Interesse liegende Archivzwecke als mit der Verordnung vereinbarer und rechtmäßiger Verarbeitungsvorgang gelten.25 Art. 9 Abs. 2 lit. j) DSGVO nimmt die Datenverarbeitung zu Archiv- und Forschungszwecken i.S.d. Art. 89 DSGVO sogar aus dem Verbot der Verarbeitung von besonderen Kategorien personenbezogener Daten nach Art. 9 Abs. 1 DSGVO heraus. Auch sind Behörden und öffentliche Stellen (d. h. somit auch die Landesarchive) verpflichtet, 24 Vgl. nur Erwägungsgründe 50, 52, 53, 65, 73, 156, 158, 159 zur DSGVO; konkretisiert u. a. in Art. 5, 9, 17, 89 DSGVO. 25 Art. 5 Abs. 1 lit. b) DSGVO, Erwägungsgrund 50 der DSGVO.
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Aufzeichnungen, die von bleibendem Wert für das öffentliche Interesse sind, nicht nur zu erhalten, sondern auch zu verbreiten. Dies betrifft insbesondere die Weiterverarbeitung personenbezogener Daten aus Archivmaterial, das im Zusammenhang mit dem politischen Verhalten unter ehemaligen totalitären Regimen, Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowie Kriegsverbrechen, insbesondere dem Holocaust, steht.26 Hiervon ist das Archivgut der Landesarchive zum Zweiten Weltkrieg zwar umfasst, allerdings kann hieraus nicht auf die Rechtmäßigkeit einer Weitergabe von Reproduktionen in die USA geschlossen werden, da die Öffnungsklauseln jeweils lediglich die Möglichkeit nationaler Ausnahmen eröffnen, welche nicht über die Grenzen der Mitgliedsstaaten hinaus Wirkung entfalten können. Über die Öffnungsklauseln kann jedenfalls nicht das Erfordernis des angemessenen Datenschutzniveaus oder diesbezüglich geeigneter Garantien der Art. 44 ff. DSGVO übergangen werden. Die Öffnungsklausel des Art. 89 Abs. 2 DSGVO ermöglicht bei der Datenverarbeitung zu wissenschaftlichen oder historischen Forschungszwecken lediglich ein Abweichen des Rechts der Mitgliedsstaaten von den Art. 15, 16, 18 und 21 DSGVO. Bei der Datenverarbeitung zu Archivzwecken wird in Art. 89 Abs. 3 DSGVO ein Abweichen von den Art. 15, 16, 18, 19, 20 und 21 DSGVO vorgesehen. Diese Vorschriften enthalten u. a. Auskunfts-, Berichtigungs-, Einschränkungs- und Widerspruchsrechte der Betroffenen sowie Mitteilungspflichten der datenverarbeitenden Stellen. Demzufolge enthält Art. 89 DSGVO keine Öffnungsklausel hinsichtlich der Abweichung von den durch die DSGVO statuierten Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen der Datenverarbeitung und -übermittlungen zu Archiv- oder Forschungszwecken an sich.27 Dass diese aufgrund der DSGVO zulässig sein muss und durch nationales Recht lediglich ergänzt werden kann, setzt Art. 89 Abs. 1 DSGVO schon seinem Wortlaut nach voraus („[…] gemäß dieser Verordnung“). Sowohl Art. 89 Abs. 2 DSGVO als auch Art. 89 Abs. 3 DSGVO stehen ferner unter der Voraussetzung der Einhaltung der Bedingungen und Garantien des Art. 89 Abs. 1 DSGVO. Dieser sieht vor, dass sichergestellt wird, dass technische und organisatorische Maßnahmen zur Sicherung der Rechte der Betroffenen und insbesondere der Achtung des Grundsatzes der Datenminimierung bestehen. Hierzu zählt beispielsweise die Pseudonymisierung personenbezogener Daten.28 Diese Pflichten treffen Verantwortliche bereits bei einer Datenverarbeitung und -weitergabe innerhalb der EU, sodass sich diese erst Recht auch auf Verantwortliche beziehen müssen, welche die Weitergabe in ein Drittland ohne angemessenes Schutzniveau beabsichtigen. Die Durchsetzbarkeit 26 Erwägungsgrund 158 der DSGVO; zur Auslegungspraxis des in den Archivgesetzen anderer Bundesländer vorkommenden Begriffs des „öffentlichen Interesses“ siehe Klein, Die Benutzung von eingeschränkt zugänglichen Archivalien – Archivgesetzliche Bestimmungen und praktische Anwendung, in: LWL-Archivamt für Westfalen (Hg.), Archivpflege in Westfalen-Lippe, Heft 58, 2003, S. 23. 27 Vgl. auch Erwägungsgrund 156 der DSGVO. 28 Erwägungsgrund 156 der DSGVO, Art. 4 Nr. 5, Art. 89 Abs. 1 S. 3 DSGVO; § 28 Abs. 1 – 5 DSG NRW, § 3a S. 2 DSG NRW.
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einer Garantie mit dem Inhalt, dass datenverarbeitende Stellen in den USA die Achtung der Rechte der Betroffenen gewährleisten und organisatorische Maßnahmen zur Datenminimierung ergreifen, ist angesichts des derzeitigen Datenschutzniveaus in den USA schwerlich anzunehmen, sodass die laufenden Verhandlungen zu dem Entwurf des Angemessenheitsbeschlusses abzuwarten sind.
III. Das ArchivG NRW – Entstehungsgeschichte und Begriffsklärung Die DSGVO verdrängt als in den Mitgliedsstaaten unmittelbar geltende Verordnung größtenteils das bestehende Landesrecht. Sie enthält zum Umgang mit personenbezogenen Daten im Bereich der Archive allerdings bloß allgemein gefasste Aussagen zur Datenverarbeitung, sodass die aufgrund der Öffnungsklausel des Art. 89 DSGVO weiterhin anwendbaren landesrechtlichen und spezielleren Regelungen ebenfalls zu untersuchen sind.29 Im Land NRW befindet sich Archivgut aus dem Zweiten Weltkrieg, welches für US-amerikanische Museen und Gedenkstätten von Interesse ist. Problematisch ist auch hier, ob entsprechende, auf das Landesrecht NRW gestützte Vorhaben hinsichtlich der Weitergabe von Reproduktionen von Archivgut in die USA nach dem Safe Harbor-Urteil des EuGH zulässig sind. Daher soll die Rechtmäßigkeit der Überlassung von reproduziertem Archivgut aus Deutschland in die USA anhand des Beispiels des Austausches zwischen Archiven in öffentlicher Trägerschaft des Landes NRW und US-amerikanischen Stellen zur dortigen Nutzung am Landesrecht NRW gemessen werden. Den Umgang mit Archivgut in NRW regelt das Gesetz über die Sicherung und Nutzung öffentlichen Archivguts im Land Nordrhein-Westfalen (im Folgenden ArchivG NRW). Das ArchivG NRW beinhaltet bereichsspezifisches Datenschutzrecht, sodass dieses die Vorschriften des Landes- und Bundesdatenschutzgesetzes als lex specialis verdrängt. Es entstand in den Achtziger Jahren infolge des Volkszählungsurteils des BVerfG.30 Neben der Gewährleistung der Nutzung von Archivgut soll auch der in diesem Rahmen erfolgende Umgang mit personenbezogenen Daten vor dem Hintergrund des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 4 Abs. 2 Lan29 Zum Verhältnis der DSGVO und dem BDSG siehe Hoeren, Skript Internetrecht, S. 388 f. abrufbar unter: http://www.uni-muenster.de/Jura.itm/hoeren/materialien/Skript/Skript%20Inter netrecht_April_2016.pdf (zuletzt abgerufen am 15. Juni 2016). 30 BVerfG, Urt. v. 15. Dezember 1983 – I BvR 209/83, BVerfGE 65, 1 = NJW 1984, 419 – 428; Hockenbrink, Archivgesetz Nordrhein-Westfalen, Vieselbach/Erfurt 1993, Einf., S. 11 f.; Manegold (Fn. 22) S. 40; Schmitz, Das Archivgesetz Nordrhein Westfalens unter besonderer Berücksichtigung seiner Bedeutung für das kommunale Archivwesen, in: LWL-Archivamt für Westfalen (Hg.), Archivpflege in Westfalen-Lippe, Heft 30, 1989, S. 4 – 7; zur Debatte vor dem Inkrafttreten erster Archivgesetze siehe Oldenhage (Fn. 4) S. 187 – 207 und Wagner, Archive in internationalen Kulturbeziehungen, Eine kritische Betrachtung im Blick auf das Bundesarchiv, in: Boberach/Booms (Hg.), Aus der Arbeit des Bundesarchivs, Beiträge zum Archivwesen, zur Quellenkunde und Zeitgeschichte, Koblenz 1977, S. 176 – 186.
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desverfassung NRW durch das ArchivG NRW geregelt werden.31 Aufgabe des ArchivG NRW ist es, im Umgang mit Archivgut einen angemessenen Ausgleich zwischen den kollidierenden Interessen der Allgemeinheit an umfassender Forschung und Wissenschaft gemäß Art. 5 Abs. 3 GG mit den Grundrechten der Betroffenen sowie dem Datenschutz zu finden.32 Gemäß § 2 Abs. 3 ArchivG NRW umfasst der Begriff des Archivguts alle, gegebenenfalls nach Ablauf der Verwahrungs- bzw. Aufbewahrungsfristen, in das Archiv übernommenen archivwürdigen Unterlagen im Sinne des § 1 Abs. 1 und Abs. 2 ArchivG NRW. Unterlagen im Sinne des § 1 ArchivG definiert § 2 Abs. 1 ArchivG NRW. Demnach fallen unter diesen Begriff der Unterlagen insbesondere Urkunden, Amtsbücher, Akten, Schriftstücke, amtliche Publikationen, Karteien, Karten, Risse, Pläne, Plakate, Siegel, Bild-, Film- und Tondokumente und alle anderen, auch elektronischen Aufzeichnungen, unabhängig von ihrer Speicherungsform, sowie sämtliche Hilfsmittel und ergänzenden Daten, die für die Erhaltung, das Verständnis dieser Informationen und deren Nutzung notwendig sind. Umfasst sind insbesondere für Museen und die Forschung interessante Dokumente und Aufzeichnungen unabhängig von der Art des Informationsträgers.33 Archivwürdig sind Unterlagen gemäß § 2 Abs. 6 ArchivG NRW, wenn ihnen ein bleibender Wert für Wissenschaft und Forschung, historisch-politische Bildung, Gesetzgebung, Rechtsprechung, Institutionen oder Dritte zukommt.
IV. Rechtmäßigkeit der Weitergabe von reproduziertem Archivgut in die USA unter dem ArchivG NRW Archivgut ist nach § 5 Abs. 1 ArchivG NRW grundsätzlich unveräußerlich. Gegenstand dieser Untersuchung ist allerdings nicht die Abgabe des Archivguts selbst, sondern die Nutzung und Weitergabe von reproduziertem Archivgut. Hierbei sollen 31 Amtliche Begründung zum ArchivG NRW, LT-Drs. 10/3372, S. 1, 11 f., abrufbar unter: https://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument?Id=MMD10% 2F3372j1j0 (zuletzt abgerufen am 15. Juni 2016), abgedruckt in Hockenbrink (Fn. 30) Einf., S. 13 ff.; siehe hierzu auch den 4. Tätigkeitsbericht des Landesbeauftragten für den Datenschutz NRW, S. 108 f., abrufbar unter: https://www.ldi.nrw.de/mainmenu_Service/submenu_ Berichte/Inhalt/4__TB/4__Taetigkeitsbericht.pdf (zuletzt abgerufen am 15. Juni 2016). 32 Amtliche Begründung zum ArchivG NRW, LT-Drs. 10/3372, S. 12. 33 Amtliche Begründung zum ArchivG NRW, LT-Drs. 10/3372, S. 14; ein guter Überblick über die Entstehung und die Systematik des ArchivG NRW findet sich bei Steinert, Das neue Archivgesetz des Landes Nordrhein-Westfalen, Regelungen für kommunale Archive, in: LWL-Archivamt für Westfalen (Hg.), Archivpflege in Westfalen-Lippe, Heft 73, 2010, S. 44 – 52, abrufbar unter: https://www.lwl.org/waa-download/archivpflege/heft73/44-52_steinert.pdf (zuletzt abgerufen am 15. Juni 2016); vgl. hierzu auch Wiech (Fn. 6), S. 85 – 94; zum postmortalen Persönlichkeitsrecht bei Archivmaterial siehe Manegold, Archivrecht, Die Archivierungspflicht öffentlicher Stellen und das Archivzugangsrecht des historischen Forschers im Licht der Forschungsfreiheitsverbürgung des Art. 5 Abs. 3 GG, Berlin 2002, S. 119 f.
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die Originale im Land NRW verbleiben, sodass § 5 Abs. 1 ArchivG NRW nicht einschlägig ist. Eine Nutzung des Archivguts nach § 6 ArchivG NRW durch Jedermann ist jedoch ebenso wie die Weitergabe von Reproduktionen an Museen nach § 7 Abs. 7 ArchivG NRW unter strengen Voraussetzungen zulässig. Zu differenzieren ist gemäß § 7 ArchivG NRW zwischen der Nutzung und Weitergabe vor und nach Ablauf der Schutzfrist. Nach § 7 Abs. 1 S. 1 und 2 ArchivG NRW unterliegt gesichertes Archivgut grundsätzlich einer Schutzfrist von 30 bzw. bei Bestehen besonderer Geheimhaltungsvorschriften 60 Jahren.34 Nach dem Willen des Gesetzgebers dient § 7 ArchivG NRW dem sachgerechten Ausgleich des Interesses der Allgemeinheit an der Nutzung von Archivgut und den Individualrechten Betroffener, also insbesondere deren informationellen Selbstbestimmungsrechts aus Art. 2 Abs. 1, Art. 1 Abs. 1 GG.35 Die Nutzung oder Weitergabe des vervielfältigten Archivguts an Archive, Museen und Forschungsstellen nach Ablauf der Schutzfrist ist gemäß § 7 Abs. 1 ArchivG NRW grundsätzlich zulässig. Ausnahmsweise kann unter den besonderen Voraussetzungen der Erlaubnistatbestände des § 7 Abs. 6 ArchivG NRW auch eine Nutzung oder nach § 7 Abs. 7 S. 2 ArchivG NRW die Weitergabe an Museen vor Ablauf der Schutzfristen genehmigt werden. 1. Antrag auf Überlassung Gemäß § 7 Abs. 7 S. 1 ArchivG NRW ist die Überlassung von reproduziertem Archivgut an Archive, Museen und Forschungsstellen zum Zwecke der archivarischen Nutzung und wissenschaftlichen Forschung nur auf Antrag zulässig. Dieser erfordert besondere Begründetheit. Vor Ablauf der Schutzfristen kann eine Überlassung für Archive, Museen und Forschungsstellen nur genehmigt werden, wenn diese einen besonderen Auftrag zur Dokumentation des Schicksals einer Gruppe natürlicher Personen unter nationalsozialistischer Herrschaft haben und das Vorhaben der archivarischen Nutzung und wissenschaftlichen Forschung dient (§ 7 Abs. 7 S. 2 ArchivG NRW). Das Erfordernis der „Glaubhaftmachung“ eines „berechtigten Interesses“ 34
Vgl. hierzu § 5 Abs. 3 i.V.m. § 2 Abs. 4 Bundesarchivgesetz, § 7 Abs. 1 Nr. 3 ArchivG NRW; Geheimhaltungsvorschriften i.d.S. sind u. a. § 30 AO und § 203 I Nr. 3 StGB, welcher beispielsweise bei Archivgut zu Verbrechen aus der NS-Zeit einschlägig sein kann; König, Archivgesetze und Erforschung des Nationalsozialismus, in: Polley (Hg.), Archivgesetzgebung in Deutschland, S. 227, 247; weitere Beispiele bei Manegold (Fn. 22) S. 31 – 49; Schäfer (Fn. 7) S. 186; Schröder, Persönlichkeitsschutz in deutschen Archivgesetzen – Schutzfristen und Versagungen bzw. Einschränkungen in besonderen Fällen, in: Felschow/Baumhardt (Hg.), Persönlichkeitsschutz in Archiven der Hochschulen und wissenschaftlichen Institutionen, Leipzig 2013, S. 39, 57. 35 Amtliche Begründung zum ArchivG NRW, LT-Drs. 10/3372, S. 19; zum (insbes. für Gedenkstätten maßgeblichen) postmortalen Persönlichkeitsrecht siehe Nadler, Hinweise zur Handhabung des § 7 Archivgesetz Nordrhein-Westfalen, Nutzung von Archivgut durch Dritte, in: LWL-Archivamt für Westfalen (Hg.), Archivpflege in Westfalen-Lippe, Heft 39, 1994, S. 35 – 41; Manegold (Fn. 33) S. 114, 123.
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an der Nutzung nach Ablauf der Schutzfristen, welche § 7 Abs. 1 ArchivG NRW a.F. forderte, ist hierdurch ersetzt worden.36 Der Grund der Nutzung oder des Forschungsvorhabens sind im Antrag allerdings trotzdem anzugeben, da die Archive aufgrund des Antragsinhalts nach pflichtgemäßem Ermessen über die Zulässigkeit der Nutzung oder Weitergabe vor Ablauf der Schutzfrist entscheiden. 2. Einhaltung der Schutzfristen Die Nutzung von reproduziertem Archivgut ist grundsätzlich nur nach Ablauf einer Schutzfrist gem. § 7 ArchivG NRW in besonders begründeten Fällen zulässig. Die Schutzfristen sollen Rechtssicherheit im Umgang mit Archivgut schaffen und dienen der Interessenabwägung nach pflichtgemäßem Ermessen der Archive im Einzelfall.37 Das Gesetz unterscheidet hinsichtlich der Länge der Fristen zwischen nichtpersonenbezogenem und personenbezogenem Archivgut. a) Länge der Schutzfristen Nicht-personenbezogenes Archivgut kann gemäß § 7 Abs. 1 S. 1 ArchivG NRW nach Ablauf einer Schutzfrist von 30 Jahren seit Entstehung der Unterlagen genutzt werden. Für Archivgut, welches besonderen Geheimhaltungsvorschriften unterliegt, besteht eine Schutzfrist von 60 Jahren seit Entstehung der Unterlagen (§ 7 Abs. 1 S. 2 ArchivG NRW). Bei personenbezogenem Archivgut, für welches grundsätzlich auch die Schutzfrist des § 7 Abs. 1 S. 1 ArchivG NRW gilt, ist weiter zu differenzieren. § 7 Abs. 1 S. 3 ArchivG NRW sieht bestimmte Mindestdauern für die Schutzfrist bei personenbezogenem Archivgut vor: Ist das Todesjahr der betroffenen Personen dem Landesarchiv bekannt, so endet sie gemäß § 7 Abs. 1 S. 3 Nr. 1 ArchivG NRW frühestens zehn Jahre nach dem Tod der betroffenen Person bzw. – bei mehreren Betroffenen – der letztverstorbenen Person. Ist das Todesjahr dem Landesarchiv nicht bekannt, wohl aber das Geburtsjahr der betroffenen Person/-en, endet die Schutzfrist nach § 7 Abs. 1 S. 3 Nr. 2 ArchivG NRW frühestens 100 Jahre nach der Geburt der letztgeborenen Person. Sind weder Geburts- noch Todesjahr der Betroffenen bekannt, so endet die Schutzfrist gemäß § 7 Abs. 1 S. 3 Nr. 3 ArchivG NRW frühestens 60 Jahre nach Entstehung der Unterlagen.38 36 So noch LT-Drucks. 10/3372, S. 7 f., 19; LT-Drs. 14/10028, S. 18, abrufbar unter: https:// www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument?Id=MMD14/10028 (zuletzt abgerufen am 15. Juni 2016); § 7 Abs. 1 S. 1 BremArchivG, § 12 Abs. 2 HArchivG fordern demgegenüber ausdrücklich die Glaubhaftmachung bzw. Darlegung des berechtigten Interesses; zu § 7 ArchivG NRW a.F. siehe den auch heute noch sehr lesenswerten Aufsatz von Nadler (Fn. 35) S. 35 – 41. 37 Amtliche Begründung zum ArchivG NRW, LT-Drs. 10/3372, S. 19; Klein (Fn. 22) S. 22 – 27 (zum Umgang mit der Schutzfristverkürzung in der archivalischen Praxis siehe S. 25 – 26); Manegold (Fn. 33) S. 123, 301. 38 Anschauliche Berechnungen der Schutzfristen am Beispiel zu Archivgut aus dem Zweiten Weltkrieg finden sich bei König (Fn. 34) S. 227 – 261.
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b) Archivgut mit Personenbezug Die Landesgesetzgeber der einzelnen Bundesländer haben sich für voneinander abweichende Definitionen des Begriffs des „personenbezogenen Archivguts“ entschieden. Personenbezug i.S.d. § 7 Abs. 1 S. 3 ArchivG NRW besteht bei Archivgut, wenn sich dieses nach seiner Zweckbestimmung oder nach seinem wesentlichen Inhalt auf eine oder mehrere natürliche Personen bezieht. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Namen der Betroffenen in den Dokumenten genannt werden.39 Für Archivgut, welches die Betroffenen nicht ausdrücklich namentlich benennt, ist eine weitere Differenzierung notwendig. Obwohl das ArchivG NRW bereichsspezifisches Datenschutzrecht beinhaltet, kann zur Definition des personenbezogenen Archivgutes nicht ohne weiteres der Begriff der „personenbezogenen Daten“ aus den Datenschutzgesetzen herangezogen werden, da ersterer einer weiteren Auslegung bedarf.40 Aus Archivgut zum Zweiten Weltkrieg lassen sich häufig auch Rückschlüsse auf Personen aus den sonstigen Umständen, die sich aus den Unterlagen ergeben, ziehen, ohne dass die Personen namentlich benannt werden.41 Daher bedarf die grundsätzlich weite Auslegung zum Schutze der informationellen Selbstbestimmung vor dem Hintergrund der Verhältnismäßigkeit und der Freiheit von Wissenschaft und Forschung einiger Restriktionen. Zum Teil wird daher vertreten, dass nur Archivgut, welches tatsächlich final und insgesamt natürliche Personen betrifft (wie z. B. Steuerund Personalakten), Personenbezug im Sinne des Archivrechts aufweist.42 Jedoch muss auch Archivgut, welches Einzelangaben enthält, die einen Rückschluss auf Personen zulassen, umfasst sein. Dass der Gesetzgeber den Personenbezug i.S.d. ArchivG NRW nicht auf rein formelle Kriterien beschränken wollte, ergibt sich bereits daraus, dass in diesem Falle ein anderer Wortlaut hätte gewählt werden können. Zu denken ist an die Formulierung des § 5 Abs. 2 S. 4 des Niedersächsischen Archivgesetzes (NArchG), welcher eigens zur Person des Betroffenen geführtes Archivgut betrifft. Der nordrhein-westfälsche Gesetzgeber hat den Wortlaut des ArchivG NRW bewusst offen gehalten, indem die Formulierung auch auf den „wesentlichen Inhalt“ des Archivguts abstellt, aus dem sich Personenbezug ergeben kann und welcher vor
39 LT-Drs. 14/10028, S. 18; Steinert (Fn. 33) S. 44 – 52, 50; vgl. hierzu auch Schröder (Fn. 34) S. 39 – 63 mit Verweis auf die Benutzungsordnung für das Bundesarchiv vom 11. September 1969; Wiech (Fn. 6) S. 85 – 94. 40 König (Fn. 34) S. 234 f.; Manegold (Fn. 22) S. 31 – 49. 41 Klein (Fn. 22) S. 22 – 27; König (Fn. 34) S. 234 f.; Lilienthal (Fn. 8) S. 211 – 228; Schäfer (Fn. 7) S. 192; Beispiele zu den in Archivgut aus dem Zweiten Weltkrieg befindlichen Informationen finden sich auch bei Walter, Kranken- und Gesundheitsgerichtsakte in der NSPsychiatrieforschung, Bestände, Auswahlverfahren, Auswertungsmöglichkeiten, in: LWLArchivamt für Westfalen (Hg.), Archivpflege in Westfalen-Lippe, Heft 48, 1998, S. 14 – 22. 42 König (Fn. 34) S. 237, 248; Manegold (Fn. 22) S. 31 – 49; Nadler (Fn. 35) S. 35 – 41; Polley, Die Schutzfristverkürzung, Dogmatische Bemerkungen zu einem Alltagsproblem, in: Kretzschmar (Hg.), Archive und Forschung, Siegburg 2003, S. 169, 177; vgl. hierzu auch die Darstellung bei Klein (Fn. 22) S. 23 f.
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der Weitergabe nach diesem Gesichtspunkt von den Archiven daraufhin untersucht werden muss.43 c) Die Weitergabe von reproduziertem Archivgut vor Ablauf der Schutzfrist nach § 7 Abs. 7 S. 2 ArchivG NRW Die Nutzung von Archivgut ist vor Ablauf der Schutzfrist des § 7 Abs. 1 ArchivG NRW nur dann zulässig, wenn dies auf Antrag von der zuständigen Behörde genehmigt wurde (§ 7 Abs. 6 ArchivG NRW). Für die Überlassung von reproduziertem Archivgut, welche sich nach § 7 Abs. 7 S. 2 ArchivG NRW richtet, ist nach § 7 Abs. 7 S. 4 ArchivG NRW eine Genehmigung der für das Archivwesen zuständigen obersten Landesbehörde erforderlich. Eine solche Genehmigung darf, soweit personenbezogenes Archivgut betroffen ist, nur erteilt werden, wenn die Betroffenen oder – im Falle des Todes der Betroffenen – deren Rechtsnachfolger ohne vorherigen Widerspruch des Betroffenen in die Nutzung eingewilligt haben (§ 7 Abs. 6 Nr. 1, Nr. 2 ArchivG NRW). Zulässig ist die Genehmigung in diesen Fällen außerdem, wenn die Nutzung zu benannten wissenschaftlichen Zwecken oder zur Wahrnehmung eines rechtlichen Interesses erfolgt und dabei sichergestellt wird, dass schutzwürdige Belange Betroffener nicht beeinträchtigt werden (§ 7 Abs. 6 Nr. 3 ArchivG NRW) oder die Nutzung im überwiegenden öffentlichen Interesse liegt (§ 7 Abs. 6 Nr. 4 ArchivG NRW). Für das zu untersuchende Vorhaben ist der Erlaubnistatbestand des § 7 Abs. 7 S. 2 ArchivG NRW gegenüber denen der § 7 Abs. 6 Nr. 3 und Nr. 4 ArchivG NRW allerdings vorrangig zu beachten. Dieser ist aufgrund der höheren Eingriffsintensität enger auszulegen als der des § 7 Abs. 7 S. 1 ArchivG NRW, welcher die Weitergabe nach Ablauf der Schutzfristen regelt. In den Fällen des § 7 Abs. 7 S. 2 ArchivG NRW überwiegt das Persönlichkeitsrecht der Betroffenen grundsätzlich das Interesse der Allgemeinheit an der uneingeschränkten Nutzung des Archivguts.44 Vor Ablauf der Schutzfrist ist die Weitergabe an Archive, Museen und Forschungsstellen nur zulässig, wenn diese einen besonderen Auftrag zur Dokumentation des Schicksals einer Gruppe natürlicher Personen unter nationalsozialistischer Herrschaft haben und die Vervielfältigungen des Archivguts zum Zwecke der archivarischen Nutzung und wissenschaftlichen Forschung verwendet werden. Reine Gedenkstätten in den USA, die dort oft als öffentlich zugängliche Parks oder Orte der Erinnerung angelegt sind, lassen sich nicht unmittelbar unter eine der drei benannten empfangenden Stellen subsumieren. Weder handelt es sich hierbei um reine Archive noch um Museen oder sonstige Forschungsstellen. Teilweise sind Gedenkstätten jedoch auch an Museen angegliedert und damit von § 7 Abs. 7 ArchivG umfasst. 43 Zur Prüfung durch die Archive auch Polley, Die rechtlichen Rahmenbedingungen für den Zugang zu archivischen Informationen, Das deutsche Modell, in: LWL-Archivamt für Westfalen (Hg.), Archivpflege in Westfalen-Lippe, Heft 58, 2003, S. 15 – 18; Polley (Fn. 42) S. 174 f. 44 LT-Drs. 14/10028, S. 18.
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aa) Besonderer Auftrag zur Dokumentation des Schicksals einer Gruppe natürlicher Personen unter nationalsozialistischer Herrschaft Die Voraussetzungen für einen besonderen Auftrag der Einrichtungen zur Dokumentation des Schicksals einer Gruppe natürlicher Personen unter nationalsozialistischer Herrschaft sind angesichts des sensiblen Themas und der einschneidenden Erlebnisse der Opfer der NS-Zeit vor dem Hintergrund der Menschenwürde und des informationellen Selbstbestimmungsrechts als Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 2 Abs. 1, Art. 1 Abs. 1 GG, Art. 4 Abs. 1, Abs. 2 der Landesverfassung NRW) besonders eng auszulegen. In einigen Bundesländern wird kein solch „besonderer Auftrag“ für die Weitergabe von reproduziertem Archivgut, das den Holocaust betrifft, in Drittstaaten gefordert.45 Der nordrhein-westfälische Gesetzgeber hat die Sensibilität dieses Themas erkannt und verweist ausdrücklich darauf, dass die in höchstem Maße drastischen Verfolgungsschicksale bei der Auslegung der Vorschrift zu berücksichtigen sind.46 Auch für Museen und Gedenkstätten in den USA muss daher ein solch „besonderer Auftrag“ erst nach strenger Prüfung bejaht werden können. Betroffen ist bei dem Vorhaben der Weitergabe von reproduziertem Archivgut aus dem Zweiten Weltkrieg in die USA in weiten Teilen der enge Kern des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung. Auch darf nicht außer Acht gelassen werden, dass es sich bei § 7 Abs. 7 ArchivG NRW um eine Ausnahmeregelung handelt, welche naturgemäß restriktiv auszulegen ist und nicht ausgehöhlt oder umgangen werden darf.47 Grundsätzlich kann daher ein solch „besonderer Auftrag“ nicht für jedes einfache Museum oder jede Gedenkstätte, die sich mit dem Zweiten Weltkrieg auseinander setzen, angenommen werden. Ferner geben Museen Unterlagen oft an dritte Stellen zur Forschung weiter. In diesen Fällen kann nicht sichergestellt werden, ob diese dritten Stellen einen „besonderen Auftrag zur Dokumentation des Schicksals einer Gruppe natürlicher Personen unter nationalsozialistischer Herrschaft“ im Sinne des § 7 Abs. 7 S. 2 ArchivG NRW haben. Vielmehr ist für Dritte ein erneuter Antrag gemäß ArchivG § 7 Abs. 6 oder § 7 Abs. 7 S. 1, S. 2 NRWerforderlich.48 Aufgrund des hier anzunehmenden Unmittelbarkeitsgrundsatzes, welcher den unkontrollierten und uferlosen Zugang vermeiden soll, kann eine Weitergabe von Reproduktionen an Dritte nur 45
Z. B. § 8 Abs. 2 BremArchivG ([…] Archiven, Museen und Forschungsstellen Vervielfältigungen von öffentlichem Archivgut […] zur Geschichte von Opfergruppen der nationalsozialistischen Herrschaft sowie zu deren Aufarbeitung in der Nachkriegszeit […]), § 16 Abs. 1 HArchivG ([…] Archiven, Museen und Forschungsstellen des Auslandes Vervielfältigungen von öffentlichem Archivgut zur Geschichte der Juden unter der nationalsozialistischen Herrschaft, zur nationalsozialistischen Judenverfolgung und zu deren Aufarbeitung in der Nachkriegszeit sowie zur Geschichte des Schicksals einer Gruppe natürlicher Personen unter staatlicher Gewaltherrschaft […]); siehe zu den ArchivG a.F. Schäfer (Fn. 7) S. 181 – 194. 46 LT-Drs. 14/10028, S. 19. 47 LT-Drs. 14/10028, S. 19. 48 So auch Schäfer (Fn. 7) S. 181 – 194.
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durch das verwahrende Landesarchiv genehmigt und vorgenommen werden.49 Bei einer Weitergabe in die USA ist die Einhaltung dieser Vorschrift schwerlich zu gewährleisten und zu überprüfen. bb) Zwecke der archivarischen Nutzung und wissenschaftlichen Forschung Auch in den Fällen des § 7 Abs. 7 S. 2 ArchivG NRW müssen die von § 7 Abs. 7 S. 1 ArchivG NRW geforderten Zwecke des Vorhabens zur archivarischen Nutzung und wissenschaftlichen Forschung erfüllt sein. Dies ergibt sich aus der Systematik und dem Telos der Vorschrift, da die Weitergabe von Archivgut nach Ablauf der Schutzfrist einen weniger starken Eingriff in die Rechte der Betroffenen darstellt als die Weitergabe vor Ablauf der Schutzfrist. Demzufolge bezieht S. 2 die Voraussetzungen des S. 1 insgesamt mit ein und bezieht sich nicht nur auf die Überlassung an sich („dies“). Die Anforderungen, die das ArchivG NRW schon an eine Weitergabe nach Ablauf der Schutzfrist stellt, müssen – zusätzlich zu dem von § 7 Abs. 7 S. 2 ArchivG NRW geforderten „besonderen Auftrag“ – erst Recht bei einer Weitergabe vor Ablauf der Schutzfrist vorliegen. Vor dem Hintergrund des Ausnahmecharakters des § 7 Abs. 7 ArchivG NRW und des hohen Stellenwerts des allgemeinen Persönlichkeitsrechts als betroffenem Individualrechtsgut von Verfassungsrang sind die Begriffe der „archivischen Nutzung“ und „wissenschaftlichen Forschung“, welche kumulativer Zweck des Vorhabens („und“) sein müssen, eng auszulegen. Unter „archivischer Nutzung“ kann die Erfassung und Pflege von bedeutsamen Dokumenten, Urkunden usw. in einem geordneten System verstanden werden. Zur Auslegung des Begriffs kann die Legaldefinition der Archivierung in § 2 Abs. 7 ArchivG NRW herangezogen werden: „Archivierung umfasst die Aufgaben Unterlagen zu erfassen, zu bewerten, zu übernehmen und das übernommene Archivgut sachgemäß zu verwahren, zu ergänzen, zu sichern, zu erhalten, instand zu setzen, zu erschließen, zu erforschen, für die Nutzung bereitzustellen sowie zu veröffentlichen.“. Archivarische Nutzung ist demnach die Inanspruchnahme oder das Betreiben eines solchen Angebots in einem eigenen System. Es ist davon auszugehen, dass die Museen und Gedenkstätten in den USA das überlassene Archivgut auswerten, in ihren Ausstellungen präsentieren, ihren Nutzern zur Ansicht und Forschung bereitstellen oder es jedenfalls in bereits vorhandene Bestände an Dokumenten integrieren. Die Ausstellung der Reproduktionen für die Öffentlichkeit steht dem Begriff der „archivischen Nutzung“ nicht entgegen, da die Archivierung gemäß § 2 Abs. 7 ArchivG NRW a.E. auch die Bereitstellung zur Nutzung sowie die Veröffentlichung umfasst. Bei dem unbestimmten Begriff der „wissenschaftlichen Forschung“ handelt es sich um einen offenen und dynamischen Begriff, der nicht im ArchivG NRW 49
Schäfer (Fn. 7) S. 181 – 194 mit Verweis auf Bizer, Forschungsfreiheit und informationelle Selbstbestimmung, Gesetzliche Forschungsregelungen zwischen grundrechtlicher Förderungspflicht und grundrechtlichem Abwehrrecht, Baden-Baden 1992, S. 218 und Nau, Verfassungsrechtliche Anforderungen an Archivgesetze von Bund und Ländern, Kiel 2000, S. 213 f.; siehe auch Manegold (Fn. 33) S. 62.
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legal definiert ist.50 Unter wissenschaftlicher Forschung ist eine – unter Zuhilfenahme bekannter Methoden erfolgende – systematische Suche nach neuen Erkenntnissen zu verstehen, um so den Kenntnisstand und die Perspektiven in einer umgrenzten Disziplin zu erweitern.51 Da nur hinreichend bestimmte Gesetze das allgemeine Persönlichkeitsrecht einschränken können, ist der Begriff verfassungskonform vor dem Hintergrund des Art. 5 Abs. 3 GG auszulegen. Außerdem ist er im Wege der praktischen Konkordanz zu einem angemessenen Ausgleich mit Art. 2 Abs. 1, Art. 1 Abs. 1 GG zu bringen.52 Demnach können von der wissenschaftlichen Forschung i.S.d. ArchivG NRW nur – auch in zeitlicher Sicht – hinreichend konkretisierte und zum Zeitpunkt der Überlassung vorhersehbare Forschungsvorhaben umfasst sein.53 Der Zweck der „wissenschaftlichen Forschung“ ist nach der vorliegend gebotenen engeren Auslegung jedoch zumindest dann nicht erfüllt, wenn Archivgut bloß zur Begutachtung geordnet, archiviert und ausgestellt wird; allerdings – im Unterschied zu hierfür angelegten Datenbanken54 – nicht der Schaffung oder Förderung neuer Erkenntnisse in der Forschung zu dem betreffenden Thema dient. Durch die reine Ausstellung der Reproduktionen des Archivguts in den USA wird der Forschungs- und 50
Anders als beispielsweise Punkt 14.2 in den Verwaltungsvorschriften zum Niedersächsischen Archivgesetz betreffend § 5 Abs. 5 S. 2 Nr. 2 NArchG, welcher sich an einer Definition versucht: „Wissenschaftlich ist ein Forschungsvorhaben, wenn Personen, die in einem einschlägigen Hochschulstudium ausreichend vorgebildet sind, auf der Grundlage eines von ihnen verarbeiteten Forschungsstandes und ausgehend von einer begründeten Fragestellung weiterführende Erkenntnisse zu gewinnen versuchen. Die ausreichende Vorbildung kann u. a. auch durch Zeugnisse von Hochschullehrerinnen oder -lehrern nachgewiesen werden. Eine ausreichende Vorbildung kann im Einzelfall auch im Selbststudium erworben sein; dem Nachweis dienen in diesem Fall insbesondere einschlägige wissenschaftliche Publikationen.“; Polley (Fn. 42) S. 179. 51 Dieses Verständnis kann ebenfalls aus der Definition des BVerfG in seiner Ersten Hochschulentscheidung zum offenen Begriff der „Wissenschaft“ i.S.d. Art. 5 GG abgeleitet werden, vgl. hierzu BVerfG, Urt. v. 29. Mai 1973 – 1 BvR 424/71, 325/72, BVerfGE 35, 79, 113 = NJW 1973, 1176 f.; siehe auch die lesenswerten Ausführungen von Manegold (Fn. 33) S. 80 – 82; vgl. zum Beispiel des StUG auch Weberling, Besondere Anforderungen und Probleme für Archivgesetze bei der Aufarbeitung totalitärer Systeme am Beispiel des Stasi-Unterlagen-Gesetzes und der SAPMO, in: Schmitt (Fn. 6) S. 147 – 155; zu Wissenschaft und Forschung i.S.d. Art. 5 Abs. 3 GG statt vieler: Britz, in: Dreier (Hg.), Grundgesetz, Kommentar, Frankfurt a. M. 2013, Band 1, Art. 5 Abs. 3 GG, Rz. 15 ff.; Scholz, in: Maunz/Dürig (Hg.), Grundgesetz, Kommentar, München 2016, Art. 5 Abs. 3 GG Rz. 83 ff.; Schäfer (Fn. 7) S. 187. 52 Polley (Fn. 42) S. 179 f., Schäfer (Fn. 7) S. 182 f. 53 Schäfer (Fn. 7) S. 183, 187; Dammann, in: Simitis, BDSG Kommentar, Baden-Baden 2014, § 14 Rz. 90 – 92; siehe hierzu auch 4. Tätigkeitsbericht des Landesbeauftragten für den Datenschutz NRW, S. 109, abrufbar unter: https://www.ldi.nrw.de/mainmenu_Service/subme nu_Berichte/Inhalt/4__TB/4__Taetigkeitsbericht.pdf (zuletzt abgerufen am 15. Juni 2016); zu Problemen bei der Auslegung des Begriffs der „wissenschaftlichen Forschung“ in der Archivpraxis siehe den interessanten Aufsatz von Bönnen, Datenschutz im Archivwesen, Anmerkungen aus der Sicht eines Stadtarchivs, in: Schmitt (Fn. 6) S. 195, 201. 54 Dammann (Fn. 53) § 14 Rz. 91; Schäfer (Fn. 7) S. 187.
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Kenntnisstand nicht erweitert, es werden keine neuen Erkenntnisse gewonnen. Vielmehr bieten einige Museen bloß einen Raum für mögliche wissenschaftliche Forschungen durch Dritte, betreiben dadurch aber noch keine eigene Forschung. Ebenso wenig betreiben Gedenkstätten (ausschließlich) wissenschaftliche Forschung. Gedenkstätten zum Holocaust dienen als Ort der Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus und stehen der Nutzung durch Angehörige, Forscher sowie der Allgemeinheit offen. Neben Ausstellungs- und Gedenkräumen bieten sie Berechtigten auch Einsicht in nicht ausgestelltes Archivgut zur Klärung des Schicksals von Familienmitgliedern.55 Hieran besteht zwar ein berechtigtes Interesse, allerdings stellt dies keine wissenschaftliche Forschung dar. Neben der Ausstellung von Archivgut kooperieren Museen oft mit dritten Stellen in der Form, dass Archivgut aus dem Zweiten Weltkrieg durch diese untersucht und bewertet wird, um so neue Perspektiven hinsichtlich des Holocausts zu entwickeln. Diese Tätigkeit dritter Stellen könnte als „wissenschaftliche Forschung“ im Sinne der Vorschrift anzusehen sein. Zu bedenken ist jedoch, dass bei der Zusammenarbeit mit Dritten nicht eindeutig festgestellt werden kann, wer die Forschungsleistung erbringt. Es ist damit zu rechnen, dass Museen das Archivgut lediglich zur Verfügung stellen und die eigentliche Forschungsarbeit durch andere erbracht wird, ohne dass die Museen selbst wissenschaftliche Forschung betreiben. Da nicht absehbar ist, wer welche Forschungsleistung erbringt, ist ein solches Forschungsvorhaben nicht hinreichend konkretisiert und eine Weitergabe an Dritte auch dann unzulässig, wenn die dritte Stelle wissenschaftliche Forschung betreibt.56 Diese dritten Stellen müssten jeweils einen eigenen Antrag gemäß § 7 Abs. 7 ArchivG NRW stellen. Die Einhaltung des Zwecks der wissenschaftlichen Forschung durch die empfangende Stelle selbst muss daher in den jeweiligen Einzelfällen genau geprüft werden. cc) Sicherstellung der Wahrung schutzwürdiger Belange Zudem müssen bei einer solchen ausnahmsweise zulässigen Überlassung von Archivgut vor Ablauf der Schutzfrist nach § 7 Abs. 7 S. 3 ArchivG NRW im Rahmen einer Einzelfallabwägung die schutzwürdigen Belange von Betroffenen und Dritten gewahrt werden.57 Dies ist bei der Überlassung in die USA schwer sicherzustellen und zu kontrollieren. Insbesondere bei den durch die Betroffenen erlittenen einschneidenden Kriegserlebnissen während des Holocausts, wie beispielsweise die menschenunwürdige Unterkunft in Konzentrationslagern oder die Durchführung von Versuchen an Menschen, ist große Sensibilität im Umgang mit dem Archivgut und der Interessenabwägung geboten.58 Es ist bei den einzelnen zu übermittelnden 55
Lilienthal (Fn. 8) S. 222 f. Vgl. zur Bestimmbarkeit und Vorhersehbarkeit des Forschungsvorhabens auch Schäfer (Fn. 7) S. 183 – 186. 57 Zum Begriff der schutzwürdigen Belange: Manegold (Fn. 33) S. 304, Fn. 578. 58 LT-Drs. 14/10028, S. 19; Lilienthal (Fn. 8) S. 222 f. 56
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Archivgütern und darin enthaltenen personenbezogenen Informationen im Einzelfall festzustellen, ob und inwieweit diese einen Eingriff in die Intim- oder Privatsphäre der Betroffenen darstellen oder ob beispielsweise eine Anonymisierung oder Pseudonymisierung des Archivguts vorgenommen werden muss.59 Dies kann jedoch dem Zweck von Gedenkstätten zuwiderlaufen. Das Gedenken an Personen und deren Schicksale erfordert gerade die Kenntnis des Namens und der Lebensgeschichte der Person.60 Durch eine Anonymisierung des reproduzierten Archivguts kann auch der Zweck der Klärung von Familienschicksalen nicht mehr erreicht werden.61 Zur Akteneinsicht außerhalb der öffentlichen Ausstellungen Berechtigte müssten sich ferner zur Wahrung der Interessen der Betroffenen zuvor der Verschwiegenheit und dem respektvollen Umgang mit den Informationen verpflichten.62 Solche Klauseln sind in Benutzeranträgen deutscher Archive enthalten, die Verwendung oder Einhaltung dieser oder sonstiger Auflagen in den USA kann jedoch kaum überprüft werden. Vor diesem Hintergrund ist die Weitergabe von reproduziertem Archivgut in die USA äußerst kritisch zu beurteilen. Auf diese Weise wird die Nutzung der Reproduktionen durch die Stellen selbst ebenso wie die eventuelle Weitergabe an sonstige Dritte unkontrollierbar und könnte so den Interessen der Berechtigten zuwider laufen. dd) Gewährleistung des Datenschutzniveaus oder entsprechender Garantien Zu den oben genannten Voraussetzungen treten bei der Weitergabe von Reproduktionen von Archivgut in Drittstaaten außerhalb der EU weitere Voraussetzungen hinzu, welche unabhängig davon, ob die Übermittlung vor oder nach Ablauf der Schutzfrist erfolgen soll, erfüllt sein müssen. Die Übermittlung ins EU-Ausland ist gemäß § 7 Abs. 7 S. 5 ArchivG NRW nur zulässig, wenn im Zielland ein angemessenes Datenschutzniveau gewährleistet wird. Die USA erfüllen diese Voraussetzung nicht, sodass zusätzlich die Voraussetzungen des § 7 Abs. 7 S. 7 ArchivG NRW Anwendung finden. In Länder ohne angemessenes Datenschutzniveau ist die Übermittlung nur zulässig, wenn die empfangende Stelle ausreichende Garantien zum Schutz der informationellen Selbstbestimmung bietet. Dies geschah bislang bei Datenübermittlungen in die USA über das Safe HarborAbkommen oder über die Verwendung vertraglicher Standardklauseln, deren Muster von der EU-Kommission bereitgestellt werden. Am 6. Oktober 2015 hat der EuGH 59
Legaldefinitionen finden sich in § 3 Abs. 7 DSG NRW, § 3 Abs. 6 BDSG (Anonymisieren) und § 3 Abs. 8 DSG NRW, § 3 Abs. 6a BDSG (Pseudonymisieren); Schäfer (Fn. 7) S. 184; Schmitz (Fn. 30) S. 5; beachte jedoch die Einschätzung der Anonymisierung von Archivgut als praxisfern bei Bönnen (Fn. 53) S. 199; zur Debatte auch Manegold (Fn. 33) S. 158 – 162, 317. 60 So auch Lilienthal (Fn. 8) S. 226. 61 Lilienthal (Fn. 8) S. 222, 226. 62 Lilienthal (Fn. 8) S. 223; Beispiele für restriktive Maßnahmen und Auflagen finden sich auch bei Nadler (Fn. 35) S. 37 f.
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das Safe Harbor-Abkommen der Kommission mit den USA jedoch für europarechtswidrig erklärt. Das Gericht stellte fest, dass in den USA angesichts des nahezu ungehinderten Zugriffs von US-Behörden auf personenbezogene Daten, legitimiert durch Gesetze wie dem US-amerikanischen Patriot Act, nach europäischem Verständnis kein angemessenes Datenschutzniveau gewährleistet sei.63 Datenübermittlungen in die USA, die lediglich auf dem Safe Harbor-Abkommen beruhen, haben seither zu unterbleiben und erfüllen folglich auch nicht die Anforderungen des § 7 Abs. 7 S. 7 ArchivG NRW. Die Frage, wie ausreichende Garantien hinsichtlich des Schutzes der informationellen Selbstbestimmung im Sinne des § 7 Abs. 7 S. 7 ArchivG NRW nach dieser Entscheidung ausgestaltet werden könnten, kann zum jetzigen Zeitpunkt ebenso wenig eindeutig beantwortet werden. Die EU-Kommission und die US-Regierung verkündeten im Frühjahr 2016, sich auf ein sog. Privacy Shield geeinigt zu haben. Zwar sollen EU-Bürger die Möglichkeit haben, sich in den USA direkt an einen sog. Ombudsmann zu wenden.64 Es besteht aber offenbar seitens der US-Regierung keine Absicht, den ungehinderten Zugriff der Behörden auf Daten insgesamt einzuschränken. Ob der Privacy Shield einem Urteil des EuGH in Zukunft standhält, ist – vorbehaltlich weiterer noch zu treffender Regelungen – äußerst fraglich. Bei Zugrundelegung der derzeitigen Rechtslage ist nicht davon auszugehen, dass die USA ein dem europäischen Recht vergleichbares und angemessenes Datenschutzniveau im Sinne des § 7 Abs. 7 S. 5 ArchivG NRW gewährleisten.65 Hinsichtlich der geplanten Abgabe von Reproduktionen von Beständen aus den Archiven NRWs an Stellen in den USA ist daher fraglich, welche Anforderungen zurzeit an die durch § 7 Abs. 7 S.7 ArchivG NRW geforderten „ausreichenden Garantien“ hinsichtlich des Schutzes des informationellen Selbstbestimmungsrechts zu stellen sind, um ein angemessenes Datenschutzniveau herzustellen.66 Hiernach müssen die für die Verarbeitung in den USA verantwortlichen Stellen die geeigneten technischen und organisatorischen Maßnahmen dafür treffen, dass 63
EuGH, Urt. v. 6. Oktober 2015 – C-362/14, EuZW 2015, 881 – 888 = NJW 2015, 3151 – 3158. 64 Siehe hierzu Weichert (Fn. 16) S. 213. 65 Zur Rechtslage vor dem Safe Harbor-Urteil noch anders Schäfer (Fn. 7) S. 190 f. 66 Nach § 4b Abs. 2 des Bundesdatenschutzgesetzes muss die Übermittlung personenbezogener Daten an einen Nichtmitgliedstaat unterbleiben, soweit der Betroffene ein schutzwürdiges Interesse an dem Ausschluss der Übermittlung hat, insbesondere wenn bei den Stellen ein angemessenes Datenschutzniveau nicht gewährleistet ist. Auch das hier vorrangig anwendbare Landesdatenschutzgesetz NRW enthält eine Regelung zum Datenschutz in Bezug auf Nicht-EU-Staaten. Nach § 17 Abs. 2 Nr. 5 Landesdatenschutzgesetz NRW ist eine Übermittlung bei fehlendem Datenschutzniveau zulässig, soweit „die Übermittlung genehmigt wird, wenn die empfangende Stelle ausreichende Garantien hinsichtlich des Schutzes der informationellen Selbstbestimmung bietet. Die für die Genehmigungserteilung zuständige Stelle oder zuständigen Stellen bestimmt die Landesregierung durch Rechtsverordnung.“; auch bei § 17 Abs. 2 Nr. 5 Landesdatenschutzgesetz NRW handelt es sich allerdings um eine Ausnahmeregelung, welche naturgemäß restriktiv auszulegen ist, LT-Drs. 14/10028, S. 19.
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personenbezogene Daten gegen Zerstörung, Verlust, Änderung und – im Hinblick auf das Urteil des EuGH von besonderer Wichtigkeit – gegen die unberechtigte Weitergabe oder den unberechtigten Zugang und gegen jede andere Form der unrechtmäßigen Verarbeitung personenbezogener Daten geschützt sind. Bezüglich der Einhaltung des Datenschutzniveaus sind dabei auch die Umstände der jeweiligen Dokumentation in der Einrichtung, wie beispielsweise die Art der Präsentation sowie die Eigenschaften einzelner zu überlassender Archivgüter zu beachten. So ist es entscheidend, ob aufgrund der jeweiligen Darstellung im Rahmen einer Ausstellung Rückschlüsse auf die Identität der Betroffenen gezogen werden können. Aufgrund der in den USA bestehenden Gesetzeslage können die Museen und Gedenkstätten in den USA die erforderliche Garantie nicht eigenständig erbringen. Die US-Behörden können jederzeit Zugriff auf personenbezogenes Archivgut, welches eingescannt auf in den USA liegenden Servern gespeichert werden könnte, nehmen. Die Stellen wären bei einer entsprechenden Anordnung verpflichtet, die Daten weiterzugeben, wenn nicht bereits eine unmittelbare digitale Abrufbarkeit durch die jeweilige Behörde besteht. Insbesondere hieran scheitert eine ausreichende Garantie hinsichtlich des Schutzes der informationellen Selbstbestimmung im Sinne des § 7 Abs. 7 S. 7 ArchivG NRW. Auch eine bindende Erklärung, dass für die Verträge, Unterlagen und den Umgang mit personenbezogenem Archivgut deutsches Recht gilt, erscheint im Hinblick auf das zu erreichende Ziel fragwürdig. Eine solche Vereinbarung gewährleistet zwar, dass personenbezogenen Daten durch die Nutzer, die mit den Museen einen entsprechenden Benutzungsvertrag abschließen, nur nach deutschem Recht verwendet werden dürfen. Auch diese Regelung löst aber nicht das Problem der weitreichenden (Zugriffs-)Befugnisse der US-Behörden auf personenbezogene Daten, die auf US-amerikanischem Boden gesichert sind. Bis zu einer wirksamen Angemessenheitserklärung der Kommission muss ein angemessenes Datenschutzniveau gemäß § 7 Abs. 7 S. 5 ArchivG NRW daher verneint werden. Dass die im Entwurf zum Privacy Shield vorgesehene Angemessenheitserklärung Bestand haben wird, darf bezweifelt werden.67 d) Die Weitergabe von reproduziertem Archivgut nach Ablauf der Schutzfrist gemäß § 7 Abs. 7 S. 1 ArchivG NRW Die Weitergabe von reproduziertem Archivgut an Archive, Museen und Forschungsstellen nach Ablauf der Schutzfristen ist unter weniger restriktiven Voraussetzungen möglich. Eine solche Weitergabe nach Ablauf der Schutzfrist ist gemäß § 7 Abs. 7 S. 1 ArchivG NRW ebenfalls nur in besonders begründeten Fällen auf Antrag zulässig. Auch hier ist gemäß § 7 Abs. 7 S. 3 ArchivG NRW auf die Belange der Betroffenen Rücksicht zu nehmen. Ebenso muss das Vorhaben den Zwecken der ar67
Berechtigte Kritik übt Weichert (Fn. 16) S. 214 – 217.
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chivarischen Nutzung und wissenschaftlichen Forschung dienen. Ein „besonderer Auftrag“ zur Dokumentation des Schicksals einer Gruppe natürlicher Personen unter nationalsozialistischer Herrschaft, wie ihn § 7 Abs. 7 S. 2 ArchivG NRW für die Weitergabe vor Ablauf der Schutzfrist fordert, ist folglich für die Weitergabe nach dem Ablauf der Schutzfrist nicht mehr erforderlich. Nichtsdestoweniger stellen auch § 7 Abs. 7 S. 1, S. 3, S. 5 ArchivG NRW hohe Anforderungen an die Zulässigkeit der Weitergabe, welche bis auf den „besonderen Auftrag“ erfüllt sein müssen. Dies ist bei dem Vorhaben aber – wie oben dargestellt – auch nach Ablauf der Schutzfristen zurzeit nicht der Fall, da seit dem Safe Harbor-Urteil des EuGH kein angemessenes Datenschutzniveau sowie die Wahrung der schutzwürdigen Belange der Betroffenen nicht ausreichend sichergestellt werden kann. e) Sonstige Voraussetzungen Vor einer Entscheidung über die Angemessenheit des Datenschutzniveaus im Empfängerland ist darüber hinaus gemäß § 7 Abs. 7 S. 6 ArchivG NRW die Landesbeauftragte für den Datenschutz und Informationsfreiheit zu hören. Außerdem trifft die Stelle, an die Reproduktionen herausgegeben werden, eine Pflicht zur Vernichtung, sobald der Zweck der Weitergabe erreicht wurde.68 Die Einhaltung dieser Pflichten in den USA lässt sich ebenfalls schwerlich kontrollieren.
V. Zusammenfassung Insgesamt bleibt festzustellen, dass nicht sämtliche Museen und Gedenkstätten in den USA – selbst mit einem besonderen Auftrag zur Dokumentation des Schicksals einer Gruppe natürlicher Personen unter nationalsozialistischer Herrschaft – den Zweck der wissenschaftlichen Forschung zweifelsfrei ohne Weitergabe des reproduzierten Archivguts an Dritte lediglich selbst erfüllen, sodass entsprechende Vorhaben in diesen Fällen nicht in den Anwendungsbereich des § 7 Abs. 7 ArchivG NRW und somit nicht in den Anwendungsbereich der Regelung zur Nutzung von gesichertem Archivgut vor und nach Ablauf der Schutzfrist fallen. Des Weiteren sind die USA nicht als Drittstaat mit einem den europäischen Standards entsprechenden und angemessenen Datenschutzniveau im Sinne des § 7 Abs. 7 S. 5 ArchivG NRW anzusehen. Folglich wäre – die Anwendbarkeit des § 7 Abs. 7 ArchivG NRW unterstellt – eine Abgabe von Reproduktionen von Beständen aus dem Archiven NRWs nur unter den strengen Voraussetzungen des § 7 Abs. 7 S. 7 Ar68
Die Löschungspflicht aus Art. 17 DSGVO, von welcher auch über die Öffnungsklausel des Art. 89 DSGVO nicht abgewichen werden kann, trifft über Art. 44 S. 1. DSGVO a.E. auch die Stellen in Drittländern; zu den einfachgesetzlichen Löschungspflichten siehe§ 5 Abs. 3 ArchivG NRW, § 19 Abs. 3 DSG NRW, § 20 Abs. 2 BDSG bzw. § 35 Abs. 2 BDSG; hierzu auch Schäfer (Fn. 7) S. 185.
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chivG NRW zulässig. Dafür müssten die Stellen in den USA ausreichende Garantien hinsichtlich des Schutzes des informationellen Selbstbestimmungsrechts der Betroffenen bieten, was momentan kaum möglich ist. Lediglich der Privacy Shield der EUKommission und der US-Regierung könnte etwas an der derzeitigen Beurteilung der USA als Drittstaat ohne angemessenes Datenschutzniveau im Sinne des § 7 Abs. 7 S. 5 ArchivG NRW ändern. Aus diesen Gründen ist die Frage nach der Rechtmäßigkeit der Abgabe von reproduziertem Archivgut der Archive des Landes NRW an Museen und Gedenkstätten in den USA vor dem Hintergrund des § 7 ArchivG NRW und dem Safe Harbor-Urteil des EuGH kritisch zu beurteilen. Gleichzeitig zeigt dieses Ergebnis, dass in der Rechtsvergleichung auch noch enormer Konfliktstoff bei grundlegenden rechtlichen Wertungen besteht – ein Thema, das unseren Jubilar zeit seines Lebens begleitet hat.69
69 Siehe z. B. grundlegend in Comparative Law in Perspective – Collected Essays in Commemoration of the Thirtieth Anniversary of the Institute of Comparative Law in Japan, Tokyo 1982, 39 ff.
Die Wahrnehmung von Geschäftsführungsfunktionen durch juristische Personen Eine Skizze zum schweizerischen Gesellschaftsrecht mit rechtsvergleichenden Hinweisen Von Peter Jung
I. Einführung Im Gegensatz etwa zum deutschen und französischen Recht kennen das japanische und das schweizerische Recht allgemeine Regelungen über juristische Personen (ho¯jin) in den Art. 33 bis 84 – 3 des japanischen Zivilgesetzes von 1896 (minpo¯ ; im Folgenden ZG)1 bzw. den Art. 52 bis 59 des schweizerischen Zivilgesetzbuchs von 1907 (ZGB)2. Dabei werden im japanischen Recht neben Verein (shadan3) und Stiftung (zaidan)4 nach französischem Vorbild alle in das Handelsregister eingetragenen 1
Gesetz Nr. 89/1896 vom 27. April 1896; siehe zu einer Übersetzung Kaiser, Andreas, Das japanische Zivilgesetzbuch in deutscher Sprache, Köln 2008; speziell zum Kapitel III über die juristischen Personen Frank, Ronald, General Provisions, Legal and Economic Developments after 1868, in: Röhl, Wilhelm (Hg.), History of Law in Japan since 1868, Leiden/Boston 2005, S. 166, 192 ff. 2 Die Einführung dieser Vorschriften gehört zu den bedeutenden Neuerungen des schweizerischen ZGB, da abgesehen von allgemeinen Bestimmungen über die Entstehung und Anerkennung zuvor nur der Kanton Graubünden allgemeine Regelungen zur Rechtsnatur und zu den Arten der juristischen Personen kannte (dazu Huber, Eugen, System und Geschichte des Schweiz. Privatrechtes, Bd. 1, Basel 1886, S. 157 ff.). Das Privatrechtliche Gesetzbuch des Kantons Zürich (PGB) enthielt lediglich personenrechtliche Regelungen über Korporationen (§§ 17 – 39) und Stiftungen (§§ 40 – 47). Neu waren die Bestimmungen auch insofern, als die seinerzeit geltenden Gesetze der umliegenden Staaten keine derartigen Regelungen kannten und auch Liechtenstein erst 1926 mit den Art. 106 – 245 PGR eine vergleichbare Regelung einführte. 3 Der juristische Begriff shadan bezeichnet dabei nicht nur den Verein i. e.S., sondern auch generell die körperschaftlich strukturierten Organisationsformen, da auch im japanischen Recht der Verein die Grundform einer Körperschaft darstellt (dazu Menkhaus, Heinrich, Allgemeines Gesellschaftsrecht in Japan, in: Menkhaus, Heinrich/Sato, Fumihiko [Hg.], Japanischer Brückenbauer zum deutschen Rechtskreis – Festschrift für Koresuke Yamauchi zum 60. Geburtstag, Berlin 2006, S. 229, 248). 4 Zu Verein und Stiftung im japanischen Recht siehe näher Schuh, Sandra, Gemeinnützige Rechtsträger in Japan und Deutschland – Eine rechtsvergleichende Studie gemeinnütziger Vereine und Stiftungen, Tübingen 2014.
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Gesellschaften5 und damit anders als im deutschen und schweizerischen Recht auch die Personenhandelsgesellschaften6 zu den juristischen Personen gezählt, wie sich aus Art. 3 des Gesellschaftsgesetzes (Kaisha-ho¯, im Folgenden GesG7) ergibt. Sowohl das japanische Zivilgesetz (Art. 43) wie das schweizerische Zivilgesetzbuch (Art. 53) enthalten eine Bestimmung zur Rechtsfähigkeit der juristischen Person. Während Art. 43 ZG diese Rechtsfähigkeit auf die Zweckverfolgung beschränkt und unter einen umfassenden Gesetzesvorbehalt stellt8, betont Art. 53 ZGB die prinzipielle Gleichstellung mit den natürlichen Personen unter Vorbehalt der natürlichen Eigenschaften des Menschen9. Unter dem Einfluss insbesondere Otto von Gierkes10 5 Zu diesen im Sinne der deutschen und schweizerischen Terminologie „Handelsgesellschaften“ (zum Begriff im japanischen Recht siehe Menkhaus, Heinrich [Fn. 3], S. 233 ff.) zählen im japanischen Recht die Aktiengesellschaft (kabushiki kaisha), die offene Handelsgesellschaft (go¯mei kaisha), die Kommanditgesellschaft (go¯shi kaisha) und die mit Inkrafttreten des vereinfachend Gesellschaftsgesetz genannten Gesetzes neu eingeführte und auch in Japan gemeinhin als „Limited Liability Company, LLC“ bezeichnete go¯do¯ kaisha, die zwar noch Gemeinsamkeiten mit der zugleich für Neugründungen abgeschafften GmbH (yu¯gen kaisha) aufweist, aber nicht mehr als deren Nachfolgeform, sondern eigenständig nach angloamerikanischem Vorbild konzipiert wurde (zur Abschaffung der GmbH und zur LLC näher Menkhaus, Heinrich, Japan, in: Süß, Rembert/Wachter, Thomas (Hg.), Handbuch des internationalen GmbH-Rechts, 3. Aufl., Bonn 2016, 999 – 1024). Eine Kommanditgesellschaft auf Aktien bzw. Kommanditaktiengesellschaft (kabushiki go¯shi kaisha) kennt das japanische Recht seit 1950 (Gesetz Nr. 167/1950) nicht mehr (dazu Menkhaus, Heinrich [Fn. 3], S. 231 und 246). Die auch in Japan als „Limited Liability Partnership, LLP“ bezeichnete yûgen sekinin jigyô kumiai ist als Sonderform der Zivilgesellschaft konzipiert und daher weder Handelsgesellschaft noch juristische Person (Dernauer, Marc, Die japanische Gesellschaftsrechtsreform 2005/2006, ZJapanR 20 [2005], 123, 137; Westhoff, Jörn, Zur praktischen Bedeutung des neuen japanischen Gesellschaftsrechts für ausländische Investoren – Überlegungen aus der Praxis, insbesondere zur Corporate Governance der japanischen Aktiengesellschaften, ZJapanR 21 [2006], 212, 219). 6 Die Personenhandelsgesellschaften werden im japanischen Recht seit 2006 unter dem Begriff der Anteilsgesellschaft (mochibun kaisha) zusammengefasst (zur Legaldefinition siehe Art. 575 Abs. 1 GesG); zu ihrer zumindest bis Ende 2005 geringen Verbreitung im japanischen Recht Menkhaus, Heinrich (Fn. 3), S. 243, wonach Ende 2005 ca. 18.000 offene Handelsgesellschaften (go¯mei kaisha) und ca. 87.000 Kommanditgesellschaft (go¯shi kaisha) im Vergleich zu 1,9 Mio. Gesellschaften mbH (yu¯gen kaisha) und 1,1 Mio. Aktiengesellschaften (kabushiki kaisha) gezählt wurden. 7 Gesetz Nr. 86/2005 vom 29. Juni 2005; siehe zu diesem das Recht der Handelsgesellschaften teilweise neu regelnden Gesetz Takahashi, Eiji/Shimizu, Madoka, The Future of Japanese Corporate Governance: The 2005 Reform, ZJapanR 19 (2005), 35 ff.; Dernauer, Marc (Fn. 5), S. 123 ff.; Witty, Thomas, Das neue Gesellschaftsrecht in Japan, ZJapanR 23 (2007), 185 ff. 8 Art. 43 ZG: . 9 Art. 53 (Rechtsfähigkeit): Die juristischen Personen sind aller Rechte und Pflichten fähig, die nicht die natürlichen Eigenschaften des Menschen, wie das Geschlecht, das Alter oder die Verwandtschaft zur notwendigen Voraussetzung haben. 10 Siehe zur Theorie der realen Verbandspersönlichkeit etwa von Gierke, Otto, Die Genossenschaftstheorie und die Deutsche Rechtsprechung, Berlin 1887, S. 5 ff. und 174 ff.; generell zum Einfluss des deutschen Rechts in der Meiji-Zeit (1868 – 1912) Röhl, Wilhelm,
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folgen sowohl das japanische wie das schweizerische Recht dem Realitätsprinzip, wonach die juristische Person eine durch ihre Organe verkörperte reale Verbandsperson und keine bloße auf das Vertrags- und Vermögensrecht beschränkte Fiktion darstellt, die sich insbesondere auch deliktisch haftbar machen kann (Art. 44, 53 f. ZG bzw. Art. 54 f. ZGB)11. Grundsätzlich kennen aber beide Rechte Grenzen der Gleichstellung von juristischer und natürlicher Person. Mit der Zulässigkeit der Übernahme von Geschäftsführungsfunktionen durch juristische Personen in einer Gesellschaft möchte der folgende, dem Jubilar in akademischer Verbundenheit gewidmete Beitrag eine solche Grenze näher beleuchten.
II. Grundlagen zum schweizerischen Recht 1. Charakteristika der Rechtspersönlichkeit a) Realitätsprinzip Die Rechtspersönlichkeit einer juristischen Person besteht mit ihren einzelnen Ausprägungen im schweizerischen Recht real12 und nicht nur aufgrund einer auf den Vermögensbereich beschränkten rechtlichen Fiktion13. Dies ergibt sich aus Art. 54 ZGB, der die Handlungsfähigkeit der juristischen Person an die Bestellung der hierfür erforderlichen Organe bindet, sowie aus Art. 55 Abs. 1 und Abs. 2 ZGB (vgl. auch Art. 40 OR), der eine nicht an die Voraussetzungen der Stellvertretung (Art. 32 ff. OR) gebundene generelle Zurechnung des Organverhaltens zur juristischen Person vorsieht14. Nach der Realitätstheorie ist die juristische Person kein
Foreign Influences, in: Röhl, Wilhelm (Hg.), History of Law in Japan since 1868, Leiden/ Boston 2005, S. 23, 26 ff.; zu Okano Keijiro¯ (1865 – 1925), einem Schüler von von Gierke, als dem Doyen des japanischen Gesellschaftsrechts Takahashi, Eiji, „Reception“ and „Convergence“ of Japanese and German Corporate Law, University of St. Thomas Law Journal, 12 (2015), 228, 229. 11 Siehe dazu sogleich unter II.1.a) bei Fn. 12 ff. 12 Huber, Eugen, Erläuterungen zum Vorentwurf eines schweizerischen Zivilgesetzbuches, Bd. 1, 2. Aufl., Bern 1914, S. 46 f.; vgl. auch zur sog. Realitätstheorie (auch Organtheorie oder Theorie der realen Verbandspersönlichkeit) namentlich von Gierke, Otto (Fn. 10), S. 5 ff. und 174 ff. sowie Bluntschli, Johann Caspar, Deutsches Privatrecht, 2. Aufl., München 1860, S. 67 f. 13 Zur sog. Fiktionstheorie namentlich von Savigny, Friedrich Carl, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. 2, Berlin 1840, S. 239 f.; im Schweizer Recht noch BGE 4, 533 E. 4; siehe auch Wolff, Martin, On the Nature of Legal Persons, 54 Law Quarterly Review (1938), 494, 500 ff. 14 In den praktisch relevanten Fragen ist der Meinungsstreit um die Rechtsnatur der juristischen Personen (dazu etwa Fögen, Marie Theres, „Mehr Sein als Schein“? Anmerkungen zur juristischen Person in Theorie und Praxis, SJZ 95 (1999), 393 ff. und Hafter, Ernst, Zur Lehre von den juristischen Personen nach dem Entwurf zu einem schweizerischen Zivilgesetzbuch, ZSR 25 (1906), S. 61 ff.; weitere Nachweise bei Riemer, Hans Michael, in: Berner Kom-
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„blutloses Gespenst“15, sondern ein Organismus mit eigenem Charakter und Willen, der mehr als die Summe seiner Teile verkörpert16. Daher ist die juristische Person nach der Realitätstheorie auch keine bloße rechtliche Konstruktion, um die häufig zahlreichen und unbestimmten Personen, welche hinter ihr stehen, als Vermögensträgerin im Rechtsverkehr zu repräsentieren17. Sie ist schließlich als Gesellschaft entgegen der sog. Zweckvermögenstheorie18 nicht nur ein dem (Gesellschafts)Zweck gewidmetes Sondervermögen, sondern eine Organisation von Gesellschaftern. Dennoch sind der allein durch Zurechnungen herzustellenden Realität der juristischen Person und der Parallele zu den natürlichen Personen auch im Rahmen der Realitätstheorie gewisse Grenzen gesetzt. Dies bringt auch Art. 53 ZGB mit dem einschränkenden Hinweis auf bestimmte menschliche Eigenschaften zum Ausdruck, welche den juristischen Personen nicht zukommen können. Im einzelnen Normanwendungsfall kommt es jedoch weniger auf ein abstrakt unterstelltes generelles Wesen der juristischen Person als auf die gesetzlichen Vorgaben für die Zurechnung (Art. 53 ff. ZGB, Art. 722 OR) und vor allem konkrete Wertungen an, die vor dem Hintergrund des Zwecks und systematischen Zusammenhangs der jeweiligen Norm vorzunehmen sind19. b) Gleichstellungsprinzip Nach Art. 53 ZGB sind die juristischen Personen den natürlichen Personen grundsätzlich gleichgestellt. Im vermögensrechtlichen Bereich ist die Gleichstellung unbestritten, da auch die Vertreter der sog. Fiktionstheorie von einer vom Recht fingierten Vermögensfähigkeit der juristischen Person ausgehen. Als Vermögensträgerin ist die juristische Person nicht nur Trägerin von Vermögensrechten und -pflichten, sondern auch erbfähig, steuerfähig, parteifähig und registerfähig. Da sie im rechtsgementar, Die juristischen Personen, Allgemeine Bestimmungen, Systematischer Teil und Kommentar zu Art. 52 – 59 ZGB, Bern 1990, ST Vor 52 ZGB Rn. 6) entschieden. 15 So plastisch von Gierke, Otto, Das Wesen der menschlichen Verbände, Berlin 1902, S. 7. 16 Näher von Gierke, Otto, Deutsches Privatrecht, Bd. 1 (Allgemeiner Teil und Personenrecht), Leipzig 1895, S. 469 ff.; Dernburg, Heinrich, Die allgemeinen Lehren des bürgerlichen Rechts des deutschen Reichs und Preußens, 3. Aufl., Halle 1906, S. 179 ff. und 186 f. mit Fn. 6 auf S. 187; BGE 31 II 242 E. 4; in diesem Sinne auch die zwischen Fiktions- und Realitätstheorie vermittelnde Qualifikation der juristischen Person als institutionelle Tatsache bzw. normative Wirklichkeit durch Ott, Edward E., Jenseits von Fiktions- und Realitätstheorie. Die juristische Person als institutionelle Tatsache – Unterwegs zu einer neuen Theorie der juristischen Person, in: von der Crone, Hans Caspar et al. (Hg.), Neuere Tendenzen im Gesellschaftsrecht, Festschrift für Peter Forstmoser zum 60. Geburtstag, Zürich 2003, S. 3 ff. 17 So aber von Jhering, Rudolf, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, Teil 2, Bd. 2, Leipzig 1858, S. 393 f. 18 Zu dieser Lehre generell Brinz, Alois, Lehrbuch der Pandekten, Bd. 3,2,1, 2. Aufl., Erlangen 1888, S. 453 ff. 19 Beispielhaft sei auf das methodische Vorgehen in BGE 115 II 181 E. 2 (Anwendung der Voraussetzung der Selbstbewirtschaftung nach Art. 15 LPG auf juristische Personen) verwiesen.
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schäftlichen Bereich und Prozessrechtsverkehr durch organschaftliche (Art. 55 Abs. 1 und Abs. 2 ZGB, Art. 718 ff. OR), rechtsgeschäftliche (Art. 721 i.V.m. Art. 458 ff. OR) und gesetzliche (Art. 731b Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 OR, Art. 240 SchKG) Vertreter repräsentiert werden kann, ist etwa die Aktiengesellschaft im Vermögensbereich auch handlungs- bzw. prozessfähig. Die Besitz- und Mitgliedschaftsfähigkeit sind zwar eng mit der Vermögensfähigkeit verbunden, weisen mit der Sachherrschaft und der Ausführung tatsächlicher Geschäftsführungsakte aber auch bereits eine Willens- und Tathandlungskomponente auf. Probleme bereitet die Gleichstellung von juristischen Personen mit den natürlichen Personen im Bereich des tatsächlichen Handelns, der Willensbildung und -äußerung, des Schutzes von Persönlichkeitsgütern sowie der genuin menschlichen Umstände (menschliche Eigenschaften, kognitive und seelische Umstände, soziale Beziehungen). Das deutet bereits Art. 53 ZGB an, indem er im Anschluss an Überlegungen Eugen Hubers20 von der Gleichstellung diejenigen Rechte und Pflichten ausnimmt, welche die natürlichen Eigenschaften des Menschen wie das Geschlecht, das Alter und die Verwandtschaft zur Voraussetzung hätten. Der Schweizer Gesetzgeber ist aber nicht so weit gegangen, die Existenz der juristischen Person außerhalb des vermögensrechtlichen und rechtsgeschäftlichen Bereichs gänzlich zu verneinen. Vielmehr erkennt er mit der in Art. 54 und 55 ZGB verankerten Realitäts- bzw. Organtheorie an, dass eine juristische Person vermittelt über ihre Organe auch einen Willen bilden und äußern (Art. 55 Abs. 1 ZGB), im tatsächlichen Bereich handeln (Art. 55 Abs. 2 ZGB) und mithin eine Sachherrschaft ausüben21 und Delikte begehen22 kann. Art. 620 Abs. 1 OR erwähnt zudem mit der Bezugnahme auf die Firma ausdrücklich die Namensfähigkeit der Aktiengesellschaft. Die juristische Person verfügt ferner über ein Recht zur freien wirtschaftlichen Entfaltung und zum Schutz ihrer Ehre23 und Privatheit24. Inwieweit und nach welchen Regeln einer juristischen Person darüber hinaus im Interesse ihrer Gleichstellung mit natürlichen Personen auch menschliche Eigenschaften (z. B. Geschlecht, Alter, Zuverlässigkeit), kognitive und seelische Umstände (z. B. Wissen, Irrtümer, Furcht, Gewissen, Glaube, seelischer Schmerz) oder menschliche Beziehungen (z. B. Verwandtschaft, Religionszugehörigkeit) ihrer Organe (sog. Organtheorie) oder ihrer maßgeblich und aktiv beteiligten natürlichen Gesellschafter (sog. notwendiger Zurechnungsdurchgriff) zugerechnet werden können, ist kaum gesetzlich geregelt (siehe vor allem 20
Huber, Eugen, in: Zehn Vorträge des Herrn Prof. E. Huber u¨ ber ausgewa¨ hlte Gebiete des neuen Rechts, Bern 1911, S. 55 ff., nennt Eheschließung, eheliches Güterrecht, Rechte aus Verwandtschaft oder Schwägerschaft, Konfession, Adoption, Militärdienstpflicht, Schadenersatz bei Tötung, Genugtuung bei Tötung oder Körperverletzung. 21 Zum sog. Organbesitz Jung, Peter, in: Handschin, Lukas (Hg.), Zürcher Kommentar zum schweizerischen Zivilrecht, Die Aktiengesellschaft – Allgemeine Bestimmungen, 2. Aufl., Zürich 2016, Art. 620 Rn. 134. 22 Zur sog. Deliktsfähigkeit Jung, Peter (Fn. 21), Art. 620 Rn. 163 ff. 23 BGE 95 II 481 E. 4; BGE 108 II 241 E. 6 a); BGE 138 III 337 E. 6. 24 BGE 64 II 162 E. 6 ff.; BGE 97 II 97 E. 3.
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Art. 55 Abs. 1 ZGB) und im Einzelnen vom Normzweck und Regelungskontext der jeweils anzuwendenden Norm abhängig25. c) Trennungsprinzip Die Rechtspersönlichkeit bedingt schließlich eine Verselbständigung der juristischen Personen als rechtlich anerkanntes Zuordnungssubjekt von Rechten und Pflichten sowie von Eigenschaften, Kenntnissen, Geisteshaltungen, Beziehungen usw. Diese Verselbständigung besteht im Innenverhältnis zu den Organen und Gesellschaftern sowie im Außenverhältnis gegenüber Dritten. So verfügt die juristische Person über ein rechtlich anerkanntes Eigeninteresse (sog. Gesellschafts- oder Stiftungsinteresse), welches im Rahmen von Interessenabwägungen im Innen- und Außenverhältnis zu berücksichtigen ist26. Die juristische Person ist im Falle des Betriebs eines Unternehmens als solche Unternehmensträgerin27. Es besteht die Möglichkeit zu Rechtsbeziehungen zwischen der juristischen Person und ihren Organen bzw. Gesellschaftern. Aufgrund der Relativität der Schuldverhältnisse können die Organe oder Gesellschafter grundsätzlich keine Rechte aus Verträgen der Gesellschaft herleiten und umgekehrt. Wegen des Gleichlaufs von Schuld und Haftung ist mit dem Trennungsprinzip nicht nur eine Unterscheidung zwischen den Schulden der juristischen Person und denen ihrer Organe oder Gesellschafter sowie zwischen den jeweiligen Vermögensmassen, sondern auch eine grundsätzliche Beschränkung der Haftung für Gesellschaftsschulden auf das Gesellschaftsvermögen und eine Beschränkung der Haftung für Gesellschafterschulden auf das Privatvermögen des betreffenden Gesellschafters verbunden. Sofern es für die Anwendung einer Rechtsnorm oder vertraglichen Regelung auf einen bestimmten rechtlichen Status (z. B. Kaufmannseigenschaft), persönliche Eigenschaften (z. B. Zuverlässigkeit) oder die Vermögensverhältnisse (z. B. Bedürftigkeit) ankommt, sind grundsätzlich allein die Umstände der rechtlich verselbständigten Gesellschaft maßgeblich. Im Außenverhältnis bleibt zudem die Rechtsstellung der juristischen Person z. B. als geschäftsführende Gesellschafterin einer Personengesellschaft von einem internen Mitgliederwechsel unberührt. Die Trennung ist jedoch nur ein Prinzip, so dass sie nicht nur bei Missbräuchen, sondern auch zur besseren Verwirklichung eines Normzwecks im Einzelfall der Rechtsanwendung durchbrochen werden kann28. 25
Dazu näher Jung, Peter (Fn. 21), Art. 620 Rn. 235 ff. Siehe im schweizerischen Recht z. B. Art. 697 Abs. 2 S. 2, 697e Abs. 2 und 717 Abs. 1 OR; zum Gesellschaftsinteresse als Gegenstand von Abwägungen auch Giger, Gion, Corporate Governance als neues Element im schweizerischen Aktienrecht, Diss. Zürich 2003, S. 101 f.; vgl. zum japanischen Recht z. B. Art. 57 ZG und zum deutschen Recht Zöllner, Wolfgang, Schranken mitgliedschaftlicher Stimmrechtsmacht bei den privatrechtlichen Personenverbänden, München 1963, S. 18 ff. 27 Dazu näher Jung, Peter, in: Jung, Peter/Kunz, Peter V./Bärtschi, Harald, Gesellschaftsrecht, § 4 Rn. 27. 28 Dazu näher Jung, Peter (Fn. 21), Art. 620 Rn. 203 ff. 26
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2. Charakteristika der Geschäftsführungstätigkeit a) Höchstpersönliche Tätigkeit Geschäftsführungstätigkeiten zeichnen sich zunächst durch ihre besondere Personenbezogenheit aus. Der Geschäftsherr überträgt sie in aller Regel einer bestimmten Person, weil er diese z. B. aufgrund vorheriger Geschäfte bereits kennt oder diese ihm empfohlen wurde. So hat der Auftragnehmer im schweizerischen Recht einen Auftrag auch grundsätzlich persönlich auszuführen (Art. 398 Abs. 3 OR), was freilich auch bei natürlichen Personen nur die vollständige Substitution durch einen anderen und nicht auch die unterstützende Einschaltung von Erfüllungsgehilfen i.S.v. Art. 101 OR ausschließt29. In Personengesellschaften schließen sich die Gesellschafter aufgrund ihrer persönlichen Verbundenheit untereinander sowie in Kenntnis ihrer Stärken und Schwächen zusammen, was im deutschen und schweizerischen Recht zu sehr intensiven Treuepflichten und zum besonderen Haftungsmaßstab der diligentia quam in suis (§ 708 BGB bzw. Art. 538 Abs.1 OR) führt. Anders als bei einer natürlichen Person, der eine Geschäftsbesorgung höchstpersönlich übertragen werden kann, kommt dies bei einer juristischen Person von vornherein nur in Form einer rechtlichen Fiktion in Betracht. Die juristische Person muss bei der Wahrnehmung von Geschäftsführungsaufgaben zwingend durch ihre Organe vertreten werden, welche zudem in aller Regel Mitarbeiter und/oder Gesellschafter als Erfüllungsgehilfen einsetzen werden. Da diese Personen wechseln können, ohne dass dies aufgrund des Trennungsprinzips etwas an der formal höchstpersönlichen Aufgabenwahrnehmung durch die juristische Person ändern würde, wird die Übertragung höchstpersönlicher Geschäfte auf juristische Personen regelmäßig als problematisch angesehen. Das gilt besonders, wenn durch die Zulassung von juristischen Personen zu Exekutivorganfunktionen auch noch (ggf. mehrfach) gestufte Geschäftsbesorgungsverhältnisse möglich werden30. b) Verantwortliche Tätigkeit Geschäftsbesorgungen werden herkömmlich als Tätigkeiten höherer Art qualifiziert, weil sie dem regelmäßig vorgebildeten Geschäftsbesorger besondere Kenntnis29 Zur Abgrenzung zwischen unzulässiger Substitution und der zulässigen Einschaltung von Erfüllungsgehilfen Schaller, Jean-Marc, in: Honsell, Heinrich (Hg.), Kurzkommentar OR, Basel 2014, Art. 398 Rn. 17 ff. 30 Zur Problematik gestufter Gesellschaftsverhältnisse aufgrund der Zulassung von juristischen Personen zur Geschäftsführung von Gesellschaften von Steiger, Werner, Die Personengesellschaften, in: Schweizerisches Privatrecht, Band VIII/1 (Handelsrecht), Basel 1976, S. 479 (Personengesellschaften); Siegwart, Alfred, in: Zürcher Kommentar zum schweizerischen Zivilgesetzbuch, V. Band, Das Obligationenrecht, 4. Teil: Die Personengesellschaften, Art. 530 – 619, Zürich 1938, Art. 552, 553 Rn. 11 (Personengesellschaften) und Wernli, Martin/Rizzi, Marco A., in: Honsell, Heinrich et al. (Hg.), Basler Kommentar – Obligationenrecht II (Art. 530 – 964 OR), 4. Aufl., Basel 2012, Art. 707 Rn. 15 (Körperschaften); siehe ferner die Nachweise unter II. bei Fn. 35 ff.
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se, Erfahrungen und Fertigkeiten abverlangen. Zur eigenverantwortlichen Wahrnehmung seiner Aufgaben verfügt der Geschäftsbesorger zudem über einen erheblichen Entscheidungsspielraum. Selbst den vom Geschäftsherrn erteilten Weisungen hat er in dessen wohlverstandenem Interesse zu widersprechen und ggfls. zuwiderzuhandeln (vgl. auch Art. 397 Abs. 1 OR). Eine juristische Person verfügt zwar rechtlich aufgrund des Trennungsprinzips und infolge von Zurechnungen über einen eigenen Willen und ein eigenes Wissen (sog. Aktenwissen)31, wodurch sie zur eigenverantwortlichen Wahrnehmung von Geschäftsführungsaufgaben in der Lage ist. Das kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Wissen und Wollen einer juristischen Person allein von anderen Personen abhängig ist, die ihr Tun oder Unterlassen beeinflussen. Besonders augenfällig ist das bei einer konzernabhängigen juristischen Person, es gilt aber auch für die von einem Privatgesellschafter beherrschte Gesellschaft und die Publikumsgesellschaft. Bei der echten Publikumsgesellschaft, die dann allerdings in aller Regel managerkontrolliert sein wird32, ist es für den Geschäftsherrn sogar besonders misslich, dass er die Einflussfaktoren auf die Willensbildung von Seiten der Anteilseigner nicht oder nur schwer bestimmen bzw. einschätzen kann. Die Verantwortlichkeit hat zudem nicht nur bei der Wahrnehmung von Geschäftsführungsaufgaben einen haftungsrechtlichen Aspekt. Wer Geschäfte unsorgfältig oder treuwidrig ausführt, soll dafür mit dem ihm zugeordneten Vermögen haften (z. B. Art.398, 538, 754 ff. OR). Auch das ist aufgrund des Trennungsprinzips in formeller Hinsicht der Fall, wenn die beauftragte juristische Person mit dem ihr zugeordneten Gesellschafts-, Vereins- oder Stiftungsvermögen unbeschränkt haftet. Die unmittelbar für die juristische Person handelnden Exekutivorgane sind den Vertragspartnern der juristischen Person jedoch allenfalls aus Delikt und (gegebenenfalls nur indirekt) aufgrund besonderer gesellschaftsrechtlicher Haftungsnormen (z. B. Art. 754 ff. OR) verantwortlich. Insofern wird auch die grundsätzlich auf das Gesellschaftsvermögen beschränkte Haftung einer juristischen Person bisweilen als problematisch angesehen33. c) Vertrauensbezogene Tätigkeit Der Geschäftsherr bringt der mit einer Geschäftsbesorgung betrauten Person regelmäßig ein besonderes Vertrauen entgegen. Er räumt ihr Einfluss auf seine eigenen 31
Dazu näher Jung, Peter (Fn. 21), Art. 620 Rn. 112 ff. und 252 ff. Dazu näher Berle, Adolf A./Means, Gardiner C., The Modern Corporation and Private Property, 18. Aufl., New York 1956, S. 69 ff. und Pross, Helge, Manager und Aktionäre in Deutschland – Untersuchungen zum Verhältnis von Eigentum und Verfügungsmacht, Frankfurt/M. 1965, S. 102 ff. 33 Vgl. zum Postulat einer Korrespondenz von Herrschaft und Haftung Eucken, Walter, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, 6. Aufl., Tübingen 1990, S. 279 ff. und Müller-Erzbach, Rudolf, Das private Recht der Mitgliedschaft als Prüfstein eines kausalen Rechtsdenkens, Weimar 1948, S. 114 ff. 32
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Angelegenheiten und Vermögensverhältnisse ein und offenbart ihr unter Umständen Geheimnisse. Dieses besondere Vertrauen muss der Geschäftsherr bei einer juristischen Person deren Organisation und Finanzverfassung entgegenbringen, wobei er bei gestuften Gesellschaftsverhältnissen noch mindestens eine weitere Gesellschaft in den Blick nehmen muss. Befürchtet werden hier für den Fall der Zulassung juristischer Personen insbesondere die Umgehung von rechtlichen Anforderungen an die Gewähr ordnungsgemäßer Geschäftsführung sowie ungünstige Folgen für die finanzielle Seriosität und die Risikoaffinität durch eine Umgehung der persönlichen Haftung34.
III. Einzelne Geschäftsführungsfunktionen 1. Geschäftsführung in einer Personengesellschaft Im schweizerischen Personengesellschaftsrecht gilt wie im französischen Recht der Personenhandelsgesellschaften35 ein abgeschwächter Grundsatz der Selbstorganschaft36. Zwar sind wie im deutschen Recht37 alle persönlich und unbeschränkt haftenden Personengesellschafter bereits kraft Gesetzes als Folge ihrer Gesellschafterstellung zur Geschäftsführung berufen (Art. 535 Abs. 1 OR), ohne dass es hierzu wie im französischen Recht der société civile38 einer gesonderten Bestellung bedürfte. Andererseits können nach dem Wortlaut von Art. 535 Abs. 1 OR und der herrschenden Meinung39 im Gegensatz zum japanischen40, deutschen41 und österreichischen42 34 Siehe dazu nur Vonzun, Reto, Rechtsnatur und Haftung der Personengesellschaften, Diss. Basel 2000, Rn. 519 mit Hinweisen auf die Voten von August Egger und Alfred Wieland in den Protokollen der Expertenkommission von 1928; ferner Meier-Hayoz, Arthur/Forstmoser, Peter, Schweizerisches Gesellschaftsrecht, 11. Aufl., Bern 2012, § 13 Rn. 13 und von Steiger, Werner (Fn. 30), S. 479. 35 Art. L. 221-3 Abs. 1 C. com; anders allerdings für die société civile Art. 1846 C. civ. 36 Das Schweizer Recht begrenzt zwar den Organbegriff auf die Funktionseinheiten von juristischen Personen bzw. auf deren Mitglieder, spricht aber auch im Kontext der Personengesellschaften von einem Grundsatz der Selbstorganschaft. 37 § 709 Abs. 1 BGB und §§ 114 Abs. 1, 164 HGB. 38 Art. 1846 C. civ. 39 BGE 77 III 119 E. 1; Fellmann, Walter/Müller, Karin, in: Berner Kommentar zum schweizerischen Privatrecht, Band VI (Das Obligationenrecht), 8. Teilband (Die einfache Gesellschaft – Art. 530 – 544 OR), Bern 2006, Art. 535 Rn. 197 ff.; a.A. Handschin, Lukas/ Vonzun, Reto, in: Zürcher Kommentar zum schweizerischen Zivilrecht, Bd. V/4a (Art. 530 – 551 OR), Zürich 2009, Art. 534/535 Rn. 176 ff., die lediglich die Möglichkeit einer rechtsgeschäftlichen Geschäftsführungsbefugnis Dritter annehmen. 40 Vgl. Art. 590 Abs. 1 GesG; Menkhaus, Heinrich (Fn. 3) 245; Dernauer, Marc (Fn. 5), S. 131. 41 § 709 Abs. 1 BGB, §§ 114 Abs. 1, 161 Abs. 2 HGB; im deutschen Recht können Dritte lediglich als Geschäftsführer einer als Personengesellschafterin (insbesondere Komplementärin) fungierenden Körperschaft (insbesondere GmbH) bestellt werden.
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Recht auch Dritte auf gesellschaftsrechtlicher Grundlage als Geschäftsführer einer Personengesellschaft bestellt werden. Dies ist sogar unter Ausschluss sämtlicher Gesellschafter von der Geschäftsführung möglich43. Sind mehrere Geschäftsführer vorhanden, sind diese wie im japanischen Recht44 und zumeist auch in anderen Gesellschaftsrechten45 grundsätzlich einzeln zur Geschäftsführung und Vertretung befugt46. Hinsichtlich der Fähigkeit, geschäftsführende Gesellschafterin einer dem schweizerischen Recht unterstehenden Personengesellschaft sein zu können, bestehen im Vergleich zum japanischen47, deutschen48, französischen49, italienischen50 oder öster-
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§ 1185 f. ABGB, §§ 114 Abs. 1 und Abs. 4, 164 UGB. Siehe dazu nur Jung, Peter, in: Amstutz, Marc et al. (Hg.), Handkommentar zum Schweizer Privatrecht, 3. Aufl., Zürich 2016, Art. 535 OR Rn. 3. 44 Art. 590 Abs. 3 GesG. 45 Eine Ausnahme bildet etwa das Recht der deutschen Gesellschaft bürgerlichen Rechts (§§ 709 Abs. 1, 714 BGB). 46 Art. 535 Abs. 2 und Abs. 3, 543 Abs. 3, 557 Abs. 2, 563, 598 Abs. 2, 603 OR. 47 Seit Abschaffung des seit 1911 (Gesetz Nr. 73/1911) in Kraft befindlichen Art. 55 des japanischen Handelsgesetzes (Sho¯ho¯; Gesetz Nr. 48/1899 vom 9. März 1899) durch das Gesetz Nr. 86/2005 vom 29. Juni 2005 (GesG) können auch Handelsgesellschaften unbeschränkt haftende Gesellschafter einer offenen Handelsgesellschaft (go¯mei kaisha) oder Kommanditgesellschaft (go¯shi kaisha) werden (vgl. Art. 598 GesG), wobei dann die jeweils handelnden Organvertreter über das Handelsregister publik zu machen (Art. 912 Ziff. 7, Art. 913 Ziff. 9, Art. 914 Ziff. 8 GesG) und neben der juristischen Person verantwortlich (privatrechtlich Art. 598 Abs. 2 i.V.m. 597 GesG und strafrechtlich Art. 960 Abs. 1, 972, 975 GesG) sind (dazu Menkhaus, Heinrich [Fn. 3], S. 246); auch in der 2006 (Gesetz Nr. 40/2005 vom 6. Mai 2005) neu geschaffenen LLP können sich juristische Personen als geschäftsführende Gesellschafter beteiligen, wobei eine von diesen juristischen Personen zur Geschäftsführung bestellte natürliche Person Dritten gegenüber wie ein geschäftsführender Gesellschafter persönlich haftet (Art. 18 Abs. 1, 19 LLP-Gesetz). 48 Anerkennung der Kapitalgesellschaft & Co. seit RGZ 105, 101 und inzwischen auch implizit durch das Gesetz (u. a. §§ 125a Abs. 1 S. 2, 130a, 177a HGB); Mitgliedschaftsfähigkeit der Außengesellschaft bürgerlichen Rechts jedenfalls als Kommanditistin (BGHZ 148, 291; vgl. auch § 162 Abs. 1 S. 2 HGB) und nach zutreffender Ansicht auch als Komplementärin bzw. OHG-Gesellschafterin Hopt, Klaus J., in: Baumbach/Hopt, Handelsgesetzbuch, 36. Aufl., München 2014, § 105 Rn. 28 f.; Bergmann, Andreas, Die BGB-Gesellschaft als persönlich haftender Gesellschafter in oHG und KG, ZIP 2003, 2231 ff.; zur fehlenden generellen Kaufmannseigenschaft der unbeschränkt haftenden Gesellschafter, welche die Gesellschaft bürgerlichen Rechts automatisch zur OHG werden ließe, eingehend Jung, Peter, Der Unternehmergesellschafter als personaler Kern der rechtsfähigen Gesellschaft, Tübingen 2002, S. 278 ff. 49 Zur Mitgliedschaftsfähigkeit juristischer Personen in Personengesellschaften siehe nur Merle, Philippe/Fauchon, Anne, Sociétés commerciales, 19. Aufl., Paris 2015, Rn. 50 sowie eingehend und rechtsvergleichend Guineret-Brobbel Dorsman, Anne, La GmbH & Co.KG allemande et la „commandite à responsabilité limitée“ française – Une illustration de la liberté contractuelle en droit des sociétés?, Paris 1998; lediglich die société civile kann nicht Gesellschafterin einer Personenhandelsgesellschaft sein, weil diese Stellung (auch als Kommanditistin; str.) nach französischem Recht automatisch den Kaufmannsstatus und damit die Stellung als Handelsgesellschaft mit sich bringt (dazu Germain, Michel/Magnier, Véronique, 43
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reichischen51 Recht zwei Besonderheiten: Zum einen kommen nach Art. 98 Abs. 2 S. 1 KAG als Komplementärinnen einer Kommanditgesellschaft für kollektive Kapitalanlagen nur Aktiengesellschaften in Betracht52. Zum anderen können juristische Personen und mitgliedschaftsfähige Personengesamtheiten53 keine unbeschränkt haftenden Gesellschafter einer Personenhandelsgesellschaft (Art. 552 Abs. 1, 594 Abs. 2 OR) oder Kommanditaktiengesellschaft (Art. 764 I OR)54 sein. Sieht man vom Sonderfall des Art. 98 Abs. 2 S. 1 KAG ab, können juristische Personen daher im seit 1. Juli 1937 geltenden55 schweizerischen Recht nur als Kommanditärinnen Geschäftsführungsaufgaben wahrnehmen (Art. 594 Abs. 2 OR), sofern dies im Gesellschaftsvertrag entgegen der dispositiven Regelung von Art. 600 Abs. 1 OR so vorgesehen sein sollte. Auch in diesem Fall bleibt die juristische Person jedoch zwingend von der gesellschaftsrechtlich56 begründeten Vertretung der Kommanditgesellschaft ausgeschlossen. Traité de droit des affaires, Bd. 2 [Les sociétés commerciales], 20. Aufl., Paris 2011, Rn. 1177 und 1224). 50 Die einschlägigen Art. 2247 ff., 2251 ff., 2291 ff. und 2313 ff. itCC enthalten keine den Art. 552 Abs. 1 und 594 Abs. 2 OR vergleichbare Einschränkung; in der Rechtsprechung und Lehre ist die Frage gleichwohl umstritten (siehe dazu näher m.w.N. Buonocore, Vincenzo/ Castellano, Gaetano/Costi, Renzo, Società di persone, Mailand 1978, S. 217 ff.). 51 Zur in Österreich unbestrittenen Mitgliedschaftsfähigkeit juristischer Personen und rechtlich verselbständigter Personengesamtheiten siehe nur Fritz, Christian, Gesellschaftsund Unternehmensformen in Österreich, 3. Aufl., Wien 2007, Rn. 904 f. 52 Dazu Kunz, Peter V., in: Jung, Peter/Kunz, Peter V./Bärtschi, Harald, Gesellschaftsrecht, § 15 Rn. 39. 53 Hierzu zählt neben den drei Personenhandelsgesellschaften des Schweizer Rechts (KlG, KmG, KmGK) auch die Stockwerkeigentümergemeinschaft (Art. 712 l OR). 54 Zur diesbezüglichen h.M. siehe Ruedin, Roland, Droit des sociétés, 2. Aufl., Bern 2007, Rn. 415 (unter Hinweis auf Art. 764 Abs. 1 i.V.m. Art. 552 Abs. 1 OR) und Reinhardt, Christoph, Die Kommanditaktiengesellschaft im schweizerischen Gesellschaftsrecht, Zürich 1971, S. 44 (Hinweis auf Art. 552 Abs. 1 und 594 Abs. 2 OR); für die Möglichkeit der Zulassung einer juristischen Person als Komplementärin einer Kommanditaktiengesellschaft aus Gründen der Gestaltungsfreiheit hingegen Eilentrop, Bettina, Die Kommanditaktiengesellschaft – Eine rechtsvergleichende Betrachtung insbesondere der Exekutiv- und der Aufsichtsfunktionen, Zürich 1988, S. 203 und 208; siehe dazu eingehend Jung, Peter, Die einfache Gesellschaft als Betreiberin eines Kaufmännischen Gewerbes, in: Bohnet, François/Wessner, Pierre (Hg.), Mélanges en l’honneur de Roland Ruedin, Basel 2006, S. 5 ff. 55 Unter dem alten OR (siehe dazu den Überblick bei Siegwart, Alfred (Fn. 30), Art. 552, 553 Rn. 11 m.w.N.; näher Schaefer, Alfred, Die Aktiengesellschaft als Mitglied und als Organ von Handelsgesellschaften, Diss. Zürich 1930 und Stiner, Franz, Firmen als Mitglieder einer Kollektiv- oder Kommanditgesellschaft, Diss. Bern 1933) sowie im Vorfeld der Revision von 1936 (siehe dazu den Überblick bei Hartmann, Wilhelm, Berner Kommentar zum schweizerischen Zivilgesetzbuch, Band VII, Das Obligationenrecht, 1. Abteilung, Die Kollektiv- und Kommanditgesellschaft, Art. 552 – 619, Bern 1943, Art. 552 Rn. 24 m.w.N.) war die Zulassung von Personenverbänden als unbeschränkt haftende Gesellschafter umstritten. Der Ständerat stimmte letztlich dem vom Nationalrat befürworteten Verbot zu (siehe dazu StenBull StR 1935, 79 sowie StenBull StR 1931, 152 und StenBull NR 1934, 229). 56 Zur rechtsgeschäftlich durch Vollmacht (vgl. Art. 33 Abs. 2 OR) begründeten Vertretungsmacht siehe noch unter II.3. bei Fn. 117 ff.
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In einer einfachen Gesellschaft sind juristische Personen hingegen generell der Mitgliedschaft und damit auch der Geschäftsführung (Art. 535 OR) unter Einschluss der gesellschaftsrechtlich begründeten Vertretung (Art. 543 OR) fähig57. Personengesellschaften, die derartige Gesellschafter aufweisen und ein kaufmännisches Gewerbe betreiben, werden nach herrschender Meinung nicht als fehlerhafte Personenhandelsgesellschaften behandelt, sondern nach Art. 530 Abs. 2 OR als sog. kaufmännische einfache Gesellschaften geduldet58, wobei auf diese Gesellschaften dann doch zumindest im Außenverhältnis zum Schutz Dritter die handelsrechtlichen Sonderregelungen (vereinzelt) analoge Anwendung finden59, weil das Recht der einfachen Gesellschaft eben nicht auf den Betrieb kaufmännischer Gewerbe zugeschnitten ist60. Wegen der fehlenden rechtlichen Verselbständigung der einfachen Gesellschaft bereitet dabei die Anwendung der handelsrechtlichen Vorschriften erhebliche Schwierigkeiten. So ging das Bundesgericht etwa in einer Entscheidung von einer Pflicht zur Eintragung der Einzelfirmen der Gesellschafter in das Handelsregister aus61, was auch im Schweizer Recht einen Verstoß gegen den Grundsatz der Firmeneinheit darstellt, wonach für ein kaufmännisches Unternehmen nur eine einzige Firma geführt werden kann. Die Eintragung der Gesellschaft unter dem von den Gesellschaftern beim Betrieb des kaufmännischen Unternehmens bereits gemeinsam verwendeten bzw. zu schaffenden Namen wäre daher vorzuziehen62. Auch hinsichtlich einer wünschenswerten Rechnungslegungspflicht derartiger Gesellschaften entsteht das nur durch eine analoge Anwendung von Art. 562 OR (Rechts- und Verpflichtungsfähigkeit der Kollektivgesellschaft) zu lösende Problem, dass weder die einfache Gesellschaft noch das von ihr betriebene Handelsgewerbe als Zuordnungssubjekt einer solchen Pflicht zur Verfügung stehen63. Nach dem Vorbild des japanischen Rechts sollte auch der Schweizer Gesetzgeber das Verbot der Art. 552 Abs. 1 und 594 Abs. 2 OR de lege ferenda abschaffen. Das Verbot bildet eine Ausnahme vom Gleichstellungsprinzip, die nicht überzeugend gerechtfertigt werden kann und zudem mit der von der Praxis gewünschten Anerken57 Siehe zur Mitgliedschaft von (rechtsfähigen) Personengesamtheiten in einfachen Gesellschaften nur Ruedin, Roland (Fn. 54), Rn. 428 f. und Vonzun, Reto (Fn. 34), Rn. 505. 58 Siehe nur BGE 79 I 179 E. 1 (insoweit unveröffentlicht) und BGE 84 II 381 sowie Gauch, Peter, Überkommene und andere Gedanken zu Art. 934 OR, SAG 1978, 77, 89 und Meier-Hayoz, Arthur/Forstmoser, Peter (Fn. 34), § 13 Rn. 13, § 4 Rn. 53 ff. und § 12 Rn. 30. 59 Zur analogen Anwendung des Außenrechts der Kollektivgesellschaft siehe Handschin, Lukas, Kaufmännische einfache Gesellschaften, in: Jörg, Florian S./Arter, Oliver (Hg.), Entwicklungen im Gesellschaftsrecht I, Bern 2005, S. 40; zur Handelsregistereintragung BGE 79 I 179 E. 2; gegen die analoge Anwendung von Art. 567 Abs. 3 OR allerdings BGE 84 II 381; für eine analoge Anwendung des gesamten Kollektivgesellschaftsrechts sogar Vonzun, Reto (Fn. 34), Rn. 574 ff. und Handschin, Lukas/Vonzun, Reto (Fn. 39), Art. 530 Rn. 86 ff. 60 Eingehend dazu und insgesamt krit. Jung, Peter (Fn. 54), S. 3 ff. 61 BGE 79 I 179 E.2. 62 Für eine Eintragung des „Geschäfts“ auch Gauch, Peter (Fn. 58), S. 89 f. 63 Für eine Rechnungslegungspflicht des „Gewerbebetriebs“ in diesen Fällen Meier-Hayoz, Arthur/Forstmoser, Peter (Fn. 34), § 12 Rn. 30.
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nung der Arbeitsgemeinschaften/Joint Ventures zwischen juristischen Personen (inkl. sonstiger rechtsfähiger Personenverbindungen) als sog. kaufmännische einfache Gesellschaften erhebliche Rechtsanwendungsprobleme bereitet64. Die vom Gesetzgeber offenbar befürchteten Probleme65 mit gestuften Gesellschaftsverhältnissen bei der Firmenbildung, der Vertretung und im Konkurs bestehen entweder nicht mehr66, existieren auch in anderem Zusammenhang67 oder sind, wie auch die Erfahrungen mit entsprechend gestuften Gesellschaftsverhältnissen in der Zeit vor 193668 zeigen, lösbar69. Wie im japanischen Recht70 könnte ein gestuftes Gesellschaftsverhältnis auch mit der handelsrechtlichen Publizität in Einklang gebracht werden. Selbst die Aktionäre und beschränkt haftenden Kommanditaktionäre können inzwischen nach schweizerischem Kapitalmarkt- und Aktienrecht kaum noch unbekannt bleiben71. Insofern ist es verständlich, dass sich der Ständerat bereits 1935 von den Überlegungen des Nationalrats „nicht restlos überzeugt“ zeigte72.
64 Dazu eingehend Jung, Peter (Fn. 54), S. 3 ff.; krit. auch Baudenbacher, Carl, in: Honsell, Heinrich et al. (Hg.), Basler Kommentar – Obligationenrecht II (Art. 530 – 964 OR), 4. Aufl., Basel 2012, Art. 552 Rn. 5. 65 Vgl. dazu von Steiger, Werner (Fn. 30), S. 479; Siegwart, Alfred (Fn. 30), Art. 552, 553 Rn. 11. 66 Seit Streichung der Art. 947, 948 OR mit Wirkung zum 1. 7. 2016 gilt dies für die angeführten firmenrechtlichen Probleme, da nunmehr auch Personengesellschaftsfirmen (unter Beachtung des allgemeinen Täuschungs- und Irreführungsverbots) frei gebildet und fortgeführt werden können. 67 Das gilt insbesondere für die Umgehung der persönlichen unbeschränkten Haftung natürlicher Personen durch die Zwischenschaltung juristischer Mitgliedschaftsgesellschaften, die so auch bei der einfachen Gesellschaft möglich ist und im Vergleich zur Kommanditgesellschaft auch nur dann eine neue Qualität bekäme, wenn sämtliche Kollektivgesellschafter bzw. Komplementäre juristische Personen wären. 68 Siehe dazu Oderbolz, Gotthold, Die Kollektivgesellschaft nach dem Hoffmannschen Entwurfe zu einem Bundesgesetz betreffend Revision der Titel XXIV-XXXIII des O.R., Bern 1927, S. 29 ff. 69 So wären etwa die Vertretungsverhältnisse durch die gesetzliche Regelung einschließlich der handelsrechtlichen Verkehrsschutzbestimmungen eindeutig geklärt. Die Mitgliedsgesellschaft wäre nach Art. 563 f. und 603 OR zur Vertretung der Hauptgesellschaft berechtigt, wobei sie ihrerseits durch ihre zur Vertretung befugten Personen vertreten werden würde. Möchten die Gesellschafter der unternehmenstragenden Hauptgesellschaft dies verhindern, können sie die Mitgliedsgesellschaft von der Vertretung ausschließen, sofern diese nicht die einzige zur Vertretung befugte Gesellschafterin ist. 70 Nach Art. 912 Ziff. 7, 913 Ziff. 9 und 914 Ziff. 8 GesG sind die für die juristische Person in der Zielgesellschaft handelnden Personen unmittelbar aus dem Handelsregistereintrag der Zielgesellschaft ersichtlich. 71 Siehe dazu im Überblick Jung, Peter (Fn. 21), Art. 620 Rn. 47 ff. sowie eingehend Spoerlé, Philip, Die Inhaberaktie – Ausgewählte Aspekte unter Berücksichtigung der GAFIGesetzesrevision, Diss. Zürich 2015, Rn. 688 ff. 72 Siehe StenBull StR 1935, 79.
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Nicht ganz von der Hand zu weisen ist hingegen der durch die Beteiligung juristischer Personen drohende Verlust an persönlicher Prägung der betreffenden Personenhandelsgesellschaft73, der sich allerdings auch schon de lege lata in einer einfachen Gesellschaft oder (in der Person der Kommanditäre) in einer Kommanditgesellschaft bemerkbar machen kann. Auch in der regelmäßig personalistisch geprägten schweizerischen GmbH können juristische Personen und Personenhandelsgesellschaften als Gesellschafter fungieren (Art. 772 Abs. 1 OR). Selbst die Publikumsaktiengesellschaft ist als Mitglied einer Personengesellschaft eine einzige Person und sprengt damit nicht die Überschaubarkeit des Gesellschafterkreises. Ist eine Personengesamtheit ohne Rechtspersönlichkeit Gesellschafterin, dann ist ihr die Mitgliedschaft als Gesamthand und nicht den einzelnen Gesellschaftern in mehrfacher Zuständigkeit zugeordnet. Auch juristische Personen und Personenhandelsgesellschaften können als Gesellschafter einer Personenhandelsgesellschaft einer mitgliedschaftlichen Treuepflicht unterliegen, wie dies auch im japanischen Recht74 für möglich gehalten wird. Das besondere Vertrauen, das ein Vertragspartner gegebenenfalls der Geschäftsführung und Haftung einer bestimmten natürlichen Person entgegenbringt, kann er auch hinsichtlich einer bestimmten juristischen Person oder Personenhandelsgesellschaft und ihren Geschäftsführern entwickeln. Sollte dies im konkreten Fall aufgrund des gestuften Gesellschaftsverhältnisses schwerer möglich sein, so haben sich die anderen Gesellschafter bei Gründung bzw. Aufnahme jedenfalls hierauf eingelassen75. 2. Geschäftsführung in einer Körperschaft a) Prinzipieller Ausschluss von der formellen Organstellung Eine juristische Person kann nach schweizerischem Recht wie auch nach japanischem76 und deutschem77 Recht kein formelles Mitglied von Exekutivorganen einer werbenden Körperschaft sein. So ist ihr die formelle Stellung als Verwaltungsrätin oder Direktorin einer Aktiengesellschaft (Art. 707 Abs. 3 OR)78, als persönlich haftende Gesellschafterin einer Kommanditaktiengesellschaft (Art. 764 Abs. 1 i.V.m. Art. 552 Abs. 1 bzw. Art. 764 Abs. 2 i.V.m. Art. 707 Abs. 3 OR)79, als formelle Ge73 Dazu auch Meier-Hayoz, Arthur/Forstmoser, Peter (Fn. 34), § 13 Rn. 13; von Steiger, Werner (Fn. 30), S. 479. 74 Vgl. zur Treuepflicht (chu¯jitsu gimu) von Gesellschaftern einer Anteilsgesellschaft Art. 593 Abs. 2 GesG, welcher seit Aufhebung von Art. 55 HG auch für juristische Personen gilt. 75 So zutreffend auch Vonzun, Reto (Fn. 34), Rn. 530. 76 Art. 331 Abs. 1 Ziff 1 GesG. 77 § 76 Abs. 3 S. 1 AktG, § 6 Abs. 2 S. 1 GmbHG, § 9 Abs. 2 S. 1 GenG. 78 Dazu bereits BGE 58 I 378 E. 3; aktuell etwa Wyttenbach, Michael, Formelle, materielle und faktische Organe – einheitlicher Organbegriff?, Diss. Basel 2012, S. 90 ff. und 175 ff. 79 Dazu näher Jung, Peter (Fn. 54), S. 5 ff.
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schäftsführerin einer GmbH (Art. 809 Abs. 2 OR)80 und als Verwaltungsmitglied einer Genossenschaft (Art. 894 Abs. 2 OR) verwehrt (vgl. auch noch Art. 120 S. 1 HRegV). Das gilt trotz Fehlens einer ausdrücklichen gesetzlichen Regelung auch für den Verein81. Eine juristische Person ist lediglich – ähnlich wie im japanischen Recht82 – dazu in der Lage, als Revisionsstelle (Art. 730 Abs. 2 OR), Liquidatorin83 und außeramtliche Konkursverwaltung84 zu fungieren (Art. 120 S. 2 HRegV) sowie Vermögensverwaltungsaufgaben in einer börsenkotierten Aktiengesellschaft wahrzunehmen (Art. 6 Abs. 2 VegüV). Auch das Verbot einer Exekutivorganstellung von juristischen Personen kann de lege ferenda in Frage gestellt werden85. So kann man zunächst auf die grundsätzliche Gleichberechtigung juristischer Personen86 sowie die Zulassung von juristischen Per-
80 Der Ausschluss von der Exekutivorganstellung gilt trotz des vermeintlich einschränkenden Wortlauts („eingesetzt“) von Art. 809 Abs. 2 S. 1 auch für juristische Personen, die aufgrund ihrer Gesellschafterstellung in der GmbH als geborene Geschäftsführer zu betrachten sind (a.A. für die in Selbstorganschaft geführte GmbH Handschin, Lukas/Truniger, Christof, Die neue GmbH, 2. Aufl., Zürich 2006, § 33 Rn. 24 ff.), da die Ratio der Vorschrift, wonach nur bei natürlichen Personen eine persönlich zu verantwortende Mitwirkung an der Willensbildung der Gesellschaft gewährleistet sei (Botschaft GmbH-Revision, BBl. 2002, 3148, 3212), gleichermaßen für geborene wie gekorene Geschäftsführer zutrifft, da eine systematische Parallelität zu Art. 707 Abs. 3 OR besteht (dazu auch die Botschaft a.a.O.) und Art. 809 Abs. 2 S. 2 OR davon spricht, dass die als Gesellschafterin beteiligte juristischen Person „an ihrer Stelle“ (gemeint ist die Substitution in der unmittelbaren Organstellung) eine natürliche Person als Geschäftsführerin zu bezeichnen habe. 81 Heini, Anton/Scherrer, Urs, in: Honsell, Heinrich et al. (Hg.), Basler Kommentar – Zivilgesetzbuch I (Art. 1 – 456 ZGB), 5. Aufl., Basel 2014, Art. 69 Rn. 7 ff.; Riemer, Hans Michael (Fn. 14), Art. 69 Rn. 14 f.; Niggli, Christina, in: Amstutz, Marc et al. (Hg.), Handkommentar zum Schweizer Privatrecht, 3. Aufl., Zürich 2016, Art. 69 ZGB Rn. 7. 82 Zur möglichen Funktion einer juristischen Person als Liquidatorin einer Anteilsgesellschaft (mochibun kaisha), d. h. einer OHG/KlG, KG/KmG oder LLC (Art. 575 Abs. 1 GesG), siehe Art. 654, 928 Abs. 2 Ziff. 3 GesG; zur möglichen Funktion als Rechnungsverantwortlicher (kaikei san’yo) vgl. Art. 2 Ziff. 16, 335 Abs. 2, 400 Abs. 4 und 478 Abs. 5 GesG sowie zur Funktion als Aufseher Art. 527 Abs. 2 GesG. 83 BGE 62 II 284 E. 1; BGE 115 Ib 274 E. 19 a); Böckli, Peter, Schweizer Aktienrecht, 4. Aufl., Zürich 2009, § 17 Rn. 31; Stäubli, Christoph, in: Honsell, Heinrich et al. (Hg.), Basler Kommentar – Obligationenrecht II (Art. 530 – 964 OR), 4. Aufl., Basel 2012, Art. 740 Rn. 3. 84 BGE 101 III 43 E. 2 ff. 85 Siehe etwa Vogel, Alexander, Die Haftung der Muttergesellschaft als materielles, faktisches oder kundgegebenes Organ der Tochtergesellschaft, Diss. St. Gallen, Bern 1997, S. 347 f.; zu einer frühen Kritik Kolb, Alfred, Die rechtliche Stellung der Mitglieder der Verwaltung nach schweizerischem Aktienrecht, Diss. Zürich, Andelfingen 1935, S. 29 ff.; für den Verein bereits de lege lata eine Bestellung juristischer Personen befürwortend Riemer, Hans Michael (Fn. 14), Art. 69 ZGB Rn. 14 f. 86 So im japanischen Recht nach Art. 43 GesG und im schweizerischen Recht nach Art. 53 ZGB.
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sonen zur Geschäftsführung in anderen Gesellschaften87 und zu anderen Organfunktionen88 verweisen. Bezug nehmen kann man im schweizerischen Recht auch auf die Zulässigkeit der Wahrnehmung von Vermögensverwaltungsaufgaben (Art. 6 Abs. 2 VegüV) und der faktischen Organschaft durch juristische Personen89. Außerdem kennen auch ausländische90 und supranationale91 Kapitalgesellschaftsrechte die Exekutivorganschaft juristischer Personen. Genauer geklärt werden müsste dann aber, inwieweit die vom Schweizer Gesetzgeber genannte Rechtfertigung des Verbots mit einer Sicherstellung der unmittelbaren persönlichen Verantwortlichkeit der Geschäftsführer im Zivil-, Verwaltungs- und Strafrecht heute noch trägt. Zu klären wäre insoweit insbesondere die Bedeutung der subsidiären strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Unternehmensträgers nach Art. 102 Abs. 1 StGB92. Unter Umständen könnte auch nach japanischem Vorbild (Art. 975 GesG) eine gesonderte Norm zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit der juristischen Person für die Handlungen ihrer Organe und Hilfspersonen, die neben deren eigene Strafbarkeit93 treten würde (sog. parallele Bestrafung94), geschaffen werden, wobei die Vor- und Nachteile einer solchen Regelung an dieser Stelle jedoch nicht erörtert werden können. Problematisch wäre es zudem, dass die Personen, welche die Geschäftsführung dann tatsächlich für die juristische Person wahrnähmen, aus dem Registerauszug der bestellenden Gesellschaft nicht mehr ersichtlich wären. Dieses Problem ließe sich freilich 87 So im japanischen Recht nach Aufhebung von Art. 55 HG in allen Anteilsgesellschaften (auch als Liquidatorin; vgl. Art. 654 GesG), im schweizerischen Recht in der einfachen Gesellschaft, der Kommanditgesellschaft (dort allerdings unter Ausschluss der nach Art. 603 OR zwingend den Komplementären zugewiesenen Vertretung) und in der Kommanditgesellschaft für kollektive Kapitalanlagen (dort nach Art. 98 Abs. 2 S. 1 KAG beschränkt auf Aktiengesellschaften und sogar unter zwingendem Ausschluss von natürlichen Personen als Komplementärinnen) sowie im deutschen Recht in allen Personengesellschaften (vgl. u. a. §§ 125a Abs. 1 S. 2, 130a, 177a HGB). 88 Im japanischen Recht können juristische Personen nach Art. 2 Ziff. 16, 335 Abs. 2, 400 Abs. 4 und 478 Abs. 5 GesG die Funktion eines Rechnungslegungsberaters sowie nach Art. 527 Abs. 2 GesG diejenige eines Aufsehers wahrnehmen. Im schweizerischen Recht können juristische Personen zur Revisionsstelle (Art. 730 Abs. 2 OR) und Liquidatorin (BGE 62 II 284 E. 1) bestellt werden. 89 Siehe dazu sogleich im Text unter II.2.b) bei Fn. 95 ff. 90 So etwa das französische Recht (Art. L. 225 – 20 C. com.) oder das englische Recht (In Re Bulawayo Market and Offices Company Ltd [1907] 2 Ch. 458), wobei nach Part 10 Ch. 1 Sect. 155 des Companies Act 2006 c. 46 mindestens ein director eine natürliche Person zu sein hat. 91 Nach Art. 47 Abs. 1 SE-VO EG Nr. 2157/2001 besteht bei der Societas Europaea eine entsprechende statutarische Option im Einvernehmen mit dem Sitzstaatsrecht. 92 Zu dieser seit 1. Oktober 2003 (zunächst als Art. 100quater StGB) bestehenden Regelung näher Heine, Günter, Das kommende Unternehmensstrafrecht (Art. 100quater f.) – Entwicklung und Grundproblematik, ZStrR 2003, 24 ff.; Forster, Matthias, Die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Unternehmens nach Art. 102 StGB, Diss. Bern 2006. 93 Zu dieser siehe Art. 960 Abs. 1 Ziff. 3 und 972 GesG. 94 Zu dieser jedoch krit. (vor Einführung des Art. 975 GesG) Yamanaka, Keiichi, Parallele Bestrafung von juristischen und natürlichen Personen, ZJapanR 14 (2002), 191 ff.
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durch die Schaffung einer entsprechenden zusätzlichen Publizitätspflicht, wie sie im japanischen Personenhandelsgesellschaftsrecht bereits besteht95, beseitigen. b) Möglichkeit der faktischen Exekutivorganstellung Generell möglich ist jedoch eine sog. faktische Exekutivorganstellung von juristischen Personen. Als faktische Organe werden im schweizerischen wie auch im deutschen96 Körperschaftsrecht natürliche oder juristische Personen bezeichnet, die – ohne hierzu wirksam bestellt worden zu sein – effektiv, wiederholt und in entscheidender Weise an der Bildung und Äußerung des Willens einer juristischen Person teilhaben, indem sie Leitungsorganen vorbehaltene Entscheidungen treffen oder die eigentliche Geschäftsführung besorgen97. Eine nur einmalige oder sehr seltene Einmischung in die Geschäftsführung genügt daher nicht. Es muss sich zudem um ein Eingreifen in bedeutende, den Leitungsorganmitgliedern zukommende Aufgaben wie insbesondere Leitungsentscheidungen oder den Abschluss wichtiger Geschäfte handeln98. Das Gesetz verwendet den Begriff des faktischen Organs nicht und enthält auch keine Definition der faktischen Organstellung, erkennt die Rechtsfigur aber immerhin im Verantwortlichkeitsrecht dadurch an, dass es in Art. 754 Abs. 1 OR bewusst99 von den „mit der Geschäftsführung … befassten Personen“ spricht (ähnlich zudem Art. 916 OR). Als faktische Organe kommen zunächst die zwar formell bestellten, aber aufgrund einer nichtigen bzw. wirksam angefochtenen oder nicht wirksam angenommenen Wahl unwirksam bestellten Exekutivorganmitglieder in Betracht. So zählt etwa der Direktor, der vom Verwaltungsrat ohne ein gültiges Organisationsreglement bestellt wurde, auch dann zu den faktischen Organen, wenn er in das Handelsregister eingetragen worden sein sollte, da die Bestellung offensichtlich den Grundprinzipien der Aktiengesellschaft nach Art. 714 i.V.m. Art. 706b Nr. 3 OR widerspricht und die Eintragung keine konstitutive Wirkung entfaltet. Darüber hinaus geht es um (zumeist maßgeblich beteiligte) Gesellschafter oder (zumeist mit der Gesellschaft z. B. als Kreditgeberin eng verbundene) Dritte, die sich zur Wahrung ihrer Interessen in nennenswerter Form in die organschaftliche Geschäftsführung einmischen und mit an den „Schalthebeln des Unternehmens“100 sitzen. Nach der Rechtsprechung können unter den genannten Voraussetzungen, d. h. nicht per se und teilweise nur ausnahms95
Art. 912 Ziff. 7, 913 Ziff. 9 und 914 Ziff. 8 GesG. Siehe nur Schmidt, Karsten, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl., Köln 2002, § 14 III 4. 97 Vgl. dazu (mit jeweils leicht unterschiedlichen Formulierungen) etwa BGE 124 III 418, E. 1b; BGE 128 III 29 E. 3a; BGE 132 III 523 E. 4.5; ferner Wyttenbach, Michael (Fn. 78), S. 239 ff.; Vogel, Alexander (Fn. 85), S. 301. 98 Siehe nur BGE 61 II 339 E. 2; BGE 122 III 225 E. 4 b); BGE 128 III 29 E. 3 c); Wyttenbach, Michael (Fn. 78), S. 240. 99 Botschaft über die Revision des Aktienrechts vom 23. Februar 1983, BBl. 1983, 745, 935. 100 BGE 61 II 339 E. 2 („personnes qui tiennent les leviers de commande de l’entreprise“). 96
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weise, zu den faktischen Organen gezählt werden: beherrschende (Allein-)Gesellschafter101 wie insbesondere auch eine Konzernmuttergesellschaft102, von der Konzernmuttergesellschaft entsandte Organmitglieder der Tochtergesellschaft103, von neben- oder untergeordneten Konzerngesellschaften entsandte Organmitglieder104, Sekretäre der Gesellschaft105, Prokuristen106, Bankdirektoren107, Versicherungsdirektoren108 und der verantwortliche Redaktor einer Zeitung109. Hilfspersonen und besondere Vertreter gehören hingegen in aller Regel nicht zu den faktischen Organen. Die faktische Organschaft ist ein Rechtsinstitut, welches aus Gründen des Umgehungsschutzes, des Durchgriffs und der Einzelfallgerechtigkeit primär im Haftungsrecht entwickelt wurde110. Das Stellvertretungsrecht kennt zudem die auch für faktische Organe maßgeblichen Figuren der Duldungs- und Anscheinsvollmacht111. Aus Sicht der juristischen Person handelt es sich jeweils um an bestimmte Voraussetzungen geknüpfte und auf bestimmte Teilbereiche beschränkte Zurechnungen. Eine generelle Gleichstellung von faktischer und formeller Organschaft, welche auch das bloß faktische Organ nach Art. 55 ZGB generell an die Stelle der juristischen Person treten ließe und etwa auch zu einer Zurechnung von Wissen112, Befangenheit113 oder persönlicher Anwesenheit114 führen würde, gibt es im schweizerischen Recht jedoch 101
BGE 102 II 353 E. 3a. BGE 117 II 570 E. 4 a) (obiter); BGE 128 III E. 3; BGE 132 III 523 E. 4.5; BGer 4 A_306/2009 E. 7.1.1 und 7.2.2. (in casu verneint); Vogel, Alexander (Fn. 85), S. 205 ff., 301 ff. und 345 ff.; Hofstetter, Karl, Sachgerechte Haftungsregeln für Multinationale Konzerne – Zur zivilrechtlichen Verantwortlichkeit von Muttergesellschaften im Kontext internationaler Märkte, Habil. Zürich, Tübingen 1995, S.194 f. und 197 ff. 103 BGE 128 III 29 E. 3 c) (in casu verneint); BGer 4 A_306/2009 E. 7.1.2 (in casu vereint). 104 BGE 117 II 570 E. 4 (in casu verneint). 105 BGE 101 Ib 422 E. 5 a). 106 Ein Prokurist gehört allerdings nur in Ausnahmefällen zu den faktischen Organen; bejaht in BGE 117 II 432 E. 2. 107 BGE 65 II 2 E. 3; BGE 68 II 91 E. 3; BGE 89 II 239 E. 8 (Vizedirektor); BGE 104 II 190 E. 3 b); BGer SJ 1988, 337, 341 (sous-directeur). 108 BGE 61 II 339 E. 2. 109 BGE 72 II 65. 110 BGE 107 II 349 E. 5b; BGE 117 II 570 E. 3; BGE 119 II 255 E. 4; BGE 128 III 29 E. 3 a); BGE 128 III 92 E. 3 a); BGE 136 III 14 E. 2.4. 111 Vgl. für eine juristische Person des öffentlichen Rechts BGE 124 III 418 E. 1 b), 1 c); generell zu den Vollmachten kraft Vertrauensschutzes Jung, Peter, in: Honsell, Heinrich (Hg.), Kurzkommentar OR, Basel 2014, Art. 33 Rn. 14 f. 112 Zur Wissenszurechnung nach der sog. Organtheorie (auch Theorie der absoluten Wissenszurechnung) Jung, Peter (Fn. 21), Art. 620 Rn. 253 m.w.N. 113 So etwa im Zusammenhang mit Regelungen über die Vernehmung von Zeugen (z. B. Art. 159 ZPO-CH) oder den Ausstand von Gerichtspersonen (Art. 34 Abs. 1 BGG und Art. 47 Abs. 1 ZPO-CH). 114 So etwa im Zusammenhang mit prozessualen Regelungen über das persönliche Erscheinen vor Gericht (z. B. Art. 68 Abs. 4, 204 ZPO-CH) oder die qualifizierte Zustellung (z. B. Art. 138 ZPO-CH). 102
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nicht. So hat es das Bundesgericht kürzlich etwa abgelehnt, das zivilprozessual erforderliche persönliche Erscheinen einer juristischen Person anzunehmen, weil die juristische Person im Schlichtungsverfahren nur durch ein faktisches Organ vertreten worden sei115. Eine umfassende Gleichstellung der faktischen Exekutivorganmitgliedschaft, die sich nicht allein auf die Beteiligten auswirken würde, erscheint auch nicht gerechtfertigt116. Das faktische Organ wird unter Missachtung der vielfach zwingenden organisationsrechtlichen Kompetenz- und Verfahrensvorschriften tätig. Möglicherweise wird das entsprechende Verhalten von den formell zuständigen Organmitgliedern als den organisationsrechtlich berufenen Vertretern der juristischen Person nur unfreiwillig oder sogar gar nicht geduldet. Mit einer generellen Gleichstellung von faktischen und formellen Organen würde man zudem einer Missachtung der organisationsrechtlichen Vorschriften und der Regelungen zur Handelsregisterpublizität Vorschub leisten, wofür sowohl auf Seiten der juristischen Person wie auf Seiten potentieller Organmitglieder ein Interesse bestehen kann. Gerade wenn es um die Sanktionierung informeller Strukturen geht, kommt dem Zivilprozess- und dem Registerrecht eine für die gesamte Rechtsordnung wichtige Pionierfunktion zu. 3. Stellung als Handlungsbevollmächtigte Als Prokuristen können im schweizerischen wie auch etwa im deutschen117 Recht nach h.M. nur natürliche Personen bestellt werden (vgl. auch Art. 120 HRegV). Dies ergibt sich zwar allenfalls indirekt aus dem Gesetz (Art. 458 Abs. 1 OR: Zeichnung mit „per procura“) und könnte de lege ferenda auch anders gelöst werden, doch hatte der Gesetzgeber bei der Schaffung der Regelungen über die Prokura offenbar eine natürliche Vertrauensperson des Prinzipals („alter ego“) vor Augen, der die Prokura höchstpersönlich118 übertragen wird119. 115
BGE 141 III 159 E. 2. Wie hier Wyttenbach, Michael (Fn. 78), S. 267 ff.; a.A. KGer BL vom 15. Juli 2014 (400 14 78) E. 2.2 als Vorinstanz zu BGE 141 III 159 und Gehriger, Pierre-Olivier, Faktische Organe im Gesellschaftsrecht – Unter Berücksichtigung der strafrechtlichen Folgen, Diss. St. Gallen, Zürich 1978, S. 12 und 21; skeptisch und jedenfalls für Art. 204 ZPO eine Gleichstellung verneinend BGE 141 III 159 E. 2. 117 Siehe dazu nur Schmidt, Karsten, Handelsrecht (Unternehmensrecht I), 6. Aufl., Köln 2014, § 16 Rn. 17 und Canaris, Claus-Wilhelm, Handelsrecht, 24. Aufl., München 2006, § 12 Rn. 6; a.A. Walchshöfer, Alfred, Die Erteilung der Prokura und ihre Eintragung in das Handelsregister, Rpfleger 1975, 381, 382. 118 Vgl. zur Unübertragbarkeit der Prokura nach deutschem Recht auch ausdrücklich § 52 Abs. 2 HGB. 119 BGE 108 II 122 E. 5; Gautschi, Georg, Berner Kommentar zum schweizerischen Privatrecht, Band VI: Obligationenrecht. 2. Abteilung: Die einzelnen Vertragsverhältnisse. 6. Teilband: Kommission, Spedition, Frachtvertrag, Prokura, Anweisung, Hinterlegung (Art. 425 – 491 OR), Bern 1962, Art. 458 Rn. 16a; Egger, August, Zürcher Kommentar zum schweizerischen Zivilrecht, Bd. I (Art. 1 – 89 ZGB. Personenrecht), Zürich 1930, Art. 53 116
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Fraglich ist, ob einer juristischen Person eine einfache Handlungsvollmacht erteilt werden kann120. Art. 120 HRegV stünde dem nicht entgegen, da sich die Vorschrift nur auf die Eintragung von Zeichnungsberechtigten bezieht, die einfache Handlungsvollmacht aber nicht eintragungsfähig ist121. Da jede Vollmacht, die keine Prokura ist und die der Betreiber eines kaufmännischen Gewerbes im Betrieb seines Handelsgewerbes erteilt, eine Handlungsvollmacht ist, sollte diese jedenfalls als Einzel- und Gattungsvollmacht auch juristischen Personen erteilt werden können. Eine Einschränkung könnte allenfalls für die Generalhandlungsvollmacht in Betracht gezogen werden, weil auch diese wiederum als „kleine Prokura“ ein besonderes Vertrauensverhältnis zwischen Bevollmächtigtem und Prinzipal voraussetzt122. 4. Stellung als Geschäftsbesorgerin kraft Amtes Nicht einheitlich beurteilt wird die Möglichkeit einer Stellung von juristischen Personen als Geschäftsbesorgerinnen kraft Amtes. Während eine juristische Person von einer handlungsfähigen Person für den Fall von deren Urteilsunfähigkeit nach Art. 360 Abs. 1 ZGB ausdrücklich mit der Vorsorge beauftragt werden kann, kommen für eine Bestellung zum Beistand durch die Erwachsenenschutzbehörde nach Art. 400 Abs. 1 S. 1 ZGB ausdrücklich nur natürliche Personen in Betracht. Im Bereich der Erbschaftsverwaltung lässt die Praxis hingegen sowohl bei der privatautonomen Beauftragung eines Willensvollstreckers (Art. 517 f. ZGB)123 wie bei der Anordnung der Erbschaftsverwaltung (Art. 554 f. ZGB) auch juristische Personen zu. Diese Differenzierungen sind nicht einleuchtend. Geht man davon aus, dass die Wahrnehmung der entsprechenden Aufträge bzw. Ämter ein besonderes Vertrauensverhältnis zum Auftraggeber, zum Handlungsunfähigen bzw. zur bestellenden Behörde voraussetzt, und sieht man dieses bei einer juristischen Person wegen der Wandelbarkeit der für diese handelnden Personen als nicht gesichert an, muss man eine juristische Person als zur Wahrnehmung derartiger Funktionen generell ungeeignet Rn. 8; Huguenin, Claire/Reitze, Christophe P., in: Honsell, Heinrich et al. (Hg.), Basler Kommentar – Zivilgesetzbuch I (Art. 1 – 456 ZGB), 5. Aufl., Basel 2014, Art. 53 Rn. 9. 120 Bejahend Wieland, Karl, Handelsrecht. Erster Band. Das kaufmännische Unternehmen und die Handelsgesellschaften, München und Leipzig 1921, S. 368 Fn. 4; Egger, August (Fn. 119), Art. 53 Rn. 7; ablehnend Bilge, Necib, La capacité civile des personnes morales en droit civil suisse, Diss. Genf 1941, S. 66; Gautschi, Georg (Fn. 119), Art. 462 Rn. 4; Huguenin, Claire/Reitze, Christophe P. (Fn. 119), Art. 53 Rn. 9; Forstmoser, Peter/MeierHayoz, Arthur/Nobel, Peter, Schweizerisches Aktienrecht, Bern 1996, § 1 Rn. 34. 121 Siehe dazu obiter Ziff. 5 der Praxismitteilung des Eidgenössischen Handelsregisteramts (EHRA) 4/09 vom 17. Dezember 2009; Rebsamen, Karl, Die neue GmbH im Handelsregister, Zürich 2008, N 155 und N 268; Forstmoser, Peter/Meier-Hayoz, Arthur/Nobel, Peter (Fn. 120), § 29 N 67. 122 Vgl. zur Diskussion in Deutschland, wo die h.M. für die Möglichkeit einer Erteilung von Handlungsvollmachten an juristische Personen eintritt, Schmidt, Karsten (Fn. 117), § 16 Rn. 89 m.w.N. 123 Vgl. BGE 90 II 376 ff.; Künzle, Hans Rainer, in: Amstutz, Marc et al. (Hg.), Handkommentar zum Schweizer Privatrecht, 3. Aufl., Zürich 2016, Art. 517 – 518 ZGB Rn. 5.
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betrachten. Möchte man speziell der privatautonomen Bestellung von juristischen Personen Raum geben und die Beauftragung einer juristischen Person mit der Vorsorge (Art. 360 Abs. 1 ZGB) bzw. Willensvollstreckung (Art. 517 Abs. 1 ZGB) gestatten, setzt man sich in Widerspruch zur herrschenden Ansicht, welche die privatautonome Ernennung von juristischen Personen zum Prokuristen und einfachen Handlungsbeauftragten wegen des erforderlichen Vertrauensverhältnisses ablehnt124. Außerdem müsste man eine zum Willensvollstrecker bestellte juristische Person dann nach Art. 554 Abs. 2 ZGB auch mit der Erbschaftsverwaltung betrauen können.
IV. Ausblick Die Unternehmenspraxis strebt in allen hier behandelten Fragen nach einer Liberalisierung und damit nach einer Aufhebung oder zumindest Lockerung der gesetzlich angeordneten oder in Rechtsprechung und Lehre befürworteten Einschränkungen einer Geschäftsführung durch juristische Personen. Wo es – wie in der Schweiz – einer juristischen Person oder rechtsfähigen Personengesamtheit noch gesetzlich untersagt ist, sich als persönlich und unbeschränkt haftende Gesellschafterin an einer Personenhandelsgesellschaft oder Kommanditaktiengesellschaft zu beteiligen, wird dieses Verbot durch die Duldung der ein kaufmännisches Unternehmen mit derartigen Gesellschaftern betreibenden Personengesellschaft als einfache Gesellschaft faktisch umgangen, zumal auf diese sog. kaufmännische einfache Gesellschaft dann doch wieder einzelne Vorschriften des Personenhandelsgesellschaftsrechts analoge Anwendung finden125. Zu groß ist das Bedürfnis, die zahlreichen betroffenen Gesellschaften nicht als fehlerhafte Gesellschaften zu betrachten und den kooperationswilligen juristischen Personen die Zusammenarbeit auch in der flexiblen Form der einfach zu gründenden Personengesellschaft zu ermöglichen. Die Aufhebung des Verbots in Art. 552 Abs. 1 und 594 Abs. 2 OR wäre daher nur konsequent. Erheblich ist auch der Druck, dem sich der deutsche, japanische und schweizerische Gesetzgeber im Hinblick auf das Verbot einer Exekutivorganstellung von juristischen Personen in einer Körperschaft insbesondere aus dem Kreis der angloamerikanischen Konzernunternehmen ausgesetzt sieht. Deren Muttergesellschaften streben danach, die Geschäftsführung in den Tochtergesellschaften als beherrschende Gesellschafterin unmittelbar selbst ausüben zu können, wie es ihnen aus den heimischen Rechtsordnungen vertraut ist. Um ihre Leitungsmacht tatsächlich auszuüben, möchten sie nicht erst noch natürliche Personen zur Wahrnehmung von Exekutivorganfunktionen in die Tochtergesellschaften entsenden müssen126. Was schließlich die Stellung als Handlungsbevollmächtigte oder als Geschäftsbesorger kraft Amtes anbetrifft, so geht es um die Öffnung von meist lukrativen Geschäftsfeldern für juristische Personen 124
Dazu bereits oben unter II.3. bei Fn. 117 ff. Siehe oben unter II.1. bei Fn. 57 ff. 126 Siehe oben unter II.2.a) bei Fn. 7. 125
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mit beschränkter Haftung127. Vor dem Hintergrund des Gleichstellungsprinzips und des Drucks der Unternehmenspraxis werden die Einschränkungen für juristische Personen daher nur Bestand haben, wenn sie gesellschaftsrechtlich widerspruchsfrei und vor allem durch Schutzüberlegungen überzeugend gerechtfertigt werden können. Wie dargelegt, ist dies de lege lata in den betrachteten Rechtsordnungen aber nur zum Teil der Fall.
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Siehe oben unter II.3. und II.4. bei Fn. 117 ff.
Jenseits der Anarchie – Entwicklungstendenzen im Völkerrecht* Von Stefan Kadelbach
I. Einleitung Sind die Völkerrechtswissenschaft und ihr Gegenstand, die Völkerrechtsordnung, in eine neue Phase eingetreten?1 Die diversen Krisen der letzten Jahre haben die intellektuelle und sozialwissenschaftliche Stimmungslage verändert. Düstere Zeitdiagnosen münden in dystopische Zukunftsvisionen,2 die internationale Ordnung ist aus dem Gleichgewicht geraten: Die USA und Russland stehen vor einem neuen Kalten Krieg, die Europäische Union erodiert unter der Wirkung nationaler Egoismen, der Optimismus des Arabischen Frühlings ist geschwunden, und gewaltige Flüchtlingsbewegungen von Süd nach Nord haben eingesetzt, mit schwer absehbaren Folgen für die Gesellschaften in den Ziel- und Herkunftsländern gleichermaßen.3 Hinzu kommen alte globalwirtschaftliche und ökologische Probleme, deren Lösung nicht in Sicht ist. In den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften sind rise and fall-Diskurse nichts Ungewöhnliches. Ökonomische Verfallsanalysen verweisen auf einen kollabierenden Kapitalismus, der, einhergehend mit einer Zunahme sozialer Ungleichheit, nun seine zersetzenden Kräfte entfalte.4 Für die Politikwissenschaft ist eines der Ord* Der Beitrag geht auf einen Vortrag an der Bundesakademie für Sicherheitspolitik in Berlin am 14. April 2016 zurück. Malena Todt danke ich für Unterstützung bei der Recherche. 1 Zur Theorie ihrer Konstitutionalisierung vgl. meinen Beitrag Überstaatliches Verfassungsrecht, in: Menkhaus, Heinrich/Sato, Fumihiko (Hg.), Japanischer Brückenbauer zum deutschen Rechtskreis – FS Koresuke Yamauchi zum 60. Geburtstag, Berlin 2006, S. 181 – 200. 2 Dazu passt Fried, Johannes, Dies irae – Eine Geschichte des Weltuntergangs, München 2016. 3 Siehe z. B. Kaplan, Robert D., Eurasia’s Coming Anarchy, Foreign Affairs 95/2 (2016), S. 33 – 41; Menzel, Ulrich, Welt am Kipppunkt, Blätter für deutsche und internationale Politik 2016/1, S. 35 – 45. 4 Vgl. Piketty, Thomas, Le Capital au XXIe siècle, Paris 2013; Kotz, David M., The Rise and Fall of Neoliberal Capitalism, Cambridge/Mass. 2015; Wallerstein, Immanuel (Koord.), The World is Out of Joint: World-Historical Interpretations of Continuing Polarization, Boulder/Col. 2015, und die Buchbesprechung von Lachmann, Richard, Crisis of Neoliberalism, Crisis of the World?, Contemporary Sociology 45,1 (2016), S. 1 – 5.
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nungsmuster die Anarchie,5 eine allgemeine Diffusion von Ordnungsmacht ist immer konfliktträchtig.6 In den Rechtswissenschaften ist die Disziplin des Europarechts regelrecht eine Krisenwissenschaft geworden, die auch ihre Fundamente in Frage stellt.7 Kann es in der Völkerrechtswissenschaft anders sein? Auch für sie gehören Krisenanalysen wie die inzwischen zahlreichen Untersuchungen der Konflikte in Libyen, der Ukraine und Syrien zur Routine. Eine andere Frage ist es, welche Folgen die diversen globalpolitischen und -wirtschaftlichen Krisenszenarien für die Völkerrechtsordnung insgesamt haben und insbesondere ob sie, ähnlich wie dies für die politische Ordnung der internationalen Beziehungen gesagt worden ist, in eine neue Entwicklungsphase eingetreten ist. Diesen Fragen soll im Folgenden nachgegangen werden. Um zu sehen, welche Kriterien für deren Beantwortung gelten, ist zuerst ein Blick zurück auf die verschiedenen Phasen der Völkerrechtsgeschichte seit 1945 zu werfen. Dabei wird sich die Erwartung bestätigen, dass ein Zusammenhang zwischen der politischen Großwetterlage, der Völkerrechtsordnung und den dominanten Mustern ihrer Deutung besteht (nachfolgend II.). Im nächsten Schritt wäre zu fragen, welche Phänomene womöglich die gegenwärtige von anderen Epochen unterscheidet (III.). Am Schluss steht die Frage, was dies für die Funktion des Völkerrechts in der Außenpolitik bedeutet (IV.).
II. Phasen des Völkerrechts 1. „One World“ und „Zentralisierung“ (1945 – 1947) Die erste Phase reicht auf Ideen und Pläne der Kriegszeit zurück. Sie hielt nur wenige Jahre an, hat aber die heutige Struktur des Völkerrechts nachhaltig gestaltet. Zwei Faktoren waren prägend, eine neue Version von Woodrow Wilsons Idealismus in Gestalt von Roosevelts „One World“-Idee und ein Pragmatismus, der die Weltkriegsalliierten als Garanten der neuen Ordnung einsetzte.8 5 Bull, Hedley, The Anarchical Society: A Study of Order in World Politics, London 1977; Waltz, Kenneth, Theory of International Politics, Reading/Mass. 1979, S. 79 – 101; Wendt, Alexander, Anarchy Is What States Make Of It: The Social Construction of Power Politics, International Organization 46 (1992), S. 391 – 425. 6 Lebow, Richard Ned, Why Nations Fight: Past and Future Motives of War, Cambridge 2010; Paul, T. V./Welch Larson, Debora/Wohlforth, William C. (Hg.), Status in World Politics, Cambridge 2014. 7 Häberle, Peter, Fünf Krisen in Europa – Weltweite Implikationen, Möglichkeiten und Grenzen der Verfassungstheorie für Europa, Archiv des Völkerrechts 53 (2015), S. 409 – 423. 8 Roosevelt machte sich offenbar einen Slogan seines Widersachers in den Präsidentschaftswahlen 1942 zunutze, siehe Willkie, Wendell L., One World, New York 1943; siehe auch Perry, Ralph Barton, One World in the Making, New York 1945. Das war eine USamerikanische Idee, doch ihre Ziele passten zur aus Opposition zu den Diktaturen der Achsenmächte inspirierten Vision einer von gemeinsamen Werten getragenen globalen Verantwortung.
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In der Absicht, Elemente einer umfassenden Weltordnung zu schaffen, wurden in dieser Zeit viele der bis heute wichtigsten internationalen Institutionen konzipiert, zum Teil auch schon gegründet. Die Organisationen von Bretton Woods (1944), Währungsfonds und Weltbank, sollten für finanzielle Stabilität und Wiederaufbau, die UNO (1945) für die internationale Sicherheit sorgen. Die Konferenz von Havanna, aus der das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen von 1947 (GATT) hervorging, war nicht nur der Vorstellung verpflichtet, durch den Abbau von Handelshemmnissen das wirtschaftliche Wachstum zu steigern, dem Freihandel wurde auch eine friedenserhaltende Funktion zugesprochen. Alte Organisationen wurden zu Sonderorganisationen der UNO umgegründet, andere entstanden, so die Weltorganisation für die zivile Luftfahrt ICAO (1944), die Welternährungsorganisation FAO und die UNESCO (1945), die Weltgesundheits- und die Internationale Arbeitsorganisation (WHO und ILO, 1946). Im Jahre 1946 begannen die Arbeiten an der Universellen Erklärung der Menschenrechte (1948), aus der später die Europäische (1950) und die Amerikanische Menschenrechtskonvention (1969) sowie die beiden Menschenrechtspakte der Vereinten Nationen (1966) hervorgingen. Unter dem Eindruck der Nürnberger Prozesse wurde seit 1946 mit der Konvention gegen den Völkermord (abgeschlossen 1948) der erste Straftatbestand kodifiziert, der heute in die sachliche Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs fällt. Pragmatismus spricht aus der Struktur einiger dieser Organisationen, so die Zusammensetzung leitender Organe wie der Gouverneursräte von Währungsfonds und Weltbank, wo die größten Kapitalgeber die meisten Stimmrechte besitzen, oder des UN-Sicherheitsrates mit seinen fünf ständigen Mitgliedern. Ob es sich hierbei um eine Fortsetzung des Kolonialismus im Gewand internationaler Ordnung handelte oder ob die Rechtfertigung plausibel war, dass diese Staaten in ihren jeweiligen Einflusszonen für Frieden und Sicherheit sorgen würden9 – es handelte sich jedenfalls um Regelungen, die die Errichtung der heutigen internationalen Institutionen erst möglich gemacht haben. Regionale Zusammenschlüsse, die heute als Phänomene der Fragmentierung und des Pluralismus wahrgenommen werden, wurden nicht als Widerspruch zur „einen Welt“ gesehen.10 Die UNO-Charta räumt ihnen eine wichtige Rolle für die kollektive Sicherheit ein. In kurzer Folge wurden die Arabische Liga (1945), das Inter-Amerikanische Sicherheitssystem (Rio-Pakt, 1947) und die Organisation Amerikanischer Staaten (1948), das Westeuropäische Verteidigungsbündnis (Brüsseler Pakt, 1948) und der Europarat (1949), in einem frühen Stadium als Vorläufer eines umfassenden Integrationsverbandes vorgesehen, gegründet.11 9 Vgl. Mazower, Mark, No Enchanted Palace – The End of Empire and the Ideological Origins of the United Nations, Princeton 2009. 10 Hurrell, Andrew, One World? Many Worlds? The place of regions in the study of international society, International Affairs 83 (2007), S. 127 – 146. 11 Vgl. Loth, Wilfried, Europas Einigung – Eine unvollendete Geschichte, Frankfurt 2014, S. 12 – 27.
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Die Völkerrechtstheorie hatte, teils im Rückgriff auf alte Ideen, schon mit der Gründung des Völkerbundes Vorstellungen einer einheitlichen Weltordnung verbunden; ihre Enttäuschung hatte zum Perspektivenwechsel der Politikwissenschaft vom Recht zur Macht als Ordnungsparadigma entscheidend beigetragen.12 Nach 1945 erneuerten sich solche Einheitsmodelle. Hans Kelsen konnte sich mit der Gründung der UNO darin bestätigt finden, das Völkerrecht auf dem Weg von einer primitiven zu einer zentralisierten Rechtsordnung zu sehen; Hersch Lauterpacht setzte in eine idealistische, vom Glauben an den Fortschritt geleitete Normativität des Völkerrechts die Hoffnung, eines der leitenden Prinzipien für die Ordnung der internationalen Beziehungen zu werden.13 2. Kalter Krieg und Erweiterung der Staatenwelt: Koexistenz und Kooperation (1947 – 1989) Die folgenden Jahrzehnte, politisch vom Kalten Krieg, der Entkolonialisierung und sich verdichtender Regionalisierung geprägt, fügten der Nachkriegsordnung neue Elemente hinzu. Zu ihnen gehörten die Verteidigungsbündnisse beider Blöcke, die in den 50er Jahren gegründet wurden. Die Einschätzung, diese Epoche sei eine Periode des Friedens gewesen, wäre aber ein speziell europäischer Blick auf die Geschichte. Direkte bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen den Bündnissen gab es zwar nicht, doch wurden Machtkämpfe in instabilen oder neu unabhängigen Staaten und Regionen zu internen Stellvertreterkriegen. Gegenseitige Blockade im UNSicherheitsrat lähmte das globale Sicherheitssystem. Seine Befassung mit Konflikten, an denen die ständigen Mitglieder beteiligt waren, versprach wegen deren Vetomöglichkeit keinen Erfolg. Dennoch blieben die Formen des Rechts ein wichtiges Ordnungsinstrument. Die Modernisierung der Genfer Rotkreuz-Konventionen von 1949 durch die beiden Zusatzprotokolle von 1977, die heute zum Maßstab des Kriegsvölkerrechts geworden sind, war eine Folge des Vietnamkrieges. Der Blockgegensatz und das globalpolitische Patt schlugen sich in Formen vertraglicher Risikobegrenzung nieder. Das Bedürfnis nach Eindämmung der Gefahren, die sich aus der Fortentwicklung von Massenvernichtungswaffen ergaben, und, gegen Ende des Kalten Krieges, die Politik der Entspannung, führten zu Vertragswerken wie dem Atomwaffensperrvertrag (1968), dem Biotoxinwaffen-Übereinkommen (1972) und den Rüstungsbeschränkungs- und -reduzierungsabkommen SALT (seit 1971) und START (seit 1982), in deren Rahmen Verträge über Abwehr- (ABM, 1972) und Trägersysteme (INF, 1987) abgeschlossen wurden. 12
Koskenniemi, Martti, The Gentle Civilizer of Nations – The Rise and Fall of International Law 1870 – 1960, Cambridge 2001, S. 465 – 474. 13 Kelsen, Hans, Law and Peace in International Relations, Cambridge/Mass. 1948, S. 51; Lauterpacht, Hersch, The Grotian Tradition in International Law, The British Year Book of International Law 23 (1946), S. 1 – 53; zu beiden insoweit Kleinlein, Thomas, Konstitutionalisierung im Völkerrecht, Heidelberg 2012, S. 169 f., 176 – 189.
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Im Wirtschaftsvölkerrecht zielte eine erste Generation von Organisationen regionaler Wirtschaftsintegration in Europa (OEEC 1948, Römische Verträge 1957, EFTA 1960), Afrika (Conseil de l’Entente 1959, Union Africaine et Malgache 1961, East African Community 1967, West African Common Market 1967 usw.), Lateinamerika (Latin American Free Trade Association 1960, Central American Common Market 1960 u. a.) und Asien (Regional Cooperation for Development RCD 1964, ASEAN 1967) – mehr oder weniger erfolgreich – auf vertiefte Kooperation.14 Zahllose bilaterale Abkommen der finanziellen und technischen Hilfe brachten im Spannungsfeld außenpolitischer, wirtschaftlicher und humanitärer Interessen eine eigene, neue Form hervor, das Entwicklungsvölkerrecht.15 Mehr oder weniger ungebundene Staaten wie die Blockfreien und die Gruppe der 77 versuchten, eigene Vorstellungen einer Neuen Weltwirtschaftsordnung durchzusetzen, zu denen besondere Handelsregeln für neu unabhängige Staaten (UNTAD, seit 1964), eine vollständige, auch zu Enteignungen ausländischer Investitionen berechtigende Verfügungsmacht über natürliche Ressourcen, Organisationen und Fonds zur Stabilisierung der Rohstoffpreise, ein auf Geldleistungen und Technologietransfer gerichtetes „Recht auf Entwicklung“ und Teilhabeansprüche am gemeinsamen Menschheitserbe der Meere und des Orbit gezählt werden können. So entstanden in dieser Zeit eine rechtlich verfestigte Sicherheitsarchitektur, einige Grundpfeiler des Wirtschaftsvölkerrechts und eine Reihe von Institutionen der Regionalintegration. Die völkerrechtliche Konstellation wurde in der sowjetischen Völkerrechtstheorie als Recht der friedlichen Koexistenz gefasst und später, nach den Aufständen in Ungarn, der DDR und der Tschechoslowakei in interventionistischer Absicht durch ein Recht der intensiveren Beziehungen eines sozialistischen Internationalismus erweitert.16 In der westlichen Staatenwelt fand die klassisch gewordene Beschreibung Wolfgang Friedmanns Resonanz, der drei Sphären des Völkerrechts unterschied: ein globales Völkerrecht der Koexistenz, ein Völkerrecht der Kooperation, das insbesondere die Wirtschaftsbeziehungen zum heute globaler Süden genannten Teil der Welt umfassen sollte, und das regionale Völkerrecht.17 3. Globalisierung, Konstitutionalisierung und New World Order (nach 1989) Der Zerfall der Sowjetunion, die Auflösung des Warschauer Paktes und die Transformation der Staaten Mittel- und Osteuropas haben zunächst eine Perspektive eröffnet, aus der der Kalte Krieg nur eine Episode schien und die Fortschrittshoffnungen 14
Vgl. Weber, Albrecht, Geschichte der internationalen Wirtschaftsorganisationen, Wiesbaden 1983, S. 123 – 132. 15 Dann, Philipp, Entwicklungsvölkerrecht, Tübingen 2012, S. 29 – 88. 16 Tunkin, Grigorij Ivanovich, Coexistence in International Law, Recueil des Cours 95 (1958), 6 – 78; ders., Völkerrechtstheorie, Berlin 1972. 17 Friedmann, Wolfgang, The Changing Structure of International Law, London 1964.
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der Nachkriegszeit nun wahr würden. Für eine Weile war die gegenseitige Blockade im UN-Sicherheitsrat beendet, so dass er handlungsfähig wurde, mit den Mitteln rechtlich verbindlicher Resolutionen zu Sanktionen für Völkerrechtsbrüche greifen konnte und auch Einrichtungen geschaffen hat wie die Strafgerichtshöfe für Jugoslawien und Ruanda und die International Claims Commission nach der Invasion Kuwaits durch den Irak. Eine neue Phase des Multilateralismus, so hatte es den Anschein, stand bevor. Doch ist fraglich, ob die neue Ordnung so eindeutig als Fortschrittsepoche des Völkerrechts interpretiert werden kann. Manches erscheint heute ambivalent. Auf der einen Seite spricht viel dafür, dass die internationale Ordnung eine neue moralische Grundierung und eine intensivere Verrechtlichung erfahren hat. Alte Projekte wie die Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofs wurden abgeschlossen. Der Draft Code of Crimes against the Peace and Security of Mankind, eine jahrzehntelang in der International Law Commission der Vereinten Nationen (ILC) beratene Kodifizierung des Völkerstrafrechts, ging in dessen Statut ein. Das Kodifikationsprojekt der ILC zur Staatenverantwortlichkeit, eine Art internationales Haftungsrecht für Völkerrechtsverstöße, konnte nach langer Pause beendet werden. Die Konferenz über Umwelt und Entwicklung UNCED in Rio 1992 und die Welthandelskonferenz von Marrakesch 1994 legten die Basis für neue Regime wie die Klimarahmenkonvention mit Kyo¯to-Protokoll und die Welthandelsorganisation WTO. Die Bedeutung juridischer und schiedsrichterlicher Streitbeilegung nahm zu, teils durch eine verstärkte Nutzung vorhandener internationaler Gerichte, teils durch Gründung neuer Einrichtungen wie die Streitschlichtungsorgane der WTO und den Internationalen Seegerichtshof. In der Völkerrechtstheorie wurde über die Verrechtlichung internationaler Regime und die Konstitutionalisierung des Völkerrechts nachgedacht.18 Im Rückblick ist es heute zweifelhaft, wie tief die Wurzeln dieser neuen Wertorientierung und internationalen rule of law reichten. Erste Bewährungsproben waren Ruanda und der Zerfall Jugoslawiens. In beiden Fällen war es der internationalen Gemeinschaft nicht gelungen, sich auf ein konzertiertes und wirksames Eingreifen zu verständigen, das schwerste Menschenrechtsverletzungen bis hin zum Völkermord unterbunden hätte. Nach der Intervention der NATO im Kosovo 1999 wurde klar, dass die rechtliche Basis einer humanitären Intervention ohne Autorisierung des Sicherheitsrates bestenfalls umstritten war. Die Folgen sind zwiespältig. Einerseits hat man in der Folgezeit Kosovo in eine internationale Verwaltung überführt und mit der Herausbildung der Responsibility to Protect das Völkerrecht fortzubilden versucht, um die entstandene Kluft zwischen Legitimität und Legalität zu überbrücken.19 Aber wer in Macht- und Einflusszonen denkt, wird diesen Fall in einem anderen Licht 18 Fn. 1; siehe auch Kadelbach, Stefan/Kleinlein, Thomas, International Law – A Constitution of Mankind?, German Yearbook of International Law 50 (2007), S. 303 – 347, 319 – 324. 19 International Commission on Intervention and Sovereignty, The Responsibility to Protect, Ottawa 2001, bes. Paragraphen 1.39 und 2.14.
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sehen. So wird er in Russland regelrecht als Wendepunkt in der Ära nach 1990 angesehen und nimmt heute in der Rechtfertigung, die man dort für die Annexion der Krim anführt, einen prominenten Platz ein.20 Als Antithese zur Konstitutionalisierung des Völkerrechts kann man auch die Triebkräfte bezeichnen, die das allgemeine economy mainstreaming der Lebenswelt und die Großwetterlage der Globalisierung freigesetzt haben. Dass ein bestimmtes Staats- und Gesellschaftsmodell, der Staatssozialismus, verschwunden ist, hat womöglich zu einer Schwächung der Staatlichkeit überhaupt beigetragen. Staatliche Maßnahmen, die im öffentlichen Interesse getroffen werden, stehen im System der globalen Welthandelsordnung unter Rechtfertigungszwang. Die Globalisierung hat starke Akteure weiter gestärkt, aber Verlierer hervorgebracht, mit bleibenden Folgen. Ihre internen Ordnungen wurden von den Konditionalitäten internationaler und staatlicher Geldgeber mitbestimmt, die marktliberalen Leitbildern folgten („Washington Consensus“). Der Traum der so genannten Dritten Welt von der Neuen Weltwirtschaftsordnung war ausgeträumt. Ist der Verdacht erst geweckt, dass hier auch andere Kräfte wirken als die Wiederbelebung alter Ordnungsmuster, lassen sich die normativen Beziehungen zwischen den Staaten auch anders deuten denn als verrechtlichte, konstitutionalisierte Ordnung. Eine Arbeitsgruppe der Völkerrechtskommission der UNO hat eine zunehmende Fragmentierung des Völkerrechts festgestellt und konnte sich dabei auf eine Ausdifferenzierung in Teilrechtsordnungen und eine stetig intensiver werdende Regionalisierung stützen.21 Ebenso bemerkenswert ist, dass die rechtliche Form bald in einem allgemeinen Sinne an Bedeutung verlor.22 Die Intensivierung der internationalen Wirtschaftsbeziehungen ging einher mit einer zunehmenden Relevanz von Regulierungsinstanzen und Netzwerken aller Art, deren Produktstandards (wie bei Lebensmitteln), technische Normen (wie in der Telekommunikation), Benchmarking (PISA-Studie), Verhaltenskodizes (für die Nutzung des Weltraums) oder behördlichen Verwaltungsvorschriften ähnliche Ermessenslenkung (Flüchtlingsbegriff) ein auch Völkerrechtlern insgesamt nicht mehr überschaubares Geflecht internationaler Normen aller Art hervorbrachten.23 Auch in den high politics wird zunehmend informellen, gubernativen Arrangements wie den diversen G-Formationen (G7, G8, G20 usw.), Boards (Finan20
Address by the President of the Russian Federation – Vladimir Putin addressed State Duma deputies, Federations Council members, heads of Russian regions and civil society representatives in the Kremlin, March 18, 2014, http://en.kremlin.ru/events/president/news/ 20603; dazu Lukyanov, Fyodor, Putin’s Foreign Policy, Foreign Affairs 95/3 (2016), S. 30 – 37. 21 Koskenniemi, Martti, Fragmentation of International Law: Difficulties arising from the Diversification and Expansion of International Law, Report by the Study Group of the International Law Commission, U.N. General Assembly, A/CN.4/L.682 vom 4. 6. 2006. 22 Pauwelyn, Joost/Wessel, Ramses/Wouters, Jan (Hg.), Informal International Lawmaking, Oxford 2012. 23 Gadinis, Stavros, Three Pathways to Global Standards: Private, Regulator, and Ministry Networks, American Journal of International Law 109 (2015), S. 1 – 57.
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cial Stability Board), Task Forces (Financial Action Task Force) und Initiativen (Proliferation Security Initiative) vertraut.24 Sie alle nehmen Aufgaben wahr, von denen man sich einmal vorgestellt hatte, dass sie Sache der UNO und ihrer spezialisierten Sonderorganisationen sein sollten. Die großen Vertragskonferenzen, auf denen sich ein Minimalkonsens zu den Grundlagen der Völkerrechtsordnung herausbilden und immer wieder neu bestätigen kann, sind selten geworden. Hinzu kommt eine Verstärkung des Einflusses privater Akteure, die versuchen, über die Grenzen hinweg ihren politischen (NGO, Entwicklungsprojekte), wirtschaftlichen (transnationale Unternehmen) und rechtlichen (internationale Anwaltskanzleien) Einfluss zu steigern. Ihre Normproduktion macht sich in Rechtstransfers nach Osteuropa, Afrika oder Mittelasien bemerkbar. Ihre wachsende Bedeutung ist das Thema pluralistischer und systemtheoretischer Ansätze, die darauf aufmerksam machen, dass der Blick der Völkerrechtstheorie auf das Recht jenseits der Nationalstaaten zu eng ist, um das ganze Bild zu erfassen.25 Das Phänomen des „Rechts ohne Staat“ hat zu einer neuen Konjunktur des „Transnationalen Rechts“ geführt, ein Begriff, der sich in den 50er Jahren schon einmal herausgebildet hatte, um hybride Rechtsbeziehungen zwischen staatlichen Akteuren unterhalb der Regierungsebene und Privaten zu erfassen.26 In der Völkerrechtstheorie werden manche dieser Erscheinungen im Werk von Anne-Marie Slaughter abgebildet, die, wie auch schon frühere Theorien, zwischen universellem Völkerrecht und inter se-Beziehungen unterscheidet.27 In diesen intensiveren Rechtsbeziehungen liberaler Staaten interagieren Akteure unterhalb der Ebene der Staatsleitung wie Behörden und Gerichte netzwerkartig unmittelbar untereinander, ohne die Förmlichkeiten des diplomatischen Verkehrs. Auch die Völkerrechtsphilosophie von John Rawls beruht auf einer derartigen Zweiteilung der normativen Welt.28 Das alles muss noch nicht heißen, dass grundlegende Wertorientierungen des globalen Völkerrechts aufgegeben worden wären. Aber seine Einheit ist eine Fiktion. Es fragt sich, was dafür spricht, an ihr festzuhalten, wenn nicht die Zeit ohnehin über sie hinweggegangen ist. Zieht man Schlüsse aus den eingangs skizzierten Szenarien internationaler Beziehungen und betrachtet man das Völkerrecht als eine Funktion staatlicher Macht, so hat es diesen Anschein.
24 Optimistisch die Deutung dieser Entwicklung bei Steward, Patrick, The Unruled World, Foreign Affairs 93/1 (2014), S. 58 – 73. 25 Teubner, Gunther, Verfassung ohne Staat? – Zur Konstitutionalisierung transnationaler Regimes, in: Kadelbach, Stefan/Günther, Klaus (Hg.), Recht ohne Staat?, Frankfurt am Main 2011, S. 49 – 100. 26 Jessup, Philip C., Transnational Law, New Haven 1956, S. 2; Zumbansen, Peer, Transnational Legal Pluralism, Transnational Legal Theory 1 (2010), S. 141 – 189. 27 Slaughter, Anne-Marie, A New World Order, Princeton 2004. 28 Rawls, John, The Law of Peoples, Cambridge/Mass. 1999.
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III. Ein neues Zeitalter? Sind wir also in eine neue, vierte Phase des Nachkriegsvölkerrechts eingetreten? Periodisierungen sind schwierig, und wenn es um die eigene Gegenwart geht, fehlt es an der nötigen analytischen Distanz. Im historischen Rückblick sind klare Zäsuren selten, Phasen durchdringen sich, und manche Entwicklung beginnt unmerklich, ohne dass immer gleich zu sehen ist, was sie bedeutet. Im Recht kommt eine Gleichzeitigkeit von Teilordnungen verschiedener historischer Herkunft hinzu, die nebeneinander Geltung beanspruchen. Man hat von einer „Geologie“ des Völkerrechts gesprochen, in der sich innerhalb derselben Formation verschiedene Schichten finden.29 Doch schließt es diese Beobachtung nicht aus, dass sich irgendwann die Erkenntnis einstellt, dass sich schon länger anhaltende Entwicklungen zu etwas Neuem verdichtet haben. Eine solche Feststellung setzt allerdings voraus, dass über die Parameter, die sie rechtfertigen, Klarheit besteht. Das ist durchaus nicht der Fall. Ein in der deutschen Völkerrechtslehre lange einflussreicher Ansatz, der einem methodischen Realismus folgt, besteht darin, Zeitalter nach Hegemonialmächten zu bestimmen, von ihnen abhängig Völkerrechtsepochen zu bezeichnen und sie aus der Warte des positiven Rechts und der Völkerrechtstheorie zu beschreiben.30 Eine idealistische, weniger strikt an einem solchen Machtparadigma ausgerichtete Einteilung wird sich an den großen internationalen Neuordnungen wie dem Westfälischen Frieden, dem Wiener Kongress, den Pariser Vorortverträgen nach dem Ersten und der Konferenz von San Francisco nach dem Zweiten Weltkrieg orientieren. Ungeachtet der Frage, ob es wirklich eines Urknalls der Konferenzdiplomatie bedarf, um eine neue Phase des Völkerrechts zu eröffnen, lässt sich jedenfalls sagen, dass ihr das Entstehen einer neuen Ordnung selbst als leitendes Paradigma zugrundeliegt. Trotz solcher methodischer Unsicherheiten soll im Folgenden versucht werden, ein Bild zu gewinnen, das einem realistischen und einem normativen Blickwinkel gleichermaßen Rechnung trägt und es ermöglicht, einen Vergleich mit früheren Perioden anzustellen. Zu diesem Zweck wird zunächst nach dem bestehenden Machtarrangement und seiner Abbildung im positiven Völkerrecht gefragt (1.). Anschließend soll im Vergleich auf einige Merkmale der normativen Ordnung eingegangen werden (2.). 1. Neubestimmung der Machtbalance Das Neuarrangement der internationalen Machtbalance beschäftigt die zuständige Politikwissenschaft seit Ende des Kalten Krieges. Nachdem anfangs von den USA als einzig verbliebener Supermacht die Rede war, relativierte sich diese Einschät29 Weiler, J. H. H., The Geology of International Law – Governance, Democracy and Legitimacy, ZaöRV 64 (2004), S. 547 – 562, 549. 30 Grewe, Wilhelm, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, Baden-Baden 1984.
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zung mit den in ihrem militärischen Erfolg zweifelhaften Einsätzen in Afghanistan und im Irak und dem anschließenden Rückbau des US-amerikanischen Engagements in Übersee zusehends. Die folgende Diskussion um die BRICS-Staaten als rising powers ist inzwischen einer Debatte der Machtambitionen Russlands und Chinas gewichen. Die Staaten Europas stecken in Versuchen der Bewältigung verschiedener Krisen fest und können ebenso wie die EU nur mit Mühe Ansprüchen gerecht werden, als soft power aufzutreten. Im Gegenteil, die Krisenerscheinungen in der EU werden als deren Verfallsgeschichte erlebt. An diesen Entwicklungen sind hier zwei Aspekte von Interesse. Zum einen kann man von einer Hegemonialmacht nicht sprechen, in deren Zeichen die Völkerrechtsentwicklung interpretiert werden könnte. Vielmehr fühlen sich verschiedene Akteure berufen, in einer seltsamen Mischung aus Machtanspruch und Gerechtigkeitsdiskurs Forderungen nach „Gleichberechtigung“, Behandlung auf „Augenhöhe“ usw. geltend zu machen.31 Wenn dies auch nicht eine Rückkehr zur alten bipolaren Welt bedeutet, so kann man inzwischen doch von einem neuen Kalten Krieg sprechen. Damit sinkt die Kooperationsbereitschaft auf allen Seiten. Das Klima für gemeinsame Lösungsansätze für Terrorismus, Rüstungskontrolle, Cyberwar, globale Erwärmung usw. hat sich deutlich verschlechtert.32 Zum anderen äußern sich diese Machtansprüche in einem hasardierenden Umgang mit bestehenden völkerrechtlichen Grundprinzipien wie der territorialen Integrität, dem Gebot friedlicher Streitbeilegung und dem Gewaltverbot. Die Interventionen Russlands in Moldawien, Georgien und der Ukraine, seine Rolle in Syrien und gegen Ostseestaaten gerichtete Drohgebärden gehören ebenso zum Anschauungsmaterial wie sich immer aggressiver zeigende expansive Tendenzen Chinas im südchinesischen Meer. Das russische Rechtfertigungsnarrativ dafür beruft sich auf in der Vergangenheit liegende eindeutige oder vermeintliche Verstöße der USA oder der NATO gegen das Völkerrecht, als stünde es Hegemonialmächten zu, zu Lasten Unbeteiligter das Völkerrecht zu verletzen, wenn es andere auch getan haben. Beides sind Symptome eines Verlustes an Sicherheit, sowohl in einem militärischen Sinne als auch im Hinblick auf die Orientierungskraft des Völkerrechts als normativer Grundlage staatlichen Handelns. Die Rolle internationaler Organisationen und deren Verantwortung für Konfliktzonen, die sich in einer Übergangsverwaltung unter internationaler Aufsicht ausdrückte, ist nicht mehr das Leitbild. Stattdessen hat eine neue Konfrontation zwischen Blöcken begonnen, die Ressourcen binden wird, wenn sie, wie zu erwarten, in einen erneuten Rüstungswettlauf einmündet.
31 Lukyanov (Fn. 20) erklärt den Syrieneinsatz Russlands dezidiert mit dem Bedürfnis, von den USA als gleichberechtigt anerkannt zu werden. 32 Legvold, Robert, Managing the Cold War, Foreign Affairs 93/4 (2014), S. 74 – 81.
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2. Elemente der Völkerrechtsordnung Für die folgende – sicher problematisch kursorische – Betrachtung soll ein schon älteres politikwissenschaftliches Kriterium, eine Differenzierung nach Politikfeldern, zugrunde gelegt werden. Nach ihr können Aktivitäten internationaler Akteure in die Felder Sicherheit, Wohlfahrt und Herrschaft untergliedert werden.33 Mit „Sicherheit“ ist alles gemeint, was die physische Existenz von Staaten betrifft, hier insbesondere das Recht des Einsatzes von Gewalt und der Rüstungskontrolle. „Wohlfahrt“ bedeutet die Möglichkeit der Entfaltung individueller Lebenschancen, betrifft also vor allem das Wirtschaftsvölkerrecht und das Recht natürlicher Ressourcen. „Herrschaft“ bezeichnet den Bereich der Entfaltung von Freiheit und politischer Partizipation, also in einem klassischen Sinne Herrschaftsformen, und umfasst insbesondere die Menschenrechte. a) Sicherheit Im Politikfeld Sicherheit sticht mit Blick auf das Gewaltverbot der Versuch Russlands heraus, die Annexion der Krim und damit von Territorium eines anderen Staates rechtlich zu legitimieren. Der Willen, hier eine Neubestimmung des Völkerrechts zu erreichen, wird kaum bemäntelt. Sollte dieser Fall Nachahmung finden, so steht der gesamte Bestand an Staatsgrenzen, die durch den Siedlungsraum der gleichen Ethnie dies- und jenseits der Grenzen verlaufen, und die völkerrechtliche Pflicht, diese Grenzen gleichwohl zu achten („uti possidetis“) zur Disposition, wie sie sich infolge der Entkolonialisierung in Lateinamerika und Afrika herausgebildet hat. Neben dieser Rückwendung zur militärischen Verfolgung nationaler Interessen und imperialer Neuordnung im Geiste des 19. Jahrhunderts stehen Phänomene, die einen Ausblick in die nächsten Jahrzehnte der Kriegsführung eröffnen. Die Anfänge liegen schon länger zurück. Nach dem 11. September 2001 haben sich hybride Konflikte, also Auseinandersetzungen mit privaten Akteuren, in Charakter und Intensität verändert. Nicht nur treten terroristische Gruppen mit staatlicher Unterstützung in Erscheinung wie dies bei Al Qaida und in Afghanistan der Fall war, sie stellen inzwischen selbst bewaffnete Verbände auf und operieren taktisch und strategisch nach militärischen Vorbildern (Aqmi, Ansar al Dine, Al Shabaab, Abu Sayyaf, Boko Haram, IS). Die Reaktionsmöglichkeiten auf den völkerrechtswidrigen Einsatz von Gewalt passen hierzu nicht recht, wie sich an der Berufung Frankreichs auf die Bündnisklausel des Artikels 42 VII des EU-Vertrags erneut sehen lässt.34 Was das 33 Czempiel, Ernst-Otto, Internationale Politik – Ein Konfliktmodell, Paderborn 1981, S. 198; ähnlich Rittberger, Volker u. a., Internationale Organisationen, Heidelberg, 4. Aufl. 2013, S. 145. 34 Beiträge von Latty, Franck, Alabrune, François und Gouttefarde, Fabie zur Rubrik „Dossier: La lutte contre DAECH”, Revue générale de droit international public 120 (2016), 11 – 67; siehe auch Deeks, Ashley S., „Unwilling or Unable“: Toward a Normative Framework for Extraterritorial Self-Defense, Virginia Journal of International Law 52 (2012), S. 483 ff.
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humanitäre Völkerrecht, das Recht im Kriege angeht, so ist es ein ernstes Problem seiner Einhaltung geworden, dass Staaten und transnationale Unternehmen in verschiedenen Kontexten privat organisierte bewaffnete Kräfte einsetzen. Wenn es auch Modelle ihrer Einbindung in diesen Regelungsbereich gibt, so bleibt doch der allgemeine Mangel an Beachtung verstörend. Dabei steht dieses Rechtsgebiet vor Herausforderungen ganz anderer Art. Dass die technische Entwicklung der Waffensysteme voranschreitet, ist ein bekanntes Dauerphänomen, und dass das humanitäre Völkerrecht immer nur im zeitlichen Abstand zum letzten Konflikt reagiert, ist eine allgemeine Erkenntnis. Cyberwar und Roboterkriege sind Szenarien, die schon jetzt berechtigte Sorgen auslösen und nach völkerrechtlichen Lösungen verlangen.35 Auch im Bereich der Rüstungskontrolle ist – trotz kürzlicher Einigung im Atomstreit mit Iran – die Steuerungsfähigkeit des Völkerrechts im Abnehmen begriffen. Die USA und Russland haben alte Abrüstungspflichten auslaufen lassen, ohne sich auf eine neue Generation zu einigen. Alle Nuklearstaaten erweitern oder modernisieren ihre Arsenale; die bisherigen Verträge beließen den meisten von ihnen diese Möglichkeit. Hinzu kommt die Furcht vor der „schmutzigen Bombe“ als immer ernster werdendes Proliferationsproblem. Die Kooperationswahrscheinlichkeit auf dem Feld Sicherheit ist ohnehin gering. In seinen rechtlichen Regimes und der Bereitschaft zur Einhaltung der Regeln spiegelt sich jedoch zurzeit eine Unsicherheit, die über das Politikfeldtypische hinausgeht und die normativen Grundlagen der internationalen Ordnung selbst erfasst. b) Wohlfahrt Der prägende Begriff der letzten Jahre, das Wort „Krise“, bezog sich anfangs auf den Finanzsektor. Er passt aber auch zu den Bereichen Handel, Investitionen und Gemeinschaftsgüter und damit das gesamte das Politikfeld Wirtschaft. In Europa haben die Banken- und Finanzkrisen zu einer Intergouvernementalisierung der Finanzpolitik geführt. Sie wird von Regierungshandeln, der Neugründung von Institutionen (EFSF, ESM) und einer Gewichtverschiebung zwischen oder in bestehenden Einrichtungen bestimmt. Dazu gehören die leitende Rolle der EZB, eine Akzentverlagerung innerhalb des IWF zugunsten der Restrukturierung Europas und eine Kooperation zwischen diesen Einrichtungen und Institutionen der EU, insbesondere der Kommission. Staatliche Politik muss sich an Vorgaben messen lassen, die in den hier entstehenden Regularien der Restrukturierung aufgestellt werden. Hinzu tritt eine intensive transnationale Regulierungstätigkeit auf dem Finanzsektor. Die Gestaltungsspielräume nationaler Wirtschaftspolitik liegen damit innerhalb neu ge35 Vgl. Arnold, Rainer/Klingbeil, Lars, Ein digitales Update für das Völkerrecht, FAZ v. 10. 5. 2016, S. 10; Egeland, Kjølv, Lethal Autonomous Weapon Systems under International Humanitarian Law, Nordic Journal of International Law 85 (2016), S. 89 – 118.
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zogener Grenzen. Im Dilemma aus Überschuldung und Konditionalität verengen sich die Möglichkeiten, auf die sozialen Verwerfungen zu reagieren, die große Spannungen hervorgerufen und neue, vom Protest lebende politische Kräfte hervorgebracht haben. Schon lange befindet sich das Welthandelsrecht in einer Krise.36 Die völkervertragsrechtlichen Möglichkeiten, den Handel durch globale Liberalisierung zu fördern, scheinen erschöpft, die Vertragskonferenz der Welthandelsorganisation WTO ist seit Jahren in der Doha-Verhandlungsrunde festgefahren. Stattdessen werden Freihandelsabkommen zwischen großen Wirtschaftsräumen (mega-regionals) verhandelt (TTIP, TTP), mit ungewissem Ausgang, weil verschiedene Kulturen des Umgangs mit Gesundheitsschutz sowie Verbraucher-, Arbeitnehmer- und Umweltinteressen aufeinanderstoßen. Andere Akteure setzen inzwischen ganz auf bilaterale Abkommen. Auch eine Rückkehr zu nationalen Wegen ist denkbar. Dabei sind auch Akzeptanzschwierigkeiten im Hinblick auf ein weiteres Feld des Wirtschaftsvölkerrechts, des Investitionsschutzes – wie man sagen kann: erneut – virulent geworden. Ursprünglich als Instrument der Rechtssicherheit vor politischer Instabilität und willkürlichen Enteignungen gedacht, hat sich die Investitionsschiedsgerichtsbarkeit mehr und mehr zu einer Instanz entwickelt, vor der auch im öffentlichen Interesse ergriffene staatliche Maßnahmen, die im legitimen Gestaltungsspielraum von Exekutive und Gesetzgebung liegen, unter Rechtfertigungszwang geraten und unabsehbare finanzielle Folgen auslösen können. Negativbeispiele sind die Rückholung von Infrastruktur nach dysfunktional umgesetzter Privatisierung, Neuorientierungen in der Energiepolitik oder die Verweigerung von Rohstoffförderrechten in Naturschutzgebieten. Die Expertise der Schiedsrichter und Rechtsvertreter, die sich in diesem im Grunde veralteten System bewegen, ist zuweilen bestenfalls eindimensional, ihre Reputation und damit die einer ganzen rechtlichen Institution hat in den letzten Jahren erheblich gelitten. Irreparable Auflösungserscheinungen zeigen sich in der Tragödie der „global commons“, einer in den 70er Jahren aus dem See- und Weltraumrecht entstandenen völkerrechtlichen Institution, die die hohe See, die Natur und das UNESCO-Kulturerbe einschließen sollte. Heute ist das nicht viel mehr als eine vage Erinnerung. Ihr Schutz kann sich gegen andere politische und wirtschaftliche Interessen nicht durchsetzen, die Konsequenzen sind verheerend: Die Meere sind verseucht mit Unrat aller Art, Fischgründe verschwinden, Wasser wird knapp, Wälder brennen, Tier- und Pflanzenarten sterben aus, Land verdorrt und Kulturgüter nicht nur aus Irak und Syrien werden weltweit meistbietend verschoben, kurzfristigen Kalkülen geopfert oder gleich in die Luft gesprengt. Das Klima ist nicht danach, gemeinsam Verantwortung für die Zukunft des Planeten zu übernehmen. Warum nach dem Scheitern des Kyo¯toProtokolls und seiner Umsetzung das kürzlich unterzeichnete Pariser Abkommen den Klimawandel aufhalten oder auch nur verlangsamen sollte, ist zurzeit schwer zu erkennen. 36
„Die Globalisierung stößt an Grenzen“, FAZ v. 11. 1. 2016, S. 19.
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Ob die Ursachen dieses Desasters der internationalen Wohlfahrtspolitiken darin liegen, dass sich jenseits staatlicher Regelungskompetenz die unproduktiven Kräfte des Marktes freier entfalten können, ob sich die allgemeine Ökonomisierung der Lebenswelt auch auf der internationalen Ebene destruktiv bemerkbar macht oder ob sich eine allgemeine Tendenz zum staatlichen Unilateralismus auch hier auswirkt – es genügt die Feststellung, dass die Legitimation des Finanzrechts und des Investitionsschutzes in Frage steht und dass die Hoffnungen der Großkonferenzen der frühen 90er Jahre, Aufgaben der Weltwirtschaft und des Umweltschutzes in internationalen Institutionen angehen zu können, weitgehend geschwunden sind. c) Herrschaft Im internationalen Menschenrechtsschutz gibt es antagonistische Entwicklungen, die miteinander in Beziehung stehen. Auf der einen Seite hat sich die Rechtsprechungstätigkeit der Gerichte in den regionalen Schutzsystemen Europas und Amerikas intensiviert, sowohl was die Zahl der entschiedenen Fälle als auch was die Reichweite der Anforderungen an die innerstaatlichen Rechtsordnungen angeht. Andererseits gibt es über den politikfeldtypisch schlechten Befolgungsstand hinaus Tendenzen zu einem roll-back, die sich in Vorbehalten staatlicher Obergerichte gegenüber der Rechtsprechungstätigkeit internationaler Gerichte und in – vorerst vereinzelten – Kündigungen von Konventionen äußern. Hier könnte ein Wertewandel im Gange sein. In manchen Staaten auch innerhalb der erklärten Wertegemeinschaften Europarat und EU erfährt der Verfassungsstaat, den man zu Beginn der 90er Jahre auf dem Vormarsch wähnte, in einem sehr weitgehenden Sinne Relativierungen. Der Umgang von Regierungen in Polen, Russland, der Türkei oder Ungarn mit Institutionen des Rechtsstaats lässt erahnen, dass es zunehmend auch in unserer unmittelbaren Nähe Staaten und Regime geben wird, die das Recht nicht als Grenze ihres Handelns anerkennen. Der Umgang vieler EU-Staaten mit den Flüchtlingsbewegungen der letzten Monate lässt weitere Bruchlinien erkennen, die an Grundpfeiler der Menschenrechte und des internationalen Flüchtlingsrechts heranreichen wie die Bewegungsfreiheit, das Verbot der Kollektivausweisung und das non-refoulement bei drohender Gefahr für Leib und Leben. Eine besonders schmerzliche Erosionserscheinung des bestehenden Völkerrechts ist die Absetzbewegung afrikanischer Staaten vom Internationalen Strafgerichtshof, der für schwerste Menschenrechtsverbrechen zuständig ist.37 Dass es bisher nur Gerichtsverfahren gegen afrikanische Angeklagte gab, hat dort zu einer Schwächung seiner Legitimation geführt. Gelingt es schon nicht immer, die Akzeptanz des Bestehenden aufrechtzuerhalten, so fragt sich, wie der internationale Menschenrechtsschutz mit den Herausforderungen fertig werden soll, die neuartige Problemlagen bedeuten. Dazu gehört 37 Tull, Denis M./Weber, Annette, Afrika und der Internationale Strafgerichtshof, Berlin 2016.
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die Digitalisierung und die Bedrohung der Privatsphäre, die durch die stetige Erweiterung der elektronischen Kommunikation entstanden ist. Ein neues völkerrechtliches Konventionswerk nach dem Muster der bestehenden Schutzsysteme wäre die vorzugswürdige Option. Als Alternative kommen rechtlich unverbindliche Zielvorgaben in Frage, wie sie auf Gebieten formuliert werden, auf denen eine förmliche Rechtsbindung politisch schwierig ist, wie der Entwicklungshilfe (Millennium Development Goals) oder mangels Bindung an das Völkerrecht nicht anders erreicht werden kann (wie bei der Verpflichtung transnationaler Unternehmen auf die Menschenrechte). 3. Der Verlust von Gewissheiten Zusammenfassend kann man feststellen, dass die Fundamente der Völkerrechtsordnung brüchiger geworden sind. Über tragende Prinzipien wie territoriale Integrität und Gewaltverbot besteht keine Einigkeit mehr und die – vermutlich schon immer trügerische – Vorstellung von der Einheit der Völkerrechtsordnung ist einem komplexen Puzzle fragmentierter und regionalisierter Teilordnungen gewichen. Manches sieht nach einer Renationalisierung internationaler Politikfelder aus, auf anderen Feldern setzt sich die schon früher beobachtete Entformalisierung und Intergouvernementalisierung fort. Hinzu kommt ein Handlungsmodus des Krisenmanagements, der Provisorien und zeitlich Begrenztes hervorbringt38 und einem im Völkerrecht lange wirksamen Fortschrittsparadigma zuwiderläuft, das auf der Grundlage eines als dauerhaft angesehenen Erreichten nach Verbesserungen strebt.39 Dieser allgemeine Verlust von Gewissheiten und Orientierung unterscheidet die heutige Situation jedenfalls von der Interpretation der Völkerrechtsordnung der 90er Jahre, wenn nicht bereits von dieser selbst. Vor einem solchen Hintergrund ist die kosmopolitische Vision eines philosophischen Konstruktivismus weniger idealistische Rekonstruktion des Völkerrechts denn utopischer Gegenentwurf. In der Theorielandschaft herrschen inzwischen die pluralistischen Ansätze vor, die für sich in Anspruch nehmen, Deformalisierung und Transnationalisierung besser in Rechnung zu stellen als es klassische Völkerrechtstheorien vermögen. Schon auf der Ebene der rechtlichen Institutionen, hierzulande „Dogmatik“ genannt, lässt sich fragen, ob nicht bei zentralen Begriffen einige Akzente neu gesetzt werden müssen, die sich aus Informalisierung und Transnationalisierung der Rechtssphäre jenseits der Staaten ergeben. Denn wenn die informellen Handlungstypen gegenüber dem rechtsförmlichen Handeln weiter an Bedeutung gewonnen haben, fragt sich, was dies für den Idealtyp der völkerrechtlichen Quellen38
Vgl. Ambrus, Mónika/Wessel, Ramses A., Between Pragmatism and Predictability: Temporariness in International Law, Netherlands Yearbook of International Law 45 (2014), S. 3 – 17, und weitere Beiträge im selben Band. 39 Vgl. Bothe, Michael, Wandel des Völkerrechts – Herausforderungen an die Steuerungsfähigkeit des Rechts im Zeitalter der Globalisierung, Kritische Vierteljahrsschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft 2008, S. 236 – 246.
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lehre, den Vertrag, bedeutet.40 Zum anderen stellt sich in alter Dringlichkeit die Frage nach der Rolle der zentralen Akteure des Völkerrechts, der Staaten. Auch wenn nationale Interessen wieder stärker betont werden, so bleiben ihre Ordnungsmacht und ihr Gewaltmonopol doch häufig Fiktion. Viele – auch in Europa – sind zu einer eigenständigen Erledigung ihrer Staatsaufgaben ohne fremde Hilfe nicht in der Lage, andere entstehen neu, ohne dass ihnen Anerkennung zuteilwürde (Palästina, Kosovo). Auch wer an der traditionellen Sicht auf das Völkerrecht mit seinen Fixsternen multilaterale Ordnung, Vertragsform und rechtlich gleichen staatlichen Akteuren als Subjekten festhalten will, wird also eingestehen müssen, dass das nach Ende des Kalten Krieges entstandene normative System in die Jahre gekommen ist. Es griff zurück auf die Eine Welt und fügte ihr in derselben Logik weitere Elemente hinzu. Ob über die Grundlagen dieses Weltbildes Einigkeit besteht, ist fraglicher denn je.
IV. Konsequenzen für die Außen- und Sicherheitspolitik? Lassen sich aus einer völkerrechtlichen Perspektive aus diesem Befund Schlüsse für die Außen- und Sicherheitspolitik ziehen? Die Antwort hängt vom Vertrauen in die Gestaltbarkeit internationaler Beziehungen durch Recht ab. Die kontinentaleuropäische und insbesondere die deutsche Völkerrechtstradition neigen zum Konstruktivismus. Damit ist eine Haltung verbunden, die an normativen Leitbildern auch dann festzuhält, wenn die soziale Ordnung der internationalen Staatengemeinschaft Erosionserscheinungen zeigt. Wenn die hier vorgetragene Einschätzung der internationalen Ordnung richtig ist, ergeben sich daraus vier grundsätzliche Konsequenzen. 1. Die Grundpfeiler der Völkerrechtsordnung, die nach 1945 in die Nachkriegsordnung eingezogen wurden, haben weiter Bestand. Dazu gehören die UNO-Charta, die Menschenrechte, das Völkerstrafrecht, das Prinzip des Freihandels und die gemeinsame Verantwortung für die Grundlagen der menschlichen Existenz. Die innere Ordnung vieler Staaten berührt dies nicht. In offenen Bekenntnissen mancher Regime zu „Demokratur“ und „illiberaler Marktwirtschaft“ macht sich ein Gegenmodell zum demokratischen Verfassungsstaat geltend, ein ideologischer Rivale, mit dem es zunehmende, auch militärische Spannungen gibt. Es bleibt legitim, an den eigenen Grundlagen festzuhalten und das realistisch Mögliche zu tun, um ihre Wirksamkeit zu erhalten. Es muss aber auch Raum bleiben, um mit den Staaten friedliche Beziehungen zu unterhalten, die außerhalb dieses Bezugssystems stehen. Der Zweiteilung von Koexistenz- und Kooperationsvölkerrecht steht also eine Renaissance
40 Weiß, Wolfgang, Die Rechtsquellen des Völkerrechts in der Globalisierung, Archiv des Völkerrechts 53 (2015), S. 220 – 251.
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bevor, in Europa verkörpert durch die OSZE einerseits, die EU andererseits,41 überwölbt durch den Europarat, der (zurzeit noch) beide Normschichten einschließt. 2. Nichts spricht dafür, die Erfolge des kooperativen Multilateralismus durch unilaterale Führungsansprüche in Frage zu stellen. Zur europäischen Tradition gehört es, sich Bündnispartner zu suchen und die eigenen Interessen gerade auch im Verbund mit anderen, kleineren Staaten zu verfolgen. Die Europäische Union ist der richtige, weil zurzeit einzig realistisch vorstellbare Rahmen, um dies wirksamer zu tun als es den Mitgliedstaaten allein möglich ist. Keines der globalpolitischen Probleme unserer Zeit lässt sich durch ihre Delegitimierung lösen. 3. Für die Abkehr von der rechtlichen Form gibt es verschiedene Gründe, die man nicht ignorieren kann. Zu ihnen gehören ihre größere Flexibilität, niedrigere Einstiegsschwellen und damit verbunden die Aussicht auf mehr Beteiligung. Aber die allgemeine Tendenz zur Preisgabe der Form, zur lockeren Formation, zum Krisenmanagement, zum Aushandeln ad hoc und zum Vorläufigen hat ihren Preis, weil sie die Stabilität von Verhaltenserwartungen herabsetzt. Die rechtliche Form verspricht höhere Sicherheit selbst dann, wenn ihre endgültige Verbindlichkeit, wie im internationalen Vertragsschlussprozess häufig der Fall, auf sich warten lässt.42 Gelingt ihre Wiederbelebung nicht, droht das bestehende Völkerrechtssystem durch ein schwer durchschaubares Geflecht kurzfristiger deals und informeller Arrangements verdrängt zu werden. 4. Wenn der deutschen Politik empfohlen wird, ihre soft power auszuspielen,43 so wäre es ein glaubhafter Beitrag, die eigene Sphäre des Rechts zu bewahren, seine Unabhängigkeit gegenüber Wirtschaft und Politik zu stärken und dafür die Transaktionskosten des Initiators und Ausrichters zu übernehmen. Manche aktuellen Herausforderungen eignen sich dafür, in multilateralen Verträgen angegangen zu werden, wie schon bereits geforderte Projekte zeigen. Regeln über den Cyberwar, eine verbesserte internationale Polizeikooperation gegenüber Terrorismus und organisierter Kriminalität, ein geregelter Umgang mit Daten, multilaterale Übereinkommen gegen die Steuerflucht und neue Instrumente zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen und des Weltkulturerbes gehören dazu. Nur die rechtliche Form des multilateralen Vertrages ist in der Lage, die nötige Legitimation und Bindungskraft solcher Regeln zu garantieren.
41 s. auch Krastev, Ivan/Leonard, Mark, Europe’s Shattered Dream of Order, Foreign Affairs 94/3 (2015), S. 48 – 58. 42 Das Abrüstungsrecht kennt Beispiele, in denen selbst förmlich nicht oder nicht mehr bindende Verträge beachtet werden. 43 Münkler, Herfried, Macht in der Mitte, Die neuen Aufgaben Deutschlands in Europa, Hamburg 2015.
Japanische Unternehmen vor dem EuGH? Die Verantwortlichkeit japanischer Unternehmen für Kartellverstöße nach Europäischem Kartellrecht Von Michael Kling
I. Einleitung Der folgende Beitrag zum Kartellrecht analysiert in Form einer Fallstudie die neueste Rechtsprechung der Unionsgerichte zum Kartellrecht, soweit sie japanische Unternehmen betrifft.1 Bekanntlich ist das Europäische Kartellrecht gemäß dem sog. Auswirkungsprinzip auch auf ausländische Unternehmen anwendbar, wenn deren Marktverhalten den Wettbewerb innerhalb der Europäischen Union schädigt.2 Darin erschöpft sich die Relevanz des Unionskartellrechts jedoch nicht. Namentlich bei weltweiten Hardcore-Kartellen (scil. Preis- und Gebietsabsprachen) kommt die Verhängung von Geldbußen durch die Europäische Kommission und die nationalen Kartellbehörden der EU-Mitgliedstaaten gegenüber Unternehmen in Betracht, die ihren Sitz außerhalb Europas haben. In seinem Urteil in der Rechtssache Sho¯wa Denko¯ aus dem Jahr 2006 hat der EuGH3 die Haftungsgrundsätze bei Beteiligung an internationalen Kartellen folgendermaßen umschrieben: „2. […] Im Fall eines Kartells, das in einem internationalen Kontext steht, der insbesondere dadurch gekennzeichnet ist, dass die Rechtsordnungen von Drittstaaten in deren jeweiligem Hoheitsgebiet zur Anwendung gekommen sind, muss die Ausübung der Befugnisse der mit dem Schutz des freien Wettbewerbs betrauten Behörden dieser Staaten im Rahmen ihrer ört1
Für das deutsche Kartellrecht gilt insoweit § 130 Abs. 2 GWB. Zur Anwendung dieses Prinzips im europäischen und deutschen Kartellrecht siehe Kling, Michael/Thomas, Stefan, Kartellrecht, 2. Aufl. München 2016, § 4 Rn. 24 ff., 29 ff., § 8 Rn. 15 ff., § 17 Rn. 2 ff. 3 EuGH v. 29. 6. 2006 – Rs. C-289/04 P, Slg. 2006, I-5859 Leitsatz 2 – Sho¯wa Denko¯/ Kommission. Konkret ging es in diesem Fall um die (Nicht-)Anwendung des Rechtsgrundsatzes ne bis in idem, der in Art. 4 des Protokolls Nr. 7 zur Europäischen Menschenrechtskonvention verankert ist. Zum Problem der Mehrfachsanktionen und der Frage nach dem Doppelbestrafungsverbot gemäß dem Grundsatz ne bis in idem siehe Kling/Thomas (Fn. 2) § 9 Rn. 110. Dieser Grundsatz kommt nach der neueren Rspr. des EuGH nur dann zur Anwendung, wenn sich das erneute Verfahren gegen dieselben Personen richtet, wenn diesem Verfahren derselbe Sachverhalt zugrunde liegt und zudem dasselbe Rechtsgut verletzt ist (sog. dreifache Identität), siehe EuGH v. 7. 1. 2004 – Rs. C-204/00, Slg. 2004, I-123 Leitsatz 14 und Tz. 338 ff. – Aalborg Portland u. a./Kommission. 2
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lichen Zuständigkeit den dort bestehenden Anforderungen genügen. Die den Rechtsordnungen anderer Staaten im Bereich des Wettbewerbs zugrunde liegenden Elemente enthalten nämlich nicht nur spezielle Zwecke und Zielsetzungen, sondern führen auch zum Erlass besonderer materieller Vorschriften sowie zu ganz unterschiedlichen Rechtsfolgen im Bereich des Verwaltungs-, Straf- oder Zivilrechts, wenn die Behörden der genannten Staaten das Vorliegen von Zuwiderhandlungen gegen die anwendbaren Wettbewerbsregeln festgestellt haben. Daraus folgt, dass die Kommission, wenn sie das rechtswidrige Verhalten eines Unternehmens ahndet, auch dann, wenn dieses Verhalten seinen Ursprung in einem Kartell mit internationalem Charakter hat, zum Schutz des freien Wettbewerbs innerhalb des Gemeinsamen Marktes tätig wird […]. Wegen des speziellen Charakters des auf Gemeinschaftsebene geschützten Rechtsguts können die Beurteilungen, die die Kommission aufgrund ihrer einschlägigen Befugnisse vornimmt, erheblich von den Beurteilungen durch die Behörden von Drittstaaten abweichen.“
Dies alles gilt – wie noch zu zeigen sein wird – wegen des Konzepts der bezweckten Wettbewerbsbeschränkung selbst in den Fällen, in denen negative Auswirkungen auf dem europäischen Binnenmarkt bzw. im Europäischen Wirtschaftsraum (noch) nicht eingetreten sind. Japanische Unternehmen, durch deren Marktverhalten der Wettbewerb auf europäischen Märkten beeinträchtigt werden kann, sehen sich deshalb erheblichen Haftungsgefahren in Bezug auf das Europäische Kartellrecht ausgesetzt. Vor diesem Hintergrund dürfte ein entsprechender Bericht über neuere Entwicklungen im Interesse des Jubilars, meinem verehrten Kollegen Professor Koresuke Yamauchi, liegen. Ihm sei dieser Festschriftenbeitrag anlässlich seines Eintritts in den Ruhestand herzlich zugeeignet!
II. Die Rechtsprechung zu den beiden Kartellverboten in Art. 101 AEUV und Art. 53 EWRA Das Kartellverbot des Art. 101 AEUV verbietet wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen und abgestimmte Verhaltensweisen von Unternehmen sowie wettbewerbsbeschränkende Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen. Auf der Ebene des EWR-Abkommens besteht eine entsprechende Kartellverbotsregelung in Art. 53 EWRA.4 Die folgende Darstellung konzentriert sich auf Verhaltensweisen von Unternehmen und lässt die Tätigkeit von Unternehmensverbänden außer Betracht.
4 Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum v. 2. 5. 1992, ABl. EG 1994 Nr. L 1, S. 3; siehe dazu auch Kling/Thomas (Fn. 2) § 4 Rn. 23.
Japanische Unternehmen vor dem EuGH?
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1. Der Fall To¯shiba/Kommission (Leistungstransformatoren) als Beispiel Die Gerichte der Europäischen Union hatten in der jüngeren Vergangenheit mehrfach über kartellrechtlich relevante Verhaltensweisen japanischer Unternehmen zu entscheiden.5 Besonders bemerkenswert ist der neueste Fall To¯shiba/Europäische Kommission, der vom EuGH am 20. Januar 20166 entschieden wurde. Damit bestätigt der Gerichtshof ein früheres Urteil des EuG aus dem Jahr 2014.7 In der Sache ging es um eine Entscheidung der Europäischen Kommission in einem Kartellverfahren gemäß Art. 81 EG-Vertrag und Art 53 EWR-Abkommen aus dem Jahr 2009. Streitgegenständlich war die kartellrechtliche Bewertung eines Gentlemen’s Agreements auf dem Markt für Leistungstransformatoren.8 Dabei handelt es sich um elektrotechnische Bauteile, mit denen die Spannung in einem Stromkreis verringert oder erhöht werden kann. Leistungstransformatoren werden als gesondertes Zubehör oder als Bestandteil von schlüsselfertigen Umspannwerken verkauft. In diesem Fall wurden von der Europäischen Kommission und der Rechtsprechung einige grundlegende Probleme des Kartellrechts angesprochen, so etwa die Frage nach der Reichweite des Konzepts des Schutzes des potenziellen Wettbewerbs und die Frage nach der richtigen Auslegung des Begriffs „bezweckte Wettbewerbsbeschränkung“. Außerdem ging es auch um eine mögliche Enthaftung durch offene Distanzierung von dem Kartell sowie um Probleme der Bußgeldbemessung, wenn der geographisch relevante Markt über das Gebiet der Europäischen Union bzw. des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) hinausreicht. a) Sachverhalt und Kommissionsentscheidung Der Rechtsträger von To¯shiba hat seinen Sitz in der japanischen Hauptstadt To¯kyo¯. To¯shiba ist hauptsächlich in drei Bereichen tätig, nämlich in dem der digitalen Geräte, dem der elektronischen Geräte und Komponenten sowie dem der Infrastruktursysteme.9 Der von der Europäischen Kommission aufgegriffene Fall betrifft den Markt für Leistungstransformatoren. Auf diesem Sektor war To¯shiba vom 9. Juni 1999 bis zum 30. September 2002 über ihre Tochtergesellschaft Power System 5
Siehe dazu noch unten II. 1. EuGH v. 20. 1. 2016 – Rs. C-373/14 P, ECLI:EU:C:2016:26 = WuW 2016, 176 = NZKart 2016, 131 – To¯shiba/Kommission. 7 EuG v. 21. 5. 2014 – Rs. T-519/09, ECLI:EU:T:2014:263 – To¯shiba/Kommission. 8 Genauer: Zusammenfassung der Entscheidung der Kommission v. 7. 10. 2009 – COMP/ 39.129, ABl. EU 2009 Nr. C 296, S. 21 Rn. 5 – Leistungstransformatoren: „Das wettbewerbswidrige Verhalten bezieht sich auf Leistungstransformatoren, Spartransformatoren und Drosselspulen im Spannungsbereich von 380 kV und mehr.“ 9 EuGH v. 20. 1. 2016 – Rs. C-373/14 P, ECLI:EU:C:2016:26 Rn. 7 = WuW 2016, 176 = NZKart 2016, 131 – To¯shiba/Kommission. 6
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Co. tätig. Ab 1. Oktober 2002 wurde die Tätigkeit über TM T&D ausgeübt, einem Gemeinschaftsunternehmen von To¯shiba und Mitsubishi Electric, in dem die beiden Unternehmen ihre Produktion von Leistungstransformatoren zusammengeführt haben.10 Die Europäische Kommission warf To¯shiba vor, sich in dem Zeitraum vom 9. Juni 1999 bis zum 15. Mai 2003 an einem rechtswidrigen Kartell beteiligt zu haben, das sich auf das gesamte Gebiet des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) und Japan erstreckt habe. Dieses Kartell habe in einer mündlichen Vereinbarung zwischen den europäischen Herstellern von Leistungstransformatoren einerseits und den japanischen Herstellern andererseits bestanden, die zum Inhalt gehabt habe, die Märkte im Gebiet jeder dieser beiden Gruppen von Transformatorenherstellern zu respektieren und auf den Verkauf auf diesen Märkten zu verzichten (im Folgenden: Gentlemen’s Agreement).11 Im Einzelnen waren die an dem Gentlemen’s Agreement beteiligten Unternehmen in dem genannten Zeitraum jährlich ein- bis zweimal zusammengetroffen.12 Diese Treffen dienten nach Einschätzung durch die Kommission und die Rechtsprechung dazu, das Gentlemen’s Agreement jeweils zu bestätigen.13 Zudem hatte das Gentlemen’s Agreement eine gewisse strukturelle Verfestigung zur Folge. Jede Herstellergruppe musste nämlich ein Unternehmen benennen, welches innerhalb des Kartells die Aufgabe eines Sekretariats übernahm. Dem Sekretariat der jeweiligen Herstellergruppe (auf Seiten der japanischen Unternehmen: Hitachi)14 wurden außerdem die aus dem Gebiet der anderen Gruppe stammenden Ausschreibungen bekanntgegeben, so dass diese untereinander verteilt werden konnten.15
10 EuGH v. 20. 1. 2016 – Rs. C-373/14 P, ECLI:EU:C:2016:26 Rn. 8 = WuW 2016, 176 = NZKart 2016, 131 – To¯shiba/Kommission. 11 Europäische Kommission v. 7. 10. 2009 – COMP/39.129, C (2009) 7601 final Rn. 108 ff., 121 ff., ABl. EU 2009 Nr. C 296, S. 21 – Leistungstransformatoren; siehe auch EuGH v. 20. 1. 2016 – Rs. C-373/14 P, ECLI:EU:C:2016:26 Rn. 10 = WuW 2016, 176 = NZKart 2016, 131 – To¯shiba/Kommission. 12 Genauer: Diese Treffen fanden in Malaga (Spanien) vom 9. bis 11. 6. 1999, in Singapur am 29. 5. 2000, in Barcelona (Spanien) vom 29.10. bis zum 1. 11. 2000, in Lissabon (Portugal) am 29. und 30. 5. 2001, in To¯kyo¯ am 18. und 19. 2. 2002, in Wien (Österreich) am 26. und 27. 9. 2002 sowie in Zürich (Schweiz) am 15. und 16. 5. 2003 statt. 13 Europäische Kommission v. 7. 10. 2009 – COMP/39.129, C (2009) 7601 final Rn. 129 ff., ABl. EU 2009 Nr. C 296, S. 21 – Leistungstransformatoren; siehe auch EuGH v. 20. 1. 2016 – Rs. C-373/14 P, ECLI:EU:C:2016:26 Rn. 13 = WuW 2016, 176 = NZKart 2016, 131 – To¯shiba/Kommission. 14 Europäische Kommission v. 7. 10. 2009 – COMP/39.129, C (2009) 7601 final Rn. 81, ABl. EU 2009 Nr. C 296, S. 21 – Leistungstransformatoren; EuG v. 21. 5. 2014 – Rs. T-519/09, ECLI:EU:T:2014:263 Rn. 162, 194– To¯shiba/Kommission. 15 EuGH v. 20. 1. 2016 – Rs. C-373/14 P, ECLI:EU:C:2016:26 Rn. 12 = WuW 2016, 176 = NZKart 2016, 131 – To¯shiba/Kommission.
Japanische Unternehmen vor dem EuGH?
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Die Kommission stufte das Gentlemen’s Agreement als nach Art. 101 AEUV und Art. 53 EWRA verbotene bezweckte Wettbewerbsbeschränkung ein. Sie wandte darauf die in der Literatur16 kritisierte, aber von den Unionsgerichten17 konsentierte Rechtsfigur der einheitlichen, komplexen und fortgesetzten Zuwiderhandlung18 an
16 Kritisch zu dieser Rechtsfigur Dreher, Meinrad, Die komplexe und fortdauernde Zuwiderhandlung im europäischen Kartellrecht, ZWeR 2007, 276 – 302; Rittner, Fritz/Dreher, Meinrad/Kulka, Michael, Wettbewerbs- und Kartellrecht: Eine systematische Darstellung des deutschen und europäischen Rechts, 8. Aufl., Heidelberg 2014, § 7 B III 1, Rn. 819; Kling, Michael, Die Haftung der Muttergesellschaft für Kartellverstöße ihrer Tochterunternehmen, WRP 2010, S. 506, 507. 17 Ständige Rechtsprechung und Kommissionspraxis, siehe EuGH v. 8. 7. 1999 – Rs. C-49/ 92 P, Slg. 1999, I-4125 Rn. 81 – Anic Partecipazioni; EuGH v. 28. 6. 2005 – C-189/02 P, Slg. 2005, I-5425 Rn. 143 – Dansk Rørindustri/Kommission; EuGH v. 7. 1. 2004 – verb. Rs. C204/00 P u. a., Slg. 2004, I-123 Rn. 258 – Aalborg Portland A/S u. a./Kommission; EuG v. 11. 12. 2003 – Rs. T-59/99 Slg. 2003, II-5257 Rn. 216 – Ventouris/Kommission; EuG v. 5. 4. 2006 – Rs. T-279/02 Slg. 2006, II-897 Rn. 155 ff. – Degussa, bestätigt durch EuGH v. 22. 5. 2008 – Rs. C-266/06 P, Slg. 2008, I-81 = WuW/E EU-R 1451 – Evonik Degussa; EuGH v. 11. 12. 2007 – Rs. C-280/06, Slg. 2007, I-10893 = WuW/E EU-R 1353 – Autorità Garante della Concorrenza e del Mercato/Ente tabacchi italiani – ETI SpA u. a. und Philip Morris Products SA u. a./Autorità Garante della Concorrenza e del Mercato u. a. (ETI) mit Besprechungsaufsatz v. Kapp/Schumacher, Das ETI-Urteil des EuGH: Nichts Neues aus Luxemburg?, ZWeR 2009, 503 ff.; EuG v. 27. 6. 2012 – Rs. T-445/07, ECLI:EU:T:2012:321 = WuW/ E EU-R 2446 – Berning & Söhne GmbH & Co. KG/Kommission; EuGH v. 6. 12. 2012 – Rs. C-441/11 P, ECLI:EU:C:2012:778 = WuW/E EU-R 2600 – Kommission/Verhuizingen Coppens NV; EuG v. 17. 5. 2013 – verb. Rs. T-147/09 und T-148/09, ECLI:EU:T:2013:259 = WuW/E EU-R 2777 = NZKart 2013, 295 – Trelleborg Industrie/Kommission (Marineschläuche); EuGH v. 22. 5. 2014 – Rs. C-35/12 P, ECLI:EU:C:2014:348 = WuW/E EU-R 3020 – Plásticos Españoles SA (ASPLA)/Kommission; s. ferner Kommission v. 2. 7. 2002 – COMP/37.519, ABl. EG 2003 Nr. L 255, S. 1 Rn. 207 – Methionin. Ausführlich dazu Dannecker/Biermann, in: Immenga, Ulrich/Mestmäcker, Ernst-Joachim, Wettbewerbsrecht, Band 1, EU/Teil 1 und EU/Teil 2, Kommentar zum Europäischen Kartellrecht, 5. Aufl. 2012, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 83 ff. Der EuGH hat einschränkend entschieden, dass es für den Nachweis der Beteiligung eines Unternehmens an einer „einheitlichen, komplexen und fortgesetzten Zuwiderhandlung“ nicht ausreicht, wenn dieses Unternehmen nur an einer einzigen wettbewerbswidrigen Sitzung teilgenommen hat, siehe EuGH v. 4. 7. 2013 – Rs. C-287/11 P, ECLI:EU:C:2013:445 Tz. 62 ff. = WuW/E EU-R 2786 = NZKart 2013, 370 – Kommission/ Aalberts Industries u. a. Diese Ausnahme spielte im To¯shiba-Fall allerdings keine Rolle, da, wie im Sachverhalt dargelegt, eine Reihe von Sitzungen stattgefunden hatte und To¯shiba auch nicht nur einmal dort präsent war. 18 Eine komplexe und fortdauernde Zuwiderhandlung in diesem Sinne liegt vor, wenn (1) ein Gesamtplan der an dem Kartell beteiligten Unternehmen vorliegt, mit dem ein gemeinsames Ziel verfolgt wird, (2) ein vorsätzlicher Beitrag des zu beurteilenden Unternehmens und (3) die bewiesene oder vermutete Kenntnis dieses Unternehmens von dem rechtswidrigen Verhalten der anderen Teilnehmer vorliegt (wobei Kennenmüssen genügt); siehe dazu auch Rittner/Dreher/Kulka (Fn. 16), § 7 B III 1, Rn. 819; Kling/Thomas (Fn. 2) § 5 Rn. 51. Einen Fall mit Japanbezug, in dem diese Rechtsfigur Anwendung fand, bietet der Fall EuG v. 17. 5. 2013 – verb. Rs. T-147/09 und T-148/09, ECLI:EU:T:2013:259 = WuW/E EU-R 2777 = NZKart 2013, 295 – Trelleborg Industrie/Kommission (Marineschläuche).
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(Zeitraum: 9. Juni 1999 bis 15. Mai 2003).19 Gegen sieben Unternehmen wurden Geldbußen i.H.v. insgesamt 67,6 Mio. Euro verhängt; das To¯shiba auferlegte Bußgeld betrug 13,2 Mio. Euro.20 Das Bußgeld wurde verhängt, obwohl kein japanisches Kartellmitglied Leistungstransformatoren im Europäischen Wirtschaftsraum abgesetzt hatte.21 b) Die Gegenargumente von To¯shiba To¯shiba wehrte sich vor dem EuGH gegen die Beurteilung des Gentlemen’s Agreements als bezweckte Wettbewerbsbeschränkung durch die Kommission und das Europäische Gericht. Die Kommission hatte sich in diesem Zusammenhang vor allem auf das potenzielle Wettbewerbsverhältnis zwischen den japanischen und den europäischen Herstellern gestützt.22 To¯shiba trug dazu vor, dass die Kartellteilnehmer keine potenziellen Wettbewerber gewesen seien. Das Gericht hätte prüfen müssen, ob der eventuelle Eintritt in den EWR-Markt für die japanischen Hersteller eine wirtschaftlich realisierbare Strategie gewesen sei, um eine bezweckte Wettbewerbsbeschränkung anzunehmen. Das EuG habe zu Unrecht das Vorliegen eines potenziellen Wettbewerbsverhältnisses sowohl aus dem Fehlen unüberwindbarer Hindernisse für den Zugang zum EWR-Markt als auch aus dem Bestehen des Gentlemen’s Agreement abgeleitet.23 Zudem wird von To¯shiba auch die Methodik der Bußgeldbemessung sowie die Höhe des Bußgelds angegriffen. c) Vorüberlegungen aa) Grundlagen Art. 101 Abs. 1 AEUV setzt voraus, dass die erfassten Maßnahmen eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs auf dem Binnenmarkt 19 Europäische Kommission v. 7. 10. 2009 – COMP/39.129, C (2009) 7601 final Rn. 134 ff., insb. Rn. 141, ABl. EU 2009 Nr. C 296, S. 21 – Leistungstransformatoren. 20 Europäische Kommission v. 7. 10. 2009 – COMP/39.129, C (2009) 7601 final Rn. 336, ABl. EU 2009 Nr. C 296, S. 21 – Leistungstransformatoren; siehe auch EuGH v. 20. 1. 2016 – Rs. C-373/14 P, ECLI:EU:C:2016:26 Rn. 11 = WuW 2016, 176 = NZKart 2016, 131 – To¯shiba/Kommission. 21 Auf nationaler Ebene blieb das Bundeskartellamt zuständig. Es verhängte im September 2012 Bußgelder i.H.v. 24,3 Mio. Euro gegen vier Hersteller von Leistungstransformatoren aus Deutschland; siehe den Fallbericht v. 20. 9. 2012 – B10 – 101/11. 22 Europäische Kommission v. 7. 10. 2009 – COMP/39.129, C (2009) 7601 final Rn. 165 ff., 236, ABl. EU 2009 Nr. C 296, S. 21 – Leistungstransformatoren; siehe auch EuGH v. 20. 1. 2016 – Rs. C-373/14 P, ECLI:EU:C:2016:26 Rn. 19 = WuW 2016, 176 = NZKart 2016, 131 – To¯shiba/Kommission. 23 Europäische Kommission v. 7. 10. 2009 – COMP/39.129, C (2009) 7601 final Rn. 168, ABl. EU 2009 Nr. C 296, S. 21 – Leistungstransformatoren; siehe auch EuGH v. 20. 1. 2016 – Rs. C-373/14 P, ECLI:EU:C:2016:26 Rn. 19 = WuW 2016, 176 = NZKart 2016, 131 – To¯shiba/Kommission.
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bezwecken oder bewirken. Der Oberbegriff hierfür ist nach herrschender Ansicht die „Wettbewerbsbeschränkung“. Eine inhaltliche Abgrenzung zwischen den drei Alternativen der Verhinderung, Einschränkung und Verfälschung ist weder erforderlich noch überzeugend durchführbar.24 Art. 101 AEUV gilt im Übrigen – wie bereits erwähnt – für horizontale und vertikale Wettbewerbsbeschränkungen gleichermaßen. Wie auch im deutschen Kartellrecht schützt Art. 101 Abs. 1 AEUV dabei sowohl den aktuellen als auch den potenziellen Wettbewerb.25 Eine abstrakt-generelle Definition des Begriffs der Wettbewerbsbeschränkung ist nicht möglich, weil es sich dabei letztlich nur um die Negation des nicht definierbaren Begriffs des Wettbewerbs handelt. Es können daher nur allgemeine Kriterien definiert werden, die typischerweise für bestimmte Wettbewerbsbeschränkungen kennzeichnend sind. Dem muss selbstverständlich eine angemessene Festlegung des relevanten Marktes vorausgehen. Indizien für Wettbewerbsbeschränkungen sind „nicht normale“ Wettbewerbsbedingungen wie z. B. einheitliche Preise und Liefermengen sowie Lieferströme und Märkte ohne ein Hinzutreten oder Ausscheiden von Akteuren, d. h. letztlich statische Zustände statt dynamischer Entwicklungen.26 Der Ausgangspunkt der Interpretation muss wiederum das kartellrechtliche Selbständigkeitspostulat sein.27 Es ist daher danach zu fragen, von welchen wirtschaftlichen Handlungsmöglichkeiten die Unternehmen grundsätzlich – d. h. ohne die jeweilige wettbewerbsbeschränkende Maßnahme – autonom Gebrauch machen könnten.28 Die Wettbewerbsbeschränkung muss entweder der Zweck oder die Wirkung der Maßnahme sein.29 Die alternative Verwirklichung einer bezweckten oder bewirkten Wettbewerbsbeschränkung genügt.30 Wenn feststeht, dass eine Vereinbarung oder ein Beschluss der Parteien eine Wettbewerbsbeschränkung bezweckt (was vorrangig zu 24
Roth/Ackermann, in: Jaeger, Wolfgang/Kokott, Juliane/Pohlmann, Petra/Schroeder, Dirk (Hg.), Frankfurter Kommentar zum Kartellrecht, Stand: 85. Ergänzungslieferung, Köln, Dezember 2015, Art. 81 Abs. 1 EG Grundfragen Rn. 235. 25 Kling/Thomas (Fn. 2) § 5 Rn. 89. 26 Kling/Thomas (Fn. 2) § 5 Rn. 91. 27 Schröter/Voet van Vormizeele, in: Schröter, Helmut/Jakob, Thinam/Klotz, Robert/Mederer, Wolfgang, Kommentar zum Europäischen Wettbewerbsrecht, 2. Aufl. 2014, Art. 101 AEUV Rn. 74 ff.; Hengst, in: Langen, Eugen/Bunte, Hermann-Josef, Kommentar zum deutschen und europäischen Kartellrecht, 2 Bde., 12. Aufl. 2014, Art. 101 AEUV Rn. 175. 28 Kling/Thomas (Fn. 2) § 5 Rn. 92. 29 Zur Abgrenzung zwischen bezweckten und bewirkten Wettbewerbsbeschränkungen nach Art. 101 AEUV s. ausführlich Kuhn, Tilman, Die Abgrenzung zwischen bezweckten und bewirkten Wettbewerbsbeschränkungen nach Art. 101 AEUV, ZWeR 2014, 143 – 168. Der Verfasser gelangt a.a.O., S. 165 u. a. zu dem überzeugenden Ergebnis, „dass klassische Kernbeschränkungen wohl immer als bezweckte Wettbewerbsbeschränkungen anzusehen sind und eine genaue Analyse ihres ökonomischen und rechtlichen Kontexts insoweit im Rahmen des Art. 101 Abs. 1 AEUV nicht zwingend notwendig ist, um einen Verstoß gegen das Kartellverbot festzustellen.“ 30 Kling/Thomas (Fn. 2) § 5 Rn. 97; Schröter/Voet van Vormizeele, in: Schröter/Jakob/ Klotz/Mederer (Fn. 27) Art. 101 AEUV Rn. 120.
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prüfen ist),31 bedarf es der Prüfung etwaiger wettbewerbsbeschränkender Wirkungen folglich nicht mehr.32 Unternehmen, die eine Vereinbarung mit dem Ziel einer Wettbewerbsbeschränkung schließen, können sich deshalb nicht darauf berufen, dass sich ihre Vereinbarung nicht messbar auf den Wettbewerb ausgewirkt habe.33 In aller Regel kommt darüber hinaus auch eine Einzelfreistellung bezweckter Wettbewerbsbeschränkungen gemäß Art. 101 Abs. 3 AEUV nicht in Betracht.34 bb) Bezweckte Wettbewerbsbeschränkung Bezweckte Wettbewerbsbeschränkungen sind Vereinbarungen usw., die ihrem Wesen nach typischerweise schädlich für den Wettbewerb sind.35 Das ist vor allem bei Kernbeschränkungen der Fall.36 Diejenigen Vereinbarungen, die geeignet sind, den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen, und die einen wettbewerbswidrigen Zweck haben, stellen nach der Rspr. des EuGH37 ihrer Natur nach und unabhängig von ihren konkreten Auswirkungen eine spürbare Beschränkung des Wettbewerbs dar. Gelegentlich findet sich in der Rspr. des EuGH die konkretisierende und etwas strengere Formulierung, dass das wesentliche rechtliche Kriterium bei der Ermittlung, ob eine Koordinierung zwischen Unternehmen eine bezweckte Wettbewerbsbeschränkung enthält, „in der Feststellung liegt, dass eine solche Koordinie31
St. Rspr. seit EuGH v. 30. 6. 1965 – Rs. 56/65, Slg. 1966, 337, 3. Leitsatz – LTM/Maschinenbau Ulm; siehe z. B. EuGH v. 16. 7. 2015 – Rs. C-172/14, ECLI:EU:C:2015:484 Rn. 30 – ING Pensii m.w.N.; EuGH v. 20. 1. 2016 – Rs. C-373/14 P, ECLI:EU:C:2016:26 Rn. 24 = WuW 2016, 176 = NZKart 2016, 131 – To¯shiba/Kommission; siehe auch Kling/ Thomas (Fn. 2) § 5 Rn. 97; Roth/Ackermann (Fn. 24) Art. 81 Abs. 1 EG Grundfragen Rn. 310. 32 EuGH v. 4. 6. 2009 – Rs. C-8/08, Slg. 2009, I-4529 Tz. 29 f. = WuW EU-R 1589 – T-Mobile Netherlands; EuGH v. 20. 11. 2008 – Rs. C-209/07, Slg. 2008, 8637 Tz. 16 = WuW/ E EU-R 1509 – Competition Authority/Beef Industry Development Society (BIDS); Kommission v. 12. 10. 2011 – COMP/39482 Tz. 22 – Exotic Fruit (Bananas); EuGH v. 20. 1. 2016 – Rs. C-373/14 P, ECLI:EU:C:2016:26 Rn. 25 = WuW 2016, 176 = NZKart 2016, 131 – To¯shiba/Kommission; Kuhn (Fn. 29) ZWeR 2014, 143 (144). 33 EuG v. 8. 7. 2004 – Rs. T-44/00, Slg. 2004, II-2223 Tz. 130, 196 – MannesmannröhrenWerke/Kommission; EuG v. 27. 7. 2005 – verb. Rs. T-49/02 bis T-51/02, Slg. 2005, II-3033 Tz. 140 – Brasserie Nationale/Kommission. 34 Näher dazu Kuhn (Fn. 29) ZWeR 2014, 143 (144). 35 Siehe dazu EuGH v. 20. 11. 2008 – Rs. C-209/07, Slg. 2008, 8637 Tz. 17 = WuW/E EUR 1509 – Competition Authority/Beef Industry Development Society (BIDS): „Die Unterscheidung zwischen ,bezweckten Verstößen‘ und ,bewirkten Verstößen‘ liegt darin begründet, dass bestimmte Formen der Kollusion zwischen Unternehmen schon ihrer Natur nach als schädlich für das gute Funktionieren des normalen Wettbewerbs angesehen werden können.“; siehe ferner Kuhn (Fn. 29) ZWeR 2014, 143 (144). 36 Zur Einordnung von Kernbeschränkungen als grds. nicht freistellungsfähige bezweckte Wettbewerbsbeschränkungen siehe Kuhn (Fn. 29) ZWeR 2014, 143 (165). 37 EuGH v. 13. 12. 2012 – Rs. C-226/11, ECLI:EU:C:2012:795 Tz. 37 = WuW/E EU-R 2638 = NZKart 2013, 111 – Expedia Inc./Autorité de la concurrence u. a.
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rung in sich selbst eine hinreichende Beeinträchtigung des Wettbewerbs erkennen lässt“.38 Der Begriff der bezweckten Wettbewerbsbeschränkung könne nur auf bestimmte Arten von Koordinierung zwischen Unternehmen angewandt werden, „die den Wettbewerb hinreichend beeinträchtigen, damit davon ausgegangen werden kann, dass die Prüfung ihrer Auswirkungen nicht notwendig ist“.39 Dafür kommt es nicht nur auf die verfolgten Ziele, sondern auch auf die Art der fraglichen Dienstleistung, die Struktur des betreffenden Marktes und den wirtschaftlichen und rechtlichen Zusammenhang an, in dem die Vereinbarung steht.40 Bei horizontalen Vereinbarungen und abgestimmten Verhaltensweisen, wie sie hier im Fokus stehen, gilt nach der Rspr. des EuGH Folgendes: Sie bezwecken eine Wettbewerbsbeschränkung, wenn sie allein auf die Beeinflussung des Wettbewerbsverhaltens der Beteiligten gerichtet sind41 und dabei nicht zur Erreichung eines kartellrechtsneutralen Zwecks erforderlich und angemessen sind (sog. Immanenzgedanke). Das betrifft vor allem Kernbeschränkung wie Preisabsprachen zwischen Wettbewerbern oder die Aufteilung von Märkten.42 Hinsichtlich des Merkmals „bezwecken“ ist zu unterscheiden: Ist eine entsprechende subjektive Zwecksetzung der Parteien im Sinne eines vorsätzlichen Verhaltens gegeben, ist das Merkmal unproblematisch erfüllt. Demgegenüber ist ein „Bezwecken“ im kartellrechtlichen Sinn nicht schon dann zu verneinen, wenn den betroffenen Unternehmen vorsätzliches Verhalten nicht nachgewiesen werden kann. Denn die Intention der Beteiligten mag zwar als ein Indiz43 für die Feststellung einer bezweckten Wettbewerbsbeschränkung zu berücksichtigen sein, sie ist aber kein notwendiges Element hierfür.44 Die Ermittlung der wirtschaftlichen Funktion 38 EuGH v. 11. 9. 2014 – Rs. C-67/13 P, ECLI:EU:C:2014:2204 Tz. 57 = WuW/E EU-R 3082 = NZKart 2014, 399 – Cartes Bancaires (CB); siehe dazu auch Wolf, Christian, Bezweckte Wettbewerbsbeschränkungen nach dem Urteil „Groupement des cartes bancaires“, NZKart 2015, 78 – 85. 39 EuGH v. 11. 9. 2014 – Rs. C-67/13 P, ECLI:EU:C:2014:2204 Tz. 58 = WuW/E EU-R 3082 = NZKart 2014, 399 – Cartes Bancaires (CB). 40 EuGH v. 11. 9. 2014 – Rs. C-67/13 P, ECLI:EU:C:2014:2204 Tz. 58 = WuW/E EU-R 3082 = NZKart 2014, 399 – Cartes Bancaires (CB); ebenso Wollmann/Herzog, in: Bornkamm, Joachim/Montag, Frank/Säcker, Franz Jürgen (Hg.), Münchener Kommentar zum Europäischen und Deutschen Wettbewerbsrecht (Kartellrecht), Band 1: Europäisches Wettbewerbsrecht, 2. Aufl. München 2015, Art. 101 AEUV Rn. 172. 41 Man spricht bei solchen ihrem Wesen nach wettbewerbsbeschränkenden Verhaltensweisen auch von naked oder hardcore restrictions. 42 Siehe auch Kuhn (Fn. 29) ZWeR 2014, 143 (148). 43 Generalanwalt Trstenjak, Schlussanträge v. 30. 6. 2009 – verb. Rs. C-501/06 P u. a., Slg. 2009, I-9291 Tz. 58 = WuW/E EU-R 1641– GlaxoSmithKline Services u. a./Kommission: „Auch der Wille der Parteien kann als Indiz herangezogen werden.“ 44 EuGH v. 6. 10. 2009 – verb. Rs. C-501/06 P u. a., Slg. 2009, I-9291 Tz. 58 = WuW/E EU-R 1641 – GlaxoSmithKline Services u. a./Kommission: „Ferner ist es der Kommission und den Gemeinschaftsgerichten, auch wenn die Absicht der Beteiligten kein für die Bestimmung des wettbewerbsbeschränkenden Charakters einer Vereinbarung notwendiges Element ist,
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der Verhaltenskoordinierung erfolgt also objektiv, so dass die Absichten der Parteien für sich besehen für die Frage nach dem Vorliegen einer bezweckten Wettbewerbsbeschränkung nicht entscheidend sind.45 In aller Regel kann das Vorliegen der Absicht der Parteien, den Wettbewerb zu beschränken, aber als ein Indiz für eine bezweckte Wettbewerbsbeschränkung qualifiziert werden.46 Für die Prüfung des objektiven Bezweckens kommt es auf die Feststellung einer Tatsachenbasis an, die den Schluss zulässt, dass die Vereinbarung (oder der Beschluss bzw. die abgestimmte Verhaltensweise) objektiv geeignet ist, eine Beeinträchtigung des Wettbewerbs herbeizuführen (also auf eine objektive Tendenz).47 Die englische Fassung des Wortlauts des Art. 101 Abs. 1 AEUV ist diesbezüglich klarer („have as their object“). Nach einer häufig verwendeten Formulierung der Rspr. ist bei der Prüfung des wettbewerbswidrigen Zwecks einer Vereinbarung insbesondere auf deren Inhalt und die mit ihr verfolgten Ziele sowie auf den rechtlichen und wirtschaftlichen Zusammenhang, in dem sie steht, abzustellen.48 Entscheidend ist, ob nachteilige Effekte für den Wettbewerb zu erwarten sind; nicht erforderlich ist die Feststellung tatsächlicher Wettbewerbseffekte i.S. konkreter Freiheitseinbußen Dritter.49 Außerdem genügt es, dass die Wettbewerbsbeschränkung einer unter mehreren Zwecken ist; sie muss nicht notwendigerweise der Hauptzweck der Maßnahme sein.50 Bei einer Vereinbarung kann deshalb auch dann ein wettbewerbsbeschränkender Zweck angenommen werden, wenn sie nicht ausschließlich auf eine Beschrän-
nicht verwehrt, sie zu berücksichtigen […].“; dem folgend Kuhn (Fn. 29) ZWeR 2014, 143 (161). 45 Roth/Ackermann (Fn. 24) Art. 81 Abs. 1 EG Grundfragen Rn. 316 f. 46 Roth/Ackermann (Fn. 24) Art. 81 Abs. 1 EG Grundfragen Rn. 320. 47 Kling/Thomas (Fn. 2) § 5 Rn. 101; Mestmäcker, Ernst-Joachim/Schweitzer, Heike, Europäisches Wettbewerbsrecht, 3. Aufl. München 2014, § 11 Rn. 36. 48 EuGH v. 6. 10. 2009 – verb. Rs. C-501/06 P u. a., Slg. 2009, I-9291 Tz. 58 = WuW/E EU-R 1641– GlaxoSmithKline Services u. a./Kommission. s. ferner EuGH v. 14. 3. 2013 – Rs. C-32/11, ECLI:EU:C:2013:160 = WuW/E EU-R 2696 – Allianz Hungária Biztosító Zrt. u. a./Gazdasági Versenyhivatal. Danach sind Vereinbarungen dieser Art als bezweckte Wettbewerbsbeschränkungen i.S. des Art. 101 Abs. 1 AEUV anzusehen, „wenn eine individuelle und konkrete Prüfung des Inhalts und des Ziels dieser Vereinbarungen sowie des wirtschaftlichen und rechtlichen Zusammenhangs, in dem sie stehen, ergibt, dass sie schon ihrer Natur nach schädlich für das gute Funktionieren des normalen Wettbewerbs auf einem der beiden betroffenen Märkte sind.“ Siehe zum Problem der bezweckten Wettbewerbsbeschränkung nach der neueren Rspr. des EuGH Brinker, Geschüttelt, nicht nur gerührt, NZKart 2014, 377. 49 EuG v. 8. 7. 2004 – verb. Rs. T-67/00, T-68/00, T-71/00 und T-78/00, WuW 2004, 959 Tz. 393 – JFE Engineering Group u. a. (= Nahtlose Stahlrohre): „Folglich braucht die Kommission, da eine potenzielle Beeinflussung genügt, nicht nachzuweisen, dass der Handel tatsächlich beeinträchtigt wurde.“ 50 Kling/Thomas (Fn. 2) § 5 Rn. 102; Roth/Ackerman (Fn. 24) Art. 81 Abs. 1 EG Grundfragen Rn. 316.
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kung des Wettbewerbs abzielt, sondern zugleich andere – kartellrechtlich zulässige – Zwecke verfolgt.51 Koordinierungsmaßnahmen zwischen Unternehmen stellen auch dann bezweckte Wettbewerbsbeschränkungen dar, wenn die Drittwirkung aus ökonomischen (z. B. bei Preisabsprachen unter Wettbewerbern) oder aus binnenmarktspezifischen Erwägungen (z. B. bei Vertriebsvereinbarungen, die einen absoluten Gebietsschutz begründen) als typischerweise nachteilhaft zu bewerten ist.52 cc) Bewirkte Wettbewerbsbeschränkung Gelingt den Kartellbehörden der Nachweis einer bezweckten Wettbewerbsbeschränkung nicht, so ist weiter zu untersuchen, ob eine bewirkte Wettbewerbsbeschränkung gegeben ist. Für das Bewirken kommt es allein auf die tatsächlichen Auswirkungen (die Effekte) der Vereinbarung auf den Wettbewerb an, wobei auch potenzielle Auswirkungen zu berücksichtigen sind. Es geht dabei um die Feststellung von Marktzutrittsschranken als naheliegende, wahrscheinliche Folge einer Koordinierung. Das Bewirken wird also anhand der fiktiven Wettbewerbsverhältnisse, die ohne die betreffende Maßnahme bestünden, geprüft (sog. Als-ob-Wettbewerb). Im vorliegenden Zusammenhang spielte die bewirkte Wettbewerbsbeschränkung keine Rolle, so dass an dieser Stelle auf Details nicht im Einzelnen eingegangen werden muss. dd) Das haftungsbefreiende Erfordernis der offenen Distanzierung Im Zentrum der Judikatur und der Entscheidungspraxis der Kommission zur Verhaltensabstimmung steht das kartellrechtliche Selbständigkeitspostulat, demzufolge jedes Unternehmen selbständig zu bestimmen hat, welche Politik es auf dem Binnenmarkt zu betreiben gedenkt.53 Das Selbständigkeitspostulat steht jeder unmittelbaren oder mittelbaren Fühlungnahme zwischen den Unternehmen mit dem Zweck oder der Folge entgegen, das Marktverhalten des Mitbewerbers zu beeinflussen oder den Mitbewerber über künftiges eigenes Verhalten ins Bild zu setzen, das man selbst an den Tag zu legen entschlossen ist, oder in Erwägung zieht.54 Deshalb fällt z. B. die 51
Siehe hierzu insbesondere den Fall des EuGH v. 20. 11. 2008 – Rs. C-209/07, Slg. 2008, 8637 Tz. 17 = WuW/E EU-R 1509 – Competition Authority/Beef Industry Development Society (BIDS), der ein Rationalisierungskartell zum Gegenstand hatte. 52 Kling/Thomas (Fn. 2) § 5 Rn. 103; Roth/Ackermann (Fn. 24) Art. 81 Abs. 1 EG Grundfragen Rn. 320. 53 EuGH v. 16. 12. 1975 – verb. Rs. 40/73 u. a., Slg. 1975, 1663 Tz. 173/174 – Suiker Unie; EuGH v. 14. 7. 1981 – Rs. 172/80, Slg. 1981, 2021 Tz. 13 f. – Züchner/Bayerische Vereinsbank; EuGH v. 27. 9. 1988 – verb. Rs. C-89/85 u. a., Slg. 1993,I-1307 Tz. 63 – Ahlström u. a./ Kommission (= Zellstoff); Rittner/Dreher/Kulka (Fn. 16) § 7 B IV 3, Rn. 837. 54 EuGH v. 16. 12. 1975 – verb. Rs. 40 u. a./73, Slg. 1975, 1663 Tz. 173/174 – Suiker Unie; EuGH v. 14. 7. 1981 – Rs. 172/80, Slg. 1981, 2021 Tz. 14/12 – Züchner/Bayerische Vereins-
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Teilnahme an Verbandssitzungen, die den Zweck haben, wettbewerbsrelevante Informationen unter den Teilnehmern auszutauschen, unter den Begriff der abgestimmten Verhaltensweise.55 Um dem Vorwurf einer Beteiligung an einer nach Art. 101 AEUV verbotenen Kartellabsprache zu entgegen, muss der auf der Sitzung anwesende Unternehmensvertreter sich entweder klar und eindeutig, d. h. offen, vom Inhalt der Sitzung distanzieren,56 um den Eindruck stillschweigender Zustimmung zu zerstören57 oder die Sitzung verlassen58 oder den Kartellbehörden unverzüglich Anzeige59 machen. d) Rechtliche Bewertung des Falles durch die Unionsgerichte aa) Bestehen schützenswerten Wettbewerbs Die Unionsgerichte (EuG und EuGH) bewerten das Gentlemen’s Agreement zwischen To¯shiba und den europäischen Herstellern als bezweckte Wettbewerbsbeschränkung.60 Zwischen beiden Herstellergruppen habe – kartellrechtlich schützenswerter – potenzieller Wettbewerb bestanden. Die Argumentation von To¯shiba, dass aus Sicht der japanischen Hersteller unüberwindbare Hindernisse den Eintritt in den EWR-Markt bestanden hätten, bzw. dass ein solches Eindringen für sie keine wirtschaftlich realisierbare Strategie gewesen sei, wird seitens der Gerichte ausdrücklich zurückgewiesen.61 Das EuG konnte belegen, dass der japanische Hersteller Hitachi Projekte von Kunden übernommen habe, die in Europa ansässig waren.62 Diesem Unbank; EuGH v. 28. 5. 1998 – Rs. C-7/95 P, Slg. 1998, 3111 Tz. 87 – Deere; EuGH v. 8. 7. 1999 – Rs. C-199/92 P, Slg. 1999, I-4287 Tz. 160 – Hüls. 55 EuGH v. 28. 6. 2005 – verb. Rs. C-189/02 P u. a., Slg. 2005, II-5425 Tz. 142 f. – Dansk Rørindustri u. a./Kommission; ausführlich dazu Schröter/Voet van Vormizeele, in: Schröter/ Jakob/Klotz/Mederer (Fn. 27) Art. 101 AEUV Rn. 63; Hengst, in: Langen/Bunte (Fn. 27) Art. 101 AEUV Rn. 93. 56 EuGH v. 19. 3. 2009 – Rs. C-510/06 P, Slg. 2009, I-51843 Tz. 119 – Archer Daniels Midland/Kommission; EuG v. 8. 7. 2008 – Rs. T-99/04, Slg. 2008, II-1501 Tz. 113 – AC Treuhand/Kommission; EuG v. 11. 12. 2003 – Rs. T-61/99, Slg. 2003, II-5349 Tz. 137 f. – Adriatica di Navigazione/Kommission. 57 Siehe dazu auch EuG v. 5. 12. 2006 – Rs. T-303/02, Slg. 2006, II-4567 Tz. 83 – Westfalen Gassen Nederland/Kommission. 58 Schröter/Voet van Vormizeele, in: Schröter/Jakob/Klotz/Mederer (Fn. 27) Art. 101 AEUV Rn. 60. 59 EuGH v. 7. 1. 2004 – verb. Rs. C-204/00 u. a., Slg. 2004, I-124 Tz. 84 – Aalborg Portland u. a./Kommission; EuGH v. 28. 6. 2005 – verb. Rs. C-189/02 P u. a., Slg. 2005, II-5425 Tz. 142 f. – Dansk Rørindustri u. a./Kommission; EuG v. 8. 7. 2008 – Rs. T-99/04, Slg. 2008, II-1501 Tz. 113 – AC Treuhand/Kommission. 60 EuGH v. 20. 1. 2016 – Rs. C-373/14 P, ECLI:EU:C:2016:26 Rn. 19 f., 31 ff. = WuW 2016, 176 = NZKart 2016, 131 – To¯shiba/Kommission. 61 EuGH v. 20. 1. 2016 – Rs. C-373/14 P, ECLI:EU:C:2016:26 Rn. 31 = WuW 2016, 176 = NZKart 2016, 131 – To¯shiba/Kommission. 62 EuG v. 21. 5. 2014 – Rs. T-519/09, ECLI:EU:T:2014:263 Rn. 232 f. – To¯shiba/Kommission.
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ternehmen war also der Markteintritt geglückt. Zudem war es dem koreanischen Unternehmen Hyundai gelungen, in jüngerer Zeit in den europäischen Markt einzutreten.63 Außerdem konnte die Kommission belegen, dass japanische Unternehmen beträchtliche Umsätze in den USA erzielten, ohne dass seitens der Betroffenen belegt worden wäre, inwieweit sich der US-amerikanische Markt und der europäische Markt voneinander unterschieden hätten.64 bb) Kartellrechtliche Bewertung des Gentlemen’s Agreement (1) Indizwirkung für das Bestehen von Wettbewerbsbeziehungen Das Gentlemen’s Agreement selbst wird vom EuG als „starkes Indiz für das Bestehen von Wettbewerbsbeziehungen zwischen den japanischen und europäischen Herstellern“ bewertet.65 Der Generalanwalt stimmt dem zu und bewertet das Gentlemen’s Agreement als „ein Bestandteil des relevanten wirtschaftlichen und rechtlichen Kontexts“.66 Der EuGH teilt diese Sicht ebenfalls und vermag diesbezüglich keine Rechtsfehler des Europäischen Gerichts zu erkennen.67 (2) Rechtliche Bewertung als bezweckte Wettbewerbsbeschränkung Konsequent ist die rechtliche Bewertung des Gentlemen’s Agreement als bezweckte Wettbewerbsbeschränkung durch die Kommission, die Unionsgerichte und den Generalanwalt Wathelet. Bei dem Gentlemen’s Agreement handelt es sich um eine Vereinbarung über die Aufteilung von Märkten und somit um eine bezweckte Wettbewerbsbeschränkung;68 es war somit nicht erforderlich, den Eintritt nachteiliger Effekte für den Wettbewerb zu belegen.69
63 EuG v. 21. 5. 2014 – Rs. T-519/09, ECLI:EU:T:2014:263 Rn. 225 – To¯shiba/Kommission (zu Rn. 168 der Kommissionsentscheidung); ebenso EuGH v. 20. 1. 2016 – Rs. C-373/14 P, ECLI:EU:C:2016:26 Rn. 46 = WuW 2016, 176 = NZKart 2016, 131 – To¯shiba/Kommission. 64 EuG v. 21. 5. 2014 – Rs. T-519/09, ECLI:EU:T:2014:263 Rn. 225 – To¯shiba/Kommission (zu Rn. 168 der Kommissionsentscheidung); ebenso EuGH v. 20. 1. 2016 – Rs. C-373/14 P, ECLI:EU:C:2016:26 Rn. 46 = WuW 2016, 176 = NZKart 2016, 131 – To¯shiba/Kommission. 65 EuG v. 21. 5. 2014 – Rs. T-519/09, ECLI:EU:T:2014:263 Rn. 231 – To¯shiba/Kommission. 66 Schlussanträge des Generalanwalts Wathelet v. 25. 6. 2015 – Rs. C-373/14 P, ECLI:EU:C:2015:427 Rn. 100. 67 EuGH v. 20. 1. 2016 – Rs. C-373/14 P, ECLI:EU:C:2016:26 Rn. 34 f. = WuW 2016, 176 = NZKart 2016, 131 – To¯shiba/Kommission. 68 Europäische Kommission v. 7. 10. 2009 – COMP/39.129, C (2009) 7601 final Rn. 163 f. , ABl. EU 2009 Nr. C 296, S. 21 – Leistungstransformatoren; EuG v. 21. 5. 2014 – Rs. T-519/09, ECLI:EU:T:2014:263 Rn. 228 ff. – To¯shiba/Kommission; EuGH v. 20. 1. 2016 – Rs. C-373/14 P, ECLI:EU:C:2016:26 Rn. 60 ff. = WuW 2016, 176 = NZKart 2016, 23 ff. – To¯shiba/Kommission.
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Die Begründung der Europäischen Kommission ist ebenso knapp wie überzeugend geraten: „163. All undertakings subject to these proceedings agreed upon the allocation of markets agreeing upon such parameters restricts, prevents or distorts competition by its very nature as the quintessential aspects of competitive behaviour are eliminated. By engaging in such conduct, the undertakings aimed at eliminating or at least reducing the risk involved in competing freely on the market place. Therefore, the object of their behaviour was the restriction of competition. (…) 166. (…) The GA was a market allocation scheme which had as its object the prevention, restriction or distortion of competition. It is clear from the evidence set out in this Decision that the object of the arrangements described above was to restrict competition and this in itself is sufficient to support the conclusion that Article 81 of the Treaty and Article 53 of the EEA Agreement apply.“70
An einer späteren Stelle der Entscheidung findet sich der zentrale Vorwurf gegenüber den an dem Kartell beteiligten Unternehmen formuliert. Dort heißt es: „(…) By adhering to the GA, the parties deliberately gave up one of the most important parameters of competition, namely the acquisition of market shares. As the parties are major worldwide active producers of power transformers, their agreement not to sell in each others’ home markets meant that their overall, that is worldwide, competitive potential, and not only the sales in Japan and the EEA or both combined, was therefore not applied for the benefit of the EEA market.“71
Generalanwalt Wathelet fasst die kartellrechtliche Einordnung des Gentlemen’s Agreement folgendermaßen zusammen: „Da nämlich das Gentlemen’s Agreement die Bestätigung eines informellen Kartells darstellt, durch das sich die europäischen und die japanischen Hersteller einigten, in dem jeweils anderen Gebiet der beiden Gruppen keine Umsätze zu tätigen, entspricht seine Einstufung als bezweckte Beschränkung dem gemeinsamen Verständnis dieser Art von Vereinbarung oder Kartell.“72
69 Europäische Kommission v. 7. 10. 2009 – COMP/39.129, C (2009) 7601 final Rn. 164 , ABl. EU 2009 Nr. C 296, S. 21 – Leistungstransformatoren: „It is settled case-law that for the purpose of application of Article 81 of the Treaty and Article 53 of the EEA Agreement there is no need to take into account the actual effects of an agreement and/or concerted practice when it has as its object the prevention, restriction or distortion of competition within the common market. Consequently, it is not necessary to show actual anti-competitive effects where the anti-competitive object of the conduct in question is proved.“; ebenso EuG v. 21. 5. 2014 – Rs. T-519/09, ECLI:EU:T:2014:263 Rn. 228 – To¯shiba/Kommission. 70 Europäische Kommission v. 7. 10. 2009 – COMP/39.129, C (2009) 7601 final Rn. 163, 166, ABl. EU 2009 Nr. C 296, S. 21 – Leistungstransformatoren. 71 Europäische Kommission v. 7. 10. 2009 – COMP/39.129, C (2009) 7601 final Rn. 236, ABl. EU 2009 Nr. C 296, S. 21 – Leistungstransformatoren. 72 EuG v. 21. 5. 2014 – Rs. T-519/09, ECLI:EU:T:2014:263 Rn. 98 – To¯shiba/Kommission.
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cc) Fehlen einer offenen Distanzierung vom Kartell durch To¯shiba Kommission und Rechtsprechung bewerten das Verhalten von To¯shiba außerdem übereinstimmend dahingehend, dass es an einer offenen Distanzierung vom Kartell fehlte.73 To¯shiba hatte geltend gemacht, sich bei dem Treffen in Wien im September 2002 offen von dem Gentlemen’s Agreement distanziert zu haben und an dem darauffolgenden Treffen in Zürich im Mai 2003 nicht teilgenommen zu haben. Mit diesem Vorbringen drang das Unternehmen allerdings nicht durch. Generalanwalt Wathelet führt zu dieser Frage zunächst Folgendes aus: „Auf die offene Distanzierung beruft sich im Allgemeinen ein Unternehmen, das an einem Treffen teilgenommen hat, ohne an der Vereinbarung oder dem dort diskutierten Kartell teilnehmen zu wollen. Die hierzu vorliegende Rechtsprechung des Gerichtshofs, die trotz der begrenzten Anzahl von Urteilen, die zu dieser Frage ergangen sind, als konstant bezeichnet werden kann, lässt sich wie folgt zusammenfassen: ,Wird nachgewiesen, dass ein Unternehmen an Zusammenkünften teilgenommen hat, bei denen wettbewerbswidrige Vereinbarungen getroffen wurden, ohne sich offen dagegen auszusprechen, so ist dies (…) ein ausreichender Beleg für die Teilnahme dieses Unternehmens am Kartell. Ist die Teilnahme an solchen Zusammenkünften erwiesen, obliegt es dem fraglichen Unternehmen, Indizien vorzutragen, die zum Beweis seiner fehlenden wettbewerbswidrigen Einstellung bei der Teilnahme an den Zusammenkünften geeignet sind, und nachzuweisen, dass es seine Wettbewerber darauf hingewiesen hat, dass es mit einer anderen Zielsetzung als diese an den Zusammenkünften teilgenommen hat‘.74 Der Gerichtshof fügt insoweit hinzu, dass ,es für die Beurteilung der Frage, ob sich das betroffene Unternehmen von der rechtswidrigen Vereinbarung distanzieren wollte, tatsächlich entscheidend auf das Verständnis [ankommt], das die übrigen Kartellteilnehmer von seiner Absicht hatten‘75.“76
In Übereinstimmung mit dieser Rechtsprechung folgerte das EuG: „220 In those circumstances, even on the assumption that the applicant did not participate in the Zurich meeting and that that meeting did not have an anti-competitive object, it must be held that, in the absence of any public distancing from the Gentlemen’s Agreement, the applicant participated in the Gentlemen’s Agreement until that meeting. 221 In that context, the applicant cannot successfully claim that it ceased to participate in the Gentlemen’s Agreement at the time of the creation of the joint venture TM T & D, that is to say from 1 October 2002. The applicant had still to be regarded as a participant in that cartel even after that date because it had not publicly distanced itself from that cartel and had not informed the other participants that TM T & D would not participate in it. According to the 73
EuG v. 21. 5. 2014 – Rs. T-519/09, ECLI:EU:T:2014:263 Rn. 205 ff. – To¯shiba/Kommission; EuGH v. 20. 1. 2016 – Rs. C-373/14 P, ECLI:EU:C:2016:26 Rn. 60 ff. = WuW 2016, 176 = NZKart 2016, 131 – To¯shiba/Kommission. 74 EuGH v. 13. 9. 2009 – Rs. C-510/06 P, ECLI:EU:C:2009:166 Rn. 119 – Archer Daniels Midland/Kommission. 75 EuGH v. 13. 9. 2009 – Rs. C-510/06 P, ECLI:EU:C:2009:166 Rn. 120 – Archer Daniels Midland/Kommission. 76 Schlussanträge des Generalanwalts Wathelet v. 25. 6. 2015 – Rs. C-373/14 P, ECLI:EU:C:2015:427 Rn. 127.
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case-law mentioned (…) above, it is sufficient that the applicant gave the impression to the other participants that it or TM T & D still participated in the Gentlemen’s Agreement which had been provisionally confirmed during the Vienna meeting of 26 and 27 September 2002 until the next meeting, that is to say the Zurich meeting of 15 and 16 May 2003.“77
Der Generalanwalt gelangt in seiner Analyse der Rechtsprechung außerdem zu der Einschätzung, dass „es mangels ausdrücklicher Nicht-Distanzierung bei der – auf konkrete Indizien gestützten – Vermutung bleiben kann, dass ein Unternehmen, das an Treffen mit wettbewerbswidrigem Zweck teilnahm, an einem unter das Verbot des Art. 101 Abs. 1 AEUV fallendem Kartell teilnahm.“78
Konkret hätte To¯shiba den Beweis erbringen müssen, dass „sie sich offen von dem Gentlemen’s Agreement distanziert hatte und dass ihre Absicht von den anderen Beteiligten des Kartells auch tatsächlich so verstanden wurde“.79
Nach übereinstimmender Bewertung der Kommission, der Unionsgerichte und des Generalanwalts wurde dieser Beweis von To¯shiba jedoch nicht erbracht. Um es mit den Worten des EUG zu sagen: „(…) even on the assumption that the applicant did not participate in the Zurich meeting and that that meeting did not have an anti-competitive object, it must be held that, in the absence of any public distancing from the Gentlemen’s Agreement, the applicant participated in the Gentlemen’s Agreement until that meeting.“80
Anders gewendet: Es genügt nicht, dass es eine solche offene Distanzierung seitens To¯shiba vielleicht gegeben hat. Sie müsste nämlich nicht nur für die anderen Kartellbeteiligten offen zutage getreten sein, sondern sie muss im Prozess vor dem EuG zudem bewiesen werden. Die Beweislast dafür trägt aus den oben genannten Gründen die Klägerin (To¯shiba), nicht die Kommission. dd) Rechtsfragen der Bußgeldbemessung Die Unionsgerichte billigen ferner auch die Anwendung der Ziff. 18 der Bußgeldleitlinien der Kommission.81 Diese Vorschrift ermöglicht – insbesondere bei weltwei77
EuG v. 21. 5. 2014 – Rs. T-519/09, ECLI:EU:T:2014:263 Rn. 220 f. – To¯shiba/Kommission. 78 Schlussanträge des Generalanwalts Wathelet v. 25. 6. 2015 – Rs. C-373/14 P, ECLI:EU:C:2015:427 Rn. 131. 79 Schlussanträge des Generalanwalts Wathelet v. 25. 6. 2015 – Rs. C-373/14 P, ECLI:EU:C:2015:427 Rn. 132. 80 EuG v. 21. 5. 2014 – Rs. T-519/09, ECLI:EU:T:2014:263 Rn. 220 – To¯shiba/Kommission. 81 Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen gemäß Artikel 23 Absatz 2 Buchstabe a) der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 (2006/C 210/02), ABl. EU 2006 Nr. C 210, S. 2; allgemein dazu Kling/Thomas (Fn. 2) § 9 Rn. 87 ff. Ziff. 18 der Bußgeldleitlinien hat folgenden Wortlaut: „Soweit sich eine Zuwiderhandlung in einem Gebiet auswirkt, das über
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ten Kartellen – in Abweichung von der in Ziff. 13 niedergelegten Grundregel,82 der zufolge nur die relevanten Umsätze auf dem europäischen Markt der Bemessung der Geldbuße zugrunde gelegt werden – die Berücksichtigung von aggregierten Umsätzen, die außerhalb des Europäischen Wirtschaftsraums erzielt wurden. Ziff. 18 der Bußgeldleitlinien wurde im vorliegenden Zusammenhang angewendet, um eine hinreichende Abschreckungswirkung zu erzielen.83 Die Erzielung einer Abschreckungswirkung84 ist ein zentrales Anliegen des europäischen Kartellbußgeldrechts und insbesondere auch Gegenstand der Praxis der Europäischen Kommission.85 Gäbe es Ziff. 18 der Bußgeldleitlinien nicht, hätte die Kommission im Verfahren Leistungstransformatoren – mangels Erzielung von Umsätzen durch japanische Unternehmen auf dem europäischen Markt – gegen die japanischen Kartellmitglieder keine Geldbußen verhängen dürfen.86 Die Kommission hat dazu klargestellt, dass ihre Entscheidung die Notwendigkeit gewährleiste, dass die Geldbußen „eine ausreichende Abschreckungswirkung erzielen“, und zu diesem Zweck die Geldbußen für das Gebiet des Europäischen Wirtschaftsraums („EWR“) hinausreicht (beispielsweise weltweite Kartelle), gibt der innerhalb des EWR erzielte Umsatz das Gewicht der einzelnen Unternehmen bei der Zuwiderhandlung möglicherweise nicht angemessen wieder. Das ist insbesondere der Fall, wenn eine Aufteilung der Märkte weltweit vereinbart wurde. Um in solchen Fällen sowohl den aggregierten Umsatz im EWR als auch das jeweilige Gewicht der einzelnen Unternehmen bei der Zuwiderhandlung wiederzugeben, kann die Kommission den Gesamtwert des Umsatzes mit den betreffenden Waren oder Dienstleistungen, die mit dem Verstoß in Zusammenhang stehen, im gesamten (über den EWR hinausreichenden) relevanten räumlichen Markt schätzen, den Anteil der einzelnen beteiligten Unternehmen am Umsatz auf diesem Markt ermitteln und diesen Anteil auf den aggregierten Umsatz derselben Unternehmen innerhalb des EWR anwenden. Das Ergebnis wird als Umsatz bei der Bestimmung des Grundbetrags der Geldbuße verwendet.“ 82 Ziff. 13 der Bußgeldleitlinien hat folgenden Wortlaut: „Zur Festsetzung des Grundbetrags der Geldbuße verwendet die Kommission den Wert der von dem betreffenden Unternehmen im relevanten räumlichen Markt innerhalb des EWR verkauften Waren oder Dienstleistungen, die mit dem Verstoß in einem unmittelbaren oder mittelbaren Zusammenhang stehen. Im Regelfall ist der Umsatz im letzten vollständigen Geschäftsjahr zugrunde zu legen, in dem das Unternehmen an der Zuwiderhandlung beteiligt war (nachstehend „Umsatz“).“ 83 Siehe im Einzelnen Europäische Kommission v. 7. 10. 2009 – COMP/39.129, C (2009) 7601 final Rn. 231 ff., ABl. EU 2009 Nr. C 296, S. 21 – Leistungstransformatoren. 84 Die Zielsetzung als solche ist berechtigt. Im Zusammenhang mit der Bußgeldbemessung nach Art. 23 VO 1/2003 gibt es allerdings eine Reihe von rechtsstaatlichen Bedenken, die hier nicht erörtert werden können; siehe dazu Kling/Thomas (Fn. 2) § 9 Rn. 108 ff. 85 Kling/Thomas (Fn. 2) § 9 Rn. 88. 86 So zutreffend Europäische Kommission v. 7. 10. 2009 – COMP/39.129, C (2009) 7601 final Rn. 232, ABl. EU 2009 Nr. C 296, S. 21 – Leistungstransformatoren: „In this case, due to the fact that the GA was a market sharing agreement, the Japanese parties had no sales in the EEA. Thus, if only the sales in the EEA were taken into account for determining the basic amount of the fine, the Japanese parties’ fine would be zero and they would be rewarded for having complied with the cartel arrangement not to compete on this market.“ Ebenso EuG v. 21. 5. 2014 – Rs. T-519/09, ECLI:EU:T:2014:263 Rn. 268 – To¯shiba/Kommission; Generalanwalt Wathelet, Schlussanträge v. 25. 6. 2015 – Rs. C-373/14 P, ECLI:EU:C:2015:427 Rn. 152.
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Siemens und Hitachi mit dem Faktor 1,2 und die Geldbuße für To¯shiba mit dem Faktor 1,1 multipliziert.87 e) Stellungnahme Die kartellrechtliche Bewertung des Falles durch die Unionsgerichte ist zutreffend. Das Konzept der bezweckten Wettbewerbsbeschränkung ist allerdings sehr weitreichend, indem es weit vor einer tatsächlichen Schädigung des Wettbewerbs auf dem kartellrechtlich relevanten Markt eingreift; dies ist freilich eine zwingende Konsequenz des Schutzzwecks, der sich eben nicht auf einen Schutz des aktuellen Wettbewerbs beschränkt, sondern eben auch den Schutz des potenziellen Wettbewerbs umfasst. Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH fallen in den Geltungsbereich des Unionskartellrechts alle Kartelle und alle Verhaltensweisen, die geeignet sind, die Freiheit des Handels zwischen Mitgliedstaaten in einer Weise zu gefährden, die der Verwirklichung der Ziele eines einheitlichen Marktes zwischen den Mitgliedstaaten nachteilig sein kann, indem insbesondere die nationalen Märkte abgeschottet werden oder die Wettbewerbsstruktur im Binnenmarkt verändert wird.88 Deshalb vermag das Unionskartellrecht auch Beeinträchtigungen zu erfassen, die am Markt (noch) nicht „sichtbar“ sind, indem bestehende Marktzutrittsschranken kraft Vereinbarung oder abgestimmten Verhaltens von Unternehmen verfestigt wurden. Die im Wortlaut des Art. 101 AEUVund Art. 53 EWRA fixierte Alternativität von bezweckten und bewirkten Wettbewerbsbeschränkungen erweist sich als ein profundes wettbewerbsrechtliches Schutzkonzept. Insbesondere darf man die Auslegung des Begriffs „bezweckte Wettbewerbsbeschränkung“ nicht mit einer begriffsjuristischen Herangehensweise verwechseln, die völlig verfehlt wäre. Der EuGH betont in ständiger Rechtsprechung, dass insoweit auf den Inhalt der Bestimmungen einer Vereinbarung, die mit ihr verfolgten Ziele sowie auf den wirtschaftlichen und rechtlichen Zusammenhang, in dem sie steht, einzugehen ist.89 Am Rande finden sich entsprechende Bemerkungen auch in dem To¯shiba-Urteil des EuGH90 sowie in den diesem Urteil vorgängigen Schlussanträgen des Generalanwalts Wathelet.91 87 Europäische Kommission, Zusammenfassung der Entscheidung v. 7. 10. 2009 – COMP/ 39.129 – Leistungstransformatoren, ABl. EU Nr. C 296, S. 21 Rn. 16. 88 EuGH v. 31. 5. 1979 – Rs. 22/78, Slg. 1979, 1869 Rn. 17 – Hugin/Kommission; EuGH v. 25. 10. 2001 – Rs. C-475/99, Slg. 2001, I-8089 Rn. 47 – Ambulanz Glöckner; EuGH v. 25. 1. 2007 – Rs. C-407/04 P, Slg. 2007, I-829 Rn. 89 – Dalmine/Kommission. 89 EuGH v. 16. 7. 2015 – Rs. C-172/14, ECLI:EU:C:2015:484 Rn. 33 – ING Pensii m.w.N.; EuGH v. 20. 1. 2016 – Rs. C-373/14 P, ECLI:EU:C:2016:26 Rn. 27 = WuW 2016, 176 = NZKart 2016, 131 – To¯shiba/Kommission. 90 EuGH v. 20. 1. 2016 – Rs. C-373/14 P, ECLI:EU:C:2016:26 Rn. 33 f. = WuW 2016, 176 = NZKart 2016, 131 – To¯shiba/Kommission. 91 Sehr deutlich die Schlussanträge des Generalanwalts Wathelet v. 25. 6. 2015 – Rs. C-373/ 14 P, ECLI:EU:C:2015:427 Rn. 66 ff: „66. Um die von Generalanwalt Wahl in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache CB/Kommission (C-67/13 P, EU:C:2014:1958, Nr. 41) verwendete Formulierung aufzunehmen: Die Prüfung der Frage, ob eine Vereinbarung eine
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Demgegenüber fallen noch bestehende Restunsicherheiten bei der Interpretation des Begriffs „bezweckte Wettbewerbsbeschränkung“ zumindest vorliegend nicht entscheidend ins Gewicht. Die Europäische Kommission und die nationalen Kartellämter verfügen nach jahrzehntelanger Praxis über ein hinreichendes Maß an Erfahrung darüber, welche Verhaltensweisen typischerweise nachteilig für den Wettbewerb sind und deshalb als bezweckte Wettbewerbsbeschränkungen qualifiziert werden können. Hinzu kommt, dass die Rechtstatsachen seitens der Kartellbehörden und -gerichte gewürdigt werden, d. h. man verlässt sich nicht allein auf eigene Erfahrungen und Rechtsvermutungen. So wurde z. B. im To¯shiba-Fall bezüglich eines Herrn U., des Managing Director Europe von To¯shiba International, die Beweiswürdigung der Kommission durch das EuG teilweise kassiert.92 Die Rechtskontrolle durch die Unionsgerichte als funktionsfähig erwiesen, was eine Reihe neuerer Entscheidungen aus den letzten Jahren verdeutlicht. Sollte die Europäische Kommission im Einzelfall wirklich einmal „über die Stränge schlagen“ und voreilig zu der Annahme einer bezweckten Wettbewerbsbeschränkung gelangen, ist vor diesem Hintergrund damit zu rechnen, dass die Unionsgerichte dem entschieden entgegentreten würden, sofern dadurch die bisherige Linie verlassen werden würde. In dem oben diskutierten To¯shiba-Fall war dies nicht notwendig, da die Einschätzung der Kommission, dass das Gentlemen’s Agreement eine bezweckte Wettbewerbsbeschränkung darstelle, keinen vernünftigen Zweifeln unterliegt. Denn die kartellrechtliche Grundaussage, dass Vereinbarungen über die Aufteilung von Märkten besonders schwere Wettbewerbsbeschränkungen darstellen, ist seit langem gefestigt.93 In solchen Fällen ändert auch die Berücksichtigung der wirtschaftlichen und rechtlichen Rahmenbedingungen – also des wirtschaftlichen Kontextes, in dem die Vereinbarung stand – typischerweise nichts an dem Ergebnis; eine RechtWettbewerbsbeschränkung bezweckt, kann nicht von dem wirtschaftlichen und rechtlichen Zusammenhang losgelöst werden, in dem die Parteien sie geschlossen haben. 67. Der wirtschaftliche und rechtliche Zusammenhang soll der Behörde, die mit der Prüfung der angeblichen bezweckten Beschränkung betraut ist, dabei helfen, die wirtschaftliche Funktion und tatsächliche Bedeutung der Vereinbarung zu verstehen. 68. Wie Generalanwältin Kokott in ihren Schlussanträgen in der Rechtssache T-Mobile Netherlands u. a. (C-8/08, EU:C:2009:110, Nr. 46) erläuterte, bedeutet die Berücksichtigung des rechtlichen und wirtschaftlichen Zusammenhangs somit, dass die streitige Vereinbarung lediglich konkret geeignet sein muss, zu einer Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs innerhalb des Gemeinsamen Marktes zu führen.“ (Kursivdruck im Original). 92 EuG v. 21. 5. 2014 – Rs. T-519/09, ECLI:EU:T:2014:263 Rn. 181 ff. – To¯shiba/Kommission. Wörtlich führt das EuG dazu in Rn. 184 seiner Entscheidung aus: „[…] Therefore it is not sufficient for the Commission to establish the applicant’s participation in the meetings. The Commission must also demonstrate the anti-competitive nature of those meetings.“ 93 EuGH v. 5. 12. 2013 – Rs. C-449/11 P, ECLI:EU:C:2013:802 Rn. 82 – Solvey Solexis/ Kommission; EuGH v. 4. 9. 2014 – Rs. C-408/12 P, ECLI:EU:C:2014:2153 Rn. 26 m.w.N. = WuW/E EU-R 3160 = NZKart 2014, 455 – YKK u. a./Kommission; EuGH v. 20. 1. 2016 – Rs. C-373/14 P, ECLI:EU:C:2016:26 Rn. 24 = WuW 2016, 176 = NZKart 2016, 131 – To¯shiba/ Kommission.
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fertigung solcher Verhaltensweisen kommt fast nie in Betracht.94 Der EuGH führt dazu aus, dass die Analyse des wirtschaftlichen und rechtlichen Zusammenhangs, in dem die Verhaltensweise steht, „auf das unbedingt notwenige Maß beschränkt werden [könne], um auf das Bestehen einer bezweckten Wettbewerbsbeschränkung zu schließen“.95 Die Kommission konnte sich daher bezüglich der nicht gegebenen Voraussetzungen in Art. 81 Abs. 3 EG (jetzt: Art. 101 Abs. 3 AEUV) und Art. 53 Abs. 3 EWRA kurz fassen.96 2. Weitere Rechtsprechung a) Überblick Der To¯shiba-Fall ist keineswegs das einzige Beispiel für eine rechtspraktische Relevanz des Unionskartellrechts für japanische Unternehmen. Zunächst ist insoweit auf den ganz parallel gelagerten Fall „gasisolierte Schaltanlagen“ hinzuweisen, in dem es ebenfalls um eine kartellrechtswidrige Marktaufteilung zwischen europäischen und japanischen Unternehmen ging.97 In derartigen Fallkonstellationen sind 94 EuGH v. 19. 12. 2013 – verb. Rs. C-239/11 P, C-489/11 P und C-498/11 P, ECLI:EU: C:2013:866 Rn. 218 = NZKart 2014, 59 – Siemens AG, Mitsubishi Electric Corp. und To¯shiba Corp./Kommission (gasisolierte Schaltanlagen); EuGH v. 20. 1. 2016 – Rs. C-373/14 P, ECLI:EU:C:2016:26 Rn. 24 = WuW 2016, 176 = NZKart 2016, 131 – To¯shiba/Kommission. Der einzige neuere Fall des EuGH zum europäischen Kartellverbot, in dem eine Rechtfertigung nach Art. 101 Abs. 3 AEUV ernstlich diskussionswürdig erscheint, betrifft ein Sanierungskartell auf dem irischen Markt für Rindfleischverarbeitung, siehe EuGH v. 20. 11. 2008 – Rs. C-209/07, Slg. 2008, I-8637 = WuW/E EU-R 1509 – Beef Industry Development Society/Barry Brothers. 95 EuGH v. 20. 1. 2016 – Rs. C-373/14 P, ECLI:EU:C:2016:26 Rn. 29 = WuW 2016, 176 = NZKart 2016, 131 – To¯shiba/Kommission. 96 Europäische Kommission v. 7. 10. 2009 – COMP/39.129, C (2009)7601 final Rn. 170, ABl. EU 2009 Nr. C 296, S. 21 – Leistungstransformatoren. 97 Europäische Kommission v. 24. 1. 2007 – COMP/F/38.899, K (2006) 6762 endg. – Gasisolierte Schaltanlagen (GIS); EuG v. 3. 3. 2011 – Rs. T-110/07, Slg. 2011, II-477 = WuW/ E EU-R 1939 – Siemens/Kommission; EuG v. 3. 3. 2011 – verb. Rs. T-117/07 und T-121/07, T-117/07, T-121/07, Slg 2011, II-633 – Areva u. a. und Alstrom/Kommission; EuG v. 3. 3. 2011 – Rs. T-122/07 bis T-124/07, Slg. 2011, II-793 – Siemens AG Österreich und VA Tech Transmission & Distribution GmbH & Co. KEG, Siemens Transmission & Distribution Ltd. und Siemens Transmission & Distribution SA und Nuova Magrini Galileo SpA/Kommission; siehe dazu auch Kellerbauer, Manuel/Weber, Olaf, Die gesamtschuldnerische Haftung für Kartellgeldbußen und ihre Grenzen: Das Urteil Siemens VA Tech, EuZW 2011, 666 – 669; nachgehend EuGH v. 19. 12. 2013 – verb. Rs. C-239/11 P, C-489/11 P und C-498/11 P, ECLI:EU:C:2013:866 = NZKart 2014, 59 – Siemens AG, Mitsubishi Electric Corp. und To¯shiba Corp./Kommission (gasisolierte Schaltanlagen); EuGH v. 10. 4. 2014 – verb. Rs. C-231/11 P bis C-233/11 P, ECLI:EU:C:2014:256 = WuW/E EU-R 2970 = NZKart 2014, 177 – Europäische Kommission/Siemens AG Österreich u. a. und Siemens Transmission & Distribution Ltd. u. a./Europäische Kommission; EuGH v. 10. 4. 2014 – verb. Rs. C-247/11 P und C-253/11 P, ECLI:EU:C:2014:257 = WuW/E EU-R 2996 = NZKart 2014, 181 – Areva SA/Europäische Kommission und Alstom SA u. a./Europäische Kommission.
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die Haftungsgefahren immens. Wenn sich japanische Unternehmen an internationalen Kartellen beteiligen, müssen sie insbesondere mit Mehrfachsanktionen in verschiedenen Jurisdiktionen (USA, Europäische Union, Japan) rechnen.98 Erst kürzlich hat das Unternehmen Japan Airlines vor dem EuG erfolgreich auf Nichtigkeit einer Kommissionsentscheidung geklagt, in der der Klägerin die Beteiligung an einer einheitlichen und fortgesetzten Zuwiderhandlung gegen die Kartellverbote in Art. 101 AEUV und Art. 53 EWRA vorgeworfen wurde. Konkret ging es um abgestimmte Verhaltensweisen auf dem europäischen Luftfrachtmarkt.99 Aus Sicht des EuG war die Entscheidung der Kommission unklar gefasst bzw. die Beteiligung von Japan Airlines an dem Kartell nicht hinreichend begründet, so dass das Gericht die materielle Rechtmäßigkeit der Entscheidung nicht überprüfen konnte.100 In den vergangenen 10 Jahren hat es eine ganze Reihe weiterer Entscheidungen der Unionsgerichte gegeben, die einen Bezug zu Japan aufwiesen. Thematisch behandeln sie zumeist Verstöße gegen das Kartellverbot (diese waren sowohl im Rahmen der kartellrechtlichen Konzernhaftung101 gemäß dem Konzept der wirtschaftlichen Einheit102 als auch im Bereich des Vertriebskartellrechts103 angesiedelt) bzw. 98 Siehe als Beispiel v. 29. 4. 2004 – verb. Rs. T-236/01, T-239/01, T-244/01, bis T-246/01, T-251/01 und T-252/01, Slg 2004, II-1181 = WuW/E EU-R 847 – Tokai Carbon Co. Ltd./ Kommission (Graphitelektroden). 99 EuG v. 16. 12. 2015 – Rs. T-36/11, ECLI:EU:T:2015:992 – Japan Airlines Co. Ltd. 100 EuG v. 16. 12. 2015 – Rs. T-36/11, ECLI:EU:T:2015:992 Rn. 85 f. – Japan Airlines Co. Ltd.: „85 In addition, the Court is unable to review the legality of the contested decision, since it is not in a position to assess whether the evidence adduced by the Commission in order to establish the existence of a single and continuous infringement was sufficient to establish the existence of the four infringements found in the operative part of that decision. 86 It follows that the contested decision is vitiated by a defective statement of reasons which justifies its annulment.“ 101 Siehe zunächst die „Nintendo-Rechtsprechung“ EuG v. 30. 4. 2009 – Rs. T-12/03, Slg. 2009, II-883 = WuW/E EU-R 1562 – Ito¯chu¯ Corp./Kommission; EuG v. 30. 4. 2009 – Rs. T-13/03, Slg. 2009, II-947 – Nintendo Co., Ltd. und Nintendo of Europe GmbH/Kommission; EuG v. 30. 4. 2009 – Rs. T-18/03, Slg. 2009, II-1021 – CD-Contact Data/Kommission; nachgehend EuGH v. 10. 2. 2011 – Rs. C-260/09 P, Slg. 2011, I-419 = WuW/E EU-R 1919 = GRUR Int. 2011, 320 – Activision Blizzard Germany GmbH/Kommission; siehe ferner die „GIS-Rechtsprechung“ EuGH v. 10. 4. 2014 – verb. Rs. C-231/11 P bis C-233/11 P, ECLI:EU:C:2014:256 = WuW/E EU-R 2970 = NZKart 2014, 177 – Europäische Kommission/Siemens AG Österreich u. a. und Siemens Transmission & Distribution Ltd. u. a./Europäische Kommission (Gasisolierte Schaltanlagen). 102 Leitentscheidungen des EuGH sind folgende Urteile: EuGH v. 10. 9. 2009 – Rs. C-97/08 P, Slg. 2009, I-8237 Tz. 54 ff., 72 ff. = EuZW 2009 – Akzo Nobel/Kommission und EuGH v. 20. 1. 2011 – Rs. C-90/09 P, Slg. 2011, I-1 Tz. 84 ff. = WuW/E EU-R 1899 – General Química u. a./Kommission. Vereinfacht gesagt greift danach eine Bußgeldhaftung der Muttergesellschaft bei Zuwiderhandlungen von Tochtergesellschaften gegen das Kartellrecht, sofern die Muttergesellschaft 10 % oder nahezu 100 % der Anteile an der Tochtergesellschaft hält. Auf ein eigenes Verschulden der Tochtergesellschaft kommt es dann nicht an. Kritisch zu dieser Rechtsprechung u. a. Kling (Fn. 16) WRP 2010, 506; ders., Wirtschaftliche Einheit und Gemeinschaftsunternehmen – Konzernprivileg und Haftungszurechnung, ZWeR 2011, S. 169 – 191; Thomas, Stefan, Der Schutz des Wettbewerbs in Europa – welcher Zweck heiligt die
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Rechtsfragen des Kartellbußgeldrechts104. Demgegenüber fehlt es an einschlägiger Rechtsprechung zum Verbot des Missbrauchs marktbeherrschender Stellungen gemäß Art. 102 AEUV und Art. 54 EWRA. Vor dem Hintergrund, dass für die Annahme einer marktbeherrschenden Stellung hohe Marktanteile (etwa 40 – 50 %) an dem kartellrechtlich relevanten Markt erforderlich sind, verwundert die geringe praktische Relevanz des Missbrauchsrechts nicht. Die Anwendung des Kartellverbots des Art. 101 AEUV (bzw. des Art. 53 EWRA) ist demgegenüber grundsätzlich unabhängig von der Erzielung bestimmter Marktanteile; lediglich bei ganz geringen Marktanteilen kommt – in seltenen Fällen – die Annahme eines Bagatellkartells in Betracht, bei dem die Spürbarkeit der Wettbewerbsbeschränkung sowie der Handelsbeeinträchtigung fehlen. b) Das Autoglaskartell aa) Problemaufriss Auf nationaler Ebene ist schließlich auf ein neues Urteil des Landgerichts Düsseldorf aus dem vergangenen Jahr hinzuweisen.105 Darin ging es um ein QuotenkarMittel?, JZ 2011, 485 – 495; ders., Die wirtschaftliche Einheit im EU-Kartellbußgeldrecht, Kölner Schrift zum Wirtschaftsrecht (KSzW) 2011, 10 – 14; ders., Guilty of a Fault that one has not Committed. The Limits of the Group-Based Sanction Policy Carried out by the Commission and the European Courts in EU-Antitrust Law, Journal of Competition Law & Practice (JECLAP) 2012, 11 – 28; Bechtold, Rainer/Bosch, Wolfgang, Der Zweck heiligt nicht alle Mittel: Eine Erwiderung auf Ackermann, Thomas, Prävention als Paradigma: Zur Verteidigung eines effektiven kartellrechtlichen Sanktionssystems, ZWeR 2010, 329 – 352, ZWeR 2011, 160 – 169; Bosch, Wolfgang, Haftung für kartellrechtswidriges Handeln der Tochtergesellschaft – Neue Rechtslage nach dem Urteil in der Rechtssache Elf Aquitaine/Kommission?, ZWeR 2012, 368 – 379; zuletzt Thomas, Stefan/Legner, Sarah, Die wirtschaftliche Einheit im Kartellzivilrecht, NZKart 2016, 155 – 160; der Rechtsprechung zustimmend Ackermann, Prävention als Paradigma: Zur Verteidigung eines effektiven kartellrechtlichen Sanktionensystems, ZWeR 2010, 329 ff.; ders., Kartellbußen als Instrument der Wirtschaftsaufsicht, ZWeR 2012, 3 ff.; Kersting, Christian, Wettbewerbsrechtliche Haftung im Konzern, Der Konzern 2011, 445 – 459; ders., Die Rechtsprechung des EuGH zur Bußgeldhaftung in der wirtschaftlichen Einheit, WuW 2014, 1156 – 1173; ausführlich zur zivilrechtlichen Konzernhaftung Kling/Thomas (Fn. 2) § 5 Rn. 217 ff.; monographisch dazu Aberle, Lukas, Sanktionsdurchgriff und wirtschaftliche Einheit im deutschen und europäischen Kartellrecht, Schriftenreihe des Forschungsinstitutes für Wirtschaftsverfassung und Wettbewerb e.V. Köln, Heft 245, Köln 2013; Klotz, Marius, Wirtschaftliche Einheit und Konzernhaftung im Kartellzivilrecht, Schriftenreihe des Forschungsinstitutes für Wirtschaftsverfassung und Wettbewerb e.V. Köln, Heft 253, Köln 2016. 103 Siehe zu einem vertikalen Verstoß z. B. EuG v. 30. 4. 2009 – Rs. T-13/03, Slg. 2009, II-947 Rn. 150 – Nintendo Co., Ltd. und Nintendo of Europe GmbH/Kommission (betreffend den Vertrieb von Nintendo-Spielkonsolen in Europa). 104 EuGH v. 29. 6. 2006 – Rs. C-289/04 P, Slg. 2006, I-5859 – Sho¯wa Denko¯/Kommission (Graphitelektroden); EuGH v. 19. 12. 2013 – verb. Rs. C-239/11 P, C-489/11 P und C-498/11 P, ECLI:EU:C:2013:866 = NZKart 2014, 59 – Siemens AG, Mitsubishi Electric Corp. und To¯shiba Corp./Kommission (gasisolierte Schaltanlagen). 105 LG Düsseldorf v. 19. 11. 2015 – Az. 14d O 4/14, NZKart 2016, 88 = WuW 2016, 29.
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tell auf dem Autoglasmarkt.106 Dem Urteil war eine gemäß § 33 Abs. 4 GWB bindende Bußgeldentscheidung der Kommission107 vorausgegangen. bb) Die Entscheidung des Landgerichts Düsseldorf Das LG hatte konkret über die Schadensersatzklage eines Kfz-Versicherers wegen Zahlung kartellbedingt überhöhter Preise bei Regulierung von Versicherungsfällen zu entscheiden. Die Erstbeklagte des Falles hatte ihren Sitz in Japan, bei den weiteren Beklagten handelte es sich um deren Tochterunternehmen. Ein zentrales Problem des Falles, auf das hier nicht im Einzelnen eingegangen werden kann, bestand in der Frage der Schadensweiterwälzung (sog. passing-on defense).108 Wichtig ist in dem hier interessierenden Zusammenhang lediglich die grundsätzliche Aussage zu Quotenkartellen, die das LG in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung verschiedener Oberlandesgerichte109 folgendermaßen formuliert: „Ein Quotenkartell hat typischerweise wettbewerbsbeschränkende Effekte, und zwar auch im Verhältnis zu einer marktmächtigen Marktgegenseite. Der einzelne Anbieter hat in aller Regel auf Grund des Quotenkartells einen geringeren Anreiz zur Senkung seiner Preise, weil er sich durch die Preissenkung ohnehin keine zusätzlichen Marktanteile erschließen könnte,
106 Siehe Rn. 4 des Urteils LG Düsseldorf v. 19. 11. 2015 – Az. 14d O 4/14, NZKart 2016, 88 = WuW 2016, 29, wo unter Rückgriff auf die Kommissionsentscheidung v. 12. 11. 2008 Folgendes dargelegt wird: „Die Kartellanten verzichteten auf jeden Wettbewerb miteinander und kooperierten stattdessen. Sie tauschten sensible Informationen, Preise und Rabatte aus und sprachen insbesondere ihr Verhalten gegenüber den Automobilherstellern ab, nachdem diese in sog. RFQ-Schreiben (Request for Quotation-Schreiben) die Autoglashersteller zur Abgabe von Angeboten aufgefordert hatten. Die Absprachen deckten den gesamten europäischen Wirtschaftsraum ab.“ 107 Europäische Kommission v. 12. 11. 2008 – COMP/39.125 – Autoglas. In diesem Fall erhielt das französische Unternehmen Saint-Gobain die höchste bisher verhängte Einzelgeldbuße i.H.v. 880 Mio. Euro (siehe die Pressemitteilung v. 12. 11. 2008 – IP/08/1685), die später vom EuG um 30 % auf 715 Mio. Euro reduziert wurde (siehe EuG v. 27. 3. 2014 – Rs. T-56/09, ECLI:EU:T:2014:160 Rn. 486 – Saint-Gobain Glass France SA u. a./Kommission). Der japanische Kartellteilnehmer Asahi/AGC Flat Glass, neben Saint-Gobain und Pilkington einer von drei „Playern“ auf dem europäischen Markt für Autoglas, erhielt von der Kommission ein Bußgeld von 113,5 Mio. Euro. 108 Siehe dazu insbesondere LG Düsseldorf v. 19. 11. 2015 – Az. 14d O 4/14, NZKart 2016, 88 Rn. 208 ff.= WuW 2016, 29. Die Leitentscheidung zu diesem Problem auf nationaler Ebene ist BGH v. 28. 6. 2011 – KZR 75/10, BGHZ 190, 145 = WuW/E DE-R 3431 – ORWI; siehe zum Problem des passing-on insbesondere Inderst, Roman/Thomas, Stefan, Schadensersatz bei Kartellverstößen: Eine Untersuchung der juristischen und ökonomischen Grundlagen, Methoden und damit verbundenen Rechtsfragen betreffend die Ermittlung des Schadens bei Verstößen gegen das Kartellverbot, Düsseldorf 2015, S. 241 ff., 270 ff.; knapp dazu auch Kling/Thomas (Fn. 2) § 23 Rn. 54. Zur Frage des Anscheinsbeweises sei de lege ferenda auf Art. 14 Abs. 2 der Europäischen Kartellschadensersatzrichtlinie 2014/104/EU hingewiesen. 109 Kammergericht Berlin v. 1. 9. 2009 – Az. 2 U 17/03, NZG 2010, 420 – Berliner Transportbeton; OLG Karlsruhe v. 31. 7. 2013 – Az. 6 U 51/12 (Kart.), NZKart 2014, 366 – Feuerwehrfahrzeuge.
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und eine größere Möglichkeit, die Preise zu erhöhen, weil er nicht Gefahr läuft, durch die Preiserhöhung Marktanteile an seine Wettbewerber zu verlieren (so auch das KG a.a.O.).“110
Das LG stellt ferner zutreffend klar, dass der Umstand, dass die Abnehmer des Kartells – hier: Automobilhersteller – über Marktmacht verfügten, an dieser rechtlichen Bewertung nichts ändert.111 Der Fall macht deutlich, dass die kartellrechtlichen „Konzernhaftungs-Konstellationen“ gemäß dem Konzept der wirtschaftlichen Einheit112 sowohl auf europäischer wie auf nationaler Ebene praktisch werden können. c) Der Fall Nintendo/Kommission (Spielkonsolen) aa) Problemaufriss Die praktische Relevanz der „Akzo-Grundsätze“ ist unter anderem auch im Nintendo-Fall deutlich geworden, der die kartellrechtswidrige Beschränkung von Paralleleinfuhren von Nintendo-Spielkonsolen in Europa zum Gegenstand hatte. Das Vorbringen von Nintendo (der Muttergesellschaft des bekannten Spielkonsolenherstellers mit Sitz in Kyo¯to) war nicht von Erfolg gekrönt. Ihre Hinweise auf die gesellschaftsrechtliche Einordnung sowohl der Muttergesellschaft Nintendo als auch der Tochtergesellschaft Ito¯chu¯ als „Universalhandelsgesellschaften“ (So¯go¯ Sho¯sha), auf dezentrale Organisation und die Weisungsfreiheit (Autonomie) ihrer Tochtergesellschaften im Ausland, auf eine demgemäß lediglich abstrakte Kontrolle dieser Gesellschaften durch die Konzernmutter sowie die fehlende eigene Verantwortlichkeit der Muttergesellschaft für die Zuwiderhandlungen ihrer Enkelgesellschaft Ito¯chu¯ Hellas, verfingen allesamt nicht.113 Vielmehr wurden die strengen „Akzo-Grundsätze“ des EuGH zur kartellrechtlichen Bußgeldhaftung von Muttergesellschaften auch in diesem Fall angewandt, da Nintendo 100 % der Anteile an der Tochtergesellschaft Ito¯chu¯ und diese wiederum 100 % an Ito¯chu¯ Hellas besessen hatte.114 Allgemein gilt deshalb: 110
LG Düsseldorf v. 19. 11. 2015 – Az. 14d O 4/14, NZKart 2016, 88 Rn. 197 = WuW 2016, 29. 111 LG Düsseldorf v. 19. 11. 2015 – Az. 14d O 4/14, NZKart 2016, 88 Rn. 2014 = WuW 2016, 29: „Der Verweis auf die Marktmacht der Automobilhersteller ist hierfür ungeeignet. Grundsätzlich können auch gegenüber einer marktmächtigen Abnehmerseite überhöhte Preise durchgesetzt werden. Hiervon abgesehen war nach den Feststellungen der Kommission die Konzentration auf dem Nachfragemarkt nicht so groß wie auf dem Angebotsmarkt. Der Vortrag zur Preistransparenz ist nicht so konkret, dass auf dieser Grundlage davon auszugehen wäre, dass jeder einzelne Preisbestandteil von jeder Art von Manipulation ausgeschlossen gewesen wäre. […]“ 112 Siehe oben Fn. 102. 113 Siehe EuG v. 30. 4. 2009 – Rs. T-12/03, Slg. 2009, II-883 Rn. 33 ff., 47 ff. = WuW/E EU-R 1562 – Ito¯chu¯ Corp./Kommission. 114 EuG v. 30. 4. 2009 – Rs. T-12/03, Slg. 2009, II-883 Rn. 33 ff., 52 = WuW/E EU-R 1562 – Ito¯chu¯ Corp./Kommission.
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„Unter diesen Umständen genügt es, dass die Kommission nachweist, dass das gesamte Kapital einer Tochtergesellschaft von ihrer Muttergesellschaft gehalten wird, um anzunehmen, dass die Muttergesellschaft entscheidenden Einfluss auf die Geschäftspolitik der Tochtergesellschaft ausübt. Die Kommission kann dann die Muttergesellschaft für die Zahlung der gegen ihre Tochtergesellschaft festgesetzten Geldbuße gesamtschuldnerisch haftbar machen, es sei denn, die Muttergesellschaft weist nach, dass ihre Tochtergesellschaft nicht im Wesentlichen ihre Weisungen befolgte und deshalb ihr Marktverhalten selbständig bestimmte.“115
Nintendo seinerseits konnte die Vermutung, wonach sie tatsächlich entscheidenden Einfluss auf das Verhalten ihrer Tochtergesellschaft ausübte, aus der Sicht des EuG nicht entkräften.116 Daher war der Muttergesellschaft das kartellrechtswidrige Verhalten ihrer Enkelgesellschaft nach den „Akzo-Grundsätzen“ zuzurechnen: „[…] Um einer Muttergesellschaft die Handlungen ihrer Tochtergesellschaft zuzurechnen, braucht nämlich keineswegs nachgewiesen zu werden, dass die Muttergesellschaft an dem vorgeworfenen Verhalten unmittelbar beteiligt war oder von ihm Kenntnis hatte. Es ist nicht ein zwischen der Muttergesellschaft und ihrer Tochtergesellschaft bestehendes Verhältnis der Anstiftung zu der Zuwiderhandlung und erst recht nicht eine Beteiligung der Muttergesellschaft an dieser Zuwiderhandlung, sondern die Tatsache, dass sie ein einziges Unternehmen im Sinne von Art. 81 EG117 bilden, die die Kommission dazu ermächtigt, eine Bußgeldentscheidung an die Muttergesellschaft eines Konzerns zu richten. […]“118
bb) Die Entscheidung des Falles durch die Kommission und das EuG Die Bußgeldbemessung erwies sich für Nintendo im Ergebnis als besonders hart. Die Kommission hielt nämlich eine Erhöhung des Ausgangsbetrags der Geldbuße um den Faktor 3 (von 23 Mio. Euro auf 69 Mio. Euro) für erforderlich, um der Größe und den Gesamtressourcen des Unternehmens Rechnung zu tragen und den Umstand zu berücksichtigen, dass Nintendo Hersteller der Erzeugnisse war.119 Zudem wurde wegen erschwerender Umstände der Grundbetrag zunächst um 50 % heraufgesetzt, weil die Kommission Nintendo als Anstifter einstufte. Der so 115 EuG v. 30. 4. 2009 – Rs. T-12/03, Slg. 2009, II-883 Rn. 51 = WuW/E EU-R 1562 – Ito¯chu¯ Corp./Kommission. 116 EuG v. 30. 4. 2009 – Rs. T-12/03, Slg. 2009, II-883 Rn. 33 ff., 59 = WuW/E EU-R 1562 – Ito¯chu¯ Corp./Kommission. 117 Diese Vorschrift – das europäische Kartellverbot – findet sich seit Inkrafttreten des Lissabonner Vertrages zum 1. Dezember 2009 praktisch unverändert in Art. 101 AEUV wieder. Die Rechtsprechung zu Art. 81 EG-Vertrag ist unproblematisch auf das geltende Recht übertragbar. 118 EuG v. 30. 4. 2009 – Rs. T-12/03, Slg. 2009, II-883 Rn. 58 = WuW/E EU-R 1562 – Ito¯chu¯ Corp./Kommission. 119 Europäische Kommission v. 30. 10. 2002 – COMP/35.587, COMP/35.706 und COMP/ 36.321, ABl. EG 2003, Nr. L 255, S. 33 – PO Video Games, PO Nintendo Distribution und Omega – Nintendo Rn. 393 ff.; bestätigend EuG v. 30. 4. 2009 – Rs. T-12/03, Slg. 2009, II-883 Rn. 96 ff. = WuW/E EU-R 1562 – Ito¯chu¯ Corp./Kommission.
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errechnete Betrag wurde wegen Berücksichtigung mildernder Umstände um 300.000 Euro herabgesetzt, weil Nintendo den Geschädigten eine finanzielle Entschädigung gezahlt hatte. Weitere 25 % Ermäßigung erhielt Nintendo, weil sie mit der Kommission zusammengearbeitet hatte. Letztlich erhielten Nintendo und die Nintendo of Europe GmbH gemäß der Kommissionsentscheidung vom 30. Oktober 2002120 eine Geldbuße in Höhe von 149,128 Mio. EUR auferlegt, für die sie gesamtschuldnerisch hafteten. cc) Kritik Diese – inzwischen schon ständige121 – europäische Rechtsprechung und Kommissionspraxis zur bußgeldrechtlichen Verantwortlichkeit von Muttergesellschaften bei Kartellverstößen von Tochtergesellschaften ist nach einem Teil der Literatur kritisch zu bewerten.122 Trotz des unbestritten hohen Rangs, den das Effektivitätsprinzip bei der Durchsetzung des Unionskartellrechts genießt, bestehen insoweit erhebliche rechtsstaatliche Bedenken, die am Bestimmtheitsgrundsatz und am Verschuldensgrundsatz festgemacht werden.123 Das System der Bußgeldverhängung gemäß den „Akzo-Grundsätzen“ ist vor allem deshalb kritikwürdig, weil es die rechtliche Eigenständigkeit der Konzerngesellschaften negiert124 und so de facto zu einer systemfremden Strukturhaftung125 führt. Richtigerweise kann der Muttergesellschaft ein 120
Europäische Kommission v. 30. 10. 2002 – COMP/35.587, COMP/35.706 und COMP/ 36.321, ABl. EG 2003, Nr. L 255, S. 33 – PO Video Games, PO Nintendo Distribution und Omega – Nintendo Rn. 475. 121 s. EuGH v. 10. 4. 2014 – Rs. C-231/11 P bis C-233/11 P, ECLI:EU:C:2014:256 Tz. 46 = WuW/E EU-R 2970 = NZKart 2014, 177– Kommission/Siemens Österreich u. a. und Siemens Transmission & Distribution u. a./Kommission. 122 Kritisch Kling (Fn. 16) WRP 2010, 506 ff.; ders., Wirtschaftliche Einheit und Gemeinschaftsunternehmen – Konzernprivileg und Haftungszurechnung, ZWeR 2011, 169 ff.; Thomas (Fn 102) JZ 2011, 485 ff.; ders. (Fn. 102) KSzW Kölner Schrift zum Wirtschaftsrecht 2011, 10; ders. (Fn. 102) JECLAP 2012, 11 ff.; Bechtold/Bosch (Fn. 102) ZWeR 2011, 160 ff.; Bosch (Fn. 102) ZWeR 2012, 368, 372 ff.; zu den Bestimmtheitsdefiziten im Bußgeldrecht s. ferner Brettel/Thomas, Unternehmensbußgeld, Bestimmtheitsgrundsatz und Schuldprinzip im novellierten deutschen Kartellrecht, ZWeR 2009, 25 ff.; a.A. – d. h. der Rspr. und Kommissionspraxis folgend – Ackermann (Fn. 102) ZWeR 2010, 329 ff.; ders. (Fn. 102) ZWeR 2012, 3 ff.; Kersting (Fn. 102) Der Konzern, 2011, 445 ff.; ders. (Fn. 102) WuW 2014, 1156, 1158 ff.; Kokott/Dittert, Die Verantwortlichkeit von Muttergesellschaften für Kartellvergehen ihrer Tochtergesellschaften im Lichte der Rechtsprechung der Unionsgerichte, WuW 2012, 670 ff.; enger Kellerbauer, Die Einordnung der Rechtsprechung der EU-Gerichte zur gemeinschaftlichen Haftung im Konzern in das Recht der EU und der EMRK, WuW 2014, 1173 ff. 123 Ausführlich Brettel, Hauke/Thomas, Stefan, Compliance und Unternehmensverantwortlichkeit im Kartellrecht, Tübingen 2016, S. 50 ff. 124 Brettel/Thomas (Fn. 123) S. 19 f. 125 Gegen eine verschuldensunabhängige akzessorische Erfolgshaftung der Muttergesellschaft bereits Thomas (Fn. 102) JECLAP 2012, 11, 15 ff.. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass der BGH im Bereich des deutschen Konzernrechts – bezüglich der
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Bußgeldvorwurf – bei fehlender Beteiligung an dem Kartellverstoß durch eigene Organe oder Mitarbeiter – nur dann gemacht werden, wenn man dabei an die Verletzung konzernweiter Aufsichtspflichten anknüpft, „weil sich darin die Vermeidemacht der Muttergesellschaft mit Blick auf die Verbundgruppe manifestiert und zugleich erschöpft“.126 Wollte man die Rechtsfigur der wirtschaftlichen Einheit kohärent anwenden, müsste man zunächst eigenständige Verhaltenspflichten der Muttergesellschaft definieren und deren Verletzung zur Voraussetzung für die Verhängung von Sanktionen machen.127 In diesem Fall wäre die haftungsbefreiende oder zumindest bußgeldmindernde Berücksichtigung von Compliance eine logisch zwingende Folge und gleichsam ein integraler Bestandteil der Bußgeldbemessung.128 Der geltend gemachte Einwand, dass die Vermutung bei 100 %-igem Anteilsbesitz nach der Rechtsprechung widerleglich sei, verfängt im Übrigen nicht. Es ist nicht ersichtlich, welche Voraussetzungen für die Widerlegung der Vermutung im Einzelnen gelten sollen und wie die Enthaftung der Muttergesellschaft in der Praxis gelingen kann.129 Der EuGH ist sich dieser Schwierigkeiten offenbar bewusst, er hält sie aber für hinnehmbar.130
Haftung im qualifiziert faktischen Konzern – zwischenzeitlich einer Strukturhaftung zuneigte (s. BGHZ 115, 187 – Video), diese Auffassung aber alsbald implizit aufgab (BGHZ 122, 123 – TBB, 1. Leitsatz); s. dazu auch Voet van Vormizeele, Die EG-kartellrechtliche Haftungszurechnung im Konzern im Widerstreit zu den nationalen Gesellschaftsrechtsordnungen, WuW 2010, 1008 (1014): „Die hieraus letztlich resultierende verschuldensunabhängige Erfolgshaftung verstößt (…) nicht nur gegen fundamentale Rechtsgrundsätze, sondern steht (…) auch in einem Widerstreit zu den nationalen Gesellschaftsrechtsordnungen.“ 126 So treffend Brettel/Thomas (Fn. 123) S. 21. 127 Brettel/Thomas (Fn. 123) S. 27. 128 Brettel/Thomas (Fn. 123) S. 109. 129 Zu den großen praktischen Schwierigkeiten der Widerlegung der Vermutung der tatsächlichen Ausübung eines bestimmenden Einflusses siehe z. B. EuGH v. 11. 7. 2013 – Rs. C-440/11 P, ECLI:EU:C:2013:514 Tz. 54 ff. = NZKart 2013, 367 – Kommission/Stichting Administratiekantoor Portielje; siehe ferner EuGH v. 29. 9. 2011 – Rs. C-521/09 P, Slg. 2011, I-8947 Tz. 62. 66, 70 – Elf Aquitaine/Kommission, wo die Haftung der Muttergesellschaft trotz 98 %-igen Anteilsbesitzes wegen Verletzung der Begründungspflicht seitens der Kommission verneint wurde; zur Einordnung dieses Urteils in die Gesamtkonzeption des EuGH siehe Bosch, ZWeR 2012, 368 ff.; Thomas, JECLAP 2012, 11, 17 ff. 130 EuGH v. 11. 7. 2013 – Rs. C-440/11 P, ECLI:EU:C:2013:514 Tz. 71 = NZKart 2013, 367 – Kommission/Stichting Administratiekantoor Portielje: „Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs hält sich nämlich eine Vermutung innerhalb akzeptabler Grenzen, wenn sie in angemessenem Verhältnis zu dem verfolgten legitimen Ziel steht, wenn die Möglichkeit besteht, den Beweis des Gegenteils zu erbringen, und wenn die Verteidigungsrechte gewahrt sind. Die Tatsache, dass es schwierig ist, den zur Widerlegung einer Vermutung erforderlichen Gegenbeweis zu erbringen, oder auch der bloße Umstand, dass eine Einrichtung in einem bestimmten Fall keine zur Widerlegung einer Vermutung geeigneten Beweise vorlegt, bedeutet für sich genommen nicht, dass diese Vermutung tatsächlich unwiderlegbar wäre, vor allem wenn, wie bei der hier in Rede stehenden Vermutung, die Einrichtungen, denen gegenüber die Vermutung greift, am besten in der Lage sind, diesen Nachweis in ihrer eigenen Tätigkeitssphäre zu suchen […].“
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Nach dem gegenwärtigen Stand der Rspr. der Unionsgerichte sowie der Praxis der Kommission ist in vielen Fällen von einer akzessorischen Haftung der Muttergesellschaft für den Kartellverstoß der Tochtergesellschaft auszugehen – und zwar auch dann, wenn die Muttergesellschaft keinerlei Vorwurf im Hinblick auf ein Tun, Dulden oder Unterlassen in Bezug auf den von der Tochtergesellschaft begangenen Wettbewerbsverstoß trifft; es genügt allein das Vorliegen einer wirtschaftlichen Einheit. Die Kommission muss demnach lediglich den (nahezu) 100 %-igen Anteilsbesitz der Mutter- an der Tochtergesellschaft, die den Wettbewerbsverstoß begangen hat, beweisen. Vor diesem Hintergrund konfligiert das Haftungskonzept des EuGH mit dem – aus rechtsstaatlichen Vorgaben abgeleiteten – Grundsatz der persönlichen Verantwortlichkeit, der nach hiesigem Verständnis ein eigenes „Verschulden“ (i.S. einer eigenen Verantwortlichkeit) der Muttergesellschaft voraussetzt; aus Sicht des EuGH genügt freilich der Wettbewerbsverstoß der wirtschaftlichen Einheit als solcher zur Wahrung dieses Grundsatzes.131 Richtigerweise sollte die Haftungszurechnung an den positiven Nachweis durch die Kommission geknüpft werden, dass die Muttergesellschaft bei einer tatsächlich ausgeübten Einflussnahme von dem kartellrechtswidrigen Verhalten hätte wissen und dieses hätte verhindern können.132 De lege ferenda wäre es vorzugswürdig, wenn eine selbständige Haftung für Aufsichtspflichtverletzungen in Art. 23 VO 1/2003 normiert werden und für die Haftung der Muttergesellschaft schuldhafte Zuwiderhandlungen gegen diese ihr obliegende Konzernaufsichtspflicht zur Voraussetzung gemacht würde.133
III. Fazit Mit dem hier untersuchten Fall To¯shiba/Kommission erweist sich einmal mehr die praktische Relevanz des Europäischen Kartellrechts für Unternehmen mit Sitz außerhalb Europas. Die Bedeutung des Unionskartellrechts manifestiert sich vor allem in der Verhängung von beträchtlichen – bisweilen auch astronomisch hohen – Geldbußen der Kartellbehörden, welche durch Abschreckung die Effektivität der Kartellrechtsanwendung in Europa sicherstellen sollen. Vor diesem Hintergrund haben japanische Unternehmen – insbesondere Konzernmütter – allen Grund, in Bezug auf das „Europageschäft“ ihres Hauses wachsam zu sein und durch eine effektive Kartellrechtscompliance134 dafür Sorge zu tragen, dass rechtswidrige wettbewerbsschädliche Verhaltensweisen unterbleiben. Insgesamt gesehen sind die Kartellverbote in 131 EuGH v. 11. 7. 2013 – Rs. C-440/11 P, ECLI:EU:C:2013:514 Tz. 37 = NZKart 2013, 367 – Kommission/Stichting Administratiekantoor Portielje: „Verstößt eine solche wirtschaftliche Einheit gegen die Wettbewerbsregeln, hat sie nach dem Grundsatz der persönlichen Verantwortlichkeit für diese Zuwiderhandlung einzustehen […].“ 132 Voet van Vormizeele (Fn. 125) WuW 2010, 1008, 1018 f.; Thomas (Fn. 102) JECLAP 2012, 11, 21. 133 Siehe Brettel/Thomas (Fn. 123) S. 65 f. 134 Ausführlich dazu Brettel/Thomas (Fn. 123) passim.
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Art. 101 AEUV und Art. 53 EWRA und die Sanktionsnorm in Art. 23 VO 1/2003 (bzw. auf nationaler Ebene § 81 GWB) als scharfe Schwerter bei der Bekämpfung internationaler Kartelle zu bewerten.
Maritime Security Implications of Climate Change and the Arctic under International Law: A Japanese Perspective By Chie Kojima
I. Introduction Climate change is a threat multiplier that can exacerbate existing sources of conflict and insecurity.1 Sea-level rise and ocean warming, in particular, threaten states, individuals and the marine environment. Sea-level rise and changes in weather patterns are likely to cause shoreline erosion, coastal flooding, even the disappearance of low-lying island states, which could cause domestic and international displacement of people. Gradual atmospheric warming and associated physical and chemical changes of the aquatic environment would lead to not only ice-melting in the Arctic but also changes in the marine ecosystem.2 Ice-melting in the Arctic would cause a number of security concerns for both Arctic and non-Arctic states. The problem arises as to how international law can address these adverse effects of climate change in the oceans. On the one hand, the United Nations Convention on the Law of the Sea (hereinafter referred to as LOSC)3 raises questions as to whether it covers measures to be taken against these climate-related threats at sea; it does not explicitly address, for example, greenhouse gas emissions as a source of marine pollution. Article 234 of LOSC merely permits coastal states to regulate vesselsource pollution in ice-covered areas within their exclusive economic zone (EEZ), which leaves a loophole in the Arctic high seas. The International Code for Ships Operating in Polar Waters (“Polar Code”)4, is on the other hand, is not free from the problem of the lack of flag state’s enforcement power.
1 Report of the Secretary-General, Climate Change and its Possible Security Implications, UN Doc. A/64/350 (11 September 2009), p. 6. 2 See generally, Stocker, Thomas F. et al. (eds.), IPCC, Climate Change 2013: the Physical Science Basis, Contribution of Working Group I to the Fifth Assessment Report of the Intergovernmental Panel on Climate Change, Cambridge 2013. 3 United Nations Convention on the Law of the Sea, December 10, 1982, entered into force November 16, 1994, 1833 U.N.T.S. 3. 4 The Polar Code is expected to enter into force on January 1, 2017.
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The United Nations Framework Convention on Climate Change (UNFCCC)5 is not made for the protection of the marine environment or human rights of internationally or internally displaced people due to climate change, though it does briefly mention in Article 2, the protection of “ecosystems” and “food production” by preventing greenhouse gas concentrations in the atmosphere from interfering with the climate system. Another reference can be found in the Preamble of the 2015 Paris Agreement which urges its Parties to “respect, promote and consider their respective obligations on human rights, the right to health, the rights of indigenous people, local communities, migrants, children, persons with disabilities and people in vulnerable situations and the right to development, as well as gender equality, empowerment of women and intergenerational equity”. The Preamble also notes the “importance of ensuring the integrity of all ecosystems, including oceans, and the protection of biodiversity”. The purpose of this paper is to examine the current international legal and soft-law frameworks applicable to the Arctic Ocean in the light of potential climate related maritime security threats arising from the change of the Arctic environment. First, this paper examines the notion of maritime security and how it interacts with global climate change. Second, it analyses security interests of the international community in the Arctic Ocean by introducing Japan’s Arctic policies as an example. Third, it examines the current legal framework applicable to the Arctic Ocean. In conclusion, it assesses the adequacy of the international legal and soft-law frameworks in the light of future climate-related maritime security challenges and discusses how the international community including both the Arctic and non-Arctic states can cooperate for safeguarding their shared maritime security interests in the Arctic Ocean within and beyond international law.
II. Connecting Maritime Security and Climate Change There is no universally accepted definition of the term “maritime security”. Protection from direct threats to the territorial integrity of a state, such as an armed attack from a military vessel, represents the narrowest definition of maritime security as expressed in the phrase “peace, good order or security” of the coastal states under Article 19, paragraph 1 of LOSC. In other definitions, security from crimes at sea, such as piracy, armed robbery against ships, and terrorist acts are identified as non-traditional security threats. Marine pollution caused by illegal dumping and accidental and operational discharges from vessels, as well as depletion of marine living resources from illegal, unreported and unregulated fishing threaten the interests of coastal states with regard to its environmental security and food security. One of the most challenging issues of mar5 United Nations Framework Convention on Climate Change, May 9, 1992, entered into force March 21, 1994, 31 I.L.M. 849 (1992).
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itime security today concerns human security at sea, including human rights protection of irregular migrants at sea. Various approaches are taken to maritime security depending on the interests that may be threatened from the perspective of a State and its people.6 Although the conception of maritime security varies, the Arctic environmental change represents a shared security concern of the international community. The 2009 Report of the United Nations Secretary-General on Climate Change and its Possible Security Implications identifies five channels through which climate change could affect security: threats to human rights, threats to economic development, various threats arising from uncoordinated coping or survival strategies of local communities, threats to the viability and survival of sovereign states, and threats to international peace and security due to the sudden expansion of shared or demarcated resources.7 The changing Arctic environment due to climate change could affect security through all of these channels. As the Arctic Ocean opens up, increases in sea traffic for trade, fishing, mining, tourism and scientific research coincide with a variety of safety risks for navigating ships caused by poor weather conditions and the lack of reliable charts, stable communication systems, and other navigational aids. Moreover, the Arctic marine environment, and in particular the Arctic species, are especially vulnerable to the release of oil from ships navigating in the Arctic Ocean.8 Access to previously inaccessible natural resource deposits could also lead to new disputes over maritime sovereignty, as well as the risk of marine pollution and the resulting infringement on the sovereign rights of coastal states in serious cases of marine pollution. Not only Arctic states but also non-Arctic states have interests in safeguarding their maritime security interests arising from changes in the Arctic environment. Sea-level rise and changes in weather patterns are likely to cause shoreline erosion, coastal flooding, even the disappearance of low-lying island states, and could result in domestic and international displacement of people worldwide. It has been estimated that between 50 and 200 million people may move by 2050 either within their countries or across borders on a permanent or temporary basis due to climate change.9 Several small island states such as Vanuatu, Micronesia, Papua New Guinea, Tuvalu and the Solomon Islands are already facing domestic migration and relocation due to 6 Oceans and the Law of the Sea, Report of the Secretary-General, UN Doc. A/63/63 (10 March 2008), para. 39. 7 Report of the Secretary-General, supra note 1, pp. 6 – 7. 8 Arctic Council, Arctic Marine Shipping Assessment 2009 Report, available at http:// www.arctic.noaa.gov/detect/documents/AMSA_2009_Report_2nd_print.pdf [last visited August 4, 2016]. 9 UNHCR, Submission on Forced Displacement in the Context of Climate Change: Challenges for States under International Law to the 6th session of the Ad Hoc Working Group on Long-Term Cooperative Action under the Convention (AWG-LCA 6) from 1 until 12 June in Bonn, 20 May 2009, p. 3.
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climate change.10 Changes in the marine ecosystem to be caused by atmospheric warming and associated physical and chemical changes of the aquatic environment undermine food and economic security of non-Arctic states that are dependent on fishing. The discovery of energy deposits in the Arctic might also cause international conflicts and potentially undermine international peace and security.
III. Security Interests of the International Community in the Arctic Ocean: the Case of Japan as a non-Arctic State Japan is one of the non-Arctic states that have maritime security interests in the environmental changes in the Arctic Ocean caused by global climate change. The oceans are vital for the food, economic and energy security of Japan. As an island state, the peace and security of the oceans are important for maintaining political independence and territorial integrity of the country. The oceans have provided a major source of nutrition for the Japanese people since ancient times. Fishing rights, therefore, have always been at the core of Japan’s ocean policies. The Japanese economy relies on trade, 99.6 percent of which depends upon maritime transport.11 Japan has almost no mineral resources, and the Fukushima Daiichi nuclear plant accidents caused by the Great East Japan Earthquake and resulting tsunami in 2011 have furthermore made energy security a serious concern. In the light of Japan’s growing concerns in the Arctic,12 the Headquarters for Ocean Policy in the Cabinet of Japan published “Japan’s Arctic Policy” in October 2015.13 This official document touches upon several security issues arising from the environmental change in the Arctic: First, the policy document recognizes that changes in the Arctic environment could increase the frequency of extreme weather events in mid- and high-latitude states including Japan.14 By making use of its advanced science and technology,
10
Report of the Secretary-General, supra note 1, para. 57. Statistics from the Japanese Shipowner’s Association Publication, Shipping Now 2015 – 2016. Available online at: http://www.jsanet.or.jp/data/shipping.html [last visited August 4, 2016, only in Japanese], p. 13. 12 For the academic discussions on Japan’s Arctic policies, see Ikeshima, Taisaku, Should Japan’s Arctic Policy be Based on the Assumption That the Arctic Ocean is a Global Commons? 12 Waseda Global Forum 109 – 150 (2015); Shibata, Akiho, Japan and 100 Years of Antarctic Legal Order: Any Lessons for the Arctic?, VII The Yearbook of Polar Law 1 – 54 (2015). 13 The Headquarters for Ocean Policy [Provisional Translation], Japan’s Arctic Policy, 16 October 2015, available at: http://www.kantei.go.jp/jp/singi/kaiyou/arcticpolicy/Japans_Ar ctic_Policy[ENG].pdf [last visited August 4, 2016]. 14 Ibid. p. 3. 11
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Japan aims to clarify the mechanisms or causes of the changes and predict future changes in order to assess their possible socio-economic impacts.15 Second, in 2008, Japan shared its view with the Arctic coastal states that the Arctic Ocean is governed by LOSC and that there is no need to develop a new comprehensive international legal regime to govern the Arctic Ocean.16 In this regard, the policy document describes that “[f]reedom of navigation and other principles of international Law must be respected. Especially in the ‘ice covered areas’ of the Arctic Ocean, it is necessary to cooperate with coastal states to ensure appropriate balance between the freedom and safety of navigation, and the protection and preservation of the marine environment under the principle of international law”.17 From this standpoint, Japan intends to be involved in formulating international agreements and rules regarding the Arctic by participating in the Arctic Council’s activities and other forums.18 Third, the policy document confirms that the Northern Sea Route along the coasts of Russia makes a voyage between Asia and Europe 40 percent shorter than a voyage via the Suez Canal.19 As a country whose ocean-going ships used for international trade represent 10 percent of world ship tonnage,20 Japan sees this as an opportunity and wishes to “participate actively in the international debates regarding the drafting of new rules”.21 Fourth, around 90 billion barrels of petroleum and 1,669 trillion cubic feet of natural gas are estimated to be located under the Arctic Ocean.22 Japan’s Arctic Policy states that “resources development should be addressed steadily over the mid and long term from the viewpoint of continued diversification of resources supplies, considering progress in resources development technology in sea ice regions, cooperative relationships with coastal states, and factors such as needs of private sector”.23 This statement seems to be based on the growing interest of Japan in energy security while searching for renewable energy sources and simultaneously reducing greenhouse gas emissions. 15
Ibid. p. 4. At the Ministerial Conference held in Monaco in November 2008, Japan expressed that it supported the standpoint of Arctic coastal states under the Ilulissat Declaration. Kato¯, Kikuko, Hokkyoku wo meguru gendaiteki mondai no jo¯kyo¯, Kokusaiho¯ Gaiko¯ Zasshi (2011), p. 77. 17 Japan’s Arctic Policy, supra note 13, pp. 4 – 5. 18 Ibid. at 5. 19 Ibid. 20 Shipping Now, supra note 11, p. 12. 21 Japan’s Arctic Policy, supra note 13, p. 5. 22 Estimates from a 2008 US Geological Survey Report. See Bird, Kenneth et al., 2008, Circum-Arctic Resource Appraisal: Estimates of Undiscovered Oil and Gas North of the Arctic Circle, U.S. Geological Survey Fact Sheet 2008 – 3049. Available online: http://pubs. usgs.gov/fs/2008/3049/ [last visited August 4, 2016]. 23 Japan’s Arctic Policy, supra note 13, p. 6. 16
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Japanese shipping companies have already started to invest on the Arctic route. Mitsui O.S.K. Lines Ltd. announced that it would begin transporting liquefied natural gas (LNG) through the Arctic Ocean by 2018.24 Using icebreakers and LNG careers, the company plans to deliver LNG shipments to Europe and Asia from a gas plant being built on the Yamal Peninsula in northern Russia. Gas producer Novatek is also engaged in a joint LNG venture. The Japanese government has expressed its support to those Japanese companies searching for business opportunities in the Arctic.25 Fifth, with regard to unexploited marine living resources in the Arctic, the policy document emphasizes the importance of food security and the necessity to explore resources while ensuring the sustainability of the resources based on scientific evidences.26 Sixth, the opening of new shipping routes and the development of natural resources in the Arctic Ocean might become a cause for international conflicts. The policy documents notes that such developments may become “factors that change the international security environment, not only in the Arctic but for the surrounding states including Japan”.27 Therefore, Japan considers it important to pay close attention to moves by states concerned and also to promote cooperation with the Arctic and other states on safeguarding traditional security.28 The importance of various security interests of Japan in the Arctic, both as opportunities and as threats, has given impetus for the Japanese government to take various steps to become more involved in Arctic affairs in the last few years. These included establishing specialized committees within different government agencies to focus on Arctic issues29 and newly appointing an Ambassador for Arctic Affairs. After years of lobbying, Japan was able to obtain the status of observer in the Arctic Council in 2013.
IV. International Legal Framework Applicable to the Arctic Ocean Unlike the Antarctic Treaty System, there is no legally-binding comprehensive treaty regime or centralized body for monitoring, inspection and enforcement in the Arctic Ocean. Therefore, coastal states as well as states whose ships navigate 24
Mitsui O.S.K. to pioneer Arctic route for LNG, The Japan Times, July 9, 2014. Mentioned during an event by Ambassador to the Arctic, Kazuko Shiraishi in February 2016. Available online at: http://carnegie.ru/2016/02/29/japanese-arctic-strategy-and-russia-sinterests [last visited August 4, 2016]. 26 Japan’s Arctic Policy, supra note 13, p. 6. 27 Ibid. 28 Ibid. 29 In 2010, the Ministry of Foreign Affairs launched the “Arctic Task Force” to facilitate “cross-sectoral approach towards the foreign policy on the Arctic”. See, http://www.mofa.go. jp/announce/announce/2010/9/0902_01.html [last visited August 4, 2016]. 25
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in the Arctic Ocean must simply comply with the general and specific provisions under LOSC and relevant individual treaties to which they are Parties. The Arctic Ocean consists of the territorial sea, EEZ, the continental shelf of the five coastal states – Canada, Denmark, Norway, Russia and the United States – and the high seas. Generally speaking, the respective rules of LOSC apply to each of these maritime zones. In addition, there is a room to discuss whether specific rules on the prevention of marine pollution apply to the Arctic Ocean due to its special circumstances. Those rules include: Article 234 of LOSC concerning the ice-covered areas, Article 211, paragraph 6(a), of LOSC concerning the adoption of mandatory measures for vessel-source pollution in areas where the consideration of oceanographical and ecological conditions are necessary, as well as Articles 122 and 123 of LOSC concerning enclosed and semi-enclosed seas. Depending on the interpretation of these articles, the Arctic states bear multiple responsibilities to protect the Arctic marine environment from marine pollution under LOSC. Particularly relevant to the Arctic Ocean is LOSC Article 234, which states: Coastal States have the right to adopt and enforce non-discriminatory laws and regulations for the prevention, reduction and control of marine pollution from vessels in ice-covered areas within the limits of the exclusive economic zone, where particularly severe climatic conditions and the presence of ice covering such areas for most of the year create obstructions or exceptional hazards to navigation, and pollution of the marine environment could cause major harm to or irreversible disturbance of the ecological balance. Such laws and regulations shall have due regard to navigation and the protection and preservation of the marine environment based on the best available scientific evidence.
Under Article 234, coastal states may enact even more stringent domestic laws and regulations over the ice-covered areas within their EEZs. The applicability of the provision may be challenged as polar sea ice in the EEZ disappears due to accelerated global warming.30 Article 234 also raises more complex questions with regard to its applicability to international straits that are ice-covered but will be opening due to accelerated global warming. LOSC has a special clause in relation to the coastal states’ strengthened legislative jurisdiction over vessel-source marine pollution where the general international rules and standards are inadequate to meet special circumstances. Under Article 211, paragraph 6(a), coastal states may adopt special mandatory measures for the prevention of vessel-source pollution due to “recognized technical reasons in relation to its oceanographical and ecological conditions, as well as its utilization or the protection of its resources and the particular character of its traffic”. According to this provision, a coastal state may adopt more stringent domestic laws and regulations by acquiring approval of the competent international organization such as the International Maritime Organization (IMO). 30 Rayfuse Rosemary, Climate Change and the Law of the Sea, in: Rayfuse, Rosemary/ Scott, Shirley V. (eds.), International Law in the Era of Climate Change, Cheltenham 2012, p. 157.
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Through such measures, there is a possibility that the IMO may designate the Arctic Ocean, upon request by the Arctic states, as a Particularly Sensitive Sea Area (PSSA). The IMO may designate a PSSA when there are “recognized ecological, socio-economic, or scientific attributes where such attributes may be vulnerable to damage by international shipping activities”.31 The IMO can designate PSSAs both within and beyond the limits of territorial sea. Once an area is designated as a PSSA by the IMO, its Member States may adopt more stringent measures to control the maritime activities in that area. However, this option has not been considered realistic as the designation of PSSA to the Northwest Passage (NWP) would affect, if the NWP was classified as an international strait, the regime of transit passage and therefore be opposed by maritime powers.32 If the Arctic Ocean can be characterized as an “enclosed” or “semi-enclosed” sea, the coastal states in the Arctic are obliged to cooperate with each other to “coordinate the management, conservation, exploitation and exploitation of the living resources of the sea” and to “coordinate the implementation of their rights and duties with respect to the protection and preservation of the marine environment” under Article 123 of LOSC. The application of this Article enables the Arctic states to adopt special rules over the Arctic Ocean. To be classified as an enclosed or semi-enclosed sea, the Arctic Ocean must be “surrounded by two or more states”, “connected to another sea or the ocean by a narrow outlet”, and “consisting entirely or primarily of the territorial seas and exclusive economic zones of two or more coastal states” under Article 123. It is arguable that the Arctic Ocean can be classified as such an enclosed or semi-enclosed sea, but different views exist as to whether the broad opening to the North–East Atlantic can be qualified as a narrow outlet and as to the vastness of the Arctic Ocean.33 The individual treaties that are applicable to the Arctic Ocean include the 1974 International Convention on Safety of Life at Sea (SOLAS),34 the 1972 Convention on the International Regulations for Preventing Collisions at Sea (COLREGS),35 the 1978 International Convention on Standards of Training, Certification and Watchkeeping for Seafarers (STCW),36 the 1973 International Convention for the Preven31 IMO Resolution A.928(24), Revised Guidelines for the Identification and Designation of Particularly Sensitive Sea Areas, adopted 1 December 2005, para. 1.2. 32 Lalonde, Suzanne, The IMO’s PSSA Mechanism and the Debate over the Northwest Passage, in: Stephens, Tim/VanderZwaag, David L. (eds.), Polar Oceans Governance in an Era of Environmental Change, Cheltenham 2014, pp. 184 – 185. 33 E. g., Owens, Joshua, Enclosed and Semi-Enclosed Seas: Does the Arctic Count, 2013 China Oceans Law Review 204, 218 (2013). 34 International Convention for the Safety of Life at Sea, Nov. 1, 1974, entered into force May 25, 1980, 1184 U.N.T.S. 2. 35 Convention on the International Regulations for Preventing Collisions at Sea, October 20, 1972, entered into force July 15, 1977, 1050 U.N.T.S. 16. 36 International Convention on Standards of Training, Certification and Watchkeeping for Seafarers, 7 Jul. 1978, 1361 U.N.T.S. 2.
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tion of Pollution by Ships modified by the 1978 Protocol (MARPOL 73/78),37 and the 1990 International Convention on Oil Pollution Preparedness, Response and Cooperation (OPRC).38 These treaties do not contain any special rules for ice-covered waters, except for the Polar Code adopted by the IMO in 2014 which is mandatory for contracting parties to SOLAS and MARPOL 73/78. The Polar Code includes mandatory measures for safety and pollution prevention measures as well as recommendations. It can be considered as “generally accepted international rules and standards established by the competent international organization” under LOSC Article 211, paragraph 2, and, therefore, the laws and regulations of flag states should have the same effect as the Polar Code regardless of their status with SOLAS and MARPOL. While drafting the Polar Code, the IMO faced a difficult task in balancing the freedom of the seas and the protection of the marine environment. During the negotiations, the Arctic coastal states had different views as to the scope of national regulatory powers under Article 234 of LOSC as well as what would be included as mandatory measures under the Polar Code.39 A coalition of non-governmental organizations including Friends of the Earth International (FOEI), Clean Shipping Coalition (CSC), International Fund for Animal Welfare (IFAW), World Wide Fund for Nature (WWF) and Pacific Environment actively participated in the drafting process by submitting their proposals for the inclusion of environmental protection measures during the negotiations of the Polar Code.40 It has been pointed out that the implementation of the Polar Code could potentially contradict the right of coastal states to unilaterally adopt and enforce laws under Article 234 of LOSC.41 In fact, Canada and Russia enacted stringent legislations that go beyond the requirements of MARPOL and SOLAS.42 The strengthened coastal state jurisdiction under Article 234 of LOSC could, however, at least safeguard the problem of the flag state enforcement, if the Arctic coastal states coordinate their enforcement actions through cooperation. Regional agreements adopted under the auspices of the Arctic Council, namely Arctic Search and Rescue Agreement43 in 2011 and the 37
Protocol of 1978 relating to the International Convention for the Prevention of Pollution from Ships, Feb. 17, 1978, entered into force December 31, 1988, 1340 U.N.T.S. 61. 38 International Convention on Oil Pollution Preparedness, Response and Co-operation, November 30, 1990, entered into force May 13, 1995, 1891 U.N.T.S. 51. 39 Rayfuse, Rosemary, Coastal State Jurisdiction and the Polar Code: A Test for Arctic Oceans Governance? in: Stephens, Tim/VanderZwaag, David L. (eds.), Polar Oceans Governance in an Era of Environmental Change, Cheltenham 2014, pp. 245 – 246. 40 Ibid. p. 247. 41 See generally, McDorman, Ted L., A Note on the Potential Conflicting Treaty Rights and Obligations between the IMO’s Polar Code and Article 234 of the Law of the Sea Convention, in: Lalonde, Suzanne/McDorman, Ted L. (eds.), International Law and Politics of the Arctic Ocean: Essays in Honor of Donat Pharand, Leiden 2015. 42 Rayfuse, supra note 39, pp. 239 – 241. 43 Agreement on Cooperation on Aeronautical and Maritime Search and Rescue in the Arctic, May 12, 2011, 2013 Can. T.S. No. 6.
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Chie Kojima
Agreement on Cooperation on Marine Oil Pollution Preparedness and Response in the Arctic44 in 2013 could serve as such cooperation agreements. Furthermore, the 2008 Ilulissat Declaration45 and guidelines and recommendations adopted by the Arctic Council contribute to ensure coordinated actions among Arctic states.46
V. Conclusion The overview of the current international legal framework that governs the Arctic Ocean indicates that they are not panaceas for safeguarding against future maritime security threats arising from climate change. First, LOSC and IMO conventions including the Polar Code, are not free from the widespread problem of the lack of state’s enforcement power arising from the lack of resources or political will. Second, the Arctic Council, which is a soft-law regional forum, exists only as a regional decision-making forum and lacks universal participation, though the Arctic environmental change is a common concern of the international community as discussed above. Considering that climate related maritime security threats are shared interests of the international community, further cooperation mechanisms should be developed between Arctic states and non-Arctic states to safeguard from future maritime security threats including serious marine pollution from increased shipping and exploration activities, increased maritime crimes, depletion of marine living resources, and possible international conflicts over potential resources. Such cooperation mechanisms can be based on the existing international legal framework such as LOSC as well as on soft law forums such as the Arctic Council. First, the traditional scheme of flag-coastal-port state jurisdiction under LOSC has a number of weaknesses in safeguarding maritime security as not every state has the same capacity and resources for law enforcement. However, some mechanisms under LOSC could be useful for developing Arctic and non-Arctic states cooperation. For instance, Article 43 of the law of the sea convention stipulates that straits states and user states should cooperate in the establishment and maintenance of necessary navigational and safety aids and for the prevention, reduction, and control of pollution from ships. In fact, Japan has been providing support to states bordering the Strait of
44 Agreement on Cooperation on Marine Oil Pollution Preparedness and Response in the Arctic, 15 May 2013, available from the website of the Arctic Council: http://arctic-council.org [last visited August 4, 2016]. 45 Ilulissat Declaration, adopted 28 May 2008, 48 I.L.M. 362 (2009). 46 VanderZwaag, David L., The Arctic Council and the Future of Arctic Ocean Governance: Edging Forward in a Sea of Governance Challenges, in: Stephens, Tim/VanderZwaag, David L. (eds.), Polar Oceans Governance in an Era of Environmental Change, Cheltenham 2014, pp. 308 – 338.
Maritime Security Implications of Climate Change
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Malacca since 1968.47 A similar cooperation can be advanced in international straits in the Arctic region. Second, cooperation through soft-law international or regional forums could be used as an effective tool for strengthening the weakness of traditional law enforcement scheme under LOSC as in the case of international environmental governance. The Arctic Council could serve as such a forum if it can expand its mandate. Although the Declaration on the Establishment of the Arctic Council excludes military and security matters from the Council’s mandate,48 the Council could possibly consider dealing with “maritime security” from a broader perspective in the light of diversified security interests today. A reference can be made to the IMO, which has expanded its mandate to maritime security in order to meet the challenges such as armed robbery against ships and maritime terrorism.49 Third, the Arctic Council should consider opening its doors to non-Arctic States not only as observers but also as member States. Examples include the following: Canada is a member State to the Convention on the Conservation of Antarctic Marine Living Resources, though it does not engage in any scientific research or fishing activities in the Antarctic; Norway and Denmark are contracting parties to the Regional Cooperation Agreement on Combating Piracy and Armed Robbery against Ships in Asia (RECAAP). By including non-Arctic states as its members, the Arctic Council could possibly gain more funding and serve as a forum where international disputes between Arctic and non-Arctic states could be prevented and resolved multilaterally. Fourth and finally, as the protection of the marine environment becomes increasingly important in light of climate change, innovative techniques developed in the field of international environmental law could be used as useful tools for better ocean governance. These techniques include participation of civil society in international rule-making, soft-law instruments as well as multilateral compliance mechanisms used for bringing a better adherence to international law, and the settlement of international disputes through reporting and reviewing mechanisms under multilateral treaties.
47 Currently, Japan is involved in two projects concerning the introduction of a system to automatically identify small vessels and the maintenance of facilities for navigational aids. Japan Maritime Center ed., Kaiyo¯-ho¯ to senpaku no tsu¯ko¯ (2. ed.), Tokyo 2010, pp. 68 – 69. 48 In the document that establishes the Arctic Council as a “high level forum to provide means for promoting cooperation, coordination and interaction among Arctic states … on common Arctic issues” there is a footnote explaining that “[t]he Arctic Council should not deal with matters related to military security”. See Declaration on the Establishment of the Arctic Council. September 19, 1996, available online https://oaarchive.arctic-council.org/ handle/11374/85 [last visited August 4, 2016]. 49 Kojima, Chie, Building International Maritime Security Institutions: Public and Private Initiatives, in: Nasu, Hitoshi/Rubenstein, Kim (eds.), Legal Perspectives on Security Institutions, Cambridge 2015, pp. 100 – 104.
Zur Funktion des Schuldvertrags Von Karl Kreuzer
I. Einführung „Schuldvertrag“ ist ein Vertrag, durch den (wenigstens) eine Verpflichtung zur Leistung, d. h. zu einem Tun oder einem Unterlassen (§ 241 Abs. 1 BGB) begründet wird. „Funktion“ bedeutet in unserem Zusammenhang die Aufgabe (Zweck) eines Rechtsinstituts als Teilinstrument im Rahmen der Gesamtrechtsordnung. „Rechtsinstitut“ begreifen wir als die Gesamtheit der Rechtssätze, die der Ordnung eines bestimmten Lebensverhältnisses dient. Schuldverträge, insbesondere die beiderseitig verpflichtenden Kauf- und Werkverträge, Miet- und Arbeitsverträge spielen in der juristischen Ausbildung und Praxis eine bedeutende Rolle. Sie stellen Studierende und Praktiker vor eine verwirrende Fülle von Einzelproblemen. Über diesen Schwierigkeiten des Alltags läuft der Jurist Gefahr, die Frage nach Sinn und Zweck, nach Aufgabe und Funktion der von ihm benutzten rechtlichen Instrumente außer Acht zu lassen. Welchen Zweck erfüllen Rechtsinstitute wie etwa Eigentum, Erbrecht oder Vertrag für die betroffenen Einzelnen und die Gesellschaft als Ganze? Welche Funktionen nehmen diese Institute im Rahmen unserer Gesamtrechtsordnung wahr? Im Folgenden soll hier den Funktionen des Schuldvertrags, d. h. den Zwecken nachgegangen werden, denen der Schuldvertrag innerhalb der Gesamtrechtsordnung dient. Die Erörterungen im Schrifttum über die Vertragsfunktion beziehen sich regelmäßig auf den Schuldvertrag – wenn dies auch nicht immer ausdrücklich gesagt wird. Die meisten Sachfragen, die in der Literatur im Zusammenhang mit der Vertragsfunktion erörtert werden, haben auch nur für den Schuldvertrag einen Sinn. Dies gilt insbesondere für die Diskussion über die Funktion des Vertrages bei der Schaffung materiell gerechter interindividueller Rechtsverhältnisse (materielle Richtigkeitsgewähr). Nur für den obligatorischen Kontrakt kann auch die Qualifizierung als „Vertrauensverhältnis“ mit der daraus abgeleiteten umfassenden Schutzfunktion Bedeutung gewinnen. Von praktischer Bedeutung sind nahezu ausschließlich die gegenseitigen Schuldverträge, d.h die Austauschverträge. So erklärt es sich, dass manche Autoren die Vertragsfunktion in erster Linie mit dem Güter- bzw. Leistungsaustausch verbinden.1 Um der Aussageklarheit willen empfiehlt es sich daher, in Zweifelsfällen den Begriff „Vertragsfunktion“ nicht isoliert zu verwenden, sondern jeweils hinzuzufügen, wel1 So z. B. Wieacker, Das Sozialmodell der klassischen Privatrechtsgesetzbücher und die Entwicklung der modernen Gesellschaft, 1959, S. 19; vgl. auch Mestmäcker, JZ 1964, S. 443.
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cher (individuelle) Vertragstyp gemeint ist. So ist zunächst zwischen völkerrechtlichen sowie innerstaatlichen öffentlich- und privatrechtlichen Verträgen zu unterscheiden. Im Bereich des Privatrechts muss zwischen Schuldverträgen und sachenrechtlichen, familien- und erbrechtlichen Verträgen differenziert werden. Und innerhalb der Schuldverträge (Verpflichtungsverträge) bietet sich unter funktionalen Gesichtspunkten die Gliederung Franz Beyerles in gegenseitige Verträge, Gesellschaftsverträge (Gesamthand) und Treuhandverträge (Fremdnützigkeitsverträge) an.2 Die folgende Untersuchung beschränkt sich auf den Schuldvertrag. Nach einem geschichtlichen Überblick (II.) konzentriert sich die Studie auf die Funktion(en) des Schuldvertrags (III.) und die Voraussetzungen, die vorliegen müssen, damit der Schuldvertrag seine Funktionen erfüllen kann (IV.).
II. Die Vertragsfunktion im deutschen rechtswissenschaftlichen Schrifttum: Geschichtlicher Überblick3 1. Vom Wirtschaftsliberalismus zum völkischen Recht (1933) Von Justinian bis zum usus modernus, dem älteren ius commune und auch noch bis ins 19. Jahrhundert4 kannte das römische Recht weder das Rechtsgeschäft noch die Willenserklärung als Instrumente der Privatautonomie, sondern nur den obligatorischen Vertrag (Schuldvertrag; verpflichtungsbegründender Vertrag). Die vom Schuldvertrag abstrahierenden Lehren von der Willenserklärung und vom Rechtsgeschäft entwickelten sich erst in der Zeit des rationalistischen Naturrechts (Vernunftrechts), insbesondere auf der Grundlage der Vertragslehre von Hugo Grotius, die ihrerseits auf Arbeiten der spanischen Moraltheologen beruhte.5 Grotius betrachtete die declaratio voluntatis als Grund für die rechtliche Bindung. Diese Willenserklärung war das rechtliche Instrument der in der Aufklärung geborenen, im Vernunft-
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Beyerle, Die Treuhand im Grundriss des deutschen Privatrechts, 1932, S. 16 ff. Vgl. hierzu insbesondere Rieg, Le rôle de la volonté dans l’acte juridique en droit civil français et allemand, 1961; zu Italien vgl. Ranieri, Einige Bemerkungen zu den historischen Beziehungen zwischen deutscher Pandektistik und italienischer Zivilrechtswissenschaft: Die Lehre des Rechtsgeschäfts zwischen 19. und 20. Jahrhundert, in: Mélanges à la mémoire du Prof. Alfred Rieg, 2001, S. 703 – 720. 4 Vgl. z. B. Thibaut, System des Pandectenrechts, 6. Aufl., Bd. 1, 1823, S. 128; von Rotteck, Lehrbuch des Vernunftrechts, 2. Aufl., Bd. 1, 1840, S. 200: „Ein Vertrag wird hiernach sehr richtig, nämlich mit Beziehung seiner Wesenheit durch ein angenommenes Versprechen definiert“; Regelsberger, Pandecten, 1893. § 149 N. 1; Vangerow, Lehrbuch der Pandecten, 7. Aufl., Bd. 1, 1863, § 350 Anm. 1 (S. 752). 5 Vgl. Coing, Europäisches Privatrecht, Bd. 1, 1985, § 31 III. 3
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recht in rechtliche Form gegossenen Idee der Freiheit des Einzelnen,6 die die Rechtsentwicklung des 18. und 19. Jahrhunderts prägte: Die Willenserklärung bzw. – weitgehend gleichgesetzt – das Rechtsgeschäft7 wurde der Grundstein eines auf dem freien individuellen Willen aufgebauten Systems. Der Vertrag wurde nur als Anwendungsfall der Rechtsgeschäftslehre, gewissermaßen als deren „Anhängsel“ behandelt. Als Kronzeuge für diese Einordnung können wir Friedrich Carl von Savigny zu Wort kommen lassen: In seinem Obligationenrecht (1853) schreibt er: „… der Vertrag überhaupt und der obligatorische Vertrag insbesondere … bildet nur eine einzelne, allerdings besonders wichtige, Anwendung des viel allgemeineren Rechtsbegriffs der Willenserklärung oder des Rechtsgeschäfts.“8 Diese Aussage entsprach der damals herrschenden Lehre. Es dürfte insoweit genügen, auf die Stellungnahmen der in jener Zeit führenden Zivilrechtslehrer Puchta9, Windscheid10 und Regelsberger11 zu verweisen. Zugleich wurde der Vertragsbegriff über den schuldbegründenden Vertrag hinaus auf jede Vereinbarung erweitert. Weithin maßgebend wurde hierbei die Definition Savignys: „Vertrag ist die Vereinigung Mehrerer zu einer übereinstimmenden Willenserklärung, wodurch ihre Rechtsverhältnisse bestimmt werden.“12 Für diesen Vertragsbegriff forderte Savigny die „ausgedehnteste Anwendbarkeit“, d. h. im Völker-, Staats- und Privatrecht einschließlich des Sachen- und Familienrechts.13 In diesem Vertragsbegriff steht die Willenserklärung ganz im Vordergrund. Der Vertrag wird durch den formalen Entstehungstatbestand der Übereinstimmung von zwei oder mehr korrespondierenden (inhaltlich beliebigen) Willenserklärungen definiert und damit im Sinne der französischrechtlichen convention – im Gegensatz zum (verpflichtenden) contrat – verstanden.14 In diesem Verständnis ist der Vertrag 6
Zur daraus folgenden Systematik der Aufklärung vgl. insbesondere von Hippel, Fritz, Zur Gesetzmäßigkeit juristischer Systembildung, 1930, S. 10 ff.; zur artifiziellen vernunftrechtlichen Vertragstheorie: ibid. S. 18 ff. 7 Dem Begriff „Rechtsgeschäft“ dürfte endgültig Heise (Grundriss eines Systems des gemeinen Zivilrechts zum Beruf von Pandecten, 1807) Heimatrecht in der deutschen Rechtslehre verschafft haben. 8 von Savigny, Das Obligationenrecht als Theil des heutigen Römischen Rechts, Bd. 2, 1853, S. 186/187. 9 Puchta, Vorlesungen über das heutige römische Recht, 6. Aufl., Bd. 1, 1873, S. 127 f. 10 Windscheid/Kipp, Lehrbuch des Pandektenrechts, 9. Aufl., Bd. 1, 1906, § 69. 11 Regelsberger (Fn. 4) §§ 135 ff., 148 f. 12 von Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Bd. 3, 1840, § 140 (S. 309). 13 von Savigny (Fn. 12) S. 309 ff. 14 Vgl. z. B. Windscheid/Kipp (Fn. 10) S. 315: „Das zweiseitige Rechtsgeschäft heißt mit einem geläufigen Ausdruck Vertrag.“; vgl. auch den Klammerzusatz von Kipp zum BGB (315): „Ebenso ist auch nach dem BGB der Vertragsbegriff nicht auf das Obligationenrecht beschränkt … Das BGB hat freilich einen Begriff des Vertrags nicht aufgestellt. Man sieht aber so viel, dass der Vertrag sich zusammensetzt aus Antrag und Annahme, also wie bisher die erklärte Einigung von zwei Personen über einen beabsichtigten Rechtserfolg ist …“. s. ferner z. B. Planck/Flad, Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch nebst Einführungsgesetz, 4. Aufl. 1913, § 145 Vorbem. 1 f.; Krückmann, Institutionen des Bürgerlichen Gesetzbuchs, 4. Aufl. 1912, S. 336.
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eine juristische Form mit beliebigem Inhalt und damit in der Tat eine „Rechtsform von der weitesten Anwendbarkeit“.15 Die Fixierung des Blickes auf den abstrakten Begriff der Willenserklärung bzw. des Rechtsgeschäfts als Kernelement des Privatrechtssystems erklärt die Vernachlässigung der Funktionen des Vertrages, der im Schrifttum im Rahmen der Lehre vom Rechtsgeschäft als „zweiseitiges Rechtsgeschäft“16 abgehandelt wurde. Dementsprechend stellte sich die Vertragslehre noch bis weit in das 20. Jahrhundert hinein im Wesentlichen als Vertragsabschlusslehre dar.17 Die Savignysche Vertragslehre setzte sich auch in der deutschen Gesetzgebung durch, – zuerst im sächsischen BGB von 1863/186518 und sodann im deutschen BGB von 1896/190019. Diese Gesetze kodifizierten die Rechtsgeschäftslehre der Pandektistik mit der Willenserklärung als zentralem Baustein. So finden sich die Vertragsabschlussregeln im Allgemeinen Teil des BGB (§§ 145 ff.) und zwar im Abschnitt „Rechtsgeschäfte“ (§§ 104 ff.) im Anschluss an den Titel „Willenserklärung“ (§§ 116 – 144). Diese Hintansetzung des (Schuld-)Vertrages hat neben der Fokussierung auf die Willenserklärung einen weiteren Grund in der schon äußerlich hervorgehobenen Stellung des abstrakten (Einzel-)Schuldverhältnisses als „Grundelement“ des Rechts der Schuldverhältnisse im BGB (§ 241 Abs. 1). Demgegenüber haben die um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert erlassenen großen Privatrechtkodifikationen (preußisches ALR, französischer Code civil, österreichisches ABGB) an der (Schuld-)Vertragskonzeption des usus modernus festgehalten.20 Es leuchtet ein, dass in einer abstrakt-technischen Vertragskonzeption, die den Vertrag im Sinne der herrschenden liberalen Zeitströmung zum Universalinstrument des Individualwillens machte, ein funktionales Vertragsverständnis keinen Platz hatte. Eine solche inhaltsleere Vertragskonzeption vernachlässigt zwangsläufig den Schuldvertrag als Kerninstrument der rechtlichen Ordnung des Güter- und Dienstleistungsver15
Regelsberger (Fn. 4) § 149; vgl. auch noch Windscheid/Kipp (Fn. 14). Vgl. z. B. Krückmann (Fn. 14). 17 Vgl. z. B. Enneccerus, Recht der Schuldverhältnisse, 7. Aufl. 1920, S. 75 ff. 18 Vgl. z. B. § 88 sächsisches BGB: „Geht bei einer Handlung der Wille darauf, in Übereinstimmung mit den Gesetzen ein Rechtsverhältnis zu begründen, aufzuheben oder zu ändern, so ist die Handlung ein Rechtsgeschäft.“ § 772: „Durch Rechtsgeschäfte, welche auf der Übereinkunft mehrerer beruhen, werden Forderungen nach den Regeln des Vertrages begründet.“ 19 Die Vertragsregeln finden sich im Allgemeinen Teil (§§ 145 ff. BGB), nicht im Schuldrecht. Der Kernbegriff des Schuldrechts ist konsequenterweise nicht der Vertrag, sondern das (Einzel-)Schuldverhältnis (§ 241 BGB). Demgegenüber hatte der Dresdner Entwurf die Vorschriften über Entstehung, Auslegung etc. von Verträgen im I. Teil („Von den Schuldverhältnissen im allgemeinen“) geregelt. Ebenso noch der Vorentwurf zum BGB von Gebhardt (vgl. Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Bd. 2, 1965, S. 599 f., insbesondere S. 600 Fn. 4). 20 I 5 §§ 1 – 4, 78, 79 ALR (1794); Art. 1101 französischer Code civil (1804): „Le contrat est une convention par laquelle une ou plusieurs personnes s’obligent, envers une ou plusieurs autres, à donner, à faire ou à ne pas faire quelque chose.“; § 861 österreichisches ABGB (1811). 16
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kehrs. So finden wir bis in das 20. Jahrhundert hinein keine inhaltliche (historische, rechtspolitische, funktionale) Vertragslehre. Die Funktion des Vertrages als vom Gesetzgeber zu gestaltendes Instrument der selbstverantwortlichen Gestaltung der Sozialordnung durch die Rechtsgenossen wird nicht erkannt. Der Liberalismus ging von der Vorstellung aus, dass die zu einem Vertragsschluss führenden Verhandlungen rechtlich gleichgestellter Partner ein optimales (gerechtes) Ergebnis für alle Beteiligten garantieren. Dieses Optimum für die individuellen Vertragspartner sollte in der Summierung der Einzelgeschäfte zur Harmonie in der Gesamtgesellschaft führen. Rechtstatsächlich diente dieses System jedoch oft genug nicht dem Nutzen aller Parteien, sondern begünstigte einseitig die wirtschaftlich-sozial stärkeren Parteien. Eine Inhaltskontrolle des Vertrages im Sinne der Gewährleistung der Vertragsgerechtigkeit war in der Hochzeit des ungesteuerten Liberalismus nicht denkbar. In dem im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts einsetzenden dogmatischen Streit zwischen den Vertretern der Willenstheorie und der Erklärungstheorie ging es zwar primär um die Willenserklärung, nicht um den Vertrag. Die auf die Erklärungstheorie (z. B. Bähr, Bülow, Isay, Lotmar) und nach Inkrafttreten des BGB auf die §§ 157, 242 BGB gestützte objektive Auslegungslehre21 bereitete aber den Boden für ein allmählich wachsendes neues Verständnis des Vertrages.22 Dieser Wandel des Vertragsverständnisses ordnet sich in die umfassende Entwicklung ein, die im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts unter dem Postulat der „Sozialisierung des Rechts“ begann. „Sozialisierung des Vertrags“ bedeutete in diesem Zusammenhang in der rechtswissenschaftlichen Theorie und richterlichen Praxis den Abschied von einem rein formal verstandenen, vom Willensdogma beherrschten Vertragsbegriff und damit eine Öffnung des Vertrages gegenüber den „objektiven“, d. h. willensunabhängigen Gestaltungskräften. Zeitgleich setzte sich langsam die Einsicht durch, dass der Schuldvertrag nicht nur ein inter-individuelles Instrument der Bedürfnisbefriedigung darstellt, sondern zugleich eine wesentliche Funktion innerhalb einer freiheitlich gestalteten Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung erfüllt. Allmählich wurde die Systemfunktionalität des Schuldvertrages, sein Beitrag zur Gewährleistung des Funktionierens einer marktwirtschaftlich orientierten Gesamtwirtschaft erkannt. Diese Erkenntnis findet sich zunächst bei Rechtsphilosophen und Rechtssoziologen, nicht bei den Zivilrechtslehrern. So bezeichnete der Rechtsphilosoph Rudolf Stammler bereits im Jahre 1897 Verträge als Mittel zur Erreichung eines rechten sozialen Zusammenwirkens23 und fünf Jahre später beschrieb er die Vertragsfreiheit als Mittel bzw. rechtliche Einrichtung, die dem Einzelnen die Möglichkeit zu Sonderverbindungen gebe, in deren Eingehen, Durchführen und Wiederauflösen sich die Bewegung des 21
Vgl. insbesondere Danz, Die Auslegung der Rechtsgeschäfte, 3. Aufl., 1911. Belege bei Hedemann, Die Fortschritte des Zivilrechts im 19. Jahrhundert, Bd. 1, 1910, S. 123 Fn. 8; ibid. S. 77 ff., der die Literatur zu dieser Entwicklung bereits damals als unübersehbar bezeichnete (ibid. S. 79 Fn. 3). 23 Stammler, Lehrbuch der Schuldverhältnisse, 1897, S. 92. 22
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geschäftlichen Zusammenwirkens vollziehe.24 Weiter haben Karl Renner25 und vor allem Eugen Ehrlich26 die systemfunktionale Bedeutung des Vertrages erkannt und hervorgehoben. Nach Ehrlichs Auffassung ist der Vertrag in allen seinen Formen dazu da, um in der bürgerlichen Gesellschaft, die sich auf Privateigentum an Boden, Arbeitsmitteln und Verbrauchsgegenständen aufbaut, die Gütererzeugung, den Güteraustausch und den Güterverbrauch zu regeln und zu ordnen; in seiner Sicht hat der Vertrag eine gesellschaftliche Natur, insofern er gesellschaftlichen Zwecken, nämlich (der Ordnung des Wirtschaftslebens) dienen soll.27 Wenige Jahre später stellte Max Weber die enge Verknüpfung von Marktgemeinschaft und (Zweck-) Vertrag heraus.28 Die Verträge, die nur die Herbeiführung konkreter, meist ökonomischer Leistungen und Erfolge bezwecken, nennt Max Weber „Zweckkontrakte“.29 Unter den Vertretern der Zivilrechtsdogmatik waren es zunächst sog. Freirechtler oder andere Anhänger eines soziologisch ausgerichteten Rechtsdenkens, die eine funktionale Sicht der Rechtsinstitute im Allgemeinen bzw. des Schuldvertrages im Besonderen vertraten. Vor allem Ernst Stampe, Ordinarius in Greifswald, hat schon kurz nach Inkrafttreten des BGB mit seinem „Grundriss der Wertbewegungslehre“ ein Privatrechtssystem entworfen, das sich grundsätzlich an der Funktion der Rechtseinrichtungen orientierte. Dabei verstand Stampe unter Funktion eines Rechtsinstituts dessen rechtspolitische (soziale) Aufgabe.30 In Weiterführung der Ge24
Stammler, Die Lehre vom richtigen Recht, 1902, S. 388. In der 1904 in den Marx-Studien Bd. 1 (S. 63, 192) unter dem Pseudonym Josef Karner erstmals, dann 1929 unter dem wahren Namen erschienenen und neu bearbeiteten Schrift „Die soziale Funktion der Rechtsinstitute“ (1965, Neudruck der Ausgabe von 1929) heißt es (60): „Die Warenzirkulation geht in der kapitalistischen Gesellschaft vor sich in der Form des Rechtsgeschäfts ,Kauf und Verkauf‘ und seiner Derivate, …“. Renner weist aber darauf hin, dass die Rechtsform des Vertrages auch anderen ökonomischen und außerökonomischen Zwecken diene (S. 55). 26 Ehrlich, Rechtssoziologie, 1913, S. 40; vgl. auch Levy, Emmanuel, Les fondements du droit, nouvelle édition, 1939: „L’échange social fait du contrat un instrument essentiel“ (S. 145) und Ofner, Julius, der in seinem Buch „Das soziale Rechtsdenken“, 1923 die Rechtsinstitute allgemein als Werkzeuge sozialer Technik (S. 35) bzw. als sozialorganisatorische Instrumente (S. 36) begreift. 27 Ehrlich (Fn. 26) S. 35, 40. Der Vertrag ist die juristische Form für die Verteilung und Verwertung der in der Volkswirtschaft vorhandenen Güter und persönlichen Fähigkeiten (Diensten): S. 38. 28 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 1920/1921, S. 513. Die heutige Bedeutung des Vertrags auf dem Gebiet des wirtschaftlichen Güterverkehrs sei in erster Linie Produkt der intensiven Steigerung der Marktvergesellschaftung und der Geldverwendung (ibid.). 29 Ibid. (Fn. 28) S. 514. Den Tausch bzw. „Geldkontrakt“ sieht Weber als „Archetypus“ des Zweckkontraktes an (ibid. S. 514, 515). Den Gegensatz zum Zweckkontrakt bildet der „Statuskontrakt“ des Familien- und öffentlichen Rechts (ibid. S. 513). 30 Stampe, Grundriss der Wertbewegungslehre I, II selbständig 1912, 1919; bzw. in: AcP 108 (1912) und 110 (1913); ders., Einführung in das bürgerliche Recht, 1920; vgl. auch schon ders., DJZ 1907, 545 und ders., Die Freirechtsbewegung, 1911. Siehe den Hinweis auf die Pionierarbeiten Stampes bei Beyerle, ZStW 92 (1942) 223 bei Fn. 1. Auf die Vertragsfunktion im Besonderen geht Stampe nicht ausdrücklich ein. 25
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danken seines Lehrers Stampe hat Gustav Boehmer in seiner „Einführung in das bürgerliche Recht“ 1932 deutlich auf die Doppelfunktion des Schuldvertrages hingewiesen: zum einen die Befriedigung des (sc. individuellen) sozialen Bedürfnisses und zum anderen die „volkswirtschaftliche Funktion in dem ökonomischen Gesamtvorgang, der von der Urerzeugung bis zum letzten Verbrauch hinführt“.31 Boehmer unterschied nach dem allgemeinen rechtlichen Zweck – ähnlich wie Stampe – Güteraustausch, unentgeltliche Güterzuwendung und Gütervergesellschaftung.32 Diese „schuldrechtlichen Grundgeschäfte“ und die zugehörigen „Hilfsgeschäfte”, die den Zweck haben, für den Verkehr des wirtschaftlichen und kulturellen Lebens die erforderlichen festen Formen zu bilden, bezeichnete Boehmer als „Verkehrsschuldverhältnisse“33. Im selben Jahr 1932 gelangte Franz Beyerle aufgrund einer funktionellen Deutung der Rechtsfiguren „persönlicher Verkettung“ (d. h. der Schuldverträge) zu deren Einteilung in „Synallagma“, „Gesamthand“ und „Treuhand“34. Nach Beyerle hat der (Schuld-)Vertrag im Rahmen der beiden großen, am Sozialleben ausgerichteten rechtlichen Ordnungen der Güternutzung und des Güterverkehrs seinen Platz im Mittelpunkt des Güterverkehrs.35 Der abstrahierenden Methode der Pandektistik und des BGB folgend, fragten manche Autoren allerdings nicht nach der Aufgabe bzw. Funktion des Schuldvertrages, sondern des Schuldverhältnisses innerhalb der sozialen Ordnung. So hat vor allem Hugo Kreß die Funktionen des Schuldverhältnisses betont. Für ihn war das Schuldverhältnis „die Gesamtheit der zur Bewegung und Wahrung der – materiellen, immateriellen – Güter unter bestimmten Personen begründeten rechtlichen Beziehungen (Ansprüche, Gestaltungsrechte)“.36 Kreß unterteilte die Schuldverhältnisse nach ihrer wirtschaftlichen Bedeutung in solche im Dienste der Güterbewegung und solche, die dem Schutze der Güter dienen.37 Philipp Heck unterschied hinsichtlich der Obligation zwischen dem Gebots- oder Strukturbegriff und dem Interessenbegriff, den er auch „Funktionsbegriff“ nannte. Der Gebots- oder Strukturbegriff sei in den §§ 194, 241 BGB gemeint, der „Funktionsbegriff“ ziele auf die „Lebenswir31 Boehmer, Einführung in das bürgerliche Recht, 1932, S. 91 – 93. Die „Ordnung des Wirtschaftslebens“ teilt Boehmer in zwei Funktionsbereiche ein: Die „Güterstatik“ (Sachenrecht) und die „Güterdynamik“ bzw. die „Güterbewegung“ als Ordnung des wirtschaftlichen Verkehrs (Schuldrecht) S. 60, 81. Vgl. auch ders., Einführung in das bürgerliche Recht, 1954, S. 148 ff. 32 Boehmer (Fn. 31, 1932) S. 91, 94. 33 Boehmer (Fn. 31, 1932) S. 94. 34 Beyerle (Fn. 2) S. 13, 16 ff., 46; vgl. auch ders., DRW 4 (1939) 15 (juristisch wertvoll werde die Ausformung der Begriffssprache erst dann, wenn man in Begriffsbildung und Systematik an die soziale Funktion der Rechtsfiguren anknüpfe: S. 18, 20, 23; „funktionales Rechtsdenken“: S. 21 f.); Beyerle weist auf den funktionalen Ansatz der frühen Vernunftrechtler.(Grotius, Pufendorf) hin (ibid. S. 7, 9). 35 Beyerle (Fn. 34, 1939) DRW 4 (1939) 21/22 (zunächst für das frühere Naturrecht, aber wohl als allgemein gültig festgestellt). 36 Kreß, Lehrbuch des allgemeinen Schuldrechts, 1929, S. 18. 37 Kreß (Fn. 36) S. 31.
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kung“ der Obligation. Der Aufbau und die Wirkung des modernen Wirtschaftssystems beruht nach Hecks Ansicht in der Hauptsache auf dem „Bindemittel“ privatrechtlicher Obligationen.38 Seit den 1920er Jahren werden Inhalt und Funktion des Schuldvertrags bzw. des – in § 241 Abs. 1 BGB an sich nur als leistungsbezogener Einzelanspruch konzipierten – Schuldverhältnisses um den Schutz des Partners erweitert und das so erweiterte Schuldverhältnis als „Organismus“ (Siber), „Rahmenbeziehung“ (Herholz), „Prozess“ (Karl Larenz) und als „Vertrauensverhältnis“ (Heinrich Stoll) bezeichnet sowie als Quelle aller die Parteien in ihrem Verhältnis zueinander betreffenden Rechte und Pflichten (Gesamtheit der Rechtswirkungen) verstanden.39 Diese „durch die Tatsache der rechtsgeschäftlichen Beziehung geschaffene rechtsgeschäftlich-schuldrechtliche Rahmenbeziehung“40 soll in Bezug auf Entstehungstatbestand, Geltungsdauer und Inhalt von dem Schuldverhältnis im eigentlichen Sinn („Leistungsbeziehung“), insbesondere vom Schuldvertrag unabhängig sein. Herholz leitet den Pflichteninhalt dieser „Rahmenbeziehung“ aus deren „Gefährdungskreis“ ab und kappt damit die Bindung des Schutzbereiches des Schuldverhältnisses von dessen (Leistungsverkehrs-)Zweck.41 Demgegenüber versteht Heinrich Stoll das Schuldverhältnis als gegenseitiges Vertrauensverhältnis mit einem erweiterten Inhalt und einem zeitlich auf den Vorbereich des Schuldverhältnisses erstreckten Geltungsbereich. Dieses Vertrauensverhältnis begründet nach Stolls Auffassung die Pflicht, die Gegenpartei vor Schädigungen zu bewahren, die sich aus der Sonderbeziehung ergeben können.42 Das Vertrauensverhältnis stützt er auf eine Treuepflicht der Parteien, die von dem Augenblick an bestehe, in dem sich die Parteien erkennbar zu Zwecken des Vertragsschlusses gegenübertreten. Dogmatisch differenziert Stoll zwischen Schutzpflichten, die beiden Parteien obliegen einerseits und Leistungspflichten des jeweiligen Schuldners andererseits. Die Leistungspflichten (als Haupt- und Nebenpflichten) dienen der Vorbereitung und Durchführung der kraft des Schuldverhältnisses geschuldeten Leistung. Die Schutzpflichten dienen der Abwehr von unabhängig vom Leistungsinteresse ausgelösten Interessenschädigungen, die aus Anlass 38
Heck, Grundriß des Schuldrechts, 1929, Kapitel II. Planck/Siber, Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch nebst Einführungsgesetz, 4. Aufl., 1914, Bd. II, 1. Hälfte, Recht der Schuldverhältnisse (Allgemeiner Teil) §§ 241 – 363, § 241 Vorbem. I 1 mit Nachweisen; vgl. auch schon Siber, Der Rechtszwang im Schuldverhältnis nach deutschem Reichsrecht, 1903, S. 92. 40 Herholz, AcP 130 (1929) 276. 41 Herholz (Fn. 40) 297: „Jede Partei hat bei der Rahmenbeziehung die Pflicht, die Verletzung des ihr bekannten, in den Gefährdungskreis der Rahmenbeziehung getretenen Interessenkreises der anderen Partei zu vermeiden“. Mit anderen Worten stellt Herholz ein allgemeines (nach Vertragsrecht sanktioniertes) Schädigungsverbot auf, das durch den Gefahrenkreis der Rahmenbeziehung eingeschränkt wird. Faktisch läuft dies darauf hinaus, dass eine Haftung nach vertraglichen Grundsätzen immer schon dann in Betracht kommt, wenn der Schaden im Zusammenhang mit der Rahmenbeziehung eingetreten ist, d. h. ohne diese Sonderbeziehung nicht verursacht worden wäre (conditio sine qua non). 42 Stoll, Heinrich, AcP 136 (1932) 288 f. 39
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der Vertragsvorbereitung oder bei der Vertragserfüllung entstehen können; sie bestehen unabhängig von der Erfüllung der geschuldeten Leistung.43 Die „Lebensaufgabe“ des Schuldverhältnisses sieht Stoll – wie Kreß – in der Güterbewegung (Verkehrsschuldverhältnisse) und im Schutz der Rechtsgüter (Schutzschuldverhältnisse); damit exemplifiziert er die Unterscheidung der Interessenjurisprudenz zwischen Gebots- und Interessenbegriffen.44 Der Funktion der Güterbewegung entsprechen Leistungsinteresse und Erfüllungspflichten (Leistungspflichten), der Schutzfunktion sind Schutzinteresse und Schutzpflichten zugeordnet. Diese Konzeption des Schuldverhältnisses, insbesondere dessen Verständnis als Vertrauensverhältnis, hat sich der Sache und der Terminologie nach im Schrifttum und in der Praxis weitgehend durchgesetzt.45 So wird das Schuldverhältnis allgemein im Sinne von „Organismus“ oder „Gefüge“ verstanden,46 das nicht nur dem Leistungsinteresse dient, sondern auch das Interesse der Beteiligten daran schützt, dass ihnen infolge der sich aus der Sonderbeziehung ergebenden Einwirkungsmöglichkeiten kein Schaden entsteht. 2. Die Zeit des völkischen Rechts (1933 – 1945) Die deutsche Schuldrechtslehre nach 1933 war in mancher Hinsicht nicht so umstürzend neu, wie manche linientreue Autoren es in jener Zeit gern hingestellt haben. So wurde nach 1933 der funktionale (Schuld-)Vertragsbegriff zwar zur herrschenden Meinung in der deutschen Privatrechtswissenschaft und terminologisch dem Zeitgeist angepasst, die entsprechende Sachdiskussion hatte aber schon seit der Jahrhundertwende begonnen. Den funktionalen (Schuld-)Vertragsbegriff formulierte jetzt Heinrich Stoll folgendermaßen: „Verträge sind das rechtliche Mittel zur Gestaltung der wirtschaftlichen und sozialen Beziehungen der Volksgenossen untereinander. Sie müssen der Erfüllung der großen Aufgabe dienen, die Güterverteilung in der Volksgemeinschaft sinnvoll zu regeln.“47 Allerdings schwächten völkisch gesinnte Rechtswissenschaftler die inhaltliche Vertragsfreiheit, indem sie den Vertrag als ein „Ge43
Stoll, Heinrich, Die Lehre von den Leistungsstörungen, 1936, S. 10, 26 ff. Stoll (Fn. 42) 286 ff.; vgl. auch ders., ZAkDR 1936, 628 ff. 45 Vgl. z. B. Staudinger/Weber, Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 10. Aufl., 1940, § 241 Einleitung Bem. 34, 203, 346 ff., insbes. 350, 354, 359; 477; Palandt/Friesecke, Bürgerliches Gesetzbuch, 3. Aufl., (1940) § 241 Einleitung Bem. 1; Larenz, Vertrag und Unrecht, 1. Teil: Vertrag und Vertragsbruch, 1937, S. 102 (Grundpflicht zur Wahrung von Treu und Glauben). 46 Vgl. z. B. Wolf, Ernst, Zum Begriff des Schuldverhältnisses, in: Schwinge (Hg.), Festgabe für Heinrich Herrfardt zum 70. Geburtstag, 1961, S. 197 (S. 199 mit weiteren Nachweisen in Fn. 13); zum Begriff des Schuldverhältnisses: ibid. 197 ff. 47 Stoll (Fn. 43) S. 128 (Vorspruch des Gesetzentwurfs); Grundsatz 12 des Entwurfes eines Gesetzbuches („als Mittel sinnvoller Verteilung der Güter wird der Vertrag anerkannt.“); Wieacker, Zum System des deutschen Vermögensrechts, 1941, S. 54: Schuldvertrag als Mittel des volkswirtschaftlichen Güter-(Leistungs-)Kreislaufs. 44
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staltungsmittel der völkischen Ordnung“48 bezeichneten, der sich daher, um rechtswirksam zu sein, positiv in die völkische Ordnung einfügen müsse.49 Dementsprechend definierte Karl Larenz das Vertragsverhältnis als ein „Rechtsverhältnis innerhalb der völkischen Gesamtordnung, dessen Gestaltung in erster Linie von dieser Ordnung und weiterhin auch von der Bestimmung durch die Beteiligten abhängt, soweit die völkische Ordnung für eine Bestimmungsfreiheit Raum lässt.“50 Der Vertrag müsse so in die Gesamtordnung eingefügt sein, dass sein Inhalt zunächst von dieser und erst dann von den Beteiligten geprägt werde.51 Der im Streben nach Konkretisierung der Begriffe auf den Schuldvertrag reduzierte Vertrag52 stehe in der völkischen Ordnung, werde von ihr getragen und „beherrscht“53. Die Vertragsfreiheit als Grundprinzip und Ausgangspunkt sahen manche sogar als überwunden an.54 Gegen diese herrschende stark völkisch orientierte, antiliberale Strömung haben jedoch andere Rechtswissenschaftler den Eigenwert des Vertrages, dessen Bedeutung für die Bedürfnisbefriedigung der Beteiligten und die Leistungsförderung betont.55 Der Vertrag ist – bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen – ein Mittel zu richtiger sozialer Gestaltung.56 Insgesamt gesehen behielt die deutsche Rechtswissenschaft nach 1933 die schon vorher mehr oder weniger ausgebildete funktionale Sicht des Schuldvertrages bei. 48
Haupt, ZAkDR 1943, 85; Larenz, DR 1935, 490; Siebert, DR 1944, 9. Brandt, ZAkDR 1941, 190: „Der Sinn jeder Rechtsgestaltung im Vermögensverkehr liegt in der Wahrung und Gestaltung der Volksordnung in ihren wirtschaftlichen Grundlagen. Das Rechtsgeschäft der bisherigen Privatautonomie ist nur die am stärksten eigenverantwortliche Mitgestaltung der Volksgenossen …“; s. auch Larenz (Fn. 48). Scharf gegen diese im letzten zur Genehmigungsbedürftigkeit jedes Rechtsgeschäftes führende Lehre: SchmidtRimpler, AcP 147 (1941) 165 ff. und Haupt, ZAkDR 1943, 84 ff. (85). 50 Larenz (Fn. 48) 491. 51 Larenz (Fn. 48) 490 f.; Eichler, DRW 1936, 276. 52 So z. B. Larenz, Über Gegenstand und Methode des völkischen Rechtsdenkens, 1938, S. 46 u. ö.; Siebert, Die allgemeine Entwicklung des Vertragsbegriffes, in: Deutsche Landesreferate zum II. Internationalen Kongress für Rechtsvergleichung im Haag 1937, 1937 S. 199 (208); dagegen z. B. Manigk, Neubau des Privatrechts. Grundlagen und Bausteine, 1938, insbesondere S. 39 ff. 53 Siebert, DRW 1936, 247. 54 Eichler (Fn. 51) 277; Larenz (Fn. 48) 489; Siebert (Fn. 52) 203. Besonders deutlich zeigt sich die Wandlung der Vertragsfunktion in der Marktordnung des Reichsnährstandes (Gesetz v. 13. 9. 1933), die ein weitgehend neues Lieferungsrecht als Rahmenordnung für den Inhalt einzelner Lieferungsverträge festlegte und darüber hinaus auch Pflichtlieferungs- und Pflichtbezugsverhältnisse (Kontrahierungszwang) für einzelne Lieferverträge einführte. Diese marktordnenden Vorschriften sahen sogar die unmittelbare Gestaltung von Sonderverbindungen durch die Rechtsordnung vor; vgl. dazu Siebert (Fn. 52) 207 f. 55 So insbesondere Schmidt-Rimpler (Fn. 49) 165 ff. u. ö.; Stoll, Heinrich, DJZ 1936, 416, 419; Manigk (Fn. 52) insbes. 12 ff.; vgl. auch Böhm, Die Ordnung der Wirtschaft als geschichtliche Aufgabe und rechtsschöpferische Leistung 1937, insbesondere S. 104 ff.), der die Bedeutung des „Tausches“ und des „Wettbewerbs“ als Grundvoraussetzung für das Funktionieren der freien Verkehrswirtschaft (Verkehrsordnung) herausstellte. 56 Raiser, Ludwig, AcP 147 (1941) 138, 151 f. 49
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Teilweise geschah dies in maßvoller Abwägung der beiden Bezugspunkte für die Vertragsfunktion (Person, Gesamtordnung). Teilweise kam es aber auch zu einer Übersteigerung des völkischen Gemeinschaftsgedankens, der zu einem einseitig systemfunktionalen Verständnis des Vertrages, zur Zurückdrängung, ja zur Aufhebung der Vertragsfreiheit zu führen drohte. Nur insoweit konnte von einer „Wandlung des Vertragsbegriffs“57 gesprochen werden. 3. Die Entwicklung seit 1945 Nach einer gewissen Zeit der Unsicherheit und Rückwendung zu einer formaltechnischen Vertragsauffassung in den ersten Jahren nach dem Ende des Dritten Reiches, hat das vom völkischen Denken befreite funktionale Verständnis des Vertrags seit etwa 1960 wieder rasch an Boden gewonnen. Diese Entwicklung ging einher mit der Rückbesinnung auf die für eine freiheitliche Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung grundlegende rechts- und gesellschaftspolitische Bedeutung der Privatautonomie und deren schuldrechtlichen Ausformung in Gestalt der Vertragsfreiheit. Diese Rückbesinnung konnte auf den in der Zwischenkriegszeit entstandenen Arbeiten von Walther Burckhardt, Fritz von Hippel und Walter Schmidt-Rimpler aufbauen. Vor allem Burckhardt58 und von Hippel59 hatten schon vor 1933 die grundsätzliche rechtstheoretische Frage nach der Berechtigung des Gestaltungsprinzips „Privatautonomie“ gestellt. Die im Dritten Reich wohl überwiegende einseitige Betonung des obligatorischen Vertrags als Gestaltungsmittel der Gesamtrechtsordnung, d. h. die systemfunktionale Sicht wich nach dem Zweiten Weltkrieg einem Verständnis, das die Funktionalität des Schuldvertrages auch für die unmittelbar beteiligten Einzelnen wieder mit in Betracht zog. Wohl allgemein erkannt und anerkannt ist die zentrale Stellung des (Schuld-)Vertrags als praktisch wichtigstes Instrument der Privatautonomie in der Rechtsordnung. So verdrängt der Schuldvertrag mehr und mehr das Rechtsgeschäft bzw. die Willenserklärung als zentrale Rechtsfigur.60 Er wird nun als „reguläres Ordnungsinstrument des vermögensrechtlichen Verkehrs unter Leben-
57 Larenz (Fn. 48) 488. Siebert nahm die funktionale Sicht des Vertrages zu Unrecht als Errungenschaft der neuen deutschen („völkischen“) Vertragstheorie in Anspruch (Fn. 52), S. 205. Die gleichfalls von der neuen Rechtstheorie vindizierte Auffassung des Vertrags als Vertrauensverhältnis war schon lange vor 1933 in Theorie und Praxis erarbeitet worden: vgl. z. B. RG, JW 1912, 743 (Luisinlichtfall) sowie Stoll (Fn. 42). Entsprechendes gilt für die „Sozialisierung“ (im Sinne von „Entindividualisierung“) des Rechts: vgl. statt aller Hedemann (Fn. 22), S. 77 ff. 58 Insbesondere in: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft, 1927, S. 2 ff. 59 von Hippel, Fritz, Das Problem der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie. Beiträge zu einem natürlichen System des privaten Verkehrsrechts und zur Erforschung der Rechtstheorie des 19. Jahrhunderts, 1936; 1930 geschrieben, vgl. ibid. S. VIII, S. 57 ff. 60 Vgl. etwa die Neubearbeitung des Lehmann’schen Allgemeinen Teils durch Hübner, 15. Aufl., 1966, S. 233.
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den“ bezeichnet61 bzw. als das von der Rechtsordnung institutionalisierte Hauptinstrument der selbstbestimmten rechtlichen Ordnung zwischenmenschlicher Beziehungen im herrschaftsfreien Raum qualifiziert62. Vertragsfunktion bedeutet hier zunächst die „soziale“ Aufgabe des Vertrages als privatautonom bestimmtes rechtliches Gestaltungsmittel zwischenmenschlicher Beziehungen im Rahmen der Gesamtrechtsordnung.63 Die „soziale“ Funktion des Vertrages wird jedoch auch im Sinne eines rechtlichen Instruments zur Schaffung gerechter Individualordnung verstanden. Deshalb sollen die grundlegenden sittlichen, insbesondere verfassungsrechtlich manifestierten Grundprinzipien als Anforderungen einer materiellen Vertragsgerechtigkeit auch bei Individualverträgen beachtet werden.64 In der Tat führt die Konzeption des Vertrages als Selbstgestaltungsmittel mit einer daraus abgeleiteten Bindung an die allgemeine Rechtsidee zur materiellen Vertragsgerechtigkeit65 und gleichzeitig zur Einschränkung der Selbstbestimmung66. Allerdings kann die Frage nach einer „gerechten“ Regelung, nach Vertragsgerechtigkeit sinnvollerweise nur beim Schuldvertrag, genauer nur beim Austauschvertrag gestellt werden. Vertragsfunktion bedeutet in dem skizzierten Sinn die Gewährleistung individueller Vertragsgerechtigkeit. Ausdruck dieser Konzeption ist das herrschende Verständnis des Vertragsverhältnisses als „Vertrauensverhältnis“ mit den daraus fließenden mannigfachen Nebenpflichten, die sogar über den unmittelbaren Vertragszweck hinausreichen und die gesamte Vermögenssphäre der Partner schützen sollen. In diesem Sinne hat der Vertrag die Schutzfunktion des Deliktsrechts übernommen und in mancher 61 Rittner (Art. „Vertragsrecht“, HdSW XI [1961] 264/265), der freilich die dinglichen Verträge einbezieht, für die jedoch die Regelungsbefugnis der Vertragsfreiheit im Sinne inhaltlicher Ausgestaltung nicht gilt. Die Verfügungsgeschäfte haben als Vollziehungsgeschäfte der planenden Schuldverträge Hilfsfunktionen; sie ordnen nicht selbst, sondern „realisieren“ die schuldvertraglich vorgeplante Ordnung. 62 Z. B. Raiser, Ludwig, Vertragsfunktion und Vertragsfreiheit, in: 100 Jahre deutsches Rechtsleben. Festschrift zum 100-jährigen Bestehen des Deutschen Juristentages 1860 – 1960, 1960, Bd. 1, S. 101 (104); Flume, AcP 161 (1962) 52 ff.; Rittner (Fn. 61) 264; SchmidtRimpler, Art. „Wirtschaftsrecht“, HdSW XII (1965), S. 707; Mestmäcker, JZ 1964, 441, besonders 443; Brox, JZ 1966, 762. 63 In einem anderen Sinn versteht Gorla, Il contratto, I, 1955, S. 199 f.), die soziale (öffentliche) Funktion des Vertrages als Rechtsinstitut: Sie liegt nach seiner Auffassung darin, zu verhindern, dass private Rechtstreitigkeiten in einem Umfang vor die Gerichte gebracht werden, die die soziale Ordnung („l’ordine sociale“) in Frage stellen würden. Die (soziale) Funktion des Vertrages als Rechtsinstitut besteht somit darin, soziale Ordnung und sozialen Frieden aufrechtzuerhalten. 64 Lehmann/Hübner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Gesetzbuches, 15. Aufl. 1966, S. 233. 65 Lehmann/Hübner (Fn. 64) 233. Lehmann/Hübner überdehnte allerdings den Bereich der Vertragsgerechtigkeit, wenn er daraus die sog. Schutzwirkung zu Gunsten Dritter ableitete. 66 So Flume, der den Grundsatz der privatautonomen Gestaltung durchhält und konsequenterweise die Prüfung der inhaltlichen Richtigkeit des Vertrags, d. h. der materiellen Vertragsgerechtigkeit verwirft (Fn. 62) 53 ff., insbesondere 56: „Der Allgemeine Gedanke des „gerechten“ Vertrages sei ein Phantom und ein Widerspruch zu dem Grundsatz der Privatautonomie“.
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Hinsicht verschärft. Die skizzierte, von der deutschen Rechtswissenschaft und Rechtsprechung außergesetzlich entwickelte weite Konzeption des Schuldverhältnisses hat der deutsche Gesetzgeber im Jahre 2002 in den §§ 241 Abs. 2 und insbesondere 311 Abs. 2 und 3 BGB kodifiziert. Damit wurde m. E. ein Irrweg eingeschlagen. Siehe dazu näher unten III. 2. a).
III. Funktionen des Schuldvertrags 1. Der Schuldvertrag im Rahmen der Privatautonomie Der Schuldvertrag beruht auf der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie. Er verwirklicht dieses allgemeine Prinzip in einem Teilgebiet. Insofern bildet der Schuldvertrag in seinem Anwendungsbereich das Instrument der Privatautonomie. a) Der Begriff der Privatautonomie Unter rechtsgeschäftlicher Privatautonomie verstehen wir die Befugnis des Einzelnen, eine von der Rechtsordnung anerkannte, d. h. rechtlich verbindliche und erforderlichenfalls mit staatlicher Hilfe durchsetzbare Regelung in Selbstbestimmung zu treffen. „Privatautonomie nennt man das Prinzip der Selbstgestaltung der Rechtsverhältnisse durch den einzelnen nach seinem Willen.“67 Es geht um privatautonome Rechts- und damit Sozialgestaltung. Den Gegensatz bildet die heteronome „hoheitliche“ Gestaltung von Rechtsverhältnissen durch den jeweils zuständigen Gesetzgeber. Als allgemeines Prinzip ist die Privatautonomie konkretisierungsbedürftig hinsichtlich der Fragen, in welchen Fällen und inwieweit eine privatautonome, eine hoheitliche oder aber eine gemischt privatautonom/hoheitliche Rechtsgestaltung erfolgen soll. Von den verschiedenen Erscheinungsformen der Privatautonomie (Vertragsfreiheit, Vereinigungsfreiheit, Eigentumsfreiheit, Vererbungsfreiheit, Rechtswahlfreiheit)68 als dem Leitprinzip der gesamten Privatrechtsordnung interessiert in unserem Zusammenhang lediglich die (Schuld-)Vertragsfreiheit. b) Die Funktion der Privatautonomie Die rechtliche Anerkennung der Befugnis des Einzelnen zu selbstverantwortlicher Gestaltung seiner Rechtsbeziehungen bedeutet eine Delegation von Rechtsetzungsmacht im Sinne einer Dezentralisierung der Rechtschöpfung. Man kann in dieser ordnungspolitischen Grundentscheidung69 auch eine besondere Erscheinungs67
Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 2. Aufl., Bd. 2, 1977, § 1,1. Art. 2 (1) GG: Vertragsfreiheit; Art. 9 (1) GG: Vereinigungsfreiheit; Art. 14 (1) GG: Eigentums- und Vererbungsfreiheit. 69 Bei idealtypischer, von einer positiven Rechtsordnung gelöster Betrachtung – wie sie im Zeitalter des Vernunftrechts nahelag – wird das Motiv, der materielle Rechtsgrund des „po68
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form der Gewaltenteilung70 sehen, nämlich die Teilung der Rechtsetzungsbefugnis zwischen dem Staat und den betroffenen Bürgern, die gleichzeitig eine Aufgabenentlastung für das Gemeinwesen bedeutet. Ob und in welchem Umfang rechtsgeschäftliche Privatautonomie gewährt, d. h. den Bürgern Normsetzungsmacht gegeben werden soll, stellt eine für die Struktur jedes Gemeinwesens grundlegende Frage dar. Daher ist diese Grundentscheidung über die Zulassung und Reichweite der Privatautonomie als Ordnungsinstrument in der Verfassung zu treffen. Es geht um das fundamentale Problem, ob und inwieweit gesamtgesellschaftliche Organisationsformen zuzulassen sind, in denen die betroffenen Bürger über bestimmte Fragen ihrer Lebensgestaltung („Privatangelegenheiten“) selbst bestimmen können. Die Spannweite der denkbaren Gestaltungen reicht vom System des Manchester-Liberalismus bis zum Modell des „volkstümlichen Arbeiterstaats“ von Anton Menger, der Schuldverhältnisse grundsätzlich nur noch zwischen Staat und Bürger, jedoch nicht mehr zwischen Bürgern zulassen wollte. Als Rest der Selbstbestimmung der betroffenen Bürger blieb im volkstümlichen Arbeiterstaat lediglich die Befugnis, sich über „verbrauchbare“ Sachen wie Brot und Feuerholz „bindend“ zu vertragen – aber auch dies rechtswirksam nur in Form von (sofort vollzogenen) Handgeschäften, weil diese „für die Zukunft keine Unterwerfung eines Staatsbürgers unter den Willen eines anderen bewirken“.71 c) Die Anerkennung der Privatautonomie im positiven deutschen Recht Das „Ob“ und „wie“ der Anerkennung der Privatautonomie als rechtliches Ordnungsinstrument ist also eine Frage des positiven Rechts, insbesondere der Verfassung. Dabei ist festzustellen, dass alle Rechtsordnungen der Privatautonomie Raum geben, jedoch mit beträchtlichen Unterschieden hinsichtlich deren Reichweite. So haben die Privatautonomie und auch der Schuldvertrag insbesondere in den ehemals sozialistischen Ländern eine andere und insgesamt erheblich geringere Rolle gespielt als in den mehr oder weniger marktwirtschaftlich geprägten westlichen Staaten. In Deutschland ist die Privatautonomie als konstitutives Prinzip der Privatrechtsordnung seit langem anerkannt. Schon die Urfassung des BGB hat die Privatautonomie in verschiedenen Vorschriften vorausgesetzt, so insbesondere in sitiven Gesetzgebers“ freilich zum formellen Rechtsgrund. Vgl. in unserem Zusammenhang die Darstellung der einzelnen Theorien über den Grund der Vertragsverbindlichkeit bei Hofmann, Franz, Die Entstehungsgründe der Obligationen, insbesondere der Vertrag, 1874, S. 85 ff.: gesellschaftliches Bedürfnis, ethische Theorien, Willenstheorien, Veräußerungstheorien, Vertrauenstheorien, Läsionstheorien, kombinatorische Theorien. Freilich schlagen diese Theorien über den materiellen Rechtsgrund immer wieder auf die dogmatische Ebene durch: vgl. dazu Mayer-Maly, Vertrag und Einigung, in: Festschrift für Hans Carl Nipperdey zum 70. Geburtstag, 1965. Bd. 1, S. 509 (512 ff.). 70 Diese Tatsache ist vor allem von Fritz von Hippel (Fn. 59, Das Problem …, S. 63 Fn. 8, S. 81 Fn. 11 mit Nachweisen) wieder ins Licht gerückt worden. 71 Menger, Neue Staatslehre, 1906, S. 88, 112 (Zitat).
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§§ 305 (jetzt 311) bzw. 705 (Vertrags- bzw. Vereinigungsfreiheit) und in §§ 903 bzw. 1937 (Eigentums- bzw. Vererbungsfreiheit/Testierfreiheit). Verfassungsrechtliche Anerkennung erfuhr die Privatautonomie auf gesamtstaatlicher Ebene erst 1919 in der Weimarer Reichsverfassung (WRV) und dann 1949 im Grundgesetz (GG). Indessen schützen weder die WRV noch das GG die Privatautonomie als solche, sondern nur deren konkrete Erscheinungsformen als Vertrags- und Vereinigungsfreiheit, als Eigentums- und Testierfreiheit.72 Dabei hat das GG jedoch – im Gegensatz zur WRV – die Vertragsfreiheit nicht ausdrücklich in den Grundrechtskatalog aufgenommen; die herrschende Meinung sieht aber die Vertragsfreiheit im Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) gewährleistet.73 Damit ist von Verfassungswegen eine ordnungspolitische Grundentscheidung zugunsten einer entsprechenden Teilnahme Privater an der rechtlichen Ordnung der Gemeinschaft getroffen. 2. Die Funktionen des Schuldvertrags Die Privatautonomie wird durch Rechtsgeschäfte, d. h. Tatbestände verwirklicht, an deren Vorliegen die Rechtsordnung eine Rechtsfolge knüpft, weil sie von dem (den) Beteiligten gewollt ist. Dabei bestimmt § 311 Abs. 1 BGB, dass zur Begründung eines Schuldverhältnisses durch Rechtsgeschäft ein Vertrag erforderlich ist, soweit das Gesetz nichts anderes vorsieht; letzteres ist im Schuldrecht äußerst selten. Mit anderen Worten dient das zweiseitige Rechtsgeschäft „Schuldvertrag“ als (Regel)Instrument der unmittelbar Beteiligten zur autonomen rechtlichen Ordnung ihrer Beziehungen im herrschaftsfreien Raum.74 Einseitige Rechtsgeschäfte können als Instrumente der Rechtsgestaltung nur dort zugelassen werden, wo andere dadurch keine rechtlichen Nachteile erleiden, so etwa bei der Errichtung von Stiftungen und Testamenten sowie bei der Auslobung. Der privatautonomen Regelung durch die unmittelbar Betroffenen steht aber nicht das gesamte Privatrecht offen. Im Wesentlichen ist nur der Vermögensbereich der privatautonomen Gestaltung durch Verträge zugänglich. Auch innerhalb dieses Gebietes gilt das Prinzip inhaltlicher Selbstgesetzgebung nur für den Güter- und Leistungsverkehr („Verkehrsrecht“), der im Wesentlichen mit der (Schuld-)Vertragsordnung zusammenfällt. Die Verfügungsgeschäfte, die im deutschen Rechtssystem als selbstständige Hilfsgeschäfte der Schuldverträge ausgestaltet sind, unterliegen demgegenüber dem Typenzwang, d. h. dem Numerus clausus der dem Rechtsverkehr zur Verfügung gestellten, nicht dispositiven Rechtsformen. Und im Familien- und Erbrecht handelt es sich – von Ausnahmen abgesehen – um Verträge, bei denen lediglich der Vertragsschluss, nicht jedoch der Vertragsinhalt dem Willen der Parteien unterliegt. Hier akzeptieren die Beteiligten mit dem Vertragsabschluss eine vorgegebene Ordnung – gleichgültig, ob sie deren Inhalt 72 WRV: Vertragsfreiheit (Art. 132); Vereinigungsfreiheit (Art. 124); Eigentumsfreiheit (Art. 153); Testierfreiheit (Art. 154). 73 Vgl. z. B. BVerfGE 88, 384 (403). 74 Vgl. z. B. Raiser (Fn. 62) S. 104.
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im Einzelnen billigen oder nicht. Die freie inhaltliche Gestaltung ihrer Beziehungen, die Normsetzung im eigentlichen Sinn als lex privata steht den Betroffenen also grundsätzlich nur im Schuldvertragsrecht offen. In der schuldvertraglichen Typenfindungsfreiheit und inhaltlichen Gestaltungsbefugnis liegt der Kernbereich der Vertragsfreiheit. So kann man den Schuldvertrag als Regelinstrument der Privatautonomie bezeichnen. Dementsprechend findet sich nicht selten die Gleichsetzung von Privatautonomie und Vertrags- bzw. Schuldvertragsfreiheit75, und die Erörterungen zur Vertragsfunktion in der Literatur beziehen sich in der Regel – manchmal stillschweigend – auf den Schuldvertrag. Bei der Funktion des gegenseitigen Schuldvertrags wird man zwei Aspekte zu unterscheiden haben: den inter-individuellen Aspekt des autonomen Interessenausgleichs der Beteiligten (Individualfunktion) einerseits und den über-individuellen volkswirtschaftlichen Aspekt im Rahmen der Gesamtrechtsordnung (Systemfunktion) andererseits. a) Der inter-individuelle Aspekt der Schuldvertragsfunktion (Mikroebene) Den unmittelbar Beteiligten dient der Schuldvertrag als Mittel zu ihrer wechselseitigen individuellen Bedürfnisbefriedigung. Fraglich und umstritten ist in diesem Zusammenhang, ob die Rechtsordnung den Beteiligten den Schuldvertrag als Instrument der privaten Rechtsetzung ohne Rücksicht auf den Inhalt des jeweiligen Vertrags – also gewissermaßen als Blankoinstrument – zur Verfügung stellt oder aber als Mittel zur Schaffung materiell gerechter Vertragsbeziehungen. Dient also der Schuldvertrag als (formales) Instrument zu inhaltlich beliebiger Selbstgesetzgebung oder als Mittel zur richtigen (gerechten) Gestaltung der wechselseitigen Beziehungen? Die letzte Auffassung würde insbesondere bedeuten, dass grundlegende sittliche, insbesondere in der Verfassung niedergelegte Prinzipien als Anforderungen materieller Vertragsgerechtigkeit bei der Vertragsgestaltung zu beachten wären. So verstanden, hätte der Vertrag eine „soziale Funktion“ im Sinne von „sozialer“, d. h. letztlich gerechter Regelung der inter-individuellen Lebensbeziehungen. Dieser Ansatz geht in die richtige Richtung. Sieht man nämlich in der Privatautonomie und damit auch in der Schuldvertragsfreiheit eine Ermächtigung zur inter-individuellen Rechtsetzung, so bedeutet dies eine Delegation von Normsetzungsmacht seitens des Gesetzgebers an die unmittelbar Betroffenen. Der Gesetzgeber ist aber an die verfassungsrechtlichen Grundsätze gebunden, für deren Beachtung er in allen Rechtsbereichen zu sorgen hat. Hieraus kann man schließen, dass sich auch die vom Gesetzgeber abgeleitete privatautonome Rechtsetzung an der Rechtsidee auszurichten hat. Die Rechtsetzungsdelegation kann m. E. jedenfalls seit Inkrafttreten des GG nicht anders verstanden werden, weil das verfassungsrechtliche Sozialstaatsprinzip den Gesetzgeber zur Schaffung sozial gerechter Lebensbeziehungen verpflichtet: Eine sozial 75
Rüthers, Allgemeiner Teil des BGB, 2. Aufl. 1978, Rn. 36.
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gerechte Gesellschaftsordnung erschöpft sich aber nicht in der Gewährleistung sozialer Sicherheit, sondern verlangt auch die „soziale“ Gestaltung des Wirtschaftsprozesses und der interindividuellen Rechtsbeziehungen. Deshalb kann der Staat durch Einräumung der Vertragsfreiheit das „Verkehrsrecht“ und damit einen bedeutenden Teilbereich der rechtlichen Ordnung nicht einfach den Anforderungen des Grundgesetzes entziehen. So darf der Gesetzgeber die Vertragsfreiheit nicht als Freibrief zu beliebiger Regelung, sondern nur im Sinne einer prinzipiell an die Rechtsidee gebundenen Freiheit ausgestalten. Die private Rechtsetzung durch Schuldverträge, die lex privata, kann der Staat deshalb nur anerkennen, d. h. seinen Rechtsstab zur zwangsweisen Durchsetzung zur Verfügung stellen, wenn der Schuldvertrag generell als Mittel zur Schaffung einer richtigen, d. h. gerechten und zweckmäßigen Ordnung geeignet erscheint. In der Tat führt der „auf Augenhöhe“ frei abgeschlossene Schuldvertrag unter bestimmten Voraussetzungen mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem angemessenen Ausgleich der Interessen der Vertragspartner und damit zu einem „richtigen“ Ergebnis. Diese Richtigkeitsgewähr oder besser Richtigkeitsvermutung (des Schuldvertrags) hat einen wesentlichen Grund in dem von Schmidt-Rimpler so genannten „Vertragsmechanismus“76. Damit ist folgendes gemeint: Die unmittelbar an einem Geschäft Beteiligten kennen die konkreten vertragsrelevanten Verhältnisse am besten und wissen normalerweise ihre jeweiligen Interessen in den Verhandlungen zu wahren. Jeder Verhandlungspartner wägt ab, ob die ihn belastenden vertraglichen Rechtsfolgen – im Verhältnis zu der ihm geschuldeten Gegenleistung – angemessen und tragbar erscheinen. Jeder Betroffene wird angesichts untragbarer nachteiliger Rechtsfolgen einen Vertragsschluss ablehnen. Die Verfolgung des egoistischen Interesses eines jeden Vertragspartners, keinen ihm nachteiligen Vertrag abzuschließen, verhindert das Zustandekommen „unrichtiger“ Verträge. Dies führt dazu, dass ein Vertrag typischerweise nur dann abgeschlossen wird, wenn keiner der Vertragspartner sich übervorteilt fühlt bzw. der Vertrag eine beiderseitige win win-Situation schafft. Ein funktionierender Vertragsmechanismus führt also in der Regel zu einem angemessenen Ausgleich der Partnerinteressen. Daher ist die staatliche Ermächtigung zur Selbstgestaltung im Sinne der Schuldvertragsfreiheit im Prinzip auch nach dem Maßstab der Rechtsidee gerechtfertigt. Der Gesetzgeber erfüllt seine Verpflichtung zur Gewährleistung der Vertragsrichtigkeit, wenn er den Vertragsmechanismus in geeigneter Weise organisiert. Vor allem Schmidt-Rimpler sah im Vertragsmechanismus die Funktion richtigen Interessenausgleichs durch die Wertung der Beteiligten gewährleistet.77 Dieser dezentralisierte Weg zur Schaffung richtigen Rechts ist aber nur vertretbar, wenn der Vertrag tatsächlich und nicht nur im theoretischen Modell regelmäßig zu richtigen Ergebnissen führt, was allerdings nicht bedeuten kann, dass der Staat jeden individuellen Vertrag daraufhin überprüft, ob er den Anforderungen der Rechtsidee genügt. Eine solche Einzelprüfung wäre praktisch undurchführbar und würde der Sache nach auf einen Widerruf der 76 Vgl. z. B. Schmidt-Rimpler, Zum Vertragsproblem, in: Funktionswandel der Privatrechtsinstitutionen. Festschrift für Ludwig Raiser zum 70. Geburtstag, 1974, S. 3 ff. 77 Schmidt-Rimpler (Fn. 62); vgl. auch Pleyer, Rev. int. dr. comp. 19 (1967) 386.
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Rechtsetzungsdelegation, d. h. auf die Aufhebung der Privatautonomie hinauslaufen. Der Staat kann und muss jedoch die Bedingungen schaffen, die typischerweise – das heißt für den Normalfall – erwarten lassen, dass der Vertragsschluss zu einem angemessenen Ausgleich der Interessen der Beteiligten führt. Unter dieser Voraussetzung darf der Staat auf die Überprüfung der Richtigkeit der lex privata der Parteien verzichten und seinen Zwangsapparat zu deren Durchsetzung zur Verfügung stellen. Die Frage ist, welche Richtigkeitsbedingungen der Gesetzgeber für den Abschluss und den Inhalt der Schuldverträge aufstellen muss. Siehe dazu unten IV. Die Diskussion um die Funktion des Schuldvertrags erstreckt sich auch auf dessen Schutzbereich. Der Schuldvertrag hat den Zweck, die vertraglich vereinbarten Leistungserwartungen der Partner zu schützen. Es bedeutet daher eine Überdehnung des Schutzbereichs des Schuldvertrags, wenn diesem Aufgaben zugeteilt werden, die nach der Systematik des Gesetzes von anderen Rechtsinstituten erfüllt werden sollen und können. Dies trifft insbesondere auf die sog. Schutzpflichten zu, die – zunächst von Rechtslehre und Rechtspraxis und sodann vom deutschen Gesetzgeber – jedem Vertragspartner hinsichtlich des gesamten Vermögens seines Kontrahenten ohne Rücksicht auf den Vertragszweck (Vertragsinhalt, Vertragserwartung) auferlegt werden. Für den Schutz des Integritätsinteresses sind jedoch – in Ermangelung einer besonderen vertraglichen Schutzvereinbarung oder vertragstypischen Schutzpflicht – die gesetzlichen Ausgleichsnormen, insbesondere die Deliktsvorschriften zuständig. Bestimmt man nämlich den Schutzzweck des – typischerweise gegenseitigen – Schuldvertrags durch dessen Austauschfunktion, so wird deutlich, dass das (allgemeine) Interesse an der Integrität der Rechtsgüter des Vertragspartners normalerweise vertraglich nicht geschützt ist, also außerhalb des vertraglichen Schutzzwecks liegt. Die Achtung fremder Rechtsgüter ist ein selbstverständlicher Inhalt des allgemein-menschlichen Grundverhältnisses78 und wird funktionell durch die Gemeinordnung (Deliktsordnung), nicht durch die vertragliche Sonderordnung gewährleistet. Person und Eigentum (i.w.S.) sind kraft Gesetzes absolut, d. h. gegenüber jedermann geschützt. Der Zweck und damit auch der Schutzbereich des typischen Austauschvertrages richten sich nicht auf das Integritätsinteresse, sondern ausschließlich auf das Leistungserfüllungsinteresse. Die Tatsache allein, dass (Personen-, Sach- oder Vermögens-)Schäden ohne bestimmte Vertragsbeziehungen nicht eingetreten wären, d. h. die bloße conditio sine qua non ist keine ausreichende Rechtfertigung für eine vertragliche Haftung. Ebenso wenig kann die unstreitige Mangelhaftigkeit des BGB-Deliktsrechts (insbes. §§ 823 Abs.1, 831 BGB) die von der herrschenden Lehre und Praxis entwickelte und jetzt vom Gesetzgeber kodifizierte Überdehnung der Schuldvertragssphäre rechtfertigen. Wahrer Grund für die Ausdehnung der Sonderbeziehungshaftung ist das mangelhafte Deliktsrecht. Dieses sollte nicht durch eine Extension der Vertragssphäre korrigiert, sondern selbst neu geordnet werden. Mit Vertragshaftung, Vertragsgerechtigkeit hat dieses extensive Vertragsver78 So z. B. Jäggi, in: Zürcher Kommentar, Bd. V 1a: Das Obligationenrecht, 3. Aufl., 1968, Art. 1 OR Vorbem. 29, 113, 115; vgl. auch Ramm, Einführung in das Privatrecht. Allgemeiner Teil des BGB, Bd. I, 1969, 1970, L 337/338 (zur Verkehrssicherungspflicht).
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ständnis – soweit nicht der Vertragszweck speziell auf „Schutz“ gerichtet ist – nichts zu tun. Nicht die Vertragserwartung, nicht das auf dem Vertrag beruhende „suum cuique“ ist der Grund für den Schutz Dritter, sondern das allgemeine Gebot des „neminem laedere“. Der Prüfstein für die herrschende Auffassung ist der Fall des Fehlens einer (gültigen) Vertragsgrundlage: Macht man mit der vertraglichen Natur der Schutzpflichten Ernst, so müssen diese mit dem – nicht rechtswirksam zustande gekommenen oder nachträglich rechtsunwirksam gewordenen – Vertrag entfallen. Es kann aber doch keinen Unterschied für die Haftung wegen eines angerichteten Integritätsschadens machen, ob der Schädiger oder/und der Verletzte bei Vertragsschluss geschäftsunfähig war(en), ob Dissens bestand, ob ein Partner den Vertrag wegen Irrtums angefochten hat oder zurückgetreten ist. Lässt man jedoch die „vertraglichen“ Schutzpflichten trotz Wegfalls der vertraglichen Haftungsgrundlage nicht entfallen, so kann das doch nur heißen, dass der Vertrag für die Verpflichtung zum Ersatz des Integritätsinteresses unerheblich ist. In Fällen der Verletzung von Rechtsgütern ohne jeden inneren Zusammenhang mit der Leistungserwartung liegt – entgegen der überkommenen herrschenden Meinung – keine Vertragsverletzung vor.79 So ist es konsequent – wenn auch rechtspolitisch falsch –, dass der Gesetzgeber diese angeblich vertraglichen Schutzpflichten in § 241 Abs. 2 und 3 BGB kodifiziert, d. h. zu gesetzlichen Pflichten erklärt hat. b) Der überindividuelle Aspekt der Schuldvertragsfunktion (Makroebene) Rechtspolitisch gesehen bedeutet die Zulassung des Rechtsgeschäfts, insbesondere des Schuldvertrags, die Übertragung von (Selbst-)Regelungsbefugnissen an die unmittelbar betroffenen Rechtsgenossen. Diese autonome Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen macht aus dem Schuldvertrag (Austauschvertrag) aber zugleich ein dezentralisiertes Instrument der Rechtsetzung im Ganzen der Sozialordnung. Die autonome Gestaltung sozialer Beziehungen gibt dem Schuldvertrag „soziale Bedeutung“ und teilt ihm die Aufgabe zu, einen nicht unwichtigen Teilbereich des Gesamtrechtssystems zu ordnen. Indem der Schuldvertrag einen Beitrag zur Ordnung der Sozialbeziehungen leistet und insoweit eine Funktion im Gesamtsystem einer Gesellschaft erfüllt, ist er „systemfunktional“.80 Diese Selbstgesetzgebungsbefugnis beschränkt sich allerdings im Wesentlichen auf den Güter-und Leistungsverkehr („Vermögensverkehrsrecht“), der zur Hauptsache der (Schuld-)Vertragsordnung entspricht. Die Funktion des Schuldvertrags als Regelinstrument der Privatautonomie auf dem Gebiet des Vermögensverkehrsrechts besteht originär in der recht79
Vgl. auch Michaelis, Beiträge zur Gliederung und Weiterbildung des Schadensrechts, 1943; Sonderausgabe aus der Festschrift der Leipziger Juristenfakultät für Siber) z. B. S. 168 (Beschränkung der Vertragshaftung auf Erfüllungsschäden). 80 In der Sache übereinstimmend z. B. Reinhardt, in: Festschrift zum 70. Geburtstag von Schmidt-Rimpler, 1957, S. 115 (124 f.): Der Institution des Vertrages komme gesamtwirtschaftliche Bedeutung zu.
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lichen Ordnung (Planung) des Leistungsverkehrs. Er ist das rechtliche Instrument zur Regelung des vermögensrechtlichen Verkehrs unter Lebenden.81 Sieht man auf den Regelfall des Schuldvertrags, den Austauschvertrag, der alle für die Wirtschaft wesentlichen Wertbewegungen (Dienstleistung, Güter, Geld) rechtlich ordnet,82 so kann man die Funktion des Schuldvertrags auch folgendermaßen beschreiben: Der Schuldvertrag ist das von der Rechtsordnung anerkannte Instrument der unmittelbar Beteiligten zur autonomen Ordnung des Güter- und Leistungsaustauschs.83 In einem wettbewerbsgesteuerten Wirtschaftssystem organisiert der (gegenseitige) Schuldvertrag rechtsförmlich die Verteilung von Gütern und die Erbringung von Leistungen. Die wirtschaftlichen Beziehungen der Marktpartner finden ihre Rechtsform im Austauschvertrag. Ein dezentralisierter, d. h. auf Privatinitiative beruhender Wirtschaftsprozess ist ohne – prinzipiell frei ausgehandelte – Verträge als Mittel zur rechtlichen Durchsetzung der ökonomischen Entscheidungen nicht denkbar. Ohne Schuldvertragsfreiheit kann der Anbieter seine wettbewerblichen Mittel (Aktionsparameter) wie Preis, Konditionen und Service nicht einsetzen; ebenso wenig ist es dem Nachfrager möglich, das günstigste Angebot zu realisieren. Damit ist der Schuldvertrag (Austauschvertrag) ein unentbehrliches Instrument jeder auf Wettbewerb beruhenden Wirtschaftsordnung. Schuldvertrag und Wettbewerb bedingen sich gegenseitig.
IV. Funktionsvoraussetzungen Es ist Aufgabe der rechtlichen Wirtschaftsverfassung, die Voraussetzungen für die Verwirklichung der Schuldvertragsgerechtigkeit zu gewährleisten.84 Diese Voraussetzungen liegen auf zwei Ebenen: Grundbedingung ist ein (wenigstens annäherndes) Machtgleichgewicht (equal bargaining power) zwischen den Vertragspartnern (unten 1.). Darüber hinaus darf der individuelle Vertrag selbst nicht an Mängeln – etwa einen Irrtum – leiden (unten 2.). 1. Grundbedingung: Die Abschlussparität Der Vertragsmechanismus kann nur funktionieren, wenn die Kontrahenten nicht nur vor dem Gesetz, sondern auch in der sozialen Wirklichkeit in etwa gleich (mäch81
Vgl. Schmidt-Rimpler (Fn. 62), Vertrag als ein Mittel der Wirtschaftsgestaltung durch Selbstbestimmung. 82 Zweigert, „Rechtsgeschäft“ und „Vertrag“ heute, in: Jus privatum gentium. Festschrift für Max Rheinstein zum 70. Geburtstag, 1969, Bd. II, S. 493 (501). 83 So z. B. Wieacker (Fn. 1). 84 Vgl. Raiser (Fn. 62), S. 131. Jeder Vertrag sei als wirtschaftlicher Vorgang eingebettet in den volkswirtschaftlichen Gesamtzusammenhang, sein Inhalt sei das Ergebnis der in der Volkswirtschaft bestimmten Kräfte und Gesetzmäßigkeiten. Diese Kräfte müssten in der Wirtschaftsverfassung gebändigt werden.
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tig) sind, also Abschlussparität besitzen. Bei (wirtschaftlicher, sozialer, psychischer, intellektueller, informationeller etc.) Übermacht eines Verhandlungspartners versagt der Vertragsmechanismus und damit auch der Schuldvertrag als Instrument zur Erzielung eines angemessenen Interessenausgleichs. Der unterlegene Partner vermag seine Interessen nicht hinreichend wahrzunehmen. Gleichzeitig versagt auch das marktwirtschaftliche Lenkungssystem, das autonome Entscheidungen über Betriebs- und Konsumpläne voraussetzt. Das Ordnungsmodell des Vertragsrechts setzt somit nicht nur formelle Gleichheit der Partner, d. h. deren Gleichheit vor dem Gesetz (Rechtsgleichheit), sondern im Prinzip auch materielle Gleichheit (Machtgleichheit) voraus. Dies bedeutet, dass die Vertragspartner die reale Möglichkeit zur angemessenen Wahrnehmung ihrer eigenen Interessen haben müssen. In diesem Sinne ist die Abschlussparität eine (ungeschriebene) Grundvoraussetzung für das Funktionieren des Schuldvertrags als Instrument des vermögensrechtlichen Verkehrs. Nur wo diese Grundvoraussetzung gegeben ist, kann der Vertragsmechanismus in dem beschriebenen Sinne „funktionieren“. Nun ist evident, dass diese vom Gesetzgeber des BGB stillschweigend als selbstverständlich vorausgesetzte Grundvoraussetzung der Abschlussparität vielfach nicht erfüllt ist. In manchen Bereichen (z. B. Individualarbeitsvertrag) war sie niemals in vollem Umfang gegeben. Deshalb bemühte sich der Gesetzgeber mehr und mehr um Abhilfe: zum einen durch Maßnahmen zur Herstellung der Abschlussparität und zum anderen – wo dies nicht oder in ausreichendem Maße gelingt – durch Einschränkungen der Vertragsfreiheit. a) Förderung der Abschlussparität aa) Wettbewerbsrecht Im Wettbewerbsrecht hat der Gesetzgeber – nach ersten schwachen Ansätzen in der Weimarer Zeit – mit dem Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen von 1957 einen energischen Versuch unternommen, um einen funktionsfähigen Wettbewerb (Markt) zu gewährleisten, d. h. private Wettbewerbsbeschränkungen zu verhindern oder doch – wo dies nicht möglich ist – mit Hilfe der staatlichen Missbrauchsaufsicht zu kontrollieren und einzudämmen. Demselben Ziel dient auf der Ebene der Europäischen Union die am 1. 5. 2004 in Kraft getretene Verordnung (EG) des Rates Nr. 1/ 2003 v. 16. 12. 2002 zur Durchführung der in den Artikeln 81 und 82 des Vertrags niedergelegten Wettbewerbsregeln. Der Wettbewerb soll verstärkt, die Konzentration wirtschaftlicher Macht, insbesondere die Monopolisierung von Märkten verhindert werden. Wettbewerb ist ein rechtspolitisches „Entmachtungsinstrument“ (Böhm). Dass eine Konkurrenzsituation auf der einen Marktseite die Stellung der Marktgegenseite ganz konkret verbessert, zeigt sich etwa darin, dass Allgemeine Geschäftsbedingungen (AGB) aus Wettbewerbsgründen zugunsten der Vertragsgegenseite geändert werden. Ein wichtiges Beispiel bietet die Einführung der Langzeitgarantie im Automobilhandel.
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Das sog. Lauterkeitsrecht, insbesondere das seit seinem Inkrafttreten im Jahre 1896 vielfach – auch zur Umsetzung von EU-Recht85 – geänderte Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG) bezweckt den Schutz der Verbraucher vor unsachlicher Beeinflussung und fördert damit die Abschlussparität. So verbietet z. B. § 4 Nr. 1 UWG allgemein eine unzulässige Beeinflussung durch geschäftliche Handlungen, „die geeignet sind, die Entscheidungsfreiheit der Verbraucher oder sonstiger Marktteilnehmer durch Ausübung von Druck, in menschenverachtender Weise oder durch sonstigen unangemessenen unsachlichen Einfluss zu beeinträchtigen“. Darüber hinaus wurden auch besondere Gesetze zum Schutz der Verbraucher vor unlauterer Beeinflussung erlassen, so z. B das Gesetz zur Bekämpfung unerlaubter Telefonwerbung und zur Verbesserung des Verbraucherschutzes bei besonderen Vertriebsformen v. 29. 7. 2009. Über das Lauterkeitsrecht hinaus hat der Gesetzgeber auch Verbraucherschutzvorschriften im BGB (z. B. Stärkung des Widerrufsrechts bei besonderen Vertriebsformen) und im Telekommunikationsgesetz erlassen. bb) Markttransparenz Die paritätische Stellung des Verbrauchers wird auch durch eine gesetzliche Gewährleistung der Markttransparenz gestärkt. So müssen z. B. die Preise für Waren und Dienstleistungen ausgezeichnet und die Materialzusammensetzung bei Textilien angegeben werden. Die Fertigpackungsverordnung vom 18. 12. 1981 will den Vergleich von Mengen und Preisen bei unterschiedlichen Fertigverpackungen erleichtern und damit vor Mogelpackungen schützen. Hierher gehören auch die im Laufe der Zeit immer detaillierter gefassten Verbraucherschutzbestimmungen, die schon im Abzahlungsgesetz von 1894, dann im Verbraucherkreditgesetz (1991) und seit dem 1. 1. 2002 in §§ 488 ff. BGB geregelt wurden; ferner die Verhaltens-, Organisations- und Transparenzpflichten in Finanzregulierungsgesetzen, z. B. im Gesetz über den Wertpapierhandel i. d. F. vom 9.9.1998 und im Gesetz über Vermögensanlagen vom 6.12.2011. Der kollektive Verbraucherschutz ist auch eine wichtige Aufgabe der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin). Eine wesentliche Funktion kommt ferner der vergleichenden Qualitätsprüfung von Waren und Dienstleistungen durch unabhängige Test-Institute zu. Endlich verpflichtet der Gesetzgeber bestimmte Berufe, z. B. Makler, Bauträger und Baubetreuer, dem Auftraggeber die für die Beurteilung des Auftrages und des zu vermittelnden oder nachzuweisenden Vertrages jeweils notwendigen Informationen schriftlich oder mündlich zu geben (§ 34c III Nr. 5 GewO)86.
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s. insbesondere Richtlinie 2005/29/EG über unlautere Geschäftspraktiken. Vgl. dazu die (Ausführungs-)Verordnung über die Pflichten der Makler, Darlehensvermittler, Bauträger und Baubetreuer (Makler- und Bauträgerverordnung – MaBV) v. 20. 6. 1974. 86
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cc) Kollektive Zusammenschlüsse Wichtig für die Abschlussparität ist auch die in Art. 9 GG gewährleistete Vereinigungs- bzw. Koalitionsfreiheit. Der Zusammenschluss von Personen mit vergleichbarer Interessenlage kann die Position des Einzelnen beim Vertragsschluss erheblich verbessern, d. h. die Abschlussparität gewährleisten. Dies gilt vor allem für den Zusammenschluss von Arbeitnehmern und Arbeitgebern zu sog. Koalitionen. Die Gewerkschaften haben in Deutschland seit weit mehr als 100 Jahren die Macht des Zusammenschlusses beim Abschluss von Tarifverträgen genutzt. Die Vereinigungsfreiheit schafft hier die Voraussetzungen für das Funktionieren der Vertragsfreiheit auf dem Arbeitsmarkt. Der Zusammenschluss fördert die kollektive Abschlussparität und schafft damit die Voraussetzung für das Funktionieren des Vertragsmechanismus. Demgegenüber kann der Individualarbeitsvertrag mit Rücksicht auf die typische Machtungleichheit zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer diese Voraussetzung nicht erfüllen.87 An die Stelle der individuellen Vertragsfreiheit tritt die von Art. 9 Abs. 3 Satz 3 GG gewährleistete kollektive Vertragsfreiheit,88 die Tarifautonomie. Sie ist dem marktwirtschaftlichen System konform. Kollektivvereinbarungen können staatliche Lohndiktate oder zwingende Schutzgesetze überflüssig machen. Diese machtausgleichende Funktion der Tarifautonomie wird besonders deutlich beim tarifdispositiven Gesetzesrecht, das zwar durch einen Tarifvertrag, aber nicht durch einen Einzelarbeitsvertrag abänderbar ist (z. B. § 13 Abs. 1 BUrlG). Die Abschlussparität zwischen den Tarifpartnern setzt allerdings voraus, dass die Spielregeln eingehalten werden und insbesondere keine der Parteien des Arbeitskampfes wehrlos gemacht wird, etwa durch Verbote des Streiks oder der Abwehraussperrung. Wichtig in unserem Zusammenhang ist auch die von der Rechtsprechung anerkannte negative Koalitionsfreiheit89 für Arbeitnehmer und Arbeitgeber, d. h. das Recht jedes Arbeitnehmers bzw. Arbeitgebers, Gewerkschaften bzw. Arbeitgeberverbänden fernzubleiben. Das System der closed shops, das Arbeitgeber tarifvertraglich verpflichtet, nur organisierte Arbeitnehmer einzustellen, würde die Partnerwahlfreiheit für Arbeitgeber aber auch für Arbeitnehmer erheblich beeinträchtigen. Dieses sog. Gegengewichtsmodell des Arbeitsrechts lässt sich auf andere Lebensbereiche nicht generell (vgl. aber ADSp, VOB) übertragen, weil manche Marktseiten nur schwer organisatorisch zusammenzufassen sind. dd) Rechtsinformation Mit Maßnahmen zur Erhöhung der Markttransparenz und mit der verfassungsrechtlichen Gewährleistung der Tarifautonomie hat der Gesetzgeber die Abschlussparität gestärkt. Hingegen hat der Staat bisher – sieht man von gesetzlichen Informationspflichten ab – nur verhältnismäßig wenig getan, um die intellektuelle Unterle87
Vgl. z. B Rüthers, Arbeitsrecht und politisches System BRD: DDR, 1972, S. 21. Vgl. z. B. Rüthers (Fn. 87) S. 22. 89 Vgl. z. B. schon BVerfGE 4, 96. 88
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genheit in Form der Rechtsunkenntnis zu beseitigen oder doch zu verringern. Hier könnte und sollte durch Rechtsunterricht in allen Schulen und durch Informationen über wichtige Rechtsfragen des täglichen Lebens in den (insbesondere öffentlichrechtlichen) Massenmedien der weitverbreiteten Rechtsunkenntnis entgegengewirkt und damit die Abschlussparität gefördert werden. b) Beschränkung der Vertragsfreiheit In typisch ungleichen Marktlagen, wo die Abschlussparität nicht hergestellt werden kann, schränken der Gesetzgeber und/oder die Rechtsprechung die Abschlussund/oder Inhaltsfreiheit ein. Zwingendes Recht oder administrative Kontrolle sollen anstelle der nicht bestehenden und auch nicht herzustellenden paritätischen Vertragsfreiheit einen angemessenen Interessenausgleich verbürgen. aa) Beschränkung der Abschlussfreiheit Zum Schutz bestimmter Gruppen bzw. elementarer Lebensbedürfnisse oder Rechtsgüter aller Verbraucher hebt der Gesetzgeber in manchen Fällen die Abschlussfreiheit durch Abschlussverbote oder Abschlussgebote auf. Die Abschlussfreiheit ist beispielsweise durch das Verbot des Abschlusses von Arbeitsverträgen mit Kindern beseitigt (§ 5 JArbSchG). Abschlussgebote hat schon das Reichsgericht aus § 826 BGB dann abgeleitet, wenn die Verweigerung des Vertragsabschlusses den Anderen sittenwidrig schädigen würde. Dies wurde besonders bei Monopolbetrieben angenommen, die existenznotwendige Leistungen angeboten haben.90 Für bestimmte Monopolunternehmen und Unternehmen, die lebensnotwendige Leistungen der sog. Daseinsvorsorge anbieten, hat der Gesetzgeber den Kontrahierungszwang eingeführt: so z. B. für die Bahn und andere Verkehrsbetriebe, ferner für die Deutsche Post AG sowie Energieversorgungsunternehmen. Aber auch Pressegrossisten, Sparkassen, Gesetzliche Krankenversicherer, Kfz-Haftpflichtversicherer und Apotheken unterliegen kraft Gesetzes dem Kontrahierungszwang. Hierher gehören auch die kartellrechtlichen Bestimmungen, die eine unbillige Behinderung oder sachlich nicht begründete Ungleichbehandlung (Diskriminierung) durch marktmächtige Unternehmen oder Vereinigungen verbieten (§§ 19, 20 GWB) und damit zu einem Abschlusszwang führen. Dieser beinhaltet im Übrigen notwendigerweise auch die Pflicht, zu angemessenen (und gleichen) Bedingungen abzuschließen, weil sonst der Kontrahierungszwang durch unbillige Konditionen unterlaufen werden könnte. bb) Beschränkung der Inhaltsfreiheit Besonders zahlreich und einschneidend sind die Korrekturen des Vertragsmechanismus durch Beschränkung der Vertragsinhaltsfreiheit. Dabei ist bemerkenswert, 90
Vgl. z. B. RGZ 143, 24 (28 f.).
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dass das gesetzgeberische Eingreifen derzeit weniger die Preisgestaltung (Preisbindung) als die sonstigen Vertragskonditionen betrifft. So hat z. B. das Abzahlungsgesetz bereits 1894 sog. Verwirkungsklauseln verboten, d. h. Klauseln, wonach der Verkäufer bei Nichtentrichtung auch nur einer Rate durch den Käufer die Kaufsache zurückfordern darf, ohne die bereits erhaltenen Raten erstatten zu müssen. Andere Beispiele für die Beschränkung der Inhaltsfreiheit zwecks Herstellung der Vertragsparität einer unterlegenen Vertragspartei bietet die Arbeitsschutzgesetzgebung (z. B. hinsichtlich der Arbeitszeit). Aus einer typischen Situation des Ungleichgewichts ist auch der Mieterschutz erwachsen. Die nach dem Ersten Weltkrieg entstandene Wohnungsnot führte zu einem Nachfrageüberhang auf dem Wohnungsmarkt und nahm den Mietern die Abschlussparität. Der Gesetzgeber sah sich seither – und z. T. bis heute – gezwungen, mit Wohnraumbewirtschaftung, Kündigungsschutz, Mietpreisbindung und einer Fülle von inhaltlichen Klauselverboten einzugreifen, um Mieter vor unangemessener Vertragsgestaltung zu schützen. Eine besondere Rolle spielen in unserem Zusammenhang seit jeher die Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB). Sie sind eine Folge der modernen arbeitsteiligen, von Massenproduktion und Massenkonsum geprägten Wirtschaftsordnung, die das mittelständisch geprägte Sozialmodell des BGB (Handwerk, Kleingewerbe, Landwirtschaft) abgelöst hat. Die AGB beherrschen heute anstelle des dispositiven ergänzenden Gesetzesrechts weite Teile des Wirtschaftslebens, z. B. Versicherungen, Verkehr, Banken, Kauf von Kraftfahrzeugen und Möbeln. Von einem Aushandeln des Vertragsinhalts kann bei der Verwendung von AGB nicht mehr die Rede sein. Die inhaltliche Gestaltungsfreiheit besteht nur noch für denjenigen, der die AGB aufstellt. Hinzu kommt, dass der AGBVerwender jedenfalls gegenüber Verbrauchern auch der wirtschaftlich überlegene Partner ist, der seine Marktmacht nutzen kann, um sich unangemessene Vorteile zu verschaffen. Besonders gefährlich ist dies in jenen Branchen, in denen praktisch alle Anbieter mehr oder weniger inhaltsgleiche AGB verwenden, so dass jeder Versuch, einen Vertrag ohne oder mit modifizierten AGB abzuschließen, von vornherein zum Scheitern verurteilt ist. In manchen Geschäftsbereichen wurde deshalb schon früh eine Genehmigungspflicht für AGB eingeführt, z. T. auch kombiniert mit relativ zwingendem Recht, das nur zugunsten einer Partei wirkt. Es handelt sich hierbei insbesondere um die Wirtschaftsbereiche der Versicherungen, Bausparkassen und Kapitalanlagegesellschaften. In anderen Branchen wurden AGB – vor allem während der NS-Zeit – von Staats wegen kontrolliert und für allgemeinverbindlich erklärt. Außerhalb dieser besonderen Wirtschaftssektoren blieb der Schutz gegenüber unbilligen Klauseln in AGB zunächst den Gerichten überlassen. Diese stellten – anfänglich auf der Grundlage der Sittenwidrigkeitsklausel (§ 138 BGB) – im Laufe der Zeit immer strengere Anforderungen an die Einbeziehung und den Inhalt von AGB. Mit dem Gesetz zur Regelung des Rechts der Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB-Gesetz) v. 9. 12. 1976 hat dann der Gesetzgeber versucht, für alle Geschäftsbereiche die Funktionsfähigkeit des Schuldvertrags durch einen abgestuften Katalog von Klauselverboten und die Einführung der Verbandsklage auf generelle Unterlassung der Verwendung unzulässiger AGB zu gewährleisten. Die Regeln des AGB-Gesetz wurden weitgehend in das europäische Gemeinschaftsrecht übernommen (EG-
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Richtlinie 93/13) und dann umgehungsfest (§ 306a BGB) wieder in das deutsche Recht (§§ 305 ff. BGB) umgesetzt. Danach sind strenge Voraussetzungen für die Einbeziehung von AGB in Verträge vorgesehen (§§ 305, 305a BGB). Überraschende Klauseln werden nicht Vertragsbestandteil (§ 305c Abs. 1 BGB) und mehrdeutige Klauseln gehen zulasten des Verwenders (§ 305 Abs. 2 BGB). An die Stelle der Bestimmungen, die nicht Vertragsbestandteil geworden oder unwirksam sind, treten die dispositiven gesetzlichen Vorschriften (§ 306 Abs. 2 BGB). Neben zwei Klauselverbotskatalogen mit bzw. ohne Wertungsspielraum (§ 308 bzw. 309 BGB) sieht § 307 BGB eine Generalklausel für die Inhaltskontrolle vor. Danach sind Bestimmungen in AGB „unwirksam, wenn sie den Vertragspartner des Verwenders entgegen den Geboten von Treu und Glauben unangemessen benachteiligen.“ (§ 307 Abs. 1 BGB). Nach § 307 Abs. 2 BGB spricht eine Vermutung für das Vorliegen einer unangemessenen Benachteiligung, „wenn eine Bestimmung 1. mit wesentlichen Grundgedanken der gesetzlichen Regelung, von der abgewichen wird, nicht zu vereinbaren ist oder 2. wesentliche Rechte oder Pflichten, die sich aus der Natur des Vertrags ergeben, so einschränkt, dass die Erreichung des Vertragszwecks gefährdet ist.“ Mit dieser Generalklausel versucht der Gesetzgeber die in den Fällen der Verwendung von AGB generell gefährdete bzw. verletzte Parität zwischen den Vertragsparteien wieder herzustellen, wenn und soweit der Verwender von AGB die Privatautonomie bzw. Schuldvertragsfreiheit zulasten seiner Vertragspartner missbraucht. cc) Beschränkung der Formfreiheit Rechtsgeschäfte sind im Interesse der Erleichterung des Rechtsverkehrs in der Regel formlos gültig. Jedoch gibt es eine Reihe von Ausnahmen (numerus clausus), in denen der Gesetzgeber die Vertragsformfreiheit durch Einführung eines Formzwangs aufgehoben hat. Gesetzliche Formerfordernisse erfüllen verschiedene Funktionen: Gültigkeits- und Beweisfunktionen und – seltener – Kontrollfunktionen. Zumeist sollen sie aber auch dafür sorgen, dass Schuldverträge tatsächlich einen angemessenen Interessenausgleich gewährleisten. Deshalb verlangt das Gesetz für besonders schwerwiegende Geschäfte die notarielle Beurkundung, um die Beteiligten vor unüberlegten, übereilten mündlichen Abschlüssen zu bewahren und ihnen sachkundigen und unabhängigen Rat hinsichtlich Inhalt und Rechtsfolgen des Geschäfts zu sichern. Diese Beratungsfunktion dient der Herstellung der Vertragsparität, hat der Notar doch auch darauf zu achten, dass unerfahrene Beteiligte nicht benachteiligt werden. Insoweit kann man von einer Präventivfunktion der Formvorschriften sprechen. Bei den beurkundungspflichtigen Rechtsgeschäften handelt es sich entweder um einseitige Verpflichtungen (Schenkungsversprechen: § 518 Abs. 1 Satz 1 BGB oder um wirtschaftlich besonders schwerwiegende Verträge (z. B. Grundstückskauf: § 311b Abs. 1 BGB; Ehevertrag: § 1410 BGB; Erb- und Erbverzichtsvertrag: § 2276 bzw. § 2348 BGB). Der Formzwang kann indessen nicht nur zum Schutz privater Interessen, sondern auch zur Überwachung von Vertragsschlüssen im Gemein-
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schaftsinteresse eingeführt sein. Die Rechtsgemeinschaft hat ja ein Interesse daran, dass Schuldverträge nicht gegen gemeinschaftswichtige Belange verstoßen. So kann etwa der notarielle Beurkundungszwang für Grundstücksverkehrsgeschäfte auch dazu dienen, die Überwachung des Grundstücksverkehrs im ländlichen Raum aus Gründen der Agrar- und Raumordnung zu ermöglichen. c) Zusammenfassung Bei zahlreichen typischen Sachverhalten fehlt die Abschlussparität. Darauf haben der Gesetzgeber und die Rechtsprechung durch Beschränkung der Vertragsfreiheit in ihren Erscheinungsformen der Abschluss-, Inhalts- und Formfreiheit reagiert: Unter bestimmten Voraussetzungen erzwingt oder verbietet der Gesetzgeber den Vertragsschluss. Der Vertragsinhalt wird – insbesondere bei der Verwendung von AGB – durch zwingende Schutzvorschriften gegebenenfalls korrigiert oder vereinzelt auch durch Genehmigungserfordernisse kontrolliert. Die Generalklauseln der §§ 138, 242 und 307 BGB verhindern den Missbrauch der Selbstgesetzgebungsermächtigung. Und endlich macht der Gesetzgeber in manchen Fällen die Vertragsgültigkeit zum Schutz vor übereilten Abschlüssen auch von der Einhaltung bestimmter Formen abhängig. 2. Sonstige Voraussetzungen für die Richtigkeit des Schuldvertrags Die Freiheit des Vertragsschlusses kann auch durch andere Umstände als eine fehlende Vertragsparität gefährdet werden. Der BGB-Gesetzgeber hat deshalb eine Reihe von weiteren positiven und negativen Voraussetzungen aufgestellt, die gewährleisten sollen, dass der Vertragsschluss grundsätzlich dem verantwortlich und frei gebildeten Willen beider Vertragspartner entspricht, so dass der abgeschlossene Vertrag beiden Kontrahenten in vollem Umfang als ihre lex privata zugerechnet werden kann. Nur wenn alle „Anerkennungsbedingungen“ („Tests“) des Gesetzes, d. h. alle Funktionsvoraussetzungen erfüllt sind, kann die Rechtsordnung den Schuldvertrag als verbindliches Ordnungsinstrument anerkennen und erforderlichenfalls zwangsweise durchsetzen. So gesehen handelt es sich bei den Vorschriften des BGB über Rechtsgeschäfte (§§ 104 – 185) um Rechtsbedingungen der Anerkennung für Schuldverträge. a) Geschäftsfähigkeit (§§ 104 ff. BGB) Die Regeln über die Geschäftsfähigkeit als Wirksamkeitsvoraussetzung für Schuldverträge sollen gewährleisten, dass nur solche Personen am Austauschverkehr teilnehmen, die in der Lage sind, die rechtliche Bedeutung ihrer Willenserklärungen einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln (vgl. § 2229 BGB betreffend Testierfähigkeit). Personengruppen, bei denen diese intellektuelle Fähigkeit zur Wahrneh-
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mung ihrer Eigeninteressen typischerweise nicht vorhanden ist, schließt das Gesetz von der selbständigen Teilnahme am rechtsgeschäftlichen Verkehr aus, indem die Willenserklärungen für nichtig erklärt werden (§ 105 Abs. 1 BGB), so dass ein gesetzlicher Vertreter für sie handeln muss. Eine Ausnahme sieht § 105a BGB nur für geringwertige, beiderseits sofort erfüllte Geschäfte des täglichen Lebens vor. Beschränkt Geschäftsfähige sind nur hinsichtlich rechtlich nachteiliger Geschäfte einer Kontrolle in Gestalt des Zustimmungserfordernisses des gesetzlichen Vertreters unterworfen (§ 107 BGB). b) Mangelfreie Willenserklärung der Vertragschließenden (§§ 119 ff. BGB) Die Rechtsordnung kann einen Schuldvertrag ferner nur anerkennen, wenn die für den Vertragsschluss konstitutiven Erklärungen frei von Willensmängeln sind, also der innere Erklärungswille und die objektive Erklärung selbst sich grundsätzlich decken. Ein totaler Schutz des inneren Willens würde jedoch die Interessen des Vertragspartners in unangemessener Weise außer Acht lassen. Deshalb schränkt das Vertrauensprinzip insoweit das Selbstbestimmungsprinzip ein. So sind nach der Regelung des BGB nur bestimmte Willensmängel rechtlich erheblich, und ein infolge eines Mangels (Irrtums) in der Willenserklärung (Erklärungsirrtum, Inhaltsirrtum) fehlerhaft geschlossener Schuldvertrag ist auch nicht ex lege unwirksam. Vielmehr überlässt es das BGB dem Vertragspartner, dem der Irrtum unterlaufen ist, ob er an dem Vertrag festhalten oder aber den Vertrag mit Rücksicht auf einen Fehler bei der „Umsetzung“ seines Willens, d. h. wegen Erklärungsirrtums anfechten will (§§ 119, 122 BGB). In gleicher Weise kann ein Vertragspartner aufgrund eines (Inhalts-)Irrtums seine Erklärung anfechten, wenn seine subjektive Vorstellung von der Bedeutung seiner Erklärung von deren objektiven Erklärungswert abweicht (Inhaltsirrtum). c) Mangelfreie Willensbildung der Vertragschließenden (§§ 116 ff. BGB) Wie bereits angedeutet, hat das BGB Mängel in der Willensbildung aus Gründen des Vertrauensschutzes für den Gegner nur in ganz gravierenden Fällen für rechtlich beachtlich erklärt, nämlich im Falle des Irrtums über eine verkehrswesentliche Eigenschaft (§ 119 Abs. 2 BGB), ferner dort, wo die Willensbildung durch unlautere Mittel beeinflusst wurde, nämlich durch arglistige Täuschung oder rechtswidrige Drohung (§ 123 BGB). Alle anderen Mängel in der Willensbildung erklärt das Gesetz im Interesse des Schutzes des Vertragsgegners, dem diese inneren Mängel ja nicht bekannt sein können, für rechtlich unerheblich.
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d) Mangelfreie Konsensbildung Wesentliche Voraussetzung für die Anerkennung eines Schuldvertrags als privatautonome Ordnung ist der Konsens der Beteiligten über die von ihnen beabsichtigte Transaktion. Nur eine einverständliche Geltungsanordnung hat rechtlich bindende Kraft für beide Parteien. Eine Reihe von Vertragsschlussregeln hat die Funktion, diese Willensübereinstimmung zu gewährleisten. Die spröden Vorschriften über das Wirksamwerden (§§ 130 ff. BGB) bzw. den Inhalt einer Willenserklärung (§ 133 BGB), über die Bindung an einen Vertragsantrag (§§ 145 f. BGB) und Annahmefristen (§§ 147 ff. BGB) sowie Dissens (§§ 154 f. BGB) sollen dafür sorgen, dass das Verhandlungsergebnis tatsächlich dem übereinstimmenden Willen aller Vertragsparteien entspricht. Sind die vom Gesetz aufgestellten Voraussetzungen für den Konsens nicht erfüllt, kommt es also – objektiv gesehen – nicht zu einem meeting of the minds, dann scheitert der Vertragsschluss. Eine zwingende Anerkennungsbedingung ist nicht erfüllt. e) Inhaltliche Zulässigkeit (Gemeinverträglichkeit) Während die bisher angeführten Anerkennungsvoraussetzungen im Individualinteresse der beteiligten Vertragspartner aufgestellt sind, sollen die §§ 134 und 138 BGB die Gemeinschaftsinteressen schützen. Die mit der Vertragsfreiheit eingeräumte Rechtsetzungsbefugnis besteht nur in den Schranken der Gemeinverträglichkeit. Der Gesetzgeber zieht damit der inhaltlichen Gestaltungsfreiheit der Parteien Grenzen. Zum einen geschieht dies dadurch, dass Rechtsgeschäfte, die gegen ein bestimmtes gesetzliches Verbot verstoßen, grundsätzlich für nichtig erklärt werden (§ 134 BGB). Zum anderen findet die privatautonome Gestaltungsmacht der Vertragspartner eine inhaltliche Schranke an den „guten Sitten“ (§ 138 BGB). Diese Vorschrift dient als Auffang-Generalklausel für gesetzlich nicht besonders geregelte Fälle des Missbrauchs der Privatautonomie, insbesondere der Schuldvertragsfreiheit. Mit dem Begriff der „guten Sitten“ verweist § 138 BGB auf außerrechtliche Maßstäbe, insbesondere auf die herrschende Sozialmoral. Da diese sich im Laufe der Zeit ändern kann, bedeutet diese Verweisung praktisch, dass § 138 BGB als Schranke der Rechtsetzungsbefugnis der Parteien einen wandelbaren Normgehalt hat. Indem der Richter den Begriff der Sittenwidrigkeit ausfüllt, interpretiert und implementiert er die jeweils herrschende Sozialmoral. Insofern hat der Richter die Funktion, die Schranken der Selbstbestimmung nach den jeweiligen gemeinsamen Wertüberzeugungen der Rechtsgemeinschaft zu bestimmen. Auf diese Weise wird die Rechtsprechung zum Interpret und Vollstrecker der gesellschaftlich und politisch herrschenden Ordnungs- und Wertvorstellungen.91
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Vgl. z. B. Emde, Philosophie der Rechtswissenschaft, 1961, S. 339.
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f) Sanktionen bei Fehlen sonstiger Richtigkeitsvoraussetzungen Das Fehlen einer positiven Richtigkeitsvoraussetzung (z. B. der Geschäftsfähigkeit) oder das Vorhandensein eines Abschlussmangels (z. B. relevanter Irrtum) machen den Schuldvertrag fehlerhaft. Es liegt eine rechtserhebliche Abschlussstörung vor. Das Gesetz reagiert jedoch auf Abschlussstörungen nicht unterschiedslos in gleicher Weise, etwa durch die Nichtanerkennung, sondern sieht – je nach Art und Gewicht der Abschlussstörung – abgestufte Sanktionen (Rechtsfolgen) vor. Die Nichtigkeit ordnet das Gesetz nur bei schwerwiegenden Abschlussstörungen an: nämlich bei Schuldverträgen mit gemeinschaftswidrigem Inhalt (§§ 134, 138 BGB), bei Verstößen gegen zwingende gesetzliche Formvorschriften (§ 125 BGB) sowie bei Schuldverträgen von Geschäftsunfähigen (§ 105 BGB). Eine nur vorläufige, d. h. heilbare Unwirksamkeit sieht das Gesetz dort vor, wo ein Vertrag einer individuellen Richtigkeitskontrolle unterworfen werden soll: zum Schutz eines beschränkt geschäftsfähigen Vertragspartners (§ 108 BGB) oder eines durch den Vertrag in seiner Rechtsphäre betroffenen Dritten, d. h. im Falle der Vertretung ohne Vertretungsmacht (§ 177 BGB). Wo lediglich die eigenen privaten Interessen eines Vertragsschließenden durch eine Abschlussstörung betroffen sind, wie etwa beim Irrtum, bei Arglist oder Drohung, besteht die gesetzliche Sanktion in der Anfechtbarkeit, d. h. der Vernichtbarkeit einer vorläufig wirksamen Willenserklärung bzw. eines vorläufig wirksamen Schuldvertrags (vgl. auch § 122 BGB). Endlich gibt es auch von Rechts wegen völlig unbeachtliche Abschlussstörungen, wie etwa den nicht qualifizierten Motivirrtum. Zusammenfassend kann man feststellen: Nicht jede Vertragsabschlussstörung ist rechtlich erheblich; nicht jede rechtlich erhebliche Abschlussstörung hat dieselbe Rechtsfolge. Besonders bemerkenswert erscheint, dass das BGB der Rechtsprechung nirgendwo die Befugnis zur inhaltlichen Gestaltung (Vertragshilfe) mangelhafter Schuldverträge einräumt.
V. Zusammenfassung Der Schuldvertrag ist das Instrument der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie im Bereich des Vermögensverkehrs unter Lebenden. Er erfüllt zwei Funktionen: Auf der interindividuellen (Mikro-)Ebene dient der Schuldvertrag den unmittelbar Beteiligten als rechtliches Mittel, ihre Interessen in Selbstbestimmung auf richtige, d. h. gerechte und zweckmäßige Weise zu koordinieren. Mit Hilfe des sog. Vertragsmechanismus sucht die Rechtsordnung (mittelbar) zu gewährleisten, dass Schuldverträge diese ihre Funktion als Instrumente zur Schaffung eines angemessenen Interessenausgleichs zwischen den Kontrahenten erfüllen (interindividuelle Selbstbestimmungs- oder Äquivalenzfunktion). Der Vertragsmechanismus begründet die Vermutung, dass der Schuldvertrag diese Aufgabe erfüllen, d. h. richtige (gerechte) Austauschverhältnisse zwischen den Vertragsparteien zustande bringen kann (Rich-
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tigkeitsvermutung). Voraussetzung hierfür ist, dass der Vertragsschlussvorgang und dessen Ergebnis, der Vertragsinhalt die oben skizzierten positiven und negativen Anerkennungsvoraussetzungen („Richtigkeitstests“) erfüllt. Auf der überindividuellen (gesamtwirtschaftlichen Makro-)Ebene fungiert der Schuldvertrag in unserer Rechts- und Wirtschaftsordnung als Mittel zu optimaler Verteilung von Gütern und Leistungen (volkswirtschaftliche Koordinierungsfunktion). Grundvoraussetzung für die Erfüllung dieser Aufgaben ist die Abschlussparität. Der Gesetzgeber sucht diese zu fördern insbesondere durch das Wettbewerbsrecht i.w.S., durch die Schaffung von Markttransparenz und durch die Zulassung und Gewährleistung der Koalitionsfreiheit. Soweit die Abschlussparität durch diese gesetzgeberischen Maßnahmen nicht erreicht werden kann oder bestimmte Vertragsmängel vorliegen, sucht der Gesetzgeber durch Einschränkung der Abschlussfreiheit und/oder der Inhaltsfreiheit und bestimmte Vertragsabschlussvoraussetzungen für die „Vertragsrichtigkeit“ zu sorgen bzw. „unrichtige“, d. h. nicht funktionsgerechte Schuldverträge zu verhindern. Die Rechtsetzungsdelegation wird insoweit zurückgenommen oder eingeschränkt: Der Gesetzgeber gewährt also Selbstbestimmung soweit möglich und setzt zwingendes Recht, soweit nur so Individualgerechtigkeit hergestellt werden kann. Abschließend ist festzuhalten, dass eine Rechtsordnung, die sich grundsätzlich für eine dezentrale Lenkung der Wirtschaft durch die unmittelbar Betroffenen, d. h. für eine Markwirtschaft entschieden hat, Wettbewerbs- und Vertragsfreiheit nicht nur formalrechtlich sondern auch als auch materiell gewährleisten muss. Nur so können Wettbewerb und Schuldvertrag ihre Funktionen erfüllen.
Unfaire Handelspraktiken und Marktstörungsaktivitäten im koreanischen Kapitalmarktrecht Von Won-ho Lee
I. Einleitung Durch die zunehmende Annäherung Koreas an die Weltwirtschaft sind die Rufe nach erhöhter Transparenz und einem wettbewerbsfördernden gesetzlichen Umfeld stetig lauter geworden. Um die Regelungen zum Kapitalmarkt von Grund auf zu reformieren, wurden sechs im Aktien- und Börsenrecht (Jeungkuonkeoraebeob) enthaltene Rechtsbereiche im neuen Kapitalmarkt- und Kapitalanlagegesellschaftengesetz1 (im Folgenden Kapitalmarktgesetz) zusammengefasst und finden seit dem Februar 2009 Anwendung. Der erste Paragraph des koreanischen Kapitalmarktgesetzes gibt Aufschluss über dessen Zweck: „Das Ziel dieses Gesetzes ist, mittels der Anregung finanzieller Innovationen, eines fairen Wettbewerbs und des Investorenschutzes durch eine Verbesserung der Fairness, Vertrauenswürdigkeit und Effizienz zum Wirtschaftswachstum beizutragen“. Die Entwicklung des Kapitalmarkts sollte auf einer fairen Preisfindung und der Aufrechterhaltung von Ordnung und Sicherheit gründen. Grundvoraussetzung hierfür sind das reibungslose Funktionieren des Marktes und die Wahrung des Vertrauens der Anleger in den Markt. Um das Vertrauen in den Kapitalmarkt zu stärken, sollten Rechtsstreitigkeiten, die während der Ausübung verschiedener Finanztransaktionen vorkommen, sowohl schnell als auch kostengünstig beizulegen sein. Zudem ist ein Rechts- und institutionelles System notwendig, das es Investoren erlaubt, sich von durch unfaire Handelspraktiken verursachten Schäden zu erholen.
1 Der Gesetzgebungs- und Justizausschuss bereitete im Jahr 1961 die Kodifizierung des dringend benötigten Börsengesetzes vor und am 15. 01. 1962 wurde es kodifiziert und schließlich trat das Börsengesetz als Gesetz Nr. 972 ab dem 01. 04. 1962 in Kraft. Nach mehrmaligen Börsengesetzesänderungen wurde das „Financial Investment Services and Capital Markets Act“ als Konsolidierungsgesetz im Jahr 2007 durchgesetzt, und weiterhin mehrmals revidiert, selbst im Jahr 2016 (s. http://elaw.klri.re.kr/kor_service/lawView.do?hseq=33395&lang=ENG).
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Mit dem doppelten Ziel, unfaire Handelspraktiken einzuschränken und die Effizienz des Kapitalmarkts zu erhöhen, wurde dem koreanischen Kapitalmarktgesetz der § 178-2 hinzugefügt, der seit dem 1. Juli 2015 Anwendung findet. Damit einher ging die Einführung des „Verbots der Marktstörung“ in § 174 zu den bereits vorhandenen drei wichtigen Beschränkungen unfairer Handelspraktiken – des Verbots der Verwendung von Insiderinformationen, Kurspreismanipulationen und illegale Handelspraktiken. Aufgrund dieser gesetzlichen Änderungen wurde eine anfängliche Verunsicherung des Marktes nicht ausgeschlossen. Diese Arbeit untersucht die koreanischen Regelungen bezüglich der Verwendung von Insiderinformationen, Kurspreismanipulationen und des neuen Verbots der Marktstörung aus Sicht des Anlegerschutzes. Auch werden diesen Regelungen die entsprechenden Regelungen in anderen Ländern – den USA, Japan, Deutschland, Großbritannien und der EU – gegenübergestellt. Hierbei liegt ein besonderer Augenmerk auf der Gestaltung des Geldbußen/strafen-Systems in diesen Ländern.
II. Koreanisches Kapitalmarktrecht Das koreanische Kapitalmarktrecht umfasst Regelungen zur Verwendung von Insiderinformationen, Kurspreismanipulationen, sowie der Ausübung unfairer Handelspraktiken. In der Vergangenheit wurde vor allem an § 174 und § 176 des Kapitalmarktgesetzes Kritik geübt, da die Gesetze als zu spezifisch angesehen wurden, um die große Vielfalt der unfairen Handelspraktiken abzudecken und lediglich starre, standardisierte Typen von Rechtsverletzungen regelten. Das „Verbot unfairen Handels“ des § 178 wurde mit dem Ziel erlassen, eine allgemeinere und effektivere gesetzliche Regelung zu schaffen. Der § 178 des koreanischen Kapitalmarktrechts ähnelt im Hinblick auf seinen allgemeinen Inhalt dem US-amerikanischen 10b des Securities Exchange Act (SEA) aus dem Jahre 1934 und der Regel 10b-5 der Securities Exchange Commission (SEC). Weitere Bestimmungen ähneln zudem den §§ 157/158 des japanischen „Financial Instruments Exchange Act“. Es wird davon ausgegangen, dass auch Japan sein Kapitalmarktrecht nach dem Vorbild des US-amerikanischen 10b SEA und 10b-5 der SEC überarbeitet hat. Die aufgeführten Gesetze unterscheiden sich jedoch darin, dass, während die 10b SEA und 10b-5 der SEC klar ihre Anwendung auf Betrugs-, Täuschungs- und Manipulations-Handlungen verlangen, sowohl der koreanische § 178-1-1 als auch der Art. 157-1 des japanischen „Financial Instruments Exchange Act“ die betroffenen Handlungen eher vage umschreiben, nämlich als solche, die unfaire „Mittel, Pläne, oder Tricks“ beinhalten.2 2 Kim, Hak-seuk/Kim, Jung-soo: Unfair Trading under Capital Market Act, in: So˘ ulp’ainaensu˘ aellogu˘ rup (Seoul Finance and Law Group), Seoul 2015, S. 5 – 7.
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Ein weiterer Unterschied zum 10b-5 der SEC besteht darin, dass das US-amerikanische Gesetz verschiedene unfaire Handelspraktiken wie Insiderhandel, Kurspreismanipulation und Betrug durch falsche Angaben bzw. Unterdrückung wichtiger Informationen innerhalb einer Norm zusammenfasst, während das koreanische Gesetz diese in § 174 (Insiderhandel) und § 176 (Kurspreismanipulation) unterscheidet. Hauptziel des § 178, der den Verkauf von Finanzinstrumenten regelt, liegt in der Regelung von Betrugsfällen, etwa durch Falschinformation oder Unterdrückung wichtiger Informationen beim Verkauf der Instrumente. § 178 wurde hinzugefügt, um zivil- und strafrechtlichen Sanktionen für diejenigen Tatbestände verhängen zu können, die nicht oder nur unzureichend unter das Verbot des Insiderhandels (§ 174) und das Verbot der Kurspreismanipulation (§ 176) subsumiert werden konnten.3 Im Hinblick auf die Ausgestaltung des § 178-1-1 und sein Verhältnis zu anderen Bestimmungen, ist das Verbot unfairer Handelspraktiken des § 178-1-1 als Auffangtatbestand zu verstehen, der dann herangezogen wird, wenn die anderen, spezielleren Vorschriften des Kapitalmarktgesetzes nicht greifen. Die bisherige Konzentration des koreanischen Kapitalmarktrechts auf strafrechtliche Sanktionen verursachte einen großen Zeit- und Kostenaufwand. Effizientere Verfahren im Bezug auf unfaire Handelspraktiken waren folglich dringend notwendig. Um die bestehenden Probleme anzugehen, wurden wichtige Stellen des koreanischen Kapitalmarktgesetzes im Dezember 2014 erneut überarbeitet. – Im Vergleich zur bis dahin bestehenden Definition unfairer Handelspraktiken wurde die Reichweite unerlaubter Praktiken bezüglich der Nutzung unveröffentlichter Informationen erweitert, um die illegale Nutzung von Informationen durch Zweite und Dritte sowie die Marktmanipulation weiter einzuschränken. Zu diesem Zweck wurden sowohl das Konzept der „Marktstörung“ als auch ein neues Geldbußensystem eingeführt (§ 178-2 und § 429-2). – Eine gesetzliche Grundlage für die zusätzlichen Aufgaben des Aufsichtskomitees der Korea Exchange (KRX) zur Verhinderung unfairer Handelspraktiken wurde geschaffen. – Wenn die koreanische Financial Services Commission (FSC) Disziplinarmaßnahmen gegenüber ehemaligen Mitarbeitern oder ehemaligen Geschäftsführern eines Finanzanlageunternehmens ausspricht, kann die FSC, wenn die betroffene Person wieder in Dienst steht, die Benachrichtigung des neuen Arbeitgebers bezüglich der Disziplinarmaßnahme erwirken. Mit dieser neuen Bestimmung wurde der Anwendungsbereich der Norm erweitert (§ 424-3).
3 Kim/Kim (Fn. 2) S. 3; vgl. Gang, Dae-seop: 2014 Nyo˘ n Chabonsijangbyo˘ p P’allyeu˘ i Hoegowa Cho˘ nmang (Retrospect and Prospect of Capital Market Law Cases 2014), in: Sangsap’allyeyo˘ n’gu (Commercial Case Review), 28 (1) 2015, S. 331.
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– Die FSC kann, sofern im Rahmen der Geltendmachung von Strafgeldern notwendig, beim Leiter der zuständigen Steuerbehörde Steuerinformationen anfragen (Neueinführung des § 434-4). – Wird eine Person wegen Verstoßes gegen das Verbot unfairen Handels zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, so soll gleichzeitig ebenfalls eine Geldstrafe verhängt werden. Das Gesetz sieht weiterhin vor, dass die durch illegale Aktivitäten erworbenen Vermögenswerte ohne Ausnahme eingezogen werden (§ 447-1 und -2). – Die Stimmrechtsvertretung im Rahmen elektronischer Abstimmungen (shadow voting) ist noch bis zum 31. 12. 2017 erlaubt.4
III. Unfaire Handelspraktiken Die Regelungen zu unfairen Handelspraktiken des koreanischen Kapitalmarktrechts umfassen Insiderhandel, „short swing“-Handel, Marktmanipulation und unfaires Handeln, das generell als Betrugsverbot aufgefasst wird. Seit Juli 2015 gibt es zudem das Verbot der Kapitalmarktstörung. 1. Insiderhandel In einem engeren Sinn bezieht sich Insiderhandel auf Aktivitäten, bei denen Mitarbeiter oder Anteilseigner einer Aktiengesellschaft selbst oder durch Andere Gebrauch von unveröffentlichten Informationen machen, die sie auf Grundlage ihrer Tätigkeit bzw. Position gewonnen haben, um gewisse Wertpapiere zu handeln oder Transaktionen durchzuführen auf eine Art, die nicht den Vorschriften des Präsidentendekrets entspricht.5 Die gegen Insiderhandel gerichteten Gesetze des koreanischen Kapitalmarktrechts wurden in einer Novelle des Securities and Exchange Act of Korea 1976 mit teilweiser Referenz zu den Bestimmungen des US-amerikanischen Securities Exchange Act von 1934 erlassen. Nach mehreren Überarbeitungen wurde 1991 die auf § 174 beruhende Struktur begründet. Trotz der mit den gesetzlichen Neuordnungen einhergehenden Anstrengungen wurde der § 174 schon bald darauf kritisiert, weil er lediglich eine strafrechtliche Verfolgung zuließ und die möglichen Geldstrafen als zu gering eingeschätzt wurden, um als effektives Mittel zur Abschreckung und Bestrafung zu dienen.
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Im, Jae-yeun: Chabonsijangbo˘ p (The Capital Market Act), Seoul 2015, S. 1008. No, Tae-ak: Che 1 Chang Naebujago˘ rae (Nr. 1 Insiderhandel usw.), in: Chabonsijangbo˘ p Chuso˘ kso˘ (Capital Market Law Commentar), Seoul 2009, S. 855; Kim, Kwang-Rok: Migukpo˘ psang Naebujago˘ raee Kwanhan Kyuje Po˘ mniwa Chabonsijangbo˘ p (Insider Trading Regulations under the U.S. Laws and the Financial Investment Services & Capital Market Act), in: Sangsap’allyeyo˘ n’gu (Commercial Case Review), 22 (2) (2015), S. 290. 5
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Das Kapitalmarktgesetz verbietet unter dem Titel „Insiderhandel, etc.“ die Nutzung unveröffentlichter und wichtiger Informationen. Obwohl § 174 das wichtigste Gesetz zum Insiderhandel ist, umfasst es nicht all diejenigen Wertpapiertransaktionen, die auf asymmetrischen Informationen beruhen. Dem Prinzip nulla poena (nullum crimen) sine lege,6 folgend, kann die illegale Nutzung unveröffentlichter Informationen von Personen, die nicht in die vom Gesetz formulierten Kategorien möglicher Täter fallen, nicht geahndet werden. Ebenso kann der Gebrauch unveröffentlichter Informationen nicht geahndet werden, wenn die Informationen nicht in den vom Gesetz definierten Bereich fallen. § 174-1, -2 und -3 legen fest, welche Informationen dazu gehören: „unveröffentlichte, wichtige Informationen bezüglich der Aktivitäten eines börsennotierten Unternehmens“, „unveröffentlichte Informationen bezüglich der Unterbreitung oder der Rücknahme eines öffentlichen Kaufangebots“ und „unveröffentlichte Informationen bezüglich des Kaufs oder Verkaufs großer Mengen von Wertpapieren“. Weil es keine genaueren Anhaltspunkte dafür gibt, welche Informationen als „wichtige Informationen bezüglich der Aktivitäten eines börsennotierten Unternehmens“ zu verstehen sind, werden diese allgemein als Unternehmensinformationen verstanden, die den Vermögenswert oder die Ertragskraft eines Unternehmens beeinflussen können und sich daher auch auf dessen Börsenpreis auswirken können.7 Als Voraussetzung des Insiderhandels wird in den USA die Weitergabe von Informationen mit dem Ziel der Ermöglichung einer Transaktion (enabling transaction) gesehen. Das koreanische Kapitalmarktrecht erfordert ein hohes Beweisniveau, was etwa durch die Formulierung „unveröffentlichte, wichtige“ Information des § 174-1 offenbar wird. § 174-2 enthält zudem die Vorgabe, dass die Information die „Abgabe oder Rücknahme eines öffentlichen Kaufangebots“ zum Gegenstand haben muss. Notwendig sind außerdem die gegenseitige Kenntnis sowie ein vorliegendes, dringendes Verdachtsmoment bezüglich eines Insiderhandels.8 Weiterhin ist ein Nachweis erforderlich, dass die Information mit der Absicht weitergegeben wurde, dass der Informationsempfänger von dieser Gebrauch macht. Das bedeutet, dass der Empfänger nach Erhalt der Information vom Insider, der durch seine Arbeit bzw. Pflichtausübung Zugriff auf die Information hatte, eine Transak-
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Choehyo˘ ngbo˘ pcho˘ ngjuu˘ i (Nulla poena sine lege = Gesetzlichkeitsprinzip): Eine Tat kann (z. B. gemäß § 1 des koreanischen StGB) nur dann bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. 7 Chang, Kun-young: Chabonsijangbo˘ psang Cho˘ ngbosaengso˘ ngjau˘ i Migonggae Chuyongjo˘ ngbo Iyong Haengwi Kyuje (Regulation of the Information Creator’s Use of Material Nonpublic Information under the Capital Markets Act), in: Sabo˘ p (Privatrecht), 32 (2015), S. 135. 8 Oh, Sung-keun: Chiphapt’ujagiguu˘ i Naebujago˘ rae Kyuje (Regulation on Insider Trading for Collective Investment Schemes – Focusing on the Mutual Fund of the United States), in: Sabo˘ p (Privatrecht), 32 (2015), S. 79.
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tion getätigt haben muss.9 Hierin wird der Unterschied des Insiderhandels in den USA und der koreanischen Vorschrift des § 174 offensichtlich. Die Reichweite verschiedener, gegen den Insiderhandel gerichteter Regelungen des koreanischen Kapitalmarktgesetzes ist eng definiert. 2. Marktpreismanipulation Manipulationen des Marktpreises sind Handlungen, die einem bestimmten Unternehmen durch unfaire Handlungen zu einem Vorteil gereichen. Da derartige Handlungen arglose Investoren täuschen und zu finanziellen Verlusten führen, können sie als Anlegerbetrug verstanden werden. Marktpreismanipulation ist eine als illegal angesehene Handlung, die die Preisbildung verfälscht. § 176 verbietet die Marktpreismanipulation aller börsennotierten Wertpapiere und Derivate. Während § 177 die zivilrechtliche Haftbarkeit im Falle einer Marktpreismanipulation festlegt, beinhaltet § 443 die strafrechtliche Haftbarkeit. Im Einzelnen sind in § 176-1 die Marktpreismanipulation durch Scheingeschäfte, in § 1762 durch Fehlanzeigen, in § 176-3 durch die Fixierung und Stabilisierung von Marktpreisen und in § 176-4 durch marktübergreifende Manipulation geregelt. Marktpreismanipulation ist eine Art von Betrug, weswegen es sowohl strafrechtlich als auch zivilrechtlich geahndet wird – auch durch Aufhebung des betrügerischen Rechtsgeschäfts. In der Realität ist die Regulierung der Marktpreismanipulation unter der Kategorie Betrug jedoch wenig effizient. Aus diesem Grund nennt das Kapitalmarktgesetz spezifische Typen von Marktpreismanipulation und ihre jeweiligen Bestrafungen.10 Bei einem Verstoß gegen das Verbot der Marktpreismanipulation kann gemäß § 443-1, wie auch beim Insiderhandel, eine Gefängnisstrafe von bis zu zehn Jahren und eine Geldstrafe bis zur dreifachen Höhe der durch die Manipulation erworbenen Summe verhängt werden. Wenn die erworbene Summe bzw. der abgewendete Verlust jedoch unterhalb der Grenze von 500 Millionen Won liegt, liegt die maximale Geldstrafe bei 500 Millionen Won. Wenn die erworbene Summe oder der abgewendete Verlust mehr als 5 Milliarden Won beträgt, liegt die Gefängnisstrafe bei nicht weniger als 5 Jahren. Bei einer erworbenen Summe zwischen 500 Millionen Won und 5 Milliarden Won ist eine Freiheitsstrafe von nicht weniger als drei Jahren vorgesehen (§ 443-2). Klar ersichtlich ist eine empfindliche und mit zunehmender Schwere des Vergehens zunehmende Bestrafung. Zusätzlich wird, selbst für den Fall, dass eine Freiheitsstrafe ausgesprochen wird, die Geldstrafe nicht unmöglich (§ 447-1) und eine Freiheitsstrafe aufgrund von
9 Kim, Jung-soo: Chabonsijangbo˘ bwo˘ llon (Capital Market Theory Court), So˘ ulp’ainaensu˘ aellogu˘ rup (Seoul Finance and Law Group), Seoul 2014, S. 1141 ff. 10 Kim, Taek-joo: Chabonsijangbo˘ p (Kapitalmarktgesetz), Seoul 2015, S. 654 – 655.
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Marktpreismanipulation kann zu einem Ausschluss als Geschäftsführer für die Zeit von 10 Jahren führen. Dem Zivilrecht zufolge ist derjenige, der einen Handel von börsennotierten Wertpapieren oder Derivaten zu einem manipulierten Preis durchführt oder die Durchführung veranlasst, für die daraus erwachsenden Verluste verantwortlich (§ 177-1). Dieser Anspruch erlischt ein Jahr, nachdem der Anspruchsinhaber von den den Ansprüchen begründenden Umständen Kenntnis erlangt oder spätestens drei Jahre nach Ausführung der illegalen Handlung (§ 177-2). Trotz der oben genannten Gesetze ist es jedoch sehr schwierig, den Vorsatz zu beweisen, der eine Voraussetzung für die Feststellung der Strafbarkeit der betreffenden Handlung ist. Diese Voraussetzung hat jedoch den Zweck, negative Auswirkungen der Bestimmung auf den normalen Handelsverkehr zu minimieren. Die umfassenden Regelungen zu unfairen Handelspraktiken werden seit ihrer Einführung kritisiert, da sie als dem Grundsatz nulla poena sine lege widersprechend angesehen werden, weswegen sowohl Finanzinstitute als auch die Gerichte das Gesetz eher zurückhaltend anwenden. Deswegen wurden bei einem Verdacht auf Marktmanipulation in vielen Fällen keine strafrechtlichen Ermittlungen aufgenommen oder die Ermittlungen aus Mangel an Beweisen eingestellt. Auch wenn es ausnahmsweise zu einer Verhandlung kam, endete diese nur in seltenen Fällen mit einer Verurteilung. Ein weiteres Problem besteht im Ermittlungsverfahren, das die folgenden Schritte durchläuft: Anhörung durch die Korea Exchange ! Untersuchung durch die Finanzaufsichtsbehörde ! Entscheidung durch den Finanzausschuss (Financial Council) ! Untersuchung durch die Staatsanwaltschaft ! gerichtliche Urteilsfindung. Weil das gesamte Verfahren in günstigen Fällen wenigstens ein Jahr und oft mehrere Jahre in Anspruch nahm, litt das System an geringer Effektivität. Auch nach der Einführung eines verkürzten Verfahrens im Jahre 2013 besteht weiterhin Kritik am System – noch immer wird der Prozess als zu langwierig für eine schnelle Bestrafung von Gesetzesübertretungen angesehen. 3. Marktstörungsaktivitäten (Kapitalmarktgesetz § 178-2) Ziel des Gesetzes gegen Marktstörungsaktivitäten ist es, Grauzonen innerhalb der unfairen Handelspraktiken entgegenzuwirken und neuen Arten unfairen Handelns auf flexiblere Weise entgegentreten zu können. Im Vergleich zu strafrechtlichen Vorschriften, die einen höheren prozessualen Standard notwendig machen, können Verwaltungsstrafen schnellere und elastischere Anwendung finden und damit zur Ordnung des Kapitalmarkts beitragen. Modell für dieses System standen vor allem die entsprechenden Regeln Großbritanniens und der Europäischen Union. Großbritannien führte im Jahre 2000 mit dem Financial Services and Market Act (FSMA) ein Kapitalmarktgesetz ein, das neben der strafrechtlichen Verfolgung auch zivile und Verwaltungsstrafen im Fall von Marktstörungsaktivitäten ermöglichte. Auch die Europäische Union hat in der
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Folge ähnliche Richtlinien verabschiedet, die darauf in ganz Europa umgesetzt wurden.11 Südkorea hat mit der Aufnahme des § 178-2 (Verbot von Marktstörungsaktivitäten) und des § 429-2 (Geldstrafen bei Marktstörungsaktivitäten) in das Kapitalmarktgesetz vom 30. Dezember 2014 diesen Trend aufgenommen.12 a) Marktmissbrauch durch unveröffentlichte Informationen Marktstörungsaktivitäten umfassen verschiedene illegale Aktivitäten, die weder unter § 174 noch § 176 fallen, aber trotzdem die Ordnung des Kapitalmarkts stören. Im Folgenden sind die Akteure aufgeführt, die unter § 178-2-1-1 (Nutzung vertraulicher Informationen) fallen: – Personen, die von einer Person, die die Voraussetzungen der Unterabschnitte des § 174 erfüllt, Informationen erhalten oder erworben haben, obwohl sie wussten, dass es sich dabei um wichtige vertrauliche Informationen handelt. – Personen, die in Zusammenhang mit ihrer Pflichtausübung Informationen generiert haben oder denen Informationen bekannt wurden, die unter Unterabschnitt 2 fallen (nachstehend „Informationen“); – Personen, die durch „Hacking“, Diebstahl, Betrug, Einschüchterung oder auf andere unrechtmäßige Weise Informationen erworben haben;13 – Personen, die Informationen erhalten oder erworben haben trotz Wissens, dass die Informationen von einer unter Unterabschnitt b) oder c) fallenden Person stammen. Zu den Personen, die unter die Regelungen zum Gebrauch unveröffentlichter Informationen fallen, gehören unternehmensinterne Insider wie Mitarbeiter, Personen, die in einem vertraglichen oder gesetzlichen Verhältnis zum betreffenden Unternehmen stehen und solche, die von den eben Genannten Informationen erhalten. Da die Erfüllung des Tatbestands der Nutzung unveröffentlichter Informationen von der Relevanz der Information für das Kerngeschäft des Unternehmens abhängt, werden „Marktinformationen“ wie Wertpapier-Bestellmengen durch institutionelle Investoren, von Analysten angefertigte Unternehmensanalysen oder Medienberichte nicht als vertrauliche Informationen gesehen. Daneben fallen auch Informationen wie solche bezüglich der Entwicklung des Wechselkurses oder des Leitzinssatzes, die den 11 Seong, Hye-hwal: The Legal Implications and Prospect of the Newly Enacted ‘Market Abuse Regulation’ in the Capital Market Act, in: The Korean Journal of Securities Law, 16 (1) (2015), S. 142. 12 Im (Fn. 4) S. 1008. 13 Außerdem schließt das Gesetz im Zusammenhang mit unrechtmäßigen Transaktionen alle Informationstransaktionen ein, die gegen soziale Konventionen und die Billigkeit verstoßen. Allerdings ist die Benutzung von Insiderinformationen, die durch Zufall erhalten worden sind, nicht mit inbegriffen, da es der Illegalität bzw. Unbilligkeit bedarf.
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gesamten Markt betreffen, nicht unter den Begriff. Eine weitere Schwäche besteht darin, dass Insider, solange sie die unveröffentlichten Informationen nicht durch bzw. während der Ausübung ihrer Pflicht erhalten haben, nicht wegen Insiderhandels belangt werden können. Seit Einführung des Verbots der Marktstörung gemäß § 178-2-1 fallen jedoch auch Dritte, welche die vertraulichen Informationen erhalten, in die Reichweite der Regelung. Das bedeutet, dass nun auch Dritten Geldstrafen auferlegt werden können, die vertrauliche Informationen erhalten und nutzen. Dies könnte zu dem Problem führen, dass auch Personen belangt werden können, die sich weit entfernt von der ursprünglichen Quelle der vertraulichen Informationen befinden. In diesem Fall wird jedoch das Kriterium nicht erfüllt, dass „die Information den Handel oder die Handelskonditionen von Finanzinstrumenten mit hoher Wahrscheinlichkeit signifikant beeinflusst“.14 Ein Unterschied zu § 174 besteht darin, dass § 178-2 nicht nur Personen betrifft, die im Rahmen ihrer Pflichtausübung vertrauliche Informationen erhalten, sondern auch solche, die derartige Informationen produzieren.15 Alle folgenden Informationen fallen unter das Verbot der Marktstörung (§ 178-21-2): – Eine Information, die das Potential hat, einen großen Effekt auf den Kauf oder die Kaufentscheidung spezieller Finanzinstrumente zu haben. – Eine Information, die für Investoren unbekannte Informationen enthält, die auch gegenüber der Allgemeinheit noch nicht veröffentlicht wurden. Da die oben aufgeführten zwei Punkte keinen Bezug der Information zur Pflichterfüllung des die Information Verbreitenden nennen, sind die Regelungen des § 178-2 umfassender als die des § 174. Daher gehören nun auch Marktinformationen wie die Marktpreisanalyse gewisser Wertpapiere sowie die Vorhersage von Börsenoffiziellen zum regulierten Bereich. Ebenfalls geht man davon aus, dass zudem Medienberichte und Informationen zu Politikänderungen, die den gesamten Markt betreffen, unter die Regelung des Verbots zur Marktstörung fallen. Das Verbot der Marktstörungsaktivitäten verfügt zudem über einen ausgeweiteten Anwendungsbereich im Vergleich zu § 174-1. § 174-1 enthält im Gegensatz zu § 178-2 die Formulierung, dass Informationen „auf durch Präsidialdekret bestimmte Weise“ veröffentlicht werden müssen, um in den Anwendungsbereich des Gesetzes zu fallen. Dadurch waren Informationen, ganz gleich, auf welche Weise sie veröffentlicht wurden, sobald sie der Öffentlichkeit bekannt wurden, nicht länger Gegenstand des Gesetzes. 14
Beispielhaft greift das Gesetz bei einem solchen Fall, wenn nur zwei bis drei Personen die Information erhalten haben. Diese werden dann nach dem Gesetz als Täter angesehen. In der Praxis ist es wahrscheinlich, dass zweite und dritte Informationsempfänger belangt werden. 15 Im (Fn. 4) S. 1008 – 1009.
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Finanzinstrumente, die bezüglich der Nutzung unveröffentlichter, wichtiger Informationen unter die Regelungen zu Marktstörungsaktivitäten fallen, sind: – Wertpapiere börsennotierter Unternehmen (oder solcher Unternehmen, deren Listung bevorsteht; § 174-1). – Derivate. – Derivate zweiten Grades. Das Kapitalmarktgesetz definiert diese als „designierte Finanzanlageinstrumente“. Während der Anwendungsbereich des § 174-1 sich auf bestimmte, durch börsennotierte Unternehmen emittierte Wertpapiere beschränkt, umfasst der Bereich der „designierten Finanzanlageinstrumente“ auch den außerbörslichen „over the counter“-Handel von Derivaten. Verbotene Aktivitäten schließen die eigene Nutzung unveröffentlichter Informationen zum Kauf oder anderer Transaktionen bei bestimmten Finanzanlageinstrumenten ein, oder die Nutzung durch andere. Ausgeschlossen sind folgende Aktivitäten: – Aktivitäten, die gemäß Präsidialdekret kein Potential besitzen, den Investorenschutz und die Marktordnung zu gefährden. – Aktivitäten, die unter die spezifischen Regelungen des § 173-2-2 (Informationsherausgabe und -nutzung, die den Marktpreis von Derivaten beeinflussen kann), § 174 (Verbot der Nutzung unveröffentlichter, wichtiger Informationen), § 178 (unfaire Handelspraktiken) fallen. Sowohl die Nutzung verbotener Informationen als auch die Anstiftung zu deren Nutzung sind verboten. Wenn es zur Verbreitung solcher Informationen kommt, ist es nur fair, A für die Handlungen Bs verantwortlich zu machen, der die Informationen direkt von A erhalten hat, nicht jedoch C, der die Informationen von B und nicht von A erhalten hat. b) Marktmissbrauch durch Manipulation aa) Restriktive Rechtsobjekte und Instrumente Anders als bei den Regelungen zum Marktmissbrauch durch unveröffentlichte Informationen beinhaltet der Marktmissbrauch durch Manipulation keine Einschränkung des betroffenen Rechtsobjekts bzw. Personenkreises. Bezüglich der betroffenen Finanzinstrumente ist der Umfang der Regelungen zum Marktmissbrauch durch Manipulation jedoch geringer, da es lediglich börsennotierte Wertpapiere und Derivate, nicht jedoch „over-the-counter“-Instrumente, umfasst.
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bb) Regulierte Tätigkeiten Keine Person soll beim Handel börsennotierter Wertpapiere oder Derivate die unten beschriebenen Handlungen ausüben, es sei denn, die Handlungen fallen unter § 176 oder § 178 (§ 178-2-2).16 – Handlungen, die den Marktpreis durch die Übermittlung einer großen Anzahl an Angeboten zu Konditionen, bei denen ein Geschäftsabschluss unwahrscheinlich ist, oder durch die wiederholte Korrektur oder Annulierung des Angebotspreises, unrechtmäßig beeinflussen oder beeinflussen können. – Handlungen, die den Marktpreis durch die Vortäuschung von Transaktionen, ohne die Absicht der tatsächlichen Übergabe der Besitzrechte des Transaktionsgegenstandes, unrechtmäßig beeinflussen. – Handlungen, die den Marktpreis durch die Durchführung eines Handels nach vorheriger Konspiration mit einer anderen Person zum Verkauf und Kauf der gleichen börsennotierten Wertpapiere oder börsengehandelten Derivate zum selben Preis oder in einer vereinbarten Menge im selben Zeitraum und mit dem Zweck, Gewinne oder Verluste zu verteilen oder Besteuerung zu vermeiden, unrechtmäßig beeinflussen. – Handlungen, die zur Fehleinschätzung bezüglich der Nachfrage, des Angebots oder des Preises börsennotierter Wertpapiere oder börsengehandelter Derivate durch andere Personen führen oder durch die Verbreitung eines Gerüchts, Ersinnen einer List, etc. die Preise börsennotierter Wertpapiere oder börsengehandelter Derivate verzerren. Das Kapitalmarktgesetz nennt die Täuschungsabsicht bezüglich der Einschätzung eines Wertpapiers oder Derivats, die Absicht, die diesbezügliche Kaufs- oder Verkaufsentscheidung unrechtmäßig zu beeinflussen, oder die Absicht, den Marktpreis festzusetzen oder zu stabilisieren, als eine Voraussetzung der Marktpreismanipulation. Der Grund, warum das Kapitalmarktgesetz der Absicht bei der Definition der Marktpreismanipulation eine derart große Bedeutung beimisst, liegt in den Eigenschaften normaler Markttransaktionen. Da im Rahmen der normalen Handelstätigkeit häufig große Transaktionen getätigt werden, ist es schwierig, die rechtliche Verantwortung nur auf Grundlage eines möglichen Einflusses auf den Marktpreis zu beurteilen. Investoren prüfen die sich ständig ändernde Marktsituation und treffen dar16
SEA 21 (a): Die Kommission kann nach ihrem eigenem Ermessen solche Untersuchungsmaßnahmen ergreifen, die der Feststellung dienen, ob eine Person eine Bestimmung oder Verordnung dieses Titels verletzt hat oder kurz davor ist eine solche Regelung zu brechen, und kann einer Person Erlaubnis erteilen bzw. kann von einer Person verlangen, eine Erklärung schriftlich abzugeben. Nach eigenem Ermessen ist es der Kommission u. a. erlaubt, Informationen zu veröffentlichen, die sich auf diese Sache beziehen und jede Tatsache, Bedingung, Handlung und andere Sache zu untersuchen, die sich als notwendig oder hilfreich in der Vollstreckung der Bestimmungen dieses Titels ergeben.
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auf aufbauend ihre Investitionsentscheidungen. Marktpreisänderungen werden selbstverständlich nachvollzogen. Sollte das Kapitalmarktgesetz derartige normale Tätigkeiten einschränken, würde dies zu einer dramatischen Reduktion der Aktivitäten auf dem Finanzmarkt führen. Mit der Einführung des Verbots der Marktstörung kann jedoch jede Handlung, die der normalen Handelsordnung geschadet hat, auch ohne Verweis auf die zugrunde liegende Absicht bestraft werden. Es ist wichtig, die teilweise Ähnlichkeit des Verbots der Marktstörung mit den Regelungen zu den die faire Handelstätigkeit einschränkenden Handlungen der „Market Oversight Commission“ (MOC) zu sehen.17 Das bedeutet, dass die rechtliche Lücke im Hinblick auf derartige, die Marktordnung störende Handlungen bisher durch die freiwilligen Selbstbeschränkungen der MOC ergänzt wurden. Seit Eingliederung ähnlicher Regelungen in das Kapitalmarktrecht besteht jedoch die Möglichkeit, dass es zu überschneidende Regelungen betreffenden Disputen kommt. Anders als die freiwilligen Selbstbeschränkungen der Korea Exchange, die sich auf die Bereiche Wertpapier und Futures beschränken, richten sich die neuen Gesetze an alle Marktteilnehmer und können daher nicht als überflüssig betrachtet werden. Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass die durch die MOC definierten Handlungen einen weit größeren Umfang haben als das Verbot der Marktstörung des Kapitalmarktgesetzes. Sollten Mitarbeiter der Korea Exchange weiterhin an den spezifischen Prozessen mitwirken, wird eine institutionalisierte Zusammenarbeit und bessere Rollenaufteilung der Finanzbehörden und der Korea Exchange vor dem Hintergrund der jeweiligen Expertise noch wichtiger werden.18 cc) Strafen bei Verstoß gegen das Verbot der Marktstörung Die Verhängung von Geldstrafen unter dem Verbot der Marktstörung (A) unterscheidet sich dahingehend von den Regelungen des Kapitalmarktgesetzes zur Veröffentlichung vertraulicher Informationen und unrechtmäßigen Handlungen finanzieller Investoren (B), dass sie nicht die Voraussetzung der groben Fahrlässigkeit erfüllen muss. Genauer, während B Absicht oder grobe Fahrlässigkeit voraussetzt, ist A schon im Fall einer leichten Fahrlässigkeit anwendbar. Folglich hat die Wichtigkeit und der Einfluss von Geldstrafen für den Tatbestand der Marktstörung im Vergleich zu den Geldstrafen für die Verletzung der Veröffentlichungsvorschriften (Maximum 2 Millionen Won) klar an Bedeutung zugenommen,
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Was die koreanische Börsenüberwachungsverordnung betrifft, so sind 11 Arten von Störungen der Aktienmarktordnung im § 4 geregelt und weitere 9 Arten von Hemmungen der fairen Marktordnung. 18 Seong (Fn. 11) S. 158, 159.
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da es keine Zahlungsobergrenze gibt und bereits der Nachweis leichter Fahrlässigkeit bestraft werden kann. Das FSC kann gegenüber Personen, die gegen das Verbot der Marktstörung verstoßen, eine Geldstrafe von nicht mehr als 500 Millionen Won aussprechen. Sofern der durch einen derartigen Verstoß ermöglichte Gewinn bzw. der vermiedene Verlust (einschließlich unrealisierter Gewinne; das Gleiche gilt für den gesamten Artikel)19 500 Millionen Won übersteigt, kann das FSC eine Geldstrafe von nicht mehr als dem 1,5-fachen des ermöglichten Gewinns bzw. vermiedenen Verlusts auferlegen. dd) Zivilrechtliche Haftung Opfer von Marktstörungsaktivitäten eines anderen Marktteilnehmers können von diesem Schadenersatz verlangen. Anders als im Fall der unlauteren Handelspraktiken gibt es jedoch keine spezifische Regel zur Haftung für durch Marktstörung verursachte Schäden, weswegen hier auf § 750 des koreanischen Bürgerlichen Gesetzbuches abgestellt wird, das die Haftung auf Grundlage rechtswidriger Handlung regelt. Es besteht allerdings eine Schwierigkeit bezüglich des Nachweises der Transaktionsursache um über die Verantwortung für die rechtswidrige Handlung zu entscheiden. ee) Strafrechtliche Verfolgung Die bestehenden Gesetze zu unlauteren Handelspraktiken, die unter die §§ 173-22, 174, 176 und 178 fallen, sind von den Regelungen zum Verbot von Marktstörungsaktivitäten ausgenommen. Folglich können Marktstörungsaktivitäten nicht strafrechtlich verfolgt werden. Zudem sind, da unlautere Handelspraktiken und Marktstörungsaktivitäten nicht kompatibel sind, unrechtmäßige Handlungen, die sowohl strafrechtlich verfolgt als auch mit einer Geldbuße belegt werden können, nicht möglich. Wenn eine Handlung als Verstoß gegen das Verbot der Marktstörungsaktivitäten beurteilt und im Nachhinein eine Neubewertung als unfaire Handelspraktik erfährt, muss die zuvor auferlegte Geldstrafe zurückgenommen werden. Ebenso kann eine Handlung, die als unfaire Handelspraktik strafrechtlich verfolgt wurde, sich jedoch als diesen Tatbestand nicht erfüllend herausgestellt hat, im Anschluss mit einer Geld-
19 Was Marktstörungsaktivitäten betrifft, so hat ein Urteil die Auslegung nachhaltig beeinflusst: Bei der Rechtssprechung wird nicht nur der realisierte Gewinn durch die illegale Handlung mit einberechnet, sondern auch der noch nicht realisierte Gewinn. Wenn es um die Verwendung unveröffentlichter Informationen und Marktmanipulationstätigkeiten geht, so gibt es jedoch auch die Meinung, die sich gegen die Einberechnung noch nicht realisierter Gewinne wendet. Es gilt, gesetzlich klar zu regeln, ob der noch nicht realisierte Gewinn in solchen Fällen Berücksichtigung findet.
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strafe belegt werden, sofern sie die Voraussetzungen des Verbots der Marktstörungsaktivitäten erfüllt. ff) Benachrichtigung, etc. bezüglich unfairer Handelspraktiken Wenn eine nach §§ 429 oder 429-2 verfolgte Handlung im Verdacht steht, gegen §§ 173-2-2, 174, 176 oder 178 verstoßen zu haben, soll die SFC dem Generalstaatsanwalt davon Auskunft erteilen (§ 178-3-1).20 Die SFC kann nach Erhalt einer Anforderung durch den Generalstaatsanwalt die notwendigen Informationen zur Strafverfolgung einer Person zur Verfügung stellen, die mutmaßlich gegen §§ 173-2-2, 174, 176 oder 178 verstoßen hat. Der Insiderhandel, der ein Verbrechen ist, und die Verwendung vertraulicher, wichtiger Informationen unter dem Begriff der Marktstörung sind voneinander zu unterscheiden. Marktstörungsaktivitäten unterscheiden sich allerdings nur dahingehend vom Insiderhandel, dass sie keine Absicht beinhalten. Einige sehen diese Unterscheidung als schwierig zu differenzieren an. Marktstörungsaktivitäten und unfaire Handelsaktivitäten unterscheiden sich bezüglich des Umfangs der Ermittlungen durch die Finanzbehörden. Die FSC kann von jeder Person, die des unfairen Handels verdächtigt wird, sowie jeder weiteren relevanten Person die folgenden Handlungen verlangen: – Übermittlung einer schriftlichen Stellungnahme bezüglich der Fakten, des Status und den Inhalten des Gegenstands der Untersuchung. – Eine persönliche Stellungnahme bezüglich des Gegenstands der Untersuchung. – Übermittlung von für die Ermittlungen notwendigen Geschäftsbüchern, Dokumenten und anderen Materialien. Im Rahmen von Ermittlungen bezüglich Marktstörungsaktivitäten gibt es, anders als bei Ermittlungen zu unfairen Handelspraktiken, keine Durchsuchung und Beschlagnahme auf der Grundlage eines Durchsuchungsbefehls.21 Die erwähnten Geldstrafen haben den Sinn, Fehlverhalten bereits vor dem Zustandekommen eines Verfahrens zu korrigieren. Gemäß § 443 des Kapitalmarktgesetzes sind unfaire Handelspraktiken wie Marktpreismanipulationen durch Auferlegung hoher Geldstrafen und Rückzahlung realisierter Gewinne zu ahnden. Geldstrafen bei Verstößen gegen Veröffentlichungsregeln und unfaire Gewinne werden vom Staat eingezogen. Während derartige Geldstrafen also als Bestrafung im Falle einer Gesetzesübertretung dienen, helfen sie doch nicht den Investoren, die durch die unfairen Handelspraktiken Verluste erlitten haben. Neben der Diskussion über die Höhe der Geldstrafe sollte folglich auch darüber gesprochen werden, ob 20 21
Im (Fn. 4) S. 1010 – 1014. Seong (Fn. 11) S. 161.
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ein Teil der eingesammelten Geldstrafen nicht als Hilfe für die Opfer solcher Praktiken verwendet werden könnte. Die KFTC macht umfassenden Gebrauch vom außerhalb der strafrechtlichen Verfolgung stehenden Geldbußensystem. Seit seiner Hinzufügung zum Fair Trade Law 198022 hat die Anzahl der verhängten Geldbußen jedes Jahr zugenommen.23 4. Kapitalmarktrecht außerhalb Koreas a) Vereinigte Staaten von Amerika In den USA gibt es keine spezifischen Regelungen zum Insiderhandel. Kontrolle und Regelungen beruhen stattdessen auf Präzedenzfällen. Einige argumentieren, dass dieser Mangel an gesetzlicher Struktur ironischerweise dazu geführt hat, dass die USA über die weltweit minutiösesten Regelungen zum Insiderhandel verfügen. Zudem bilden modifizierte Versionen des US-amerikanischen Systems die Grundlage der gesetzlichen Regelungen zum Insiderhandel in zahlreichen Ländern. Zusätzlich wurde durch SA (1933)24 und SEA (1934) die „General Antifraud Clause“ eingeführt und direkt auf Betrugsfälle beim Handel von Wertpapieren bezo22 Kongjo˘ nggo˘ raebo˘ p (Fair Trade Law) A. 1. Die KFTC (Korea Fair Trade Commission) ist ein zentrales Verwaltungsorgan in Südkorea, das seit seiner Gründung im Jahre 1981 dem Regulieren des Marktwettbewerbs und der Einhaltung des fairen Handels dient. Das ihr zugrundeliegende Gesetz ist das MRFTA (Monopoly Regulation and Fair Trade Act), Gesetz Nr. 3320. 2. Die Aktien und Futures-Kommission (Securities and Futures Commission) dient der Aufsicht und Verwaltung des Aktien- und Finanzmarkts, überprüft Unternehmen und “ http:// untersucht unerlaubte Handlungen und Transaktionen. (siehe „ ko.wikipedia.org/wiki). B. Das Kongjo˘ nggo˘ raebo˘ p (Fair Trade Law, einschließlich der Regulierung von Monopolen), das am 13. 01. 1990 als Gesetz Nummer 4198 verabschiedet wurde, dient der Regulierung des Marktes, mit dem Ziel der Sicherstellung des fairen und freien Wettbewerbes, des Verbraucherschutzes und des Verhinderns von Monopolen und weiteren unfairen Handelspraktiken. 23 Um, Se-yong: A Study on the Improvement Measures for Alternative Dispute Resolution and the Recovery of Damages from Illegal Activities, in: The Korean Journal of Securities Law, 16 (1) (2015), S. 250. 24 Securities Act (SA) und Securities Exchange Act (SEA) In Folge des Börsencrashs von 1929 und der Great Depression kam der SA (Securities Act) von 1933 zustande, der verlangte, dass jedes Angebot und jeder Verkauf von Aktien mit Gebrauch von zwischenstaatlichen Mitteln und Instrumenten registriert sein muss, mit dem Ziel, dass alle für den durchschnittlichen Aktionär notwendigen materiellen Informationen erhältlich gemacht werden, sodass er angemessen Investitionsentscheidungen treffen kann. Der SA (Securities Act) von 1933 ist eine allgemeine „Vorschrift, die generell täuschende Handlungsweisen und falsche und irreführende Darstellungen im Zusammenhang mit Verkäufen von Wertpapieren verbietet“. Während SA den Handel auf den primären Markt von Wertpapieren regelt, befasst sich der SEA (Securities Exchange Act) von 1934 mit dem Wertpapierhandel auf dem sekundären
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gen. Dadurch wurde eine klare Richtlinie bezüglich strafrechtlicher Sanktionen und Ausgleichszahlungen geschaffen. Des Weiteren werden bei Wertpapierbetrug SEA 10b und SEA 10b-5 angewendet. § 32 legt zudem fest, dass ein Insiderhandel, in dessen Zuge vorsätzlich gegen die Regel SEA 10b-5 verstoßen wurde, strafrechtlich zu ahnden ist.25 Der Oberste Gerichtshof hat klargestellt, dass SEA 10b durchaus flexibel anzuwenden ist.26 Das zivile Geldstrafensystem wurde schon vorher angewendet; um es jedoch auch auf andere unfaire Handelspraktiken, die gegen Federal Securities-Regelungen verstoßen, anwenden zu können, wurde 1990 der „Securities Enforcement Remedies and Stock Reform Act“ (Remedies Act) eingeführt. Der Remedies Act gab der SEC das Recht, Geldstrafen gegenüber Individuen oder Unternehmen auszusprechen, die gegen Federal Securities-Regelungen verstoßen haben. Es gab der SEC zudem die Möglichkeit, zivile Geldstrafen sowie Unterlassungsanordnungen gegen verschiedene Finanzakteure (z. B. Makler, Händler, Anlageberater und Anlageunternehmen) auszusprechen.27 Die höchste strafrechtliche Sanktion gegenüber Individuen, die sich des Insiderhandels schuldig gemacht haben, lag im Jahre 2010 bei 10 Millionen USD und bei 25 Millionen USD für Unternehmen, die höchstmögliche Gefängnisstrafe für diesen Tatbestand bei 10 Jahren.28 Der Einwand, dass durch die Möglichkeit sowohl Markt zwischen Personen, die nur über einen Zwischenhändler oder Broker in Verbindung zueinanderstehen und schließt Aktien, Anleihen und Schuldverschreibungen ein. Weiterhin wurde durch diese Gesetzgebung auch die SEC (Securities and Exchange Commission) gegründet, die der Garantie der Durchführung der Gesetze bezüglich des Wertpapiermarktes dienen soll. Während sich der SA mit der Einführung neuer Wertpapiere in den Markt beschäftigt, befasst sich der SEA (Securities Exchange Act) von 1934 mit dem Handel bereits eingeführter Wertpapiere und richtet sich u. a. gegen Kursmanipulationen, Kursbetrug und Insiderhandel. Durch die SEA entstand weiterhin die SEC (Securities and Exchange Commission), die als Durchsetzungsorgan der mit Bundesanleihen in Verbindung stehenden Gesetze gesehen werden kann. 25 Lee, Jong-chul: Migugu˘ i Chu˘ nggwo˘ nsagigyujeyo˘ n’gu, (Forschung zur US-Amerikanischen Wertpapierkorruptionsverordnung), in: Haeoe Yo˘ nsu Ko˘ msayo˘ n’gunonmunjip (Bericht der Koreanischen Staatanwaltsschaft zur Ausbildung im Ausland), in: miguk UPENN Law School, 21 (1) (2006), S. 595. 26 Cho, Jae-yeon/Cho, In-ho: Chabonsijangbo˘ p Che433Choeso˘ u˘ i Naebujago˘ raejyuje Wibanhaengwiro o˘ nnu˘ n Iik Ttonu˘ n Hoep’ihan Sonsiraek Sanjo˘ ngbangbo˘ be Taehan Sogo (A Comment on Calculation Method of the Profit Gained or Loss Avoided as a Result of Insider Trading Violation in Article 443 of the Financial Investment Services and Capital Markets Act), in: Hanyang Po˘ phak (Hanyang Law Review), 21 (4) (2010), S. 341 – 342. 27 SEA 21 (b): Für den Zweck einer solchen Untersuchung unter diesem Titel ist ein jedes Mitglied der Kommission oder ein abbestellter Beamter der Kommission dazu bemächtigt u. a. Beweise sicherzustellen und die Herstellung von Aufzeichnungen, Büchern, Papieren, Korrespondenzen und anderen Materialien, die der Beamte für relevant für den Fall erachtet, zu verlangen. Von diesem Recht kann an jedem Ort in den Vereinigten Staaten Gebrauch gemacht werden. 28 Lee, Won-ho: Eine Studie über den Anlegerschutz des deutschen und US-amerikanischen Rechts, Kookmin University Finance Law Review, 3 (1) (2010), S. 43.
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strafrechtlicher Verfolgung als auch ziviler Geldstrafen eine redundante Bestrafung bestehe, wurde vom Supreme Court zurückgewiesen.29 Abhängig von der Art der Gesetzesübertretung verhängt die SEC entweder direkt eine Strafe oder ruft das Gericht um die Verhängung einer zivilrechtlichen Sanktion an. Während die Höhe der aufzuerlegenden Geldstrafe im Fall einer direkten Bestrafung auf Grundlage des Gesetzes bestimmt wird, wird für die Straffindung im Rahmen eines Zivilprozesses die gesetzlich festgelegte Summe mit dem unrechtmäßig erlangten Vorteil verglichen, woraufhin die höhere der beiden Summen als Strafe festgelegt wird. Anders als im Rahmen von Zivilprozessen, in denen das Gericht die Strafhöhe auf Grundlage der Gesetzesübertretung sowie der Situation festlegt, spielt bei der Straffindung durch die SEC das öffentliche Interesse ebenfalls eine Rolle.30 Investoren, die auf Grundlage der absichtlichen Marktpreismanipulation einen Schaden erlitten haben, können von SEA 9(e) Gebrauch machen um vom Gesetzesübertreter Wiedergutmachung zu verlangen.31 b) Japan Der japanische „Financial Instruments and Exchange Act“ wendet auf Grundlage eines einheitlichen Regelungssystems die identischen Regelungen auf die unfairen Handelspraktiken an, welche die Basis für sowohl straf- als auch zivilrechtliche Ahndung sind. Die bestehenden Regelungen zum Insiderhandel verbieten unter bestimmten Voraussetzungen Personen, die Zugriff auf bestimmte, wichtige Informationen haben, den Handel mit Wertpapieren etc. Die Herausgabe unveröffentlichter, wichtiger Informationen ist durch das Gesetz nicht direkt verboten.32 Im Jahre 2004 wurde durch eine Revision des „Securities Transaction Law“33 ein neues Geldstrafensystem eingeführt, das durch den Art. 175-1 des „Financial Instruments and Exchange Act“ geregelt wird.34 Art. 197-1-5 legt zudem fest, dass Hand29 Kim, Byung-youn: Introduction of Financial Penalty against Unfair Transaction under Capital Market and Financial Investment Services Act, in: Sangsabo˘ byo˘ n’gu (Commercial Law Review), 32 (4) (2014), S. 84. 30 SEA 21 (b): Für den Zweck einer solchen Untersuchung unter diesem Titel ist ein jedes Mitglied der Kommission oder ein abbestellter Beamter der Kommission dazu bemächtigt u. a. Beweise sicherzustellen und die Herstellung von Aufzeichnungen, Büchern, Papieren, Korrespondenzen und anderen Materialien, die der Beamte für relevant für den Fall erachtet, zu verlangen. Von diesem Recht kann an jedem Ort in den Vereinten Nationen Gebrauch gemacht werden. 31 Lee (Fn. 28) S. 44. 32 Oh, Sung-keun, Japan’s Financial Instruments und Exchange Act 2013 changed – Highlights, KRX Korea Exchange Securities Derivate, 118 (2014), S. 22 – 23 (hauptsächlich betreffend den Insiderhandel beim Asset Management). 33 sho¯ken torihiki ho¯. 34 Im Fall der Verwendung von Insiderinformationen wird in Japan die Preisdifferenz vor der Veröffentlichung der wichtigen Information in Zusammenhang mit dem Geschäft, etc.,
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lungen, die unter die Artt. 157 (unfaire Handlung bezüglich finanzieller Anlagetätigkeiten), 158 (Verbreitung und betrügerische Nutzung von Gerüchten) und 159 (Marktpreismanipulation) fallen, mit einer Gefängnisstrafe von bis zu 10 Jahren oder einer Geldstrafe von bis zu 10 Millionen Yen (Individuen) bzw. 700 Millionen Yen (Unternehmen) geahndet werden können. Bei einem Verstoß gegen das Verbot des Insiderhandels (Artt. 166-1, -3; 167-1, -3) ist nach Art. 197-2-13 eine Haftstrafe von weniger als 5 Jahren oder eine Geldstrafe von weniger als 5 Millionen Yen vorgesehen (weniger als 500 Millionen Yen im Fall von Unternehmen). Da die Strafhöhe eher gering ist, kann man davon ausgehen, dass der Effekt des Gesetzes ebenfalls gering ist. Zusammen mit der Auferlegung einer strafrechtlichen Sanktion muss allerdings auch der widerrechtlich erworbene Gewinn abgegeben werden (Art. 198-2).35 Im Fall eines zusätzlichen Zivilverfahrens kann eine Geldstrafe abzüglich der bereits geleisteten Gewinnrückzahlung auferlegt werden. Seit dem 1. April 2014 regelt Japan die Weitergabe von Informationen sowie die Empfehlung von Transaktionen durch Art. 166 des Financial Instruments and Exchange Act. Ein Verstoß gegen dieses Gesetz kann sowohl zivilrechtlich durch eine Geldbuße (Art. 175-2) als auch strafrechtlich (Art. 197-2-14) geahndet werden. Dadurch vergrößert sich die Kontrolle über den Insiderhandel, was die Transparenz erhöht und Japan näher an die Standards der internationalen Kapitalmärkte rückt.36 c) Deutschland Deutschland hat 1994 das Gesetz über den Wertpapierhandel (WpHG) verabschiedet, das seit Januar 1995 Anwendung findet. Mit Einführung des Gesetzes wurden die Vorschriften des Börsengesetzes in das WpHG übernommen.37 Es gibt innerhalb des WpHG sowohl Regelungen zum Insiund nach der Veröffentlichung dieser Information mit in die Strafzahlung der illegalen Transaktion eingeschlossen (Art. 175 Abs. 1). Jedoch ist die Herabsetzung der Strafzahlung für natürliche Personen in der Ergebnisrechnung zulässig (Art. 185-7-4), wenn der gleiche Betrag beschlagnahmt wird (Art. 185-7-5). 35 Kim (Fn. 29) S. 96 – 97. 36 Park, Im-chool: Regulation Strengthening of Insider Trading in Japan and Legal Suggestions, in: The Korean Journal of Securities Law, 15 (3) (2014), S. 289. 37 Hutter, Stephan/Kaulamo, Katja: Das Transparenzrichtlinie-Umsetzungsgesetz; Änderungen der anlassabhängigen Publizität, in: NJW 2007, S. 471, 500; Bundestag: Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie 2004/109/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Dezember 2004 zur Harmonisierung der Transparenzanforderungen in Bezug auf Informationen über Emittenten, deren Wertpapiere zum Handel auf einem geregelten Markt zugelassen sind, und zur Änderung der Richtlinie 2001/34/EG (Transparenzrichtlinie-Umsetzungsgesetz – TUG), in: Bundesgesetzblatt (BGBl.), Bonn 2007, Teil 1 Nr. 1, S. 10 (s.a. http:// www.bgbl.de/xaver/bgbl/start.xav?startbk=Bundesanzeiger_BGBl#_bgbl_%2F%2F*%5B% 40attr_id%3D%27bgbl107001.pdf%27%5D_1477205114859); Schwark, Eberhard/Zimmer, Daniel/Beck, Heiko u. a.: Kapitalmarktrechts-Kommentar, 4. Aufl., München 2010, S. 15.
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derhandel38 als auch zur Marktpreismanipulation.39 Die §§ 12 – 20 beinhalten das Verbot des Insiderhandels sowie die Regeln zur diesbezüglichen Überwachung durch die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin). § 12 WpHG definiert diejenigen Wertpapiere, die Objekt der Insiderüberwachung durch das WpHG sind („Insiderpapiere“). Dies gilt für Finanzinstrumente, die an einer deutschen Börse oder in einem anderen EU-Mitgliedstaat zum Handel an einem organisierten Markt zugelassen sind. Die Regelungen zum Insiderhandel in Deutschland folgen nicht dem traditionellen Ansatz mit Schwerpunkt auf den Unternehmensfunktionären. Vielmehr liegt der Fokus auf einer Beseitigung durch vorteilhafte Informationen verwirklichter, unfairer Gewinne und damit der Wahrung der Informationsungleichheit. § 13 WpHG enthielt ursprünglich die Definition eines Insiders. Zur Umsetzung der EU-Richtlinie wurde dieser Inhalt entfernt und stattdessen die EU-Regeln zur Insiderinformation an dieser Stelle kodifiziert. Ein Unterschied zur EU-Richtlinie besteht dahingehend, dass diese eine weiter greifende Definition des Insiders und der Insiderinformation enthält. Der Grund für diesen Unterschied liegt im Hauptziel der Regulierung des Insiderhandels: der Etablierung eines fairen Wertpapierhandels und eines soliden Marktes durch Kontrolle und Einschränkung unfairer Handelspraktiken, die auf einer Ausnutzung des Informationsgefälles beruhen. Vor diesem Hintergrund sah Deutschland es als zielführender an, seine Regelungen mit Fokus auf den Missbrauch von Informationen zu entwerfen. § 13 WpHG zufolge handelt es sich bei Insiderinformationen um (1) eine „konkrete Information“, die (2) „sich auf einen oder mehrere Emittenten von Insiderpapieren oder auf die Insiderpapiere selbst beziehen“, die ein (3) „verständiger Anleger […] bei seiner Anlageentscheidung berücksichtigen würde“ und die (4) „geeignet sind, im Falle ihres öffentlichen Bekanntwerdens den Börsen- oder Marktpreis der Insiderpapiere erheblich zu beeinflussen“. Anders als im Rahmen der EU-Richtlinie stellt § 13-2 WpHG klar: „Eine Bewertung, die ausschließlich auf Grund öffentlich bekannter Umstände erstellt wird, ist keine Insiderinformation, selbst wenn sie den Kurs von Insiderpapieren erheblich beeinflussen kann“. § 14 WpHG enthält das Verbot des Insiderhandels: § 14-1 verbietet die Verwendung einer Insiderinformation, während § 14-2 eine Ausnahme der Regelung für den Fall des Handels mit eigenen Aktien im Rahmen von Rückkaufprogrammen enthält.
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Vgl. WpHG §§ 12 (Insiderpapiere) 13 (Insiderinformation) 14 (Verbot von Insidergeschäften). 39 WpHG § 20a; im Jahr 2009 hat die BaFin bei 150 Verdachtsfällen in 60 Fällen Anzeige erstattet; in 15 Fällen erging ein Urteil. Siehe BaFin, Jahresbericht 2009, S. 185 ff.
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§ 20a und § 20b WpHG verbieten die Marktpreismanipulation und werden bundesweit von der Bundesanstalt für Finanzaufsicht (BaFin) überwacht. Die Wertpapieraufsicht in Deutschland ist dreigliedrig und besteht aus BaFin, den Finanz- und Wirtschaftsministerien der Länder und den Handelsüberwachungsstellen der Börsen. Zusammen organisieren die drei Instanzen die Regulierung und den Schutz von Emmittenten, Händlern und Investoren. Ein Verstoß gegen das Verbot des Insiderhandels wird mit einer Freiheitsstrafe von weniger als 5 Jahren oder einer Geldstrafe nach § 38-1 WpHG und § 39-4 WpHG geahndet. Ein Vergehen gegen das Verbot der Marktpreismanipulation kann, sofern dieses vorsätzlich begangen wurde, mit einer Geldstrafe von bis zu 1 Million Euro bestraft werden.40 d) Großbritannien Vor Einführung des „Financial Services and Market Act“ (FSMA) im Jahr 2000 gab es in Großbritannien ausschließlich strafrechtliche Regelungen bezüglich Insiderhandel und Kurspreismanipulation. Seidem ist unter dem Begriff Marktmissbrauch (market abuse), zu dem die Marktordnung negativ beeinflussende, unfaire Handelspraktiken wie Insiderhandel und Kurspreismanipulation gehören, sowohl die zivilals auch strafrechtliche Verfolgung möglich.41 § 118 des FSMA, der die Grundlage dieser Regelung darstellt, definiert Insiderhandel und Marktpreismanipulation als repräsentative Beispiele unfairer Handelspraktiken, welche die Marktordnung stören. Eine genauere Klassifizierung der die Marktordnung störenden Handlungen folgt in § 119. Handlungen, die die Marktordnung stören, werden grundsätzlich mit Geldbußen geahndet. Einige Praktiken, darunter Insiderhandel und Marktpreismanipulation, können zudem jedoch auch strafrechtliche Verfolgung nach sich ziehen. Der Grund, warum Großbritannien das Konzept des Marktmissbrauchs eingeführt hat, mag in der Schwierigkeit gelegen haben, auch kleinere Vergehen strafrechtlich verfolgen zu müssen. Unter den neuen Regelungen kann die strafrechtliche Bestrafung schwerwiegenden Fällen vorbehalten bleiben, während geringere Vergehen, die den ordentlichen Handelsverkehr negativ beeinflussen, zivilrechtlich geahndet werden können. Nach Einführung des „Marktmissbrauchs“ durch den FSMA im Jahre 2000 findet seit Juli 2005 zudem die Umsetzung der EU-Marktmissbrauchsrichtlinie (Market Abuse Directive) Anwendung.42 Hauptziele des britischen „Market abuse regime“ 40
Lee (Fn. 28) S. 35. Oh, Sung-keun, Reform of the Financial Supervision System of the UK and Legislative Suggestions, in: The Korean Journal of Securities Law, 15 (1) (2014), S. 281. 42 Die EU hat im Jahr 2003 zivilrechtliche Marktmissbrauchrichtlinien festgelegt in der Marktmissbrauchsverordnung (Market Abuse Regulation – MAD), die von den Mitglieds41
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sind der Investorenschutz durch das Verbot störender Praktiken wie Marktpreismanipulation und Missbrauch von Insiderinformationen um durch einen hohen gesetzlichen Standard ein erhöhtes Vertrauen in das Finanzsystem zu schaffen. Die Gerichte, wie auch die „Financial Conduct Authority“ haben das Recht, gegen alle Marktteilnehmer Geldbußen bei Verstößen gegen das Verbot der Marktstörung zu verhängen. Die FCA kann zudem im Rahmen der Verordnung von Unterlassungsoder Rückerstattungsverfügungen, das Gericht um die Auferlegung von Geldstrafen bitten, woraufhin das Gericht die Entrichtung einer angemessenen Geldstrafe verhängen kann. Ebenso kann der Name desjenigen, der gegen das Verbot der Marktstörung verstoßen hat, veröffentlicht werden. Alle Geldbußen werden nach Abzug einer Bearbeitungsgebühr der Staatskasse gutgeschrieben. Anders als in den USA, wo derartige Geldbußen zum Wohl der Investoren aufgewendet werden können, verfügt Großbritannien nicht über entsprechende Regelungen. e) Europäische Union Die EU hat 2014 die sogenannte „Market Abuse Directive“ (MAD I) überarbeitet, deren Regelungen zum Marktmissbrauch ein Vordbild für den § 178-2 des koreanischen Kapitalmarktgesetzes war. Ziel der Überarbeitung war sowohl die Verbesserung der vorhandenen Regelungen als auch die Ausfüllung gesetzlicher Lücken. Das Ergebnis ist ein Marktmissbrauchssystem zweiter Generation, die „MAD II“. Anders als MAD I besteht MAD II aus zwei Teilen. Die Inhalte der MAD I wurden komplett überarbeitet und in der europäischen Marktmissbrauchsverordnung „Market Abuse Regulation“ (MAR) zusammengefasst. Zusätzlich dazu gibt es eine Richtlinie strafrechtlicher Sanktionen, „CSMAD“.43 Während MAR ohne weitere legislative Schritte in allen EU-Mitgliedsländern Anwendung findet, erfordert CSMAD eine Umsetzung auf Landesebene. Wie auch am britischen Fall ersichtlich, führt die Richtlinie zu einer Angleichung gesetzlicher Lösungen in den Mitgliedsstaaten. Strafrechtliche Sanktionen können aus Gründen der nationalen Selbstbestimmung nur von den Ländern selbst verabschiedet werden. Dies macht eine Umsetzung der CSMAD durch die einzelnen Mitgliedsstaaten notwendig. Für die Länder, die sich für eine Umsetzung von CSMAD entschieden haben, wurde der 3. Juli 2016 als Frist gesetzt. Der Großteil der in MAD II enthaltenen Regelungen wird ab demselben Datum durchgesetzt. Im Vergleich zu MAD I fällt zum einen die ausgeweitete Definition des Markts, zum anderen der vom Gesetz betroffenen Anlageinstrumente auf. staaten in Gesetzesform kodifiziert werden muss. Die im Jahr 2014 weitaus stärkere strafrechtliche Regulierung durch MAD muss von allen Mitgliedsstaaten bis zum 3. 7. 2016 umgesetzt werden. 43 Directive 2014/57/EU of the Parliament and of the Council of 16 April 2014 on Criminal Sanctions for Market Abuse.
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Die Entwicklung und Aufteilung des Marktes zeigen sich dadurch, dass MAD II nicht nur den offiziellen Markt, sondern auch multilaterale Handelssysteme (Multilateral Trading Facility), organisierte Handelssysteme (Organized Trading Facility)44 und den außerbörslichen Handel (Over-the-Counter) umfasst. Die betroffenen Anlageinstrumente wurden ausgeweitet: MAD II umfasst auch außerbörsliche Derivate wie Swaps, CDS, etc., die einen Einfluss auf den Markt haben können. Ebenfalls betroffen ist der Handel mit Gold, Öl und Emissionsrechten sowie, sicherlich auch als Folge des Libor-Skandals, die Manipulation von Zinssätzen. Zum Anderen klärt MAD II sehr viel genauer als zuvor den Anwendungsbereich sowie die wichtigsten Faktoren des Insiderhandels. Unter MAD II gilt die unfaire Einflussnahme auf Derivaten zugrunde liegende Güter und Benchmark-Indizes (wie Libor) als Marktmanipulation. Verschiedene Arten des automatisierten Handels und Hochfrequenzhandels sind aufgrund ihrer möglichen Gefahr für den gesamten Markt verboten, genau wie bestimmte gekoppelte Geschäfte, die Güter wie auch deren Derivate beinhalten. Neben erweiterten Auskunftspflichten, etwa zu internen Informationen oder den Transaktionen bestimmter Unternehmensangehöriger (etwa Geschäftsführer), wurden ebenfalls Regeln zur versuchten Marktpreismanipulation hinzugefügt. Um die Durchführung der Regelungen zu optimieren, hat MAD II außerdem ein kooperatives System zwischen Regulierungsbehörden geschaffen und denselben Behörden weiterreichende Durchsuchungs- und Beschlagnahmungsrechte sowie das Recht, Kommunikationsaufzeichnungen zu verlangen, gewährt. Schutz und Belohnung von „Whistleblowern“ ist ein weiterer neuer Punkt. Das neue CSMAD verhängt strafrechtliche Sanktionen. Bereits Anstiftung zum Marktmissbrauch und versuchter Marktmissbrauch sind strafbar und auch Unternehmen können bestraft werden. Die Bestrafung auf Grundlage von CSMAD soll „effektiv, verhältnißmäßig und abschreckend“ sein.45 Wie zuvor erwähnt, haben die USA und Japan einen anderen Ansatz bezüglich unfairer Handelspraktiken als die EU und Großbritannien, die ein zweifaches Regulierungsregime verfolgen. In den USA und Japan kann aufgrund der vereinheitlichen Regelungen eine illegale Handlung sowohl als Marktmissbrauch als auch als kriminelle unfaire Handelspraktik erfasst werden. Fälle, die unter die Regelung des 10b-5 des SEA 1934 fallen, sowie Fälle, die unter §§ 157 – 167 des japanischen „Financial Instruments Exchange Act“ fallen, können also sowohl strafrechtlich als auch zivilrechtlich geahndet werden. Die Wahl der Bestrafung hängt von den zuständigen Aufsichtsbehörden ab. Faktoren wie die Art der illegalen Aktivität, Einfluß auf den Markt und auch die öffentliche Meinung spielen bei der Entscheidung eine Rolle. Wenn der Fall als wichtig bzw. 44 Auffangbegriff von zum Austausch und Wertpapieren genutzte Handelssysteme, bei denen es sich nicht um Börsen oder MTFs handelt. 45 Seong (Fn. 11) S. 147 – 149.
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schwerwiegend angesehen wird, erfolgt eine Übergabe an die Justizbehörden sowie eine strafrechtliche Verfolgung. In den USA wird nur eine sehr geringe Zahl an Gesetzesüberschreitungen strafrechtlich verfolgt, während die Mehrheit außergerichtlich durch die SEC geregelt wird.46 Die „Civil Money Penalty“ der SEC und die „Financial Penalty“ der FCA tragen sowohl zivil- als auch strafrechtliche Züge und werden als wichtige Instrumente gegen unfaire Handelspraktiken verwendet. Japans Vorgehen gegen unfaire Handelstätigkeiten ist dem koreanischen sehr ähnlich, Japan macht jedoch weit aktiveren Gebrauch von Geldstrafen bei zahlreichen Arten unfairer Transaktionen.47 Die USA und Japan folgen einem zweigleisigen Modell der Anwendung strafrechtlicher Sanktionen (generelle Anwendung) und Geldbußen (optionale Anwendung) auf Grundlage zuvor spezifizierter unfairer Aktivitäten (Insiderhandel, Marktpreismanipulation, illegale Transaktionen). Großbritannien hat dagegen den Begriff des Marktmissbrauchs eingeführt, um die Effektivität der bestehenden (vorwiegend strafrechtlichen) Regelungen zu erhöhen und Grauzonen zu verringern. Zusammenfassend werden unfaire Transaktionen in den USA und Japan durch anti-Betrugsvorschriften und in England durch das Instrument des Marktmissbrauchs geregelt. Auch die Auferlegung von Geldbußen ist durch diese Instrumente festgelegt.48
IV. Schlussbemerkungen Die weiterhin schnell voranschreitende Annäherung Koreas an die Weltwirtschaft hat zu einer lauter werdenden Forderung nach erhöhter Transparenz und verbesserter internationaler Wettbewerbsfähigkeit geführt. Ein stabiler und zuverlässiger Kapitalmarkt ist dabei eines der wichtigsten Voraussetzungen. Zur Erreichung dieses Ziels sind vor allem eine schnelle Aufdeckung und effektive Bestrafung unfairer Handelspraktiken sowie die Existenz von Regelungen bezüglich der Wiedergutmachung zu unrecht erzielter Gewinne wichtig. Die Einführung des „Verbots der Marktstörung“ unter § 174 zu den bereits vorhandenen drei wichtigen Beschränkungen unfairer Handelspraktiken – des Verbots der Verwendung von Insiderinformationen, Kurspreismanipulation und illegaler Handelspraktiken – war ein wichtiger Schritt für das koreanische Kapitalmarktrecht. Des Weiteren hat sich durch die Einführung des Tatbestands der „Marktstörungsaktivitäten“ eine Verschiebung der Regulierungen gegen unfaire Handelspraktiken von strafrechtlichen Sanktionen zu zivilen Strafen vollzogen. Dies bedeutet ebenfalls eine Verschiebung von Aufgaben und Verantwortlichkeiten von der Staatsanwalt-
46
Seong (Fn. 11) S. 150. Kim (Fn. 29) S. 80 – 81. 48 Kim (Fn. 29) S. 102. 47
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schaft in Richtung FSC. Dadurch nimmt auch die Bedeutung der Zusammenarbeit und des gegenseitigen Austauschs zu. Wie gezeigt, wurde innerhalb der vergangenen Jahre die Regulierung illegaler Aktivitäten systematisch ausgebaut um sowohl das Ziel einer stabileren Gesellschaftsordnung als auch das eines verbesserten Investorenschutzes zu erreichen. Vor dem Hintergrund des trotz dieser Anstrengungen stetig zunehmenden Vorkommens unfairer Handelspraktiken muss jedoch weiterhin nach Wegen gesucht werden, das bestehende System zu verbessern. Wie am Beispiel der USA, Japans, Deutschlands und Großbritanniens zu sehen ist, finden Geldstrafen wegen unfairer Handelspraktiken weite Anwendung. Auch in Korea wurden kürzlich mit dem § 178-2 und dem sich auf Marktstörungsaktivitäten beziehenden Strafsystem des § 429-2 entsprechende Regelungen eingeführt. Die koreanische Regierung unternimmt Anstrengungen, das im Bezug auf unfaire Handelspraktiken schwache regulatorische System zu verbessern und damit die internationale Wettbewerbsfähigkeit zu fördern. In diesem Zusammenhang ist besonders § 178-2 Kapitalmarktgesetz, sobald er tatsächlich Anwendung finden wird, eine wichtige legislative Maßnahme, die eine qualitative Verbesserung für die Marktteilnehmer bezüglich unfairer Handelspraktiken bewirken kann.
Saiban? – Nein, Shinpan! Ein weiteres Instrument der japanischen Judikative? Hier: Verwaltungsrechtliche Streitigkeiten Von Heinrich Menkhaus Koresuke Yamauchi hat sich einmal in einer für ihn ungewöhnlichen Schärfe zum Zustand der japanischen Rechtspflege geäußert.1 Er schreibt: „Nach neuerer Überzeugung ist der Grund für die geringe Anzahl von Prozessen nicht der Nationalcharakter, sondern die Mangelhaftigkeit des Systems der gerichtlichen Auseinandersetzung.“ In der zugehörigen Fußnote heißt es dazu: „Anhand eines typischen Falles soll diese Problematik gezeigt werden: X hat Y ein Haus für eine Monatsmiete von 100.000 Yen vermietet. Sechs Monate nach Vertragsschluss wurde die Miete nur noch teilweise gezahlt. Nach weiteren sechs Monaten gar nicht mehr. In der Zwischenzeit hatte X erfolglos versucht, mit Hilfe eines Rechtsanwaltes sein Recht durchzusetzen. Schließlich erhob X Zahlungsklage in Höhe von 1 Mio. Yen. Drei Monate nach Rechtshängigkeit wurde auf Vorschlag des Richters ein Vergleich geschlossen, nach dem Y das Haus innerhalb von zwei Monaten, für die die volle Miete zu zahlen sei, zu verlassen habe, und X auf seine Forderung im Übrigen verzichte. Der Grund für diese Regelung bestand darin, dass es X darauf ankam, so schnell wie möglich das Haus zurückzuerhalten. Aber auch der Vergleich wurde von Y nicht eingehalten. Drei Monate nach dessen Abschluss stellte X deshalb Antrag auf Zwangsvollstreckung. Allein die Kosten beliefen sich für X auf 3. Mio. Yen. Der Betrag setzt sich zusammen aus der mangelnden Mietzahlung, den Kosten der Zwangsvollstreckung, den Anwaltskosten und den Prozesskosten. Der Fall illustriert die Mangelhaftigkeit des Systems.“ Diese auffällige Einlassung ist der Hintergrund für die hiesige Wahl des Themas zum japanischen Rechtspflegesystem.
1 Yamauchi, Koresuke: Was ist japanisches Recht?, in: Bork, Reinhard/Hoeren, Thomas/ Pohlmann, Petra (Hg.), Recht und Risiko. Festschrift für Helmut Kollhosser zum 70. Geburtstag. Band II Zivilrecht, Karlsruhe 2004, S. 799, 803.
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I. Einleitung Der Verfasser hat an anderer Stelle2 versucht, die Systematik der verschiedenen Formen der Streitbeilegung bei zivilrechtlichen Streitigkeiten in Japan zu ergründen. Er hat sich dabei an den jeweils zur Verfügung gestellten Verfahren orientiert, in denen ein neutraler Dritter auftritt. Er hat sich gleichzeitig bemüht, diesen Verfahren eine adäquate deutschsprachige Bezeichnung zu geben. Als Verfahren wurden unterschieden: assen (Vermittlung), cho¯tei (Schlichtung), chu¯sai (Schiedsverfahren), sosho¯ (Prozess) und shinpan. Den shinpan hat er in Ermangelung einer einhelligen deutschsprachigen Übersetzung und weil der Begriff, soweit ersichtlich, im deutschen Sprachraum noch nicht anderweitig auf Erscheinungsformen des japanischen Rechtssystems angewandt wird, Verständigung genannt. Nun gibt es den Begriff shinpan in Japan aber auch im Rahmen der Streitbeilegung in öffentlichrechtlichen Streitigkeiten, u. a.3 im japanischen Verwaltungsverfahrensrecht: gyo¯sei shinpan. Hier wird deshalb der Versuch unternommen, die Rechtsnatur dieses shinpan zu ergründen. Dabei ist zunächst auf die Dogmatik einzugehen. Mit dieser wird geklärt, was ein judikatives Instrument und der saiban sind. Dann ist anhand der einzelnen verwaltungsverfahrensrechtlichen shinpan zu untersuchen, welche Funktion diese haben, was eine Definition ermöglicht. Mit dem Ergebnis kann gleichzeitig eine dogmatische Einordnung des shinpan in die verwaltungsverfahrensrechtliche Streitbeilegung in Japan geleistet werden, was eine Beantwortung der Ausgangsfrage, ob es sich beim gyo¯sei shinpan um einen judikatives Instrument handelt, erlaubt. Abschließend wird versucht, einige klärungsbedürftige Folgefragen aufzuwerfen und eine adäquate deutsche Übersetzung des Begriffes zu geben.
II. Dogmatik: Judikatives Instrument und saiban Der Staat hat das Gewaltmonopol. Er lässt die private Gewaltanwendung zur Lösung von Streitigkeiten nicht zu, sondern stellt eine eigene Teilgewalt für die Streitbeilegung zur Verfügung, die Judikative. Das bedeutet freilich nicht, dass er bei jeder Streitigkeit die Parteien zwingt, sich der Judikative zu bedienen. Vielmehr lässt er es zu, dass sich die Parteien außerhalb der Judikative einigen, mitunter fördert er dieses Verhalten sogar, z. B. in dem er einen Vergleich der Parteien (wakai) als mit den Zwangsmitteln des Staates vollstreckbar erklärt. Diese beiden grundlegenden Formen der Streitbeilegung (funso¯ kaiketsu) werden in Japan mit den beiden Begriffen 2 Menkhaus, Heinrich: Alternative Streitbeilegung in Japan – Entwicklung bis zum ADRGesetz 2004, in: Hengstl, Joachim/Sick, Ulrich (Hg.), Recht gestern und heute. Festschrift zum 85. Geburtstag von Richard Haase, Wiesbaden 2006, S. 281, 282 f. 3 Auch im Bereich des Strafverfahrensrechts bei Strafverfahren gegen Jugendliche (sho¯nen shinpan) und Schiffsführer (kainan shinpan).
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saiban und saiban gai erfasst. Letzteres kann außerhalb des saiban, oder auch mit nicht-saiban übersetzt werden. saiban steht für Entscheidung. In der Regel sind es Urteil (hanketsu), Beschluss (kettei) und Verfügung (meirei). Allerdings müssen für diese Entscheidung drei Voraussetzungen erfüllt sein: Es entscheidet ein Spruchkörper der Judikative (shiho¯ ken), der Gericht (saiban sho) genannt wird und seine Regelung im Gerichtsgesetz4 gefunden hat, es geht um eine dem Recht verpflichtete Beurteilung (ho¯teki handan), d. h. sowohl das auf die Entscheidung hinführende Verfahren als auch die Entscheidung über die dem Verfahren zugrundeliegende Streitigkeit, folgen rechtlichen Vorgaben, und es geht um eine bestimmte Verfahrensart, nämlich das kontradiktorische Verfahren, welches Prozess (sosho¯) genannt wird. Zusammengefasst bedeutet saiban also eine dem Recht verpflichtete gerichtliche Entscheidung in einem Prozess. Verwaltungsrechtliche Prozesse werden in Japan seit 1947 vor den Gerichten der ordentlichen Gerichtsbarkeit (tsu¯jo saiban ken) ausgetragen. Das Verfahren des verwaltungsgerichtlichen Prozesses folgte zunächst in Ermangelung eines passenden Prozessgesetzes dem Zivilprozessgesetz5, dessen Regeln 1948 um das Sondergesetz über den Prozess in Verwaltungssachen6 ergänzt wurden, um dann 1962 durch das Gesetz über den Prozess in Verwaltungssachen7 ersetzt zu werden. Das bedeutet indes nicht, dass der Prozess in Verwaltungssachen ausschließlich auf die Verfahrensregeln dieses Gesetzes beschränkt ist. Zum Teil ausdrücklich, teilweise analog, finden Bestimmungen des Zivilprozessgesetzes Anwendung. Die Voraussetzungen für einen saiban im Bereich des Verwaltungsrechts sind also erfüllt. Zugleich aber hat die Definition des saiban mit dem Erfordernis des Vorliegens dreier Merkmale erkennen lassen, dass es auch andere judikative Instrumente geben kann. Ein Beispiel dafür ist die Freiwillige Gerichtsbarkeit. Sie wird in Japan Verfahren in nicht prozessualen Angelegenheiten (hi sosho¯ jiken) genannt, ist aber den Gerichten zugeordnet und verfügt über ein eigenes Verfahrensgesetz.8 Deshalb 4
saibansho ho¯, Gesetz Nr. 59/1947, zuletzt geändert durch Gesetz Nr. 48/2013. minji sosho¯ ho¯, seinerzeit Gesetz Nr. 29/1890, deutschsprachige Übersetzung in der Fassung des Gesetzes Nr. 100/1971 bei Nakamura, Hideo/Huber, Barbara: Einführung in das japanische Zivilprozessrecht, Köln 1978, S. 40 ff. Nach umfassender Überarbeitung neuverkündet als Gesetz Nr. 109/1996, zuletzt geändert durch Gesetz Nr. 30/2012, deutschsprachige Übersetzung in der Ursprungsfassung bei Heath, Christopher/Petersen, Anja: Das japanische Zivilprozessrecht, Tübingen 2002, S. 33 ff. und in der Fassung des Änderungsgesetzes Nr. 152/2004 bei Nakamura, Hideo/Huber, Barbara: Die japanische ZPO in deutscher Sprache, Köln u. a. 2006, S. 81 ff. 6 gyo¯sei jiken sosho¯ tokurei ho¯, Gesetz Nr. 41/1948, außer Kraft gesetzt durch Gesetz Nr. 139/1962. 7 gyo¯sei jiken sosho¯ ho¯, Gesetz Nr. 138/1962, zuletzt geändert durch Gesetz Nr. 59/2015, deutsche Übersetzung auf der Basis der Ursprungsfassung bei Ködderitzsch, Lorenz: Das japanische Verwaltungsprozessgesetz, in: Zeitschrift für japanisches Recht 5 (1998) 146 ff. 8 hi sosho¯ jiken tetsuzuki ho¯, nach vollständiger Überarbeitung und Neubekanntmachung Gesetz Nr. 51/2013. Es bleibt hier ausdrücklich offen, ob dieses Verfahren den Begriff saiban rechtfertigt. 5
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könnte auch der shinpan ein judikatives Instrument sein. Um das für den Bereich der verwaltungsverfahrensrechtlichen shinpan zu ermitteln, sind diese zunächst vorzustellen.
III. Verwaltungsverfahrensrechtliche shinpan Entsprechend dem Zusammenspiel von Prozess- und Gerichtsverfassungsrecht ist zum Verständnis der Rechtsnatur der verwaltungsverfahrensrechtlichen shinpan auf deren Spruchkörper und Verfahren einzugehen. Die Regelungen dazu aber finden sich nicht in den allgemeinen verwaltungsverfahrensrechtlichen Vorschriften nach dem Gesetz über das Verwaltungsverfahren9 oder dem Gesetz über das Widerspruchsverfahren in Verwaltungssachen10 oder dem schon angesprochenen Gesetz über den Prozess in Verwaltungssachen, sondern in besonderen Verwaltungsverfahrensgesetzen, die das Verwaltungsverfahren in einzelnen Gebieten des Besonderen Verwaltungsrechts (gyo¯sei ho¯ kakuron) regeln. Streng genommen müssten hier alle verwaltungsverfahrensrechtlichen shinpan vorgestellt werden. Das indes würde nicht nur den Rahmen eines Aufsatzes sprengen, sondern angesichts der vielen Einzelheiten verwirren. Deshalb werden hier nur drei – allerdings die Wichtigsten – Rechtsgebiete des Besonderen Verwaltungsrechts herausgegriffen, die einen shinpan kennen. Die Reihenfolge der Darstellung wird dabei durch das Datum der Einführung des jeweiligen shinpan festgelegt. 1. Gewerblicher Rechtsschutz Der älteste verwaltungsverfahrensrechtliche shinpan existiert auf dem Gebiet der gewerblichen Schutzrechte (ko¯gyo¯ shoyu¯ ken oder sangyo¯ zaisan ken). Diese umfassen Patent (tokkyo), Gebrauchsmuster (jitsuyo¯ shin’an), Geschmacksmuster (isho¯), und Warenzeichen (sho¯hyo¯). Ihnen ist gemeinsam, dass sie zu ihrer Wirksamkeit der Eintragung in ein Register bedürfen. Damit betraut ist die Verwaltung. Unter der Ädige der US-amerikanischen Besatzungsadministration nach dem Ende des Pazifischen Krieges (1945 – 1952) ist die Zuständigkeit dafür 1949 in eine Agentur (cho¯) mit dem Namen Patentagentur (tokkyo cho¯) in den Geschäftsbereich des seinerzeitigen Ministeriums für Handel und Industrie (tsu¯sho¯ sangyo¯ sho¯), heute Ministerium für Wirtschaft und Industrie (keizai sangyo¯ sho¯), überführt worden.
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gyo¯sei tetsuzuki ho¯, Gesetz Nr. 88/1993, zuletzt geändert durch Gesetz Nr. 70/2014, deutsche Übersetzung auf der Basis der Ursprungsfassung bei Sakurada, Yoshiaki/Bölicke, Thoralf: Deutsche Übersetzung des neuen japanischen Gesetzes über das Verwaltungsverfahren, in: Zeitschrift für japanisches Recht 5 (1998) 169 ff. 10 gyo¯sei fufuku shinsa ho¯, eigentlich Gesetz Nr. 68/1962, nach vollständiger Überarbeitung und Neubekanntmachung Gesetz Nr. 68/2014.
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Der shinpan ist nicht von Anfang an im Rahmen des Verwaltungsverfahrens der Anmeldung (shutsu gan), Untersuchung (shinsa), usw. der gewerblichen Schutzrechte existent gewesen. Vielmehr hat er sich erst 1899 im System der Rechtsbehelfe auf dem Gebiet des Gewerblichen Rechtsschutzes11, das auch andere Rechtsbehelfe kennt, etabliert. Das erste Patentgesetz Japans, die summarischen Monopolvorschriften von 1871 (senbai ryaku kisoku), erwies sich als verfrüht. Es kam zu keiner Anmeldung. Der zweite Versuch mit dem Monopolpatentdekret (senbai tokkyo jo¯rei) 1885 war erfolgreicher. Dieses folgte der ersten gesetzlichen Regelung des Warenzeichens, welche unter dem Namen Warenzeichendekret (sho¯hyo¯ jo¯rei) schon ein Jahr vorher, im Jahre 1884 geschaffen worden war. 1888 wurde das Monopolpatentdekret durch ein Patentdekret (tokkyo jo¯rei) ersetzt und zugleich das Warenzeichendekret reformiert. Gleichzeitig kam ein Geschmacksmusterdekret (isho¯ jo¯rei) hinzu. Hier fanden sich, soweit ersichtlich, erstmals Rechtsbehelfe des Anmelders oder betroffener Dritter. Die nächste Reform des gewerblichen Rechtsschutzes stand im Zusammenhang mit der Aufhebung der sogenannten „ungleichen Verträge“.12 Als eine Voraussetzung dafür hatten die Vertragsstaaten den Beitritt Japans zur Pariser Verbandsübereinkunft gefordert. Das wiederum erforderte die Änderung der bestehenden Gesetze, die ab 1899 Patentgesetz13, Geschmacksmustergesetz14 und Warenzeichengesetz15 genannt wurden. Mit ihnen wurde ein zweistufiges verwaltungsverfahrensrechtliches Rechts11 Zur Geschichte des Gewerblichen Rechtschutzes in Japan siehe Jizuka, Hanye: Japanisches Industrierecht, Berlin 1926; Rahn, Guntram: Gewerblicher Rechtsschutz, in: Eubel, Paul u. a.: Das japanische Rechtsystem, Frankfurt am Main 1979, S. 417 ff.; Sonderhoff, Hartwig: Das Japanische im japanischen Warenzeichenrecht, in: Menkhaus, Heinrich (Hg.), Das Japanische im japanischen Recht, München 1994, S. 319 ff.; Shibuya, Tatsuki, ebendort, S. 333 ff.; Heath, Christopher: Intellectual Property and Anti-Trust, Patent Law, Utility Model Law, Design Law und Trade Mark Law, alles in: Röhl, Wilhelm (Hg.), History of Law in Japan Since 1868, Leiden/Boston 2005, S. 402 ff.; Uemura, Shozo/Kato, Hiroshi: Japan’s History of Intellectual Property Policy and Patent Act, in: Hansen, Bernd/Schüssler-Langeheine, Dirk (Hg.): Patent Practice in Japan and Europe. Liber Amicorum for Guntram Rahn, Alphen aan den Rijn 2011, S. 67 ff.; Rahn, Guntram/Schüssler-Langheine, Dirk/Dernauer, Mark/Petersen-Padberg, Anja/Steins, Clemens Tobias/Dehner, Alexander: Patent- und Gebrauchsmusterrecht, in: Baum, Harald/Bälz, Moritz (Hg.), Handbuch Japanisches Handels- und Wirtschaftsrecht, Köln 2011, S. 840 ff. 12 Zu der Bedeutung der „ungleichen Verträge“ siehe Menkhaus, Heinrich: Deutsche Juristen in Japan während der Meiji-Zeit – Probleme bei der wissenschaftlichen Aufarbeitung ihrer Arbeit, in: Shin, Yu-Cheol (Hg.), Rezeption europäischer Rechte in Ostasien. Bobmunsa: Seoul 2013, S. 71 ff. und ders.: Dokkyo¯ Universität und Vermittlung deutschen Rechts in Japan, seit Januar 2012 auf der homepage der Dokkyo¯ Universität unter der Adresse http:// www.dokkyo.ac.jp/kokuse/pdf/2011/menkhaus_all.pdf. 13 tokkyo ho¯, Gesetz Nr. 36/1899; deutschsprachige Übersetzung in der Ursprungsfassung bei Brunn, Paul/Tamai, Kisak(u): Das japanische Patentgesetz, Berlin 1900. 14 isho¯ ho¯, Gesetz Nr. 37/1899. 15 sho¯hyo¯ ho¯, Gesetz Nr. 38/1899.
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behelfssystem eingeführt, dass bei der Zurückweisung der Anmeldung des Schutzrechts den Anspruch auf erneute Untersuchung (sai shinsa seikyu¯) kannte, dem, falls die Zurückweisung aufrechterhalten blieb, eine weitere Einwendung folgen konnte. Für diese zweite war ein shinpan eingerichtet. Als dritte Rechtsbehelfsinstanz wird schließlich der daishin’in, der Vorläufer des heutigen Obersten Gerichtshofs (saiko¯ saiban sho) genannt. 1905 kommt zu dem Reigen der schon bestehenden Gesetze des Gewerblichen Rechtsschutzes das Gebrauchsmustergesetz16 hinzu. Der Aufschwung der Industrie nach dem russisch-japanischen Krieg (1904 – 1908), den Japan gewann, brachte eine umfassende Änderung der vier Gesetze.17 Weitere Änderungen, die der internationalen Rechtsentwicklung Rechnung trugen, erfolgten im Jahre 192118 und 192919. Die heute geltenden Gesetze zum Gewerblichen Rechtschutz stammen aus dem Jahre 1959. Sie wurden seither allerdings mehrfach verändert. Ein einheitliches Gesetz über das Verwaltungsverfahren in Angelegenheiten des Gewerblichen Rechtsschutzes gibt es nicht. Das macht die Rechtslage unübersichtlich. Hier wird als Beispiel deshalb lediglich das Verwaltungsverfahren nach dem Patentgesetz20 vorgestellt. 16
jitsuyo¯ shin’an ho¯, Gesetz Nr. 21/1905; deutschsprachige Übersetzung in der Ursprungsfassung bei Tamai, Kisak(u): Gebrauchsmuster-Gesetz, in: Ostasien 8 (1905) 281 ff. 17 Patentgesetz, Gesetz Nr. 23/1909; Geschmacksmustergesetz, Gesetz Nr. 24/1909; Warenzeichengesetz, Gesetz Nr. 25/1909 und Gebrauchsmustergesetz, Gesetz Nr. 26/1909; deutschsprachige Übersetzung in der jeweiligen Ursprungsfassung bei Lönholm, Ludwig Hermann: Die neuen japanischen und koreanischen Gesetze über Patente, Handelsmarken, Muster und Gebrauchsmuster, Yokohama 1910 und die dazu ergangenen Durchführungsbestimmungen bei Vogt, Karl: Ergänzungsbestimmungen zu den neuen japanischen Gesetzen betreffend den Schutz des gewerblichen Eigentums nebst den Patent-, Handelsmarken-, Muster- und Gebrauchsmusterordnungen für Korea, Tokio/Yokohama/Leipzig 1910. 18 Patentgesetz, Gesetz Nr. 96/1921; Gebrauchsmustergesetz, Gesetz Nr. 97/1921; Geschmacksmustergesetz, Nr. 98/1921 und Warenzeichengesetz, Gesetz Nr. 99/1921; deutschsprachige Übersetzung jeweils in der Ursprungsfassung bei Vogt, Karl: Die japanischen Gesetze über Patente, Gebrauchsmuster, Muster und Warenzeichen, Yokohama 1921 und gleichlautend zusammen mit den Ausführungsbestimmungen bei ders.: Die Japanischen Gesetze über Patente, Gebrauchsmuster, Muster und Warenzeichen in der Fassung der Gesetze vom 29. April 1921, Berlin 1927. 19 Patentgesetz, Gesetz Nr. 47/1929; Gebrauchsmustergesetz, Gesetz Nr. 48/1929; Geschmacksmustergesetz, Gesetz Nr. 49/1929; Warenzeichengesetz, Gesetz Nr. 50/1929; deutschsprachige Übersetzung nebst Ausführungsbestimmungen bei Vogt, Karl: Die japanischen Gesetze zum Schutze des gewerblichen und geistigen Eigentums, Tokio 1932. 20 Patentgesetz, Gesetz Nr. 121/1959, zuletzt geändert durch Gesetz Nr. 108/2016, deutschsprachige Übersetzungen in der Ursprungsfassung bei Buchert, R.: Das japanische Patentgesetz von 1959, in: Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht – International (GRUR Int.) 1961, 169 ff.; in der Fassung des Änderungsgesetzes Nr. 116/1994, in: Blatt für Patente, Muster und Zeichen 1997, 128 – 144 und 179 – 193; in der Fassung des Änderungsgesetzes Nr. 68/1996, in: Blatt für Patente, Muster und Zeichen 1998, 76 f. (nur die Änderungen); in der Fassung des Änderungsgesetzes Nr. 220/1999, in: Blatt für Patente, Muster und Zeichen 2002, 238 ff. (nur die Änderungen); in der Fassung des Änderungsgesetzes Nr. 55/2006 bei Blumenthal, H.: Blatt für Patent-, Muster- und Zeichenwesen 2008, 313 ff.
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Von den in Rede stehenden Gesetzesänderungen war auch das Verwaltungsverfahren in Patentsachen betroffen. Im Jahre 1970 wurde die Offenlegung der Anmeldung (shutsu gan ko¯kai) eingeführt. Bis 1994 kannte Japan die Bekanntmachung (ko¯koku) der geprüften Anmeldung vor der eigentlichen Patenterteilung um Einwendungen zu ermöglichen. 2005 wurde beim Obergericht (ko¯to¯ saiban sho) Tokyo ein besonders eingerichtetes Obergericht für geistiges Eigentum (chiteki ko¯to¯ saiban sho) geschaffen, das für Rechtsbehelfe gegen einige verwaltungsverfahrensrechtliche Entscheidungen ausschließlich zuständig ist. Nach der gegenwärtigen Rechtslage21 ist im Verfahren der Patentagentur folgender Verfahrensablauf zu beachten. Das Patent wird angemeldet (shutsu gan), die Anmeldung wird nach einer gewissen Zeit ungeprüft veröffentlicht (shutsu gan ko¯kai), und auf Antrag beginnt die Prüfung (shinsa seikyu¯) der Eintragungsfähigkeit. Diese kann sowohl mit der Zurückweisung der Anmeldung (kyosetsu satei), als auch mit der Zulassung (tokkyo satei) des Patents enden. Wird die Anmeldung zurückgewiesen, kann der Anmelder die Durchführung eines shinpan beantragen (shinpan seikyu¯). Träger des shinpan ist eine Abteilung der Patentagentur, die den Namen shinpan-Abteilung (shinpan bu) trägt. Sie verfügt über Mitarbeiter, von denen einige shinpan kan genannt werden. Diese arbeiten als shinpan-Spruchkörper (shinpan go¯gitai) in der Besetzung von jeweils drei oder fünf Personen zusammen. Die Spruchkörper stehen unter der einheitlichen Leitung eines shinpan-Vorsitzenden (shinpan cho¯). Bei einer Zurückweisung der Anmeldung seitens der Patentagentur wird das Verfahren, das sich mit der Einwendung des Anmelders befasst, kyosetsu satei fufuku shinpan genannt. Der shinpan-Antrag löst eine formale Untersuchung (ho¯shiki cho¯sa) des Antrags durch die zuständigen Mitarbeiter der shinpan-Abteilung aus. Erweist sich dabei, dass der Antrag Mängel aufweist, die nicht heilbar sind, z. B. der Antrag ist verspätet, oder nicht von allen in der Anmeldung genannten Erfindern eingereicht worden, wird der Antrag auf Durchführung des shinpan mit einer Entscheidung zurückgewiesen, die die Bezeichnung shinketsu kyakka trägt. Dagegen ist ein Rechtsbehelf zum besonders eingerichteten Obergericht für geistiges Eigentum in Tokyo gegeben. Erweisen sich die Mängel als heilbar, ergeht eine Aufforderung an den Antragsteller, die 21 Zur alten Rechtslage vergleiche: Someno,Yoshinobu/Someno, Keiko: Patent Office and Court Procedure in Japan, in: International Review of Intellectual Property and Competition Law (IIC) 1 (1974) 44 ff.; Rahn (Fn. 11) 417, 425 ff.; Japanese Patent Office: Guide to Industrial Property in Japan, Tokyo 1988; Someno, Keiko: Grundlage und Probleme des japanischen Patentrechts, in: Rahn, Guntram/Scheer, Matthias (Hg.), Gewerblicher Rechtsschutz in Deutschland und Japan, Hamburg 1995, S. 21 ff.; Negishi, Akira: Wettbewerb, Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht, in: Baum, Harald/Drobnig, Ulrich (Hg.), Japanisches Handels- und Wirtschaftsrecht, Berlin u. a. 1994, S. 360, 383 ff.; Hinkelmann, Klaus: Gewerblicher Rechtsschutz in Japan, Köln u. a. 2004; ders.: Gewerblicher Rechtsschutz in Japan, 2. Aufl., Köln u. a. 2008; Rahn, Guntram/Schüssler-Langeheine, Dirk/Dernauer, Mark/Petersen-Padberg, Anja/Steins, Clemens Tobias/Dehner, Alexander: (Fn. 11) 897 ff.; Shiroyama, Yasufumi: Intellectual Property Rights, in: Anderson Mori & Tomotsune (Hg.), Japanese Business Law and Practice, Hongkong u. a. 2012, S. 89 ff.
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Mängel zu beheben (hosei shirei). Erfolgt das nicht, wird der Antrag auf Durchführung des shinpan wiederum zurückgewiesen, nun aber unter einer anderen Bezeichnung, nämlich als kettei kyakka, der als nächsten Rechtsbehelf den Weg in das Widerspruchsverfahren nach dem Gesetz über das Widerspruchsverfahren in Verwaltungssachen eröffnet. Sind keine formalen Mängel erkennbar und werden zusammen mit dem Antrag keine Anspruchsänderungen, Änderungen der Beschreibung oder der Zeichnungen eingereicht, entscheidet ein shinpan-Spruchkörper auf der Basis der Unterlagen der Patentagentur darüber, ob tatsächlich ein Versagungsgrund für die Erteilung des Patents besteht. Je nach Untersuchungsergebnis kann in einer Entscheidung, die shinketsu genannt wird, das Patent erteilt, oder die Einwendung zurückgewiesen werden. Der Spruchkörper kann die Sache aber auch zur weiteren Untersuchung an die Prüfungsabteilung der Patentagentur zurückverweisen (shinsa ni modosu). Wird die Einwendung durch shinketsu zurückgewiesen, bleibt als weiterer Rechtsbehelf nur noch der Prozess auf Anfechtung der Entscheidung (shinketsu torikeshi sosho¯). Dieser Prozess ist beim besonderen Obergericht für geistiges Eigentum in Tokyo anhängig zu machen. Ein Rechtsbehelf gegen die Entscheidung des Obergerichts beim Obersten Gerichtshof ist der letzte mögliche. Sind keine formalen Mängel erkennbar, werden aber zusammen mit dem Antrag Anspruchsänderungen, Änderungen der Beschreibung oder der Zeichnungen eingereicht, so wird der Antrag zunächst dem mit der Prüfung der zurückgewiesenen Anmeldung befassten Prüfer vorgelegt. Er untersucht, ob der Einwendung aufgrund der eingereichten Änderungen abgeholfen werden kann (zenchi cho¯sa). Dabei hat er zu prüfen, ob die Änderungen zulässig sind, die dem Anmelder genannten Zurückweisungsgründe durch diese Änderungen ausgeräumt werden und ob nicht vielleicht noch andere Zurückweisungsgründe für die Anmeldung bestehen. Soweit die eingereichten Änderungen zulässig sind, die genannten Zurückweisungsgründe durch die eingereichten Änderungen ausgeräumt sind und sich kein neuer Zurückweisungsgrund zeigt, wird der Einwendung seitens des Anmelders durch eine Patenterteilung (tokkyo satei) abgeholfen. Ist der Prüfer der Auffassung, dass der Einwendung nicht abgeholfen werden kann, erstellt er, ohne eine abschließende Entscheidung über die Einwendung zu treffen, einen Bericht (cho¯sa kekka no ho¯koku) an den Präsidenten der Patentagentur (tokkyo cho¯ cho¯kan). Auf der zusätzlichen Basis dieses Berichts wird dann das Verfahren vom shinpan-Spruchkörper weitergeführt. Dieser kann dann die schon genannten drei Entscheidungen fällen. Die weiterführenden Rechtsbehelfe sind ebenfalls dieselben. Ist das Patent erteilt, können Dritte gegen dessen Wirksamkeit vorgehen. Dazu gab es grundsätzlich zwei Rechtsbehelfe, die parallel angeboten werden: Zum einen der Einspruch (igi mo¯shitate), zum anderen der Nichtigkeits-shinpan (muko¯ shinpan). Der Rechtsbehelf Einspruch wurde mit der Änderung des Patentgesetzes im Jahre 2003 abgeschafft, weil die hohe Zahl der Verfahren ab dem Jahre 1997 die Patent-
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agentur überforderte, aber durch Gesetzesänderung im Jahre 2015 wieder eingeführt. Seinem Namen Einspruch entsprechend, richtet er sich eigentlich nur an den zuständigen Prüfer, und ist deshalb ein Verfahren, das nur zwischen der Patentagentur und dem Einspruch erhebenden Dritten abzuwickeln ist. Die zentrale Funktion kommt indes auch hier einem shinpan-Spruchkörper zu. Das Einspruchschreiben (igi mo¯shitate sho) muss die Gründe für den Einspruch gegenüber der Patentagentur benennen. Die Zweitschrift (fuku hon) wird an den Patentinhaber weitergeleitet. Dieser erhält zunächst keine Gelegenheit, sich dazu zu äußern. Erst wenn der Spruchkörper dazu neigt, das Patent für nichtig zu erklären, erhält er darüber eine mit Gründen versehene Mitteilung (torikeshi riyu¯ tsu¯chi), auf die er mit einer schriftlichen Stellungnahme (iken sho) oder mit einem Berichtigungsantrag (teisei seikyu¯) reagieren kann. Reagiert er mit einem Berichtigungsantrag, erhält auch der den Einspruch Erhebende die Gelegenheit zu einer schriftlichen Stellungnahme. Die Entscheidung des Spruchkörpers erfolgt in Form eines Beschlusses (kettei). Lautet dieser auf Bestätigung des Patents (iji kettei) ist ein weiterer Rechtsbehelf nicht gegeben. Lautet er hingegen auf Nichtigkeit des Patents (torikeshi kettei), was eine ex tunc Unwirksamkeit des Patents nach sich zieht, kann sich der Patentinhaber im Beschlussanfechtungsprozess (kettei torikeshi sosho¯) an das besondere Obergericht für geistiges Eigentum in Tokyo wenden. Völlig parallel dazu existiert der Nichtigkeits-shinpan. Von seiner Natur her ist dieses ein kontradiktorisches Verfahren zwischen dem Antragsteller (seikyu¯ nin) und dem Patentinhaber (tokkyo kenri sha), der deshalb auch Antragsgegner (hi seikyu¯ nin) genannt wird. Der Antrag auf Erklärung der Nichtigkeit des Patents (muko¯ shinpan seikyu¯) ist schriftlich an die Patentagentur zu richten. Der Antrag muss die Nichtigkeitsgründe, den erwünschten Umfang der Nichtigkeitserklärung und mögliche Beweismittel nennen. Sein Inhalt ist sehr wichtig, weil grundsätzlich eine spätere Berichtigung (shinpan seikyu¯ no hosei) nicht mehr möglich ist. Dem Antragsgegner wird die Zweitschrift zusammen mit der Aufforderung, sich zu verteidigen (to¯ben shirei), zugestellt. Die Verteidigungsschrift (to¯ben sho) wird dem Antragsteller mit der Bitte um Replik (benbaku sho) übermittelt. Auch kann der Antragsgegner wiederum einen Berichtigungsantrag (teisei seikyu¯) stellen. Grundsätzlich veranlasst der Spruchkörper eine mündliche Verhandlung (gensoku ko¯to¯ shinri). Als Entscheidung des Spruchkörpers ergeht entweder eine Bestätigung des Patents (iji shinketsu) oder eine Nichtigkeitserklärung (muko¯ shinketsu). Beide Varianten können von den Parteien mit dem Rechtsbehelf Anfechtungsprozess (shinketsu torikeshi sosho¯) beim besonderen Obergericht für geistiges Eigentum in Tokyo angegriffen werden. Gegen die Entscheidung des Obergerichts ist ein weiterer Rechtsbehelf zum Obersten Gerichtshof gegeben. Schließlich kann der Patentinhaber nach Erteilung des Patents auch eine Berichtigung (teisei) anstreben. Diese wird nicht direkt vom Prüfer, sondern von Anfang an im Rahmen eines shinpan, der Berichtigungs-shinpan genannt wird, behandelt. Der schriftliche Antrag auf Durchführung dieses Verfahrens (shinpan seikyu¯ sho) richtet sich an die Patentagentur, die ihrerseits einen Spruchkörper einsetzt, der auf der Basis
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der Aktenlage entscheidet. Neigt er dazu, die Berichtigung zurückzuweisen (teisei kyosetsu) erhält der Antragsteller eine mit Gründen versehene Mitteilung (teisei kyosetsu riyu¯ tsu¯chi sho) mit der Aufforderung, dazu Stellung zu nehmen. Neben der Stellungnahme ist eingeschränkt wiederum ein Antrag auf Änderung möglich. Der Spruchkörper kann die Berichtigung anerkennen (teisei nin’ yo¯ shinketsu) oder diese zurückweisen (teisei fu nin’yo¯ shinketsu). Im zweiten Fall kann sich der Antragsteller mit einem Anfechtungsprozess (shinketsu torikeshi sosho¯) an das besondere Obergericht für geistiges Eigentum in Tokyo wenden. Bei einer erneuten Versagung der Berichtigung besteht ein weiterer Rechtsbehelf zum Obersten Gerichtshof. 2. Wettbewerbsrecht Ein anderes instruktives Beispiel für einen shinpan war der 1947 eingeführte shinpan im Wettbewerbsrecht. Er war – wie schon im Recht des Gewerblichen Rechtsschutzes gesehen – ein Rechtsbehelf, der nur auf einen Teil der verwaltungsrechtlichen Verfahrensabläufe im Wettbewerbsrecht Anwendung fand. Seine Regelung erfolgte im Gesetz über das Verbot privater Monopole und die Sicherung des lauteren Wettbewerbs22, im Folgenden kurz Wettbewerbsgesetz genannt. Der shinpan wurde als ein dem Erlass der verwaltungsrechtlichen Verfügung (gyo¯sei shobun), z. B. der Anordnung der Beseitigung des Wettbewerbsverstoßes (haijo sochi meirei), vorausgehender shinpan (jizen shinpan) 1947 eingeführt, im Jahre 2005 in ein der verwaltungsrechtlichen Verfügung nachfolgender shinpan (jigo shinpan) umgewandelt und im Jahre 2013 abgeschafft. Er hatte keinen selbständigen Träger innerhalb der Administration der Wettbewerbsbehörde, vielmehr war Träger des shinpan die Wettbewerbsbehörde selbst, genauer die Kommission für lauteren Wettbewerb (ko¯sei torihiki iinkai), die auf der Basis des Wettbewerbsgesetzes 1947 gegründet wurde. Die rechtliche Situation vor dem Jahre 2005 war wie folgt23 : Die Kommission kam auf Grund ihrer Untersuchung (shinsa) zu dem Ergebnis, dass ein Wettbewerbsver22 shiteki dokusen kinshi oyobi ko¯sei torihiki no kakuho ni kan suru ho¯ritsu, Gesetz Nr. 54/ 1947, zuletzt geändert durch Gesetz Nr. 69/2014. Deutschsprachige Übersetzungen auf dem Stand des Änderungsgesetzes Nr. 143/1965 bei: Iyori, Joseph Hiroshi: Das japanische Kartellrecht. Entwicklungsgeschichte, Grundprinzipien und Praxis, Köln u. a. 1967, S. 131 ff.; teilweise Übersetzung auf dem Stand des Änderungsgesetzes Nr. 63/1977, bei: Pape, Wolfgang: Gyoseishido und das Anti-Monopol-Gesetz in Japan, Köln u. a. 1980, S. 101 ff.; vermutlich auf dem Stand des Änderungsgesetzes Nr. 82/1983 bei: Hirakawa, Sachihiko: Marktmachtaspekt im Kartellrecht, Diss. Münster 1986, S. 120 ff.; auf dem Stand des Änderungsgesetzes Nr. 107/1992 bei: Iyori, Hiroshi/Uesugi, Akenori/Heath, Christopher: Das japanische Kartellrecht, 2. Aufl., Köln u. a. 1994, S. 225 ff. 23 Siehe im Einzelnen: Iyori, Joseph Hiroshi (Fn. 22) 86 ff.; Iyori, Hiroshi/Uesugi, Akenori/Heath, Christopher (Fn. 22) 71 ff.; Heath, Christopher/Rodatz, Peter: Japanisches Kartellrecht, in: Frankfurter Kommentar zum Kartellrecht, Köln, Stand der Bearbeitung unbe-
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stoß vorliege. Sie übermittelte dem Verletzer (hi shobun sha) eine Beseitigungsanordnung in Form einer Empfehlung (kankoku). Akzeptierte dieser die Empfehlung wurde die Beseitigungsanordnung ausgesprochen, ohne dass ein shinpan eingeleitet wurde. Wurde die Empfehlung vom Verletzer hingegen nicht akzeptiert, oder hielt es die Kommission im öffentlichen Interesse für geboten, von Amts wegen einen shinpan einzuleiten, wurde mit einem dem Verletzer zuzustellenden Dokument (shinpan kaishi kettei sho) der shinpan von der Kommission eingeleitet. Die Rolle des Dritten wurde von einem shinpan kan übernommen, die Wettbewerbsbehörde selbst wurde von einem oder mehreren Untersuchern (shinsa kan) vertreten. Beide Funktionen wurden von Mitarbeitern der Wettbewerbsbehörde ausgefüllt. Der Verletzter des Wettbewerbsrechts, der das Recht hatte, sich anwaltlich vertreten zu lassen, war der dritte Beteiligte. Der shinpan kan legte am Ende des shinpan der Kommission einen Entscheidungsentwurf (shinketsu an) vor, den die Kommission in eine Aufhebung der Empfehlung, eine Änderung der Beseitigungsanordnung oder den Erlass der ursprünglichen Beseitigungsanordnung umsetzen konnte. Gegen diese Entscheidung (shinketsu) war das Rechtsmittel des Anfechtungsprozesses (shinketsu torikeshi sosho¯) gegeben. Für diesen war das Obergericht Tokyo ausschließlich zuständig. Gegen die Entscheidung des Obergerichts Tokyo bestand ein weiterer Rechtsbehelf zum Obersten Gerichtshof. Nach der Änderung des Gesetzes im Jahre 2005 stellte sich der rechtliche Ablauf wie folgt dar24: Die verwaltungsrechtliche Verfügung (z. B. die Beseitigungsanordnung) wurde dem Verletzer zugestellt. Dieser konnte innerhalb einer bestimmten Frist den shinpan beantragen (shinpan seikyu¯), wenn er das Wirksamwerden (kakutei) der Verfügung verhindern wollte. Der shinpan wurde dann wie nach der alten Rechtslage durchgeführt; er fand seinen Abschluss wiederum in einem Entscheidungsentwurf, der der Kommission übergeben wurde. Sie konnte daraufhin den Antrag des Verletzters als begründet einstufen und die Beseitigungsanordnung aufheben, diese abändern oder bestätigen. Die Entscheidung der Kommission (shinketsu) konnte der Adressat innerhalb einer bestimmten Frist vor dem ausschließlich zuständigen Obergericht Tokyo im Verwaltungsprozess anfechten (shinketsu torikeshi sosho¯). Gegen die Entscheidung des Obergerichts war wiederum ein Rechtsbehelf zum Obersten Gerichtshof möglich.
kannt; Negishi, Akira (Fn. 21) 261 ff.; Mishiro, Michiyoshi: Die Annäherung des Wettbewerbsverfahrens an das Gerichtsverfahren, Berlin 2004. 24 Siehe im Einzelnen Negishi, Akira/Eisele, Ursula: Recht der Wettbewerbsbeschränkungen, in: Baum, Harald/Bälz, Moritz (Fn. 21) 745 ff.; Nakano, Yusuke/Hara, Etsuko: Antimonopoly Act, in: Anderson Mori & Tomotsune (Fn. 21) 107 ff.; Kameoka, Etsuko: Competition Law and Policy in Japan and the EU, Cheltenham u. a. 2014, S. 119 ff.
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Die im Jahre 2013 in Kraft getretene Rechtslage ist wie folgt:25 Die verwaltungsrechtliche Verfügung erfolgt in schriftlicher Form und wird mit der Zustellung an den Verletzer wirksam. Ein Widerspruch nach dem Gesetz über Widersprüche in Verwaltungssachen ist nicht möglich. Es bleibt nur der Anfechtungsprozess; in diesem ist die Kommission die Beklagte. Die ausschließliche Zuständigkeit für die Anfechtungsklage liegt beim Distriktgericht (chiho¯ saibansho) Tokyo. Die weiteren Rechtsbehelfe richten sich nach allgemeinen Regeln. 3. Steuerrecht Hier geht es nur um das Verwaltungsverfahren bei nationalen Steuern (koku zei). Bei den regionalen Steuern (chiho¯ zei) ist ein shinpan nicht vorgesehen. Auch im Steuerrecht findet sich der shinpan nicht in allen verwaltungsrechtlichen Verfahrensabläufen. Es geht nur um die Fälle, in denen die Steuerbehörde tatsächlich einen Steuerbescheid erläßt, was angesichts des Lohnsteuerjahresausgleichs (nenmatsu cho¯sei) durch den Arbeitgeber und die Abgabe einer steuerrechtlichen Selbsteinschätzung (kakutei shinkoku) durch diejenigen, die Einkommen aus mehreren Quellen gerieren, nicht immer der Fall ist. Steuerbescheide ergehen nur dann, wenn die Steuererklärung ausbleibt oder unrichtig ist. Die Regelung der Rechtsbehelfe des Steuerschuldners (no¯zei sha) zeigen historisch gesehen auch deutlich voneinander unterscheidbare Zeitabschnitte: Verfahren bis zur Neuordnung des Steuerverwaltungsverfahrensrechts nach dem Ende des Pazifischen Krieges 1947, Verfahren bis zur Neuordnung von Steuerverwaltungsverfahren, verwaltungsverfahrensrechtlichem Widerspruchsverfahren und Verwaltungsprozessrecht im Jahre 1962, Verfahren bis zur Neuordnung des Steuerverwaltungsverfahrens im Jahre 197026, dem Jahr, in dem ein shinpan eingerichtet wurde, Verfahren bis zur Neuordnung des verwaltungsverfahrensrechtlichen Widerspruchsverfahrens im Jahre 201427, und danach.28 Vor dem Ende des Pazifischen Krieges hatte der Steuerschuldner zwei Rechtsbehelfe im Rahmen des administrativen Einwendungsverfahrens nach dem Gesetz über Beschwerden.29 Er konnte einen Einspruch (igi mo¯shitate) gegen den Steuerbescheid 25
Hayashi, Shuya: The 2013 Amendment to the Antimonopoly Act – Procedural Fairness under Japanese Competition Law, in: Zeitschrift für japanisches Recht 39 (2015) 89 ff. 26 Ishimura, Koji: Japanese Tax Litigation System and Procedures, in: Law in Japan 13 (1980) 111 ff. 27 Ishimura, Koji (Fn. 26); Matsukawa, Michael: Administrative Appeals from Tax Dispositions, in: Law in Japan 16 (1983) 91 ff.; Beyer, Vicki: Tax Administration in Japan, in: Revenue Law Journal 4 (1994) 144 ff.; Ishimura, Koji: The State of Taxpayers Rights in Japan, Gifu 1995, S. 98 ff. 28 Hashidate, Kenji/Minami, Takahiro/Sato, Makoto/Akeda, Kaoru/Condez, Erwin: Japan, in: Chodikoff, David. W. (Hg.), Tax Litigation. A Global Guide from Practical Law, 2. Aufl., London 2016, S. 289 ff. 29 sogan ho¯: Gesetz Nr. 105/1890, außer Kraft gesetzt durch Gesetz Nr. 160/1962.
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bei der Behörde einreichen, die den Bescheid erlassen hatte. Der Beschwerde konnte durch diese Behörde abgeholfen werden, oder der Steuerbescheid blieb aufrechterhalten. Hatte der Steuerschuldner keinen Erfolg, konnte er bei der übergeordneten Behörde eine Untersuchung beantragen (shinsa seikyu¯). Die übergeordnete Behörde konnte dem erneuten Einwand abhelfen, in dem der Steuerbescheid zurückgenommen wurde, sie konnte den Steuerbescheid aber auch verändern oder bestätigen. Das Durchlaufen beider Rechtsbehelfe war Voraussetzung für die Behandlung der Frage in der alten Verwaltungsgerichtsbarkeit (dazu sogleich unter IV. 1.). Diese kannte enumerative Zuständigkeiten, von denen das Steuerrecht eines war. Die US-amerikanische Besatzungsadministration nach dem Ende des Pazifischen Krieges machte sich an die komplette Überarbeitung des japanischen Steuersystems. Dazu wurde die sogenannte Shoup-Mission30 aus den USA, die nach ihrem Leiter Carl S. Shoup, benannt war, zusammengestellt, die zweimal Japan besuchte, zunächst im Jahre 1949 und dann erneut im Jahre 1950. Aus beiden Reisen resultieren Untersuchungsberichte.31 In dem ersten Untersuchungsbericht wird unter der Überschrift „Right of Taxpayer to Protest the Reassessment“ ausgeführt:32 „The income taxpayer has two chief complaints against the present method of reassessment: first, he must pay the tax before he is allowed to appeal to a higher administration agency (shinsa seikyu¯: Ergänzung durch den Verfasser) or to the courts; and second, his protest is commonly made to the same tax official who made the reassessment (igi mo¯shitate: Ergänzung durch den Verfasser) and who is, therefore, (as the taxpayer sees it) not likely to listen sympathetically and disinterestedly.“ Der Bericht fährt fort: „If the taxpayer and the official, who reassessed his return cannot agree, after informal conference, he should be allowed to carry his case to a special Conference Group (die japanische Übersetzung des englischen Textes benutzt den Begriff kyo¯gidan: Ergänzung durch den Verfasser) within the tax office or attached to a prefectural group of national tax offices.“33 In Anhang D zum ersten Bericht unter der Überschrift „Administration of the Individual & Corporate Income Tax“ werden Einzelheiten zu der vorgeschlagenen 30
Zur historischen Funktion der Shoup Missionen siehe Brownlee, W. Elliot/Ide, Eisaku/ Fukagai, Yasunori: The Political Economy of Transnational Tax Reform. The Shoup Mission to Japan in Historical Context, Cambridge 2013. 31 Zitiert wird hier nach der einbändigen Ausgabe des sich gegenüberstehenden englischen und japanischen Textes, den der Verband der japanischen Steuerberatervereinigungen im Jahre 1979 neu herausgegeben hat: Publishing Department of Japan Federation of Certified Public Tax Accountant’s Associations: Report on the Japanese Taxation by the Shoup Mission. Tatsächlich liegen die ursprünglichen Berichte ebenfalls Englisch und Japanisch gegenübergestellt in 5 Bänden als: General Headquarters, Supreme Commander of the Allied Powers, Tokyo, Japan (Hg.): Report on Japanese Taxation by the Shoup Mission, Volume I – IV, September 1949 und Nihon Sozei Kenkyu¯ Kyo¯kai (Hg.), Second Report on Japanese Taxation by the Shoup Mission, Tokyo 1950, vor. 32 S. 155. 33 S. 156.
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Conference Group gegeben. Es heißt dort: „If such discussion with the investigator does not settle the case, further resort to administrative consideration is necessary. It is suggested that a Conference Group of tax officials should be formed whose function would be to consider and decide the protests still unsettled. The conferees should be chosen from the abler, elder and more experienced tax officials. … Any investigator who has personally handled the particular case previously in the investigatory or preliminary settlement stage should not act as a conferee on that case. However, as far as is feasible the Conference Group should probably consist of personnel other than investigators, as assurance to taxpayers that their appeals are being considered by an entirely different group of officials who have no connection with the original reassessment or investigation process.“34 Auch zum Antrag auf Untersuchung gegenüber der höheren Behörde (shinsa seikyu¯) äußert sich der Bericht: „At present a taxpayer has the right to petition the Finance Minister, so that a method of administrative appeal from the Regional Bureau exists. Consideration should be given to eliminating this avenue of appeal, especially if it becomes frequently used.“35 Zu dem weiteren Rechtsbehelf, der Inanspruchnahme der Gerichte, sagt das Gutachten: „The taxpayer should be permitted to file a suit after an adverse decision by the Tax Office or the Regional Bureau, as the case may be.“36 Der Empfehlung der Shoup-Mission folgend, wurden Conference Groups unter dem Begriff kyo¯gidan durch Kabinettsverordnung im Jahre 1950 eingerichtet.37 Im zweiten Bericht der Shoup-Mission, der dem Wiederbesuch Japans im Jahre 1950 folgt, wird deshalb konstatiert, dass die vorgeschlagenen Conference Groups arbeiten, es aber zu früh sei, ihre Arbeit schon zu bewerten. Stattdessen werden konkrete Verfahrensvorschläge für ihre Arbeit als letzte administrative Instanz vor der Gerichtsbarkeit gemacht.38 „When a protest against reassessment (igi mo¯shitate: Ergänzung durch den Verfasser) is decided against the taxpayer, he should be given the reasons as fully as possible; …The taxpayer desiring to appeal to the conferees would be required to state in writing his reasons … and request a hearing which would be automatically granted. After a sufficient number of trained conferees are available, experience should indicate whether only one conferee or a team of two or three conferees would normally hear the case … The taxpayer should be permitted to have a tax representative present at the conference, if he desires … The conferee’s decision, in form of a recommendation to the Bureau or Agency head, as the case may be, is in effect the final administrative action on the taxpayer’s case.“ 34
S. 263. S. 265. 36 S. 266. 37 kokuzeicho¯ kyo¯gidan oyobi kokuzeikyoku kyo¯gidan rei (Verordnung zur Einrichtung der Conference Groups in der Agentur für nationale Steuern und in den regionalen Steuerämtern), Kabinettsverordnung Nr. 214/1950, außer Kraft gesetzt mit Kabinettsverordnung Nr. 50/1970. 38 S. 56 ff. 35
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Ob die von der Shoup-Mission vorgeschlagenen kyo¯gidan ein Vorbild in den Vereinigten Staaten hatten, ergibt sich aus den Untersuchungsberichten nicht. Fest steht, dass die nationale Steuerbehörde Japans nach dem Vorbild einer in den Vereinigten Staaten von Amerika existierenden Verwaltungseinrichtung namens agency gegründet wurde. Agenturen sind Untergliederungen eines Ministeriums. Die Agentur für Nationale Steuern (kokuzei cho¯) wurde 1949 im Geschäftsbereich des Finanzministeriums (seinerzeit o¯kura sho¯, heute zaimu sho¯) angesiedelt. Als dritte Stufe der Hierarchie wurden regionale Steuerämter (zeimu kyoku) geschaffen und schließlich auf der untersten Stufe lokale Steuerämter (zeimu sho). Mit der Abschaffung des Gesetzes über Beschwerden und seiner Ersetzung durch das Gesetz über das Widerspruchsverfahren in Verwaltungssachen im Jahre 1962 wurde die Verfassung und das Verfahren der kyo¯gidan neu geregelt. In den regionalen Steuerämtern und auf der Ebene der Agentur für nationale Steuern wurden kyo¯gidan eingerichtet, die bei Geltendmachung eines Anspruches auf Untersuchung (seikyu¯ shinsa) gehört werden mussten. Ihre Zuständigkeit war abhängig von der Zuständigkeit des Leiters des regionalen Steuerbüros (kyoku cho¯) oder des Leiters der Agentur (cho¯kan). Anhörung bedeutete lediglich, dass die Meinung der Mitglieder des kyo¯gidan zu hören war, der jeweilige Behördenleiter war nicht an sie gebunden und er konnte insbesondere nicht von einer vorher geäußerten Rechtsmeinung der Agentur abweichen, selbst wenn diese von den Mitgliedern des kyo¯gidan vertreten wurde. Die kyo¯gidan bildeten den Nukleus für den shinpan, der im Jahre 1970 infolge einer Änderung des Gesetzes über allgemeine Regelungen zu nationalen Steuern39 an die Stelle des kyo¯gidan trat. Der shinpan wurde als Einrichtung unter der Bezeichnung kokuzei shinpan sho auf der Ebene der Agentur verselbständigt und erhielt auf der Ebene der regionalen Steuerämter Niederlassungen (shibu). Die shinpan-Einrichtung erhielt einen eigenen Leiter (shinpan sho cho¯) und Personen mit der Bezeichnung shinpan kan, die für die Untersuchung nach der Geltendmachung eines Anspruches auf Untersuchung berufen wurden. Der Beschwerdeführer wurde Antragsteller (shinsa seikyu¯ nin) genannt. Er konnte sich vertreten lassen. Über den Antrag auf Untersuchung entschied die shinpan-Einrichtung mit einer Entscheidung unter dem Begriff saiketsu. Der saiketsu unterlag der Anfechtung im Verwaltungsprozess (saiketsu torikeshi sosho¯) beim zuständigen Distriktgericht. Der gegen die Entscheidung des Distriktgerichts gerichtete Rechtsbehelf richtete sich an das örtlich zuständige Obergericht, über einen weiteren Rechtsbehelf wurde vom Obersten Gerichtshof befunden. Der shinpan sollte indes nicht an die Stelle des alten Einspruchs (igi mo¯shitate) treten, sondern war als zusätzlicher Rechtsbehelf gedacht. Das heißt, es blieb dabei, dass der Steuerschuldner zunächst einen Einspruch erhob, in dessen Verlauf die Steuerbehörde Abhilfe schaffen konnte oder bei ihrer vorherigen Entscheidung blieb. Erst wenn der Bescheid über den Einspruch (igi kettei sho) ergangen war, bzw. der Bescheid nicht innerhalb der gesetzlich vorgesehenen Frist erging, war der Antrag 39
kokuzei tsu¯soku ho¯, Gesetz Nr. 66/1962, zuletzt geändert durch Gesetz Nr. 15/2016.
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auf Untersuchung (shinsa seikyu¯) an die shinpan-Einrichtung möglich. Dazu wurden nur wenige Ausnahmen zugelassen. Bei Vorliegen einer solchen Ausnahme konnte zwar das Einspruchsverfahren (igi mo¯shitate) zusätzlich durchlaufen werden, dem bedurfte es aber nicht, sondern die shinpan-Einrichtung konnte direkt angegangen werden. Im Jahre 2014 ist durch eine Änderung des Gesetzes über das Widerspruchsverfahren in Verwaltungssachen und des Gesetzes über allgemeine Regelungen zu nationalen Steuern eine Verkürzung des administrativen Einwendungsverfahrens herbeigeführt worden. Waren bisher grundsätzlich zwei Verfahrensschritte zu durchlaufen (ni dankai fufuku mo¯shitate zenchi kyo¯sei), nämlich igi mo¯shitate und shinsa seikyu¯, also Einspruchsverfahren und shinpan, bevor der Anfechtungsprozess bei Gericht erhoben konnte, kann jetzt der Einspruch entfallen und mit Hilfe eines direkten Antrags auf Untersuchung (chokusetsu shinsa seikyu¯) der shinpan beantragt werden. Das heißt indes nicht, dass dieser direkte Weg beschritten werden muss. Es kann nach wie vor vorher ein Einspruch erhoben werden, der aber in Zukunft nicht mehr igi mo¯shitate heißen soll. Verfahrensmäßig sind die Fristen, die vom Erlass des Steuerbescheides bis zum Beginn des shinpan verstreichen dürfen, verlängert worden und der Antragsteller (Steuerschuldner) bzw. sein Rechtsvertreter erhalten auf Anforderung Kopien des der Entscheidung der Steuerbehörde zugrundeliegenden relevanten Materials, allerdings nicht ohne Ausnahmen. Das Fragerecht des Beschwerdeführers ist erweitert worden und der Leiter der shinpan-Einrichtung kann jetzt, wenn von einer rechtlichen Einschätzung der Agentur abgewichen werden soll, den Leiter der Agentur unterrichten, der ein Gremium (kokuzei shingikai) einbestellt, an dessen Entscheidung der Leiter der shinpan-Einrichtung dann gebunden ist. Die shinpan-Entscheidung (saiketsu) wird von einem Spruchkörper aus drei Personen einstimmig gefällt (giketsu). Diese drei Personen sind der Berichterstatter (tanto¯ shinpan kan) und die beiden Beisitzer (sanka shinpan kan). Von deren Entscheidung kann der Leiter der shinpan-Einrichtung bei der Verkündung nicht abweichen.
4. Zusammenfassung Auf der Basis der rechtlichen Regelung von lediglich drei hier vorgestellten shinpan wird deutlich, dass es erhebliche Unterschiede in Begrifflichkeit, Struktur und Verfahren der einzelnen shinpan gibt, ganz abgesehen davon, dass offensichtlich nicht alle erforderlichen Regelungen getroffen sind. Dennoch lassen sich einige typische Gemeinsamkeiten erkennen. Träger des Verfahrens bei allen shinpan ist eine Verwaltungsbehörde, auch wenn die administrative Verortung der jeweiligen shinpan unterschiedlich ist. Im Rahmen des Gewerblichen Rechtsschutzes und im Steuerrecht ist eine Agentur der Träger, im Fall des Wettbewerbsrechts war es eine Kommission. Auch der Grad der Verselbständigung des shinpan innerhalb des Verwaltungsträgers ist/war unterschiedlich. Wäh-
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rend auf dem Gebiet des Gewerblichen Rechtsschutzes ein shinpan bu in der Patentagentur existiert und im Bereich des Steuerrechts ein shinpan sho in der Agentur für Nationale Steuern, fehlte es im Bereich des Wettbewerbsrechts an einer verselbständigten Struktur. Hier war der shinpan nicht der Generalverwaltung der Wettbewerbsbehörde, sondern der Kommission direkt unterstellt. Je nach Grad der Verselbständigung treten/traten auch Personen mit unterschiedlichen Funktionsbezeichnungen für die jeweilige shinpan-Einrichtung auf. In der Agentur für Nationale Steuern der shinpan sho cho¯, in der Patentagentur der shinpan cho¯ und bei der Wettbewerbsbehörde war es der Vorsitzende der Kommission (iin cho¯). Alle shinpan waren bzw. sind als Spruchkörper (go¯gitai) ausgestaltet, d. h. sie bestehen/bestanden aus mehreren einheitlich als shinpan kan bezeichneten Personen. Diese sind bzw. waren im Rang gleichgeordnet. Im Steuerverwaltungsrecht wird neuerdings die Person eines Berichterstatters genannt, den es aber rein tatsächlich schon aus Praktikabilitätsgründen auch in den shinpan der anderen Rechtsgebiete geben dürfte bzw. gegeben haben dürfte. Berichterstatter zu sein bedeutet nicht Vorsitzender zu sein. Soweit ersichtlich, herrscht bzw. herrschte das Prinzip der Einstimmigkeit unter den shinpan kan. Die shinpan kan sind bzw. waren alle Mitarbeiter der Behörde. Sie müssen bzw. mussten nicht unbedingt aus der Behörde selbst stammen, sondern können bzw. konnten von außen angeworben sein. Wichtig sind, respektive waren ihre Kenntnisse der Materie. In allen beobachteten Variationen wird bzw. wurde vermieden, dass die shinpan kan mit dem zu prüfenden Fall als Untersucher (shinsa kan) oder in irgendeiner anderen Weise vorbefasst waren. Andere Beteiligte am shinpan sind bzw. waren die mit dem Fall vertrauten Untersucher (shinsa kan) und der Antragsteller, der sich durch einen Bevollmächtigten vertreten lassen kann bzw. konnte. Im Gewerblichen Rechtsschutz kommt als Beteiligter auch noch der Rechtsinhaber (Patentinhaber), z. B. im Fall eines Nichtigkeits-shinpan, hinzu. Unter dem Begriff shinpan wird bzw. wurde das auf die Entscheidung hinführende Verfahren des Spruchkörpers erfasst. Es bleibt undeutlich, ob als Oberbegriff für die möglichen Entscheidungen des Spruchkörpers auch der Begriff shinpan verwendet wird bzw. wurde. Davon wird hier aber vor dem Hintergrund ausgegangen, dass auch der Begriff saiban für Entscheidung steht, auch wenn die einzelne Entscheidung – wie gesehen – dort jeweils einen anderen Namen hat. So ist es auch beim shinpan. Die Entscheidungen des Spruchkörpers lauten bzw. lauteten shinketsu im Gewerblichen Rechtsschutz und im Wettbewerbsrecht, saiketsu im Steuerrecht. Im Gewerblichen Rechtsschutz gibt es im Einspruchsverfahren auch den kettei. Im Bereich des Wettbewerbsrechts konnte der Spruchkörper auch die Empfehlung aussprechen, die Sache an den Prüfer zurückzuverweisen, wenn er sie nicht für ausreichend aufgeklärt hielt.
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Verkündet wird bzw. wurde die Entscheidung vom jeweiligen Leiter der shinpanEinrichtung. Im Wettbewerbsrecht war er an die Entscheidung nicht gebunden, es war vielmehr nur ein Entscheidungsvorschlag; im Steuerrecht ist das jetzt offensichtlich anders. Der shinpan wird im Gewerblichen Rechtsschutz und im Steuerrecht durch einen Antrag eingeleitet. Das war im Wettbewerbsrecht ab dem Jahre 2005 auch so. Dieser Antrag steht grundsätzlich in Zusammenhang mit Einwendungen Betroffener gegen eine Verfügung der Verwaltung. Betroffener kann der Adressat der Verfügung selber sein, oder ein Dritter, der durch die Entscheidung einen Nachteil erleidet oder erleiden kann. Anders scheint es nur beim Berichtigungs-shinpan im Rahmen des Patentrechts zu sein, weil dort eine vorhergehende Entscheidung der Verwaltungsbehörde fehlt. Im Fall von Einwendungen gegen die Verfügung der Verwaltung ist bzw. war der shinpan zwingend zu durchlaufen, bevor gerichtliche Hilfe in Anspruch genommen werden kann bzw. konnte. Der shinpan ist, respektive war, dabei die letzte Einwendungsinstanz innerhalb der Verwaltung. Die zwingende Vorschaltung eines anderen Rechtsbehelfs ist jetzt sowohl im Steuerrecht wie auch im Gewerblichen Rechtsschutz entfallen. Im Wettbewerbsrecht hatte sie auch vorher keinen Bestand. Dieser andere Rechtsbehelf ist aber parallel erhalten geblieben. Der shinpan ist kontradiktorisch aufgebaut. Der Spruchkörper steht zwischen den Parteien. Das wird im Nichtigkeitsverfahren bei Patenten besonders deutlich, weil sich dort eine außenstehende Partei gegen die Wirksamkeit des Patents eines ebenfalls außenstehenden Patentinhabers wendet. Es ist bzw. war aber auch bei den anderen shinpan erkennbar. Dort standen sich die Prüfer der Behörde und der Außenstehende, der Adressat der verwaltungsrechtlichen Verfügung ist bzw. war, gegenüber. Da im Verwaltungsrecht der Untersuchungsgrundsatz und nicht das Dispositionsprinzip gilt, untersucht bzw. untersuchte der Spruchkörper nicht nur die Eingaben des Antragstellers. Ganz deutlich wird das beim Zurückweisungs-shinpan im Patentrecht, wo untersucht wird, ob es neben dem möglicherweise nicht tragfähigen Versagungsgrund einen anderen gibt, der die Versagung des Schutzrechts im Ergebnis doch rechtfertigt. Im Steuerrecht hingegen gibt es eine Einschränkung. Die Lage des Einwendungen erhebenden Antragstellers darf duch die Entscheidung nicht verschlechtert werden. Unterschiedlich fällt bzw. fiel die Regelung zu der Frage aus, was dem Antragsteller (mitunter dem Antraggegner) aus dem der Verwaltungsverfügung zugrundeliegenden Beweismaterial zur Verfügung zu stellen ist und in welcher Form das zu geschehen hat. Verschieden geregelt ist bzw. war auch die Öffentlichkeit bei den shinpan-Verhandlungen und das Erfordernis der nachträglichen Veröffentlichung freilich anonymisierter Entscheidungen. Neben Fachfragen werden bzw. wurden im shinpan auch Rechtsfragen erörtert. Das wird im Rahmen des Steuerrechts deutlich. Will der Spruchkörper von der Rechtsmeinung der Agentur für Nationale Steuern abweichen, muss die abweichen-
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de Rechtsmeinung dem Leiter der Agentur vorgelegt werden, der wiederum einen eigens dafür bestehenden Ausschuss mit dem Problem befasst, bevor der Spruchkörper beschieden wird. Die aufgezeigten Gemeinsamkeiten der untersuchten shinpan erlauben mit einem Vorbehalt wegen der unterschiedlichen gesetzlichen Ausformung, der zum Teil fehlenden Regelungen und der abweichenden Anwendung in Einzelfällen eine Definition. Diese knüpft ganz bewusst, wie schon die oben gegebene Definition des Begriffs saiban an den Begriff Entscheidung an. Danach ist shinpan die Entscheidung einer Verwaltungsbehörde, die auf einer Beurteilung seitens eines Spruchkörpers in einem ebenfalls shinpan genannten kontradiktorischen Verfahren beruht, das auf eine Einwendung hin im Rahmen eines speziell geregelten Verwaltungsverfahrens einiger Rechtsbereiche des Besonderen Verwaltungsrechts erfolgt.
IV. Funktion des shinpan Bevor eine abschließende Beurteilung zur Ausgangsfrage gegeben werden kann, ist die Funktion des shinpan im Gesamtgefüge des Verwaltungsverfahrensrechts zu beleuchten. Das soll aus historischem und gesetzessystematischem Blickwinkel erfolgen. 1. Geschichte Der shinpan wird in der Literatur durchweg als quasi judikativ (jun teki shiho¯) bezeichnet, was die hier gestellte Ausgangsfrage provoziert. Das wird in der Regel damit begründet, dass die Existenz des shinpan auf US-amerikanische Rechtsvorstellungen zurückgehe. Dabei wird auf Kommissionen (commission) als Verwaltungsbehörden rekuriert. Diese gehen tatsächlich auf das Recht der Vereinigten Staaten von Amerika zurück und sind in Japan als sogenannte iin kai erst während der USamerikanischen Besatzungsadministration (1945 – 1952) eingeführt worden. In den USA gibt es sogenannte independent agencies. Dazu gehören auch die Kommissionen. Wie der englischsprachige Name der Einrichtung schon andeutet, sind sie keine weisungsgebundenen Behörden, das heißt, sie unterliegen weder der Fach- noch der Rechtsaufsicht durch eine höhere Behörde, auch wenn sie dem Geschäftsbereich einer solchen zugeordnet sind. Solchen Behörden sind in den USA judikative Funktionen zugewiesen. Diese judikativen Funktionen werden darin erblickt, dass die behördlichen Verfahren von einem oder mehreren sogenannten administrative law judges geleitet werden, die ein weisungsfreier und unabhängiger Teil des Verwaltungsträgers sind.40
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Vgl. Hay, Peter: US-Amerikanisches Recht, 5. Aufl., München/Wien 2011, S. 36 ff.
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Warum Kommissionen in den Vereinigten Staaten von Amerika judikative Funktionen zugewiesen wurden, kann hier offenbleiben. Die Frage ist, warum diese Sichtweise in Japan Anhänger gefunden hat. Das ist schon deshalb verwunderlich, weil der verwaltungsrechtliche shinpan – wie nachgewiesen – schon 1899 im Gewerblichen Rechtsschutz in Japan normiert wurde und damit schon vor dem Einfluss der US-amerikanischen Besatzungsadministration nach dem Ende des Pazifischen Krieges in Japan etabliert war. Zum anderen sind nicht alle Verwaltungsverfahren von unabhängigen Verwaltungsträgern in Japan, die nach dem Pazifischen Krieg gegründet wurden, mit verwaltungsrechtlichen shinpan ausgestattet. Dazu gehört etwa die Verbraucherkommission (sho¯hisha iin kai) oder die Kommission für Transportsicherheit (unyu¯ anzen iin kai). Außerdem ist der verwaltungsrechtliche shinpan 1899 gerade nicht in einem unabhängigen, den es seinerzeit – soweit ersichtlich – auch noch gar nicht gab, sondern in einem weisungsgebundenen Verwaltungsträger geschaffen worden. Auch wenn die Patentbehörde heute eine Agentur (agency) nach US-amerikanischem Vorbild ist, ist sie keine unabhängige Verwaltungsbehörde. Das gilt auch für die Agenturen, die heute verwaltungsrechtliche shinpan kennen, wie die hier berücksichtigte Agentur für Nationale Steuern und die hier nicht vorgestellte Finanzagentur (kin’yu cho¯). Die Schaffung des shinpan ist eher im Zusammenhang mit der Verwaltungsgerichtsbarkeit nach preußischem Vorbild zu sehen. Im Jahre 1890 ist in Japan auf der Basis von Art. 61 der Meiji-Verfassung41 mit dem Gesetz über verwaltungsgerichtliche Entscheidungen42 eine Verwaltungsgerichtsbarkeit ins Leben gerufen worden. Obwohl sich im Namen des Gesetzes der Begriff saiban findet, der die deutsche Übersetzung Gerichtsbarkeit rechtfertigt, war der Rechtsträger dieser Einrichtung gerade nicht die Judikative, sondern die Exekutive, wenn auch formal eine gewisse Selbständigkeit der Einrichtung von anderen administrativen Organen gewahrt war. 41
dai nippon teikoku kenpo¯ (Verfassung des Großjapanischen Kaiserreiches) vom 11. 2. 1889, in Kraft getreten am 29. 11. 1890, deutschsprachige Übersetzungen bei Brunn, Paul, Die Verfassungsurkunde für das Kaiserreich Japan, Leipzig 1898; ders.: Die Verfassungsurkunde für das Kaiserreich Japan, Berlin 1890; Sell, Kurt: Japan, in: Posener, Paul (Hg.), Die Staatsverfassungen des Erdballs. Charlottenburg 1909, S. 920 ff.; Matsunami, Niichiro: Die japanische Verfassung, in: Nippon – Zeitschrift für Japanologie 7/1 (1941) 1 ff.; Fujii, Shinichi: Japanisches Verfassungsrecht, Tokyo 1941, S. 457 ff.; Röhl, Wilhelm: Die japanische Verfassung, Frankfurt/Main 1963, S. 147 ff.; Matsunami, Niichiro: Die japanische Verfassung vom 11. Februar 1889, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament B 40 – 41 (1964), S. 8 ff.; Siemes, Johannes: Die Gründung des modernen japanischen Staates und das deutsche Staatsrecht, Berlin 1975, S. 86 ff.; Heuser, Robert/Yamazaki, Kazuaki: Verfassungsrecht (Kempo¯) von Miyazawa Toshiyoshi, Köln 1986, S. 289 ff.; Röhl, Wilhelm: Das japanische Verfassungsrecht, in: Oriens Extremus 33/1 (1990) 28 ff. (ohne Präambel); Kokubun, Noriko: Die Bedeutung der deutschen für die japanische Staatslehre unter der Meiji-Verfassung, Frankfurt 1993, S. 223 ff. (ohne Präambel); Schenck, Paul-Christian: Der deutsche Anteil an der Gestaltung des modernen japanischen Rechts- und Verfassungswesens, Stuttgart 1997, S. 344 ff. (ohne Präambel); Ando, Junko: Die Entstehung der Meiji-Verfassung, München 2000, S. 240 ff. 42 gyo¯sei saiban ho¯, Gesetz Nr. 48/1890, außer Kraft gesetzt durch Gesetz Nr. 49/1947.
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Tatsächlich aber wurde die für ein kontradiktorisches Verfahren einzurichtende Rolle des Richters, hyo¯jo¯ kan genannt, von einem Mitarbeiter der Verwaltung selbst ausgeübt. Da diese Einrichtung nur wenige, enumerativ aufgeführte Zuständigkeiten hatte, mag das Bedürfnis bestanden haben, den Katalog der Zuständigkeiten auszuweiten mit der Folge, dass ein shinpan 1899 im Verwaltungsverfahren des Gewerblichen Rechtsschutzes Platz fand. Die US-amerikanische Besatzungsadministration schaffte mit der im Jahre 1947 nach ihren Vorstellungen gestalteten neuen japanischen Verfassung43 diese Verwaltungsgerichtsbarkeit ersatzlos ab und überantwortete den Rechtsschutz gegen die Verwaltung den ordentlichen Gerichten.44 Vor diesem Hintergrund sind die seinerzeit getroffen gesetzlichen Regelungen leicht nachzuvollziehen. In der Verfassung heißt es in Art. 76 Abs. 1: Alle rechtsprechende Gewalt liegt beim Obersten Gerichtshof und den nach Maßgabe der Gesetze errichteten Untergerichten. Abs. 2 ergänzt in Satz 1: Sondergerichte dürfen nicht errichtet werden und in Satz 2: Keine Verwaltungsbehörde kann in letzter Instanz eine gerichtliche Entscheidung (saiban) absetzen. Diese verfassungsrechtlichen Vorgaben werden im Gerichtsgesetz wie folgt umgesetzt. Art. 1 regelt: Der in der japanischen Verfassung genannte Oberste Gerichtshof und die Untergerichte folgen den Vorschriften dieses Gesetzes. Art. 2 Abs. 1 listet als Untergerichte Obergericht, Distriktgericht, Familiengericht (katei saiban sho) und Gericht für summarische Verfahren (kan’i saiban sho) auf. Art. 3 Abs.1 sagt, dass Gerichte, sofern in der japanischen Verfassung keine abweichenden Bestimmungen getroffen sind, auf der Basis aller Gesetze (issai no ho¯ritsu jo¯) im Rahmen von Prozessen (sosho¯) gerichtliche Entscheidungen (saiban) treffen und die sich aus anderen Gesetzen ergebenden Rechte haben. Abs. 2 ergänzt, dass die Bestimmung im vorhergehenden Absatz durch einen shinpan der Verwaltungsbehörde (gyo¯sei kikan no shinpan) nicht berührt wird. Offenbar bestand aber das Bedürfnis, den shinpan nach dem Vorbild der alten Verwaltungsgerichtsbarkeit nicht nur beizubehalten, sondern anderenorts auch neu ein43 nihon koku kenpo¯, Gesetz vom 3. 11. 1946, in Kraft getreten am 3. 5. 1947. Deutsche Übersetzungen in Röhl, Wilhelm: Die japanische Verfassung, Frankfurt/Main 1963, S. 81 ff.; Zachert, Herbert: Die japanische Verfassung vom 3. November 1946, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zu Das Parlament, B 40 – 41 (1964), S. 13 ff.; Franz, Günther (Hg.): Staatsverfassungen. Eine Sammlung wichtiger Verfassungen der Vergangenheit und Gegenwart in Urtext und Übersetzung, 2. Aufl. München 1964, S. 542 ff.; Neumann, Reinhard: Änderung und Wandlung der japanischen Verfassung, Köln 1982, S. 185 ff.; Heuser, Robert/ Yamazaki, Kazuaki: Verfassungsrecht (Kempo¯) von Miyazawa Toshiyoshi, Köln 1986, S. 297 ff.; Eisenhardt, Ulrich u. a. (Hg.), Japanische Entscheidungen zum Verfassungsrecht in deutscher Sprache, Köln 1998, S. 533 ff. 44 Im Einzelnen siehe Wada, Hideo: The Administrative Court under the Meiji Constitution, in: Law in Japan 10 (1977) 2 ff.; Ule, Carl Hermann: Zu den Anfängen der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Deutschland und Japan, in: Verwaltungsarchiv 80 (1989) 303 ff.; Ködderitzsch, Lorenz: Administrative Litigation and Administrative Procedure Law, in: Röhl, Wilhelm (Hg.), History of Law in Japan since 1868, Leiden 2005, S. 627 ff.
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zuführen. Das bedeutet, dass die alte Verwaltungsgerichtsbarkeit in Form des shinpan bis heute in Japan überlebt hat. 2. Systematik Die grundsätzliche Orientierung der gesetzlichen Regelung ist wie folgt:45 Das Verwaltungsverfahren richtet sich, sofern es keine Sondervorschriften gibt, nach dem Gesetz über das Verwaltungsverfahren. Bestehen Einwendungen gegen das Ergebnis des Verwaltungsverfahrens ist ein Widerspruchsverfahren nach dem Gesetz über das Widerspruchsverfahren in Verwaltungssachen vorgesehen, falls es – wiederum – keine Sondervorschriften gibt, die die Anwendbarkeit des Gesetzes über das Widerspruchsverfahren generell ausschließen, oder aber Gemengelagen zwischen den Regelungen dort und den Vorschriften zur Handhabung von Einwendungen im Bereich des besonderen Verwaltungsverfahrensrechts schaffen. Erst wenn das – in aller Regel zwingende – verwaltungsverfahrensrechtliche Einwendungsverfahren, das zudem mehrere Stufen aufweisen kann, erfolglos durchlaufen ist, kommt die dem Recht verpflichtete gerichtliche Entscheidung in einem Prozess (saiban) zum Zuge. Der shinpan findet sich im Bereich der besonderen verwaltungsverfahrensrechtlichen Einwendungsverfahren. Der Sinn des verwaltungsverfahrensrechtlichen Einwendungsverfahrens im Vorfeld der gerichtlichen Auseinandersetzung besteht darin, der zuständigen Verwaltungsbehörde Gelegenheit zu geben, ihre Entscheidung noch einmal zu überprüfen. Das kann im Hinblick auf Fach- wie auf Rechtsfragen geschehen. Wegen des der Verwaltung in aller Regel eingeräumten Ermessens (sairyo¯) sind mehrere rechtmäßige Entscheidungen denkbar. Die Gerichte können später nur überprüfen, ob das Ermes45 Zum Rechtschutz gegenüber der Verwaltung in Japan vergleiche Takabayashi, Katsumi: Einführung in das japanische Verwaltungsprozessrecht, in: Verwaltungsarchiv 54/55 (1963/ 64) 359 ff.; Hashimoto, Kiminobu: The Rule of Law: Some Aspects of Judicial Review of Administrative Action, in: Taylor von Mehren, Arthur (Hg.), Law in Japan. The Legal Order in a Changing Society, Cambrigde u. a. 1963, S. 239 ff.; Ogawa, Ichiro: Judicial Review of Administrative Actions in Japan, in: Wahington Law Review 43 (1968) 1075 ff.; Fujita, Tokiyasu/Ogawa, Ichiro: Der gerichtliche Rechtsschutz des Einzelnen gegenüber der vollziehenden Gewalt in Japan, in: Mosler, Hermann (Hg.), Gerichtsschutz gegen die Exekutive, Band 1, Köln u. a. 1969, 513 ff.; Scheer, Matthias: Verwaltungsprozeßrecht, in: Eubel, Paul u. a., Das japanische Rechtssystem, Frankfurt am Main 1979, S. 95 ff.; Ule, Carl Hermann; Verwaltung und Verwaltungsgerichtsbarkeit in Japan, in: Deutsches Verwaltungsblatt (DVBl.) 1984, 649 ff.; Ogawa, Ichiro: The Legal Framework of Public Administration, in: Tsuji, Kiyoaki (Hg.), Public Administration in Japan, Tokyo 1984, S. 13 ff.; Tanakadate, Sho¯kitsu: A Summary of the Limitations of Administrative Adjucation under the Japanese Constitution, in: Law in Japan 18 (1985) 108 ff.; Hiraoka, Hisashi: Aspekte des Verwaltungsverfahrens im japanischen Verwaltungsrecht, in: Kroeschell, Karl (Hg.), Recht und Verfahren, Heidelberg 1993, S. 141 ff.; Ködderitzsch, Lorenz: Rechtsschutz gegen die Verwaltung in Japan, in: Zeitschrift für japanisches Recht 5 (1998) 30 ff.; Uga, Katsuya: Procedure in Administrative Law in Japan, in: Journal of the Japan-Netherlands Institute VII (2001) 184 ff.; ders.: Development of the Concepts of Transparency and Accountability in Japanese Administrative Law, in: Foote, Daniel H. (Hg.), Law in Japan. A Turning Point, Seattle u. a. 2007, S. 276 ff.
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sen richtig ausgeübt wurde. Das gilt in besonderer Weise in Japan, wo Beurteilungsspielräume im Tatbestand einer verwaltungsrechtlichen Ermächtigungsgrundlage und Ermessen bei der Rechtsfolge nicht unterschieden werden. Damit ist der gerichtliche Entscheidungsspielraum begrenzt. Wenn nicht ausnahmsweise das Ermessen auf Null reduziert ist, kann das Gericht seine eigene Entscheidung nicht an die Stelle der Entscheidung der zuständigen Verwaltungsbehörde setzen, sondern diese nur für rechtswidrig erklären. Bei der erneuten Entscheidung der Verwaltungsbehörde mag es hilfreich sein, dass eine Person die Überprüfung vornimmt, die mit der Angelegenheit noch nicht befasst war, weil sie nicht voreingenommen ist. Dieser Gedanke liegt der Regelung des Widerspruchsverfahrens zugrunde, wonach über den Einwand des Adressaten einer verwaltungsrechtlichen Verfügung die nächsthöhere Behörde auf Grund ihrer Zuständigkeit für Fach- und Rechtsaufsicht zu entscheiden hat.
V. Ergebnis Im Ergebnis ist festzustellen, dass weder die Geschichte noch die rechtliche Systematik Anlass geben, den shinpan als ein judikatives Instrument einzustufen. Auch die verfassungsrechtliche Rechtslage spricht dagegen. Ausgangspunkt ist das Rechtsstaatsprinzip (ho¯chi shugi).46 Dieses beinhaltet u. a. die Gewaltenteilung. Ausfluss der Gewaltenteilung wiederum ist die Unabhängigkeit der Justiz (shiho¯ dokuritsu sei). Diese wird von Spruchkörpern ausgeübt, die sich Gerichte nennen. Die Gerichte sind mit Richtern besetzt. Diese genießen nach der ausdrücklichen Regelung in Artt. 76 Abs. 3 und 78 der Verfassung den Status der Unabhängigkeit. Diese wiederum wird durch die besondere Ausbildung, die Richter benötigen, um ihr Amt auszuüben, sichergestellt. Mit Ausnahme einiger weniger Funktionen müssen alle Richter Volljuristen sein. Auch wenn es sich dabei um einen deutschsprachigen Ausdruck handelt, kann er auf Japan angewandt werden, weil auch Japan ein erstes Staatsexamen, shiho¯ shiken genannt, einen juristischen Vorbereitungsdienst (shiho¯ shu¯shu¯) und ein diesen abschließendes Examen (saishu¯ shiken) kennt.47 Bei den shinpan kan handelt es sich nicht um Richter. Ausdrücklich normiert ist und war nur, dass auch Volljuristen als shinpan kan berufen werden können. Außerdem fehlt es an der Unabhängigkeit. Die Entlohnung für ihre Tätigkeit wurde und wird aus dem Budget der zuständigen Verwaltungsbehörde entnommen. Schließlich fungierten und fungieren die Spruchkörper nicht eigenständig. Sie sind und waren in 46
Ob und inwieweit dieses in Japan gilt siehe Menkhaus, Heinrich: Rechtsstaat Japan? Konstitutive Elemente und Gefährdungen, in: Yamaguchi, Karin/Wördemann, Raimund (Hg.): Länderbericht Japan, Bonn 2014, S. 221 ff. 47 Zur japanischen Juristenausbildung vergleiche Menkhaus, Heinrich/Yamauchi, Koresuke: Die japanische Beschäftigung mit dem deutschen Rechtswesen, in: Japanstudien 17 (2005) S. 133, 135 ff.
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die Verwaltung integriert und ein Verwaltungsbeamter tritt bzw. trat nach außen für sie auf. Der shinpan ist somit kein Instrument der Judikative.
VI. Verbleibende Rechtsfragen zum verwaltungsrechtlichen shinpan Obwohl die Ausgangsfrage damit beantwortet ist, soll nicht verhehlt werden, dass die Existenz des verwaltungsrechtlichen shinpan eine Reihe von Fragen aufwirft, die zum Teil von verfassungsrechtlicher Tragweite sind. Die systematische Betrachtung lässt erkennen, dass die Regelungen des verwaltungsverfahrensrechtlichen Widerspruchsverfahrens mit den in besonderen Verwaltungsgesetzen geregelten Einwendungsverfahren trotz der kompletten Neuregelung des Gesetzes über das Widerspruchsverfahren in Verwaltungssachen im Jahre 2014 ebenso wenig sauber verzahnt sind, wie die verwaltungsverfahrensrechtlichen Regeln mit den verwaltungsprozessualen auf der einen und die verwaltungsprozessualen Vorschriften mit den Regelungen des Zivilprozesses auf der anderen. Es stellen sich folgende Fragen zum Verwaltungsverfahren: Bedarf es paralleler (Einspruch und shinpan) oder mehrstufiger Einwendungsverfahren um den Bedürfnissen der Administration gerecht zu werden, oder wird deren Bedeutung damit nicht überbewertet? Sind neben den Regeln des allgemeinen Widerspruchsverfahrens Sonderregeln der Einwendungsverfahren für bestimmte Rechtsgebiete des Besonderen Verwaltungsrechts nötig? Müssen diese Sonderregeln einen verwaltungsrechtlichen shinpan umfassen? Sind die gesetzlichen Vorgaben für den verwaltungsrechtlichen shinpan vor dem Hintergrund der Rechte des Antragstellers im Hinblick auf Offenlegung des Beweismaterials der Verwaltung, im Hinblick auf schriftliches versus mündliches Verfahren usw., ausreichend? Inwieweit hat der Untersuchungsgrundsatz des Verwaltungsverfahrensrechts zu gelten? Darf die Überprüfung einer Verwaltungsentscheidung im Einwendungsverfahren den Einwendenden schlechter stellen als er ohne die Einwendung stehen würde? Kann die mit dem shinpan verbundene Anhörung der Betroffenen nicht in das allgemeine Verwaltungsverfahren vorverlagert, oder jedenfalls vom Widerspruchsverfahren aufgefangen werden? Bedürfen die auf Einwendungen ergangenen Entscheidungen der Verwaltungsbehörden in anonymisierter Form nicht der Veröffentlichung, zumindest wenn auch Rechtsfragen angesprochen wurden? Beim Übergang vom verwaltungsverfahrensrechtlichen Einwendungsverfahren zum Verwaltungsprozess fällt auf, dass das gerichtliche Verfahren bei Existenz eines shinpan im Vorfeld mitunter um eine mögliche Instanz verkürzt ist oder war. Im Wettbewerbsrecht ging der Anfechtungsprozess nach Durchlaufen des shinpan gleich in die ausschließliche Zuständigkeit des Obergerichts Tokyo über. Beim Gewerblichen Rechtsschutz ist es noch immer so. Hier stellt sich nachträglich die Frage, warum für das Wettbewerbsrecht anders als für den Gewerbli-
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chen Rechtsschutz kein besonderes Obergericht geschaffen wurde, obwohl die Frage der Sachkenntnis der Richter in beiden Rechtsgebieten von gleich großer Bedeutung ist. Es ist immer wieder angezweifelt worden, dass die Sachkenntnis der Richter für die Beurteilung der anstehenden Tatsachen und Rechtsfragen ausreiche und deshalb der shinpan geradezu unvermeidlich sei. Kann dieses Argument allgemein und vor allem vor dem Hintergrund der Erfahrungen, die man seit mehr als 10 Jahren jetzt mit dem besonderen Obergericht für geistiges Eigentum gemacht hat, ernst genommen werden? Eine Spezialisierung der Gerichtsbarkeit ist auch auf anderen Feldern zu beobachten, Beispiel Familiengericht. Es bleibt auffällig, dass die Kompetenz des Gerichts zur Überprüfung der Tatsachen im Bereich des Wettbewerbsrechts beschränkt war. Das rührt her von der substantial evidence rule des US-amerikanischen Rechts. Sie bedeutet, dass sich die Gerichte auf die Prüfung von Rechtsfragen beschränken und die von der Verwaltung ermittelten Tatsachen so akzeptieren, wie sie vorgetragen sind, falls sie auf einem Beweis beruhen. Die Wettbewerbsrechts-Rechtsprechung hat deshalb diese substantial evidence rule immer sehr einschränkend interpretiert um sich die Hoheit bei der Überprüfung der Tatsachen zurückzuerobern. Die Gerichte konnten eigentlich nur überprüfen, ob es sich tatsächlich um substantial evidence handelt. Beweisanträge des Klägers konnten allenfalls akzeptiert werden, wenn die Behörde ohne Grund einen einschlägigen Beweisantrag abgelehnt hat, oder der Beweis im shinpan ohne Fahrlässigkeit nicht angetreten werden konnte. Tatsächlich hat die Rechtsprechung den Umfang der Tatsachenfragen, die nicht unter die substantial evidence rule fallen, erweitert, indem sie die grundsätzlichen Tatsachen von den davon abzuleitenden Tatsachen trennte, und letztere der vollständigen Kontrolle unterwarf. Auch hat sie für den Ausnahmefall, dass eine neue Beweiserhebung doch durchgeführt werden konnte, den Fall nicht durch Zurückverweisung an die Wettbewerbsbehörde beendet, was gesetzlich so vorgesehen war, sondern nach Ermittlung der Tatsachen den Prozess selbst weitergeführt. Die verwaltungsprozessrechtliche Verfahrensstruktur wird zudem oft durchkreuzt von zivilprozessrechtlichen Verfahren. So sind viele Staatshaftungsprozesse, die auf Schadensersatz wegen rechtswidrigen Behördenverhaltens gerichtet sind, verkappte verwaltungsprozessrechtliche Verfahren, weil vom zuständigen Gericht inzidenter geprüft werden muss, ob die in Frage stehende Verfügung der Verwaltung rechtswidrig war.48 Auch gibt es z. B. Klagen wegen Verletzung eines gewerblichen Schutzrechtes auf Schadensersatz oder Unterlassung, in denen inzidenter vom Gericht geprüft werden muss, ob das in Rede stehende gewerbliche Schutzrecht nichtig ist, eine Prüfung, die wiederum der Verwaltungsbehörde und damit dem verwaltungsprozes48 Ein schönes Beispiel ist der Beitrag von Sato¯, Fumihiko in diesem Band. Die Verweigerung der Annahme einer Heiratsanmeldung durch die für die Führung des Familienregisters zuständige Verwaltungsbehörde oder die Verweigerung einer Eintragung seitens dieser Behörde kann auch im Verwaltungsprozess angegriffen werden.
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sualen Verfahren vorbehalten ist. Hier müssten eigentlich die zivilprozessualen Verfahren ausgesetzt werden, um dem Vorrang des Verwaltungsprozesses Rechnung zu tragen.
VII. Japanische Begriffsbildung und deutschsprachige Übersetzung Der erstmalige Gebrauch des Begriffs shinpan als juristischer Fachbegriff ließ sich nicht ermitteln und eine tragfähige etymologische Herleitung des Begriffs soll lieber dem einschlägigen Methodenfach überlassen werden. Es sei aber darauf hingewiesen, dass das erste Schriftzeichen shin schon die Bedeutung von untersuchen und beurteilen hat. Mit diesem Schriftzeichen beginnen eine Reihe anderer juristisch bedeutsamer Fachbegriffe, wie shinsa, shingi, und shinri, die daneben noch die Bedeutung von Verhandeln und Beraten haben. Die japanische Schriftzeichenkombination für shinpan ist also für die dargestellte Einrichtung durchaus passend. Entsprechend wird vom einschlägigen Wörterbuch der japanisch-deutschen Rechtssprache tatsächlich auch als deutschsprachige Übersetzung „Beurteilungsverfahren“ vorgeschlagen.49 Da, wie gesehen, der shinpan aber sowohl im Zivil-, Straf- und Verwaltungsverfahrensrecht existiert, ist vielleicht eine konkretere Übersetzung nötig, die der jeweiligen Funktion gerechter wird. Soweit sich die deutschsprachige Literatur mit dem shinpan des japanischen Verwaltungsverfahrensrechts befasst, findet sich eine große Anzahl von Übersetzungsvorschlägen. Soweit ersichtlich stellt dabei niemand auf die letztliche Entscheidung als solche ab, sondern mehr auf das Verfahren, bzw. auf den Spruchkörper und seine Mitglieder. Ersteres wird Anhörungsverfahren, Verhandlungsverfahren, Vernehmungsverfahren, Anhörung, mündliche Verhandlung und vereinzelt sogar Klage genannt. Für den Spruchkörper finden sich die Übersetzungen Gericht und Tribunal, für das Mitglied des Spruchkörpers der Begriff Verwaltungsrichter. Angesichts der gesetzlichen Regelung des shinpan ist diese Vielfalt nicht überraschend. Die Vorzüge und Nachteile der einzelnen Übersetzungen sollen hier nicht diskutiert werden. Da der Verfasser – wie eingangs ausgeführt – für die deutschsprachige Übersetzung des Begriffs shinpan im Zivilverfahrensrecht auf das Verfahren abgestellt hat, soll das bei dem hiesigen Vorschlag auch geschehen. Da deutlich werden sollte, dass der shinpan hier im Bereich des verwaltungsverfahrensrechtlichen Einwendungsverfahrens auftritt, wird in bewusster Anknüpfung an den für den shinpan im Zivilverfahrensrecht gemachten Übersetzungsvorschlag „Verständigung im verwaltungsverfahrensrechtlichen Einwendungsverfahren“ vorgeschlagen.
49
Götze, Bernd: Japanisch-Deutsches Rechtswörterbuch, 2. Aufl. Tokyo 2012, S. 474.
Das Risikomanagementsystem und die Verantwortung des Vorstandes in der japanischen Finanz-Branche Von Midori Narazaki
I. Einleitung Über die Kontrolle über Finanzintermediäre wurde in Japan erst intensiv nachgedacht, seit in den 1990er Jahren Insolvenzen von Banken, Effekten- und Versicherungsunternehmen bekannt wurden, nämlich z. B. die Hokkaido¯ Takushoku Ginko¯ (Hokkaido¯ Takushoku Bank), die im Jahre 1999 gelöscht wurde, Yamaichi Sho¯ken (Yamaichi Securities Co., Ltd.), die im Jahre 1997 den Geschäftsbetrieb einstellte, sowie Nissan Seimei So¯go Hoken (Nissan Mutual Life), die 1997 als erste japanische Lebensversicherung insolvent wurde. Japan hat in der nunmehr schon lang anhaltenden Phase der Null-Zins-Politik nach dem sog. Platzen der wirtschaftlichen Blase Ende der 1980er Jahre viele Insolvenzen von Finanzintermediären bzw. deren Übernahme durch aus- und inländische Gesellschaften erfahren. Neulich aber hieß es in Deutschland „Von Japan lernen“. Danach solle die deutsche Lebensversicherungsbranche dem japanischen Beispiel folgen1. Ohne strenge Aufsicht hätten japanische Versicherungsunternehmen nach dem Ende der wirtschaftlichen Wachstumsphase die langanhaltende Niedrig-Zins-Phase nicht überstanden, weil sie ihren Kunden langfristig hohe Rendite garantiert hatten. Wie „streng“ aber ist die japanische Finanzaufsicht?
1 Bhayami/Luo/Mattar/Mohsler/Schmidt/Wagner, Ein Zinstal von fünfzehn Jahren überstanden, Versicherungswirtschaft vom 1. 1. 2012, S. 67, 69. Für das Übersenden dieses Aufsatzes bedanke ich mich bei Herrn Dieter Krause, RA/StB, tätig bei Deloitte in Köln, der selbst neulich darauf hingewiesen hat, dass das wirtschaftliche Umfeld der Lebensversicherung in Deutschland ähnlich sei wie das damalige in Japan nach dem Platzen der wirtschaftlichen Blase: Hofmeier/Krause/Menning, Risikotragfähigkeit der Lebensversicherung unter Berücksichtigung aktueller Entwicklungen, Der Betrieb 26 (2015) S. 1477.
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II. Rechten und Pflichten des Vorstandes im Gesellschaftsrecht Das Kontrollsystem, das die Insolvenz vermeiden soll, findet sich vor allem im Gesellschaftsrecht. Art. 91 Abs. 2 des deutschen Aktiengesetzes regelt für den Vorstand die Pflicht, ein Überwachungssystem einzurichten, nach dem den Fortbestand der Gesellschaft gefährdende Entwicklungen früh erkannt werden. Dieses richtet sich dem deutschen Gesetz zur Kontrolle und Transparenz in Unternehmensbereich (KontraG). Der deutsche „Corporate Governance Codex“ enthält Regeln über die Einrichtung und den Betrieb eines Risikomanagementsystems. Auch das japanische Gesetz über Gesellschaften, die den Rechtsformzusatz kaisha tragen (Kaisha Ho¯)2 regelt das Recht des Vorstandes, ein angemessenes System für die innere Kontrolle der Gesellschaft zu schaffen und eine Pflicht des Vorstandes bei sog. großen Gesellschaften über das interne Kontrollsystem zu entscheiden (Art. 362 Abs. 4 Satz 6). Das japanische Gesellschaftsrecht kennt dazu Ausführungsregelungen in Art. 100 der sog. Shiko¯ Kisoku3.Danach bedarf es eines Systems, dass die Kontrolle der Geschäftsführung ermöglicht (Art. 100 Nr. 1), die Gefahr von Verlusten offenbart (Art. 100 Nr. 2), die effektive Geschäftsführung sicher stellt (Art. 100 Nr. 3), die Rechtmäßigkeit der Handlungen garantiert (Art. 100 Nr. 4), und die angemessene Verwaltung des Konzerns erhält (Art. 100 Nr. 5).
III. Das öffentliche Wohl im Finanzwesen und die Verantwortung des Vorstandes Es ist in Japan noch offen, ob die Verantwortung des Vorstandes von Finanzintermediären strikter gehandhabt werden muss, als die des Vorstandes von Unternehmen in anderen Bereichen der Wirtschaft. Das japanische Bankrecht4 spricht in Art. 1 des Bankgesetzes von einer Verantwortung der Banken für das öffentliche Wohl (ko¯kyo¯ sei). Es mangelt indes an einer ausdrücklichen Definition dafür. Die Verantwortung der Banken für das öffentliche Wohl wird in ihrer Rolle als Kapitalsammelstelle und Kapitalversorger gesehen. Das japanische Gesetz über den Handel mit Finanzmarktinstrumenten (Kin’ yu¯ Sho¯hin Torihiki Ho¯)5 trat im Jahre 2007 als Überarbeitung des 2 Zum japanischen Gesellschaftrecht siehe Kozuka, Souichirou, Compliance in japanischen Unternehmen – Entwicklung in Recht und Praxis, http://sydney.edu.au/law/anjel/documents/ 2013/ZJapanR35_01_Kozuka.pdf; siehe auch Ito, Yuji, Das japanische Gesellschaftsrecht, Entwicklung und Eigentümlichkeiten, http://www.ilf-frankfurt.de/fileadmin/_migrated/con tent_uploads/ILF_WP_125.pdf. 3 Justizministerialverordnung Nr. 12/2006. 4 Gin’ko¯ Ho¯, Gesetz Nr. 21/1927, englischsprachige Übersetzung bei http://www.fsa.go.jp/ news/19/ginkou/20080627-4/01.pdf. 5 Kin’ yu¯ Sho¯hin Torihiki Ho¯, Gesetz Nr. 65/2006, englischsprachige Übersetzung bei http://www.fsa.go.jp/news/19/ginkou/20080627-4/02.pdf.
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alten Effektenhandelsgesetzes6 in Kraft und statuiert in Art. 24-4-4 eine Informationspflicht jeden börsennotierten und Wertpapiere begebenden Unternehmens über sein System der internen Kontrolle (Naibu To¯sei Ho¯koku) um eine korrekte Rechnungslegung sicherzustellen7. Nach dem Ausführungsstandard (Jisshi Kijun) gem. II.2.(1).j- der japanischen Finanzagentur (Kin’yu Cho¯)8 trifft die Berichtspflicht auch die überseeischen Tochtergesellschaften. Anderseits kennt weder das Bankrecht noch das Versicherungsgewerberecht9 gesetzliche Regeln, die dem Vorstand eine entsprechende Pflicht aufbürden.
IV. Leitlinie der japanischen Finanzagentur Die japanische Finanzagentur stellt ähnlich wie die deutsche Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) Leitlinien für die jährliche Finanz-Inspektion auf10. Diese Leitlinie dient nicht nur als Handbuch der Inspektion, sondern spielt auch eine wichtige Rolle im Aufsichtsrecht. Die Leitlinie enthält Regelungen für die interne Aufsicht und das Risikomanagement und befasst sich insbesondere mit dem Kreditrisiko, dem Marktrisiko und dem Liquiditätsrisiko inklusive eines Eigenkapital-Defizitrisikos.11
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Sho¯ken Torihiki Ho¯, Gesetz Nr. 25/1948. Der Bewertungsbericht über die interne Kontrolle muss von einem Wirtschaftsprüfer überprüft werden und dann veröffentlicht werden. Dazu vgl. Kanda, Hideki/Baum, Harald, Finanzmarktrecht, in: Baum, Harald/Bälz, Moritz (Hg.), Handbuch Japanisches Handels- und Wirtschaftsrecht, Köln 2011, Rdnr. 23. 8 Die japanische Finanzagentur (Financial Services Agency: Kin’yu Cho¯) wurde 1998 als Finanzaufsichtsbehörde (Kin’yu Kantoku Cho¯) eingerichtet und im Jahre 2000 in die gegenwärtige Organisation umgewandelt. Sie hat die Finanzaufsicht vom ehemaligen Schatzmi¯ kura Sho¯), zurzeit Finanzministerium (Zaimu Sho¯) übernommen für die drei Finisterium (O nanzbereiche Kreditwesen (Bankenaufsicht), Versicherungswesen (Versicherungsaufsicht) und Wertpapierhandel (Effektenhandelsaufsicht). Vgl. Yamauchi, Koresuke, Das Japanische im Japanischen Finanzrecht, in: Menkhaus, Heinrich (Hg.), Das Japanische im Japanischen Recht, München 1994, S. 311 – 315. 9 Hokengyo¯ Ho¯, Gesetz Nr. 105/1995, englischsprachige Übersetzung bei http://www.fsa. go.jp/news/19/ginkou/20080627-4/03.pdf. 10 Die Leitlinien für die Finanz-Inspektion sind im Juli 1999 von der alten Finanzaufsichtsbehörde bekannt gemacht worden und werden heutzutage jährlich von der Finanzagentur revidiert. 11 Die Leitlinien der Finanz-Inspektion bestehen aus drei Teilen: der erste Teil enthält die Aufsicht über das fundamentale Geschäftsmanagement des Kreditwesens, der zweite Teil überprüft, wie die Beratung zu den Finanzinstrumenten vor sich geht und untersucht die Geldversorgung, und der dritte Teil prüft den Mechanismus für die Einhaltung des Rechts, den Kundenschutz und das Risikomanagement. 7
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Die Leitlinie spiegelt die internationalen Standards von „Basel II“ and „Basel III“ wider12. Auch der „fit and proper“-Grundsatz in „Basel II“ über die Qualität, Zuverlässigkeit und soziale Verantwortlichkeit des Direktors ist bereits ins Finanzaufsichtsrecht aufgenommen worden (Art. 7 Abs. 2 Bankgesetz; Art. 8 Abs. 2 Versicherungsgewerbegesetz). Im September 2013 wurde eine Grund-Richtlinie der Finanzaufsicht13 von der Finanzagentur herausgegeben. Die Richtlinie zeigt die künftige Aufsichtspolitik, die dem Sammeln von Informationen und der Vorabinformation einen höheren Stellenwert einräumt, als einer direkten Inspektion im Büro. Die derzeitige Leitlinie zeigt deswegen die Tendenz, ein selbstregulierendes Management einschließlich der eigenständigen Rechnungskontrolle (Interne Revision) zu respektieren14. Es kann aber immer eine besonders strenge Überprüfung eines Finanzintermediärs erfolgen, falls die Finanzagentur dafür Anhaltspunkte sieht.
V. Der sog. Außendirektor im Vorstand Die japanische Notenbank (Nihon Ginko¯) untersucht neuerdings die Möglichkeit der funktionellen Verbesserung des Vorstandes, in dem die Unabhängigkeit und die Spezialisierung der Direktoren sichergestellt wird um die interne Inspektion zu stärken.15 Jedoch ist die Sicherung der Unabhängigkeit der Direktoren ein Problem. Die Direktoren der Banken und der Versicherungen werden aus unternehmensinternen Angestellten rekrutiert, die in der Regel schon ihr ganzes Leben lang im Unternehmen arbeiten. Selbständige Außendirektoren sind bei Banken und Versicherungen meistens nur in geringem Umfang tätig: 2,1 von 10,5 Direktoren im Durchschnitt sind selbstständige Außendirektoren bei den ca. 100 börsennotierten Banken.16 Deshalb hat das Unternehmensinteresse Vorrang. In Japan wird sogar der Wirtschaftsprüfer von der Gesellschaft angestellt, sodass es für ihn schwierig ist, zu berichtigen, selbst wenn er Fehler oder sogar Täuschungen in der Rechnungslegung findet. Im Vergleich mit Deutschland, wo es üblich ist, dass ein Außendirektor Unabhängigkeit genießt und die Mehrheit des Vorstands von Au12 Z. B. wurde die Leitlinie der Finanz-Inspektion im Jahre 2007 nach dem Erlass von „Basel II“ revidiert, um von vorherigem Behörden-Instruktionstyp zum Selbstregulierungstyp zu wechseln, d. h., von der Vermögenseinschätzung zur Risikomanagementeinschätzung. 13 Grund-Richtlinie für Finanz-Monitoring vom. 11. 09. 2013, http://www.fsa.go.jp/news/ 26/20140911-1.html. 14 Http://www.fsa.go.jp/news/newsj/17/20060331-8/01.pdf. 15 Bank von Japan, Risikoaufsicht bei Finanzintermediären, von Mai bis Juni 2014, https:// www.boj.or.jp/announcements/release_2015/data/rel150310b1.pdf. 16 Vgl. den Artikel über die Umfrage der Bank von Japan im Jahre 2016, https://www.boj. or.jp/announcements/release_2016/rel160322d.pdf (auf Japanisch); vgl. auch Umfrage des Jahres 2015, http://goodway.co.jp/fip/doc/ifra_research_201409.pdf.
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ßendirektoren besetzt ist, ist der Vorstand in Japan nicht immer in der Lage, den Betrieb unabhängig zu beaufsichtigen. Dazu lässt sich der Bilanzfälschungsfall von Olympus17 anführen. Der neue japanische „Corporate Governance Code“18, der von der Börse Tokyo (To¯kyo¯ Sho¯ken Torihiki Jo) aufgestellt wurde und auf die börsennotierten Gesellschaften angewandt wird, regelt deshalb vor allem Verwendung selbständiger unabhängiger Außendirektoren (Prinzip 4-8). Nach den Notierungsregeln der Börse Tokyo (Jo¯jo¯ Kisoku) muss der Ausgeber von börsennotierten Aktien mehr als eine Person als „unabhängigen Außendirektor oder Außenaufsichtsrat“ anstellen (Artt. 436-2 und 445-4).
VI. Rechtsprechung zur gesellschaftrechtlichen Verantwortung des Vorstandes Bei Banken, Versicherungen, und Effektenunternehmen hat der Vorstand den Rechtsvorschriften des Gesellschaftsrechts zu folgen, solange die Rechtsform des Rechtsträgers des Unternehmens eine Aktiengesellschaft ist. Der Aktionär eines Finanzintermediärs kann nach dem Gesellschaftsrecht Klage erheben um die Verantwortung des Vorstandes festzustellen. Nach der Rechtsprechung trägt der Vorstand eine gesellschaftrechtliche Verantwortung für die Einrichtung eines Risikomanagementsystems als Folge seiner Sorgfaltspflicht und Treuepflicht für die Aktionäre der Gesellschaft. Danach obliegt es dem Vorstand, die nötige Kontrolle einzuführen und nötige Maßnahmen zur Verhütung von Gefahren zu ergreifen. Die Gerichte haben anerkannt, dass der Vorstand bei seiner Entscheidung einen Spielraum dabei hat, Niveau und Inhalt des konkreten Risikomanagementsystems festzusetzen (sog. „Business Judgment Rule“), weil die Arten des Risikos je nach betriebenem Gewerbe unterschiedlich sind (Daiwa Bank NY-Fall, siehe im Folgenden). Der Oberste Gerichtshof hat die Pflicht des Vorstandes zur Einrichtung eines Risikomanagementsystems bestätigt und dem Vorstand die Möglichkeit eingeräumt, sich von der Verantwortung zu befreien, falls ein entsprechendes System eingerichtet wurde (Japan System Technik-Fall, siehe im Folgenden).
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Der Bewertungsbericht über das interne Kontrollsystem von Olympus war problemlos veröffentlicht worden. Siehe dazu Kozuka (Fn. 2) S. 3. 18 Corporate Governance Code vom 5. März 2015 in Kraft seit dem 1. Juni 2015, http:// www.jpx.co.jp/english/equities/listing/cg/ (auf Englisch).
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1. Daiwa Bank NY-Fall19 In den Jahren 1984 bis 1995 hatte ein Angestellter der Daiwa Bank NY heimlich den Handel mit „US treasury bonds“ vorgenommen und der Bank dadurch großen Schaden zugefügt. Der Verlust sollte bilanztechnisch versteckt werden. Dazu wurden Wertpapiere, die der Bank, aber auch solche, die ihren Kunden gehörten, verkauft. Der Fehlbetrag belief sich auf ca. 1.100 Millionen US Dollar. Der Vorgang blieb 12 Jahre lang unentdeckt. Der tätige Angestellte war damals ein stellvertretender Leiter der Filiale. Er handelte mit Wertpapieren und übte gleichzeitig die Aufsicht über sein Handeln aus. Der Filialleiter selbst wurde regelmäßig vom Mutterhaus der Bank ausgewechselt. Es gab keine innere Kontrolle. Die Filiale hat den Verlust auch vor der US- amerikanischen Finanzaufsicht verheimlicht. In der Folge wurde die Daiwa Bank Gegenstand eines strafrechtlichen Verfahrens. Am 28. Februar 1996 gestand sie ihre Schuld ein und bezahlte 340 Millionen US Dollar Strafe. Die Daiwa Bank zog sich daraufhin vom Geschäft in den USA zurück. In Japan klagten Vertreter der Aktionäre gegen den damaligen Vorsitzenden des Vorstands und den damaligen Filialleiter mit der Begründung, sie hätten ihre Pflicht zur Ausführung der internen Kontrolle versäumt und dadurch die Entstehung des Verlustes bewirkt. Das Distriktgericht Osaka20 urteilte: „Die Pflicht zur Geschäftsführung umfasst die Aufrechterhaltung eines Risikomanagementsystems, einer sogenannten internen Kontrolle, abhängig vom Umfang und der Eigenschaft des Geschäfts, das eine Gesellschaft betreibt.“ Dem Vorstand obliegt es, „über ein Risikomanagementsystem konkret zu entscheiden.“ „Allerdings bleibt es eine Frage der Geschäftsführung, welchen Inhalt eine Risikomanagement-Organisation zu haben hat. Ein großer geschäftlicher Ermessensspielraum (Business Judgement Rule) ist daher der Entscheidung des Vorstands zu eigen.“ „Über die Grundregel für das Risikomanagement, das die Basis der Geschäftsführung bildet, muss der Vorstand entscheiden. Der für die Geschäftsführung zuständige Direktor hat die Pflicht ein System des Risikomanagements im Bereich seiner Zuständigkeit nach der vom Vorstand vorgegebenen Grundregel konkret zu entscheiden. Dies gehört zum Inhalt der Sorgfaltspflicht eines Vorstandes.“ „Allerdings wird der Inhalt eines Risikomanagementsystems dauernd geändert und zunehmend bereichert, je mehr Erfahrungen infolge von Unfällen gesammelt werden und je mehr sich das Risikomanagementsystem als solches weiter entwickelt. Es ist daher nicht angemessen, auf dem Niveau des derzeitig geforderten Risikomanagementsystems diesen Fall einzuschätzen. Es gehört zum geschäftlichen Ermessen (Business Judgement) eines Vorstandes, welchen Inhalt die Risikomanagement-Organisation zu haben hat. Dem Vorstand ist ein großer Ermessensspielraum zuzuerkennen.“
19 20
Urteil des Distriktgerichts Osaka vom 20. 09. 2000, Hanrei Times Nr. 1047, S. 85. Urteil des Distriktgerichts Osaka (Fn. 19) S. 86.
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2. Japan System Technik-Fall21 Die Japan System Technik verkaufte Computer-Software. Ihre Aktien waren an der Börse Tokyo in der sog. zweiten Abteilung notiert. Das Unternehmen verfügte über zwei Abteilungen, die Verkaufs- und die Verwaltungsabteilung. Die Verkaufsabteilung wiederum bestand aus zwei Teilen, dem Betriebs- und dem Kontrollteil. Ein Direktor des Betriebsteils schloss mehrfach erfundene Verkäufe in Zusammenarbeit mit seinen Mitarbeitern ab um den geschäftlichen Erlös scheinbar zu vergrößern. Dazu hat er die Bestellscheine und die Lieferscheine der Handelspartner verändert und die veränderten Dokumente dem Kontrollteil und der Verwaltungsabteilung vorgelegt. Das Defizit aus den erdichteten Verkäufen wurde versteckt. Der Direktor des Betriebsteils gab seinen Vorgesetzten wiederholt Erklärungen ab, mit denen diese sich zufrieden gaben. Außerdem täuschte er die Rechnungsprüfer in dem er Schuldscheine der Handelspartner selbst ausfertigte. Die Erträge inklusive der erdichteten Verkaufsbeträge wurden in den Wertpapier-Berichten (yu¯ka sho¯ken ho¯koku sho) verzeichnet. Sobald die Täuschung auffiel, korrigierte das Unternehmen diese Wertpapierberichte. Diese Kurse der Aktien des Unternehmens gaben daraufhin nach. Ein Aktionär, der vor der Korrektur der Wertpapier-Berichte Aktien des Unternehmens erworben hatte und sie nach der Korrektur veräußert hatte, erhob gegen den Vorstand einen Schadensersatzanspruch. Der Oberste Gerichtshof wandte den Art. 350 des Gesetzes über Gesellschaften mit dem Rechtsformzusatz kaisha auf den gegebenen Fall an, lehnte aber die Verantwortlichkeit des Vorstandes ab.22 Der Oberste Gerichtshof sagt, dass das Unternehmen ein angemessenes Risikomanagementsystem eingerichtet hatte, mit dem es für denkbares Unrecht Vorkehrungen getroffen hatte. Die Täuschung sei so schlau gehandhabt worden, dass sie mit dem Risikomanagementsystem nicht habe verhindert werden können. Es gebe keine besonderen Umstände beim Vorstand eine weitergehende Verantwortung zu suchen. 3. Hokkaido¯ Takushoku Bank-Fall23 Von der Hokkaido¯ Takushoku Bank, die 1997 als erste sog. Stadtbank24 insolvent wurde, hatte eine Institution mit dem Namen Seiri Kaishu¯ Kiko¯ (SKK) Forderungen
21 Urteil des Obersten Gerichtshofs, Erster kleiner Spruchkörper, vom 9. Juli 2009, Hanrei Times Nr. 1307, S. 117. 22 Der Art. 21 des Gesetzes über den Handel mit Finanzmarktinstrumenten wird auf alle seit dem 1. Dezember 2004 vorgelegten Wertpapier-Berichte (yu¯ka sho¯ken ho¯koku sho) angewandt. Im gegebenen Fall geht es um Wertpapierberichte aus der Zeit davor. 23 Urteil des Obersten Gerichtshofs, Dritter kleiner Spruchkörper, vom 9. November 2009, Hanrei Times Nr. 1317, S. 142.
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gegen den Einlagensicherungsfonds (Yokin Hoken Kiko¯) käuflich erworben. Die SKK verlangte Schadensersatz vom Vorstand der Bank mit der Begründung, dass dieser seine Sorgfalts- und Treuepflicht im Hinblick auf die Einziehung des von ihm genehmigten Darlehens verletzt habe. Der Oberste Gerichtshof urteilte, „es gebe bei der Sorgfaltspflicht eines Vorstandes einer Bank, ähnlich wie einer Aktiengesellschaft, die ein anderes Gewerbe betreibe, zwar ein Spielraum, der durch die ,Business Judgement Rule‘ ausgefüllt werde“ obwohl in der Regel die Sorgfaltspflicht eines Auftragnehmers gem. Art. 644 Zivilgesetz25 sowie die Treuepflicht eines Vorstandes gem. Art. 355 des Gesetzes über die Gesellschaften mit dem Rechtsformzusatz kaisha anzuwenden seien. Aber beim Darlehensgeschäft einer Bank werde vom Vorstand eine höhere Sorgfaltspflicht als im Fall einer Gesellschaft, die ein anderes Gewerbe betreibe, gefordert. Deshalb sei die „Business Judgement Rule“ angesichts der Eigenart des zulassungspflichtigen Bankgeschäfts bei dem Geldmittel von den Kontoinhabern gesammelt und diese an Dritte verauslagt würden, auf einen kleinen Spielraum eingeschränkt. Der Direktor einer Bank sei Experte des Finanzgeschäfts, dessen Erkenntnisse und Erfahrungen im Darlehensgeschäft verwendet werden müssten, um den Notfall zu vermeiden. Wenn eine Bank ausnahmsweise ein zusätzliches ungesichertes Darlehen als Hilfe für eine Gesellschaft gebe, die danach tatsächlich insolvent werde, brauche es einerseits einen konkreten Plan, der auf den Wiederaufbau oder die Umorganisation der Gesellschaft gerichtet sei und anderseits eine starke Verwaltung der Bank um ihn sicher auszuführen.
VII. Schlussbemerkung Die Verantwortung des Vorstandes einer Bank wurde vom Obersten Gerichtshof im obigen Hokkaido¯ Takushoku Bank-Fall als schwerer als bei Gesellschaften mit anderen Gewerben interpretiert. Es ist aber ein Einzelfall, der die Verantwortung des Vorstandes einer gescheiterten Bank mit Risikokrediten beleuchtet, die durch das Platzen der wirtschaftlichen Blase entstanden sind. Tatsächlich ermangelt es klarer Rechtsvorschriften in Finanzaufsichtsrecht darüber, wie die größere Sorgfaltspflicht des Vorstandes von Finanzintermediären bei der Einrichtung und dem Betrieb des Risikomanagementsystems aussehen soll. Die Leitlinie der Finanzagentur für die Inspektion regelt lediglich und ohne aufsichtsrechtliche Grundlage ausführliche Anforderungen für die interne Prüfung gegen Risiken, die zudem gegenwärtig auf Kapitalrisiko, Marktrisiko und Liquiditätsrisiko beschränkt sind. Für das Niveau der Aufsicht über immanente Risiken, die der Vorstand eines Finanzintermediärs ein24 Zur Kategorisierung der Banken unter den Finanzintermediären siehe Menkhaus, Heinrich, Zeit ist Geld – Zum Stand des bargeldlosen Zahlungsverkehrs in Japan, in: Japanstudien 2 (1990) S. 53, 57. 25 Minpo¯, Gesetz Nr. 89/1896, englischsprachige Übersetzung bei http://www.moj.go.jp/ content/000056024.pdf.
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richten muss, bleibt Unklarheit über die Auffassung der Finanzagentur. Sie kann einerseits eine flexible Aufsicht führen, anderseits neigt sie dazu, ihre Autorität zu vergrößern. Das veranlasst die Finanz-Branche zum Aufbau von engen Beziehungen zur Finanzagentur wodurch ein „Festkleben“ an der Behörde strukturell erzwungen wird. Die Vorstände der Banken, Versicherungen und Effektenunternehmen befürchten nicht so sehr die Klage, sondern eher den Verlust der gut verlaufenden Beziehung mit der Finanzagentur.
„Ewiges“ Widerrufsrecht und Treu und Glauben Von Petra Pohlmann
I. Einleitung Die deutschen Lebensversicherer sehen sich derzeit zahlreichen Ansprüchen von Versicherungsnehmern ausgesetzt, die den Versicherungsvertrag widerrufen, nachdem sie über Jahre Versicherungsschutz genossen und Prämien gezahlt haben. Auslöser ist die Europarechtswidrigkeit des § 5a II 4 a.F. Versicherungsvertragsgesetz (VVG). Nach dieser Regelung erlosch das Recht zum Widerruf von Verträgen, die nach dem Policenmodell geschlossen wurden und bei denen der Versicherungsnehmer nicht oder nicht richtig über sein Widerrufsrecht belehrt wurde, ein Jahr nach Zahlung der ersten Prämie. Nachdem der EuGH die Norm für europarechtswidrig erklärt hatte, gestand der BGH dem Versicherungsnehmer aufgrund des EU-Rechtsverstoßes ein „ewiges“ Widerrufsrecht zu, wenn er bei Vertragsabschluss über sein Widerrufsrecht nicht hinreichend informiert wurde. Dieselbe Folge nahm er im Zusammenhang mit § 8 IV 4, V 4 VVG a.F. an. Noch offen ist, ob sogar alle im Wege des Policenmodells geschlossenen Verträge, also auch solche mit richtiger Belehrung, wegen eines möglichen EU-Rechtsverstoßes widerruflich oder aus anderen Gründen unwirksam sind. Der BGH prüft sowohl in den Fällen fehlerhafter Belehrung als auch in den Fällen richtiger Belehrung, ob der Versicherer dem Rückabwicklungsverlangen des Versicherungsnehmers den Grundsatz von Treu und Glauben entgegenhalten kann. Die Überlegung liegt nahe, hat doch der Versicherungsnehmer oft über viele Jahre den Versicherungsschutz genossen. Es mutet an wie ein zufälliges Geschenk, wenn er sich nun von dem Vertrag lösen und die Versicherungsprämien zumindest anteilig zurückerhalten kann. Es soll daher im Folgenden der Frage nachgegangen werden, wann der Versicherer dem Versicherungsnehmer den Grundsatz von Treu und Glauben entgegenhalten kann. Auch wenn Versicherungsnehmer nicht immer Verbraucher sind, steht diese Frage in dem allgemeinen Zusammenhang, inwieweit Treu und Glauben dem Verbraucherschutz entgegengehalten werden kann. Im Folgenden wird zunächst der rechtliche Hintergrund der Rückforderungsansprüche der Versicherungsnehmer erläutert (II.), bevor darauf eingegangen wird, wie Treu und Glauben hier als Korrektiv wirken können (III.), und ein Fazit gezogen wird (IV.).
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II. Policenmodell und EU-Recht 1. Policenmodell Nach § 5a VVG a.F. galt der Versicherungsvertrag auf der Grundlage des Versicherungsscheins, der Versicherungsbedingungen und der weiteren für den Vertragsinhalt maßgeblichen Verbraucherinformation als abgeschlossen, wenn der Versicherungsnehmer diese Unterlagen aufgrund seines Versicherungsantrags in Textform erhalten und nicht innerhalb von 15 Tagen (30 Tagen bei der Lebensversicherung) widersprochen hatte. Der Fristlauf begann erst, wenn über das Widerspruchsrecht belehrt war. Abweichend davon erlosch das Recht zum Widerspruch jedoch unabhängig von der Belehrung ein Jahr nach Zahlung der ersten Prämie. 2. Richtlinienvorgaben Die damals einschlägigen EU-Richtlinien sahen vor, dass der Versicherungsnehmer vor Abschluss des Versicherungsvertrags die notwendigen Informationen über den Versicherer und das Produkt1 (so im Bereich der Lebensversicherung) oder über den Sitz des Versicherers, anwendbares Recht und eine Beschwerdestelle2 (so im Bereich der Schadensversicherung) zu erhalten hatte. Für die Lebensversicherung sahen die Richtlinien zudem ein Rücktrittsrecht innerhalb einer Frist von 14 – 30 Tagen vor.3 Nach der Fernabsatzrichtlinie II ist der Versicherungsnehmer zu informieren, bevor er vertraglich gebunden ist.4 Auch die Richtlinie über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen legt nahe, dass ein Verbraucher vor Vertragsschluss die Gelegenheit haben soll, von allen Vertragsklauseln Kenntnis zu nehmen.5 3. Verstoß des § 5a VVG a.F. gegen die Richtlinien a) Policenmodell Ob das Policenmodell gegen die genannten Richtlinienbestimmungen verstieß, ist ungeklärt. Die h. L. nimmt das jedenfalls in der Lebensversicherung an,6 die Recht1 Art. 31 I der Dritten Richtlinie Leben (92/96/EWG) = Art. 36 I der Richtlinie Leben (2002/83/EG), die die vorhergehenden Richtlinien konsolidierte. 2 Art. 31 I und 43 II der Dritten Richtlinie Schaden (92/49/EWG). 3 Art. 15 I der Zweiten Richtlinie Leben (90/619/EWG) in der Fassung der Dritten Richtlinie Leben (92/96/EWG). 4 Art. 3 Fernabsatzrichtlinie II (2002/65/EG). 5 Erwägungsgrund 20 (2) der Richtlinie über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen (93/13/EWG). 6 Jüngst Looschelders, Dirk, Die Vereinbarkeit des Policenmodells nach § 5a VVG a.F. mit dem Unionsrecht, VersR 2016, 7, 10 ff.; Roth, Wulf-Henning, Policenmodell und Unionsrecht, VersR 2015, 1 ff.; zahlreiche weitere Nachweise zu beiden Auffassungen bei BGH VersR 2014, 1065, 1066 ff. (Rn. 18 und 19).
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sprechung ist anderer Ansicht, hält es also für vereinbar mit EU-Recht.7 Der EuGH hat bisher einen Verstoß gegen die EU-Richtlinien nur für das Erlöschen des Widerspruchsrechts gem. § 5a II 4 VVG a.F. im Falle fehlender oder nicht ausreichender Belehrung festgestellt.8 Da nach den oben genannten Richtlinienbestimmungen im Bereich der Lebensversicherung der Versicherungsnehmer alle Informationen vor Vertragsschluss haben soll, um zumindest theoretisch EU-weit zwischen Lebensversicherungen auszuwählen, spricht einiges dafür, dass zumindest in dieser Sparte die Vertragsabschlüsse nach dem Policenmodell mit EU-Recht nicht vereinbar sind.9 Daher hängt die mögliche Unwirksamkeit wie ein Damoklesschwert über sämtlichen nach dem Policenmodell abgeschlossenen Verträgen. Zwar muss die europarechtlich dann gebotene Nichtanwendung des § 5a VVG a.F. nicht zwingend dazu führen, dass die Verträge unwirksam oder widerruflich sind. Der Zweck der vorvertraglichen Information, dem Versicherungsnehmer die Auswahl zwischen Produkten zu ermöglichen, lässt sich im Nachhinein nicht mehr erreichen. Dennoch ist nicht auszuschließen, dass die Rechtsprechung zu dem Ergebnis kommen könnte, die Verträge seien im Nachhinein noch widerruflich. b) Erlöschen des Widerrufsrechts Für den Fall einer unzureichenden oder fehlenden Belehrung sieht der EuGH § 5a II 4 VVG a.F. als richtlinienwidrig an.10 Das Widerrufsrecht dürfe bei fehlender Belehrung nicht erlöschen, denn auch über seine Möglichkeiten zum Widerruf habe der Versicherungsnehmer hinreichend informiert werden müssen, um entsprechend frei darin zu sein, sein Wahlrecht zwischen verschiedenen Versicherungsprodukten auszuüben. Der BGH hat daraufhin § 5a II 4 VVG a.F.11 sowie § 8 IV 4, V 4 VVG a.F.12 richtlinienkonform teleologisch reduziert. In der Lebens-, der Renten- und den Zusatzversicherungen zur Lebensversicherung finden sie keine Anwendung, das Widerrufsrecht besteht also fort,13 wenn der Versicherungsnehmer entweder gar nicht oder unzureichend belehrt wurde.
7
BGH VersR 2014, 1065, 1066 ff. mit zahlreichen Nachweisen aus der Rechtsprechung (Rn. 19). 8 EuGH VersR 2014, 225, 227, Rn. 20. 9 Vgl. Schlussanträge GA Sharpston, Rs. C-209/12, Rn. 57 ff., insbes. 59, 62. 10 EuGH VersR 2014, 225. 11 BGH NJW 2014, 2646. 12 BGH NJW 2015, 1023. 13 Methodenkritik an den Entscheidungen bei Michael, Lothar/Payandeh, Mehrdad, Richtlinienkonforme Rechtsfortbildung zwischen Unionsrecht und Verfassungsrecht, NJW 2015, 2392 ff.
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4. Anforderungen an die Belehrung Diese Rechtsprechung geht einher mit strengen Vorgaben dazu, wie der Versicherungsnehmer über sein Widerrufsrecht zu belehren war. Eine gesetzlich angeordnete Belehrung muss, so der BGH, damit sie ihren Zweck erreichen kann, inhaltlich möglichst umfassend, unmissverständlich und aus Sicht der Verbraucher eindeutig sein.14 Die Widerspruchsfrist begann erst dann, wenn dem Versicherungsnehmer der Versicherungsschein und die Unterlagen nach § 5a I VVG a.F. – Allgemeine Versicherungsbedingungen (AVB) und Verbraucherinformation – vollständig vorlagen und der Versicherungsnehmer bei Aushändigung des Versicherungsscheins schriftlich, in drucktechnisch deutlicher Form über das Widerspruchsrecht, den Fristbeginn und die Dauer belehrt wurde. § 8 IV 3, V 3 VVG a.F. verlangte eine Belehrung, die der Versicherungsnehmer durch Unterschrift bestätigt hatte. Für den Widerspruch selbst war in § 5a VVG a.F. vorgegeben, dass schriftlich widersprochen wurde, später genügte aufgrund einer Gesetzesänderung Textform; § 8 IV 2 verlangte Schriftform. Die Kasuistik dazu, was der Versicherer tun musste, um den Versicherungsnehmer umfassend genug über sein Widerrufsrecht zu informieren, ist ausufernd. Geschätzt gibt es mindestens 30 Urteile dazu. Hier soll daher nur beispielhaft dargestellt werden, welche Belehrungen die Rechtsprechung als fehlerhaft ansah. Es wird im Zusammenhang mit Treu und Glauben dann darauf zurückzukommen sein, ob tatsächlich kleinste formale Mängel dazu führen können, dass der Versicherungsnehmer den Vertrag widerrufen und seine Prämien zurückfordern kann. Die Rechtsprechung überprüft den Zeitpunkt, die Vollständigkeit, die inhaltliche Richtigkeit und Widerspruchsfreiheit sowie die drucktechnische Gestaltung der Widerrufsbelehrung. Unvollständig ist z. B. eine Erklärung, die die geforderte Form des Widerspruchs nicht näher beschreibt, sondern nur von „Absendung“ der Erklärung spricht15 oder nur erwähnt, man habe das Recht, dem Vertrag zu widersprechen.16 Sind das Widerspruchsrecht und die entsprechende Überschrift zwar in den AVB fettgedruckt, unterscheiden sich aber drucktechnisch nicht von den sonstigen AVB, sind sie nicht hinreichend hervorgehoben.17 Letzteres gilt auch, wenn die Belehrung in etwas fetteren Lettern gesetzt ist, sich aber dennoch nicht wesentlich vom übrigen Text abhebt.18 Auch eine Belehrung, in der nur der erste Satz des Belehrungstextes fett gedruckt ist, ist nicht genügend hervorgehoben.19
14
BGH VersR 2013, 1513, 1514 m.w.N. BGH WM 2015, 1614, 1615; BGH r+s 2016, 19; BGH BeckRS 2015, 16603 Rn. 12. 16 BGH VersR 2004, 497, unter 3. a) der Gründe. 17 OLG München VersR 2013, 1025, 1026. 18 BGH VersR 2004, 497, unter 3. d) der Gründe. 19 BGH r+s 2015, 597. 15
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5. Folgen des Widerrufs Hat der Versicherungsnehmer widerrufen, werden die Verträge rückwirkend und endgültig unwirksam. Das Schuldverhältnis ist nach Bereicherungsrecht rückabzuwickeln. Die Folge ist, dass der Versicherer die gezahlten Prämien erstatten muss, § 818 II BGB.20 Außerdem muss er die Nutzungen herausgeben, die er aus den Prämien gezogen hat, indem er sie angelegt hat. Soweit die Prämie den Risikoanteil der Versicherung abdeckte, ist sie nicht herauszugeben. Daher sind auch die entsprechenden Nutzungen nicht herauszugeben.21 Nach der Saldotheorie sind die Leistungen des Versicherungsnehmers mit der Gegenleistung des Versicherers zu saldieren. Die Gegenleistung besteht darin, dass der Versicherer Versicherungsschutz gewährt hat. Zwar war wegen des rückwirkenden Widerrufs das Versprechen des Versicherungsschutzes nicht rechtlich wirksam. Allerdings war der Versicherungsschutz doch faktisch gegeben, denn der Versicherer hätte im Versicherungsfall geleistet.22
III. Treu und Glauben als Grenze 1. Rechtsprechung Nach dem oben Gesagten kann ein nicht ordnungsgemäß belehrter Versicherungsnehmer einen nach dem Policenmodell abgeschlossenen Lebensversicherungsvertrag noch nach Jahren widerrufen. Ist er ordnungsgemäß belehrt worden, ist derzeit noch offen, ob die Verträge wirksam sind. In beiden Fällen ist zu klären, inwieweit der Grundsatz von Treu und Glauben aus § 242 BGB dem Widerruf solcher lange Zeit unbeanstandet durchgeführter Verträge Grenzen zieht. Der BGH diskutiert erstens, ob das Widerrufsrecht verwirkt ist. Entsprechend seiner Rechtsprechung zum Widerrufsrecht des BGB23 stellt der BGH hohe Anforderungen an die Verwirkung. Er ist der Ansicht, dass der Versicherer sich bei fehlerhafter Belehrung grundsätzlich schon deshalb nicht auf Treu und Glauben berufen könne, weil er durch seine fehlerhafte Belehrung die Situation selbst herbeigeführt habe und nicht schutzwürdig sei.24 Anderes soll gelten, wenn der Versicherungsnehmer selbst Versicherungsvertreter war, der sein Recht zum Widerspruch kannte,25 20
OLG Stuttgart VersR 2015, 561, 562; Reiff, Peter, Die bereicherungsrechtliche Rückabwicklung des Policenmodells in der Lebensversicherung, r+s 2015, 105, 107. 21 Vgl. BGH r+s 2016, 20, 23; BGH BeckRS 2016, 03907. 22 BGH NJW 2014, 2646, 2651; BGH WM 2015, 1614, 1616; Brand, Oliver, Ausschluss des Ausschlusses? – Zur Europarechtswidrigkeit des § 5a Abs. 2 S. 4 VVG a.F. nach der Entscheidung des EuGH vom 19. 12. 2013 (VersR 2014, 225) in der Rechtssache Endress/ Allianz, VersR 2014, 269, 275. 23 Dazu näher Armbrüster, Christian, „Ewige“ Widerrufsrechte und ihre Folgen, VersR 2012, 513, 517 f. 24 BGH NJOZ 2016, 689, 690; BGH r+s 2015, 435, 437; BGH NJW 2014, 2646, 2650. 25 OLG Stuttgart r+s 2015, 123, 124.
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oder wenn der Versicherungsnehmer nach einem zunächst ohne hinreichende Belehrung geschlossenen Vertrag später, nach Erhalt der Unterlagen und nach einiger Zeit der Durchführung des Vertrages auf einer Fortsetzung des Vertrages besteht, nachdem ihm der Versicherer zunächst wegen Prämienrückstands gekündigt hatte.26 Im letztgenannten Fall ergibt sich die Treuwidrigkeit des Widerrufs aus dem Widerspruch zu diesem Verhalten.27 Dagegen nimmt der BGH bei richtiger Belehrung an, dass ein Versicherungsnehmer, der einen Vertrag jahrelang durchgeführt hat, diesen nach § 242 BGB nicht widerrufen kann, selbst wenn das Policenmodell gegen EU-Recht verstößt. Wenige Jahre genügen dem BGH für die Annahme, eine Lösung vom Vertrag sei treuwidrig.28 Zweitens prüft der BGH, ob die Geltendmachung von Bereicherungsansprüchen missbräuchlich sei. Auch das lehnt er ab; hier wendet er nicht die Grundsätze der Verwirkung an, sondern untersucht, ob widersprüchliches Verhalten vorliege. Das verneint er, da der Versicherer nicht schutzwürdig sei. Er habe die Belehrung versäumt.29 2. Treu und Glauben und Europarecht Der in § 242 BGB niedergelegte Grundsatz von Treu und Glauben des deutschen Zivilrechts findet auch Anwendung auf Rechte, die, wie das Widerrufsrecht nach § 5a VVG a.F., ihren Ursprung im europäischen Privatrecht haben. Diese Rechte sind in die jeweiligen nationalen Rechtsordnungen eingebettet. Allerdings darf der Grundsatz von Treu und Glauben die effektive Geltendmachung und Durchsetzung der im Europarecht wurzelnden Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Effektivitätsgrundsatz). Auch darf er die Durchsetzung dieser Rechte nicht mehr erschweren als die Durchsetzung nationaler Rechte (Äquivalenzgrundsatz).30 Daneben ist daran zu denken, den im europäischen Privatrecht selbst wurzelnden Grundsatz von Treu und Glauben anzuwenden. Es ist nicht prinzipiell ausgeschlossen, dass dieser Grundsatz zusätzliche Möglichkeiten bietet, einem Recht Grenzen zu ziehen. Auch dieser Grundsatz ist allerdings im Lichte des Effektivitätsgrundsatzes zu konkretisieren.31 Im Folgenden soll die Untersuchung auf § 242 BGB beschränkt bleiben, wobei vor allem der Effektivitätsgrundsatz zu beachten ist. Der Äquivalenzgrundsatz wird in der Regel nicht tangiert sein, da § 242 BGB für im nationalen Recht 26
BGH BeckRS 2016, 02173 Rn. 10 ff.; BeckRS 2016, 02174 Rn. 10 ff. BGH BeckRS 2016, 02173 Rn. 19. 28 BGH r+s 2016, 66, 67; s. weitere Nachweise bei Pohlmann, in: Looschelders, Dirk/ Pohlmann, Petra, VVG, 3. Aufl. 2016 (im Druck), § 7. 29 BGH NJW 2014, 2646, 2650. 30 EuGH GRUR 2014, 368, 371. 31 Schubert, Claudia, in: MüKo/BGB, 7. Aufl. 2016, § 242 Rn. 157. 27
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begründete Rechtspositionen ohnehin gilt, eine Besserstellung nationaler Sachverhalte also ausgeschlossen ist. 3. Rechtsmissbrauch und Verwirkung nach § 242 BGB a) Gegenstand und typische Konstellationen Zunächst ist klarzustellen, dass es im Folgenden allein darum geht, ob die Ausübung des Widerrufsrechts gegen Treu und Glauben verstößt. Die weitere, auch vom BGH angesprochene Frage, ob die Geltendmachung von Bereicherungsansprüchen aus dem durch Widerruf unwirksamen Vertrag treuwidrig ist, kann schlechterdings nicht zu anderen Ergebnissen führen als die erstgenannte Frage. Ein Fall, in dem der Widerruf zulässig, die Geltendmachung von Bereicherungsansprüchen aber treuwidrig ist, ist kaum denkbar, stützt man sich doch in beiden Fällen darauf, dass der Versicherungsnehmer den Vertrag über eine gewisse Zeit durchgeführt hat. Eine Vertragsbeendigung ex nunc ist dem Versicherungsnehmer ohnehin immer möglich. Welche Fallgruppen des § 242 BGB kommen in den typischen Sachverhalten in Betracht? In den Fällen, die die Praxis derzeit beschäftigen, liegt der Vertragsschluss vor dem 1. 1. 2008, also mindestens achteinhalb Jahre zurück. In vielen Fällen hat der Versicherungsnehmer einige Jahre lang den Vertrag durchgeführt und die Prämie gezahlt, in den bisher entschiedenen Fällen zwischen 13 Jahre32 und 4 Jahre33 lang, manchmal hat der Versicherungsnehmer nach dieser Vertragslaufzeit gekündigt, wobei zwischen der Kündigung und dem späteren Widerruf Zeiträume von einigen Monaten34 bis zu 7 Jahren35 lagen. In diesen Fällen ist also der Zeitraum der Vertragsdurchführung ein Aspekt, der für Treuwidrigkeit sprechen kann. Hinzu kommt als weiterer Aspekt die Kündigung, mit der der Versicherungsnehmer sich für eine Beendigung des Vertragsverhältnisses mit endgültiger Abwicklung der Rechtsbeziehungen entscheidet (§ 168 VVG). Vergeht dann zwischen Kündigung und Widerruf noch einmal längere Zeit, ist das ein weiterer Aspekt, der für Treuwidrigkeit sprechen kann. Besondere Konstellationen liegen vor, wenn der Versicherungsnehmer nach dem Erhalt sämtlicher Unterlagen noch einmal erklärt, an dem Vertrag festhalten zu wollen. Das kommt zum Beispiel vor, wenn er zunächst entweder selbst eine Kündigung in die Wege leiten wollte oder wenn ihm wegen Prämienverzugs gekündigt wird. Besteht er dann darauf, den Vertrag fortzusetzen, kann ihm deshalb verwehrt sein, sich später auf eine unzureichende Belehrung oder die EU-Rechtswidrigkeit des Policenmodells zu berufen.36 Fraglich ist auch, ob die Kenntnis des Versicherungs32
BGH BeckRS 2015, 18440. BGH r+s 2016, 66, 67. 34 BGH r+s 2015, 538. 35 BGH NJW 2014, 2723, 2727. 36 BGH BeckRS 2016, 02173; BeckRS 2016, 02174. 33
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nehmers von seinen Widerrufsmöglichkeiten die Berufung auf unzureichende Belehrung treuwidrig macht.37 b) Verwirkung durch Zeitablauf Die Verwirkung durch Zeitablauf ist ein Unterfall des widersprüchlichen Verhaltens; es gibt auch andere Verwirkungstatbestände,38 die hier nicht einschlägig sind. Verwirkung setzt voraus, dass ein Recht längere Zeit nicht geltend gemacht wurde (Zeitmoment) und der andere Teil sich aufgrund des gesamten Verhaltens des Berechtigten darauf einstellen durfte und darauf eingestellt hat, dass das Recht nicht mehr geltend gemacht werde, und deshalb durch die verspätete Durchsetzung einen unzumutbaren Nachteil erlitte (Umstandsmoment).39 Die Verwirkung begründet eine rechtsvernichtende Einwendung.40 Das Zeitmoment kann nicht unabhängig von den Umständen bestimmt werden. So gibt es also keine abstrakt „lange“ Zeit, die die Voraussetzungen des Zeitmoments erfüllte. In den Fällen ordnungsgemäßer Belehrung ist zunächst die Widerrufsfrist der maßgebliche Zeitraum. Ist innerhalb der gesetzlichen Frist bei ordnungsgemäßer Belehrung nicht widerrufen worden, durfte der Versicherer sich darauf verlassen, dass der Vertrag Bestand hat. Fraglich ist, wie sich eine mögliche EU-Rechtswidrigkeit des Policenmodells hier auswirkt. Da die Möglichkeit eines EU-Rechtsverstoßes dem Versicherungsnehmer nicht bekannt gewesen sein wird, kann aus der unterlassenen Geltendmachung eines darauf gestützten Widerrufs oder einer darauf gestützten Nichtigkeit nicht geschlossen werden, der Versicherungsnehmer werde solche Rechte nicht geltend machen. Da umgekehrt aber auch der Versicherer sich darauf verlassen durfte, die gesetzlich vorgesehene Methode des Vertragsschlusses sei rechtens, musste er mit einem Widerruf des Versicherungsnehmers nicht rechnen, so dass das Unterlassen des Widerrufs durch den Versicherungsnehmer auch keinen Vertrauenstatbestand begründete. Allein maßgeblich ist, dass der Versicherungsnehmer den Versicherungsvertrag nicht innerhalb der Frist widerrief. Ob der Vertrag danach 4 oder 13 Jahre – beides sind Zeiträume, die der BGH ausreichen lässt, um die Verwirkung zu begründen – durchgeführt wurde, spielt keine Rolle. Die Auffassung des BGH, wonach der Gesichtspunkt von Treu und Glauben keineswegs stets bei ordnungsgemäßer Belehrung greift, sondern nur in Fällen jahrelanger Durchführung des Vertrags,41 ist daher abzulehnen. Wurde der Versicherungsnehmer nicht hinreichend belehrt, schließt das nach Auffassung des BGH grundsätzlich aus, dass er sein Widerrufsrecht verwirkt hat. Denn der Versicherer habe durch seine fehlerhafte Belehrung die Situation selbst herbei37
OLG Stuttgart r+s 2015, 123, 124. Schubert, Claudia (Fn. 31) § 242 Rn. 290 ff. 39 BGH NJW 2014, 2646, 2650; Palandt/Grüneberg, Christian, § 242 Rn. 87. 40 Palandt/Grüneberg, Christian, § 242 Rn. 96. 41 BGH NJW 2014, 2723, 2728, Rn. 41. 38
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geführt und sei nicht schutzwürdig.42 In der Tat ist das Vertrauen des Versicherers jedenfalls dann nicht schutzwürdig, wenn der Versicherer weiß oder davon ausgehen muss, dass der Versicherungsnehmer sein Recht aus Unkenntnis nicht geltend macht.43 Das ist grundsätzlich bei einer fehlenden Belehrung der Fall. Bei Fehlern aber, die geringfügig sind und ihrer Art nach den Widerruf nicht erschwert haben, muss der Versicherer nicht davon ausgehen, dass der Versicherungsnehmer sein Recht aus Unkenntnis nicht geltend macht. Geringfügigkeit des Fehlers und fehlende Kausalität des Fehlers für den unterlassenen Widerruf sind Gesichtspunkte, die bei langdauernder Vertragsdurchführung im Rahmen der Interessenabwägung zu berücksichtigen sind,44 und die durchaus dazu führen können, dass der Widerruf sich als treuwidrig erweist.45 Der BGH ließ das allerdings bisher offen.46 Ein Widerruf ist nach hier vertretener Auffassung etwa dann treuwidrig, wenn der Fehler darin besteht, dass die geforderte Form des Widerspruchs nicht näher beschrieben ist, sondern nur von „Absendung“ der Erklärung gesprochen wird. Es ist zwar klar, dass der Versicherer dem Versicherungsnehmer nicht entgegenhalten könnte, ein erklärter Widerruf sei formfehlerhaft; allerdings muss der Versicherer es umgekehrt auch nicht hinnehmen, dass der Versicherungsnehmer ein über längere Zeit durchgeführtes Vertragsverhältnis mit dieser Begründung noch widerruft. Der Versicherer darf bei nur geringfügigem, für das Unterlassen des Widerrufs nicht kausalem Belehrungsfehler und längerer Durchführung des Versicherungsvertrages davon ausgehen, dass der Versicherungsnehmer keiner Information mehr bedarf.47 Inwieweit eine Kündigung des Versicherungsvertrages, unabhängig von der Dauer der Vertragsdurchführung, einen Widerruf ausschließen kann, ist ungeklärt. Einig ist man sich, dass grundsätzlich eine vorhergehende Kündigung das Widerrufsrecht nicht ausschließt, wenn der Versicherungsnehmer nicht ausreichend belehrt wurde.48 Welche Rolle spielt nun die Kündigung im Rahmen von § 242 BGB? Sie macht deutlich, dass der Versicherungsnehmer nicht am Vertrag festhalten will. Insofern steht sie nicht im Widerspruch zum Widerruf. Ist aber die Kündigung erklärt und das Vertragsverhältnis endgültig abgewickelt, erweckt der gesamte Vorgang in dem Versicherer das Vertrauen, dass der Versicherungsnehmer mit diesem Vorgehen und 42 BGH NJOZ 2016, 689, 690; BGH r+s 2015, 435, 437; BGH NJW 2014, 2646, 2650; anders KG r+s 2003, 98, 99 (allerdings für das Widerrufsrecht aus § 8 IV a.F. VVG, der bei mangelhafter oder fehlender Belehrung keine Folgen anordnete); anders auch LG Köln BeckRS 2011, 23144 (zu § 5a VVG a.F.). 43 BGH NJW 2000, 140, 142. 44 Domke, Frank, Ewiger Widerruf und treuwidrige Ewigkeit – Das ewige Widerrufsrecht des Verbrauchers bei Fernabsatzverträgen über Finanzdienstleistungen im Falle von Informationsfehlern des Unternehmers, BB 2005, 1582, 1585. 45 So auch Heyers, Johannes, Unbegrenzter Widerruf von Lebensversicherungsverträgen? Richtlinienkonforme Derogation der Ausschlussfrist für das Widerspruchsrecht, NJW 2014, 2619, 2621. 46 BGH NJOZ 2016, 689, 690; BGH r+s 2016, 20, 22. 47 Armbrüster (Fn. 23) S. 518 f.; Heyers (Fn. 45). 48 BGH NJW 2014, 2646, 2650; BGH VersR 2013, 1513, 1515 m.w.N.
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dem Ergebnis einverstanden ist. Insofern kann, insbesondere wenn der Belehrungsfehler nur marginal ist, ebenfalls Verwirkung vorliegen. Auch allgemein kann es gegen Treu und Glauben verstoßen, wenn sich an geringfügige Pflichtverstöße weitreichende Folgen knüpfen (s. auch §§ 281 I 3, 320 II, 323 V, 324 BGB).49 Ergibt die Abwägung der gegenseitigen Interessen ein besonders großes Missverhältnis zwischen der Pflichtverletzung des Versicherers auf der einen Seite und den Folgen einer Rückabwicklung des gesamten Vertrages, kommt die Einwendung aus § 242 BGB in Betracht.50 Allerdings dürfte in den Fällen der Lebensversicherung die Rückabwicklung des jeweils einzelnen Vertrages ein solches Missverhältnis regelmäßig nicht begründen. c) Sonstiges widersprüchliches Verhalten Widersprüchliches Verhalten ist nach der Rechtsordnung grundsätzlich zulässig und nur dann rechtsmissbräuchlich, wenn für den anderen Teil ein Vertrauenstatbestand geschaffen worden ist oder wenn andere besondere Umstände die Rechtsausübung als treuwidrig erscheinen lassen. Eine Rechtsausübung kann unzulässig sein, wenn sich objektiv das Gesamtbild eines widersprüchlichen Verhaltens ergibt, weil das frühere Verhalten mit dem späteren sachlich unvereinbar ist und die Interessen der Gegenpartei im Hinblick hierauf vorrangig schutzwürdig erscheinen.51 So verhält sich der Informationsberechtigte widersprüchlich, wenn er in Kenntnis der Informationsmängel an dem Vertrag festhält und dies gegenüber dem Vertragspartner deutlich macht.52 Hierunter kann man auch die Fälle fassen, in denen der Versicherungsnehmer sein Recht zum Widerspruch kannte und das auch für den Versicherer klar war, wie im Fall eines Versicherungsnehmers, der zugleich Versicherungsvertreter – und zwar ausgerechnet des betreffenden Versicherers – ist und für die Vermittlung des Vertrages an sich selbst sogar eine Provision erhalten hat.53 d) Unzulässige Rechtsausübung wegen Fehlens eines berechtigten und schutzwürdigen Interesses Ein weiterer Aspekt, der trotz fehlerhafter Belehrung im Rahmen der Interessenabwägung dazu führen kann, dass eine unzulässige Rechtsausübung zu bejahen ist, kann auch die Motivation des Widerrufenden sein. In nicht wenigen Fällen des Widerrufs hat man den Eindruck, dass der Versicherungsnehmer die Lebensversiche49
RGZ 86, 334, 335; im Grundsatz ebenso, aber im Ergebnis gegen Geringfügigkeit im konkreten Fall BGH NJW 1980, 1043; BGH NJW 1981, 2686 f.; BGH WM 1984, 1539, 1540; BGH WM 1985, 876, 877. 50 Domke (Fn. 44) S. 1584. 51 BGH NJW-RR 2013, 757 Rn. 12. 52 BGH BeckRS 2016, 02173; BeckRS 2016, 02174; Domke (Fn. 44) S. 1584. 53 OLG Stuttgart r+s 2015, 123, 124 f.
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rung widerruft, um nun nach Jahren andere, jetzt besser passende Vermögensdispositionen zu treffen. Zwar ist es der Sinn des Widerrufsrechts, dass der Berechtigte sich ohne nähere Darlegung von Gründen vom Vertrag lösen kann; die Motive spielen also grundsätzlich keine Rolle. Die Ausübung eines wegen fehlerhafter Belehrung gegebenen Widerrufsrechts kann aber dennoch nach Treu und Glauben verwirkt sein, wenn die Motive des Widerrufs zusammen mit den sonstigen Umständen des Falles das Vertrauen des Versicherers in den Bestand des Vertrages schützenswert erscheinen lassen. Ein Fall aus dem Darlehensrecht, in dem es um diese Frage ging, wurde kürzlich vom BGH entschieden. Dort hatte der Darlehensnehmer den Vertrag, der dem – schon vor 7 Jahren zurückgezahlten – Darlehen zugrunde lag, widerrufen, um zugleich die mit dem Darlehen getätigte Kapitalanlage rückgängig zu machen, die sich offenbar nicht als so ertragreich erwiesen hatte wie erhofft.54 Hier hat das OLG als Vorinstanz angenommen, dass der Kreditnehmer kein berechtigtes, schutzwürdiges Eigeninteresse an dem Widerruf hatte, weil der Sinn und Zweck des Gestaltungsrechts nicht darin bestehe, eine sich nach Jahren als nachteilig erweisende Vermögensdisposition rückgängig zu machen, die seinerzeit unter Vorlage sämtlicher Informationen bewusst und informiert eingegangen wurde.55 Im konkreten Fall bestand das Widerrufsrecht nur deshalb noch fort, weil kleinere formale Mängel in der Belehrung gegeben waren, die den Darlehensnehmer aber nicht im Unklaren über seine Rechte ließen. Der BGH folgte der Argumentation nicht, sondern vertrat die Auffassung, das Oberlandesgericht habe das Motiv des Darlehensnehmers nicht deshalb zu seinen Lasten in die Waagschale legen dürfen, weil es vom Schutzzweck des Haustürwiderrufsgesetzes nicht erfasst sei.56 Nach hier vertretener Ansicht ist der Ausgangspunkt zutreffend, dass das Widerrufsrecht dem Berechtigten unabhängig von seinen Motiven zusteht. Das bedingt aber nicht, dass seine Motive und der Schutzzweck des Widerrufsrechts bei der ganz anders liegenden Konstellation eines „ewigen“ Widerrufsrechts aufgrund fehlerhafter Belehrung keine Rolle spielen; diese Aspekte können im Rahmen von § 242 BGB berücksichtigt werden. 4. Effektivitätsprinzip Die hier vorgeschlagene differenzierende Anwendung des Grundsatzes von Treu und Glauben verstößt auch nicht gegen das europäische Effektivitätsprinzip. Erstens lässt sich in den geschilderten, viele Jahre zurückliegenden Sachverhalten das ursprüngliche Regelungsziel, dem Versicherungsnehmer die Auswahl zwischen Versicherungsprodukten zu ermöglichen, durch rückwirkende Unwirksamkeit ohnehin 54
BGH Urt. v. 12. 7. 2016, Az. XI ZR 501/15. OLG Hamburg BeckRS 2016, 08820. 56 BGH, Pressemitteilung, http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/docu ment.py?Gericht=bgh&Art=en&sid=35586a32b94f06b6ade0f9db9b4e63ad&anz=1&pos= 0&nr=75248&linked=pm&Blank=1, zuletzt abgerufen am 16. 7. 2016. 55
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nicht zufriedenstellend erreichen. Das gilt insbesondere dann, wenn die betreffenden Verträge schon seit Jahren abgewickelt sind. Das Widerrufsrecht wird so eher zu einem Instrument, mit dem der Versicherungsnehmer im Nachhinein einen erheblichen Rabatt auf seinen Versicherungsschutz erhält. Das steht mit dem Versicherungsprinzip und dem Gedanken der Gefahrengemeinschaft in Widerspruch, die auch den europäischen Richtlinien zum Versicherungsrecht zugrunde liegen. Zweitens führt die hier vorgeschlagene differenzierende Anwendung des Grundsatzes von Treu und Glauben nicht dazu, dass sämtliche Versicherungsverträge unwiderruflich werden. Vielmehr wird durch sorgfältige Abwägung aller Umstände des Einzelfalles vor allem bei marginalen Belehrungsfehlern der Einwand der Verwirkung durchgreifen.
IV. Fazit Es bleibt zu hoffen, dass die Rechtsprechung in ihren Entscheidungen zur Rückabwicklung von Verträgen fehlerhaft oder gar nicht belehrter Versicherungsnehmer differenzierter mit der Berufung auf Treu und Glauben umgeht als bisher. Im Hinblick auf diejenigen Lebensversicherungsverträge, bei denen richtig belehrt wurde, ist zu wünschen, dass die Rechtsfolge eines (möglichen) Verstoßes gegen EU-Recht nicht einfach analog zu den Fällen fehlerhafter oder fehlender Belehrung gewählt wird. Sollte es aber dennoch zu einer Unwirksamkeit oder Widerruflichkeit dieser Verträge kommen, dürfte in aller Regel § 242 BGB einer Geltendmachung von Nichtigkeit oder Widerruf entgegenstehen.
Offenlegung von „Social Responsibility Standards“ – Auswirkungen der Richtlinie 2014/95/EU Von Ingo Saenger
I. Einführung Unternehmen müssen den verschiedensten Adressaten bzw. stakeholdern auf unterschiedliche Weise Informationen zur Verfügung stellen. Das Gesellschaftsrecht beinhaltet vielfältige Regelungen, wonach die Geschäftsleitung entweder von sich aus oder aber nur auf Nachfrage zur Information verpflichtet ist. Weitgehende und jederzeit bestehende Informationsrechte kennzeichnen vor allem Personengesellschaften und die GmbH. Demgegenüber unterliegt das Auskunftsrecht des Aktionärs Einschränkungen. Nach § 131 Abs. 1 Satz 1 AktG ist „jedem Aktionär … [nur] auf Verlangen [nur] in der Hauptversammlung vom Vorstand Auskunft über Angelegenheiten der Gesellschaft zu geben, [und auch nur] soweit sie zur sachgemäßen Beurteilung des Gegenstands der Tagesordnung erforderlich ist“. Mit anderen Worten: Über Angelegenheiten, die nicht auf der Agenda stehen, wird auch nicht gesprochen. Ungeachtet zahlreicher Bestimmungen der Rechnungslegung und Abschlussprüfung sowie des Kapitalmarktrechts werden doch bestimmte Unternehmensbereiche nicht erfasst, die bedeutsam und auch von Interesse sind. Der Deutsche Corporate Governance Kodex (DCGK)1 hält deshalb detaillierte weitergehende Publizitätsregeln bereit, insbesondere auf den Feldern Transparenz (Teil 6) sowie Rechnungslegung und Abschlussprüfung (Teil 7). Verbindlich ist dies am Ende nicht. Wie sich aus der Vorschrift des § 161 AktG über die Entsprechenserklärung ergibt, folgt das Aktienrecht dem comply or explain-Prinzip (Einhaltung oder Erklärung), was einen weiten Spielraum lässt.2 Angesichts dessen verwundert es auch nicht, dass es bis heute so gut wie keine zwingenden Vorschriften für die Publizität auf dem Gebiet der sozialen Verantwortung der Unternehmen gibt, also für die Corporate Social Responsibility (CSR).
1
Http://www.dcgk.de/de/kodex.html . Vgl. du Plessis, Jean J./Saenger, Ingo, An Overview of the Corporate Governance Debate in Germany, in: du Plessis, Jean J. u. a. (Hg.), German Corporate Governance in International and European Context, 2. Aufl. Heidelberg u. a. 2012, S. 15 (33), 2.6.2. 2
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II. Europäische Initiative für Corporate Social Responsibility Ungeachtet verbindlicher Regeln ist schon bislang ein entsprechendes, aber ganz uneinheitliches Engagement von mehr als der Hälfte der deutschen Unternehmen im Bereich CSR zu verzeichnen.3 Aktionären, Investoren und der Öffentlichkeit ist es also offensichtlich nicht gleichgültig, ob ein Unternehmen entsprechende Zielsetzungen, insbesondere auch Nachhaltigkeit, verfolgt und diesbezüglich ein wirksames Compliance Management System (CMS) besteht – in anderen Worten, ob es sich wie ein „good corporate citizen“ verhält und sich seiner unternehmerischen Verantwortung stellt.4 Zugleich können für die Unternehmen selbst aufgrund der Einhaltung von CSR-Standards Vorteile mit Blick auf Risikomanagement, Kostenersparnis, Zugang zu Kapital, Kundenbeziehungen, Personalwesen und Innovationsfähigkeit verbunden sein. Es ist von Bedeutung, ob soziale Belange ebenso wie solche der Umwelt, der Ethik, von Verbrauchern und ganz allgemein die Menschenrechte Bestandteil der Unternehmensstrategie sind und auch im operativen Geschäft berücksichtigt werden. Dies untermauert eine Umfrage unter Kommunikationsexperten, die 2013 ergeben hat, welchen substanziellen Einfluss CSR-Kommunikation auf die Unternehmensreputation (30,1 %), die Mitarbeiterverhältnisse (17,7 %), die Beziehungen zu den Anteilseignern (15,5 %) sowie die Kundenbeziehungen (14 %) hat. Demgegenüber kann der Nutzen für die Aktionäre, also der shareholder value vernachlässigt werden, denn die Auswirkungen auf den Börsenkurs wurden mit lediglich 1,2 % beziffert.5 Inzwischen hat die Europäische Union reagiert. Bis zum 6. Dezember 2016 sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, Vorschriften zur Verbesserung der Berichtspflichten hinsichtlich CSR zu erlassen. Rechtsgrundlage ist die von Parlament und Rat erlassene Richtlinie 2014/95/EU6 vom 22. Oktober 2014 „zur Änderung der Richtlinie 2013/34/EU im Hinblick auf die Angabe nichtfinanzieller und die Diversität betreffender Informationen durch bestimmte große Unternehmen und Gruppen“, abgekürzt „CSR-Richtlinie“. Auch wenn man über den Ansatz streiten mag, die Richtlinie mit dem vordringlichen Ziel zu rechtfertigen, das Vertrauen von Investoren und Verbrauchern zu stärken,7 muss das nationale Recht doch noch im Jahr 2016 den Vorgaben dieser Richtlinie entsprechen.8 3 Siehe http://de.statista.com/statistik/daten/studie/168058/umfrage/verbreitung-von-csr-inunternehmen-2010 . 4 du Plessis, Jean J., Disclosure of non-financial information: A powerful Corporate Governance Tool, Company and Securities Law Journal (C&SLJ) 34 (2016), 69 (71). 5 Http://de.statista.com/statistik/daten/studie/255075/umfrage/einfluss-der-csr-kommunikati on-auf-unternehmensbereiche . 6 ABl. EU 2014 L 330/1, http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/HTML/?uri=CE LEX:32014L0095&from=DE . 7 Richtlinie 2014/95/EU, Erwägungsgrund 3. 8 Richtlinie 2014/95/EU, Art. 4 Abs. 1.
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Zweifelhaft ist, welchen Nutzen eine Vorschrift haben kann, die von vornherein keine konkreten Vorgaben enthält, sondern „ein hohes Maß an Handlungsflexibilität [zulässt], um den vielschichtigen Aspekten der sozialen Verantwortung von Unternehmen … sowie der Vielfalt der von den Unternehmen umgesetzten CSR-Konzepte Rechnung zu tragen“.9 Noch vermag sich niemand vorzustellen, was unter einem „hinreichenden Grad an Vergleichbarkeit“ verstanden werden soll, der „den Anforderungen von Investoren und anderen Interessenträgern gerecht … werden sowie dem Bedürfnis … entsprechen [kann], den Verbrauchern leichten Zugang zu Informationen über die Auswirkungen von Unternehmen auf die Gesellschaft zu verschaffen“.10 Es macht die Sache auch nicht besser, dass die EU-Kommission bis Ende 2016 „unverbindliche Leitlinien zur Methode der Berichterstattung über nichtfinanzielle Informationen, einschließlich der wichtigsten allgemeinen und sektorspezifischen nichtfinanziellen Leistungsindikatoren, [verfassen soll,] um eine relevante, zweckdienliche und vergleichbare Angabe nichtfinanzieller Informationen durch Unternehmen zu erleichtern“.11 Deshalb sind die Anforderungen für die Umsetzung der Richtlinie in nationales Recht zu analysieren und ist zu beurteilen, ob diese letztlich substantielle Auswirkung haben wird. Dabei fallen drei zentrale Aspekte des Gesellschaftsrechts in den Blick, nämlich erstens die Bedeutung der sozialen Verantwortung für das Unternehmensinteresse (III.), zweitens die Frage des geeigneten Regelungsansatzes, welche durch das Ringen zwischen soft law und hard law gekennzeichnet ist (IV.), und schließlich drittens die Herausforderungen einer wirksamen Rechtsdurchsetzung (V.).
III. Bedeutung von „Sustainability“ für das Unternehmensinteresse Um zu beurteilen, welche Bedeutung die soziale Verantwortung für das Unternehmensinteresse hat, bedarf es einerseits der Einordnung des hier synonym zu verstehenden Begriffs des „Gesellschaftsinteresses“ und zum anderen einer Erläuterung, was der (nationale) Gesetzgeber unter dem (globalen Mode-)Begriff der sustainability versteht.
9
Richtlinie 2014/95/EU, Erwägungsgrund 3. Richtlinie 2014/95/EU, Erwägungsgrund 3. 11 Richtlinie 2014/95/EU, Art. 2 und Erwägungsgrund 17; vgl. auch Eufinger, Alexander, Die neue CSR-Richtlinie – Erhöhung der Unternehmenstransparenz in Sozial- und Umweltbelangen, EuZW 2015, 424 (428). 10
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1. Gesellschaftsinteresse Entscheidend ist, ob das Interesse des Unternehmens mit dem seiner Inhaber, den Anteilseignern oder Aktionären übereinstimmt. Indes bestehen auch weitergehende Interessen. Dies belegen allein die im Gesellschaftsrecht bestehenden vielfältigen Informationspflichten. Auch wenn zugunsten von Gesellschaftern und Anteilseignern seit jeher umfangreiche Offenlegungs- und Informationspflichten bestehen, war deren Effizienz doch nicht immer ohne Zweifel. Traditionell wird zwischen individuellen und kollektiven Informationsrechten unterschieden. Individuelle oder spezifische Informationen kann nur geltend machen, wer Fakten kennt, die überhaupt erst entsprechende Fragen aufwerfen. Deshalb ist es erforderlich, dass die Geschäftsleitung von sich aus diejenigen Informationen zur Verfügung stellt, die ein Gesellschafter benötigt, um von seinem Rede- und Auskunftsrecht in der Hauptversammlung sowie schließlich auch dem entscheidenden Stimmrecht in verantwortlicher Weise Gebrauch machen zu können. Das Informationsrecht lässt sich deshalb nicht als bloße „Holschuld“ des Gesellschafters einordnen. Mehr und mehr ist es erforderlich, dass die Geschäftsleitung auf eigene Initiative tätig wird.12 Andererseits bedürfen auch externe stakeholder der Information. Dabei ist nicht nur an Mitarbeiter, Kunden oder Gläubiger zu denken.13 Vielfältige Verpflichtungen zur Berichterstattung in finanziellen Angelegenheiten bestehen auch im Interesse von Investoren oder ganz allgemein der Öffentlichkeit. Das führt unmittelbar zu der Frage, ob lediglich ein einheitliches Unternehmensinteresse anzuerkennen ist, das sämtliche dieser unterschiedlichen Aspekte umfasst, oder aber – ganz im Gegenteil – ob unterschiedliche Interessensphären miteinander in Einklang zu bringen und fortlaufend gegeneinander auszutarieren sind. Anhaltspunkte lassen sich zwar nicht dem Aktiengesetz, aber dem Kodex entnehmen. Art. 1 Abs. 2 DCGK spitzt das „Unternehmensinteresse” darauf zu, „im Einklang mit den Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft für den Bestand des Unternehmens und seine nachhaltige Wertschöpfung zu sorgen“. Art. 4.1.1 DCGK bekräftigt, dass die „Belange der Aktionäre, seiner Arbeitnehmer und der sonstigen dem Unternehmen verbundenen Gruppen (Stakeholder) mit dem Ziel nachhaltiger Wertschöpfung“ zu berücksichtigen sind.14 Das öffentliche Interesse ist danach ohne Zweifel einzubeziehen. Es gibt aber keinen einzigen Anhaltspunkt dafür, dass dieses den Ausschlag zu geben vermag.
12 Vgl. Saenger, Ingo, Beteiligung Dritter bei Beschlussfassung und Kontrolle im Gesellschaftsrecht, Berlin 1990, S. 20. 13 Schrader, Christian, Nachhaltigkeit in Unternehmen – Verrechtlichung von Corporate Social Responsibility, ZUR 2013, 451 (453). 14 Ringleb, Henrik-Michael/Kremer, Thomas/Lutter, Marcus/von Werder, Axel, Deutscher Corporate Governance Kodex, 5. Aufl. München 2014, S. 247 Rn. 722.
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2. „Nachhaltigkeit“ Dreh- und Angelpunkt von CSR ist die Berichterstattung über unternehmerische Nachhaltigkeit.15 Nachhaltigkeit wird im deutschen Aktiengesetz nur an einer Stelle genannt. Art. 87 Abs. 1 Satz 2 AktG betrifft die Vergütung der Organe. Danach ist die „Vergütungsstruktur … bei börsennotierten Gesellschaften auf eine nachhaltige Unternehmensentwicklung auszurichten“. Dies greift Art. 4.1.1 DCGK über Aufgaben und Zuständigkeiten des Vorstands auf. Dort ist das „Ziel nachhaltiger Wertschöpfung“ genannt, mit anderen Worten die Verbesserung des langfristigen Unternehmenswerts.16 Dies ist allerdings ein ganz anderer Ansatz, als der der europäischen Initiative. Inhaltlich erfasst die CSR-Richtlinie die Angabe nichtfinanzieller und die Diversität betreffender Informationen. Die Bedeutung dessen erschließt sich aus Art. 19a Abs. 1 Satz 1 der hierdurch geänderten Bilanz-Richtlinie 2013/34/ EU. Zweck ist danach nämlich, die Kenntnisse zu vermitteln, „die für das Verständnis des Geschäftsverlaufs, des Geschäftsergebnisses, der Lage des Unternehmens sowie der Auswirkungen seiner Tätigkeit erforderlich sind“.17 Die Richtlinie zählt insoweit verschiedene Bereiche als Mindestvoraussetzungen auf, nämlich Umwelt-, Sozialund Arbeitnehmerbelange, die Achtung der Menschenrechte sowie die Bekämpfung von Korruption und Bestechung.18 Unter anderem erfordert sie eine Beschreibung des Geschäftsmodells des Unternehmens und der in Bezug auf diese Belange verfolgten Konzepte sowie deren Ergebnisse. Soweit ein Unternehmen in Bezug auf einen oder mehrere dieser Belange kein Konzept verfolgt, muss die Erklärung nach Satz 2 der Vorschrift – entsprechend dem Prinzip „if not – why not“ – eine klare und begründete Erläuterung enthalten, warum dies der Fall ist. Weiterhin beinhaltet Art. 20 Abs. 1 g der so geänderten Bilanz-Richtlinie 2013/34/EU das Erfordernis der Beschreibung des Diversitätskonzepts, welches im Zusammenhang mit den Verwaltungs-, Leitungs- und Aufsichtsorganen des Unternehmens in Bezug auf Aspekte wie Alter, Geschlecht oder Bildungs- und Berufshintergrund verfolgt wird – und im Fall der Nichtanwendung eines solchen Konzeptes wiederum einer entsprechenden Erläuterung. Diese „rechtliche Mindestanforderung“ soll den Umfang der Informationen beschreiben, die Unternehmen der Öffentlichkeit und Behörden unionsweit zur Verfügung stellen müssen, um „ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Gesamtbild ihrer Konzepte, Ergebnisse und Risiken (zu) vermitteln“.19
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Richtlinie 2014/95/EU, Erwägungsgründe 3 und 11. Ringleb u. a. (Fn. 14) S. 200 Rn. 568. 17 Szabó, Dániel/Sørensen, Karsten Engsig, New EU Directive on the Disclosure of NonFinancial Information (CSR), European Company and Financial Law Review (ECFR) 2015, 307 (331 ff.). 18 Ausführlich Spießhofer, Birgit, Die neue europäische Richtlinie über die Offenlegung nichtfinanzieller Informationen – Paradigmenwechsel oder Papiertiger?, NZG 2014, 1281 (1284); Szabó/Sørensen (Fn. 17) S. 321; Eufinger (Fn. 11) S. 427. 19 Richtlinie 2014/95/EU, Erwägungsgrund 5. 16
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3. Auswirkungen Das Unternehmensinteresse kann folglich nicht allein mit dem Aktionärsinteresse, dem shareholder value, gleichgesetzt werden.20 Das würde der sozialen Verantwortung nicht gerecht. Allerdings ist diese Erkenntnis nicht neu – und erst recht nicht in Deutschland. Es handelt sich hierbei vielmehr um eine Selbstverständlichkeit, auch wenn diese in Art. 14 Abs. 2 GG in den Sätzen „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“ grundrechtlich verbrieft ist. Nachhaltigkeit – oder wie es heute heißt „sustainability“ – kommt also schon immer die Bedeutung der Sicherung des möglichst werthaltigen und im Idealfall wertsteigernden Fortbestands des Unternehmens auch im Allgemeininteresse zu. Insoweit erscheinen die vorgenannten Kriterien freilich durchaus kritisch – diese sind aber gerade nicht zwingend. Dessen ungeachtet mag die jüngste europäische Gesetzgebung dazu verleiten, das öffentliche Interesse über das private zu stellen, mit anderen Worten das Unternehmensinteresse abschaffen und es durch ein nebulöses und geradezu allumfassendes öffentliches Interesse ersetzen zu wollen – was auch immer das in diesem Zusammenhang bedeuten mag.
IV. „Soft law“ oder „hard law“ Ungeachtet fortschreitender weltweiter wirtschaftlicher Vernetzung bestehen weiterhin kulturelle Unterschiede zwischen Ländern und Regionen. Solche Besonderheiten werden hingenommen und erst recht bestehen keine Bestrebungen zur Vereinheitlichung kulturellen Verhaltens. Gleichwohl lassen sich die Folgen zunehmender Globalisierung nicht leugnen. Die Europäische Union garantiert den Einheitlichen Markt und die Freizügigkeit von Warenverkehr und Kapital. Es bestehen so gut wie keine unüberwindbaren Beschränkungen des Welthandels und von Finanztransaktionen. Deshalb existieren auf diesen Gebieten bereits heute zahlreiche internationale, multinationale und nationale Bestimmungen. Diese sind entweder als „soft law“ ausgestaltet, etwa in Form unverbindlicher Prinzipien, oder als „hard law“ in geschriebener oder auch, etwa als Gewohnheitsrecht, in ungeschriebener Form. Zudem gibt es eine unüberschaubare Zahl von Standards und Regeln für nahezu alles. Deren Ursprünge ließen sich teilweise bis zum mittelalterlichen Gewohnheitsrecht zurückverfolgen, also zur Lex Mercatoria, die seinerzeit durchaus bindende Regelungen bereithielt. Aber wozu dies alles? Wusste nicht schon der „ehrbare Kaufmann“ früherer Zeiten von sich aus, was er zu tun oder zu lassen hatte? 20 Vgl. jüngst nur Sjåfjell, Beate/Johnston, Andrew/Anker-Sørensen, Linn Cecilie/Millon, David, Shareholder primacy: the main barrier to sustainable companies, in: Sjåfjell, Beate/ Richardson, Benjamin (Hg.), Company Law and Sustainability, Cambridge 2015, S. 79 ff. Siehe auch Keay, Andrew R., Ascertaining the Corporate Objective: An Entity Maximisation and Sustainability Model, Modern Law Review (MLR) 71(5) (2008), 663 (678 ff.), der eine „entity maximisation and sustainability theory“ propagiert.
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1. Corporate Governance Das deutsche Recht hat inzwischen hinreichende Erfahrungen mit der Transformation von „soft law“ in „hard law“ gesammelt. Nachdem die bereits vor Jahrzehnten eingeleitete freiwillige und unverbindliche Corporate Governance-Initiative erfolglos geblieben war, bestehen seit 2002 von der Regierungskommission Deutscher Corporate Governance Kodex formulierte Empfehlungen und Anregungen, die nicht nur jährlich auf ihre Eignung hin überprüft und gegebenenfalls angepasst, sondern auch vom Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz offiziell im Bundesgesetzblatt veröffentlicht werden.21 Der DCGK gibt über die gesetzlichen Vorschriften zur Leitung und Überwachung deutscher börsennotierter Gesellschaften hinausgehende Empfehlungen und Anregungen auf der Grundlage international und national anerkannter Standards guter und verantwortungsvoller Unternehmensführung. Der Kodex basiert auf dem shareholder value-Konzept und folgt dem „comply or explain“-Prinzip.22 Nach § 161 Abs. 1 AktG haben Vorstand und Aufsichtsrat börsennotierter Gesellschaften jährlich zu erklären, dass dem Kodex entsprochen wurde und wird oder welche Empfehlungen nicht angewendet wurden oder werden und warum nicht. Diese verpflichtende Entsprechenserklärung, die der Öffentlichkeit zudem fortlaufend auf der Website des Unternehmens zugänglich sein muss, bildet das rechtliche Fundament des Kodex. Aber dieser hat eine weit darüber hinausgehende Bedeutung. Verschiedentlich wurde der Kodex bereits als Vorbild für Gesetzesreformen oder zumindest als Grundlage für die Auslegung des Aktiengesetzes herangezogen.23 Insoweit bietet der DCGK ein gutes Beispiel dafür, wie die Grenzen zwischen „soft law“ und „hard law“ verschwimmen können. 2. Compliance Management Seit vielen Jahren existieren zudem verschiedene Standards für Compliance Management-Systeme. Zu nennen sind nur die (internationale) ISO 19600-Norm (inzwischen) von 201424 und der (nationale) vom Institut der Wirtschaftsprüfer in Deutschland (IDW) veröffentlichte Prüfungsstandard „Grundsätze ordnungsgemäßer Prüfungen von Compliance Management Systemen“ IDW PS 980 von 2011.25 Was lässt sich zu diesen Rechtsquellen sagen? Es besteht kein Zweifel am Erfordernis von Corporate Governance Codes. Vor allem vom Kapitalmarkt abhängige Groß21
Http://www.dcgk.de/de/ . Schrader (Fn. 13) S. 453. 23 du Plessis, Jean J./Saenger, Ingo, An Overview of the Corporate Governance Debate in Germany, in: du Plessis u. a. (Hg.), German Corporate Governance in International and European Context, 3. Aufl. Heidelberg u. a. 2016, 2.6.7 (im Erscheinen). 24 Vgl. International Organization for Standardization, www.iso.org/obp/ui/#iso:std:iso: 19600:ed-1:v1:en . 25 Verfügbar unter https://shop.idw-verlag.de/product.idw;jsessionid=0EF687DF46D4 D29654C72186046592A0?product=20205 (nicht frei zugänglich). 22
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unternehmen bedürfen zwingend Strukturen und Bestimmungen, welche die Rechte der stakeholder und auch deren Pflichten und Verantwortlichkeiten regeln. Ebenso liegen die Vorteile auf der Hand, die compliance bietet – auch und gerade zum Wohle der Unternehmen selbst als auch für die Geschäftsleitung. Mit einfachen Worten: Compliance bedeutet, das Recht einzuhalten – und das ist genau die Verhaltensregel, welche schon für den „ehrbaren Kaufmann“ galt; insoweit hat sich seit dem Mittelalter nichts geändert. Der Unterschied ist allein – dies ist zugegebenermaßen überspitzt –, dass man sich heute oft nicht darum kümmert, was rechtlich erlaubt ist. Das Unternehmen wendet sich einfach an einen Rechtsanwalt oder Berater (wobei in der Realität meist die Initiative von den Beratern ausgeht) und „kauft“ ein Compliance Management System „von der Stange“. Dessen Funktion ist es einerseits, Rechtsverletzungen vorzubeugen und damit letztlich jegliche Haftung zu vermeiden. Wenn es dennoch zu einem Verstoß kommt – und Rechtsverletzungen sind häufig zu beobachten, vor allem in internationalen Zuliefer- oder Vertriebsketten, wenn es geradezu unmöglich ist, jedes weltweite Risiko zu erkennen, einzugrenzen und zu beheben –, bezweckt es in erster Linie die Freistellung der Geschäftsleitung von Verschulden. Zu fragen ist, ob sich ein CMS dann sozusagen als „carte blanche“ erweisen und den Beweis erbringen kann, dass Unternehmen und Geschäftsleitung alles nur Denkbare und Mögliche zur Vermeidung des Verstoßes unternommen haben. Wenn dies gelingt, können sie „ihre Hände in Unschuld waschen“. Allerdings bedarf es stets angemessener organisatorischer Strukturen zur Vermeidung von Verletzungen, ohne die Verantwortung ohnehin nicht wirksam delegiert werden kann. Solche „Versicherungspolicen“ verkaufen sich wie warme Semmeln. Gleichwohl kann niemand voraussagen, ob sie am Ende auch Deckung gewähren. Das Entscheidende wird dabei allerdings versäumt, nämlich eine wirkliche Unternehmenskultur nicht nur zu entwickeln, sondern allen Beteiligten auch zu vermitteln. 3. Corporate Social Responsibility Und wie verhält es sich mit CSR? Zu Beginn handelte es sich auch hierbei um eine rein freiwillige Initiative.26 Angesichts zunehmender Berichtspflichten wird CSR mehr und mehr obligatorisch.27 Tatsächlich beschreibt die „neue europäische Definition“ CSR seit 2011 als „Verantwortung von Unternehmen für ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft“.28 Kann darin ein „Paradigmenwechsel“ gesehen werden?29 26 Europäische Kommission, Grünbuch: Europäische Rahmenbedingungen für die soziale Verantwortung der Unternehmen, KOM (2001)366 endg., S. 7, Ziff. 20, http://www.europarl. europa.eu/meetdocs/committees/deve/20020122/com(2001)366_de.pdf . Siehe auch Schrader (Fn. 13) S. 451. 27 Vgl. Rühmkorf, Andreas, Corporate Social Responsibility, Private Law and Global Supply Chains, Cheltenham 2015, S. 11 ff. 28 Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Eine neue EU-Strategie
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Und wird dies im Ergebnis mehr sein als ein bloßes weiteres Marketinginstrument? Nach allem ist zu erwarten, dass jedenfalls bei der praktischen Umsetzung der künftigen Pflichten ernste Probleme nicht auftreten werden. Wirtschaftsprüfer und andere Berater haben bereits umfassende Pakete geschnürt. Neue regelmäßige Berichtspflichten werden – ungeachtet ihrer Wirksamkeit – kontinuierliche Einnahmequellen sprudeln lassen. Aber wer wird am Ende dafür zahlen? Ernsthaft in Betracht zu ziehen sind nur zwei Szenarien – und beide sind in gleicher Weise unerfreulich. Unternehmen haben nämlich entweder die Wahl, ihre Preise zu erhöhen und die Kosten auf die Abnehmerseite zu verlagern, also insbesondere auf die Verbraucher. Oder aber man kompensiert die zusätzlichen Kosten auf der anderen Seite, was bedeutet, dass den Preis die Arbeitnehmer in Form schlechter Arbeitsbedingungen und niedriger Löhne zu tragen haben. Ist dies ein Vorurteil? Zumindest ist es eine Hypothese. Ob sie zutrifft, muss die Analyse der künftigen Situation erweisen.
V. Richtlinienumsetzung Der europäische Gesetzgeber hat sich dagegen entschieden, verbindliche CSRGrundsätze im materiellen Gesellschaftsrecht zu verankern. Insoweit gibt es und wird es auch keine spezifischen Pflichten für Geschäftsleiter und/oder Mitglieder von Aufsichtsorganen geben. Stattdessen sollen die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der europäischen Richtlinie in das nationale Recht „sicherstellen, dass es sachgerechte und wirksame Mechanismen gibt, mit denen die Angabe nichtfinanzieller Informationen durch Unternehmen im Einklang mit dieser Richtlinie gewährleistet wird“.30 Zugleich soll die Regelung „ein hohes Maß an Handlungsflexibilität“ zulassen und „nicht zu übermäßigem Verwaltungsaufwand … führen“.31 Nach der Richtlinie müssen sowohl die nichtfinanzielle Erklärung32 als auch die Beschreibung des Diversitätskonzepts33 in den Lagebericht aufgenommen werden. Besondere Erfordernisse regelt die Richtlinie zwar nicht, jedoch soll die Kommission „unverbindliche Leitlinien zur Methode der Berichterstattung über nichtfinanzielle Informationen, einschließlich der wichtigsten allgemeinen und sektorspezifischen nichtfinanziellen Leistungsindikatoren [verfassen], um eine relevante, zweckdienliche und vergleichbare Angabe nichtfinanzieller Informationen durch Unternehmen zu erleichtern“.34 (2011 – 14) für die soziale Verantwortung der Unternehmen (CSR), KOM(2011) 681, S. 7, Ziff. 3.1., http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=COM:2011:0681:FIN:DE: PDF . 29 Siehe Schrader (Fn. 13) S. 454; Spießhofer (Fn. 18) S. 1281 f. 30 Richtlinie 2014/95/EU, Erwägungsgrund 10. 31 Richtlinie 2014/95/EU, Erwägungsgründe 3 und 8. 32 Richtlinie 2013/34/EU, Art. 19a Abs. 1. 33 Richtlinie 2013/34/EU, Art. 20 Abs. 1 g. 34 Richtlinie 2014/95/EU, Art. 2.
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Wie immer bestehen verschiedene Möglichkeiten der Umsetzung einer Richtlinie in nationales Recht. Diese unterschiedlichen Varianten, opt out-Klauseln und anderen Mittel der Mindestharmonisierung35 lassen die Richtlinie geradezu als „soft law“ für die Mitgliedstaaten, nicht jedoch für deren Unternehmen erscheinen. Das Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz hat ein Konzept zur Umsetzung der CSR-Richtlinie veröffentlicht.36 Es beinhaltet nicht mehr als eine bloße Reform des Lageberichts, wie es bereits der Titel zum Ausdruck bringt. Über die Vorgaben der Richtlinie hinaus wird in Deutschland zum einen diskutiert, ob sich die Berichtspflichten künftig auch auf kleine und mittlere Unternehmen (KMU) erstrecken sollen, und zum anderen, ob die Informationsbasis auch auf Kundenbeziehungen wie Kundenzufriedenheit oder Datenschutz auszudehnen ist,37 wie es bereits der Deutsche Rechnungslegungs Standard – Konzernrechnungslegung (DRS 20)38 vorsieht. Der erste Vorschlag ist nicht ernsthaft in Erwägung zu ziehen. Vom persönlichen Anwendungsbereich erfasst die CSR-Richtlinie bestimmte große Unternehmen und Gruppen bzw. Konzerne. Die Richtlinie hat „Unternehmen von öffentlichem Interesse [im Blick], die Mutterunternehmen einer großen Gruppe sind, … wobei in jedem Fall Bedingung ist, dass sie durchschnittlich mehr als 500 Mitarbeiter beschäftigen“.39 Davon werden wohl etwa 18.000 oder 0,3 % aller europäischen Unternehmen erfasst.40 Als weitere Kriterien werden Bilanzsumme und Nettoumsatzerlöse genannt und es wird ausdrücklich hervorgehoben, dass KMU von zusätzlichen Anforderungen gerade befreit sein sollen.41 Der inzwischen veröffentlichte Referentenentwurf für ein Gesetz zur Stärkung der nichtfinanziellen Berichterstattung der Unternehmen in ihren Lage- und Konzernlageberichten (CSR-Richtlinie-Umsetzungsgesetz) vom 11. März 2016 erfasst dementsprechend ausweislich des Entwurfs der Neuregelung des § 289b HGB nur entsprechend große Unternehmen.42 Dies 35
Richtlinie 2014/95/EU, Erwägungsgrund 1. Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz (BMJV), Konzept zur Umsetzung der CSR-Richtlinie – Reform des Lageberichts vom 27. 04. 2015, https://germanwatch.org/de/ download/11813.pdf . 37 Vgl. BMJV (o. Fn. 36) S. 3. 38 Http://www.drsc.de/service/drs/standards/?ixstds_do=show_details&entry_id=38 . Siehe auch Dienes, Dominik/Velte, Patrick, Integrated Reporting und Nachhaltigkeitsberichterstattung im Fokus aktueller Corporate-Governance-Entwicklungen, ZCG 2013, 229 (229 f.); Velte, Patrick, (Un)geprüfte Nachhaltigkeitsinformationen im (Konzern-) Lagebericht nach der modifizierten EU-Rechnungslegungsrichtlinie?, NZG 2014, 1046 (1046 f.). 39 Richtlinie 2014/95/EU, Erwägungsgrund 14. 40 Fifka, Matthias/Loza Adaui, Christian R., Corporate Social Responsibility Reporting – Administrative Burden or Competitive Advantage, in: O’Riordan, Linda/Zmuda, Piotr (Hg.), New perspectives on corporate social responsibility: Locating the missing link, Heidelberg u. a. 2015, S. 283 (286); Voland, Thomas, Erweiterung der Berichtspflichten für Unternehmen nach der neuen CSR-Richtlinie, DB 2016, 2815 (2816). 41 Richtlinie 2014/95/EU, Erwägungsgrund 14. 42 Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz eines Gesetzes zur Stärkung der nichtfinanziellen Berichterstattung der Unternehmen in ihren Lage36
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schließt aber nicht aus, dass die Richtlinie bzw. die darauf aufbauende Neuregelung von Unternehmen, die nicht erfasst werden, gleichwohl als Vorschlag oder Option zur freiwilligen Berichterstattung verstanden und wie „soft law“ Geltung erlangen wird. Geringerer Kritik begegnet die ebenfalls vorgeschlagene Einbeziehung von Informationen betreffend Kundenbeziehungen. Hierbei kommen Aspekte wie Kundenzufriedenheit, Dauer der Kundenbeziehung, Marktanteile und Wertschöpfung je Kunde in Betracht.43 Zu denken ist auch an Kundendatenschutz und ebenso an den Bereich der Kundenbetreuung, auch zur Ermöglichung eines eventuellen Rückrufs fehlerhafter Produkte.44 Weiterhin wird über das Erfordernis einer zusammenfassenden Beschreibung des Geschäftsmodells des Unternehmens, der Kerngesichtspunkte des wirtschaftlichen Handelns der Geschäftsleitung und ihrer Konzepte nachgedacht. Die Berichterstattung soll nicht nur auf die Handhabung der Risiken eingehen, sondern auch die wichtigsten Erfolgskennzahlen sowie Informationen über die Emission von Treibhausgasen, Luftverschmutzung oder die Maßnahmen zur Vorbeugung vor Betrug, Korruption und aller anderen illegalen Aktivitäten umfassen.45 Der am 11. März 2016 veröffentlichte Referentenentwurf des Umsetzungsgesetzes zur CSR-Richtlinie regelt noch weitergehende Berichtspflichten, insbesondere, dass Unternehmen künftig auch über alle potentiellen Risiken informieren müssen, die aus ihren Geschäftsbeziehungen resultieren können.46 Indes hat der Gesetzgeber bereits erkannt, dass die eigentliche „Achillesferse“ das Prüfungswesen darstellt. Denn nach der Richtlinie ist lediglich zu prüfen, ob eine Berichterstattung über nichtfinanzielle Angelegenheiten erfolgt. Die Feststellung der Richtigkeit der Angaben durch unabhängige Instanzen ist nur als Option vorgesehen, von der die Mitgliedstaaten Gebrauch machen können.47 Am Ende wird also nur das Vorhandensein entsprechender Informationen geprüft, nicht aber das wirklich Entscheidende, nämlich deren Richtigkeit.48 Entsprechend ihrem Erwägungsgrund 3, ist die CSR-Richtlinie bezüglich der offenzulegenden Informationen durch ein hohes Maß an Flexibilität gekennzeichnet. Diesen weiten Spielraum kann auch der nationale Gesetzgeber bei der Umsetzung nutzen. Auf bereits bestehende Regelungswerke und Empfehlungen zur Nachhaltigund Konzernlageberichten (CSR-Richtlinie-Umsetzungsgesetz), S. 6, https://www.bmjv.de/ SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/Dokumente/RefE_CSR-Richtlinie-Umsetzungsgesetz. pdf?__blob=publicationFile&v=1 . 43 Vgl. Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (Fn. 36) S. 4 und dazu auch den Deutschen Rechnungslegungs Standard Nr. 20 (DRS 20), S. 23 Ziff. 107, http:// www.drsc.de/docs/press_releases/2012/120928_DRS20_nearfinal.pdf , sowie bereits früher http://www.drsc.de/docs/press_releases/E-GAS%2020_2.pdf, S. 23, Ziff. 122 . 44 Vgl. Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (Fn. 36) S. 3 f. 45 Vgl. Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (Fn. 36) S. 4. 46 Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (Fn. 42), S. 7. 47 Richtlinie 2014/95/EU, Erwägungsgrund 3; siehe auch Voland (Fn. 40) S. 2818. 48 Vgl. BMJV (o. Fn. 36) S. 7.
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keit, die entsprechende Berichtsgegenstände näher bestimmen, wird aber nicht abgestellt. Zwar findet der bereits existierende „Deutsche Nachhaltigkeitskodex: Maßstab für nachhaltiges Wirtschaften“49 Erwähnung. Indes ist es auch möglich, etwa auf die United Nations Global Compact-Prinzipien50 oder jeden anderen Kodex abzustellen. Die Liste der Wünsche, die von verschiedenen Interessengruppen geäußert werden, ist lang. Manche schlagen detaillierte verfahrensmäßige Vorschriften zur Einbeziehung ganz unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen vor. Die Vorschläge reichen von einer Ausweitung der ohnehin weltweit wohl in dieser Form einzigartigen deutschen unternehmerischen Mitbestimmung51 bis hin zur Stärkung der Rolle von Nichtregierungsorganisationen (NGOs), die für ihr effektives öffentliches Bloßstellen („blaming and shaming“) gelobt werden und denen weitergehende Rechte eingeräumt werden sollen.52
VI. Rechtsverwirklichung Regelungsziele lassen sich nur erreichen, wenn Vorschriften eingehalten werden. Es bedarf also der Compliance. Dies setzt eine Prüfung voraus. Zudem werden aber auch effektive Mittel zur Rechtsdurchsetzung benötigt. Diese scheitert aber bereits, wenn es sich um Vorgaben in Form von „soft law“ handelt. Dann lässt sich die Einhaltung allenfalls durch sozialen Zwang verwirklichen.53 Aber auch wenn zwingende Regelungen des nationalen Rechts für die Berichterstattung bestehen, sind die Behörden mehr oder weniger machtlos und haben praktisch kaum Handhabe. Ihnen stehen nur wenige und zudem nicht besonders effektive Mittel zur Seite, selbst wenn die Vorschrift über die Verantwortung für unrichtige Finanzberichterstattung (§ 331 HGB) künftig auch Anwendung finden mag, wenn ein Lagebericht unrichtige Angaben über nichtfinanzielle Angelegenheiten enthält.54 In einem solchen Fall können Strafen bis zu 10 Millionen Euro oder 5 % des jährlichen Umsatzes in Betracht kommen. Aber wie bereits gesehen, zählt allein, dass überhaupt etwas berichtet wird. Nur das ist bei der Prüfung zu attestieren. Hingegen ist nicht vorgesehen, dass auch geprüft wird, ob die zur Verfügung gestellten Informationen richtig sind und das Unternehmen den von ihm behaupteten Standard einhält. Vor diesem Hintergrund erscheint „compliance“ als Wunschvorstellung. Strafen für Verstöße gegen Nachhal49
Herausgegeben vom Rat für nachhaltige Entwicklung, https://www.nachhaltigkeitsrat.de/ fileadmin/user_upload/dokumente/publikationen/broschueren/RNE_Der_Deutsche_Nachhaltig keitskodex_DNK_texte_Nr_47_Januar_2015.pdf . 50 Https://www.unglobalcompact.org/what-is-gc/mission/principles . 51 Vgl. Sandrock, Otto/du Plessis, Jean J., The German System of Supervisory Codetermination, in: du Plessis u. a. (Fn. 2) S. 149 (167 ff.). 52 Schrader (Fn. 13) S. 457. 53 du Plessis (Fn. 4) S. 71; siehe auch die Studie von Gutsche, Robert/Gratwohl, Michael/ Fauser, Daniel, Bewertungsrelevanz von Corporate Social Responsibility (CSR-)Informationen – Eine empirische Analyse, IZR 2015, 455 (457 f.). 54 Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (Fn. 42) S. 14.
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tigkeits-Standards sind im europäischen Gesellschafts- und Unternehmensrecht nicht vorgesehen. Und im Unterschied zu anderen Jurisdiktionen, wie etwa denen der USA oder Australiens, vermag das deutsche Recht die Einhaltung von CSR-Standards auch nicht mittels Androhung hoher Strafschadenszahlungen („punitive damages“) oder der Möglichkeit von Sammelklagen („class actions“) zu „fördern“. Aber selbst wenn die Möglichkeit der Sanktionierung unrichtiger CSR-Berichterstattung besteht, erweist sich als problematisch, dass es an spezifischen Kriterien für die Auslegung des Begriffs der „Nachhaltigkeit“ fehlt. Schon deshalb erscheint der Bereich CSR praktisch nicht justiziabel. Folglich liegt es allein in der Hand der Geschäftsleitung, ob sich ein Unternehmen dem Thema Nachhaltigkeit annimmt oder nicht. Denn abgesehen von dem nicht zwingend wirksamen Instrument sozialen Drucks bleiben nur wenige Möglichkeiten für Behörden, Gesellschafter oder andere „stakeholder“, legitime Rechte einzufordern. Einerseits gibt es, wie gesehen, keinen einheitlichen Standard der Berichterstattung. Erwägungsgrund 9 der Richtlinie nennt den United Nations Global Compact, die OECD-Guidelines for Multinational Enterprises und die Global Reporting Initiative allenfalls als Beispiele für Rahmenregelungen. Auch die zu erwartenden „unverbindlichen“ europäischen Leitlinien zur Methode der Berichterstattung werden insoweit keine Rechtssicherheit und vor allem nicht das von der Richtlinie vorausgesetzte erforderliche Maß der Vergleichbarkeit gewährleisten können.55 Zum anderen wird es keine Haftung von Gesellschaftsorganen wegen unrichtiger oder unvollständiger Berichterstattung in nichtfinanziellen Angelegenheiten geben – weil nämlich gerade keine wirkliche Prüfung vorgesehen ist, sondern lediglich kontrolliert werden soll, ob ein Unternehmen den Versuch unternommen hat, die Öffentlichkeit zu informieren.56 Würde man aber in einem entsprechenden Versäumnis eine Pflichtverletzung erkennen können, wegen derer die Gesellschaft gegen ihre Organe vorgehen wollte, wären die Chancen ebenfalls äußerst gering. Eine solche Klage würde nämlich regelmäßig drohen zu scheitern, weil sich Schaden und/oder Kausalität nicht beweisen ließen.57 Ebenso bliebe die Anfechtungsklage eines Gesellschafters erfolglos, der regelmäßig nicht beweisen könnte, seine Zustimmung in der Gesellschafter- bzw. Hauptversammlung allein im Vertrauen auf eine zutreffende Nachhaltigkeits-Berichterstattung gegeben zu haben.58
VII. Resümee Die Bestimmung des Gesellschaftsinteresses ist bis heute eine der zentralen und noch nicht abschließend geklärten Fragen des Gesellschaftsrechts. Bei der Bewer55 Roth-Mingram, Berrit, Corporate Social Responsibility (CSR) durch eine Ausweitung der nichtfinanziellen Informationen von Unternehmen, NZG 2015, 1341 (1343). 56 Roth-Mingram (Fn. 55) S. 1343 f.; Spießhofer (Fn. 18) S. 1286. 57 Roth-Mingram (Fn. 55) S. 1344. 58 Roth-Mingram (Fn. 55) S. 1344.
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tung der Rechte oder auch nur der Einordnung des Status von (internen) Gesellschaftern oder (externen) sonstigen „stakeholdern“ wird stets zu differenzieren sein, sowohl inhaltlich als auch persönlich. Auch wenn es Grenzziehungen bedarf, können diese nicht allgemeingültig sein. Corporate Social Responsibility stellt insoweit eine besondere Herausforderung dar. Kein anderer Bereich ist von vergleichbarem öffentlichem Interesse. Die Schwierigkeit, hier eine allgemeingültige Lösung zu finden und die verschiedenen Interessensphären zu definieren, belegt die europäische Richtlinie besonders eindrucksvoll. Diese ist in vieler Hinsicht so wenig konsistent, dass Probleme, die sich bei der Umsetzung in nationales Recht vielleicht noch meistern lassen, in der praktischen Anwendung umso heftiger zutage treten und erhebliche Rechtsunsicherheit verursachen werden. Man sollte nicht den Fehler machen, in die Richtlinie einen fundamentalen Richtungswechsel hineinzulesen und diese als eine Neubestimmung der Koordinaten des Gesellschaftsrechts zu interpretieren.59 Auch wird weiteres „hard law“ weder dazu führen, dass Unternehmen verantwortlich handeln und den Prinzipien guter Corporate Governance folgen, noch werden die Corporate Governance-Praktiken auf diese Weise eine allgemeine Verbesserung erfahren. Dass dies ein zweifelhaftes Unterfangen ist, gerät zunehmend in den Blick. Mit dem Verhältnis von moralischem Verhalten und CSR befasst sich auch Strohn.60 Er geht noch einen Schritt weiter und wirft die Frage auf, „ob nicht [gerade] durch die entstandene und noch weiter entstehende Regelungsdichte … ein moralisches Verhalten gerade verhindert wird“.61 Von einem „ehrbaren Kaufmann“, so lautet seine These, „wird man erwarten dürfen, dass er sich auch ohne Regulierung moralisch verhält, also eine Verantwortung auch gegenüber dem Gemeinwesen übernimmt“.62 Deshalb sollte man es als das nehmen, was es ist: Ein weiterer europäischer Kompromiss und eine nette Absichtsbekundung, die nicht mehr als viel Lärm verursachen wird – und vor allem enorme Kosten für die betroffenen Unternehmen.63
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2. 61
Siehe auch Spießhofer (Fn. 18) S. 1287. Strohn, Lutz, Moral im Geschäftsleben – verdrängt durch das Recht?, ZHR 180 (2016),
Strohn (Fn. 60) S. 5. Strohn, (Fn. 60) S. 5 f. 63 Dies leichtfertig als „low-cost approach“ zu werten, wie Szabó/Sørensen (Fn. 17) S. 340, dürfte sich schon bald als schwerwiegender Irrtum erweisen. 62
Besonderheiten des Schiedsverfahrensrechts im Übereinkommen über eine Trans-Pacific Partnership (TPP) Von Otto Sandrock*
I. Einführung Koresuke Yamauchi, dem dieser Beitrag gewidmet ist, hat die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität Münster, seitdem er in Münster zum ersten Mal mehr als ein Jahr der Forschung verbracht hat (vom Februar 1983 bis zum Juli 1984), während der folgenden Jahrzehnte in ungewöhnlichem Maße bereichert. Er hat den deutschen Juristen vor allem durch seine Schriften die Besonderheiten des in seine nationale Kultur eingebetteten japanischen Rechts erklärt. Wir Europäer haben viel von ihm gelernt. 1. Die Verhandlungen über ein Trans-Pacific Partnership (TPP)-Übereinkommen Zur Zeit haben die Europäer eine neue Chance, Erkenntnisse aus dem Fernen Osten für sich gewinnen zu können. Seit 2008 verhandeln zwölf Anrainerstaaten des Pazifik1 über den Abschluß einer Trans-Pacific Partnership (TPP), d. h. eines Freihandelsabkommens, das einen bedeutenden Teil der pazifischen Anrainerstaaten umfassen soll und an dem Japan maßgeblich beteiligt sein wird.2 In diesem Abkommen liegen die Bestimmungen über die Streitbeilegung3 dem Verfasser dieses Beitrages ganz besonders am Herzen. Sie enthalten nämlich eine Reihe von Neuerungen gegenüber den konventionellen nationalen gesetzlichen Regeln und gegenüber den allseits bekannten internationalen institutionellen Schiedsverfahrensordnungen. Die folgenden Ausführungen werden sich deshalb bemühen, diese Neuerungen aufzuzeigen. Einige dieser Neuerungen beziehen sich allerdings nur auf eine Anzahl Einzel* Das Manuskript wurde am 31. Januar 2016 abgeschlossen. 1 Teilnehmerstaaten sind: Brunei, Chile, Neuseeland, Singapur, Australien, Kanada, Japan, Malaysia, Mexiko, Peru, die USA und Vietnam. 2 Der Text des TPP war zwar als vertraulich klassifiziert, aber Wikileaks hat einen Einblick in den Text verschafft. Siehe Fn. 4. 3 Im Chapter 9 (INVESTMENT) des TPP ist die Section B dem Investor-State Dispute Settlement gewidmet. Vgl. dazu Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 7. 10. 2015 S. 18.
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heiten von geringerer Bedeutung. Andere Neuerungen gestalten aber auch einige im TPP enthaltene Schwerpunkte des Schiedsverfahrensrechts neu. Nur die letzteren können hier herausgestellt werden. Kleinere Neuerungen müssen in diesem Zusammenhang unberücksichtigt bleiben. Die Verhandlungen über das TPP wurden bisher grundsätzlich vertraulich geführt. Aber nachdem Wikileaks im Januar 2015 die als vertraulich eingestuften bisherigen Verhandlungsergebnisse ins Internet gestellt hatte4, zog die US-amerikanische Regierung mit ihrer Publikationspolitik nach und veröffentlicht seit November 2015 diejenigen Texte des TPP, auf die man sich bis dahin hat einigen können.5 Dieser von den USA veröffentlichte Text, der – wie gesagt – lediglich einen Entwurf darstellt, soll nach seinem Stand vom 31. 1. 2016 als Grundlage für die folgenden Erörterungen dienen.6 2. Die Verhandlungen über Freihandels-Übereinkommen, an denen die EU beteiligt ist Freilich steht der Entwurf des TPP in der jüngeren Geschichte der Freihandelsabkommen nicht alleine da. Drei andere Freihandels-Übereinkommen, die Abschnitte über die Streitbeilegung enthalten, sind in den vergangenen Jahren ebenfalls ausgehandelt worden. Erstens ist insoweit der zwischen der EU und Kanada bisher erstellte Entwurf eines Comprehensive Economic and Trade Agreement (CETA)7 zu erwähnen, dessen Ziff. 33 (Dispute Settlement), Annex I: Rules of Procedure for Arbitration einige Neuerungen für diejenigen Streitigkeiten vorsieht, über die im Wege von Schiedsverfahren entschieden werden soll. Zweitens erneuert auch das zwischen der EU und Singapur ausgehandelte EU-Singapore Free Trade Agreement (EUSFTA)8 einige Aspekte des bewährten klassischen Systems der Entscheidungsfindung durch private Schiedsgerichte.9 Beide Entwürfe, die noch der Ratifizierung durch ihre Teilnehmerstaaten bedürfen, sollen in dieser Untersuchung ergänzend berücksichtigt werden.10 Bei allen diesen Neuerungen ist jedoch zu beachten, daß sie 4
Vgl. https://wikileaks.org/tpp-investment/. Vgl. https://ustr.gov/tpp/. 6 Die schiedsgerichtlichen Bestimmungen (provisions on dispute settlement) können auch heruntergeladen werden von https://medium.com/the-trans-pacific-partnership/dispute-settle ment-a5b4569a9a55. 7 Siehe dessen Text in einem Dokument der European Commission, Directorate-General for Trade (http://ec.europa.eu/trade/policy/in-focus/cetaIindex_de.htm). 8 Vgl. dessen Text (Stand: Mai 2015) in einem Dokument der European Commission, Directorate-General for Trade (http://trade.ec.europa.eu/doclib/press/index.cfm?id=961. 9 Vgl. dessen Chapter Fifteen, Dispute Settlement. Die Schiedsrichter sollen allerdings nur aus einer Schiedsrichterliste gewählt werden können. 10 Bekanntlich wird im Augenblick auch das Transatlantic Trade and Investment (TTIP)Übereinkommen zwischen der EU und den US ausgehandelt. Dessen Entwurf ist derzeit jedoch der Öffentlichkeit noch nicht zugänglich. Außerdem ist die Nützlichkeit dieses Über5
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nicht im Rahmen der klassischen internationalen Handelsschiedsgerichtsbarkeit angesiedelt sind (in denen sich zwei private Parteien gegenüberstehen), sondern im Rahmen der internationalen Investitionsschiedsgerichtsbarkeit (bei welcher ein privater Investor einen souveränen Staat verklagt). Zwar haben – drittens – die Außenhandelskommissarin der EU Malmström und der Industrie- und Handelsminister von Vietnam am 2. Dezember 2015 ebenfalls bekanntgegeben, sie hätten ihre Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen erfolgreich abgeschlossen, das zwischen der EU und Vietnam gelten soll.11 Die Bestimmungen dieses Abkommens sind allerdings noch nicht veröffentlicht. In der zitierten Pressemitteilung vom 2. 12. 2015 heißt es jedoch: It [d. h. das Abkommen] also includes a new and reformed approach on investment protection and investment dispute resolution. Das EU-Vietnam Freihandelsabkommen will nämlich nicht – wie in den anderen bisher erwähnten Freihandelsabkommen vorgesehen – private ad hocSchiedsgerichte mit der Lösung von Gaststaat-Investor-Streitigkeiten betrauen. Vielmehr soll ein mit staatlichen Richtern besetztes Handelsgericht über derartige Streitigkeiten entscheiden.12 Eine solche Lösung begegnet freilich fundamentalen Bedenken.13
II. Auffallende Neuerungen im TPP Sieht man die Bestimmungen des TPP durch, so fallen die folgenden Neuerungen auf. 1. Investoren können sog. treaty claims auch ohne sog. umbrella clauses gegenüber ihrem jeweiligen Gaststaat geltend machen Nach dem TPP ist – ebenso wie nach allen anderen Freihandelsabkommen – zwischen zwei verschiedenen Arten von Ansprüchen zu unterscheiden, die ein privater Investor gegenüber seinem Gaststaat gegebenenfalls geltend machen kann. Im Gegensatz zu den Regelungen in den bisherigen Freihandelsabkommen können Investo-
einkommens sowohl in den USA als auch in Europa hoch umstritten (vgl. für die USA z. B. Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 6. 10. 2015 S. 1; das Material über die Diskussion in Europa bzw. in Deutschland ist so zahlreich, daß man im Internet unter TTIP Hunderte von Stellungnahmen finden kann). Es kann und soll daher im vorliegenden Zusammenhang nicht berücksichtigt werden. 11 Vgl. http://ec.europa.eu/trade/policy/countries-and-regions/countries/vietnam m.w. Nachw. 12 Vgl. http://www.juve.de/nachrichten/namenundnachrichten/2015/12/vietnam-eu-handels abkommen. 13 Vgl. dazu Sandrock, Otto, Das Internationale Handelsgericht im TTIP, RIW 2015, 625 – 640; Duve, Christian/Rösch, Karl Ö., Lösen internationale Gerichte die internationale Schiedsgerichtsbarkeit ab?, ZVglRWiss 114 (2016), 387 – 406.
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ren auf Grund des TPP die beiden verschiedenen Arten von Ansprüchen jetzt aber ohne weiteres kumulativ gerichtlich verfolgen. a) Die Unterscheidung zwischen sog. contract claims und sog. treaty claims Jede Investition, die von einem Freihandelsabkommen erfaßt wird, setzt voraus, daß ein Investor mit seinem Gaststaat einen privatrechtlichen Vertrag über seine Investition in dem Gaststaat abgeschlossen hat (z. B. über den Bau eines Bergwerks, eines Kraftwerks, eines Hafens oder einer Industrieanlage)14. Dieser Vertrag wird von derjenigen lex contractus beherrscht, die von dem Investor und dem Gaststaat entweder kraft einer Rechtswahlklausel festgesetzt worden ist oder die, wenn es an einer solchen Klausel fehlt, von dem zuständigen Gericht bestimmt werden muß. Dieser Investitionsvertrag, der vom TPP investment agreement genannt wird15, ist von Bedeutung, wenn die Rechtsposition des Investors durch eine Maßnahme des Gaststaates beeinträchtigt wird. Der Gaststaat kann es z. B. versäumen, dem Investor diejenigen lokalen Arbeitskräfte (sog. locals) so rechtzeitig und in der Weise zur Verfügung zu stellen, wie er es seinem Investor im investment agreement versprochen hat. Der Gaststaat kann es dem Investor ferner im Widerspruch zu dem investment agreement versagen, bestimmte Grundstücke zu nutzen. Er kann sich auch weigern, dem Investor Einfuhrgenehmigungen für Waren zu erteilen, welche dieser zur Fertigstellung seiner Investition benötigt. Der Gaststaat kann seinen Investor schließlich auch mit Umweltauflagen belasten, deren Anordnung im investment agreement ausdrücklich ausgeschlossen worden ist. Wegen derartiger Verletzungen seines in14 Art. 9.1 in Section A des TPP, der einige Definitionen enthält, spricht insoweit von einem covered investment und definiert dieses wie folgt: c o v e r e d i n v e s t m e n t [Hervorhebung im Original] means, with respect to a Party, an investment in its territory of an investor of another Party in existence as of the date of entry into force of this Agreement for those Parties or established, acquired, or expanded thereafter; … . 15 Art. 9.1 in Section A des TPP definiert dieses agreement wie folgt: i n v e s t m e n t a g r e e m e n t [Hervorhebung im Original] means a written agreement that is concluded and takes effect after the date of entry into force of this Agreement between an authority at the central level of government of a Party and a covered investment or an investor of another Party and that creates an exchange of rights and obligations, binding on both parties under the law applicable under Article 9.24(2) (Governing Law), on which the covered investment or the investor relies in establishing or acquiring a covered investment other than the written agreement itself, and that grants rights to the covered investment or investor: (a) with respect to natural resources that a national authority controls, such as oil, natural gas, rare earth minerals, timber, gold, iron ore and other similar resources, including for their exploration, extraction, refining, transportation, distribution or sale; (b) to supply services on behalf of the Party for consumption by the general public for: power generation or distribution, water treatment or distribution, telecommunications, or other similar services supplied on behalf of the Party for consumption by the general public; or (c) to undertake infrastructure projects, such as the construction of roads, bridges, canals, dams or pipelines or other similar projects; provided, however, that the infrastructure is not for the exclusive or predominant use and benefit of the government; … .
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vestment agreement kann der Investor dann einen privatrechtlichen contract claim gegenüber seinem Gaststaat vor dem dafür bestimmten Gericht geltend machen. Der Investitionsvertrag wird für eine solche Klage in der Regel die Zuständigkeit eines privaten Schiedsgerichts vorsehen, das, wenn es angerufen wird, z. B. nach dem Verfahrensrecht der ICSID oder der UNCITRAL Arbitration Rules verfährt – je nach dem, was in dem betreffenden investment agreement zwischen dem privaten Investor und seinem Gaststaat als Verfahrensstatut bestimmt worden ist. Macht der private Investor von einer solchen Klagemöglichkeit Gebrauch, so können sich aus der Anwendung der jeweils anwendbaren lex contractus allerdings Hindernisse ergeben. Z. B. kann die Auslegung des investment agreement streitig sein, oder der Gaststaat ficht das investment agreement wegen Irrtums an. Vor allem aber können Verjährungsvorschriften der lex causae der Geltendmachung solcher contract claims entgegenstehen. Der Investor muß alsdann befürchten, mit seiner auf contract claims gestützten Klage zu scheitern. In einer derartigen Situation bleibt dem Investor unter bestimmten Umständen allerdings ein Ausweg. Er kann nämlich seinen Gaststaat gegebenenfalls auch deswegen verklagen, weil letzterer die völkerrechtlichen Pflichten verletzt hat, die für den Investor aus demjenigen Bilateral Investment Agreement (BIT) resultieren, das sein Heimatstaat mit dem Gaststaat abgeschlossen hat. Es ist möglich, daß sich der geschädigte private Investor auf ein solches ihn schützendes BIT berufen kann. Sämtliche BITs enthalten nämlich Bestimmungen, mit Hilfe derer die von ihnen erfaßten Investoren gegenüber ihren Gaststaaten Schutz genießen sollen. Hierin besteht sowohl aus der Sicht des Investors als auch aus der Sicht von dessen Heimatstaat der eigentliche Zweck von BITs. Begehrt der Investor einen derartigen Schutz, so würde er gegenüber seinem Gaststaat also nicht einen privatrechtlichen, sondern einen – völkerrechtlich begründeten – Anspruch, d. h. einen treaty claim vor Gericht einführen. Beispiele für derartige treaty claims lassen sich aus den Texten der BITs leicht ableiten. Alle BITs dürften es z. B. Gaststaaten verwehren, ihre Investoren zu enteignen (auch indirekt). Enteignungsverbote dieser Art stellen einen der Kerngedanken jeglicher BITs dar. BITs versprechen ferner in der Regel allen Investoren Meistbegünstigung oder Inländerbehandlung. Verstößt der Gaststaat hiergegen, so kann der Investor auch hieraus völkerrechtlich einen begründeten Anspruch gegen seinen Gaststaat herleiten. Bei der gerichtlichen Geltendmachung solcher treaty claims könnte sich eine sog. umbrella clause zum einen als hilfreich, zum anderen als notwendig erweisen. Eine solche umbrella clause ist gegebenenfalls in dem privatrechtlichen investment agreement zu finden, das der Investor mit seinem Gaststaat abgeschlossen hat. Derartige Klauseln werden allerdings in ganz verschiedenen Formulierungen verwendet. Ihre Auslegung gibt daher häufig eine Fülle von Rätseln auf.16 16 Vgl. zu den umbrella clauses umfassend Sinclair, Anthony, Umbrella clauses, in: Bungenberg, Marc/Griebel, Jörn/Hobe, Stephan/Reinisch, August (Hg.), International Investment Law, Baden-Baden/Oxford/München 2015, S. 887 – 958. Vgl. auch die beiden Entscheidun-
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Normalerweise verschafft eine umbrella clause dem Investor jedoch die Befugnis, zusätzlich zu seinen privatrechtlichen contract claims auch treaty claims gegenüber seinem Gaststaat geltend zu machen. Das von dem Investor angerufene Schiedsgericht hätte dann also kumulativ über beide Arten von Ansprüchen (contract claims und treaty claims) zu entscheiden. Ohne eine solche umbrella clause wäre es dem privaten Investor schwerlich möglich, seine treaty claims gleichzeitig mit seinen contract claims gegenüber seinem Gaststaat gerichtlich durchzusetzen. b) Die Regelung des Art. 9.18 des TPP im Chapter 9 des TPP17 Es fragt sich indessen, ob Art. 9.18 im Chapter 9 (Überschrift: Investment) des TPP die Heranziehung einer umbrella clause überflüssig macht. Er könnte die privaten Investoren nämlich ermächtigen, immer und in jedem Falle treaty claims in das gerichtliche Verfahren gegenüber ihren Gaststaaten einzuführen, ohne sich auf eine umbrella clause stützen zu müssen. Art. 9.18 des TPP lautet: 1. If an investment dispute has not been resolved within six months of the receipt by the respondent of a written request for consultations pursuant to Article 9.17(2) (a) the claimant, on its own behalf, may submit to arbitration under this Section a claim (i) that the respondent has breached (A) an obligation under Section A, (B) an investment authorization, or (C) an investment agreement.
Der zitierte Art. 9.18,1,(a),(i),(A) – (C) sieht also drei Alternativen für die gerichtliche Geltendmachung von claims durch den Investor vor. Die letzte Alternative (C) bezieht sich auf Streitigkeiten, die aus einem investment agreement18 resultieren. Sie entspricht dem klassischen Bild eines Investors, der seine Klage auf einen privatrechtlichen Anspruch stützt, weil sein Gaststaat seine Pflichten aus dem investment agreement ihm gegenüber verletzt hat. Diese dritte, unter (C) erwähnte Alternative ist indessen problemlos. Sie war schon immer Teil der prozessualen Befugnisse, die ein Investor gegenüber seinem Gaststaat ausüben kann.
gen SGS v. Pakistan und SGS v. Philippines, die sich mit diesen Fragen befassen. Trotz aller Sorgfalt und Gründlichkeit in seiner Analyse muß Sinclair viele Fragen offenlassen. 17 Es ist zu beachten, daß die Bestimmungen über Dispute Settlement in Chapter 28 des TPP in diesem Zusammenhang keine Anwendung finden. Denn die dortigen Bestimmungen beziehen sich nur auf Streitigkeiten zwischen den Vertragsstaaten des TPP, nicht aber auf diejenigen zwischen einem privaten Investor und einem Vertragsstaat. Letztere sind ausschließlich in Section B (Überschrift: Investor-State Dispute Settlement) des Art. 9 geregelt. 18 Siehe dazu dessen Definition oben in Fn. 15.
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Aus den Buchstaben (A) und (B) des Art. 9.18,1,(a),(i) ergeben sich aber noch zusätzliche Klagemöglichkeiten. In diesen beiden Alternativen liegt die auffallende Neuerung, die das TPP einführen will. aa) Die kumulative Geltendmachung von contract claims und treaty claims Begonnen werden soll mit der Regelung der zweiten Alternative, d. h. des Art. 9.II,1,(a)(i)(A) TPP. Diese Bestimmung verweist auf Section A des Chapter 9. Diese Section (Überschrift INVESTMENT) stellt den ersten Abschnitt des Chapter 9 des TPP dar. In dieser Section sind die materiellen völkerrechtlichen Verpflichtungen geregelt, die der Gaststaat den Heimatstaaten der Investoren gegenüber (zugunsten von deren Investoren) einzuhalten hat. Dort finden sich Bestimmungen z. B. über National Treatment, Most-Favored-Nation Treatment, Mininum Standard Treatment usw. Diese Verpflichtungen völkerrechtlicher Natur obliegen jedem Gaststaat vor allem seinen jeweiligen Vertragspartnern gegenüber, d. h. den Heimatstaaten seiner Investoren. Aus der Regelung der Section A ergibt sich aber, daß sich der Gaststaat verpflichtet hat, diese Verpflichtungen auch gegenüber seinen privaten Investoren nicht nur zu erfüllen, sondern auch prozessual dafür einstehen zu wollen. Daraus folgt, daß die Regelung des Art. 9.II,1,(a)(i)(A) es den Investoren gestattet, ihren jeweiligen Gaststaat kumulativ wegen der Verletzung von contract claims und treaty claims zu verklagen, und zwar auch dann, wenn es in dem investment agreement zwischen dem Investor und seinem Gaststaat an einer umbrella clause fehlt. Eine ähnliche Regelung enthält auch der Entwurf des CETA. Nach dessen Art. X.1719 kann ein Investor einen Antrag auf Einleitung eines Schiedsverfahrens gegenüber seinem Gaststaat mit der Begründung stellen, letzterer habe seine Rechte aus Section 3 (Non-Discriminatory Treatment) des Art. X (mit der Überschrift: INVESTMENT) verletzt, und zwar with respect to the expansion, conduct, operation, management, maintenance, use, enjoyment and sale or disposal of its covered investment. In der Section 3 des CETA sind u. a. folgende Materien geregelt: National Treatment20 und Most-Favored-Nation Treatment21. Art. X.17 des CETA verweist aber auch auf Section 4 (Investment Protection) in diesem Chapter. Dort findet sich eine Regelung über Expropriation22 und Transfers (von Erträgen des Investors aus dem Gaststaat)23. Insoweit handelt es sich um die Kernelemente des Schutzes, 19
Mit der Überschrift: Scope of a Claim to Arbitration. Art. X.6. 21 Art. X.7. 22 Art. X.11. 23 Art. X.12.c.
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den ein Gaststaat seinen Investoren gegenüber angedeihen lassen muß. Auch das CETA will es Investoren also ermöglichen, ihre Gaststaaten kumulativ wegen contract claims und treaty claims gerichtlich in Anspruch zu nehmen. Schließlich geht auch das EU-Singapur Freihandelsabkommen (EUSFTA) den gleichen Weg. In dessen Chapter Nine, das die Überschrift INVESTMENT trägt, findet sich in Section A, welche sich mit der Investment Protection befaßt, ein Article 9.13 mit der Überschrift Consultations. Diese Bestimmung sieht vor, daß einem Rechtsstreit zwischen einem Investor und seinem Gaststaat eine consultation vorgeschaltet werden soll.24 Diese consultation wird in dem voraufgehenden Art. 9.12 als Amicable Resolution (Schlichtung oder Mediation) bezeichnet. Abs. 2 Buchst. (b) und (c) des Artikel 9.13 lautet alsdann: 2. The request for consultations shall contain the following information: (b) The provisions of Section A (Investment Protection) alleged to have been breached; (c) The legal and factual basis for the dispute, including the treatment alleged to breach the provisions of Section A (Investment Protection); …
Section A ihrerseits enthält die Bestimmungen, welche das EUSFTA zum Schutz derjenigen Investoren schaffen will, welche in ihre jeweiligen Gaststaaten investieren. Unter diesen Bestimmungen befinden sich wiederum die Klauseln über (i) das National Treatment (Art. 9.3); (ii) über den Standard of Treatment (Art. 9.4), der insbesondere verhindern soll: einen denial of justice, einen fundamental breach of due process, einen manifestly arbitrary conduct, ein harassment, eine coercion, ein abuse of power or similar bad faith conduct oder einen breach of the legitimate expectation of a covered investor arising from specific or unambiguous representations from a Party so as to induce the investment and which are reasonable relied upon by the covered investor (Art. 9.4); in Section A finden sich ferner Bestimmungen über (iii) den Ausgleich für Schäden, die ein Investor unter Umständen z. B. durch Krieg, mit Waffen ausgetragene Konflikte, Revolten usw. erleidet (Art. 9.5); sowie über (iv) die Pflicht zum Ausgleich für Enteignungen und anderes mehr. Die Bestimmung des Art. 9.13 EUSFTA wird bestätigt durch die in seinem Art. 9.19 Abs.1 enthaltene Regelung, nach welcher das zuständige Schiedsgericht darüber entscheiden soll, ob der Gaststaat gegen eine ihm nach Section A (Investment Protection) obliegende Verpflichtung verstoßen hat. Auch das EUSFTA ermächtigt also den Investor, ohne die Existenz einer umbrella clause Ansprüche wegen Verletzung nicht nur von privatrechtlichen Pflichten, sondern auch solche wegen Verletzung völkerrechtlicher Verpflichtungen gegenüber seinem Gaststaat vor einem Schiedsgericht geltend zu machen. TPP, CETA und EUSFTA liegen insoweit inhaltlich auf der gleichen Linie.
24 Bleibt die Schlichtung nach drei Monaten ohne Erfolg, so sieht Art. 9.15 Abs. 1 vor, daß der Kläger eine Schiedsklage einreichen kann.
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bb) Die Geltendmachung von Ansprüchen auf Grund von Investitionszusagen Art. 9.18,1,(a)(i)(B) des TPP verschafft den von ihm begünstigten Investoren sogar die Befugnis, ihre Gaststaaten deshalb vor einem Schiedsgericht zu verklagen, weil diese einer bereits erteilten Investitionsgenehmigung (investment authorization) zuwidergehandelt haben. Die investment authorization ist in Art. 9.1 wie folgt definiert: Investment authorization25 means an authorization that the foreign investment authority or a Party [worunter der jeweilige Gaststaat zu verstehen ist] grants to a covered investment26 or an investor of another Party.
Bricht ein Gaststaat also seine Zusage, eine Investition zu genehmigen, so soll er hierfür schiedsgerichtlich zur Verantwortung gezogen werden können. Eine solche Bestimmung setzt allerdings voraus, daß der betreffende Gaststaat einem Investor aus einem anderen Vertragsstaat überhaupt eine verbindliche Zusage gegeben hat, seine Tore für die Investition dieses Investors zu öffnen. Leider berührt diese Bestimmung aber nicht die im bisherigen Investitionsrecht vorherrschenden Auffassung, nach welcher die Bestimmungen in zweiseitigen BITs, die sich mit dem Zugang zu den Märkten der jeweiligen Gaststaaten befassen, im Zweifel so auszulegen sind, daß ein Investor in der Regel keinen einklagbaren Anspruch auf Zugang zu den innerstaatlichen Märkten eines fremden Vertragsstaates besitzt. BITs werden nämlich in der Regel so interpretiert, daß ein Investor den anderen Vertragsstaat nicht auf den Zugang zu seinen Märkten verklagen kann (no enforceable access to the markets of the investment States without an express promise of the latter).27 Eine solche Praxis steht jedoch im Widerspruch zu der Erfahrungen liberaler Wirtschaftspolitik, nach welcher ein nicht-diskriminierender Zugang zu den Märkten eines Landes nicht nur den Welthandel fördert, sondern im Endergebnis zugleich auch die Wohlfahrt desjenigen Landes, das seine Tore für fremde Investoren öffnet. Die in Art. 9.18,1,(a)(i)(B) des TPP enthaltene Regelung stellt also zwar einen gewissen Fortschritt gegenüber der bisherigen im Investitionsrecht vorherrschenden Auffassung dar. Denn bisher waren Klagen von Investoren, zu dem Markt eines Vertragsstaates zugelassen zu werden, nur dann möglich, wenn eine umbrella clause sie dazu ermächtigte. Doch das wirtschaftsliberale Postulat, die innerstaatlichen Tore für die Investitionen ausländischer Investoren so weit wie möglich zu öffnen, wird auch von dem TPP nicht erfüllt. Denn – wie bereits ausgeführt – nur unter der Voraussetzung, daß ein Gaststaat einem fremden Investor versprochen hat, ihm Zugang zu seinen innerstaatlichen Märkten zu gewähren, verschafft das TPP einem Investor die Befugnis, den betreffenden Vertragsstaat auch schiedsgerichtlich in Anspruch zu 25
Hervorhebung im Original. Zur Definition des covered investment siehe oben Fn. 14. 27 Vgl. dazu Sandrock, Otto, The Right of Foreign Investors to Access German Markets, in: ICSID Review/Foreign Investment Law Journal 29/2 (Fall 2010) m.w. Nachw. 26
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nehmen. In der Regel kann ein Investor also seine Ansprüche, die aus der Verletzung einer solchen Zusage resultieren, nur dann vor dem zuständigen Schiedsgericht einklagen, wenn er die Existenz einer entsprechenden umbrella clause nachzuweisen imstande ist. 2. Andere auffallende Neuerungen in Schiedsverfahren zwischen Investoren und ihren jeweiligen Gaststaaten Das TPP enthält eine Reihe weiterer auffallender Neuerungen, die sich auf das Schiedsverfahren zwischen Investoren und ihren jeweiligen Gaststaaten beziehen. Es geht zum einen um die Möglichkeit, daß sich andere Vertragsstaaten an diesen Verfahren beteiligen (sogleich unter a)). Zum anderen handelt es sich um die Einreichung von amicus curiae briefs (sogleich unter b)). Schließlich ist die Befugnis des Schiedsgerichts zu erwähnen, den Entwurf seines Schiedsspruchs vor dessen Verkündung den Parteien zuzuleiten (sogleich unter c)), sowie die Art und Weise, wie die bedeutsamen Annexe zu dem Abkommen für alle Beteiligten verbindlich ausgelegt werden können und wie verschiedene Schiedsverfahren zu einem einheitlichen Verfahren miteinander verbunden werden können (sogleich unter d)). a) Die Beteiligung anderer Vertragsstaaten an Schiedsverfahren Art. 9.22 Abs. 2 des TPP sieht Folgendes vor: „A non-disputing Party may make oral and written submissions to the tribunal regarding the interpretation of this Agreement. Und in Art. 9.1 (Überschrift: Definitions) findet sich eine kurze Definition des Begriffs der non-disputing Party. Sie lautet: n o n - d i s p u t i n g P a r t y [Hervorhebung im Original] means a Party that is not a Party to an investment dispute. Da mit dem Begriff der Party aber nur die Vertragsstaaten des TPP gemeint sind28, ist klargestellt, daß nicht beliebige Dritte zu einem Schiedsverfahren mündliche und schriftliche Beiträge liefern können, sondern daß nur die Vertragsstaaten des TPP selbst dazu befugt sind. Ferner dürfen sich diese Beiträge nur auf Probleme der Auslegung des TPP beziehen. Der rechtspolitische Sinn dieser Einschränkung ist klar. Man will verhindern, daß das TPP von den Vertragsstaaten unterschiedlich ausgelegt wird. Ein solches Ziel ist natürlich vor dem Hintergrund zu begrüßen, daß das TPP ein sehr komplexes Vertragswerk werden wird, das Hunderte von Seiten umfaßt und an welchem Vertragsstaaten mit sehr unterschiedlichen Rechtskulturen beteiligt sein werden.
28 Art. 1.3 des TPP, der einige für alle Kapitel des TPP geltende Definitionen enthält, definiert den Begriff der Party wie folgt: P a r t y [Hervorhebung im Original] means any State or separate customs territory for which this Agreement is in force; … .
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Eine ähnliche Regelung wie diejenige des Art. II.22 Abs. 1 TPP findet sich in Art. X.27 des CETA.29 Danach kann sich ein sog. Trade Committee auf eine bestimmte Auslegung der Regeln dieses Abschnitts einigen.30 Diese Regeln sollen alsdann für alle Parteien verbindlich sein. Art. 9.19 des EUSFTA31 sorgt auf ähnlichem Wege ebenfalls für eine gleiche Auslegung seiner Bestimmungen.32 b) Die Ermächtigung des Schiedsgerichts, die Vorlage von amicus curiae briefs zuzulassen Art. 9.22 Abs. 3 ermächtigt das Schiedsgericht ferner, nach Beratung mit den Parteien die Vorlage von amicus curiae briefs sowohl zur Entscheidung über Sach- als auch Rechtsfragen zuzulassen, sofern eine solche Vorlage dem Schiedsgericht bei dessen Entscheidungsfindung nützlich sein kann. Der Autor des amicus curiae brief’s muß allerdings in dem Sinne unabhängig sein, daß er keinen significant interest in the arbitral proceedings haben darf. Art. 9.22 Abs. 3 des TPP stellt in diesem Zusammenhang weitere Regelungen auf, die verhindern sollen, daß eine der Parteien durch ein amicus curiae brief in ungerechtfertigter Weise benachteiligt wird oder daß sich das Verfahren dadurch unangemessen verzögert.
29 In Abs. 1 dieser Bestimmung ist zunächst festgelegt. daß die in diesem Chapter enthaltenen Regeln nach den Bestimmungen der Vienna Convention on the Law of Treaties und nach den principles of international law applicable between Parties ausgelegt werden sollen. 30 Dessen Abs. 3 lautet: Where serious concerns arise as regards issues of interpretation that may affect investment, the Committee on Services and Investment may, pursuant to Article X.42(3)(a)recommend to the Trade Committee the adoption of interpretations of the Agreement. An interpretation adopted by the Trade Committee shall be binding on a Tribunal established under this Chapter. The Trade Committee may decide that an interpretation shall have binding effect from a specific date. Die Zusammensetzung und die Aufgaben des in dieser Bestimmung erwähnten Trade Committee ließ sich dem Text des Entwurfs nicht entnehmen. 31 Dessen Absätze 1 und 2 lauten; 1. Subject to paragraph 3, the tribunal shall apply this Agreement interpreted is in accordance with the Vienna Convention on the Law of Treaties and other rules and principles of international law applicable between the Parties. 2. Where serious concerns arise as regards issues of interpretation which may affect matters relating to this Chapter, the Trade Committee, pursuant to subparagraph 2(b) of Art. 9.30 (Role of Committees), may adopt interpretations of provisions of this Agreement. An interpretation adopted by the Trade Committee shall be binding on a tribunal deciding on a claim submitted in accordance with Art. 9.16 (Submission to Claim to Arbitration), and any award shall be consistent with that decision. The Trade Committee may decide that an interpretation shall have binding effect from a specific date. 32 Im Gegensatz zum CETA (siehe oben Fn. 29) sind zumindest die Zusammensetzung und die Aufgaben des Trade Committee in Art. 17.1 des EUSFTA klar geregelt. Das Committee setzt sich aus Vertretern von Singapur und denjenigen der EU zusammen. Ihm sind Aufgaben allgemeiner Art übertragen, z. B. (a) ensure that this Agreement operates properly; (b) supervise and facilitate the implementation and application of this Agreement, and further its general aims; … . Daneben obliegt ihm u. a. die soeben erwähnte besondere Aufgabe, für eine einheitliche Auslegung des Abkommens zu sorgen.
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c) Die Ermächtigung des Schiedsgerichts, seinen Entwurf einer Entscheidung oder eines Schiedsspruchs den Parteien zuzuleiten Höchst revolutionär, aber dennoch äußerst sachdienlich erscheint die in Art. 9.22 Abs. 10 TPP enthaltene Regelung, nach welcher ein Schiedsgericht ermächtigt ist, auf Antrag einer Partei seinen Entwurf einer Entscheidung (decision) oder eines Schiedsspruchs (final award) vor dessen Verkündung den Parteien des betreffenden Schiedsverfahrens zuzuleiten. Den Parteien soll damit die Gelegenheit verschafft werden, zu den Entwürfen des Gerichts vor deren Verkündung Stellung zu nehmen. Art. 9.22 TPP Abs. 10 lautet: 9. In any arbitration conducted under this Section, at the request of a disputing party, a tribunal shall, before issuing a decision or a final award on liability, transmit its proposed decision or award to the disputing parties. Within 60 days after the tribunal transmits its proposed decision or award, the disputing parties may submit written comments to the tribunal concerning any aspect of its proposed decision or award. The tribunal shall consider any such comments and issue its decision or award not later than 45 days after the expiration of the 60day comment period.
Die Parteien können allerdings zu geplanten decisions oder final awards nur unter der Voraussetzung Stellung nehmen, daß diese „on liability“ ergehen sollen. Diese Einschränkung bezweckt offensichtlich, den Parteien die Möglichkeit zu verwehren, auf ihre Initiative hin bloße prozeßleitende Entscheidungen vorab zu kommentieren (z. B. über die Verlängerung von Schriftsatzfristen, die Verlegung eines Tagungsorts, die Bekanntgabe oder Veränderung von Beweisgegenständen, die Verbindung von Verfahren usw.). Diese neue Regelung ist nachdrücklich zu begrüßen. Schweigt sich das Gericht nämlich – insbesondere wegen einer Uneinigkeit unter den Schiedsrichtern – wie eine Sphinx über die von ihm für entscheidungsrelevant gehaltenen Tatsachen oder Rechtsfragen aus (und damit z. B. über den wahrscheinlichen Ausgang des Verfahrens), so wissen die Parteien oft nicht, welcher Vortrag von ihnen für die Entscheidung des Gerichts erheblich ist. Gerichtliche Geheimniskrämereien dieser Art belasten die Parteien außerordentlich. Denn ihnen bleibt verborgen, welche Schwerpunkte sie in ihrer Argumentation vor Gericht setzen sollten. Demgegenüber verschafft die neue Regelung des Art. 9.22 Abs. 10 TPP den Parteien die Möglichkeit, noch während des laufenden Verfahrens zu erfahren, auf welche Fakten und rechtlichen Erwägungen es dem Gericht entscheidend ankommt. Gerichtliche Überraschungs-Entscheidungen (surprise decisions und awards) können dadurch vermieden werden. Aber nicht nur dies. Eine von einer Entscheidung beschwerte Partei kann durch solche Vorab-Informationen möglicherweise auch davon abgehalten werden, eine Entscheidung später anzufechten. Denn eventuelle Anfechtungsgründe können auf Grund der neuen Regelung bereits im noch laufenden Schiedsverfahren erörtert werden. Dem Gericht wird es dadurch ermöglicht, seine Entscheidung „anfechtungsfester“ zu formulieren.
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d) Die Möglichkeit, die beiden Annexe I und II zum FTT durch die Trans-Pacific Partnership Commission auslegen zu lassen Der Text des TPP umfaßt allein schon Hunderte von Seiten. Diesem Text sind aber noch vier „Annexe“ beigefügt, die sich ebenfalls über Hunderte von Seiten erstrecken werden. Die ersten beiden Annexe befassen sich mit Non-Confirming Measures, deren dritter mit Financial Services und deren vierter mit State-Owned Enterprises. Die Regelungen über die Non-Confirming Measures in den ersten beiden Annexen erlauben es den Vertragsstaaten, bestimmte gesetzliche und administrative Maßnahmen aufrechtzuerhalten, obwohl diese mit den allgemeinen Bestimmungen des TPP unvereinbar sind.33 Annex III enthält ähnliche Sonderregeln für Finanz-Institute, und Annex IV solche für Staatsunternehmen. Auch diese Sonderregeln stellen Finanzinstitute und Staatsunternehmen von den allgemeinen Bestimmungen des TPP frei. Bei diesen Ausnahmeregelungen handelt es sich um empfindliche Bereiche des TPP, durch welche die Erreichung einiger fundamentaler Ziele des TPP zurückgestellt wird, um bestimmte Wirtschaftsbereiche der jeweiligen Vertragsstaaten vom TPP unangetastet zu lassen. Damit wird anerkannt, daß die Vertragsstaaten in bestimmten Bereichen ein legitimes Interesse an der Aufrechterhaltung jener Regeln haben können. Art. 9.25 des TPP verfolgt in diesem Zusammenhang einen spezifischen Zweck: Er soll es den Parteien, die eine solche Ausnahmeregelung in Anspruch nehmen wollen, ermöglichen, die sog. Transpacific Partnership Commission anzurufen. Diese soll für eine einheitliche und angemessene Auslegung der betreffenden Ausnahmebestimmungen sorgen. Das Schiedsgericht, vor welchem die Parteien einen solchen Antrag stellen können, ist dann an die Entscheidung der erwähnten Kommission gebunden. Art. 9.25 des TPP, der die Überschrift trägt: Interpretation of Annexes, lautet wie folgt: 1. If a respondent asserts as a defense that the measure alleges to be a breach of the scope of a non-conforming measure set out in Annex I or Annex II, the tribunal shall, on request of the respondent, request the interpretation of the Commission on the issue. The Commission shall submit in writing any decision on its interpretation under Art. 27.2.2(f) (Functions of the Commission) to the tribunal within 90 days of delivery of the request. 2. A decision issued by the Commission under paragraph 1 shall be binding on the tribunal, and any decision or award issued by the tribunal must be consistent with that decision. If the Commission fails to issue such a decision within 90 days, the tribunal shall decide the issue. 33 Die einleitende Bestimmung von Annex II lautet z. B.: The Schedule of a Party to this Annex sets out, pursuant to Articles 9.11 (Non-Conforming Measures) and 10.7 (Non-Conforming Measures), the specific sectors, subsectors, or activities for which that Party may maintain existing, or adopt new or more restrictive, measures that do not conform with obligations imposed by … . In ähnlicher Weise ist die einleitende Bestimmung von Annex I formuliert.
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Eine Definition der Commission, die für eine solche Auslegung zuständig sein soll, findet sich in Art. 1.3 des TPP. Dort heißt es: C o m m i s s i o n 34 means the Trans-Pacific Partnership Commission established under Article 27.1 (Establishment of the Trans-Pacific Partnership Commission). Gemäß Art. 27.1 (Überschrift: Establishment of the Trans-Pacific Partnership Commission) setzt sich diese Kommission aus den Ministern (oder deren senior officials) der Vertragsstaaten zusammen, wobei die Mitglieder der Kommission offenbar durch die Vertragsstaaten von Sachgebiet zu Sachgebiet unterschiedlich benannt werden können. Die Zusammensetzung der Delegationen der einzelnen Vertragsstaaten steht im Ermessen der letzteren. Die Beschlüsse der Kommission müssen gemäß Art. 27.3 TPP einstimmig gefaßt werden. Die vielfältigen Aufgaben der Kommission sind in Art. 27.2 TPP aufgezählt. Dort heißt es ganz allgemein: 1. The Commission shall: (a) consider any matter relating to the implementation or operation of this Agreement; … Besondere Aufgaben für Schiedsverfahren zwischen Investoren und ihren Gaststaaten sind dort nicht erwähnt. Das TPP hat also, wie es scheint, für eine einheitliche und effektive Durchführung der unter seiner Ägide durchzuführenden Investor-Gaststaat-Schiedsverfahren ausreichend Vorsorge getroffen.
III. Regelungen im Trend der beiden letzten Jahrzehnte Es ist ferner nicht überraschend, daß das TPP auch einige Regelungen in sein Vertragswerk übernehmen will, die sich in einigen anderen schiedsgerichtlichen Verfahrensordnungen während der beiden letzten Jahrzehnte durchgesetzt haben. Es hat sich erwiesen, daß diese Regelungen die Schiedsgerichtsbarkeit gefördert haben. Zwei von ihnen sollen hier Erwähnung finden. Die erste ist in Art. II.23 TPP enthalten. Sie will die Transparenz schiedsgerichtlicher Verfahren erhöhen. Die zweite Regelung, die hier erwähnt werden soll, stellt die in Art. II.27 TPP vorgesehene Möglichkeit dar, unterschiedliche Schiedsverfahren unter bestimmten Voraussetzungen miteinander zu einem einheitlichen Schiedsverfahren zu verbinden. 1. Die in Art. 9.23 TPP vorgesehene Förderung der Transparenz des schiedsgerichtlichen Verfahrens In seinem Art. 9.23 hat das TPP der Regelung der Transparency of Arbitral Proceedings großen Raum gewährt. Abs. 1 dieser Bestimmung lautet:
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Hervorhebung im Original.
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1. Subject to paragraphs 2 and 4, the respondent shall, after receiving the following documents, promptly transmit them to the non-disputing Parties[35] and make them available to the public: (a) the notice of intent; (b) the notice of arbitration; (c) pleadings, memorials, and briefs submitted to the tribunal by a disputing party and any written submissions submitted pursuant to Article 9.22.2 (Conduct of the Arbitration) and 9.22.3 and Article 9.27 (Consolidation); (d) minutes or transcripts of hearings of the tribunal, where available; and (e) orders, awards, and decisions of the tribunal.
In den folgenden Absätzen dieser Bestimmung sind alsdann ohne weiteres einsichtige Einschränkungen dieser Publikationspflicht vorgesehen, z. B. hinsichtlich von Betriebsgeheimnissen, know how usw. Diese weit ausgreifende Transparenz entspricht im Wesentlichen der Regelung der am 1. April 2014 in Kraft getretenen UNCITRAL Transparency Rules36, die auch das CETA übernommen hat37. 2. Die in Art. II.27 TPP vorgesehene Möglichkeit, unterschiedliche Schiedsverfahren zu einem einheitlichen Schiedsverfahren miteinander zu verbinden Ferner will das TPP durch seinen Art. II.27 den Parteien der Investor-GaststaatSchiedsgerichte, die unter seiner Ägide eingerichtet sind, die Möglichkeit verschaffen, unterschiedliche Schiedsverfahren zu einem einheitlichen Schiedsverfahren miteinander verbinden zu lassen. Voraussetzung hierfür ist der entsprechende Antrag einer Partei des Schiedsverfahrens. Ferner müssen die unterschiedlichen Klagebegehren auf eine identische Rechtsfrage oder auf ein und demselben Sachverhalt beruhen.38 Der Antrag ist aber nicht an das Schiedsgericht zu richten, sondern an den
35 Dieser Begriff ist in Art. 9.1 TPP wie folgt definiert: n o n - d i s p u t i n g P a r t y [Hervorhebung im Original] means a Party that is not a party to an investment dispute; … . Art. 1.3 TPP stellt für den Begriff der Party seinerseits klar, daß er nur die am TPP beteiligten Staaten umfaßt (Party means any State or separate customs territory for which this Agreement is in force). 36 UNCITRAL Rules on Transparency in Treaty-based Investor-State Arbitration (im Internet verfügbar). Ihre neue Fassung wurde von der UN Generalversammlung durch deren Beschluß Nr. 68/109 vom 16. 12. 2013 angenommen. Die neuen Rules sind mit Wirkung vom 1. 4. 2014 in Kraft getreten. 37 Vgl. Art. X.33 des CETA. 38 Abs. 1 des Art. 9.27 spricht davon, daß the claims have a question of law or fact in common and arise out of the same events or circumstances.
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Secretary General der ICSID.39 Falls dieser dem Antrag stattgibt (was gegebenenfalls innerhalb von 30 Tagen geschehen muß), ist ein neues Schiedsgericht zu bilden. Auch die Bestimmung des Art. II.27 TPP findet sich in ähnlicher Form im CETA, und zwar in dessen Art. X.41. Soweit der Verfasser dieses Beitrages feststellen kann, ist die Möglichkeit, unterschiedliche Schiedsverfahren zu einem einzigen Verfahren miteinander zu verbinden, aber für internationale Schiedsverfahren zum ersten Mal durch Art. 4 der Swiss Rules of International Arbitration40 geschaffen worden.41 Abs. 1 des Art. 4 der genannten Swiss Rules unterscheidet dabei zwischen zwei Fallkonstellationen von consolidations: (i) Eine Partei eines bereits anhängigen Schiedsverfahrens reicht gegenüber dem Partner ihres Schiedsverfahrens, den sie bereits verklagt hat, eine neue Schiedsklage ein. Gäbe man diesem Antrag statt, so würde ein neues, zweites Verfahren zwischen ein und denselben Parteien eröffnet (Art. 4 Abs. 1 Satz 1 der Rules). (ii) Ein Schiedsverfahren ist bereits anhängig. Eine andere, dritte Person, die an dem bereits anhängigen Schiedsverfahren nicht beteiligt ist, macht ein neues Schiedsverfahren gegen eine der Parteien des bereits anhängigen Verfahrens anhängig. Wiederum könnte es zur Eröffnung eines weiteren, zweiten Schiedsverfahrens kommen, wobei die Parteien des neuen Verfahrens allerdings nur hinsichtlich einer Person identisch wären (Art. 4 Abs. 1 Satz 2 der Rules). In beiden Fallkategorien (i) und (ii) sollen die sechs Chambers darüber entscheiden, ob die Verfahren konsolidiert werden oder nicht. Gemäß Buchstabe (d) der Swiss Rules haben die Chambers allerdings ein zentrales Arbitration Committee gegründet, das insoweit die Funktionen der Chambers wahrnehmen soll.42 Dieses Committee soll dabei take into account all circumstances, including the links between the two cases and the progress already made in the existing proceedings. Die Swiss Rules of International Arbitration haben nunmehr auch in den Schiedsregeln der Volksrepublik China, bekannt unter der Abkürzung CIETAC (China International Economic and Trade Arbitration Commission), einen Nachahmer gefunden. Während die CIETAC Rules von 201243 die Verbindung von Schiedsverfahren nur zuließen, wenn alle Verfahrensparteien damit einverstanden waren, ermöglichen die neuen CIETAC Arbitration Rules vom 4. November 2014, die am 1. Januar 2015 39 Art. 9.1 TPP stellt klar, daß mit dem Begriff des Secretary General derjenige des ICSID gemeint ist. 40 Deren Neufassung ist am 1. 6. 2012 in Kraft getreten (im Internet verfügbar). 41 Die sechs Industrie- und Handelskammern Basel, Bern, Genf, Tessin, Wallis und Zürich hatten ursprünglich jeweils eigene Regeln für internationale Schiedsverfahren. Am Anfang dieses Jahrtausends harmonisierten sie diese Regeln (im Internet verfügbar), die zum 1. 1. 2004 in Kraft getreten und in der Zwischenzeit durch neue Regeln ersetzt worden sind. Als Basis für die Harmonisierung ihrer Regeln dienten die UNCITRAL Arbitration Rules (vgl. die den Rules vorangestellte Introduction to the Swiss Rules unter B). 42 Vgl. dazu allgemein Peter, Wolfgang, Some observations on the New Swiss Rules of International Arbitration, in: ASA (Association Suisse de l’Arbitrage) Special Series No. 22 S. 1 – 15. 43 Im Internet verfügbar. Ebenso Art. 10 der Rules of Arbitration der ICC in Paris.
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in Kraft getreten sind, eine Konsolidierung von Verfahren unter bestimmten Voraussetzungen44, auch wenn eine Zustimmung aller Parteien nicht gegeben ist. Die Entscheidung hierüber trifft die CIETAC gemäß Art. 2 Abs. 2 der CIETAC Arbitration Rules vom 4. November 2014 durch ihren allgemeinen Arbitration Court.
IV. Schlußfolgerungen Die in den Entwürfen zum TPP enthaltenen Schiedsregeln für Streitigkeiten zwischen Investoren und ihren Gaststaaten enthalten einige Neuerungen, die jedem Betrachter auffallen. Sie sind für die Weiterentwicklung des modernen internationalen Investmentschutzrechts von außerordentlicher Bedeutung. Die Entwürfe zum TPP haben sich aber auch einigen Neuerungen nicht verschlossen, die im Trend der beiden letzten Jahrzehnte liegen. Freilich müssen die Parlamente der zwölf Partnerstaaten des TPP diesen Bestimmungen noch zustimmen. Es lohnt sich also für die europäischen Nationen, nach Ostasien zu schauen. Was dort im TTP verwirklicht ist, sollte auch Eingang in den Vertrag das TTIP (Trans-Atlantic Trade and Investment Partnership) finden. Die europäischen Nationen „tun sich im Augenblick schwer damit“, diesem Freihandels-Übereinkommen mit den USA zuzustimmen. Würde es an diesen Zustimmungen fehlen, so gereichte dies vor allem Europa nur zum Nachteil.
44 Vgl. Art. 19 Abs. 1 der neuen Rules. Diese lauten: 1. At the request of a party, CIETAC may consolidate two or more arbitrations pending under these Rules into a single arbitration if: (a) all of the claims in the arbitrations are made under the same arbitration agreement; (b) the claims in the arbitrations are made under multiple arbitration agreements that are identical or compatible and the arbitrations involve the same parties as well as legal relationships of the same nature; (c) the claims in the arbitrations are made under multiple arbitration agreements that are identical or compatible and the multiple contracts involved consist of a principle contract and its ancillary contract(s); or (d) all the parties to the arbitrations have agreed to consolidation.
Der Zwang zum gemeinsamen Ehenamen und dessen Verfassungsmäßigkeit in Japan Von Fumihiko Sato¯
I. Vorbemerkung Nach Art. 750 des japanischen Zivilgesetzes (ZG)1 führen die Ehegatten als Ehenamen entweder den Familiennamen des Ehemannes oder den der Ehefrau. Für das Zustandekommen der Eheschließung ist deren Anmeldung notwendig (Art. 739 ZG). Dazu gibt es ein Formular. Auf diesem muss der Ehename, den das Ehepaar nach der Eheschließung tragen will, eingetragen werden (Art. 74 Nr. 1 Familienregistergesetz2). Paare, die sich bei der Eheschließung nicht darüber einigen können, ob sie den Familiennamen des Ehemannes oder den Familiennamen der Frau als Ehenamen wählen sollen, können grundsätzlich die Ehe nicht miteinander schließen. Also muss eine der beiden Parteien möglicherweise gegen ihren Willen ihren Familiennamen aufgeben. Zwar hat es früher schon einmal eine Diskussion über eine Änderung des Zivilgesetzes gegeben, die darauf abzielte, ein System einzuführen, das es den Ehegatten erlaubt, den Familiennamen, den sie vor der Eheschließung trugen, beizubehalten3. Letztendlich aber ist es bis zum heutigen Tag zu keiner dahingehenden Änderung gekommen. Angesichts dieser Situation ist auf Grundlage des japanischen Staatshaftungsgesetzes4 eine Schadensersatzklage gegen den japanischen Staat eingereicht worden. Die Begründung lautete, dass die Unterlassung des Gesetzgebers ein Gesetz zur Zulassung der getrennten Namensführung zu verabschieden, rechtswidrig sei. Die Klägerinnen forderten einerseits Schmerzensgeld für die seelischen Belastungen, die sie erlitten hatten, weil sie für die Eheschließung ihren Familiennamen ändern mussten, und andererseits Schmerzensgeld für die seelischen Belastungen, die sie erlitten hatten, weil sie sich nach erfolgter Eheschließung aus Gründen der Zweckmäßigkeit 1 Minpo¯, Gesetz Nr. 89/1896, deutschsprachige Übersetzung in der Fassung des Gesetzes Nr. 78/2006 bei Kaiser, Andreas: Das Japanische Zivilgesetzbuch in deutscher Sprache, Köln u. a. 2008. 2 Koseki ho¯, Gesetz Nr. 242/1947. 3 Vgl. Kon’in seido to¯ ni kan suru minpo¯ kaisei yoko¯ shian (Reformvorentwurf zum Zivilgesetz, u. a. zum Ehesystem) 1996. 4 Kokka baisho¯ ho¯, Gesetz Nr. 125/1947.
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hatten scheiden lassen, um wieder ihren vorherigen Familiennamen tragen zu können. Die Klagen gehen davon aus, dass Art. 750 ZG gegen Artt. 13, 14 und 24 der japanischen Verfassung5 sowie gegen das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau verstoße. Als Anspruchslage wurde Art. 1 Abs. 1 des Staatshaftungsgesetzes gewählt, in dem es heißt: „Wenn ein mit der Ausübung öffentlicher Gewalt betrauter öffentlicher Bediensteter des Staates oder einer öffentlichen Körperschaft in Ausübung seines Amtes vorsätzlich oder fahrlässig einem Dritten rechtswidrig einen Schaden zufügt, trifft den Staat oder die öffentliche Körperschaft die Pflicht, hierfür Schadensersatz zu leisten.“ Die Klage wurde schließlich im großen Spruchkörper des Obersten Gerichtshofs entschieden.6 14 der 15 Richter hielten das Urteil des Berufungsgerichtes,7 das die Klagen abgewiesen hatte, für rechtmäßig. Allerdings fügte ein Richter den Urteilsgründen seine Gegenmeinung hinzu. 10 der 14 Richter urteilten, dass Art. 750 ZG nicht gegen Artt. 13, 14 und 24 der japanischen Verfassung verstoße, 4 der Richter nahmen indes einen Verstoß gegen Art. 24 der japanischen Verfassung an. Letztlich befanden also 5 der Richter, dass der Art. 750 ZG gegen Art. 24 Verfassung verstoße. Im Folgenden soll vor allem die Mehrheitsmeinung des Obersten Gerichtshofes dargestellt und kommentiert werden.
II. Das Urteil des Obersten Gerichtshofs 1. Verstoß von Art. 750 ZG gegen Art. 13 der Verfassung? Zur Frage, ob Art. 750 ZGB das „Recht auf Wahl des Familiennamens“, welches Teil der Menschenrechte ist, die von der Verfassung rechtlich garantiert werden, rechtswidrig verletze und gegen Art. 13 Verfassung verstoße, wurde folgendes ausgeführt: „Aus sozialer Sicht hat der Familienname die Funktion der Identifizierung und Spezifizierung einer Person unter anderen Menschen, aber aus der Perspektive des Individuums ist er zugleich die Grundlage dafür, dass eine Person als Individuum respektiert wird. Als Symbol für die Persönlichkeit des Individuums sollte er daher ein Persönlichkeitsrecht darstellen. … Da das Gesetz aber die konkreten Details des Familiennamens als Teil des Rechtssystems für Ehe und Familie regelt, sollte das zuvor erwähnte Wesen des Familiennamens als Persönlichkeitsrecht nicht nur im Rahmen der Verfassung interpretiert werden; vielmehr muss es zunächst konkret im Rahmen des etablierten Rechtssystems interpretiert und dabei im Geiste der Verfassung erfasst bleiben. … Folglich ist es nicht angebracht, losgelöst vom konkreten Rechts5
Nihonkoku kenpo¯, Gesetz vom 3. 11. 1946. Deutschsprachige Übersetzungen in Röhl, Wilhelm: Die japanische Verfassung, Frankfurt/Main 1963, S. 81 – 144. 6 Urteil des Obersten Gerichtshofes vom 16. 12. 2015, Saibansho Jiho¯ Nr. 1642, S. 13; Hanrei Taimuzu Nr. 1421, S. 84; Hanrei Jiho¯ Nr. 2284, S. 38. 7 Urteil des Obergerichts Tokyo vom 28. 3. 2014.
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system zu diskutieren, ob der Akt der Änderung des Familiennamens an sich unmittelbar Persönlichkeitsrechte verletzt und daher verfassungswidrig ist.“ „Die Bestimmungen des Zivilgesetzes in Bezug auf den Familiennamen … zeigen, dass der Familienname im Hinblick auf dessen Wesensart Bedeutung als Name einer Person hat, dass er aber getrennt vom Vornamen auch Bedeutung als Name einer Familie hat, die ein konstituierendes Element der Gesellschaft ist. Und da Familien die natürliche und grundlegende kollektive Einheit einer Gesellschaft sind, ist es angemessen, zu bestimmen, dass der Familienname, der einen Teil des Namens eines Individuums darstellt, an die Gruppe erinnert, der diese Person zugehörig ist.“ „Das Problem, das in diesem Fall entsteht, besteht darin, dass im Zuge der freien Willensentscheidung, die Familienbeziehungen durch die Eheschließung zu ändern, einer der Ehegatten den Familiennamen ändert, und nicht etwa darin, dass ein Zwang besteht, den Familiennamen unabhängig vom eigenen Willen zu ändern.“ „In Anbetracht der Tatsache, dass ein Familienname Bedeutung als Name eines Individuums hat, und zusammen mit dem Vornamen die gesellschaftliche Funktion erfüllt, dieses Individuum unter anderen Personen zu identifizieren und zu spezifizieren … und in Anbetracht der Tatsache, dass ein Familienname getrennt vom Vornamen Bedeutung als Name einer Familie hat, die wie oben dargelegt ein konstituierendes Element der Gesellschaft ist, kann aufgrund seines Wesens erwartet werden, dass der Familienname bestimmte persönliche Beziehungen wie die Eltern-Kind-Beziehung widerspiegelt und dass die Möglichkeit besteht, dass er sich bei einer Änderung der Familienbeziehungen, zu denen auch die Ehe gehört, dementsprechend ändert.“ „In Anbetracht des Wesens usw. eines Familiennamens unter dem oben beschriebenen gegenwärtigen Rechtssystem kann bei der Eheschließung „die Freiheit, nicht zur Änderung des Familiennamens gezwungen zu werden“ nicht als Teil der Persönlichkeitsrechte im Rahmen der von der Verfassung garantierten Rechte gelten. Die Bestimmung verstößt daher nicht gegen Art. 13 Verfassung.“ „Allerdings … ist es leicht zu verstehen, dass die Zahl der Menschen zugenommen hat, die aufgrund der Änderung ihres Familiennamens infolge der Eheschließung Nachteile erleiden. … Das Interesse usw. daran, Ansehen, Anerkennung, Ehrgefühl oder dergleichen, die vor der Ehe aufgebaut wurden, beizubehalten … kann als Sachverhalt betrachtet werden, der bei der Prüfung, ob der nach Art. 24 der Verfassung zulässige gesetzgeberische Gestaltungsspielraum überschritten worden ist, berücksichtigt werden sollte.“ 2. Verstoß von Art. 750 ZG gegen Art. 14 Abs. 1 der Verfassung? „Art. 750 ZG sei ein Artikel, der gegen Art. 14 Abs. 1 Verfassung verstoße, da er eine Geschlechterdiskriminierung dadurch schaffe, dass von mindestens 96 % der
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Ehepaare der Familienname des Mannes gewählt werde. Das habe den Effekt, dass praktisch nur Frauen benachteiligt würden.“ „Art. 14 Abs. 1 der Verfassung legt die Gleichheit vor dem Gesetz fest und Präzedenzfälle des Obersten Gerichtshofes haben entschieden, dass der Geist dieser Bestimmung so zu verstehen sei, dass gesetzliche Diskriminierung verboten ist, sofern sie nicht auf vernünftigen Gründen beruht, die dem Wesen der Angelegenheit entsprechen.“ „Wenn man diesen Punkt erwägt, zeigt sich, dass die Bestimmung vorsieht, dass die Ehegatten den Familiennamen eines der Ehegatten annehmen, und da die Frage, ob der Familienname des Mannes oder der Frau gewählt wird, der Diskussion zwischen den Personen überlassen wird, die beabsichtigen, ein Ehepaar zu werden, stellt der Wortlaut der Bestimmung keine gesetzliche Diskriminierung aufgrund des Geschlechts dar und deshalb gibt es an und für sich keine formale Ungleichheit zwischen Männern und Frauen in dem durch die Bestimmung vorgeschriebenen System, bei dem die Ehegatten den gleichen Familiennamen tragen. Selbst wenn man zu dem Befund kommt, dass die überwältigende Mehrheit der Ehegatten in Japan infolge der individuellen Diskussion zwischen den Personen, die beabsichtigen, ein Ehepaar zu werden, den Familiennamen des Ehemanns annehmen, so kann dies nicht als Ergebnis des Wesens der Bestimmung an sich betrachtet werden. … Folglich verstößt die Bestimmung nicht gegen Art. 14 Abs. 1 der Verfassung.“ „In Bezug auf die Wahl des Familiennamens, muss jedoch in Anbetracht der Tatsache, dass bisher die überwiegende Mehrheit der Ehegatten den Familiennamen des Ehemanns gewählt haben, Aufmerksamkeit auf die Frage gerichtet werden, ob diese Bedingung wirklich das Ergebnis der freien Entscheidung der beiden Personen ist, die beabsichtigen, ein Ehepaar zu werden. Wenn befunden würde, dass dies vom Einfluss diskriminierender Einstellungen oder Bräuchen in der Gesellschaft herrührt, dann würde jede Maßnahme zum Ausschluss eines solchen Einflusses und zur Sicherstellung der materiellen Gleichheit zwischen den Ehegatten dem Geist des Art. 14 Abs. 1 der Verfassung entsprechen. Somit handelt es sich bei diesem Punkt um einen Sachverhalt, der berücksichtigt werden sollte, wenn der Zustand des Rechtssystems für Ehe und Familie einschließlich der Familiennamen einer Prüfung unterzogen wird und kann als Sachverhalt betrachtet werden, der bei der Prüfung, ob der nach Art. 24 der Verfassung zulässige gesetzgeberische Gestaltungsspielraum überschritten worden ist, berücksichtigt werden sollte, wie im Folgenden dargelegt.“ 3. Verstoß von Art. 750 ZG gegen Art. 24 der Verfassung? „Verstößt der Art. 750 ZG gegen Art. 24 der Verfassung, da er die Freiheit der Ehe effektiv antastet, indem er die Änderung des Familiennamens einer der Personen, die beabsichtigen, ein Ehepaar zu werden, zur Bedingung für die Abgabe der Heiratsan-
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meldung macht, und verletzt er die Würde des Einzelnen, selbst wenn der gesetzgeberische Gestaltungsspielraum des Parlaments berücksichtigt wird?“ „Art. 24 Abs. 1 der Verfassung sieht vor, dass die Eheschließung nur auf dem gegenseitigen Einvernehmen beider Geschlechter basieren und dass die Ehe durch gegenseitige Zusammenarbeit aufrechterhalten werden muss und zwar auf der Grundlage, dass die Ehegatten die gleichen Rechte besitzen. Dies wird verstanden als die klare Festlegung der Absicht, dass die Fragen, ob man heiratet, sowie wann und wen man heiratet, der freien und gleichberechtigten Willensentscheidung zwischen den Beteiligten überlassen werden sollten. …Die Bestimmung sieht vor, dass als eine der Auswirkungen der Ehe die Ehegatten den Familiennamen entweder des Mannes oder der Frau annehmen, sie sieht aber keine direkte Einschränkung des Aktes der Eheschließung vor. Selbst wenn es Menschen geben sollte, die sich dafür entscheiden, nicht zu heiraten, da der Inhalt des Rechtssystems für Ehe und Familie nicht ihren Vorstellungen entspricht, kann damit nicht sofort die Bewertung getroffen werden, dass das Gesetz, welches das Rechtssystem geschaffen hat, eine Einschränkung der Eheschließung darstellt, die nicht der Absicht des Art. 24 Abs. 1 der Verfassung entspricht. Der Inhalt eines bestimmten Rechtssystems, das die Eheschließung de facto einschränkt, kann als Sache betrachtet werden, die bei der Prüfung, ob bei der Festlegung des Inhalts des Rechtssystems für Ehe und Familie der nach Art. 24 der Verfassung zulässige gesetzgeberische Gestaltungsspielraum überschritten worden ist, berücksichtigt werden sollte.“ „Art. 24 Abs. 2 der Verfassung sieht vor, dass im Hinblick auf die Wahl des Ehepartners, Eigentumsrechte, Erbschaft, die Wahl des Wohnsitzes, Scheidung und andere die Ehe und die Familie betreffenden Fragen, Gesetze vom Standpunkt der Würde des Einzelnen und der materiellen Gleichheit der Geschlechter erlassen werden müssen“. „Der konkrete Inhalt von Angelegenheiten, die Ehe und Familie betreffen, werden in den damit zusammenhängenden Rechtssystemen festgelegt, und daher ist die Ausgestaltung dieser Systeme von großer Bedeutung. Während also Art. 24 Abs. 2 der Verfassung den Aufbau konkreter Systeme in erster Linie dem vernünftigen gesetzgeberischen Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers überlässt, setzt er auch eine Grenze für diesen Gestaltungsspielraum, indem er Anforderungen und Leitlinien aufzeigt, sodass die Gesetze dabei auch auf Art. 24 Abs. 1 der Verfassung basierend und vom Standpunkt der Würde des Einzelnen und der materiellen Gleichheit der Geschlechter erlassen werden.“ „Geht man von der Tatsache aus, dass Art. 24 der Verfassung auf klare Weise gesetzliche Anforderungen und Leitlinien für die gesetzgeberischen Prozesse, die im Wesentlichen unter Berücksichtigung verschiedener Faktoren durchgeführt werden müssen, gibt, dann besagen diese Anforderungen und Leitlinien nicht einfach nur, dass es ausreichend ist, wenn erlassene Gesetze Persönlichkeitsrechte, die von der Verfassung garantierte Rechte sind, nicht ungebührlich verletzen und inhaltlich die formale Gleichheit zwischen den Geschlechtern aufrechterhalten. Vielmehr er-
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fordern sie den Erlass von Gesetzen, die in vollem Umfang die Respektierung von persönlichen Interessen, die keine direkt im Rahmen der Verfassung garantierte Rechte darstellen, berücksichtigen und darauf abzielen, die materielle Gleichheit zwischen den Geschlechtern aufrechtzuerhalten und die Eheschließung in der Praxis nicht ungebührlich durch den Inhalt des Ehe-Systems einzuschränken. Auch in dieser Hinsicht stellen sie für den gesetzgeberischen Gestaltungsspielraum begrenzende Leitlinien dar.“ „Andererseits sollten Angelegenheiten, die Ehe und Familie betreffen, durch eine umfassende Beurteilung bestimmt werden, welche die allgemeinen Regeln für Ehepaare und die Eltern-Kind-Beziehung in der jeweiligen Zeitepoche berücksichtigt, basierend auf verschiedenen Faktoren, die Teil der gesellschaftlichen Verhältnisse sind, einschließlich nationaler Traditionen und Einstellungen. Insbesondere persönliche Interessen, die nicht direkt von der Verfassung garantierte Rechte darstellen, und die materielle Gleichheit können auf vielfältige Weise konzipiert werden, und der richtige Weg zu ihrer Verwirklichung muss unter anderem in Hinblick auf die jeweiligen gesellschaftlichen Zustände, die Lebensweise der Bürger und das Leitbild der Familie zu dieser Zeit entschieden werden.“ „In diesem Fall, … wenn man von der Tatsache ausgeht, dass die Entscheidung darüber welche konkrete Art von gesetzgeberischen Maßnahmen ergriffen werden müssen, um den Anforderungen und Leitlinien des Art. 24 der Verfassung gerecht zu werden, wie oben … ausgeführt, der weitreichenden Prüfung und dem Ermessen des Gesetzgebers überlassen sind, solange die Bestimmungen des Gesetzes über die Schaffung des Rechtssystems für Ehe und Familie nicht Art. 13 oder Art. 14 Abs. 1 der Verfassung verletzen, ist es angebracht, die Frage, ob das Gesetz auch als konform mit Art. 24 der Verfassung bestätigt werden kann, aus der Perspektive zu bestimmen, ob eine Prüfung des Geistes dieses Rechtssystems und die durch dessen Annahme erzeugten Auswirkungen die Beurteilung erzwingt, dass seine Bestimmungen in Hinblick auf die Anforderungen bezüglich der Würde des Einzelnen und der materiellen Gleichheit der Geschlechter unangemessen sind, oder ob es einen Fall darstellt, bei dem der gesetzgeberische Gestaltungsspielraum des Parlaments überschritten wird.“ „Aus der oben genannten Perspektive kann nun die Konformität der Bestimmung mit Art. 24 der Verfassung untersucht werden. … Wie oben erwähnt, hat der Familienname die Bedeutung des Namens einer Familie, und da die Familie auch unter dem aktuellen Zivilgesetz als natürliche und grundlegende kollektive Einheit der Gesellschaft behandelt wird, kann es als vernünftig erachtet werden, vorzuschreiben, dass eine Familie einen einzigen Namen hat. … Somit hat die Annahme des gleichen Familiennamens durch ein Ehepaar die Funktion, dass es sich der Öffentlichkeit gegenüber als Mitglieder einer einzigen Gruppe, der Familie, identifiziert. Insbesondere hat die Ehe die wichtige Wirkung, dass die Kinder eines Ehepaares zu ehelichen Kindern werden, die unter die gemeinsame elterliche Sorgepflicht des Ehepaars fallen, und es kann angenommen werden, dass es auch eine gewisse Bedeutung hat, das
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System aufrechtzuerhalten, bei dem die Kinder den gleichen Familiennamen wie die beiden Elternteile haben, um so zu zeigen, dass sie eheliche Kinder sind. Es ist auch möglich, den Standpunkt zu verstehen, der es für bedeutsam hält, dass Individuen dadurch, dass sie den gleichen Familiennamen tragen, das reale Gefühl haben, Mitglieder einer Gruppe, der Familie, zu sein. Darüber hinaus kann man sagen, dass unter dem System, bei dem die Ehegatten den gleichen Familiennamen tragen, vom Standpunkt des Kindes gesehen, die Kinder leichter einen Nutzen ziehen, der dadurch entsteht, dass die beiden Elternteile und sie selbst den gleichen Familiennamen tragen. … Darüber hinaus gibt es, wie oben dargelegt, an und für sich keine formale Ungleichheit zwischen Männern und Frauen in dem durch die Bestimmung vorgeschriebenen System, bei dem die Ehegatten den gleichen Familiennamen tragen, und die Frage, ob der Familienname des Mannes oder der Frau angenommen wird, ist der freien Entscheidung durch Diskussion zwischen den Personen überlassen, die beabsichtigen, ein Ehepaar zu werden.“ „Demgegenüber ist es so, dass unter dem System, bei dem die Ehegatten den gleichen Familiennamen tragen, eine der Personen, die beabsichtigen, ein Ehepaar zu werden, infolge der Eheschließung mit Sicherheit ihren Familiennamen ändert, und so kann es nicht geleugnet werden, dass die Person, die ihren Familiennamen aufgrund der Eheschließung ändert, dadurch … Nachteile erleiden könnte. Darüber hinaus ist es im Hinblick auf die Wahl des Familiennamens so, dass in Anbetracht der Tatsache, dass gegenwärtig die überwiegende Mehrheit der Ehegatten den Familiennamen des Ehemanns annimmt, davon ausgegangen werden kann, dass eine Situation entstanden ist, in der die oben genannten Nachteile meistens von Frauen, die Ehefrauen werden, erlitten werden. Weiterhin kann gefolgert werden, dass es Personen gibt, die sich entscheiden, nicht zu heiraten, um zu vermeiden, dass eine der Personen, die beabsichtigen, ein Ehepaar zu werden, diese Nachteile erleidet. … Allerdings geht das System, bei dem die Ehegatten den gleichen Familiennamen tragen, nicht so weit, es nicht zu erlauben, den vorherigen Familiennamen als Rufnamen zu verwenden. In den letzten Jahren ist es gesellschaftlich üblich geworden, den Familiennamen vor der Ehe als Rufnamen zu verwenden, und es besteht die Möglichkeit, dass durch die Verbreitung einer solchen Verwendung des Rufnamens die oben genannten Nachteile zu einem gewissen Grad abgemildert werden.“ „Wenn die oben genannten Punkte umfassend betrachtet werden, kann unter den oben beschriebenen Bedingungen das von der Bestimmung eingeführte System, bei dem die Ehegatten den gleichen Familiennamen führen, nicht als ein System angesehen werden, das im Hinblick auf die Anforderungen bezüglich der Würde des Einzelnen und der materiellen Gleichheit der Geschlechter unmittelbar als unvernünftig anzusehen ist, auch wenn es den Ehegatten nicht erlaubt, getrennte Familiennamen zu tragen. Folglich verstößt die Bestimmung nicht gegen Art. 24 der Verfassung.“ „Weiterhin wird in der Argumentation, die das System, bei dem die Ehegatten den gleichen Familiennamen tragen, der Punkt angeführt, dass Spielraum besteht, ein System für Familiennamen einzuführen, dessen Regelungen weniger eng gefasst
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sind (zum Beispiel das System der getrennten Ehenamenswahl, das es Ehepaaren die es wünschen, ermöglichen würde, getrennte Familiennamen zu tragen), und die oben … dargelegte Beurteilung kommt nicht zu dem Schluss, dass ein solches System nicht vernünftig wäre. Wie schon dargelegt, hängt die Annahme des Systems, bei dem die Ehegatten den gleichen Familiennamen tragen, zu keinem kleinen Teil davon ab, wie die Gesellschaft gegenüber der Verfassung des Ehe-Systems, zu dem z. B. das Rahmenwerk für eheliche Kinder gehört und dem Familiennamen eingestellt ist. Bei der Verfassung dieser Art von Systemen, einschließlich der Beurteilung des Zustands dieser Punkte, handelt es sich gerade um die Angelegenheiten, die im Parlament diskutiert und entschieden werden sollten.“ 4. Zu den restlichen Berufungsgründen „Es wird auch mit einem Verstoß gegen Art. 98 Abs. 2 der Verfassung und mit einer weiteren mangelhaften Begründung argumentiert. Dabei handelt es sich aber von der Substanz her um einfache Verletzungen von Gesetzen und Verordnungen, von denen keine unter die zulässigen Gründe fallen, die in Art. 312 Abs. 1 und Art. 312 Abs. 2 Zivilprozessgesetzes8 festgelegt werden.“
III. Betrachtungen 1. Angemessenheit der Schlussfolgerungen Die Schlussfolgerungen des Obersten Gerichtshofes, der die Schadensersatzforderungen nicht anerkannt hat, sind nach Meinung des Verfassers angemessen. Der Grund dafür ist, dass nicht davon gesprochen werden kann, dass Art. 750 ZG klar und deutlich gegen die Verfassung verstößt und es ist keine Rechtswidrigkeit dahingehend festzustellen, dass das Parlament ohne vernünftigen Grund über lange Zeit hinweg keine angemessene Gesetzesreform durchgeführt hat. Bisher ist es auch vor Gericht noch nie vorgekommen, dass die Verfassungsmäßigkeit des Art. 750 ZG zu einem Problem gemacht worden ist. Zwar ist z. B. schon früher über die Verfassungswidrigkeit der Bestimmung gestritten worden, die den Erbanteil von nichtehelichen Kindern auf die Hälfte des Erbanteils der ehelichen Kinder festlegt,9 aber ein solcher Hintergrund kann hier nicht festgestellt werden. Außerdem wurde 1996 in den „Hauptpunkten des Gesetzentwurfs für eine Teiländerung des Zivilgesetzes“ ein Bericht des Rates für Gesetzgebungsvorhaben (ho¯sei shingi kai) an den japanischen Justizminister, eine Änderung für die hier in Rede ste8
Minji so¯sho ho¯, Gesetz Nr. 109/1996, deutschsprachige Übersetzung bei Nakamura, Hideo/Huber, Barbara, Die japanische ZPO in deutscher Sprache, Köln u. a. 2006, S. 79 ff. 9 Siehe dazu Menkhaus, Heinrich: „Halbwertige Kinder?! – Zum Erbteil des nichtehelichen Kindes in Japan“, in: Meiji Law Journal 17 (2010) 21 ff.
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hende Regelung vorgeschlagen,10 nämlich das sogenannte „System der getrennten Ehenamenswahl“. Allerdings wurde in diesem Änderungsentwurf nur die Erläuterung gegeben, dass die Zeit gekommen sei, die Persönlichkeitsrechte bezüglich des Familiennamens von Individuen im Rechtssystem zu schützen, aber es fand keine Diskussion statt, die davon ausging, dass die Bestimmung des vorliegenden Falls verfassungswidrig sei. Wenn man annähme, dass Art. 750 ZG gegen Art. 24 der Verfassung verstoße und man das vom Gesichtspunkt der Anwendung von Art. 1 Abs. 1 Staatshaftungsgesetz aus betrachten würde, dann lässt sich nicht sagen, dass das Parlament ohne angemessenen Grund über lange Zeit hinweg eine gesetzgeberische Maßnahme wie z. B. eine Änderung oder Streichung der Bestimmung unterlassen habe, und zwar unabhängig davon, ob es klar und deutlich ist, dass der Artikel gegen Bestimmungen der Verfassung verstößt, indem er ohne vernünftigen Grund durch die Verfassung garantierte bzw. geschützte Rechte und Interessen einschränkt.11 2. Verfassungswidrigkeit des Art. 750 ZG Es ist aber problematisch, dass die Mehrheitsmeinung urteilt, dass Art. 750 ZG verfassungskonform sei. Zwar stimmt Art. 750 ZG formal gesehen mit dem Postulat der Gleichheit der Geschlechter überein. Was an dieser Stelle aber richtigerweise als Problem betrachtet wird, ist die Tatsache, dass über 96 % der Ehepaare den Familiennamen des Ehemanns wählen, was materiell einer Verletzung der Geschlechtergleichheit bzw. der Freiheit zur Eheschließung gleichkommen kann. In diesem Punkt hat die Erläuterung der Mehrheitsmeinung keine Überzeugungskraft. Zwar hat sich in den letzten Jahren die Praxis verbreitet, dass Frauen, die nach der Eheschließung ihren gesetzlichen Familiennamen geändert haben, den Familiennamen, den sie vor der Eheschließung getragen haben, als Rufnamen verwenden. Allerdings ist anzunehmen, dass dadurch die verschiedenen Nachteile und Unannehmlichkeiten nicht ausreichend abgebaut werden können. Dafür, dass 5 Richter zumindest zum gegenwärtigen Zeitpunkt geurteilt haben, dass Art. 750 ZG gegen Art. 24 der Verfassung verstößt, gibt es, so ist anzunehmen, auch einen entsprechenden Grund.12
10 Siehe dazu Menkhaus, Heinrich: Gleichberechtigung der Geschlechter im Familienrecht, in: Demes, Helmut/Menkhaus, Heinrich/Möhwald, Ulrich/Ölschleger, Hans-Dieter/Ortmanns-Suzuki, Annelie/Post-Kobayashi, Bettina (Hg.), Egalität und Individualität im gegenwärtigen Japan – Untersuchungen zu Wertemustern in Bezug auf Familie und Arbeitswelt, München 1994, S. 275, 290 ff. 11 In der Minderheitsmeinung von drei Richtern wird diese Begründung gegeben. 12 Vgl. Concluding Observations of the Committee on the Elimination of Discrimination against Women (7. 8. 2009), para. 18 and Concluding Observations on the Combined Seventh and Eighth Periodic Reports of Japan (7. 3. 2016), para. 12 (c), para. 13 (a).
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3. Hintergründe der Mehrheitsmeinung für die Vermeidung des Ausspruches der Verfassungswidrigkeit Selbstverständlich gibt es verschiedene und große Unterschiede zwischen dem japanischen und deutschen Rechtssystem. Im Vergleich mit dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 5. 3. 199113 ist dieses Urteil trotzdem zu vorsichtig. Was aber sind die Hintergründe dafür, dass die Mehrheitsmeinung vermieden hat, den Art. 750 ZG für verfassungswidrig zu halten? Zum einen wird es wohl so sein, dass Gerichte zwar Regelungen (oder Teile davon) von Gesetzen, die übermäßige Beschränkungen auferlegen, relativ einfach für verfassungswidrig und ungültig erklären können, es für sie aber schwierig ist, die ideale Gestalt eines Gesetzes unmittelbar aus der Verfassung abzuleiten und konkret zu beurteilen.14 Im Urteil wird die folgende, die Mehrheitsmeinung ergänzende Meinung aufgezeigt: „Es wird festgestellt, dass es unvernünftig sei, zusätzlich zu Ehepaaren, die den gleichen Familiennamen tragen, Ehepaare, die unterschiedliche Familiennamen haben, keine gesetzliche Existenz anzuerkennen, weshalb darauf hingewiesen wird, dass es ungerecht sei, dass im Gesetzesprogramm keine wünschenswerten Wahlmöglichkeiten bereitgestellt werden, wobei die Mangelhaftigkeit des gegenwärtigen Systems betont wird. Es besteht aber die wesentliche Schwierigkeit, ob ein Gericht zu einem solchen Argument während der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit eine positive Bewertung abgeben kann … Wenn man von einer umfassenden Prüfung ausgeht, die viele verschiedene Bedingungen einbezieht, abgesehen davon, wenn es eine Situation ist, bei der die Bedingungen äußerst klar genannt werden können, dann ist es in einer Situation, in der das nicht der Fall ist, schwierig, im Rahmen eines Gerichtsprozesses eine Unvernünftigkeit betreffend der Nichtbereitstellung von Wahlmöglichkeiten festzustellen. Vielmehr scheint es eine dem Charakter der Sache angemessenere Lösung zu sein, darüber nach einer breit angelegten Untersuchung angemessener Mechanismen zu entscheiden, indem man es der nationalen Diskussion, also demokratischen Prozessen überlässt. Hier ist auch keine Situation feststellbar, die Erwartungen an eine faire Prüfung durch demokratische Prozesse behindert und die das Wesen der Wahlmöglichkeiten und der Bräuche und Sitten einer spezifischen Minderheit betrifft.“ Auch der Ausschuss zur Eliminierung der Diskriminierung von Frauen hat darauf hingewiesen, dass eine gesetzgeberische Lösung notwendig ist.
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BVerfGE 84, 9. Im Gegensatz dazu hat der Oberste Gerichthof aber beim Art. 733 Abs. 1 ZG, der nur für Frauen festlegt, dass sie im Anschluss an eine Scheidung eine neue Eheschließung erst nach sechs Monaten durchführen dürfen, entschieden, dass der Teil der Frist, der über 100 Tage hinausgeht, verfassungswidrig und nichtig ist. 14
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Ein weiterer Grund bestand vermutlich darin, dass der Oberste Gerichtshof erwartete, dass es nach der Aussprache der Verfassungswidrigkeit des Art. 750 ZG zu einem riesigen Durcheinander kommen würde, was er wohl verhindern wollte. Falls Art. 750 ZG verfassungswidrig und nichtig wäre, dann müssten wohl auch Heiratsanmeldungen, auf denen der Familienname nach der Eheschließung nicht eingetragen ist, angenommen werden. Da das japanische Familienregister (ko¯seki) allerdings auf Ehepaaren mit gleichen Familiennamen als Grundeinheiten aufgebaut ist, wäre völlig unklar, wie damit umgegangen werden sollte, falls solche Heiratsanmeldungen angenommen werden müssten, und die Gefahr wäre groß, dass die Arbeitsabläufe der öffentlichen Verwaltung in Unordnung geraten würden. Weiterhin hat das Gericht wohl gezögert, Art. 750 ZG für verfassungswidrig und nichtig zu beurteilen, wenn man davon ausgehen kann, dass die Nachteile einer Minderheit durch die gesellschaftlich akzeptierte Verwendung des Rufnamens zu einem gewissen Grade vermieden werden können. Folglich beurteilt der Oberste Gerichtshof Art. 750 ZG laut Mehrheitsmeinung für verfassungskonform, das Parlament aber muss nun wohl eine Gesetzesreform durchführen, welche die materielle Gleichheit der Geschlechter und die Freiheit zur Eheschließung berücksichtigt.
Paradigmenwechsel im Recht der familienrechtlichen Personenverbindungen: Von der Institution zur Funktion? Von Cordula Stumpf
I. Einführung Unser hochgeschätzter Kollege Koresuke Yamauchi, dem diese Festschrift gewidmet ist, ist – immer ausgehend vom Privatrecht – ein Wissenschaftler von unter heutigen beruflichen Bedingungen ganz erstaunlicher fachlicher Vielseitigkeit. Nur beispielhaft enthält etwa der schöne Sammelband über „Japanisches Recht im Vergleich“1 Arbeiten des Jubilars zum Internationalen Privatrecht, zum Familienrecht, zum Staatsangehörigkeits- und Personenstandsrecht, zum Deliktsrecht, zum Gesellschafts- und Konzernrecht, zum Bank- und Finanzrecht, zum Öffentlichen Wirtschaftsrecht und zur Rechtsvergleichung. Die Vielfalt des fachlichen Interesses verbindet uns, weshalb auch der Band, der aus meiner Arbeit an der Chu¯o¯-Universität im Sommersemester 2007 hervorgegangen ist, Beiträge zum europäischen Erbrecht, zu Marktfreiheit und Regulierung im europäischen Gemeinschaftsrecht, zu Grundlagen des Privatrechts und zum Energierecht versammelt.2 Auch das Familienrecht hat den Jubilar schon wiederholt interessiert.3 Der internationale Dialog ist ihm dabei immer ein Herzensanliegen, weshalb das Internationale Privatrecht und die Rechtsvergleichung füglich als wesentliche Schwerpunkte seines Schaffens bezeichnet werden 1
Yamauchi, Koresuke: Japanisches Recht im Vergleich, Veröffentlichungen des Japanischen Instituts für Rechtsvergleichung, Band 83, Chu¯o¯ Universitätsverlag, Tokyo 2012. 2 Stumpf, Cordula (übersetzt ins Japanische und herausgegeben von Koresuke Yamauchi und Midori Narazaki): Henkakuki doitsu shiho¯ no kiban teki wakugumi – Grundbedingungen des deutschen Privatrechts im Wandel, The Institute of Comparative Law in Japan, Band 56, Chu¯o¯ Universitätsverlag, Tokyo 2008. Dieser Beitrag ist eine Weiterentwicklung eines von mehreren Abschnitten aus Stumpf, Cordula: Privatrecht Quo Vadis? Paradigmenwechsel im Zivilrecht, oder: Wie bürgerlich ist heute das Bürgerliche Recht? aus dem genannten Band. 3 Vgl. z. B. Yamauchi, Koresuke: Gleichberechtigung im japanischen Familienrecht, in: Verschraegen, Bea (Hg.), Gleichheit im Familienrecht unter Berücksichtigung des Einflusses von Verfassungen und internationalen Übereinkommen, Bielefeld 1997 S. 333; ders.: Vorgeschichte des Internationalen Eherechts in Japan, in: Jayme, Erik/Schwab, Dieter/Gottwald, Peter (Hg.), Festschrift für Dieter Henrich zum 70. Geburtstag, Bielefeld 2000 S. 65; ders.: Die Rezeption ausländischen Rechts in Japan – Beispiele aus dem Wirtschafts- und dem Familienrecht, in: VRÜ 36 (2003) 492.
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können.4 Deshalb soll dieser Beitrag einem exemplarisch familienrechtlichen Grundlagenthema von auch internationaler Relevanz gewidmet sein, mit dem ich dem Jubilar herzlich zum 70. Geburtstag gratuliere, verbunden mit den besten Wünschen für viele weitere fruchtbare und, zusammen mit seiner liebenswürdigen Gattin Harue, frohe Lebensjahre.
II. Begriffe Paradigmenwechsel im Recht der familienrechtlichen Personenverbindungen: Von der Institution zur Funktion? Um sich diesem Thema zu nähern, sollen zunächst die beiden Begriffe der Institution einerseits, der Funktion andererseits für die Zwecke dieses Beitrags etwas beleuchtet werden. 1. Institution Im Recht wird der Begriff der Institution vielfach vorausgesetzt. Es gibt jedoch keine Legaldefinition, so dass es Sinn macht, sich zunächst über seinen Bedeutungsgehalt zu verständigen. Rein sprachlich leitet der Begriff der Institution sich ab vom lateinischen „institutio“, meint also „Einrichtung“. Aus dem römischen Recht kennt man die „institutiones“ des Gaius, ein juristisches Lehrbuch aus dem 2. Jahrhundert n. Chr., das in drei wiederum stark untergliederten Abschnitten „personae“ (Personen), „res“ (Sachen) und „actiones“ (Klagearten) behandelt. Das Personenrecht umfaßt auch das Familienrecht, das Sachenrecht in diesem Sinne auch Schuldrecht und Erbrecht. Diesem Institutionensystem folgen bis heute einige moderne Privatrechtskodifikationen, darunter z. B. der französische Code Civil und das österreichische ABGB. Die Institutionen des Gaius waren Vorbild für die Institutionen des Justinian aus dem 6. Jahrhundert n. Chr., ebenfalls ein systematisch aufgebautes juristisches Lehrbuch, das zusammen mit Pandekten, Codex und Novellen das Corpus iuris civile bildete und damit an der höheren Autorität des Gesetzes partizipierte. Das deutsche BGB folgt in seinem Aufbau den Pandekten, ebenso – nach ursprünglichen, zunächst an das Institutionensystem angelehnten Entwürfen – auch das japanische Zivilgesetz (ZG). Diese Institutionen beschreiben – wie auch die Pandekten – rechtliche Einrichtungen wie Eigentum, Erbrecht, Ehe usw., die gemeinsam haben, dass sie – oft unter einem jeweils eigenständigen Begriff – einen jeweils spezifischen Lebenssachverhalt durch einen Komplex spezifischer Normen regeln. In diesem allgemeineren Sinne
4 Wegweisend z. B. Yamauchi, Koresuke: Das globale Internationale Privatrecht im 21. Jahrhundert: Wendung des klassischen Paradigmas des IPRs zur Globalisierung, in: Yamauchi, Koresuke: Japanisches Recht im Vergleich (Fn. 1), S. 3 ff.
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wird der Begriff der Institution bis in die Gegenwart weitergeführt.5 Ein Beispiel bietet die durch das Bundesverfassungsgericht entwickelte Institutions- oder Einrichtungsgarantie des Grundgesetzes.6 Derart institutionelles Rechtsdenken wird jedoch auch als zu starr7 kritisiert, da mit den allgemeinen Methoden rechtlich dieselben Ergebnisse zu erzielen seien.8 Darüber hinaus erscheint der Begriff der Institution auch in benachbarten wissenschaftlichen Disziplinen. In der Soziologie versteht man unter Institution z. B. „jegliche Form bewußt gestalteter oder ungeplant entstandener stabiler, dauerhafter Muster menschlicher Beziehungen, die in einer Gesellschaft erzwungen oder durch die allseits als legitim geltenden Ordnungsvorstellungen getragen und tatsächlich gelebt werden.9 Institutionen werden verstanden als Sedimentierungen dynamischer sozialer Prozesse. Institutionalisierung findet statt, sobald habitualisierte Handlungen durch Typen von Handelnden reziprok typisiert werden. Jede Typisierung, die auf diese Weise vorgenommen wird, ist eine Institution.10 Die philosophische Anthropologie misst den Institutionen eine geradezu fundamentale Bedeutung für das menschliche Handeln bei. Sie versteht Institutionen als Instinktersatz und Kompensation für die instinktreduzierte Ausstattung des modernen Menschen; durch sie werden die quasiautomatischen Gewohnheiten des Denkens, Fühlens, Wertens und Handelns habitualisiert und damit stabilisiert.11 5
Vgl. Heusler, Andreas: Institutionen des Deutschen Privatrechts, 2 Bände, Leipzig 1885, 1886; Baur, Fritz/Esser, Josef/Kübler, Friedrich: Funktionswandel der Privatrechtsinstitutionen, Festschrift für Ludwig Raiser zum 70. Geburtstag, Tübingen 1974. Zum Institutionenschutz durch Individualschutz im Wirtschaftsrecht Poelzig, Dörte: Normdurchsetzung durch Privatrecht, Tübingen 2012, 250. 6 Ständige Rechtsprechung. vgl. in jüngerer Zeit z. B. Urteil vom 1. 12. 2009 zur Ladenöffnung an Adventssonntagen, 1 BvR 2857/07. 7 Vgl. schon für das 19. Jahrhundert Klippel, Diethelm: Juristischer Begriffshimmel und funktionale Rechtswelt. Rudolf von Ihering als Wegbereiter der modernen Rechtswissenschaft, in: Diethelm Klippel/Hans-Jürgen Becker/Reinhard Zimmermann (Hg.), Colloquia für Dieter Schwab zum 65. Geburtstag, 2000, 116. 8 Vgl. z. B. Röhl, Klaus Friedrich/Röhl, Hans Christian: Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl., Köln/München 2008, § 50 III mit weiteren Nachweisen. 9 Hillmann, Karl-Heinz: Wörterbuch der Soziologie, 5. Aufl., Stuttgart 2007, S. 381. 10 Berger, Peter L./Luckmann, Thomas: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt a.M. 1966/2007, S. 58. 11 Gehlen, Arnold: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, 14. Aufl., Frankfurt a.M. 2003, S. 8, betrachtet Institutionen deshalb als Wesensmerkmale des Menschen und versteht Soziologie als eine die Institutionen untersuchende Wissenschaft demgemäß anthropologisch, als eine Wissenschaft vom Menschen. Demgegenüber ist nach Theodor Adorno, der in der hier interessierenden Ausgangsdiagnose übereinstimmt, den Menschen ihre Unbestimmtheit zu belassen, da die Institutionen eine Übergewalt über die Menschen angenommen und sich derart verselbständigt hätten, dass von der in der menschlichen Unbestimmtheit liegenden Möglichkeit zur Autonomie auch in aufgeklärten Gesellschaften nicht mehr gesprochen werden könne; demgemäß ist die Soziologie für Adorno eine Wissenschaft von den gesellschaftlichen Verhältnissen. Vgl. Grenz, Friedemann: Adornos Philosophie in Grundbegriffen, Frankfurt a.M. 1974, 224 (dort Abdruck des von Sender Freies Berlin (SFB)
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In den Wirtschaftswissenschaften wird der Begriff der Institution insbesondere zur Erklärung der Bildung von Unternehmen verwendet. Institutionen sind – im Gegensatz zu Organisationen, die nur für ihre Mitglieder Geltung beanspruchen – in diesem Zusammenhang Regelkomplexe, die für ganze Gesellschaften oder deren Teilsysteme gelten. Innerhalb der Volkswirtschaftslehre wird insbesondere von der Neuen Institutionenökonomik Institution konkreter verstanden als ein der Reduzierung von Unsicherheiten dienendes Regelwerk. Institutionelle Regeln beschränken einerseits die Möglichkeiten menschlichen Handelns (verbieten z. B. gewalttätige Formen des Gütertransfers wie Raub, Diebstahl, Erpressung), ermöglichen andererseits zivilisierte Verhaltensweisen (insbesondere Kauf- und Tauschgeschäfte) und gestalten damit die Anreize im Austausch von Gütern. In diesem Sinne ist die Institution ein selbstorganisierendes System miteinander verknüpfter formeller und informeller Regeln, um individuelles soziales Verhalten zu steuern.12 Institutionen bringen Ordnung in alltägliche Handlungen und vermindern die Unsicherheit von Individuen darüber, wie andere Individuen sich in bestimmten Situationen verhalten, reduzieren also Prognose- und Adaptionskosten. Diesen positiven Effekten stehen die für viele Institutionen typischen Exklusionseffekte gegenüber, was Gleichheitsprobleme aufwerfen kann; diesem unerwünschten Effekt entgegensteuernde Inklusion durch „affirmative action“ führt jedoch typischerweise zu Effizienzverlusten.13 Generell gilt: Je enger Institutionen ausgestaltet sind, desto mehr beschneiden sie den Freiraum der betroffenen Individuen, beschränken den Zugang Außenstehender und behindern soziale Entwicklung. Auf der anderen Seite bergen Prozesse der Deinstitutionalisierung, wie in Phasen gesellschaftlichen Wandels, Risiken des Rückfalls in riskantes, rücksichtsloses und nur auf Durchsetzung der Eigenwünsche gerichtetes Verhalten. Der angemessene Regelungsgrad von Institutionen und damit das Institutionsvertrauen ist daher ein Gradmesser gesellschaftlicher Stabilität.14 Disziplinenübergreifend lässt die Institution sich fassen als eine Kategorie zur Beschreibung und Ordnung menschlichen Verhaltens. Es ist daher wohl kein Zufall, dass sie gerade in der Rechtswissenschaft über eine zum Teil lange, bis in die Antike zurückreichende Tradition verfügt.15 am 3. 2. 1965 und vom Norddeutschen Rundfunk (NDR) am 21. 3. 1965 ausgestrahlten Streitgesprächs zwischen Adorno und Gehlen, „Ist die Soziologie eine Wissenschaft vom Menschen?“). 12 Vgl. Voigt, Stefan: Institutionenökonomik, 2. Aufl. München 2009. 13 North, Douglass C.: Institutions. Institutional Change and Economic Performance, Cambridge 1990, S. 4. Vgl. auch Furubotn, Eirik/Richter, Rudolf: Institutions and Economic Theory, 2. Aufl., Ann Arbor 2005; Erlei, Matthias/Leschke, Martin/Sauerland, Dirk: Neue Institutionenökonomik, 2. Aufl., Stuttgart 2007; Williamson, Oliver: The Economic Instituions of Capitalism, New York 1985. 14 Vgl. Esser, Hartmut: Soziologie. Spezielle Grundlagen. Band. 5, Institutionen, Frankfurt a.M. 2000. 15 Auch in Japan gibt es zum Teil eine sehr weit zurückreichende institutionelle Tradition. Man denke z. B. an die traditionelle Rolle der Hausgemeinschaft (ie) oder der Loyalitätspflicht (giri); genauer Schwarz, Axel: Vom Wesen des Lebens und der Normen, sowie Murakami,
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2. Funktion Im Gegensatz zur Institution ist die Funktion von vornherein kein eigentlicher Rechtsbegriff. Weder normativ noch judikativ taucht er als solcher zunächst explizit auf. Sprachlich leitet sich der Begriff ursprünglich ab vom lateinischen „functio“ für „Tätigkeit“. Der Bedeutungskern meint eine die vorgefundene Situation aktiv gestaltende, zielgerichtet verändernde, Handlung.16 In der Alltagssprache wird der Begriff der Funktion heute primär im Sinne von „Aufgabe“, „Bestimmung“ oder „Zweck“ verstanden.17 Eine zentrale Bedeutung hat der Begriff der Funktion in der Mathematik. Zurückgehend auf Arbeiten von Descartes und Fermat wurde der Begriff erstmals von Leibniz geprägt und in der Korrespondenz mit Bernoulli weiterentwickelt, insbesondere von der Geometrie auch auf die Algebra übertragen. Euler führte die Schreibweise f(x) ein. Dirichlet erweiterte Funktionen auf Ideen statt Rechnungen, Riemann führte dies zuerst aus für die Stetigkeit.18 Heute versteht man, unter dem Einfluss der Mengenlehre, in der Mathematik unter einer Funktion mehrheitlich eine Abbildung einer Relation zwischen zwei Mengen, die jedem Element der einen Menge, dem Funktionsargument, genau ein Element der anderen Menge, den Funktionswert zuordnet.19 In der Analysis wird die Funktion auch als Operator bezeichnet, in der Algebra auch als Operation oder Verknüpfung. Verwendet werden Funktionen vor allem, um die Bildung von Strukturen darzustellen, was dann auch in zahlreichen weiteren Naturwissenschaften wie der Physik, der Informationstheorie oder der Biologie, sowie z. B. auch in der Musik umgesetzt wird. Ebenfalls auf dem mathematischen Konzept der Funktion aufbauend besteht in der allgemeinen Systemtheorie die Funktion von Systemen in der Überführung der Eingangsgrößen unter Berücksichtigung von Zustandsgrößen in die umgewandelten Ausgangsgrößen. Auch gemäß der soziologischen Systemtheorie führen, ohne dass dort jedoch bisher ersichtlich der Zusammenhang zur Mathematik wesentlich thematisiert würde, in ganz paralleler Weise sich aneinander anschließende Operationen zur Entstehung von Systemen.20 Jun’ichi: Argumentation und Abwägung, beide in: Menkhaus, Heinrich (Hg.), Das Japanische im Japanischen Recht, München 1994, S. 63 bzw. S. 89 ff. 16 „Functio“ ist die Substantivierung des Verbs „fungi“, welches in klassischer Zeit „verrichten“, „vollziehen“ oder „verwalten“ bedeutet. Die ursprüngliche Bedeutung ist „sich einer Sache entledigen, sich von etwas freimachen“, ganz ursprünglich „auskehren“; zugrunde liegt „fundus“, es bedeutet, wie allgemeiner die indoeuropäische Wurzel „bhundhos“, „Boden“. 17 Vgl. nur www.duden.de/rechtschreibung/Funktion, besucht am 17. 7. 2016. 18 Vgl. Youschkevitch, Adolf P.: The Concept of Function up to the Middle of the 19th Century, in: Archive of the History of Exact Sciences 16 (1976) 52. 19 Z. B. Oberschelp, Arnold: Allgemeine Mengenlehre, Mannheim/Leipzig/Wien/Zürich 1994. 20 Luhmann, Niklas: Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1992, S. 271.
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Der Begriff der Funktion spielt schließlich eine Rolle in verschiedenen Organisationstheorien, z. B. in der Betriebswirtschaftslehre sowie der Verwaltungslehre, wird dort jedoch, soweit ersichtlich, bisher meist eher deskriptiv in Anlehnung an den alltagssprachlichen Sinn gebraucht als theoretisch durchgeformt. Kennzeichnend für den theoretisch reflektierten Begriff der Funktion ist in verschiedenen Anwendungszusammenhängen, dass ein ursprünglicher Wert durch die Operation in genau definierter Weise in einen Endwert überführt wird; sie ist, im Gegensatz zur Institution, eine dynamische und zielgerichtete Kategorie. Insgesamt hat der Begriff der Funktion also einen starken mathematisch-technischen Charakter. Er hat erst in der Moderne eigentlich Karriere gemacht.21
III. Beobachtungen Im Rahmen der hier gesetzten Fragestellung sollen im Folgenden exemplarisch22 Beobachtungen zur Entwicklung des Familienrechts in Deutschland diskutiert werden. Die Rechtsentwicklung des letzten halben Jahrhunderts begründet nämlich einen weitgehenden familienrechtlichen Paradigmenwechsel von der Ehe zur Familie. Dabei war die Ehe traditionell geradezu als Inbegriff einer Rechtsinstitution gefasst, nämlich als im Wege der Sedimentierung dynamischer sozialer Prozesse entstandenes, habitualisierte Handlungen des Sexual- und Fortpflanzungsinstinkts typisierendes, der Reduzierung von Unsicherheiten dienendes, rechtlich geordnetes stabiles, dauerhaftes Regelwerk menschlicher Beziehungen, das einerseits die Möglichkeiten menschlichen Handelns beschränkt (z. B. gewalttätige Formen des Sexualkontakts sowie Promiskuität verbietet), andererseits zivilisierte Verhaltensweisen ermöglicht (z. B. die Gefahr der Ansteckung mit sexuell übertragbaren Erkrankungen verringert, die nachteiligen Folgen von Schwangerschaft und Kindererziehung für die Frau wirtschaftlich kompensiert, ursprünglich auch arbeitsteiliges Wirtschaften regelt) und das in der Gesellschaft durch die allseits als legitim geltenden Ordnungsvorstellungen getragen und tatsächlich gelebt wird, aber auch statisch,
21 Demandt, Alexander: Zeit – Eine Kulturgeschichte, Berlin 2016, S. 154 (dort auch mit weiteren Nachweisen) verortet den Beginn funktionalen Denkens in Europa mit der Ablösung von Sonnen-, Wasser- und Sanduhr durch die Erfindung der Räderuhr zu Beginn der Neuzeit. Präzision und Perfektion des neuen Uhrwerks wälzten nicht nur das gesellschaftliche Leben fundamental um, die funktionale Mechanik der Uhr diente auch früh als Metapher für den Kosmos, den Organismus und auch für den Staat. 22 Ähnliche Entwicklungen, in unterschiedlicher Intensität, von der Institution zur Funktion lassen sich auch in anderen Rechtsgebieten konstatieren. Für das Handels- und Gesellschaftsrecht, das Kartellrecht, das Energierecht sowie das Recht der europäischen Integration ist dies bereits jeweils skizziert in Stumpf, Cordula: Privatrecht Quo Vadis? Paradigmenwechsel im Zivilrecht, oder: Wie bürgerlich ist heute das Bürgerliche Recht? (Fn. 2). Das Familienrecht wird hier gewählt, weil der Wechsel hier besonders tiefgreifend verlaufen ist und daher besonders gut anschaulich gemacht werden kann.
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einengend für die Beteiligten und exkludierend für Außenstehende wirkt.23 Diese Rechtsfolgen der Ehe wurden im Verlauf des 20. Jahrhunderts immer mehr zurückgedrängt zugunsten eines modernen Familienkonzepts. Die Familie ihrerseits wird im heutigen Recht in diesem Sinne kaum noch institutionell verstanden, schon da aus dem Familienbegriff selbst kaum Regelwirkungen folgen. Sie ist vielmehr in hohem Maße aktiv gestaltend, zielgerichtet verändernd, also eher funktional24 im Hinblick vor allem auf die Rechtsbeziehungen des Kindes ausgestaltet. Auch das japanische Familienrecht hat sich im Verlauf des 20. Jahrhunderts, in eigener Weise, sehr grundlegend verändert, was zunächst zum Teil auf starke europäische, später US-amerikanische Einflüsse,25 zum Teil aber auch auf Veränderungen der japanischen Gesellschaft zurückzuführen ist. Insbesondere wurden auch in Japan traditionelle Institutionen durch flexiblere Regelungsmodelle ersetzt,26 ohne dass hier jedoch einer Analyse der zugrunde liegenden Strömungen in Japan vorgegriffen werden soll. Diese Untersuchung möchte vielmehr mit einer Darstellung der deutschen Entwicklung einen Beitrag auch zu weiterer fruchtbarer deutsch-japanischer Rechtsvergleichung leisten. 1. Die Anfänge Ausgangspunkt des deutschen Familienrechts ist zunächst ein auf der Institution der Ehe gründendes Konzept in der Entstehungszeit des Bürgerlichen Gesetzbuches. Traditionell galt im ausgehenden 19. Jahrhundert die Familiengründung als der eigentliche Ehezweck, umgekehrt erschien die Familie nur in der wirtschaftlichen und sozialen Sicherheit der Ehe funktionsfähig. Die auch begriffliche Verknüpfung von Ehe und Familie wurde auch materiell- und verfahrensrechtlich lange aufrechterhalten. Die Stabilität der einmal geschlossenen Ehe galt als ein wesentlicher Regelungszweck. Dem diente etwa das Verschuldensprinzip im Scheidungsrecht. Im Abstammungsrecht wurde zwischen ehelichen und nichtehelichen Kindern unter23
s. o. s. o. 25 Vgl. Yamauchi, Koresuke: Die Rezeption ausländischen Rechts in Japan – Beispiele aus dem Wirtschafts- und dem Familienrecht, in: VRÜ 36 (2003) 492. 26 Vgl. in deutscher Sprache z. B. Roll, Hans-Jürgen: Die Entwicklung des japanischen Familiensystems seit 1945, Diss. Marburg 1953; Treichler, Thomas: Zum japanischen Familienrecht, Diss. Zürich 1971; Nakamura, Hideo:Familienrecht und Familiengerichtsbarkeit in Japan, in: Waseda Bulletin of Comparative Law 4 (1984) 1; Suzuki, Rokuya: Das japanische Familienrecht in Gegenwart und Zukunft, in: FamRZ 1986, 122; Nenninger, Bernd: Grundzüge des japanischen Familien- und Erbrechts, in: MittRhNotK 1995, 81; Yamauchi, Koresuke: Gleichberechtigung im japanischen Familienrecht, in: Verschraegen, Bea (Fn. 3) 333; Westhoff, Jörn: Das Echo des ie. Nachwirkungen des Haussystems im modernen japanischen Familienrecht, München 1999; Nozawa, Norimasa: Scheidungsrecht und gesellschaftliche Realität in Japan, in: Gottwald, Peter (Hg.), Recht und Gesellschaft in Deutschland und Japan, Köln/München 2009, S. 95; Kimura, Atsuko/Koziol, Gabriele: Der Wandel der Familie – neue Überlegungen zum Modell der Familie, in: ZJapanR 34 (2012) 116. 24
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schieden, um der ehelichen Familie ein von Interessenkonflikten ungestörtes Gelingen zu ermöglichen; auch später noch diente etwa die Verweisung des nichtehelichen Kindes auf einen rein schuldrechtlichen Erbersatzanspruch demselben Zweck, eine Miterbengemeinschaft mit strukturell gegensätzlichen Interessen zu vermeiden. Auch die Einheitlichkeit des Familiennamens sollte die soziale Einheit der Familie im Alltag dokumentieren, wobei auch hier an die Elternehe angeknüpft wurde. Die Gesamtheit dieser im Einzelnen unterschiedlichen Regelungen folgte also gleichen Wertungen, die sich unter dem Stichwort „Schutz der Institution Ehe“ – im Interesse der Stabilität der Familie – zusammenfassen lassen. 2. Die Nachkriegszeit Das hat sich mittlerweile grundlegend geändert. Vor dem Hintergrund einer Phase einerseits ideologisch überhöhter Privilegierung, andererseits Zurückdrängung des Rechtsinstituts „Ehe“ im Nationalsozialismus etwa durch das Ehegesetz von 1938 begannen heute noch wirksame Reformbestrebungen in der Anfangszeit der Bundesrepublik Deutschland.27 a) Das Gleichberechtigungsgesetz von 1957 Schon das Gleichberechtigungsgesetz von 195728 brachte, im Interesse des Abbaus vormals massiver rechtlicher Benachteiligung der Ehefrau, weitgehende Veränderungen. Bestehen blieb zwar vorerst noch die Unterhaltspflicht des Familienvaters für Ehefrau und eheliche Kinder.29 Das bis dahin selbstverständliche Letztentscheidungsrecht des Ehemanns in Eheangelegenheiten wurde jedoch ersatzlos gestrichen. Die Zugewinngemeinschaft wurde gesetzlicher Güterstand. Die Ehefrau darf seitdem ihr in die Ehe eingebrachtes Vermögen selbst verwalten. Das Recht des Ehemannes, ein Dienstverhältnis der Ehefrau fristlos zu kündigen, wurde aufgehoben. Die Ehefrau erhielt das Recht, neben dem gemeinsamen Ehenamen (damals noch des Mannes) ihren Mädchennamen als nachgestellten Namenszusatz zu führen. Namentlich auf dem Gebiet der elterlichen Sorge behielt der Vater als Inhaber der Hauptgewalt jedoch noch die ganz dominierende Stellung. Die Mutter war neben dem Vater 27 Die zeitweilig gesonderte Entwicklung des sozialistischen Familienrechts der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) bleibt hier außer Betracht; mit der Wiedervereinigung wurde das Bürgerliche Gesetzbuch – in seiner bis dahin erheblich reformierten Form – gesamtdeutsch übernommen. Vgl. dazu z. B. Ramm, Thilo: Familienrecht – Verfassung, Geschichte, Reform, Tübingen 1996. Ein synoptischer inhaltlicher Vergleich des heutigen gesamtdeutschen Familienrechts mit der westdeutschen Ausgangssituation und dem Stand 1989 einerseits, dem Familienrecht der DDR zum Zeitpunkt ihrer Gründung bis zur deutschen Einheit andererseits liegt, soweit ersichtlich, bisher nicht vor. 28 Gesetz über die Gleichberechtigung von Mann und Frau auf dem Gebiete des bürgerlichen Rechts, BGBl. 1957 I, S. 609. 29 Vgl. Brühl, Günter: Der Familienunterhalt nach dem Gleichberechtigungsgesetz, in: FamRZ 1957, 277.
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auf die tatsächliche Personensorge beschränkt. Sie übte nur dann die Hauptgewalt aus, wenn die elterliche Gewalt des Vaters ruhte oder er an ihrer Ausübung tatsächlich verhindert war.30 Das Gleichberechtigungsgesetz sorgte also gleich beim ersten großen Reformschritt für eine weitreichende Angleichung der Rechtsstellung der Ehefrau an die des Ehemanns, hielt sich bei der Zurückdrängung der obsolet gewordenen patriarchalischen Binnenstruktur jedoch noch wesentlich innerhalb der Institution „Ehe“; deren rechtliche Reichweite wurde nur rechtlich insoweit beschränkt, als arbeitsrechtliche Verhältnisse der Ehefrau nicht mehr vom Ehemann aufgrund des ehelichen Status verändert werden konnten; die Außenwirkung der Ehe wurde insoweit tangiert, als der nach wie vor gemeinsame Ehename nunmehr (einseitig) erweitert werden konnte. b) Das Nichtehelichengesetz von 1969 Das durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 29. 1. 196931 veranlasste Nichtehelichengesetz von 196932 beseitigte die vormalige Regelung des Bürgerlichen Gesetzbuches, wonach ein Vater und sein nicht eheliches Kind rechtlich nicht verwandt waren, und führte unterhaltsrechtlich und für das im Erbfall des Vaters vorher diesem gegenüber rechtlose nichteheliche Kind unterhaltsrechtliche Regelungen sowie einen schuldrechtlichen Erbsatzanspruch ein, kombiniert mit der Möglichkeit eines lebzeitigen Erbausgleichs. Damit wurde die Stellung des nichtehelichen Kindes, das vorher, zum Schutz der Stabilität der ehelichen Familie, eine rechtliche Beziehung nur zu seiner Mutter hatte, gegenüber seinem leiblichen Vater erheblich gestärkt. Typische wirtschaftliche Notlagen nichtehelicher Kinder wurden damit erheblich gebessert. Gleichzeitig müssen seitdem Ehefrau und eheliche Kinder mit einer dauernden prinzipiellen Unsicherheit über den Kreis der unterhalts- und erbrechtlich zu berücksichtigenden, tendenziell nicht mehr unbedingt an einer gemeinsamen Familienlösung interessierten Abkömmlingen des Familienvaters leben, während das nichteheliche Kind ab Eintrag des Vaters in seine Geburtsurkunde Beurteilungssicherheit genießt. Strukturell wurde mit dieser Reform die Institution „Ehe“ lebzeitig und für die Nachfolge von Todes wegen rechtlich nur noch eingeschränkt konstitutiv, zugunsten einer Besserstellung der nichtehelichen Kinder im Wege einer eher faktisch-funktionalen Anknüpfung geändert.
30 Das Gesetz kannte noch den sogenannten Stichentscheid gemäß § 1628 Abs. 1 alter Fassung BGB und das alleinige Vertretungsrecht des Vaters gemäß § 1629 Abs.1 alter Fassung BGB. Durch Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 29. 7. 1959 (BVerfGE 10, 59) wurden diese Vorschriften jedoch für verfassungswidrig erklärt. 31 BVerfGE 25, 167. 32 Gesetz über die rechtliche Stellung der nichtehelichen Kinder, BGBl. 1969 I, S. 1243.
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3. Reformen der 1970er und 1980er Jahre Maßgeblich wurde die rechtliche Bindungskraft des Rechtsinstituts „Ehe“ reduziert im Scheidungsrecht durch den Übergang vom Verschuldens- zum Zerrüttungsprinzip aufgrund des 1. Eherechtsgesetzes von 197633, wodurch die Ehe im Ergebnis einseitig lösbar wurde. Die Umstellung bereitete einerseits vorherigen oft unerträglichen Prozesssituationen ein Ende, hatte andererseits aber in ihrem Gefolge eine signifikante Erhöhung der Scheidungszahlen zu verzeichnen.34 Nach dem außerdem damit neu eingeführten Partnerschaftsprinzip gibt es seitdem auch keine gesetzliche Aufgabenverteilung in der Ehe mehr (diese Reform verbleibt innerhalb der Institution „Ehe“), die Ehefrau benötigt für eine eigene Erwerbstätigkeit auch nicht mehr ein Einverständnis des Ehemannes (hier wird auch die Außenwirkung der Ehe zurückgefahren, da die vormaligen patriarchalischen Privilegien des Ehemanns ja durch die Ehe erst begründet waren35). Im Sorgerecht wurde die Ehe dagegen noch relativ lange als grundsätzlich konstituierend für die Familie betrachtet. So wurde etwa noch in der Reform des Scheidungsrechts durch das 1. Eherechtsgesetz die Regelung der elterlichen Sorge in den Scheidungsverbund aufgenommen. Zusammen mit der damaligen Unmöglichkeit des gemeinsamen Sorgerechts geschiedener Eltern wurde also die Familie als Verband von Eltern und Kindern bei Scheitern der Ehe der Eltern automatisch auch mit auseinanderdividiert, nicht anders als Versorgungsanwartschaften und Zugewinn. Die materiellrechtliche Zusammengehörigkeit von Ehe und gemeinsamer elterlicher Sorge (die nun erstmals vom Gesetz als solche bezeichnet wurde) wurde auch nach dem Sorgerechtsgesetz von 197936 noch fortgeführt. Erst mit Urteil vom 3. 11. 198237 erklärte das Bundesverfassungsgericht § 1671 Abs. 4 S.1 BGB a. F., wonach die elterliche Sorge im Falle der Trennung und Scheidung der Eltern einem Elternteil allein zu übertragen war, für verfassungswidrig. Die vormalige Wertung des Gesetzgebers, das nach der Scheidung in der Regel konfliktbeladene Innenverhältnis der Eltern auch gegenüber den Kindern mit einem „klaren Schnitt“ zu beenden und diesen damit eine entsprechende Belastung zu ersparen, 33
Erstes Gesetz zur Reform des Ehe- und Familienrechts, BGBl. 1976 I, S. 1421. Vgl. dazu Brauneder, Wilhelm: Eherechtsreform auf der Bühne, in: Hofer, Sibylle/ Klippel, Diethelm/Walter, Ute (Hg.), Perspektiven des Familienrechts, Festschrift für Dieter Schwab, Bielefeld 2005, S. 3. 35 Zugrunde lagen der alten Regelung letztlich noch mittelalterliche Vorstellungen, nach denen die Frau selbst nicht geschäftsfähig war, sondern von der „munt“ des Vaters in die des Ehemanns überging. Diese Vorstellungen wirken heute noch nach in dem US-amerikanischen Hochzeitsbrauch, wonach der Vater die Braut an den Altar zum Bräutigam führt, der sie nach der Trauung aus der Kirche geleitet; durch Einflüsse aus Film und Fernsehen findet diese Praxis in letzter Zeit auch in Deutschland zunehmend Verbreitung. 36 Gesetz zur Neuregelung des Rechts der elterlichen Sorge, BGBl. 1979 I, S. 1061. 37 BVerfGE 61, 358. 34
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wurde ersetzt durch eine Anknüpfung an die auch nach der Elternscheidung unter Umständen fortdauernden faktischen Eltern-Kind-Beziehungen und das kindliche Bedürfnis, keine Bezugsperson aufgrund des Elternstreits zu verlieren. Auch wurde das Elternrecht des aus der Ehe „weichenden“ Partners nun über die Stabilität der ehemals ehelichen Restfamilie gestellt. Aufgrund dieser Entscheidung übertrugen die Gerichte nachfolgend zunehmend die elterliche Sorge nach Ehescheidung auf beide Elternteile.38 Damit wurde letztlich der Familienverbund auch bei Nichtmehrbestehen der elterlichen Ehe aufrechterhalten. Die Institution „Ehe“ büßte damit ihre rechtliche Nachwirkung in Bezug auf die Kinder im Ergebnis ein. Der fortbestehende Familienverband seinerseits ist vom Gesetzgeber nunmehr nicht mehr institutionell definiert, sondern einzelfallbezogen entsprechend tatsächlicher Gegebenheiten ausgestaltet, funktional, denn Ziel ist eine proaktive Gestaltung der beiderseitigen Eltern-Kind-Verhältnisse auch in der Nach-Ehe-Zeit, in ihrer weiteren, dynamischen Entwicklung. Schon durch das Nichtehelichengesetz war auch die unterhaltsrechtliche Stellung nichtehelicher Kinder materiell und prozessual gestärkt worden. Weitere Unterhaltsrechtsreformen wurden eingeleitet durch das Unterhaltsänderungsgesetz vom 20. 2. 1986,39 das das Prinzip der Eigenverantwortung der geschiedenen Ehepartner begründete, indem es lebenslänglichen Unterhalt begrenzte und die unterhaltsvernichtenden Härteklauseln um die Tatbestände kurze Ehedauer, schwere vorsätzliche Vergehen oder Verbrechen, mutwilliges Herbeiführen von Bedürftigkeit sowie einseitiges Ausbrechen aus der Ehe erweiterte. Damit wurde in vielen Scheidungssituationen die Einzelfallgerechtigkeit erheblich verbessert, gleichzeitig die Nachwirkung der Institution Ehe wiederum strukturell verkürzt. 4. Das letzte Jahrzehnt des alten Jahrhunderts Ausdruck des traditionellen Verbunds von Ehe und Familie blieb zunächst nach wie vor im Sorgerecht die negative Rechtsfolge, dass von vornherein nicht miteinander verheiratete Eltern keine gemeinsame Sorge über ihre Kinder erlangen konnten. Diese Rechtslage erklärte das Bundesverfassungsgericht 199140 für verfassungswidrig und lockerte damit in einem weiteren Schritt den rechtlichen Zusammenhang von Ehe und Familie, indem es Familie konstituierte, wo keine Ehe ist oder war. Eine institutionelle Herangehensweise wurde hier wiederum ersetzt durch eine Regelung,
38 Limbach, Jutta: Die gemeinsame Sorge geschiedener Eltern in der Rechtspraxis, Freie Rechtstatsachenforschung des BMJ, 1989: 1 bis 2 %; nach einer Sondererhebung im Rahmen der Justizstatistik ergab sich für den Erhebungszeitraum Juli 1994 bis Juni 1995 bundesweit bereits ein Prozentsatz von 17,07 % für die gemeinsame elterliche Sorge (BundestagsDrucksache 13/4899, S. 37); nach von Luxburg, Harro: Das neue Kindschaftsrecht, Heidelberg 1998, Rn. 7. 39 BGBl. 1986 I, S. 301. 40 BVerfGE 84, 168.
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die das tatsächliche Verhalten der Beteiligten zugrunde legt und dieses dynamisch für die Zukunft gestaltet. a) Das Familiennamensrechtsgesetz von 1993 War es ursprünglich ganz einhellige Auffassung, dass der Familienname die Familieneinheit zum Ausdruck bringen sollte, so wurde auch diese allmählich ersetzt durch die – erst für die Frau einseitige, später beidseitige – Möglichkeit, den Geburtsnamen dem Ehenamen nachzufügen, später voranzustellen. Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 199141 war weiterhin die Auffangregelung des § 1355 Abs. 2 S. 2 BGB alter Fassung, derzufolge der Mannesname kraft Gesetzes Ehename wurde, wenn die Ehegatten keine ausdrückliche Bestimmung trafen, mit dem Gleichberechtigungsgrundsatz nicht vereinbar. Das Familiennamensrechtsgesetz von 199342 trug dem Rechnung. Seitdem können auch Ehegatten ihren jeweiligen vormaligen Namen weiterführen, rechtlich also auch in der Ehe getrennte Namen führen. Mit der Aufgabe des gemeinsamen Ehenamens wurde die rechtliche Bedeutung der Ehe, wenn auch nur in Bezug auf die gesellschaftliche Außenwirkung, weiter reduziert.43 Namensrechtlich ist seitdem nur noch das Persönlichkeitsrecht der Ehegatten, nicht mehr der Ehetatbestand zwingender Beurteilungsmaßstab. b) Die Kindschaftsrechtsreform von 1997 Die allmähliche Gleichstellung der nichtehelichen und Scheidungskinder mit ehelichen Kindern fand ihre Vollendung durch die Kindschaftsrechtsreform von 1997. Sie setzte sich aus drei Gesetzen zusammen, dem Kindschaftsrechtsreformgesetz,44 dem Beistandschaftsgesetz45 und dem Erbrechtsgleichstellungsgesetz.46 Hinzu kam das Kinderunterhaltsgesetz.47 Jetzt wurde die elterliche Sorge aus dem Zwangsverbund der Ehescheidung herausgenommen und Gegenstand eines Antragsverfahrens.48 Das Scheitern einer Ehe 41
BVerfGE 84, 9 = NJW 1991, 1602. Gesetz zur Neuordnung des Familiennamensrechts, BGBl. 1993 I, S. 2054. 43 Zumindest in der Theorie. In der Lebenswirklichkeit werden Partner von Paaren, die bei ihrer Eheschließung von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht haben, auch heute noch sehr häufig mit dem Namen des anderen (jeweils im Kontext besser bekannten) Partners angesprochen, sofern als Ehepartner vorgestellt. Ansonsten wird oft eine nichteheliche Beziehung unterstellt. 44 Gesetz zur Reform des Kindschaftsrechts, BGBl. 1997 I, S. 2942. 45 Gesetz zur Abschaffung der Amtspflegschaft und zur Neuordnung des Rechts der Beistandschaft, BGBl. 1997 I, S. 2846. 46 Gesetz zur erbrechtlichen Gleichstellung nichtehelicher Kinder, BGBl. 1997 I, S. 2968. 47 Gesetz zur Vereinheitlichung des Unterhaltsrechts minderjähriger Kinder vom 6. 4. 1998, BGBl. I, S. 666. 48 Vgl. von Luxburg (Fn. 38) Rn. 8. 42
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beendet seitdem schon im Grundsatz nicht mehr automatisch auch die dazugehörige Familie, wobei auch hier wiederum eine generelle durch eine Einzelfallregelung ersetzt wurde. Gleichzeitig wurde im Zuge der Kindschaftsrechtsreform 1998 eine gemeinsame elterliche Sorge unverheirateter Eltern gesetzlich verankert. Die Ehe ist seitdem von Gesetzes wegen nicht mehr konstitutiv für die elterliche Sorge. Besonders deutlich wird das Auseinanderfallen von Ehe und Familie im Namensrecht. Dieses richtet sich auch für das Kind nunmehr überhaupt nicht mehr nach den Eheverhältnissen der Eltern, sondern knüpft ausschließlich an die elterliche Sorge an. Auch soweit gemäß § 1616 BGB der Ehename der Eltern ebenso wie nach früherem Recht ohne weiteres auch Geburtsname des Kindes wird, wird nach neuem Recht nur auf die gemeinsame Namensführung zwischen den Eltern abgestellt, nicht auf den Bestand der Ehe, da der Ehename von den Ehegatten auch nach einer Scheidung fortgeführt werden kann. Bei unterschiedlicher Namensführung der Eltern spielt es für das Kind namensmäßig überhaupt keine Rolle mehr, ob die Eltern miteinander verheiratet sind, aber keinen gemeinsamen Ehenamen gewählt haben, oder aber nicht miteinander verheiratet sind, jedoch aufgrund von Sorgeerklärungen gemäß § 1626 a BGB gemeinsam die elterliche Sorge ausüben. Außerdem wurde mit dieser Reform auch im Abstammungs- und Erbrecht die Unterscheidung zwischen ehelicher und nichtehelicher Geburt vollkommen aufgegeben. Das hat zu einer völligen Neuorientierung des Familienbegriffs unabhängig von der Elternehe geführt. Denselben Effekt hat die Gleichstellung der nichtehelichen Kinder auch in weiterer Hinsicht. Indem jetzt nicht mehr zwischen ehelichen und nichtehelichen Kindern unterschieden wird, vielmehr etwa nach § 1684 BGB neuer Fassung auch beim Umgangsrecht nicht mehr danach differenziert wird, ob die Eltern miteinander verheiratet sind, wird die Familie im neuen Sinne rechtlich von der Ehe unabhängig. Dasselbe gilt, wenn nun Betreuungsunterhalt von der ehelichen wie der nichtehelichen Mutter ohne starre zeitliche Begrenzung verlangt werden kann (§ 1615 l Abs. 2 BGB), ebenso jetzt gegebenenfalls auch der nichteheliche Vater wie der eheliche Vater nach § 1615 l Abs. 5 BGB unterhaltsberechtigt sein kann. 5. Das neue Jahrtausend Die rechtlich weiter bestehende „Ehe“ – nunmehr als relatives Rechtsverhältnis zwischen den Ehegatten – hat sich damit wesentlich von der erga omnes, gegenüber jedermann wirkenden Institution zur inter partes, nur zwischen den Beteiligten wirkenden Organisation gewandelt.
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Inhaltlich substantiell erweitert wurde sie schließlich andererseits durch die Verabschiedung des Partnerschaftsgesetzes.49 Dem zunächst noch verfassungsrechtlich für bedeutsam gehaltenen Abstandsgebot im Verhältnis zur heterosexuellen Ehe50 wurde hauptsächlich dadurch Rechnung getragen, dass die nunmehr für gleichgeschlechtliche Partnerschaften eröffneten nahezu eheidentischen Regelungen51 legislatorisch bisher nicht ins Bürgerliche Gesetzbuch integriert, sondern in einem eigenständigen Gesetz separiert blieben und formal eine Parallelterminologie entwickelt wurde. Der Sache nach handelt es sich hier, gegen den allgemeinen Trend, um eine Neuinstitutionalisierung der Lebenspartnerschaft.52 Weitere Unabhängigkeit der Kinder von ihren Eltern bezwecken das Kinderrechteverbesserungsgesetz53 sowie das Gesetz zur Änderung der Vorschriften über die Anfechtung der Vaterschaft und das Umgangsrecht von Bezugspersonen des Kindes und zur Registrierung von Vorsorgeverfügungen vom 23. 4. 2004.54 Umgekehrt führte der im Unterhaltsänderungsgesetz vom 21. 12. 200755 eingeführte Vorrang ehelicher und nichtehelicher Kinder vor geschiedenen und aktuellen Ehegatten sowie der Vorrang erziehender verheirateter oder nicht verheirateter Elternteile gegenüber anderen unterhaltsberechtigten Erwachsenen in vielen Fällen zu einer Beschränkung des Unterhalts (meist der Ex-Ehefrau) nach einer Scheidung, also zu einer weiteren Reduzierung rechtlicher (Nach-)wirkungen der Ehe.56 Indem die Zweit- und Dritt-Ehe oder auch nur -Beziehung samt daraus hervorgehender Kinder der Erst-Ehe unterhaltsrechtlich ebenbürtig wurde, wurde nicht nur die Beurteilungssicherheit der Erst-Partnerin gegenüber nachfolgenden – oder auch gleichzeitigen – Partnerinnen, die unterhaltsrechtlichen Chancen und Risiken bei Eingehung der Partnerschaft eher in voller Kenntnis der vorherigen Partnerschaften, also der wettbewerblichen Gesamtsituation abwägen zu können, entscheidend geschwächt, sondern vor allem die ursprüngliche Singularität der Ehe konzeptionell entscheidend 49 Gesetz zur Beendigung der Diskriminierung gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften vom 16. 2. 2001 (BGBl. I, S. 266); vgl. auch Gesetz zur Änderung des Ehe- und Lebenspartnerschaftsnamensrechts vom 6. 2. 2005, BGBl. I, S. 203. 50 Vgl. aber, nur als Beispiel für neuere Tendenzen, jüngst etwa den Vortrag von Auer, Marietta: Eigentum, Familie, Erbrecht, auf der Tagung der Zivilrechtslehrervereinigung in Köln am 2. 9. 2015, in: AcP 216 (2016) 239. 51 Zu minimalen Abweichungen im Erbrecht vgl. Stumpf, Cordula: Verlöbnis und Vorpartnerschaft im Erbrecht – Bestandsaufnahme und Ausblick ins französische Recht, in: JurA 2013, 334. 52 Vgl. Lüscher, Kurt/Grabmann, Barbara: Lebenspartnerschaften mit und ohne Kinder: Ambivalenzen der Institutionalisierung privater Lebensformen, in: Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation 2002, S. 47. 53 Vom 9. 4. 2002, BGBl. I, S. 1239. 54 BGBl. I, S. 598. 55 Gesetz zur Änderung des Unterhaltsrechts, BGBl. I, S. 3189. 56 Vgl. Hahne, Meo-Micaela: Die Annäherung des Unterhaltsanspruchs einer nichtverheirateten Mutter nach § 1615 l BGB an den Unterhaltsanspruch einer verheirateten Mutter nach § 1570 BGB, in: Hofer, Sibylle/Klippel, Diethelm/Walter, Ute (Fn. 34) S. 783.
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verändert. Ein Ehepartner kann heute rechtlich nacheinander so viele eheliche, neben einer bestehenden Ehe (ebenso für die nichteheliche Partnerschaft) auch gleichzeitig so viele nichteheliche Partnerschaften eingehen, wie er möchte, auch jeweils Kinder zeugen, so viel er möchte, ohne Rücksicht auf seine finanzielle Leistungsfähigkeit nehmen zu müssen. Der Anspruch auf Betreuungsunterhalt wurde auf drei Jahre befristet, danach der betreuende Elternteil, egal ob Ehepartner oder nicht, in der Regel auf eigene Erwerbstätigkeit und Kinderbetreuung durch Dritte verwiesen. Die für den Fall, dass die Leistungsfähigkeit des Unterhaltsverpflichteten auch den stark reduzierten gesetzlichen Anforderungen nicht genügt, in der Folge vom Bundesgerichtshof entwickelte „Dreiteilungsrechtsprechung“ zwischen Unterhaltsverpflichtetem, altem und neuem Partner wurde vom Bundesverfassungsgericht allerdings mit Beschluss vom 25. Januar 201157 wegen Verstoßes gegen Art. 2 Abs. 1 GG verworfen. Auch wurden Ehegatten nach langer Ehedauer und entsprechend langfristigen Lebensmodellentscheidungen, deren Vertrauen in die eheliche Solidarität auch nach einer Scheidung dann doch als schutzwürdig erkannt wurde, nach anhaltender Kritik an der Reform erziehenden Ehegatten durch eine Ergänzung des § 1587 b BGB ab 2013 im Rang gleichgestellt.58 6. Die Gegenwart Insgesamt wird heute „Familie“ weitgehend unabhängig von der Ehe, eigenständig definiert. Die Ehe hat ihre familienkonstituierende Aufgabe nahezu verloren und beschränkt sich auf die Regelung des Innenverhältnisses zwischen den Ehegatten. Eltern-Kind-Beziehungen und -Konflikte sind also nunmehr von Ehegattenbeziehungen und -konflikten rechtlich zu unterscheiden. Aber auch der Familienbegriff als solcher unterliegt mit der Trennung vom Ehebegriff fundamentalen Wandlungen. Zum einen wirkt er also solcher im bürgerlichen Recht59 kaum noch rechtskonstituierend, also schon deshalb nicht mehr wirklich institutionell. Zwar sprechen § 1360 und § 1360 a BGB seit dem 1. Eherechtsgesetz von Familienunterhalt. Sie meinen damit nach wie vor die für Eheleute und ihre gemeinschaftlichen Kinder notwendige Vorsorge,60 wie sich aus der Legaldefinition des § 1360 a Abs. 1 BGB ergibt, sind also insoweit auch keiner anderweitigen Auslegung zugänglich. Diese Definition wirkt auch auf § 1357 und § 1356 Abs. 2 BGB zurück. Für die Kleinfamilie geschaffen, aber zeitlich über sie hinausragend ist der
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1 BvR 918/10, BVerfGE 128, 193. Gesetz zur Durchführung des Haager Übereinkommens vom 23. November 2007 über die internationale Geltendmachung der Unterhaltsansprüche von Kindern und anderen Familienangehörigen sowie zur Änderung von Vorschriften auf dem Gebiet des internationalen Unterhaltsverfahrensrechts und des materiellen Unterhaltsrechts. 59 Anders im Verfassungsrecht, vgl. Art. 6 GG. 60 Vgl. nur Dethloff, Nina: Familienrecht, 31. Aufl. München 2015, Rn. 62. 58
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Familienname in § 1355 BGB.61 §1355 Abs. 1 BGB ist jedoch nur eine Soll-Bestimmung und letztlich anderweitiger Namensführung durch die Beteiligten offen.62 Außerhalb des 4. Buchs findet sich im BGB der Begriff des Familienangehörigen im Erbrecht in § 1969 BGB sowie im Mietrecht in § 563 Abs. 2 S. 3 und § 573 Abs. 2 Nr. 2 BGB.63 Dem Begriff des Familienangehörigen in diesen Vorschriften lässt sich aber kein einheitlicher Inhalt entnehmen, vielmehr ist er unter Berücksichtigung des Zwecks der jeweiligen Norm gesondert durch Auslegung zu ermitteln. Diese wenigen punktuellen Erwähnungen der Familie sind an Normenbestand, gemessen daran, dass das ganze 4. Buch des BGB dem Familienrecht gewidmet ist, nicht viel. Vor allem spielt der Familienbegriff keine Rolle zur Begründung von Unterhalt, Sorgerecht, Umgang und letztlich auch Namensrecht, sowie Erbrecht, also den maßgeblichen Rechtswirkungen, die sich aus familiären Beziehungen ergeben. „Familie“ ist damit heute zur Regelung der wichtigsten familienrechtlichen Beziehungen kein gesetzliches Tatbestandsmerkmal, unter das entsprechend herkömmlicher Rechtsanwendung zu subsumieren wäre. Der Familienbegriff bedarf daher rechtlich insoweit, also weitgehend, auch keiner klaren Kontur. Damit ist er begrifflicher Dynamik zugänglich. Wird der Familienbegriff vom Ehebegriff gelöst, entfällt die gedankliche Engführung auf die aus einer Ehe hervorgehende Kleinfamilie. Nach heutigem Verständnis gilt: Familie ist da, wo Kinder sind;64 auf ein Elternehepaar kommt es nicht mehr an. Der Familienbegriff kann sich (wieder) zur Großfamilie erweitern, allerdings in ihrer modernen Patchwork-Variante, indem heute auch der nichteheliche Vater mit seinem nichtehelichen Kind nicht nur biologisch, sondern auch rechtlich verwandt ist, von diesem beerbt werden kann und indem auch geschiedene sowie nicht miteinander verheiratete Eltern miteinander für die gemeinsamen Kinder sorgen können, auch wenn sie ihrerseits mittlerweile in anderweitigen Beziehungen leben, in die vielleicht der neue Partner seinerseits Kinder aus vorausgegangenen Beziehungen mitbringt und aus denen möglicherweise erneut Kinder hervorgegangen sind. Darüber hinaus wird das Umgangsrecht mit dem Kind im heutigen § 1685 Abs. 1 BGB nicht nur den Eltern, sondern auch Großeltern und Geschwistern eingeräumt und in § 1685 Abs. 2 BGB auf Stiefeltern, Ex-Stiefeltern und Pflegeeltern ausgedehnt.65 Ganz konsequent wird dieses Konzept allerdings nicht durchgeführt. Im heutigen § 1592 BGB wird etwa die Vaterschaft weiterhin primär an die Ehe mit der Mutter 61
Dethloff (Fn. 60) Rn. 62. s. o. 63 Dethloff (Fn. 60) Rn. 62. 64 So quer durch die Parteienlandschaft, vgl. die Tabelle familienpolitischer Standpunkte und Forderungen der Bundestagsparteien bei Gerlach, Irene: Familienpolitik, 2. Aufl. Wiesbaden 2010, S. 157 ff. 65 Vgl. auch Luthin, Horst: Neuere gerichtliche Instrumentarien bei Umgangsproblemen, sowie Salgo, Ludwig: Grenzen der Staatsintervention zur Durchsetzung des Umgangsrechts, jeweils in: Hofer, Sibylle/Klippel, Diethelm/Walter, Ute (Fn. 34) S. 809 respektive S. 891. 62
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angeknüpft, ein während der Ehe geborenes Kind wird also auch weiterhin abstammungsrechtlich dem Ehemann der Mutter zugeordnet. Dasselbe gilt für während der Ehe geborene, aber noch vor der Eheschließung gezeugte Kinder. Und eine nichteheliche Lebensgemeinschaft begründet als solche auch weiterhin keine Vaterschaft.66 Diese konzeptionelle Inkonsequenz rechtfertigt sich aus Gründen der Rechtssicherheit: Der Nachweis der Ehe der Mutter ist urkundlich leicht zu führen, hingegen bietet das bloße Zusammenleben zweier Personen in den vielfältig möglichen Formen des sozialen Alltags oft keinen hinreichend klaren Anknüpfungspunkt, wie es dem Gesetzgeber für die Klärung der Abstammung nach wie vor erforderlich erscheint.67 Die personale Erweiterung des Familienbegriffs zeigt sich dann aber schon wieder bei der eingeschränkten Vaterschaftszurechnung nachehelicher Kinder, wodurch nacheheliche Kinder nunmehr in vielen Fällen unproblematisch dem neuen Partner der Mutter zugeordnet werden können, unter Vermeidung aufwendiger Ehelichkeitsanfechtungen und kostspieliger Abstammungsgutachten.68 Die personale Erweiterung des Familienbegriffs zeigt sich dann auch bei der Mutterschaft, die über die genetische Abstammung hinaus erstreckt wird. Im heutigen § 1591 BGB wird bestimmt: „Mutter eines Kindes ist die Frau, die es geboren hat.“ Mit dieser nur auf den ersten Blick selbstverständlichen Feststellung ist nämlich gleichzeitig gesagt, dass es für die Mutterschaft nicht darauf ankommt, von welcher Frau das Ei oder der Embryo stammt. Mutter ist also im Zweifel nicht die genetische, sondern die sogenannte „Leihmutter“. Das Recht des Kindes, seine genetische Abstammung mütterlicherseits zu kennen, wird in Fällen der Ei- oder Embryonenspende durch die Möglichkeit einer Feststellungsklage nach § 256 Zivilprozessordnung (ZPO) gewahrt.69 Als Motor dieser langjährigen und tiefgreifenden Entwicklung wirkte dabei immer wieder der auch vom Bundesverfassungsgericht70 eingeforderte Gleichheitssatz des Art. 3 GG als letztlicher Ausfluss der Menschenwürde gemäß Art. 1 GG. Sie wurde aber außer durch die Verfassungsentwicklung auch vorbereitet durch die Europäische Konvention über den rechtlichen Status nichtehelicher Kinder von 1975, die Empfehlung des Europarats über elterliche Sorgerechte von 1984 und die Kin-
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Vgl. von Luxburg (Fn. 38) Rn. 128 f. BT-Ds. 13/4899, S. 52. 68 Vgl. von Luxburg (Fn. 38) Rn. 132 f. 69 BT-Ds. 13/4899, S. 83. Zur weiteren Entwicklung, insbesondere angesichts der modernen Reproduktionsmedizin einerseits, der Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften andererseits, vgl. Spickhoff, Andreas: Vaterschaft und Fortpflanzungsmedizin, in: Hofer, Sibylle/Klippel, Diethelm/Walter, Ute (Fn. 34) S. 1141; Helms, Tobias: Rechtliche, biologische und soziale Elternschaft – Herausforderungen durch neue Familienformen, Gutachten F zum 71. Deutschen Juristentag, 2016. 70 Vgl. Borth, Helmut: Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Ehe und Familie und deren Auswirkungen auf das Unterhaltsrecht in der Praxis, sowie Steiner, Udo: Zum Ehebild in der jüngeren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, jeweils in: Hofer, Sibylle/Klippel, Diethelm/Walter, Ute (Fn. 34) S. 329 respektive S. 433. 67
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derrechtskonvention der Vereinten Nationen von 1989;71 sie wird in ähnlicher Weise in einigen nordischen Ländern schon seit einiger Zeit praktiziert.72 Der in Deutschland zu konstatierende familienrechtliche Paradigmenwechsel ist somit auch Teil eines zunächst nord-, später gesamteuropäischen, dann auch internationalen Phänomens.
IV. Einflüsse Das Privatrecht ist, wie auch die anderen Rechtsgebiete, lebendiges Recht. Es unterliegt gesellschaftlichen Einflüssen und Veränderungen, so wie es umgekehrt seinerseits auch gesellschaftliche Verhältnisse gestaltet. In dieser Wechselwirkung von Recht und Gesellschaft passt sich auch das Privatrecht den sich wandelnden Rahmenbedingungen an. In diesem Sinne sind Veränderungen des Privatrechts ebenso wie seine Wirkweisen schon seit etlichen Jahren, auch unter verschiedenen Blickwinkeln, beobachtet worden.73 1. Traditionelle Rahmenbedingungen In der Anfangszeit des Bürgerlichen Gesetzbuches wurde vor allem der Einfluss gesellschaftlicher Rahmenbedingungen insbesondere auf das Familienrecht sichtbar. Traditionell ist jede Rechtsordnung ein Spiegelbild der Gesellschaft, für die sie entworfen worden ist, und ihrer Ideen. Das gilt zunächst auch für das deutsche Familienrecht. a) Gesellschaftliche Verhältnisse in der Entstehungszeit des Bürgerlichen Gesetzbuches Geist und Inhalt des Bürgerlichen Gesetzbuches waren ursprünglich geprägt von den Verhältnissen des deutschen Kaiserreichs an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Nach jahrhundertelanger Vorherrschaft des Adels gewann in diesen Grün71 Dazu Dorsch, Gabriele: Die Konvention der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes, Berlin 1994; Gernhuber, Joachim/Coester-Waltjen, Dagmar: Familienrecht, 6. Aufl. München 2010, § 2 II. 72 Vgl. dazu Baer, Ingrid: Das Sorge- und Umgangsrecht im europäischen Vergleich, in: Brauns-Hermann, Christa/Busch, Bernd Michael/Dinse, Hartmut (Hg.), Ein Kind hat das Recht auf beide Eltern, München 1997, S. 24. 73 Vgl. z. B. Wieacker, Franz: Das Sozialmodell der klassischen Privatrechtsbücher und die Entwicklung der modernen Gesellschaft, Karlsruhe 1953; Rother, Werner: Elemente und Grenzen des zivilrechtlichen Denkens, Berlin 1975; Raiser, Ludwig: Die Aufgabe des Privatrechts, Kronberg/Ts. 1977; Rehbinder, Manfred/Rebe, Bernd: Privatrecht und Wirtschaftsordnung, Bielefeld 1978; Sandrock, Otto: Das Privatrecht am Ausgang des 20. Jahrhunderts, in: JZ 1996, 1; Stürner, Rolf: Der hundertste Geburtstag des BGB – nationale Kodifikation im Greisenalter?, in: JZ 1996, 741.
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derjahren das Bürgertum signifikant an Bedeutung. Seine wichtigsten Einflussfaktoren waren, in Nachahmung des Adels, Eigentum und Besitz einerseits, familiäre Bindungen andererseits, schließlich Kompetenz durch Bildung, weshalb in Deutschland auch lange vom „Bildungsbürgertum“ die Rede war.74 Im Übrigen stellte, bevor die Industrialisierung den neuen Faktor der Fertigung in der Fabrik einführte, der handwerkliche, bäuerliche, kaufmännische oder freiberufliche Kleinbetrieb die alleinige, aber auch später noch lange die überwiegende Wirtschaftsform dar; hier sorgte man für sich selbst, man erwartete keine Hilfe vom Staat, sondern bildete selbst auch die Rücklagen für die Wechselfälle des Lebens.75 Dementsprechend ist das Bürgerliche Gesetzbuch76 seinen Ursprüngen nach tatsächlich ein Bürgerliches Gesetzbuch. Schuldrecht und Sachenrecht sichern Erwerb und Bestand der materiellen Grundlagen bürgerlichen Lebens durch die Gewährleistung von Privatautonomie und Vertragsfreiheit als Gestaltungsmittel selbstständiger, selbstbewusster und informierter, damit handlungsfähiger Rechtsträger; Familienrecht und Erbrecht stärken die Familie als soziale Organisationseinheit. Lediglich die Bildung wird im Bürgerlichen Gesetzbuch nicht geregelt; man betrachtete sie damals in bürgerlichen Familien als selbstverständlich, im Übrigen als soziale Aufgabe des Staates. Der Hochadel wahrte seine Privilegien durch reichsrechtliche Vorbehalte im Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch (EGBGB); die Bauern- und Arbeiterschaft war politisch noch nicht stark genug, um ihre Interessen wirksam zu Gehör zu bringen, strebte aber im Rahmen ihrer Möglichkeiten mehrheitlich ebenfalls nach einer bürgerlichen Lebensform („Ackerbürger“, „Kleinbürger“). Das Privatrecht hatte in diesem bürgerlichen Kontext die Aufgabe, gegenläufige Interessen prinzipiell gleich starker Rechtsträger in einen angemessenen Ausgleich zu bringen und damit den gesellschaftlich vorgegebenen sozialen Frieden innerhalb des Bürgertums, also eines in sich homogenen Teils der Gesellschaft auf der mittleren Ebene, zu sichern. Leitbild und Normadressat des Bürgerlichen Gesetzbuches war also die Mittelschicht der Gesellschaft. Insbesondere das Familienrecht sollte Versorgung und Stabilität der bürgerlichen Familie und ihrer Mitglieder gewährleisten, die oft auch im Erwerbsbetrieb mit eingebunden waren. Auch die technisch noch vormoderne Haushaltsführung beanspruchte erhebliche Arbeitskraft, die jedoch wie die Kindererziehung aus wirtschaftlichen Gründen nicht oder nicht im selben Umfang wie in vielen Adelsfamilien auf häusliches Personal verlagert werden konnte. Andererseits war das Einkommen des bürgerlichen Familienvaters typischerweise ausreichend genug, um es der Hausfrau zu ermöglichen, sich um Haushalt, Kinder und ihre Bildung und das soziale Leben rund um die Familie kümmern zu können, während in vielen Arbeiterfamilien auch das zweite Einkommen der Ehefrau benötigt wurde, der Haushalt dann entsprechend bescheiden ausgestaltet war und die Kinder entweder in Schule und sozial-karitati74
Vgl. dazu z. B. Budde, Gunilla-Friederike: Auf dem Weg ins Bürgerleben. Kindheit und Erziehung in deutschen und englischen Bürgerfamilien 1840 – 1914, Göttingen 1994. 75 Vgl. dazu z. B. auch Gall, Lothar: Bürgertum in Deutschland, München 1998. 76 Wie schon der französische Code Civil, der nicht denkbar ist ohne die Revolution des Bürgertums (gegen den Adel) von 1789.
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ven, in aller Regel kirchlichen Einrichtungen aufgehoben, von Verwandten mitversorgt oder als „Schlüsselkinder“ auf sich allein gestellt waren, bevor sie so früh wie möglich selbst in den Erwerbsprozess eingebunden wurden. Dieses zwischen Mann und Frau arbeitsteilige bürgerliche Familienmodell konnte jedoch nur funktionieren, wenn die selbst kein Erwerbseinkommen erzielende Frau wirtschaftlich und rechtlich abgesichert war, was eine wesentliche Aufgabe der bürgerlichen Ehe war, die entsprechend institutionell ausgestaltet sein musste.77 b) Philosophische Grundlagen Die gesellschaftlichen Verhältnisse, vor allem aber auch die philosophische Tradition prägten auch das Menschenbild, das dem Bürgerlichen Gesetzbuch zunächst selbstverständlich zugrunde lag. Nicht zufällig handelt der 1. Abschnitt des Bürgerlichen Gesetzbuches – wie schon in den Institutionen des Gaius und denen des Justinian78 – von Personen. Dass das Bürgerliche Gesetzbuch den Menschen gleichsam als die geborene Person ansieht, wird mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen aber erst vor dem Hintergrund des ethischen Begriffs der Person voll verständlich, wie er in der deutschen Philosophie entwickelt wurde. Dabei wird vorausgesetzt, dass der Mensch seiner eigentümlichen Natur und Bestimmung nach darauf angelegt ist, sein Dasein und seine Umwelt im Rahmen der ihm jeweils gegebenen Möglichkeiten frei und verantwortlich zu gestalten, sich Ziele zu setzen und selbst Schranken des Handelns aufzuerlegen. Seine Wurzeln hat dieses Verständnis außer in der römisch-rechtlichen Tradition zum einen in der christlichen Religion, zum anderen in der Naturrechtsphilosophie der Aufklärung des 18. Jahrhunderts und ihren Wirkungen auf die großen Vorläuferkodifikationen des Bürgerlichen Gesetzbuches, nämlich das Preußische Allgemeine Landrecht sowie das Österreichische Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch.79 Im Bürgerlichen Gesetzbuch ist darüber hinaus besonders der ethische Personalismus nach Immanuel Kant Gestalt geworden, der weitergeführt wurde durch die an ihn anknüpfenden Philosophen des deutschen Idealismus und der Frühromantik, die wiederum der deutschen gemeinrechtlichen Wissenschaft des 19. Jahrhunderts vor
77 Vgl. zur Familie im ausgehenden 19. Jahrhundert eingehend Conze, Werner (Hg.): Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas, Stuttgart 1976; König, René: Soziologie der Familie, 2. Aufl. Köln 1976; Gerhard, Ute: Verhältnisse und Verhinderungen. Frauenarbeit, Familie und Rechte der Frauen im 19. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1978; Sieder, Reinhard: Sozialgeschichte der Familie, Frankfurt a.M. 1987; Richarz, Irmintraut: Oikos, Haus und Haushalt, Göttingen 1991; Schlegel-Matthies, Kirsten: „Im Haus und am Herd“. Ursprung und Geschichte der Haushaltsökonomik – Der Wandel des Hausfrauenbildes und der Hausarbeit 1880 – 1930, Stuttgart 1995; Gestrich, Andreas: Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert, München 1999. 78 Letztere I.1.3., nach I.1.1. de iustitia et iure und I.1.2. de iure naturali, gentium et civili. 79 Wolf, Manfred/Neuner, Jörg: Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 10. Aufl. München 2012, § 2 I.
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allem durch Savigny vermittelt wurden.80 „Vernunftlose Wesen haben81 nur einen relativen Wert, als Mittel, und heißen daher Sachen, dagegen vernünftige Wesen Personen genannt werden, weil ihre Natur sie schon als Zwecke an sich selbst, das ist etwas, das nicht bloß als Mittel gebraucht werden darf, auszeichnet.“ Daraus ergibt sich als Grundregel: „Handele so, dass du die Menschheit sowohl in dieser Person, als in der Person jedes anderen zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“ „Vernunft“ ist dabei nicht nur das Vermögen, Gegenstände der wahrnehmbaren Welt und deren Gesetzlichkeit zu erkennen, sondern auch das Vermögen des Menschen, das moralische Gebot zu erkennen und danach zu handeln. Auf dieser ihm eigenen Fähigkeit beruht nach Kant der unbedingte Wert des Menschen, seine „Würde“. „Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch ein anderes als dessen Äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde.“82 Der ethische Personalismus mit der Anerkennung der Person und ihrer Würde beherrscht bis heute mit Art. 1 GG als oberstes Prinzip die ganze Rechtsordnung, das daraus resultierende Verhältnis wechselseitiger Achtung ist das rechtliche Grundverhältnis überhaupt. Das Rechtsgebot ist daher: Sei eine Person und respektiere die anderen als Personen.83 Wichtige Folgerungen aus dieser philosophischen Grundhaltung des deutschen Privatrechts sind etwa der Persönlichkeitsschutz, die Anerkennung der Person als Rechtssubjekt, persönliche Handlungsfreiheit, insbesondere die Privatautonomie, aber auch das Prinzip solidarischer Rücksichtnahme sowie das Verantwortungsprinzip, schließlich der Vertrauensschutz.84 2. Moderne Veränderungsfaktoren In der langen Zeit seit seinen Anfängen hat das Familienrecht tiefgreifende Reformen erfahren, die sich als Paradigmenwechsel von der Ehe zur Familie kennzeichnen lassen. Wie gezeigt, hat das Bundesverfassungsgericht hier maßgeblich gewirkt, um die eklatante rechtliche Benachteiligung, die die kaiserzeitliche Hausfrauenehe der Ehefrau zumutete, im Hinblick auf Art. 3 und Art. 1 GG sukzessive abzubauen 80 Vgl. genauer Wieacker, Franz: Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. Göttingen 1967, S. 375; Rückert, Joachim: Idealismus, Jurisprudenz und Politik bei F. C. v. Savigny, Ebelsbach 1983; Wolf, Erik: Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte, 4. Aufl. Tübingen 1963, S. 603; Dreier, Ralf: Rechtsbegriff und Rechtsidee, Frankfurt a.M. 1986; Schlosser, Hans: Grundzüge der Neueren Privatrechtsgeschichte, 10. Aufl. Heidelberg 2005, S. 143 ff.; Klippel, Diethelm: Naturrecht und Rechtsphilosophie im 19. Jahrhundert, Tübingen 2012. 81 Nach Kant, Immanuel: Grundlegung der Metaphysik der Sitten, 2. Abschnitt, zitiert nach Wolf/Neuner (Fn. 79) § 2 I. 82 Kant, Immanuel: Metaphysik der Sitten, 2. Teil, § 37, Zusammenfassung nach Wolf/ Neuner (Fn. 79) § 2 I. 83 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Grundlinien der Philosophie des Rechts (Ausgabe Frankfurt a.M. 1972), § 36. 84 Wolf/Neuner (Fn. 79) § 2 I.
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und damit dem beschriebenen ethischen Personalismus mit der Anerkennung der Person und ihrer Würde als Subjekt nicht nur im Hinblick auf den Ehemann, sondern auch für die Ehefrau Geltung zu verschaffen. Viele dieser Verbesserungen sind heute absolute Selbstverständlichkeit.85 Rechtstechnisch hätte es allerdings verschiedene Möglichkeiten gegeben, diese Ziele zu erreichen. Theoretisch wären diese Fortschritte zum großen Teil auch möglich gewesen, wenn dabei die Ehe als Institution aufrecht erhalten geblieben wäre, wenn auch in angemessen modernisierter Form. Dennoch ist diese, wie oben gezeigt, gerade als solche grundlegend gewandelt, vor allem in ihren Rechtswirkungen deutlich zurückgenommen worden. An ihre Stelle ist eine neue Vorstellung der Familie getreten, die vom Gesetzgeber ihrerseits aber nicht institutionell gefasst ist.86 Dieser Befund deutet darauf hin, dass hier noch weitere Mechanismen wirksam geworden sind. Drei mögliche Veränderungsfaktoren sollen hier näher beleuchtet werden. a) Gesellschaftliche Modernisierung Zunächst liegt es nahe, die beobachteten Reformen im Familienrecht auf eine grundlegende gesellschaftliche Modernisierung zurückzuführen. aa) Vielfalt der Familienformen Moderne Lebensformen87 umfassen neben der traditionellen Ehe mit daraus hervorgehenden Kindern auch ungewollt oder gewollt kinderlose Paare, mit Stief-, Pflege-, Adoptivkindern, auch Single-Haushalte,88 Paare ohne Trauschein, auch mit (gemeinsamen oder nicht gemeinsamen) Kindern, Alleinerziehende, Paare gleichen Geschlechts (mit oder ohne Registrierung) mit oder ohne Kinder, wobei über phasenweise Verschiebungen (Wochenendbeziehungen, Lebensabschnittsgefährten, Fortsetzungsfamilien) Misch- und Zwischenformen entstehen.89 In der Anfangszeit des Bürgerlichen Gesetzbuches hingen, als Ergebnis der beschriebenen Arbeitsteilung, die wirtschaftlichen Lebenschancen vieler selbst kein 85 Vgl. dazu auch Coester-Waltjen, Dagmar: Die Rollen der Geschlechter im deutschen Familienrecht seit 1900, in: StAZ 1992, 34. 86 Siehe auch Lüscher, Kurt: Vom Leitbild zur Leitidee – von der Institution zur fragilen Institutionalisierung, in: RdJB 2008, 120. 87 Vgl. dazu Gerhardt, Uta/Hradil, Stephan/Lucke, Dagmar/Nauck, Bernhard (Hg.): Familie der Zukunft, Lebensbedingungen und Lebensformen, Opladen 1995; Lüscher, Kurt: Widersprüchliche Mannigfaltigkeit – Nachhaltige Leistungen. Ehe, Familie und Verwandtschaft heute, Verhandlungen des 64. Deutschen Juristentages, München 2002; Beck-Gernsheim, Elisabeth: Was kommt nach der Familie? Einblicke in neue Lebensformen, München 1998; Schneider, Norbert F.: Lehrbuch Moderne Familiensoziologie, Opladen 2008; NaveHerz, Rosemarie: Familie heute, 6. Aufl. Darmstadt 2015. 88 Dazu schon Hradil, Stefan: Die „Single-Gesellschaft“, München 1995. 89 Gernhuber/Coester-Waltjen (Fn. 71) § 1 I 2; zu absoluten Zahlen und der relativen Entwicklung siehe Datenreport des Statistischen Bundesamtes, Bonn 2016, 2.1.
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Geld verdienender Frauen von der Eheschließung und dem verlässlichen Bestand der Ehe ab. Die neue Möglichkeit der Geburtenkontrolle, die zunehmende berufliche Qualifikation und die daraus folgende Integration der Frauen in die zunächst aufgrund der Industrialisierung, später aufgrund der Wandlung zur Dienstleistungsgesellschaft grundlegend veränderten Arbeitsmärkte haben das traditionell durch die Ehe gewährleistete Schutzbedürfnis der Frauen erheblich verringert. Hinzu kam ein großflächiger Bedeutungsrückgang privater Haushaltsführung zum „Nebenerwerbsbetrieb“, gefördert durch die Entwicklung zur Kleinstfamilie, die Verknappung des Wohnraums in den städtischen Ballungsgebieten sowie die Technisierung der Haushaltsarbeit, wodurch vormals häusliche Arbeitskraft für anderweitige Betätigung freigesetzt wurde. Auch die daraus folgende zunehmende Verlagerung von Aufgaben der Kindererziehung oder zumindest -betreuung in öffentliche Institutionen, Veränderungen der öffentlichen Sexualmoral sowie die gesellschaftliche Anerkennung auch nicht ehelicher Lebensgemeinschaften markieren zusätzlich veränderte Parameter, die die traditionelle Arbeitsteilung in zunehmendem Maße entbehrlich machten, die gesellschaftliche Bedeutung der Ehe relativierten und die allmähliche rechtliche Gleichstellung der Frauen sowie ihre auch berufliche Selbstverwirklichung ermöglichten.90 Hinzu kam die Entfaltung des Sozialstaats, der nunmehr für die Altersversorgung, den Krankheitsfall und die Existenzsicherung, in neuester Zeit auch für die Kinderbetreuung schon ab dem Kleinstkindalter einsteht und damit traditionelle Aufgaben familiärer Solidarität ersetzt. Die Versorgungsehe wich damit der familienbegründenden Leitidee romantischer Liebe, die allerdings, da Gefühle sich wandeln können, die Paarbeziehung strukturell fragilisierte und Partnerwechsel und Patchwork bedingte.91 Gleichzeitig fordern global verdichtete Arbeitsmärkte hohen beruflichen Einsatz, örtliche Mobilität und eine digitalisierte Arbeitswelt dauernde zeitliche Erreichbarkeit. Beides sind, nunmehr zusätzlich kumulativ auf seiten beider Partner, sodass eine Entlastung durch den anderen Partner entfällt, oft erhebliche Herausforderungen für ein erfülltes Familienleben. So ist die Haltbarkeit von Paarbeziehungen92 ebenso wie die Geburtenrate gesunken.93 Die damit skizzierte neue Vielfalt der tatsächlichen Familienformen im veränderten gesellschaftlichen Umfeld kann in einer demokratischen Gesellschaft entsprechende Reformen des für alle Staatsbürger geltenden Familienrechts im Sinne nicht nur eines Regel-Ausnahme-Verhältnisses, sondern einer Allgemeingültigkeit 90 s. dazu Klippel, Diethelm: Entstehung und Strukturwandel der modernen Familie, in: FamRZ 1978, 558; Habermas, Rebekka: Frauen und Männer des Bürgertums, Göttingen 2000; Dethloff, Nina: Familienarbeit im Wandel, in: Hofer, Sibylle/Klippel, Diethelm/Walter, Ute (Fn. 34) S. 353. 91 Vgl. Beck, Ulrich/Beck-Gernsheim, Elisabeth (Hg.): Das normale Chaos der Liebe, Frankfurt a.M. 1991. 92 Vgl. dazu schon Kaufmann, Franz-Xaver: Zukunft der Familie. Stabilität, Stabilitätsrisiken und Wandel der familialen Lebensformen sowie ihre gesellschaftlichen und politischen Bedingungen, München 1990. 93 Vgl. dazu Beck-Gernsheim, Elisabeth: Die Kinderfrage heute, München 2006.
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allerdings eigentlich nur dann wirklich begründen, wenn sie die Mehrheit der Bevölkerung betrifft. Das ist aber wohl nur auf den ersten Blick der Fall. 2010 lebte jeder vierte Jugendliche in einer alternativen Familienform.94 Das bedeutet aber umgekehrt, dass drei Viertel aller Jugendlichen in einer klassischen Familie der Konstellation Mutter-Vater-Kind(er) aufwachsen; die Pluralisierung der Familienformen ist damit schon zahlenmäßig auf ein Viertel der Familien begrenzt. Die Scheidungsziffern sind zwar hoch, dennoch wird immerhin weniger als die Hälfte der geschlossenen Ehen geschieden; inzwischen sind die Scheidungsquoten sogar wieder rückläufig.95 Ein Viertel der Personen im Familiengründungsalter bleibt kinderlos; auch hier heißt das im Umkehrschluss, dass drei Viertel Kinder bekommen. Außerdem gibt es regionale Schwerpunkte der Pluralisierung der Familienformen in den Stadtstaaten und den neuen Bundesländern, die die gesamtdeutschen Zahlen mitprägen; in den westdeutschen Flächenstaaten (die gesamtdeutsch die große Bevölkerungsmehrheit stellen) ist mit 77 % (im Jahr 2006) nach wie vor die traditionelle Kleinfamilie deutlich vorherrschend, aber auch in Ostdeutschland mit 58 % in der Mehrheit.96 Nach wie vor wächst die große Mehrheit der Kinder in Deutschland bei ihren leiblichen Eltern in einer ehelichen Familie auf. Außerdem bleibt die Vervielfältigung der Familienformen auf wenige Grundtypen beschränkt: 81 % der Bevölkerung im Alter von 35 bis 44 Jahren leben in den drei wichtigsten Lebensformen: Verheiratet mit Kindern, verheiratet ohne Kinder, allein lebend.97 Die Annahme einer Pluralisierung der Lebens- und Familienverhältnisse muss daher relativiert werden.98 Die innere Legitimation des wie beschrieben reformierten Familienrechts ist daher nur insoweit gegeben, als das Recht selbstverständlich auch gesellschaftlichen Minderheiten angemessene Lösungen ihrer Lebensfragen anbieten muss; für die Mehrheit der Bevölkerung muss dies jedoch erst recht gelten. Das gegenwärtige deutsche Familienrecht 94 Statistisches Bundesamt: Jeder vierte Jugendliche lebt in einer alternativen Familienform, Pressemitteilung Nr. 42 vom 4. 2. 2010. 95 www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/Bevoelkerung/EhenLebenspartner schaften.html, besucht am 30. 8. 2016. 96 Bundeszentrale für politische Bildung: Datenreport 2008, S. 34; Bernardi, Laura/Keim, Sylvia: Anfang dreißig und noch kinderlos? Lebenswege und Familienmodelle berufstätiger Frauen aus Ost- und Westdeutschland, in: Konietzka, Dirk/Kreyenfeld, Michaela (Hg.), Ein Leben ohne Kinder. Kinderlosigkeit in Deutschland, Wiesbaden 2007, S. 318; zu den Gründen für die Ost-Westdifferenz Bertram, Hans: Nachhaltige Familienpolitik im europäischen Vergleich, in: Berger, Peter/Kahlert, Heike (Hg.), Der demographische Wandel. Chancen für eine Neuordnung der Geschlechterverhältnisse, Frankfurt a.M. 2006, S. 203, 220. 97 Meyer, Thomas: Die Familie im demographischen Wandel, in: Frevel, Bernhard (Hg.), Herausforderung demographischer Wandel, Wiesbaden 2004, S. 58, 72. 98 Lüscher, Kurt: Soziologische Annäherung an die Familie, Konstanz 2001, S. 11; Maihofer, Andrea: Geschlecht als soziale Konstruktion – eine Zwischenbetrachtung, in: Helduser, Urte u. a., under construction? Konstruktivistische Perspektiven in feministischer Theorie und Forschungspraxis, Frankfurt a.M./New York 2004, 33; Kreyenfeld, Michaela/Konietzka, Dirk: Die Analyse von Kinderlosigkeit in Deutschland: Dimensionen – Daten – Probleme, in: Konietzka/Kreyenfeld (Fn. 96), S. 11, 40; Correll, Lena: Der Wandel der Familie wird überschätzt, 2010, www.querelles-net.de/index.php/qn/article/viewArticle/882/874, besucht am 30. 8. 2016.
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respektiert wenigstens weithin (vornehmlich bei der Gestaltung der persönlichen Beziehungen) die Autonomie der Familienmitglieder, insbesondere der Ehegatten.99 Diese Offenheit des Familienrechts gegenüber den verschiedenen Familienmodellen ist vor diesem tatsächlichen Hintergrund auch unverzichtbar. bb) Gesellschaftliche Anschauungen Neben den tatsächlichen Verhältnissen hat das Recht, um dauerhaft akzeptiert zu werden, auch die Anschauungen der Bevölkerung zu berücksichtigen. Insbesondere das Sozialgebilde Familie entzieht sich dem formenden Zugriff des staatlichen Rechts weit stärker als andere Sozialstrukturen. Außerrechtliche, insbesondere sozialethische Bindungen haben sich im Lauf der Geschichte oft genug gegen das Recht durchgesetzt; Versuche, mit den Mitteln des Rechts erzieherisch zu wirken, sind oft genug gescheitert. In diesem Sinne steht das Recht der Gegenwart nicht in einem Gegensatz zur herrschenden Sozialethik. Es folgt mit seinen Normen für Ehe und Familie deutlich den vorherrschenden Leitbildern ohne Willen, diese durch andere (an welchen Maßstäben orientierte?) zu ersetzen.100 Gesellschaftliche Modernisierung als Veränderungsfaktor des Rechts könnte also auch auf der Meinungsebene wirksam geworden sein. Aufgrund der veränderten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen ist die Frauenerwerbsquote in den meisten Industrieländern in den letzten Jahrzehnten deutlich gestiegen und lag in Deutschland im Jahr 2012 bei 68 %.101 Das könnte ein Indikator für veränderte persönliche Prioritäten sein. Allerdings umfasst die Frauenerwerbsquote nach der Definition der Europäischen Union (EU), im Anschluss an die Definition der International Labour Organisation (ILO), alle mindestens 15 Jahre alten Mädchen und Frauen, die mindestens eine Stunde pro Woche gegen Bezahlung gearbeitet haben.102 Es handelt sich also hier um einen recht weiten Begriff, der insbesondere auch verschiedenste Formen der Teilzeitarbeit umfasst. Es ist daher kein Widerspruch, wenn einerseits die Zahl der erwerbstätigen Frauen seit 1991 angestiegen ist, gleichzeitig jedoch das Frauenarbeitsvolumen (die Gesamtheit aller von Frauen geleisteten Erwerbsarbeitsstunden) insgesamt nicht zugenommen hat; denn die Zahlen der Frauen in Vollzeitstellen ist gleichzeitig gesunken.103 Dabei gilt, dass westdeutsche Frauen, die in Teilzeit arbeiten, dies in der Regel auf eigenen Wunsch tun, während dies in Ostdeutschland nur für die Hälfte der teil99
Gernhuber/Coester-Waltjen (Fn. 71) § 1 II 1. Gernhuber/Coester-Waltjen (Fn. 71) § 1 II 1. 101 Eurostat vom 15. 5. 2013. 102 Statistisches Bundesamt: Was sind Erwerbstätige? Vom 27. 6. 2013. 103 Cornelißen, Waltraud/Dressel, Christian (Hg.): 1. Datenreport zur Gleichstellung von Frauen und Männern in der Bundesrepublik Deutschland, München 2007, S. 107. Vgl. im Einzelnen aktuell auch IAB (Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung), Anhangtabellen zum IAB-Kurzbericht vom 19. 2. 2015. 100
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zeitarbeitenden Frauen zutrifft.104 Gesamtdeutsch akzeptiert nach wie vor fast die Hälfte der Frauen eine traditionelle Rollenverteilung in der Familie in der Weise, dass der Mann voll erwerbstätig ist und die Frau zu Hause bleibt.105 „Es ist für alle Beteiligten besser, wenn der Mann voll im Berufsleben steht und die Frau zu Hause bleibt und sich um den Haushalt und die Kinder kümmert“; diesem Satz stimmten noch vor wenigen Jahren 53 % der westdeutschen Männer und 47 % der Frauen zu.106 Auch in Österreich wäre jede zweite junge Frau gerne Hausfrau, wenn der Mann genug verdient. 85 % der Frauen können sich vorstellen, für eine gewisse Zeit Teilzeit zu arbeiten, um sich um die Kinder zu kümmern, bei Männern sind es nur 31 %. Ein Ausgleich zwischen Familie und Beruf ist 76 % der Frauen, aber nur 53 % der Männer wichtiger als Karriere zu machen und Geld zu verdienen.107 In Italien ist der Anteil von Unternehmerinnen in der Unternehmerschaft – vor diesem Hintergrund vielleicht nur vordergründig erstaunlich – am höchsten in wirtschaftlich weniger entwickelten südlichen Provinzen wie z. B. der Basilicata, dagegen in den prosperierenden nördlichen Provinzen tendenziell niedriger, in der EU gilt das Gleiche im Verhältnis der Mitgliedstaaten.108 Auch die gesellschaftlichen Anschauungen zu Ehe und Familie haben sich bei genauerem Hinsehen weniger gewandelt, als es zunächst den Anschein hat.109 Sinkende Heiratsneigung, zunehmende Kinderlosigkeit und geringere Ehestabilität werden häufig als Ergebnis einer abnehmenden subjektiven Bedeutung der Familie in der Bevölkerung gewertet. Auf die Frage, ob man eine Familie braucht, um glücklich zu sein, oder ob man alleine genauso glücklich leben kann, folgt jedoch die überwiegende Mehrheit in den alten und den neuen Bundesländern der ersten Auffassung. In den höheren Altersgruppen, insbesondere bei den über 60jährigen, findet diese Ansicht in den neuen Bundesländern eine etwas höhere Gefolgschaft (87 %) als in Westdeutschland (80 %). Bei den jungen Erwachsenen bis 30 Jahre gibt es in Westdeutschland einen frappanten Anstieg von weniger als 50 % im Jahre 1984 zu aktuell 70 % (ebenso gesamtdeutsch, im Osten schon über die Jahre ungefähr gleichbleibend auf diesem Niveau). Etwas anders sieht es im Hinblick auf die Ehe aus. Über 60 % der über 60jährigen meinen gesamtdeutsch, dass man heiraten sollte, wenn man mit einem Partner auf Dauer zusammenlebt. In den jüngeren Altersgruppen in Ostdeutschland 104
Herrmann, Ulrike: Freiwillig in die Teilzeit-Falle: taz vom 23. 11. 2008. Gesterkamp, Thomas: Abschied vom Zahlvater? Die Veränderung der Männerrolle in der Familie, in: Leipert, Christian (Hg.), Familie als Beruf: Arbeitsfeld der Zukunft, Opladen 2001, S. 429 m.w.N. 106 Datenreport des Statistischen Bundesamtes 2013. Im aktuellen Report 2016 wurde diese Frage nicht mehr gestellt. 107 Jede zweite junge Frau wäre gern Hausfrau, wenn der Mann genug verdient: Der Standard vom 23. 5. 2011. 108 Grafik Dolomiten 26. August 2015. 109 Siehe schon Nave-Herz, Rosemarie (Hg.): Wandel und Kontinuität der Familie in der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1988; dies.: Ehe- und Familiensoziologie. Eine Einführung in Geschichte, theoretische Ansätze und empirische Befunde, Weinheim 2013. 105
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unterstützt nur ca. ein Drittel diese Ansicht. Etwa 40 % der Westdeutschen aller Altersgruppen stimmen der Auffassung zu, dass Menschen, die sich Kinder wünschen, heiraten sollten; in Ostdeutschland liegt der entsprechende Anteil bei 29 %. Das subjektive Wohlbefinden liegt bei Paaren am höchsten (7,8 von 10), bei Ledigen bereits unter dem Gesamtdurchschnitt der Bevölkerung (7,0 von 10), noch niedriger bei Geschiedenen und Getrenntlebenden (6,9) und am niedrigsten bei Alleinerziehenden (6,8). Die Familie wird auch insgesamt überwiegend mit einer hohen Zufriedenheit (über 50 %) bewertet; Geschiedene und Getrennt Lebende, aber auch Ledige äußern dagegen eine geringe Familienzufriedenheit. Bei den Geschiedenen und Getrennt Lebenden bezeichnen sich auch nur 28 % als glücklich, während Verwitwete nahe am allgemeinen Durchschnitt liegen. Diese Ergebnisse stützen die überwiegende Einschätzung der Bevölkerung, dass der Familie eine hohe Bedeutung für das persönliche Glück zukommt. Der Wandel der familialen Lebensformen mit einer Zunahme von Singles und sogenannten alternativen Familienmodellen drückt somit einerseits zwar eine gestiegene Wahlfreiheit aus; im Hinblick auf das subjektive Wohlbefinden lassen sich allerdings auch negative Entwicklungen identifizieren, die mit der weiteren Verbreitung dieser spezifischen Lebensformen an Gewicht gewonnen haben.110 Ehe und Familie scheinen also auch in Zeiten, in denen sie ihre materielle Versorgungsaufgabe weitgehend verloren haben, einen hohen emotionalen Wert zu haben;111 vielleicht ist auch das Vertrauen in außerfamiliäre Versorgungssicherheit in Zeiten von hoher Staatsverschuldung, „Rentenlöchern“ und unterfinanziertem Bildungs- und Gesundheitssystem in der Bevölkerung einer gewissen Skepsis gewichen. Die unzweifelhaft festzustellende gesellschaftliche Modernisierung sowie die Wahlfreiheit bei der Gestaltung der persönlichen Beziehungen auch jenseits der Ehe oder traditionellen Familie scheint also nur teilweise mit dem instinktiven Wünschen und persönlichen Empfinden wesentlicher Bevölkerungsteile übereinzustimmen. Gesellschaftliche Anschauungen vermögen daher die beschriebene Deinstitutionalisierung des Familienrechts wohl teilweise in Bezug auf die Ehe, jedoch nicht generell zu tragen. cc) Demokratisierung familiärer Pluralität Demokratisierung könnte aber weiterhin die Reformentwicklung des Familienrechts jedenfalls in der historischen Dimension rechtfertigen. Denn das oben beschriebene bürgerliche Familienmodell zum Ausgang des 19. Jahrhunderts war zwar die typischerweise vorgestellte familiäre Ausgangssituation des Bürgerlichen Gesetzbuches. Es war aber schon damals nicht das einzige tatsächlich gelebte Modell. Eine Vielfalt der Familienformen kannten vielmehr auch schon frühere Gesellschaften.112 Allerdings waren diese häufig gesondert nach sozialen Schichten.113 Für 110
Vgl. im einzelnen Statistisches Bundesamt: Datenreport 2016, 2.4., S. 74 ff. Vgl. schon Hermanns, Manfred: Neuere sozialwissenschaftliche Befunde zum inhaltlichen Verständnis von Ehe und Familie, in: FamRZ 1994, 1001. 112 Vgl. von Trotha, Trutz: Zum Wandel der Familie, in: KZfSS 42 (1990), 452. 111
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die bürgerliche Mittelschicht stellte die auf der Hausfrauenehe beruhende Familie, die regelmäßig den Familienbetrieb stützte, auf dem der Lebensunterhalt beruhte, die einzige akzeptable Familienform dar. Der Adel betrachtete die Ehe (und daraus entspringende Nachkommen) aus dynastischen Gründen als einzig legitime Lebensform. Dagegen gab es in den unteren Schichten durchaus vielfältige Formen menschlichen Zusammenlebens; 1910 waren z. B. gesamtgesellschaftlich nur 36,2 % der Männer und 35,2 % der Frauen verheiratet;114 in den unteren Schichten waren die gesellschaftlichen Zwänge am geringsten, die wirtschaftlichen Zwänge am größten. Demgegenüber weist die gegenwärtige Vielfalt der Familienformen nur noch wenig schichtenspezifische Varianten auf.115 Die gesellschaftlichen Zwänge sind für alle Gesellschaftsschichten gleichermaßen weitgehend gewichen. Der eigene Familienbetrieb dient nur noch einer kleinen Minderheit der Bevölkerung als Lebensgrundlage, die große Mehrheit der Bevölkerung bestreitet ihren Lebensunterhalt als Arbeitnehmer in abhängigen Beschäftigungsverhältnissen.116 Dynastische Überlegungen spielen für die große Mehrheit der Bevölkerung keine Rolle. Ein tendenziell deinstitutionalisiertes Familienrecht (im Zusammenwirken mit einer veränderten Arbeitswelt) schafft damit nunmehr für alle Gesellschaftsschichten Verhältnisse, wie sie zur Entstehungszeit des Bürgerlichen Gesetzbuches für die breiten unteren Schichten galten. dd) Familienpolitische Impulse Die Ausdifferenzierung familiärer Lebensformen und ihre Demokratisierung könnte schließlich befördert worden sein von funktional gedachten aktiven gesellschaftspolitischen Bestrebungen, die, zunächst gegen die Exklusivität alter Ständeordnungen gerichtet, Befreiung von Machtstrukturen und gleiche Teilhabe aller Mitglieder der Gesellschaft zum Ziel hatten.117 Selbst wenn man annimmt, dass die großen Reformen des Familienrechts in den vergangenen Jahrzehnten nicht das Ergebnis einer zielbewusst betriebenen Familienpolitik gewesen seien, sondern lediglich Än113
Rosenbaum, Heidi: Formen der Familie. Untersuchungen zum Zusammenhang von Familienverhältnissen, Sozialstruktur und sozialem Wandel in der deutschen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 1982; Gernhuber/Coester-Waltjen (Fn. 71) § 1 I 2. 114 Bundesminister für Familie und Jugend: Bericht der Bundesregierung über die Lage der Familien in der Bundesrepublik Deutschland (1. Familienbericht) 1968, BT-Ds. V/2532, S. 23. 115 Beck-Gernsheim, Elisabeth: Was kommt nach der Familie? Einblicke in neue Lebensformen, München 1998, S. 23; Gernhuber/Coester-Waltjen (Fn. 71) § 1 I 2. 116 Von 43,52 Mio. Erwerbstätigen (im Juni 2016) waren 31,145 Mio. (letzte Zahl aus Dezember 2015) sozialversicherungspflichtig beschäftigt; Statistisches Bundesamt, www.de statis.de/DE/ZahlenFakten/GesamtwirtschaftUmwelt/Arbeitsmarkt/Erwerbstaetigkeit, aufgerufen am 20. 8. 2016. 117 So wurde z. B. für die EU im Rahmen der Lissabon-Strategie beschlossen, die Frauenerwerbsquote europaweit auf mehr als 60 % zu heben. Vgl. auch Kühn, Evelyn/Tourneau, Ingrid/Rehbinder, Manfred/Rebe, Bernd (Hg.): Familienrechtsreform – Chance einer besseren Wirklichkeit? Bielefeld 1978.
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derungen des Zeitgeistes folgten, die im Sozialgebilde „Familie“ virulent wurden und der rechtlichen Formierung bedurften,118 so haben Recht und Politik doch schon immer gestaltend auf die Familie eingewirkt.119 Überwiegend wird denn auch die Familienpolitik als „ein zentraler Bestandteil der Gesellschaftspolitik“ angesehen.120 „Eine zukunftsfähige Gesellschaftspolitik begreift die Vielfalt der Lebensentwürfe und Kulturen in unserem Land als Chance. Die Bundesregierung entwickelt daher die Gesellschafts- und Familienpolitik stetig weiter. Und hat auf diesem Weg bereits viel bewegt.“121 Dem lag jahrzehntelang ein vermuteter breiter gesellschaftlicher Konsens zugrunde, vermittelt durch die erforderlichen Mehrheiten im parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren der Reformgesetze. Diese demokratische Legitimation ist belastbar und funktioniert, solange es nicht nur formal, sondern auch tatsächlich die Möglichkeit der Abwahl und der Zuwendung des Wahlvolks zu akzeptablen politischen Alternativen gibt. Das war in dem hier beobachteten Zeitraum der Familienrechtsreformen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zweifellos der Fall, so dass diese und die zugrunde liegende Familienpolitik in dieser Zeit in der Tat prozedural und inhaltlich einwandfrei demokratisch legitimiert sind. Je näher die politischen Positionen der im Parlament vertretenen Parteien, verbindlich formuliert durch ihre jeweiligen Eliten, zusammenrücken, und je öfter und länger große bis sehr große Koalitionen die parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse bestimmen, desto weniger aussagekräftig werden allerdings parlamentarische Mehrheiten für den politischen Mehrheitswillen der Bevölkerung.122 Demokratisch folgerichtig bilden sich neuerdings in Deutschland, wie auch in anderen europäischen Staaten, zunehmend parlamentarische und außerparlamentarische Gruppierungen außerhalb des bisherigen Parteienspektrums, denen – in den verschiedensten Zusammenhängen, nicht nur im Familienrecht – die inzwischen erreichte gesellschaftliche Modernisierung einerseits, die Uniformität der im politischen Prozess maßgeblichen öffentlichen Meinung andererseits zu weit geht, und die zum Teil erheblichen Zulauf erfahren, im offiziellen politischen Diskurs jedoch bisher – aus allerdings vielfältigen Gründen – entschieden ausgegrenzt werden. Die Entwicklung geht also gegenwärtig in Richtung einer gewissen gesellschaftlichen Polarisierung sowie einer teilweisen Entfremdung zwischen elitendefinierter formal legitimierter Politik und tatsächlichem politischem Empfinden relevanter Teile der Bevölkerung, die umso mehr stetige Rückkopplung der offiziellen Familienpolitik mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit erfordert. 118
So Gernhuber/Coester-Waltjen (Fn. 71) § 1 II 3 ohne empirische Begründung. Vgl. Kaufmann, Franz-Xaver: Zukunft der Familie im vereinten Deutschland. Gesellschaftliche und politische Bedingungen, München 1994; Gerlach, Irene: Familienpolitik, 2. Aufl. Wiesbaden 2010. 120 Vgl. beispielhaft Bundeszentrale für politische Bildung: www.bpb.de/politik/innenpoli tik/familienpolitik, besucht am 25. 8. 2016. 121 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: www.bmfsfj.de, besucht am 25. 8. 2016. 122 Vgl. z. B. „Deutschland ist in der Sinnkrise“, Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 30. 9. 2015. 119
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Daneben sind, noch weiter abseits des öffentlich wahrgenommenen gesellschaftlichen Mainstreams, zuwanderungsbedingt auch im modernen Deutschland jüngst wieder Teilmilieus entstanden, die durch eine geradezu archaische Rollenverteilung zwischen Mann und Frau, verbunden mit entsprechenden Ehe- und Moralvorstellungen, geprägt sind, die hinter jede Art von Gleichberechtigung der Geschlechter wieder weit zurückgehen. Interessenkonflikte werden jedoch hier bisher durchwegs nicht mithilfe des Rechts vor den staatlichen deutschen Gerichten ausgetragen und auch deshalb öffentlich kaum sichtbar. Die familienrechtlichen Regelungen des heutigen Bürgerlichen Gesetzbuches scheinen also nach all dem zwar einerseits auf weite Strecken die technische, soziologische und politische Entwicklung der Gesellschaft im 20. Jahrhundert widerzuspiegeln, andererseits aufgrund neuerer Entwicklungen gegenwärtig nur noch zu einem, wenn auch nach wie vor großen, Teil geeignet, säkular-staatlich verbindliche und gleichzeitig für alle Bereiche der Gesellschaft emotional akzeptable Brückenschläge für eventuelle Schutzbedürfnisse zu leisten.123 b) Ökonomische Analyse des Rechts Ein weiterer Grund für die beobachtete eher funktional strukturierte partielle Deinstitutionalisierung des Familienrechts könnte möglicherweise in einer neuen Rollenzuweisung für das Recht zu finden sein. Klassisch wird die Aufgabe rechtlicher, vor allem auch privatrechtlicher Regelungen darin gesehen, einen verlässlichen und gerechten Interessensausgleich in einem geordneten neutralen Verfahren zwischen privaten Personen zur Vermeidung gewaltsamer Interessendurchsetzung zur Verfügung zu stellen. Dem folgt zunächst auch das Bürgerliche Gesetzbuch. Unter dem Einfluss der seit den 60er Jahren des 20. Jahrhundert in den USA formulierten „Economic Analysis of Law“124 hat allerdings auch in Deutschland die Ökonomische Analyse des Rechts dazu geführt, rechtliche Regelungen unter dem Gesichtspunkt ihrer wirtschaftlichen Auswirkungen zu betrachten und entsprechend einzusetzen. Ihr Ziel ist es, die Handlungen der einzelnen Rechtssubjekte möglichst effektiv zur Förderung des gesellschaftlichen Wohlstands zu steuern und deshalb die Güter und Handlungsmöglichkeiten denjenigen zukommen zu lassen, die daraus den höchsten wirtschaftlichen Ertrag erzielen können. In allen Anwendungsgebieten bedarf es nach diesem Ansatz zur Erzielung optimaler Effizienz von seiten der Rechtsordnung der Anerkennung von Eigentum und anderen subjektiven Rechten, die gehandelt werden können, sowie der Konstituierung eines Marktes, der den freien Austausch dieser Rechte ermöglicht. 123
Vgl. dazu und zu den Auswirkungen auf das Verlöbnis Stumpf, (Fn. 51) 334. Vor allem Posner, Richard A.: Economic Analysis of Law, 9. Aufl. New York 2014 und Coase, Ronald: The Problem of Social Cost, in: Journal of Law and Economics 3 (1960), 1. Die Rezeption dieser Theorie in Deutschland wurde maßgeblich vermittelt durch Assmann, Heinz-Dieter/Kirchner, Christian/Schanze, Erich: Ökonomische Analyse des Rechts, Kronberg 1978, als Taschenbuch bei utb 1993. 124
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Die in der Natur der Sache liegende Einseitigkeit der ökonomischen Rechtsanalyse besteht darin, dass sie sich allein an Wirtschaftlichkeitsaspekten orientiert und anderen Rechtswerten wie Sozialverträglichkeit und sittlichen Grundwerten keine selbständige Bedeutung beimisst. Damit wird das Funktionieren des Gesellschaftssystems auf das Wirtschaftssystem verkürzt. Von anderen Prinzipien gesteuerte Systeme mit ihren Interdependenzen werden, insbesondere durch die tendenzielle Begünstigung des wirtschaftlich ohnehin schon mächtigeren Rechtsverkehrsteilnehmers bei zugrundegelegter ökonomischer Analyse, vernachlässigt.125 Das Privatrecht soll aber aufgrund der Privatautonomie die Gestaltung ihrer Rechtsbeziehungen in erster Linie den Parteien selbst überlassen.126 In einer freiheitlichen Rechtsordnung ist es Aufgabe des Gesetzgebers nur, die im Allgemeininteresse erforderlichen Grenzen zu setzen und im Übrigen die Voraussetzungen aufzuzeigen, unter denen die Parteien von ihrer Vertragsfreiheit möglichst reibungslos einen angemessenen Gebrauch machen können und insbesondere nicht von einem stärkeren Verhandlungspartner einseitig ausgenutzt werden.127 Für eine umfassende Privatrechtsordnung ist die ökonomische Rechtsanalyse daher schon aus grundsätzlichen Erwägungen heraus als Erklärungsmodell nicht geeignet.128 Sie hat aber in verschiedenen Teilbereichen des Privatrechts durchaus Wirksamkeit erlangt.129 Neben dieser Kritik am normativen Standard wirtschaftlicher Effizienz wird wesentlich Zweifel an der Realitätsnähe des von der ökonomischen Analyse zugrunde gelegten Modells des homo oeconomicus geäußert. Erste Ansätze gehen aus von eingeschränkter Rationalität (bounded rationality) und berücksichtigen die kognitiven Grenzen des jeweils Entscheidenden.130 Die Institutionenökonomik führt das Modell der eingeschränkten Rationalität weiter, indem sie diese voraussetzt, deshalb für In-
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So besonders nachdrücklich etwa Wolf/Neuner (Fn. 79) § 4 I 4b. So insbesondere für das Familienrecht beispielhaft Gernhuber/Coester-Waltjen (Fn. 71) § 1 II 2. 127 Vgl. BVerfG NJW 1994, 36. 128 Vgl. zur Debatte auch Gotthold, Jürgen: Zur ökonomischen „Theorie des Eigentums“, in: ZHR 144 (1980) 545; Fezer, Karl-Heinz: Aspekte einer Rechtskritik an der economic analysis of law und am property rights approach, in: JZ 1986, 817; Ott, Claus/Schäfer, Hans Bernd: Die ökonomische Analyse des Rechts – Irrweg oder Chance wissenschaftlicher Rechtserkenntnis?, in: JZ 1988, 213; Kirchgässner, Gebhard: Führt der homo oeconomicus das Recht in die Irre?, in: JZ 1991, 104. Umfassender Überblick bei Schäfer, Hans Bernd/Ott, Claus: Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. Berlin/Heidelberg 2013; Eidenmüller, Horst: Effizienz als Rechtsprinzip, Tübingen 1995. 129 Vgl. Stumpf (Fn. 2) mit Beispielen aus dem Schadensrecht, dem Energierecht und der kartellrechtlichen Fusionskontrolle; dazu jüngst auch Möschel, Wernhard: Wettbewerb zwischen Privatautonomie und ökonomischer Effizienz, in: AcP 216 (2016) 13 ff. 130 Siehe schon Simon, Herbert: Bounded Rationality, in: Eatwell, John/Millgate, Murray/ Newman, Peter, The New Palgrave: A Dictionary of Economics, London 1987, Band 1, S. 266. 126
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formationsgewinnung und -verarbeitung Kosten veranschlagt und Institutionen den Nutzen zuweist, diese Kosten zu reduzieren.131 Der Nachweis von „heuristics and biases“132 im menschlichen Entscheidungsgeschehen hat weiterhin die Debatte um die Verhaltensökonomie erweitert. Auch auf einer grundsätzlichen Ebene sind die zugrundeliegenden ökonomischen Theorien kritischer Überprüfung unterzogen worden. Der letztlich in Jeremy Benthams Utilitarismus133 wurzelnde134 ökonomische Funktionalismus ist, sehr deutlich etwa in der Wettbewerbstheorie als Konzept des funktionsfähigen Wettbewerbs,135 inzwischen seinerseits einem Paradigmenwechsel unterworfen worden. Die dynamische Theorie136 versteht den Wettbewerb als einen in der Zeit ablaufenden Prozess, der aus Vorstößen von Pionierunternehmen und Verfolgungsaktionen von Nachahmern besteht. Dieser Prozess kommt niemals zu Ende, solange er frei ist. Vorübergehende Machtpositionen sind mit ihm durchaus vereinbar, sofern nur der Marktzutritt offen bleibt. Als zentrale Aufgabe der Wettbewerbspolitik ergibt sich daraus die Offenhaltung der Märkte.137 Dieser Hinwendung zu den dynamischen Elementen des Wettbewerbs folgte jedoch eine prinzipielle Skepsis gegenüber der Möglichkeit vollständiger wissenschaftlicher Erfassbarkeit des Wettbewerbs.138 Allen workabilityKonzepten ist gemeinsam, dass sie wettbewerbliche Leitbilder definieren, anhand derer entschieden wird, ob bestimmte Zustände positiv oder negativ zu beurteilen und deshalb mit dem Instrumentarium der Wettbewerbspolitik anzustreben sind oder nicht. Dem steht angesichts der Komplexität der Korrelationen zwischen Marktstruktur, Marktverhalten und Marktergebnissen die grundsätzliche Kritik der Anma-
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Janson, Gunnar: Ökonomische Theorie im Recht, Berlin 2004. Grundlegend Tversky, Amos/Kahneman, Daniel: Judgment under Uncertainty: Heuristics and Biases, in: Science 1974, 1024; zuletzt Kahneman, Daniel: Thinking, Fast and Slow, London 2012. 133 Bentham, Jeremy: An introduction to the principles of morals and legislation, Oxford 1789. 134 Vgl. dazu auch Möschel (Fn. 129) 13 ff. 135 Überblick über die Entwicklung von der Scholastik über die klassische englische Nationalökonomie mit ihrem Modell des vollständigen Wettbewerbs (Ricardo; Smith) zum Übergang zu dynamischen Wettbewerbskonzepten des funktionsfähigen Wettbewerbs (Schumpeter; Clark) bei Stumpf, Cordula: Aufgabe und Befugnis, Frankfurt a.M. 1999, S. 136 ff. 136 Clark, John Maurice: Competition as a Dynamic Process, Washington 1961, S. 1 ff.; Schumpeter, Joseph: The Theory of Economic Development, Cambridge 1912, S. 1 ff. 137 Bartling, Hartwig: Leitbilder der Wettbewerbspolitik, München 1980, S. 12 ff; Emmerich, Volker: Kartellrecht, 13. Aufl. München 2014, S. 9; Kirzner, Israel M.: Wettbewerb und Unternehmertum, Tübingen 1978, S. 91 ff.; Möschel, Wernhard: Recht der Wettbewerbsbeschränkungen, Köln/Berlin/Bonn/München 1983, Rn. 64; Schmidt, Ingo: Wettbewerbstheorie und -politik, Stuttgart 1981, S. 5 ff. 138 Vgl. Behrens, Peter: Die ökonomischen Grundlagen des Rechts, Tübingen 1986, S. 8 ff. 132
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ßung von Wissen entgegen, die in den USA in die sog. Chicago School mündete.139 Sie beschränkt hoheitliche Wettbewerbspolitik auf die Bekämpfung künstlicher Marktzutrittsschranken, ist dabei jedoch im Sinne der Kaldor-Hicks-Doktrin140 ebenfalls weniger der Individualfreiheit als vielmehr der kollektiven Wohlfahrt als Leitidee verpflichtet,141 außerdem spätestens seit der Finanzkrise wegen ihrer allzu „neoliberalen“ Auswirkungen in die Kritik geraten.142 In Deutschland hat sich aus derselben Kritik demgegenüber das Konzept der Wettbewerbsfreiheit entwickelt,143 das die 139 Vgl. Bork, Robert: The Antitrust Paradox. A Policy at War with Itself, New York 1978, S. 1 ff., 2. Aufl. New York 1993; Chandler, Alfred D.: The Visible Hand, Cambridge 1977; S. 1 ff.; Posner, Richard A.: The Chicago School of Antitrust Analysis, in: University of Pennsilvania Law Review 127 (1974) 925 ff.; Stigler, George: The Organization of Industry, Chicago 1983, 1 ff.; siehe dazu auch Bittlingmayer, George: Die wettbewerbspolitischen Vorstellungen der Chicago School, in: WuW 1987, 709 ff.; Kallfass, Hermann H.: Die Chicago School – Eine Stütze des „neuen“ amerikanischen Ansatzes für die Wettbewerbspolitik, in: WuW 1980, 596 ff.; Kantzenbach, Erhard/Kallfass, Hermann H.: Das Konzept des funktionsfähigen Wettbewerbs, in: Cox, Helmut/Jens, Uwe/Markert, Kurt (Hg.), Handbuch des Wettbewerbs, München 1981, 103,108 ff.; Schmidt, Ingo/Rittaler, Jan B.: Die Chicago School of Antitrust Analysis – Wettbewerbstheoretische und -politische Analyse eines Credos, Baden-Baden 1986, S. 1 ff. 140 Dazu Möschel, Wernhard: The Goals of Antitrust Revisited, in: JITE 147 (1991) 16. 141 Kritisch dazu etwa Fezer (Fn. 128) 817 ff. 142 Vgl. dazu jüngst z. B. Marhold, Hartmut: Drei falsche Weichenstellungen im Denken Milton Friedmans, in: Stumpf, Cordula/Kainer, Friedemann/Baldus, Christian (Hg.), Privatrecht, Wirtschaftsrecht, Verfassungsrecht, Festschrift für Müller-Graff, Baden-Baden 2015, S. 792 mit weiteren Nachweisen. 143 von Mises, Ludwig: Human Action, New Haven 1949, S. 19 ff.; Kaufer, Erich: Kantzenbachs Konzept des funktionsfähigen Wettbewerbs, in: JbNatSt 179 (1966) 481 ff.; Hoppmann, Erich: Das Konzept der optimalen Wettbewerbsintensität, in: JbNatSt Bd. 179 (1966) 286 ff.; ders.: Workable Competition als wettbewerbspolitisches Konzept, in: Albert, Hans/ Bauer, Wilhelm/Besters, Hans (Hg.), Theoretische und institutionelle Grundlagen der Wirtschaftspolitik, Festschrift für Theodor Wessels, Berlin 1967, S. 145 ff.; ders.: Wettbewerb als Norm der Wettbewerbspolitik, in: Ordo 18 (1967) 77 ff.; ders.: Zum Problem einer wirtschaftspolitisch praktikablen Definition des Wettbewerbs, in: Schneider, Hans Karl (Hg.), Grundlagen der Wettbewerbspolitik, Schriften des Vereins für Socialpolitik, Neue Folge, Band 48, S. 9 ff.; ders.: Gleichgewicht und Evolution, in: Carell, Erich (Hg.), Ansprachen und Vorträge auf der Festveranstaltung der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Julius Maximilians-Universität Würzburg zum 75. Geburtstag von Erich Carell, am 23. Mai 1980, Baden-Baden 1980, S. 19 ff.; Bartling, Hartwig: Leitbilder der Wettbewerbspolitik, München 1980, S. 23, 41 ff.; Clapham, Ronald: Das wettbewerbspolitische Konzept der Wettbewerbsfreiheit, in: Cox, Helmut/Jens, Uwe/Markert, Kurt (Fn. 139) 129 ff.; Herdzina, Klaus: Wettbewerbspolitik, Stuttgart 1984, S. 58 ff.; Kirzner (Fn. 137) 35 ff.; Lampe, Hans-Eckhard: Wettbewerb, Wettbewerbsbeziehungen, Wettbewerbsintensität, Baden-Baden 1979, S. 1 ff.; Möschel, Wernhard: Kritische Bemerkungen zu kritischen Bemerkungen, in: ZHR 145 (1981) 589; ders. (Fn. 137) Rn. 67 ff.; Röpke, Jochen: Die Strategie der Innovation, Tübingen 1977, S. 45 ff.; Schmidt, Ingo: Wettbewerbspolitik und Kartellrecht, 9. Aufl. München 2012, S. 14 ff.; Schmidtchen, Dieter: Wettbewerbspolitik als Aufgabe, Baden-Baden 1978, S. 27 ff.; ders.: Fehlurteile über das Konzept der Wettbewerbsfreiheit, in: Ordo 39 (1988) 111 ff.; von Hayek, Friedrich August: Die Theorie komplexer Phänomene, Tübingen 1972, S. 25 ff.; ders.: Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren, in: Freiburger Studien 1968, S. 249 ff.; ders.: Die Anmaßung von Wissen, in: Ordo 26 (1975) S. 12 ff.; ders.: Die Verfassung der Freiheit,
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Formulierung wettbewerblicher Leitbilder von vornherein ablehnt. Hoheitliche Maßnahmen sind danach auf den Schutz der Individualfreiheit zu beschränken.144 Im Familienrecht haben Wettbewerbstheorie und ökonomische Rechtsanalyse auf den ersten Blick keine unmittelbare Anwendung gefunden.145 Es wäre aber theoretisch denkbar, dass sie, neben anderen Quellen,146 als Denkkultur ins Wirtschafts- und Arbeitsleben Eingang gefunden und sich von da aus als unterschwellige Strömungen einer insgesamt kompetitiv verfassten Leistungsgesellschaft147 zumindest mittelbar auch im Familienrecht ausgewirkt haben. Denn die beschriebenen Reformen des Familienrechts führen in ihrer Gesamtheit jedenfalls faktisch dazu, dass die vormalige weitgehende institutionelle Verlässlichkeit der Ehe (um den Preis ihrer Ausschließlichkeit sowie höherer Anforderungen an die Kompromissfähigkeit der Beteiligten) einer Offenheit des Rechts gegenüber Mehrfachbeziehungen und in deren Gefolge einem dynamischen Wettbewerb (der Erst-, Zweit- und Dritt-Partnerinnen und ihrer jeweiligen Kinder desselben Partners um Unterhalt, auf seiten der Männer eher um Sorgerecht und Umgang) gewichen ist. Damit wird insbesondere im Unterhaltsrecht die aus biologischen Gründen ohnehin asymmetrische Verhandlungssituation zwischen Mann und Frau, die durch das Privatrecht eigentlich gerade ausgeglichen werden soll, im Endergebnis dann doch umgekehrt eher verschärft. Die beschriebenen familienrechtlichen Reformen sind – wie beschrieben – in erster Linie durch die gesellschaftliche Entwicklung veranlasst. Sie können jedoch ihrerseits auch gesellschaftliches Verhalten prägen. So ist jedenfalls denkbar, dass manche jungen Mütter, auch wenn sie dies in der Familienphase persönlich für wünschenswert halten würden,148 heute auch deshalb weniger die Entscheidung für die Hausfrauen- oder Teilzeittätigkeit wagen und trotz oft erheblicher persönlicher Doppelbelastung von Familie und Beruf149 zumindest in den Jahren der sogenannten „Rushhour des Lebens“ in der (mehr oder weniger vollen) Erwerbstätigkeit bleiben, weil sie um die rechtlich erheblich gesunkene Verbindlichkeit der Ehe, namentlich Chicago 1960, S. 30 ff., neu herausgegeben von Bosch, Alfred/Veit, Reinhold, Tübingen 2009; ders.: Individualismus und wirtschaftliche Ordnung, Graz 1976, S. 76 ff.; Willeke, Franz-Ulrich: Wettbewerbspolitik, Tübingen 1980, S. 23 ff.; Emmerich (Fn. 137) 11 ff. 144 Vgl. zum Ganzen auch Möschel (Fn. 129) 13 ff. 145 Vgl. aber bereits Becker, Gary: Treatise on the Family, Cambridge 1981; Landes, Elisabeth/Posner, Richard A.: The Economics of the Baby Shortage, in: Journal of Legal Studies 1978, 323; Posner, Richard A: The Regulation of the Market in Adoption, in: Boston University Law Review 1987, 59; ders.: Sex and Reason, Cambridge 1994. 146 Vgl. z. B. die bekannte These bei Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, zuerst 1904/1905; dazu Müller-Graff, Peter-Christian: Unternehmensinvestitionen und Investitionssteuerung im Marktrecht, Tübingen 1984, S. 53. 147 Vgl. McClelland, David C.: The Achieving Society, New York 1961. 148 s. o. 149 Auch für die Männer, deren Partizipation an Haushaltsarbeit und Kindererziehung im Gegenzug zur Erwerbstätigkeit der Frauen zunehmend eingefordert wird.
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um die erheblichen Einschnitte im reformierten Unterhaltsrecht wissen.150 Das reformierte Unterhaltsrecht würde dann also – unter Umständen – im Sinne des verhaltensökonomischen „nudging“151 Frauen, die ansonsten vielleicht zu Hause blieben, vor allem aus Angst vor Altersarmut152 in den Arbeitsmarkt treiben oder sie jedenfalls auch nach der Familiengründung dort halten.153 Im Arbeitsmarkt werden sie auf alle Fälle auch dringend gebraucht, angesichts eines erheblichen Fachkräftemangels in der deutschen Wirtschaft und zur Finanzierung des Rentensystems. Außerdem erhöhen sie mit ihrer Erwerbstätigkeit das Steueraufkommen und damit die finanziellen Spielräume staatlicher Politik. Im Rahmen dieses Beitrags kann ein solcher möglicher Zusammenhang nur als zur Diskussion gestellte Arbeitshypothese im Sinne einer Forschungsanfrage an die Sozialwissenschaften formuliert werden, die dort dann im einzelnen empirisch verifiziert oder falsifiziert werden müsste. c) Europäische Integration Eine Hinwendung von der Institution zur Funktion im deutschen Recht könnte sich zudem – im Familienrecht zumindest potentiell – auch aus der europäischen Integration ergeben. Für diesen Prozess war und ist die politologische Theorie, speziell die Integrationstheorie einflussreich gewesen.154 Nach dieser Integrationstheorie in 150 Vgl. auch Köbl, Ursula: Familienarbeit und soziale Sicherheit, in: Sibylle Hofer/Diethelm Klippel/Ute Walter (Fn. 34) S. 997. 151 Maßgeblich Thaler, Richard/Sunstein, Cass: Nudge: Improving Decisions About Health, Wealth and Happiness. New Haven 2008. 152 Weitere, selbstverständlich relevante, Faktoren wie berufliche Selbstentfaltung insbesondere gut ausgebildeter Frauen, die auch gegenwärtigen finanziellen Vorteile eigener Erwerbstätigkeit sowie mehr oder weniger nachdrückliche Erwartungen des öffentlichen und privaten Umfelds sind hier außer acht gelassen. 153 In diesem Sinne auch Pressemitteilung der Bertelsmann Stiftung vom 14. 1. 2015, Frauenbeschäftigungsquote im Osten wächst schneller als im Westen: „Niedrige Beschäftigungsquoten erhöhen das Risiko von Altersarmut bei Frauen“. 154 Vgl. Behrens, Peter: Integrationstheorie. Internationale wirtschaftliche Integration als Gegenstand politologischer, ökonomischer und juristischer Forschung, in: RabelsZ 45 (1981) 8 ff.; Deppe, Frank: Zur ökonomischen und politischen Struktur des Integrationsprozesses, in: Deppe, Frank (Hg.), Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, Hamburg 1975, S. 175 ff.; Dowrick, Frank E.: A Model of the European Communities’ Legal System, in: YEL 1983, 170 ff.; Everling, Ulrich: Vom Zweckverband zur Europäischen Union, in: Stödter, Rolf/Thieme, Werner (Hg.), Hamburg – Deutschland – Europa, Festschrift für Hans-Peter Ipsen, Tübingen 1977, S. 595 ff.; ders.: Reflections on the Structure of the European Union, in: CMLRev 1992, 1053 ff.; Häckel, Erwin: Theoretische Aspekte der regionalen Verflechtung, in: Häckel, Erwin/Everling, Ulrich/Morawitz, Rudolf u. a. (Hg.), Regionale Verflechtung der Bundesrepublik Deutschland, München 1973, 15 ff.; Hrbek, Rudolf: Die EG ein Konkordanzsystem? Anmerkungen zu einem Deutungsversuch der politikwissenschaftlichen Europaforschung in: Bieber, Roland/Bleckmann, Albert/Capotorti, Francesco (Hg.), Das Europa der zweiten Generation, Gedächtnisschrift für Christoph Sasse, Band I, Baden-Baden 1981, S. 87 ff.; Ipsen, Hans Peter: Europäisches Gemeinschaftsrecht, Tübingen 1972, S. 979; von der Groeben, Hans/Mestmäcker, Ernst-Joachim: Ziele und Methoden der Europäischen Integration, Frankfurt a.M. 1972, 1 ff.; von der Groeben, Hans/Hrbek, Rudolf/Schneider, Heinrich/Möller, Hans
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ihrer (vor allem in der Anfangszeit europäischer Integration maßgeblichen) funktionalistischen Variante ist die Bildung eines Gesamtsystems die Funktion der Entwicklung vorhergehender Entwicklungsschritte, wobei ab einem gewissen Punkt (point of no return) durch den spill over-Effekt der Prozess der Gemeinschaftsbildung unumkehrbar wird. Insbesondere im Hinblick auf die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), später Europäische Gemeinschaft (EG), nunmehr Europäische Union (EU) diente die Integrationstheorie als Vehikel, um die am Souveränitätsbegriff orientierten „statischen“, institutionell definierten Klassifizierungen der Gemeinschaft, nunmehr Union in Staatlichkeitskategorien zugunsten des „dynamischen“, ebenfalls systemtheoretisch unterlegten Integrationsbegriffs zurückzudrängen. Diese Zielorientiertheit an Leitbildern teilt die funktionalistische Integrationstheorie mit den ungefähr gleichzeitig entwickelten Workability-Konzepten der Wettbewerbstheorie, aber auch mit neueren Entwicklungen im Privatrecht, insbesondere im Verbraucherrecht. Das „Verbraucherleitbild“ ist hier fester Bestandteil aktueller Rechtsdiskussion.155 Gerade in diesem Bereich unterliegt das deutsche Privatrecht auch außerhalb des Kartellrechts vielfacher Umgestaltung aufgrund europarechtlicher Vorgaben. Einzelbereiche wie die Regelung von Haustürgeschäften,156 von Fernabsatzverträgen157 oder des Kaufs von Verbrauchsgütern,158 des elektronischen Geschäftsverkehrs,159 des Time Sharing,160 des Verbraucherkredits,161 aber auch weite Bereiche der umfassenden deutschen Schuldrechtsreform, die zu einer Neubekanntmachung des Bürgerlichen Gesetzbuches zum 1. 1. 2002 führte, sind der Pflicht zur Umsetzung EU-rechtlicher Richtlinien geschuldet. Diese Richtlinien wiederum dienen der Schaffung eines europäischen Binnenmarktes im Sinne von (Hg.): Die Europäische Union als Prozeß, Baden-Baden 1980, 1 ff.; Warnecke, Steven J.: American Regional Integration Theories and the European Community, in: Integration 1971, 1 ff. 155 Vgl. z. B. Stumpf, Cordula: Sprachliche Anforderungen an die Kennzeichnung parallelimportierter Lebensmittel, das maßgebliche Verbraucherleitbild und die europäische Warenverkehrsfreiheit – Einige Überlegungen zu BGH, Urteil vom 22. 11. 2012 – I ZR 72/11 – Barilla, WRP 2014, 286. 156 § 312, § 312 a BGB; zugrunde liegt die Richtlinie RL 85/577/EWG, ABl. 1985 L 372/ 31. 157 § 312 b ff. BGB, in Umsetzung der Richtlinie RL 97/7/EG, ABl. 1997 L 144/19. 158 Im Zuge der Schuldrechtsreform wurden in Umsetzung der Verbrauchsgüterkauf-RL 1999/44, ABl. 1999 L 171/12 zahlreiche Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs geändert, neben den kaufrechtlichen Bestimmungen der §§ 433, 434, 438, 443 auch Normen des allgemeinen Schuldrechts wie § 275, § 323, § 326; § 281, § 283, § 311 a BGB. 159 § 312 e BGB und § 3 BGB-InfoV, in Umsetzung der E-Commerce-Richtlinie RL 2000/ 31/EG, ABl. 2000 L 178, 1. Der bargeldlose Zahlungsverkehr wurde durch die Einfügung der §§ 676 a bis 676 g in das Geschäftsbesorgungsrecht des BGB näher ausgestaltet; damit wurden die Überweisungsrichtlinie RL 97/5/EG, ABl. 1997 L 43/25, sowie die RL 98/26/EG, ABl. 1998 L 166/45, umgesetzt. 160 §§ 481 bis 487 BGB, dazu die Timesharing-Richtlinie 94/47/EG, ABl. 1994 L 280/83. 161 §§ 491 bis 494, 496, 499 f, 502 bis 505 BGB, dazu Verbraucherkredit-Richtlinie RL 87/ 102/EWG, ABl. 1987 L 42/48.
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Art. 26 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), denn nur insoweit hat die EU eine entsprechende Rechtssetzungskompetenz gemäß Art. 114 AEUV. Dem liegt die integrationsfunktionalistische Anschauung162 zugrunde, die wirtschaftlich-sektorale Integration der Volkswirtschaften der Mitgliedstaaten solle diese so eng verzahnen, dass damit irgendwann der integrationstheoretische point of no return erreicht werde und aufgrund des Spillover-Effekts die wirtschaftliche in eine politische Integration der Völker Europas umschlage; diese Anschauung ist in der sogenannten méthode Monnet für die Unionspraxis bis heute prägend. Der in der Wettbewerbstheorie erhobene Vorwurf der „Anmaßung von Wissen” wird im wesentlichen inhaltsgleich angesichts der tatsächlichen Entwicklung der europäischen Integration zwar inzwischen auch gegen das funktionalistische Integrationskonzept gerichtet.163 Auch hat sich die europäische Integration in ihrem tatsächlichen Ablauf als wesentlich vielgestaltiger herausgestellt als theoretisch prognostiziert.164 Dementsprechend haben sich die Theorien europäischer Integration im Zeitverlauf schon innerhalb der klassischen Ansätze mittlerweile unterschiedlichst aufgefächert in föderalistische, neofunktionalistische, intergouvernementalistische sowie marxistische Konzepte; modifizierend lassen sich Schulen des Supranationalismus, des liberalen Intergouvernamentalismus, des Neogramscianismus, eines Multi-Level Governance-Ansatzes, eines akteurzentrierten Institutionalismus, eines historischen Institutionalismus oder einer Europäisierung nationaler Politik identifizieren; hinzu kommen sozialkonstruktivistische, feministische und soziologische Perspektiven einschließlich einer Integration durch Recht.165 Auch auf der politischen Ebene ist man inzwischen mit der Formulierung von Zielvorgaben sehr viel zurückhaltender.165a 162
Grundlegend Mitrany, David: A Working Peace System, Chicago 1966; in der Folge insbesondere Haas, Ernst B.: Regionalism, Functionalism and Universal International Organizations, in: World Politics 8,2, 238; ders.: Beyond the Nation State. Functionalism and International Organization, Stanford 1964. 163 Vgl. schon frühzeitig Häckel, Erwin: Neue Entwicklungen von Integrationstheorien, in: Integration 2/79, 86 ff. 164 Vgl. ebenfalls schon früh z. B. Bieber, Roland: Integrationskonzepte auf dem Prüfstand, Baden-Baden 1983, S. 1 ff.; Grabitz, Eberhard (Hg.): Abgestufte Integration – Eine Alternative zum herkömmlichen Integrationskonzept?, Kehl 1984, S. 1 ff.; Kohler, Beate (Hg.): Erfolge und Krisen der Integration, Köln 1969, S. 1 ff.; Schneider, Heinrich: Leitbilder der Europapolitik 1: Der Weg zur Integration, Köln 1977, S. 1 ff.; ders.: Rückblick für die Zukunft. Konzeptionelle Weichenstellungen für die Europäische Einigung, Köln 1986, S. 1 ff.; ders.: Europäische Integration: Die Leitbilder und die Politik, in: Die Integration Europas, PVS, Sonderheft 23/1992, S. 3 ff.; inzwischen auch mehrere Beiträge in Börzel, Tanya A. (Hg.): The Disparity of European Integration. Revisiting Neofunctionalism in Honour of Ernst B. Haas, London/New York 2006. Grundsätzlich skeptisch zur Leistungsfähigkeit der politologischen Integrationstheorie Müller-Graff, Peter-Christian: Unternehmensinvestitionen und Investitionssteuerung im Marktrecht, Tübingen 1984, S. 285; Behrens (Fn. 154) 8,24. 165 Jeweils mit Einzeldarstellungen bei Bieling, Hans-Jürgen/Lerch, Marika (Hg.): Theorien der europäischen Integration, 3. Aufl. Wiesbaden 2012. 165a Aktuell werden 5 unterschiedliche Szenarien überlegt, vgl. Weißbuch der Europäischen Kommission zur Zukunft Europas vom 1. 3. 2017.
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Rechtlich schlägt sich der integrationsfunktionalistische Ansatz jedoch nach wie vor im Kompetenzsystem des AEUV nieder. Auch nach verschiedenen Vertragsänderungen bis hin zu Lissabon bietet der Vertrag noch immer keine allgemeine Rechtssetzungsbefugnis für das Privatrecht.166 Die funktionell orientierten Ermächtigungsnormen knüpfen die Rechtssetzungsbefugnisse der EU an integrationsfinale Erforderlichkeitskriterien wie das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes oder des Binnenmarktes, die Effektivierung der Grundfreiheiten oder die Errichtung eines Schutzsystems gegen Wettbewerbsbeschränkungen.167 Die interessenausgleichende Rolle des Privatrechts wird somit in den Privatrechtsnormen, die ihren Ursprung im europäischen Unionsrecht haben, um eine zusätzliche politikgestaltende, integrationsfinale Funktion erweitert, die zusätzlich die eigentliche Rechtfertigung ihres Erlasses bietet. Nicht der privatautonome Verhandlungsprozess zwischen den Vertragsparteien, sondern die Bemühungen um eine politische Einigung Europas auf internationaler Ebene entscheiden hier letztlich über private Rechtsbeziehungen. Hinzu kommt, dass angesichts der Lückenhaftigkeit der EU-Rechtssetzungskompetenz im Privatrecht den Privatrechtsnormen, die ihren Ursprung im Unionsrecht haben, eine privatrechtsdogmatische und privatrechtssystematische Gesamtkonzeption trotz zahlreicher Ansätze im wissenschaftlichen Diskurs legislativ immer noch fehlt.168 Auch hier ist auf den ersten Blick das Familienrecht mangels unmittelbarer Marktrelevanz weniger betroffen als andere Bereiche des Privatrechts wie namentlich das Schuldrecht. Art. 81 Abs. 3 AEUV stellt zwar außerhalb des Art. 114 AEUV eine besondere EU-Rechtssetzungskompetenz für Maßnahmen des Familienrechts bereit. Nach bisherigem Verständnis sind damit jedoch nur Maßnahmen des Kollisions- sowie des Verfahrensrechts, nicht dagegen des materiellen Familienrechts gemeint, weshalb z. B. das deutsch-französische Abkommen über den Güterstand der Wahl-Zugewinngemeinschaft als bilateraler völkerrechtlicher Vertrag außerhalb der EU-Rechtssetzungsverfahren geschlossen wurde. Der Wortlaut der Vorschrift des Art. 81 Abs. 3 AEUV in ihrer derzeitigen Fassung nach dem Vertrag von Lissabon ist insoweit allerdings nicht mehr ganz eindeutig, eröffnet also möglicherweise in Zukunft entsprechende Gestaltungsräume.169 An familienrechtlichen europäischen Regelungen zum Internationalen Privatrecht und zum Verfahrensrecht gibt es jedoch bereits einen beträchtlichen Bestand, der mittelbar zunehmend auf das materielle Fa166 Dazu z. B. Rittner, Fritz: Das Gemeinschaftsprivatrecht und die europäische Integration, in: DB 1996, 25. 167 Für das Erbrecht z. B. Stumpf, Cordula: EG-Rechtssetzungskompetenzen im Erbrecht, in: EuR 2007, 291; für das Schuldrecht Rittner, Fritz: Das Gemeinschaftsprivatrecht und die europäische Integration, in: JZ 1995, 849; allgemein MünchenerKommentar/Säcker, 7. Aufl. München 2015, Einl. Vor § 1, Rn. 235, mit weiteren Nachweisen. 168 MünchenerKommentar/Säcker (Fn. 167), Einl. Vor § 1, Rn. 235. 169 Vgl. dazu genauer Stumpf, Cordula: Art. 81 AEUV (Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen), in: Schwarze, Jürgen/Becker, Ulrich/Hatje, Armin/Schoo, Johann (Hg.), EUKommentar, 4. Aufl. Baden-Baden 2017 (im Druck).
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milienrecht rückwirken könnte. Zu nennen ist die Entscheidung 2003/93/EG des Rates vom 19. 12. 2002 zur Ermächtigung der Mitgliedstaaten, das Haager Übereinkommen von 1996 über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung, Vollstreckung und Zusammenarbeit auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung und der Maßnahmen zum Schutz von Kindern im Interesse der Gemeinschaft zu unterzeichnen170 sowie die zugehörige Entscheidung 2008/431/EG171. Die Verordnung über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung in Zivil- und Handelssachen (EuGVO) wurde zunächst ergänzt durch die Verordnung (EG) Nr. 1347/2000,172 die mittlerweile abgelöst wurde durch die Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung.173 Dazu ist bereits umfangreiche Rechtsprechung ergangen.174 Zu
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ABl. 2003 Nr. L 48, 1. ABl. 2008 Nr. L 151, 36. Vgl. dazu Europäischer Gerichtshof (EuGH), C-256/09, Purrucker; SA GA Mengozzi, C-215/15, Gogova. 172 ABl. 2000 L 160, 19. Geändert durch VO 1185/2002, ABl. 2002 L 173, 3; durch die Beitrittsakte Tschechische Republik u. a., ABl. 2003 L 236, 711; durch VO 1804/2004, ABl. 2004 L 318, 7.Siehe dazu Kohler, Christian: Internationales Verfahrensrecht für Ehesachen in der Europäischen Union, NJW 2001, 10; ders.: Zur Gestaltung des europäischen Kollisionsrechts für Ehesachen, FamRZ 2008, 1673. 173 ABl. Nr. L 338/1, „EheVO/Brüssel IIa“, geändert durch VO 2116/2004, ABl. 2004 Nr. L 367. 174 Zur VO 2201/2003 vgl. EuGH, C-435/06, ABl. 2008 C 22, 11 (dazu Höllwerth, Johann: Hoheitliche Schutzmaßnahmen und Brüssel IIa-VO, in: Zeitschrift für Ehe-und Familienrecht 2008, 57; Pirrung, Jörg: Auslegung der Brüssel IIa-VO in Sorgerechtssachen, in: Baetge, Dietmar/von Hein, Jan/von Hinden, Michael (Hg.), Die richtige Ordnung. Festschrift Jan Kropholler, Tübingen 2008, S. 399; Gruber, Urs Peter: Die Brüssel IIa-VO und öffentlichrechtliche Schutzmaßnahmen, in: IPrax 2008, 490; Dutta, Anatol: Staatliches Wächteramt und europäisches Kindschaftsverfahrensrecht, in: FamRZ 2008, 835); C-68/07, ABl. 2008 Nr. C 22, 15; C-523/07, Slg 2009 I-2805 (dazu Pirrung, Jörg: Der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes in internationalen Sorgerechtssachen, in: Sandrock, Otto/Baur, Jürgen/Scholtka, Boris/ Shapira, Amos (Hg.), Festschrift für Gunther Kühne, Frankfurt a.M. 2009, S. 843; ders.: Gewöhnlicher Aufenthalt des Kindes bei internationalem Wanderleben und Voraussetzungen für die Zulässigkeit einstweiliger Maßnahmen in Sorgerechtssachen nach der EuEheVO, in: IPrax 2011, 50); C-168/08, Slg 2009 I-6871 (dazu Hau, Wolfgang: Doppelte Staatsangehörigkeit im europäischen Eheverfahrensrecht, in: IPrax 2010, 50); C-195/08 PPU, Urteil vom 11. 7. 2008 (dazu Gruber, Urs Peter: Effektive Antworten des EuGH auf Fragen zur Kindesentführung, in: IPrax 2009, 413; Rieck, Jürgen: Neues Eilvorlageverfahren zum EuGH, in: NJW 2008, 2958); C-256/09, Urteil vom 15. 7. 2010; C-403/09 PPU, Deticˇ ek, Slg 2009 I12193; C-211/10 PPU, Urteil vom 1. 7. 2010; C-296/10, Urteil vom 9. 11. 2010; C-400/10 PPU, Urteil vom 5. 10. 2010; C-491/10 PPU, Urt. vom 22. 12. 2010; C-497/10 PPU, Urteil vom 22. 10. 2010; C-92/12 PPU, Urteil vom 26. 4. 2012; C-436/13, Urteil vom 1. 10. 2014; C-656/ 13, Urteil vom 12. 11. 2014; C-4/14, Urteil vom 9. 9. 2015; C-376/14 PPU, Urteil vom 9. 10. 2014; C-404/14, Urteil vom 6. 10. 2015; C-489/14, Urteil vom 6. 10. 2015; C-498/14 PPU, Urteil vom 9. 1. 2015; C-215/15, Urteil vom 21. 10. 2015; C-455/15 PPU, Urteil vom 19. 11. 2015. 171
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nennen ist weiter die VO 4/2009175 über die Zuständigkeit, das anwendbare Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Zusammenarbeit in Unterhaltssachen176 sowie der Beschluss des Rates 2010/405/EU über die Ermächtigung zu einer Verstärkten Zusammenarbeit im Bereich des auf die Ehescheidung und Trennung ohne Auflösung des Ehebandes anzuwendenden Rechts.177 Nach all dem verbleibt zwar die Zuständigkeit für die materielle Ausgestaltung des Familienrechts gegenwärtig noch bei den Mitgliedstaaten.178 Weitgehend europäisch geregelt sind jedoch grenzüberschreitende Verfahren. Faktisch sind diese umso leichter zu handhaben, je ähnlicher die Ausgangsrechte der Mitgliedstaaten sind, so dass sich, ganz im Sinne funktionalistischer Integrationstheorie von law in action,179 mit zunehmender Erleichterung grenzüberschreitender Verfahren deren zahlenmäßige Zunahme und in deren Gefolge ein faktischer Anpassungsdruck der materiellen Rechte erwarten lässt, in welcher Richtung auch immer. Folgerichtig und notwendigerweise liegen auch wissenschaftliche Vorarbeiten einer Vereinheitlichung des materiellen Familienrechts bereits vor.180 Vorgegeben ist lediglich, dass im 175 ABl. 1009 Nr. L 7/1. Geändert durch VO 1142/2011, durch das Abkommen EG-Dänemark (ABl. 2013 L 251, 1), durch VO 517/2013 und durch VO 2015/228. 176 Siehe hierzu EuGH C-400 u. 408/13, Urteil vom 18. 12. 2014; C-184/14, Urteil vom 16. 7. 2015. Siehe auch Linke, Hartmut: Die Europäisierung des Unterhaltsverfahrensrechts, in: FPR 2006, 237; Wagner, Rolf: Der Wettstreit um neue kollisionsrechtliche Vorschriften im Unterhaltsrecht, in: FamRZ 2006, 979. 177 ABl. 2010 Nr. L 189. 178 Zu einzelnen Sachregelungen vgl. die Nachweise bei Gernhuber/Coester-Waltjen, (Fn. 71) § 2 II. 179 Vgl. Boele-Woelki, Katharina/Braat, Bente/Sumner, Ian (Hg.): European Family Law in Action, Cambridge 2003. 180 Z. B. Martiny, Dieter: Europäisches Familienrecht – Notwendigkeit oder Utopie?, in: RabelsZ 59 (1995) 419; Coester-Waltjen, Dagmar: Überlegungen zu einem europäischen Familienrecht, in: Müller-Magdeburg, Cornelia (Hg.), Unsere Aufgaben im 21. Jahrhundert, Festschrift für Lore Maria Peschel-Gutzeit, Baden-Baden 2001, S. 35; Henrich, Dieter: Zur Zukunft des Güterrechts in Europa, in: FamRZ 2002, 1521; Boele-Woelki, Katharina: Perspectives for the Unification and Harmonisation of Family Law in Europe, Cambridge 2003; Dethloff, Nina: Europäische Vereinheitlichung des Familienrechts, in: AcP 204 (2004) 545; dies., Die Europäische Ehe, in: StAZ 2006, 253; Boele-Woelki, Katharina/Martiny, Dieter: Prinzipien zum Europäischen Familienrecht betreffend Ehescheidung und nachehelicher Unterhalt, in: ZEuP 2006, 6; Handelmann, Ruth: Auf dem Weg zu einem europäischen Familienrecht, in: FF 2006, 98; Schwenzer, Ingeborg: Model Family Code, Antwerpen 2006; Antokolskaia, Masha (Hg.): Convergence and Divergence of Family Law in Europe, Cambridge 2007; Boele-Woelki, Katharina/Ferrand, Frédérique/Gonzáles Beilfuss, Cristina/JänteräJareborg, Maarit/Lowe, Nigel/Pintens, Walter: Principles of European Family Law Regarding Divorce, Cambridge 2004, Regarding Property Relations between Sponses, Cambridge 2013, Regarding Parental Responsibilities, Cambridge 2007; Dethloff, Nina: Familien- und Erbrecht zwischen nationaler Rechtskultur, Vergemeinschaftung und Internationalität, in: ZEuP 2007, 992; Helms, Tobias: Das Familienrecht als Objekt differenzierter Integrationsschritte, in: Jung, Peter/Baldus, Christian (Hg.), Differenzierte Integration im Gemeinschaftsprivatrecht, München 2007, S. 203; Kohler, Christian/Pintens, Walter: Ehe und Familie im europäischen Recht – Entwicklungen und Tendenzen, in: FamRZ 2007, 1481; Stumpf, Cordula/Herold,
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Rahmen ihrer Kompetenzen die EU gemäß Art. 8 AEUV bei allen ihren Tätigkeiten darauf hinwirkt, Ungleichheiten zu beseitigen und die Gleichstellung von Männern und Frauen zu fördern; insofern hat sie auch inhaltlich einen dynamischen, rechtsgestaltenden Auftrag. Gemäß Art. 10 AEUV zielt die Union bei der Festlegung und Durchführung ihrer Politik und ihrer Maßnahmen darauf ab, Diskriminierungen aus Gründen des Geschlechts etc. zu bekämpfen. Gemäß Art. 2 EUV zeichnet sich die allen Mitgliedstaaten gemeinsame Gesellschaft u. a. durch die Gleichheit von Frauen und Männern aus. Außerdem sind gemäß Art. 6 des Vertrages über die Europäische Union (EUV) die Grundrechte der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), der EU-Grundrechte-Charta sowie der allgemeinen Grundsätze, wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, zu beachten.181 Die EMRK enthält zwar nur wenig ausdrückliche Aussagen zum Familienrecht, deren Interpretation jedoch durchaus konkrete Regelungsinhalte von den nationalen Gesetzgebern fordert.182
V. Schluss Der Rechtsfunktionalismus183 lässt sich, ebenso wie der ökonomische und der politische Funktionalismus, zurückführen auf eine mathematisch-mechanistische Grundhaltung, die generell kennzeichnend für die westliche Moderne ist. Auch in Architektur und Design184 (Form Follows Function185) und bildender Kunst (in verMike: Begründung und Beendigung von Ehe und Lebenspartnerschaft im deutschen und französischen Recht, in: Baldus, Christian/Müller-Graff, Peter-Christian (Hg.), Europäisches Privatrecht in Vielfalt geeint. Einheitsbildung durch Gruppenbildung im Sachen-, Familienund Erbrecht? Droit privé européen: L’unité dans la diversité. Convergences en droit des biens, de la famille et des successions?, München 2011, S. 75. 181 Vgl. auch Pintens, Walter: Familie und Familienrecht in der europäischen Verfassung, in: Hofer, Sibylle/Klippel, Diethelm/Walter, Ute (Fn. 34) S. 1209. 182 Fahrenhorst, Irene: Familienrecht und Europäische Menschenrechtskonvention, Paderborn/München/Wien/Zürich 1994; Gernhuber/Coester-Waltjen (Fn. 71) § 2 II. 183 Im Hinblick auf die Präventionswirkung, und auch, weil Rechtsphilosophie und Rechtstheorie in Deutschland oft an strafrechtlichen Lehrstühlen angesiedelt sind, meist im Strafrecht diskutiert, vgl. z. B. Schneider, Hendrik: Kann die Einübung in Normanerkennung die Strafrechtsdogmatik leiten? Eine Kritik des strafrechtlichen Funktionalismus, Berlin 2004. 184 Typisch und außerordentlich stilprägend in Deutschland zum Beispiel der Deutsche Werkbund und später das Dessauer Bauhaus. Vgl. Posener, Julius: Die Anfänge des Funktionalismus, Berlin 1964; Müller, Sebastian: Kunst und Industrie. Ideologie und Organisation des Funktionalismus in der Architektur, München 1974. Seine größte Verbreitung fand der Funktionalismus im Städtebau der Wiederaufbaujahre nach dem Zweiten Weltkrieg; er wurde wegen formaler Armut („Zweckbau“) von der sogenannten Postmoderne der 1980er Jahre kritisiert, die doktrinäre Verbindlichkeitsansprüche ablehnte, Tradition auch nicht wie die Moderne als etwas zu Überwindendes, sondern als Füllhorn von Möglichkeiten verstand, wegen ihrer praktischen Beschränkung auf einen dekorativen Retro-Eklektizismus aber keinen bleibenden Einfluss gewann.
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schiedenen Ausprägungen, nur beispielhaft etwa Kubismus,186 abstrakte Malerei, Neue Sachlichkeit, Informel) war der Funktionalismus im 20. Jahrhundert wesentlich stilprägend. In der Psychologie wurde der Funktionalismus wirksam als ebenfalls mechanisch gedachte Theorie, die die menschliche Psyche in Abhängigkeit von den biologischen Körperfunktionen sieht. In der Rechtssoziologie ist der Funktionalismus vor allem in einer systemtheoretischen Ausprägung einerseits,187 einer personfunktionalen Theorie andererseits188 einflussreich geworden. Zugrunde liegen Erfahrungen der Industrialisierung. Die ungeheuren technischen Fortschritte seit Beginn der Neuzeit, beschleunigt sodann des 19. und 20. Jahrhunderts haben die Erfahrung und den Wert des handgefertigten Einzelgegenstands in den Hintergrund gedrängt, in vielen Ländern der Erde, auch in Deutschland, gesicherten Wohlstand für breiteste Bevölkerungsschichten geschaffen, die noch vor einem halben Jahrhundert, wie viele Jahrhunderte zuvor, mit beständiger Hungergefahr zu rechnen hatten, und das neue und unabhängige Lebensgefühl vermittelt (Anything Goes189), mithilfe technischer Denkweise sogar die Naturgewalten bändigen (etwa durch Landgewinnung im niederländischen Polderprogramm, Fruchtbarmachung der israelischen Negevwüste durch Berieselungsanlagen) und nutzen (etwa durch Wasserkraftwerke bis dahin ungeahnter Größenordnung, Energiegewinnung durch Atomkraft oder Solaranlagen), aber auch entfesseln zu können (Atombombe, aber auch konventionelles Kriegsgerät der Gegenwart). Viele dieser Errungenschaften sind gekennzeichnet durch industrielle Massenproduktion, in der der einzelne Mensch, anders als der Bauer auf seinem Acker oder der Handwerker an seiner Werkbank, den individuellen Produktionsprozess nicht mehr selbst steuert, sondern lediglich als kleines Rädchen im hochkomplexen, anonym geregelten kollektiven Produktionsprozess weniger durch individuelle Kraft und Kreativität als vielmehr durch möglichst unauffälliges und gleichförmiges Funktionieren zum Erfolg aller beiträgt. Gleichzeitig ist die moderne Gesellschaft gekennzeichnet durch einen andauernden Prozess funktionaler Differenzierung. Auch soziologisch hat sich die Gesellschaftsstruktur des alten Europa aufgrund der Komplexitätszunahme nicht nur der Lebensbedingungen, sondern damit einhergehend auch der Sinnressourcen umgeformt von der segmentären zur stratifikatorisch-hierarchischen und weiter zur funktional diffe185 Sullivan, Louis: The Tall Office Building Artistically Considered, in: Lippincott’s Magazine, 1896. 186 Vgl. Kahnweiler, Daniel-Henri: Der Weg zum Kubismus, München 1920. 187 Luhmann, Niklas: Funktionen und Folgen formaler Organisation, Berlin 1964; ders.: Zweckbegriff und Systemrationalität, Frankfurt a.M. 1986; ders.: Soziale Systeme, Frankfurt a.M. 1984; ders.: Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1993; vgl. auch Parsons, Talcott: Politics and Social Structure, New York 1969. 188 Schelsky, Helmut: Systemfunktionaler, anthopologischer und personfunktionaler Ansatz der Rechtssoziologie, Berlin 1980. Aus wirtschaftsrechtlicher Perspektive dazu Mestmäcker, Ernst-Joachim: Schelskys Theorie der Institutionen und des Rechts, Münster 1985. 189 Musical mit Musik von Cole Porter von 1934. Wissenschaftstheoretisch wurde „Anything Goes“ zum Schlagwort des Relativismus, vgl. Feyerabend, Paul: Wider den Methodenzwang, 7. Aufl. Minneapolis 1970, zuletzt 11. Aufl. 1986.
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renzierten Ordnung.190 Diese Erfahrung wirkt sich aus auf Menschenbild und soziales Konzept. Gleichzeitig ermöglicht der Wohlstand Demokratisierung und Mitsprache, auch aktive Teilnahme am Rechtsverkehr, auch der Teile der Bevölkerung, die zuvor, in der europäischen Antike als Sklaven, im feudalen Mittelalter als Leibeigene, in der Frühzeit der Industrialisierung als städtisches Proletariat, vom Rechts- und Wirtschaftsleben weitgehend ausgeschlossen waren. Darauf reagiert auch das Privatrecht, indem der freie, individuell handlungsfähige und chancengleiche Bürger als Leitbild des Rechts zurückgedrängt wird vom neuen Leitbild des Verbrauchers, der, mit allen Grund- und Teilhaberechten moderner Demokratie ausgestattet, aber in der Regel weniger gut informiert als die Marktgegenseite und deshalb in einer tendenziell passiven Grundhaltung gedacht, am Markt die täglichen Bedürfnisse befriedigt, dies jedoch massenweise. Die Familie ist in einem solchen Szenario des Einzelnen in der Masse kein notwendiges Element mehr; es ist deshalb zunächst folgerichtig, wenn das Privatrecht die Ehe als Institution zurückdrängt und Familie als offenes, rechtlich als solches nicht mehr konstituierendes Konzept etabliert. Gleichzeitig führt die Komplexität der Lebensverhältnisse in der Industriegesellschaft in entwickelten Gesellschaftsordnungen zu einem „ungeheuren Anwachsen der Produktion von Rechtsnormen im Sozialstaat“,191 was zu einem zunehmenden Auseinanderfallen von juristischer Rechtskenntnis und Parallelwertung in der Laiensphäre, von funktionalem und gefühltem Recht führt; an die Stelle des Vernunftrechts und der ihm eigenen Trennung der Norm in zwei Aspekte – in den moralischen und in den rechtlichen – ist der Konflikt zweier Rechte getreten.192 Das Recht hat aber eigentlich die Aufgabe, das Rechtsbewusstsein aufzuklären. Diese Aufgabe würde, im Extremfall, in einem totalen Rechtsfunktionalismus verlorengehen.193 Das deutsche Familienrecht bietet in seiner gegenwärtigen Ausgestaltung keinen Anlass, einen entsprechenden Befund zu diagnostizieren; eine entsprechende Gefahr ist aber bei seiner Weiterentwicklung, wie generell bei der Weiterentwicklung des Rechts, zu bedenken. Ein fundamentales Problem jedes funktionalen Konzepts nicht nur im Recht liegt darin, dass es, gerade weil es seiner Definition nach zielgerichtet eine Anfangs- in eine Endgröße überführt, das Ziel, die Endgröße nicht der Entdeckung im Prozess 190
Luhmann, Niklas: Soziologische Aufklärung, Opladen 1994, Band 4, S. 34. Dazu bereits Rehbinder, Manfred: Fragen der Rechtswissenschaft an die Nachbarwissenschaften zum sogenannten Rechtsgefühl, in: Gruter, Margaret/Rehbinder, Manfred (Hg.), Der Beitrag der Biologie zu Fragen von Recht und Ethik, Schriftenreihe zur Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung, Band 54, Berlin 1983. 192 Eley, Lothar: Rechtsgefühl und materiale Wertethik, in: Lampe, Ernst-Joachim (Hg.), Das sogenannte Rechtsgefühl, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Band 10, 1985, S. 136, 152, im Anschluss an die Unterscheidung in funktionales Recht und moralisches Handeln bei Immanuel Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, 1. Aufl. 1797, in der Ausgabe von Weischedel, Wilhelm (Hg.), Immanuel Kant, Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie, 7. Aufl. Darmstadt 2011, Band IV, S. 33. 193 Eley (Fn. 193) 150. 191
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überlassen kann, sondern schon vor der Operation festlegen muss. In diesem Sinne verstandene Leitbilder sind aber notgedrungen überfordert von der tatsächlichen Entwicklung. Es gibt also einen strukturellen Prognosedefekt. In den Wirtschaftswissenschaften hat man auf die Anmaßung von Wissen hingewiesen.194 Politisch sind die großen Funktionalismus-Utopien des 20. Jahrhunderts nicht zuletzt aus diesem Grund, wiewohl regelmäßig in besten Absichten gestartet, in vielen Teilen der Welt gescheitert; wo sie noch fortbestehen, bedarf es zu ihrer Aufrechterhaltung erheblichen Zwangs. Die Gefahr der Überforderung eines Leitbildes könnte auch wie in anderen oben beschriebenen Zusammenhängen zwar nicht feststellbar im gegenwärtigen Familienrecht, wohl aber bei seiner künftigen Weiterentwicklung insbesondere hinsichtlich des Leitbildes der offenen Familie zu bedenken sein.195 So wünschenswert es aus der Sicht der Kinder sein mag, auch nach einer Scheidung der Eltern ein gleichermaßen herzliches Verhältnis zu beiden Elternteilen aufrechtzuerhalten, so wenig lässt sich entsprechendes Wohlverhalten der Beteiligten per Gesetz evozieren. Auch hier könnten die Beziehungen der Beteiligten zueinander (vor allem, wenn auf einer oder beiden Seiten weitere Partner, unter Umständen mit eigenen oder nunmehr insoweit gemeinsamen Kindern involviert sind) sich als komplexer erweisen, als es in einer Prognose des Gesetzgebers erfassbar ist. Insofern ist es zunächst zu begrüßen, dass z. B. das Kindschaftsrecht gerade unter diesem Gesichtspunkt heute ein flexibles Regelungsangebot bereitstellt, um jeweils individuell möglichst optimal passende Lösungen zu erlauben, also etwa weder die alleinige Sorge noch die beiderseitige Elternsorge für das Kind zum ausschließlichen Regelungsmuster erhebt. Die gemeinsame Sorge auch geschiedener Eltern ist allerdings inzwischen der gesetzliche Regelfall, sofern nicht ein Elternteil einen Sorgerechtsantrag stellt oder das Gericht von Amts wegen wegen massiver Gefährdung des Kindes entscheidet. Es erfordert also Initiative und Aufwand, von der Regel abzuweichen.196 Zweiter grundständiger Kritikpunkt ebenfalls in allen Funktionalismusdebatten ist die wesensmäßige Beliebigkeit bei der Festlegung des Leitbilds, letztlich also ein doktrinäres Grundmuster.197 Leitbilder, verstanden als Zielbilder von Gestaltung, bedürfen also einer zusätzlichen Legitimation außerhalb der eigentlichen Funktion, 194
s. o. Vgl. Lüscher, Kurt/Lange, Andreas: Von der Form zum Prozeß? Ein konzeptueller Beitrag zur Frage nach der Bedeutung veränderter familialer Strukturen für das Aufwachsen von Kindern, in: Zeitschrift für Sozialisationsforschung und Erziehungssoziologie 1996, 227. 196 Vgl. auch Veit, Barbara: Die gemeinsame Sorge wider Willen, in: Hofer, Sibylle/Klippel, Diethelm/Walter, Ute (Fn. 34) S. 947. Noch weitergehend hat z. B. der BGH in seinem Urteil vom 1. 2. 2017 (AZ XII ZB 601/15) zum Umgangsrecht geschiedener Eltern zum Kind entschieden, dass und unter welchen Voraussetzungen das Familiengericht auf Antrag eines Elternteils gegen den Willen des anderen Elternteils ein sog. paritätisches Wechselmodell, also die hälftige Betreuung des Kindes durch beide Eltern anordnen darf. 197 Plakativ für den Designbereich etwa Michl, Jan: Form Follows WHAT? The modernist notion of function as a carte blanche, in: Magazine of the Faculty of Architecture & Town Planning, Technion, Israel Institute of Technology, Haifa 1995, S. 31. 195
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in Naturwissenschaften und Technik etwa durch empirisch verifizierbare Naturgesetze. Im Recht geschieht diese Legitimation durch den demokratischen Rechtssetzungsprozess. Sachlich offene Debatten sind hierfür essentiell, begleitet durch fundierte und unvoreingenommene Empirie. Das Beliebigkeitsrisiko gibt es inzwischen auch im Familienrecht. Im Reformverlauf sind auf der Ebene der Regelungstechnik institutionell gedachte, präzise und damit rechtssicher subsumierbare (gleichzeitig allerdings auch tendenziell starre) Tatbestandsmerkmale in weitem Umfang durch in hohem Maße unbestimmte Rechtsbegriffe, namentlich das „Kindeswohl“ ersetzt worden. Dieses beurteilen nicht mehr ausschließlich letztentscheidend die Eltern (sowie, mit zunehmendem Alter, das Kind), sondern zunehmend Jugendämter und Gerichte. Dies wird gerechtfertigt mit verstärkter Berücksichtigung faktischer Gegebenheiten angesichts der Flexibilität und Vielgestaltigkeit der zeitgenössischen Familie in allen ihren äußeren Formen; dahinter steht also das Bemühen um Einzelfallgerechtigkeit. Im Familienrecht, dessen Gegenstand die persönlichsten Nahbeziehungen der Menschen sind, ist dies zunächst ein höchst sachgerechter Ansatz. Aber an die Stelle des privatautonom von den Beteiligten verhandelten Rechtsgeschäfts und seiner damit langfristig verlässlich fixierten Rechtsfolgen, auf die die Beteiligten gerade bei der Weichenstellung fundamentaler Lebensentscheidungen mit Langzeitwirkung auf das eigene Leben und das der nächsten Generation vertrauen wollen, tritt damit zunehmend das faktische, im dynamischen Zeitverlauf sich unter Umständen auch grundständig verändernde Verhalten der Beteiligten. Außerdem wird die privatautonome Regelung durch die Beteiligten zunehmend begleitet durch die Beurteilung ihres Verhaltens durch staatliche Stellen. Das Rechtsgeschäft der Ehe hat wie gezeigt verloren an rechtlicher Relevanz, über das vieles entscheidende Kriterium des Kindeswohls bekommt die Beurteilung tatsächlichen Handelns Einfluss auf Rechtsfolgen wie Sorgerecht oder Umgangsrecht. Die neuen Anknüpfungsformeln der Familie wie insbesondere das Kindeswohl sind somit sehr viel offener, damit geeigneter für Billigkeitslösungen, damit notwendig aber auch konturenloser als die ehedem einigermaßen fest umrissenen familienrechtlichen Tatbestände. Die Familie, nur auf den ersten Blick ein abgrenzungsfähiger Rechtsbegriff, ist in Wirklichkeit eher eine Chiffre zur Beschreibung tatsächlichen Verhaltens. Auch die letztlich ausschlaggebende Anknüpfung des Kindeswohls hilft in ihrer Allgemeinheit bei der Entscheidung konkreter Rechtsfälle im klassischen Subsumtionswege nicht viel weiter. So sind im Familienrecht die Abgrenzungsfragen bei der Konkretisierung des „Kindeswohls als Rechtsbegriff“ schon lange bekannt. Der Richter ist daher zunehmend auf wertende Rechtsfindung verwiesen.198 Wertungen müssen sich notwendig an Leitbildern ori-
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Das Spannungsverhältnis Rechtssicherheit versus Einzelfallgerechtigkeit ist nicht auf das Familienrecht beschränkt, sondern ein immer wieder neu zu bedenkendes Grundproblem des Rechts, vgl. dazu z. B. Engisch, Karl: Die Idee der Konkretisierung in Recht und Rechtswissenschaft unserer Zeit, Heidelberg 1953; Röthel, Anne: Normkonkretisierung im Privatrecht, Tübingen 2004; jüngst etwa Roth, Wulf-Henning: Abstrakte Regeln oder Ein-
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entieren. Leitbilder unterliegen aber im Familienrecht stets der Gefahr, ideale Kompetenzerwartungen an die konkrete Familie zu richten und die Beteiligten damit letztlich zu überfordern. Hinzukommt, dass die Jugendämter nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) VIII einerseits den Familien mit Rat und Hilfe beizustehen haben, andererseits bei Gefährdung des Kindeswohls heute erhebliche Eingriffsbefugnisse haben. Diese Doppelfunktion an ein und derselben Behörde ist schon psychologisch ungünstig, denn sie birgt rein strukturell die Versuchung, dass das Jugendamt, dessen Einschätzung im konkreten Fall nach Beratung von der betroffenen Familie nicht geteilt wird, es nicht bei einer beratenden Haltung belässt, sondern – in bester Absicht – seine Sicht der Dinge im Hinblick auf das Kindeswohl dann eben mit Zwang durchzusetzen versucht. Verstärkt wird dieser Effekt durch eine sensible Öffentlichkeit; kommt ein Kind zu Schaden und ist das Jugendamt vorher nicht eingeschritten, ist mit erheblicher medialer Empörung und politischen Konsequenzen zu rechnen. „Overacting“ des Jugendamts ist dagegen öffentlich so gut wie gar nicht feststellbar, da meist hypothetische günstigere Kausalverläufe beschrieben werden müssten, obwohl die Folgen für die betroffene Familie im konkreten Fall ebenfalls erheblich sein können. Auch das Jugendamt sitzt also, via unbestimmter Rechtsbegriff „Kindeswohl“, in der funktionalismustypischen Beliebigkeitsfalle.199 Drittes, meist eher gefühltes als artikuliertes, aber typisches Funktionalismusmanko ist die damit verbundene emotionale Kälte. In einem naturwissenschaftlich-technischen Kontext ist emotionslose Sachlichkeit Voraussetzung für Gelingen, alles andere wäre Manipulation. Schwieriger wird es, wenn sich Menschen als operative Faktoren in Funktionalismus-Zusammenhänge einordnen müssen. Auf „Die Unwirtlichkeit unserer Städte“ etwa hat Alexander Mitscherlich schon 1999 hingewiesen. Dieser Gesichtspunkt sollte auch für die weitere Entwicklung im Familienrecht mitbedacht werden, wo es ja um menschliche Nahbeziehungen geht. In Schweden, einem immer wieder als Vorbild aufgerufenen familienpolitischen Reform-Biotop der ersten Stunde, ist die Vereinzelung der Menschen aufgrund gesellschaftlicher Relativierung der Familie durch den Staat besonders weit fortgeschritten; besonders greifbar wird dies am Ende des Lebens, denn in Schweden stirbt der Mensch inzwischen in der Regel einsam und allein.200 Die intuitive Gegenbewegung zum Funktionalismus ist deshalb die Romantik. Schon mit der heftigen Woge der Industrialisierung im 19. Jahrhundert gab es gleichzeitig in Malerei und Literatur eine mächtige Epoche der Romantik, in der Architektur flüchtete man in Historizismen. Gleichzeitig mit den großen technischen Fortschritten und gesellschaftlichen Reformen der zelfallprüfung?, sowie Kaiser, Dagmar: Halten Gesetze, was sie (ver)sprechen? Jeweils in: Stumpf, Cordula/Kainer, Friedemann/Baldus, Christian (Fn. 142) S. 1087 bzw. 1129. 199 Vgl. z. B. RP vom 5. 10. 2016: „Jugendämter schreiten häufiger ein“. Siehe auch Gernhuber, Joachim: Die Billigkeit und ihr Preis, in: Tübinger Juristenfakultät (Hg.), Summum ius, summa iniuria, Tübingen 1963, S. 205; ders.: Neues Familienrecht, Tübingen 1977; ders.: Die integrierte Billigkeit, in: ders. (Hg.), Tradition und Fortschritt im Recht, Festschrift Tübinger Juristenfakultät, Tübingen 1977, S. 193; Gernhuber/Coester-Waltjen (Fn. 71) § 1 V. 200 Vgl. Balzter, Sebastian: Einigkeit und Recht und BaföG, FAZ vom 14. 8. 2016.
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1970er Jahre bildete sich in den USA die Hippie-Bewegung, in Deutschland die Umweltbewegung, die nicht nur eine überfällige ökologische Sachdiskussion zum Laufen brachte, sondern auch romantische Weltflucht als Alternative propagierte. Auch die Postmoderne in der Architektur war wohl letztlich ein Romantikentwurf. Romantik jedoch kann zwar Individuen oder auch Kleingruppen im Moment emotional entlasten, führt jedoch nicht dauerhaft zu einer freundlichen Umgebung für alle. Im Recht ist romantische Retrospektive erst recht nicht geeignet, Herausforderungen der Gegenwart befriedigend zu lösen. Es sollte daher nach Möglichkeit so ausgestaltet sein, dass für Weltflucht von vornherein kein Anlass besteht. Nach all dem sind heute im deutschen Familienrecht die alten Institutionen, insbesondere die Ehe, nachhaltig relativiert, die rechtlichen Beziehungen der Familienmitglieder zueinander und das Verhältnis von Familie und Staat in im einzelnen unterschiedlichem Ausmaß partiell funktionalisiert. Das Familienrecht hat damit vor allem allgemeine gesellschaftliche Entwicklungen des 20. Jahrhunderts mitvollzogen und bietet für die Gegenwart angesichts der Vielfalt zeitgenössisch gelebter Familienformen ein angemessen flexibles Instrumentarium. Die Gegenwart zeigt allerdings auch neue Entwicklungen, die das Familienrecht berücksichtigen muss. Maßund Gradfragen könnten dabei eine wichtige Rolle spielen, wenn eine breite Akzeptanz des Rechts in der Bevölkerung auch weiterhin gewährleistet bleiben soll. Auch in Zukunft wird das Familienrecht wohl seine Aufgabe nur erfüllen können, wenn es sich im Spannungsfeld zwischen Institutionen und Funktionen vor allem an den Personen, den Menschen orientiert. Der interdisziplinäre Dialog mit benachbarten Wissenschaften, vor allem aber auch der lebendige rechtsvergleichende Diskurs innerhalb der Jurisprudenz unter Kollegen aus verschiedenen Rechts- und Gesellschaftssystemen werden dabei weiterhin unentbehrlich sein.
Recognition of States and Conflict of Laws By Hiroshi Taki
I. Introduction In order to comply with the conflict of laws rules applicable in foro, a municipal court may have to apply the law of a foreign country. However, the state of the forum does not always recognize the foreign country as a state. This gives rise to the question as to whether a court can apply a law of an unrecognized state. In some cases, the state of the forum recognizes the foreign country as a state but not the government actually in power in the foreign country as such. This then gives rise to the question as to whether a court can apply a law enacted by an unrecognized government. The prevailing view in the German literature seems to give an affirmative answer.1 Indeed, the prevailing view leads to largely satisfactory results. However, the theoretical arguments do not fully take into account the latest theories of state (government) recognition under international law. The purpose of this article is to examine these theoretical arguments through the lens of the latest theories of recognition under international law. I would like to address the question of how this prevailing view justifies its position in relation to the general doctrine of recognition under international law. Kegel provides an interesting insight: “Das ein Staat, eine Regierung, ein Gebietserwerb völkerrechtlich nicht anerkannt ist – mag die Anerkennung überhaupt nicht oder nur de facto, aber jedenfalls nicht de jure erteilt worden sein –, ist für die Anwendung von Privatrecht der nicht anerkannten Instanz ohne Belang, wenn es nur in dem beherrschten Gebiet tatsächlich allgemein angewandt wird. … Die Anerkennung und ihre Versagung dienen politischen Zwecken; ob dieses oder jenes Privatrecht angewandt wird, ist politisch gleichgültig.”2
The phrase “völkerrechtlich nicht anerkannt ist” shows that Kegel is thinking of recognition in terms of international law. On the basis of this notion of recognition, he argues that since recognition and non-recognition serve merely political purposes, 1
See Kegel, Gerhard: Internationales Privatrecht, 4. Aufl. München 1977, S. 10; Raape, Leo/Sturm, Fritz: Internationales Privatrecht, 6. Aufl. München 1977, S. 45 – 46; Ferid, Murad: Internationales Privatrecht, 3. Aufl. Frankfurt am Main 1986, S. 160; von Bar, Christian: Internationales Privatrecht, Band 1, München 1987, S. 153. 2 Kegel (note 1) 10. (emphasis added). See also Soergel-Siebert/Kegel, Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Kommentar, 12. Aufl. Stuttgart 1996, S. 198.
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they do not affect the problem of which state’s private law should be applied in cases containing some foreign element. It follows, then, that according to Kegel, state recognition has, in principle, no relation to conflict of laws. This way of thinking also predominates in Japan.3 To ascertain if such a position is correct or not, it is necessary to confirm the nature of state recognition under international law. In fact, there has been controversy surrounding the question of the legal effect of state recognition for over a century in the field of international law.4 Therefore, I would like to begin by discussing the different theories of state recognition in international law. Next, I will examine the connection between state (government) recognition and conflict of laws, focusing in particular on whether a law of an unrecognized state (government) can be applied in the context of the conflict of laws.
II. Theories of State Recognition in International Law There are two principal theories on the nature of state recognition: the constitutive theory and the declaratory theory. According to the former, a state only becomes a subject of international law through recognition. That is, recognition is considered a requirement for a state as a subject of international law. The latter, by contrast, argues that a state becomes a subject of international law as soon as it meets all of the criteria for statehood, and that recognition merely confirms the fulfilment of the requirements in a given case; that is, the existence of a state as a subject of international law. Since the predominant view among writers is the declaratory theory,5 I would like to discuss the notion of recognition from this viewpoint. According to the declaratory theory, state recognition is not a requirement for a state as a subject of international law; but rather, merely an act confirming the existence of a state as a subject of international law. For this reason, some declaratists refer to state recognition as “a political act.”6 However, state recognition under the declaratory doctrine is not a purely political act without legal effect.7 I argue that it has important legal effects and, in this sense, is a legal act.8
3 See Tameike, Yoshio: Kokusai shiho¯ ko¯gi (Lectures on Private International Law), 2nd ed. Tokyo 1999, S. 180. 4 See Crawford, James: The Creation of States in International Law, 2nd ed., Oxford 2006, 12 et seq. 5 According to Crawford, “Among writers the declaratory doctrine, with differences in emphasis, predominates.” Ibid., 25. 6 Ibid., 22. 7 See also ibid., 27. 8 See Taki, Hiroshi: State Recognition and Opinio Juris in Customary International Law, Tokyo 2016, S. 9 – 65, for a full discussion of this position.
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Recognition according to the declarative theory is an act of confirming the fulfilment of the requirements for statehood; that is, the existence of a state as a subject of international law. Considering the decentralized structure of the international community, such an act could be understood as a competent organ ascertaining the existence of the conditions for statehood. In this sense, it could be argued to have the same character as the establishment of a legally relevant fact by a court.9 Since the international community does not have a central organ to ascertain that a given community has fulfilled the requirements for statehood, such a task is entrusted to the existing states concerned. If we accept the premise that state recognition has the same character as the establishment of a legally relevant fact by a court, the following conclusion as to legal effect of state recognition would be inevitable. Let us consider the legal effect of ascertaining a legally relevant fact (fact finding) by a court under municipal law. According to municipal law, the finding of fact by a court has the effect of res judicata. If that notion is applied analogously to recognition, it follows that the act of recognition renders the fulfillment of the requirements for statehood in a given case decisive and definitive in relation to the recognizing state; the recognizing state cannot deny the statehood and international personality of the recognized community at a later time. In this regard, it should be noted that, due to the absence of a centralized institution within the international community, the legal effect of recognition is limited to the relation between the recognizing and recognized state. Consequently, recognition has the legal effect of making the legal status of the recognized community as a state as a subject of international law definitive and decisive in relation to the recognizing state. If we accept that recognition by an existing state is not a requirement of a state as a subject of international law, rather it is the ascertainment of the existence of the concerned requirements, it follows that recognition is an act of applying the rules of international law concerning the requirements for statehood. Existing states should therefore address the issue of recognition in good faith whenever they intend to engage directly in relation with a new community. Otherwise, the raison d’être of the rules of international law concerning the requirements of a state as a subject of international law will be undermined. That said, this does not necessarily imply that positive international law, in principle, imposes a legal duty on existing states to immediately recognize any community that satisfies the conditions of statehood. Existing states have a legal duty to grant explicit or tacit recognition to a community only when they consider that it satisfies the requirements for statehood, and, furthermore, only when they intend to establish direct relations with it. So far I have argued that, in view of the decentralized structure of the international community, state recognition under the now predominant view refers to the legal act of ascertaining the fulfillment of the requirements for statehood. At the opposite end
9 Kelsen, Hans: Recognition in international law, in: American Journal of International Law 35 (1941) 608.
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of this legal act of recognition is the act of ascertaining the nonfulfillment of the relevant requirements, which could be referred to as the legal act of non-recognition. However, the terms “recognition” and “non-recognition” have not always been used consistently.10 This is especially true in state practice. “Recognition” and “non-recognition” are sometimes employed in the sense of legal recognition or legal non-recognition: to imply the act of ascertaining whether or not a given community (political power) has fulfilled the requirements for a state (government) in the sense of international law. At other times, the terms are employed in the sense of political recognition or political non-recognition: to exhibit friendly or hostile behavior toward a given community (political power) for a political purpose, regardless of whether or not it has fulfilled the requirements for a state (government) in the sense of international law. In this context, the following points should be noted: while the legal act of non-recognition (legal non-recognition) has the legal effect of rendering the nonfulfillment of the requirements for a state (government) in a given case decisive and definitive in relation to the state refusing recognition, the political act of non-recognition (political non-recognition) has no legal effect because it is not an act of ascertaining the nonfulfillment of the relevant requirements.11 Thus, when discussing the issue of recognition or non-recognition, it is necessary to first clarify and define how the terms “recognition” and “non-recognition” are used in a given case. No doubt there will be cases where it will be difficult to clarify the use of these terms, but this does not justify conflating non-recognition as a legal act with non-recognition as a political act.
III. The Relationship Between State Recognition and Conflict of Laws Unlike political recognition and political non-recognition, legal recognition and legal non-recognition, which constitute the legal act of ascertaining whether or not a given community has fulfilled the requirements for statehood, are important from the viewpoint of international law. The latter is relevant in conflict of laws, where one could face the problem of whether or not a given community has fulfilled the requirements for statehood. The conflict of laws determines which state’s law is applicable in cases containing any foreign element. Therefore, when applying the conflict of laws rules to determine the applicable law in a given case, a municipal court must first answer the question of what states exist in the world. Otherwise, it would not be able to determine which state’s law is applicable. An answer to this question would need to make recourse 10
See Kelsen (note 9) 605 – 606; Brownlie, Ian: Recognition in Theory and Practice, in: British Year Book of International Law 52 (1982) 197. 11 Kelsen stresses the need for the distinction between “the political act of recognition” and “the legal act of recognition”. Kelsen (note 9) 605 – 606.
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to the required conditions for statehood (e. g., a fixed territory, a population, and an effective government) laid down by international law. At this stage, the court faces the question as to whether a given community has fulfilled the requirements for statehood. This is the same problem that the state of the forum needs to address when deciding whether to recognize – or refuse to recognize – a given community as a state. This would give rise to the following question: How should the court treat a given community in terms of the conflict of laws rules if the government of the state of the forum has expressed legal recognition or legal non-recognition with regard to the community? In other words, should the court follow the government’s position? I argue that this question should be answered in the affirmative. As discussed above, legal recognition (or legal non-recognition) has the legal effect of rendering the fulfillment (or non-fulfilment) of the requirements for statehood in a given case decisive and definitive in relation to the recognizing state (or state refusing recognition). In other words, international law imposes a legal duty on the recognizing state to treat the recognized community as a state. Similarly, a state refusing recognition has a legal duty not to treat an unrecognized community as a state. It would then follow that the courts of the recognizing state should treat the recognized community as a state, and the courts of the state refusing recognition should not treat the unrecognized community as a state. For it is only by doing so that the aforementioned legal duty on the part of the recognizing state or state refusing recognition can be carried out. In this sense, it could be argued that state recognition under international law is closely connected with conflict of laws. However, how should the court treat a given community in terms of the conflict of laws rules if the state of the forum has not expressed a position of either legal recognition or legal non-recognition with regard to the community? Since the state has not indicated its legal position as to whether the community has fulfilled the requirements for statehood,12 the state has no legal duty in the above sense; that is, the legal status of the community is still pending in relation to the state. In this case, the courts are free to determine independently whether or not the community has fulfilled the relevant requirements. Accordingly, for example, in the case of political non-recognition where a position of neither legal recognition nor legal non-recognition has been indicated,13 the courts are free to ascertain independently the existence 12 However, as pointed out above, when considering that the community satisfies the requirements for statehood and, furthermore, when intending to establish direct relations with it, the state has to address the problem of recognition in good faith. 13 Japan’s non-recognition of North Korea could be given as a typical example of political non-recognition. According to the Ministry of Foreign Affairs of Japan, “Our country has not recognized North Korea as a state”. Jurist 1376 (2009) 322, translated from Japanese. This passage does not mean that Japan has ascertained that North Korea has not fulfilled the conditions for statehood (non-recognition as a legal act), i. e. that North Korea does not have a defined territory over which a government has effective control. It means only a declaration of unwillingness to enter into diplomatic relations with North Korea regardless of whether it has
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of the community’s statehood on the basis of the required conditions for statehood. Such a decision should be made irrespective of any hostile government policy toward the community, on the condition that there is no law to the contrary in effect in the state. In this sense, it could be argued that political non-recognition has no relation to the conflict of laws.
IV. Kegel’s View Kegel’s view on the relationship between state recognition and conflict of laws is difficult to support because it is not based on a correct understanding of state recognition in the sense of the now predominant declaratory theory. Moreover, it does not distinguish between legal recognition (or legal non-recognition) and political recognition (or political non-recognition). I would like to demonstrate these points in the following. As discussed above, in arguing that recognition and non-recognition do not affect conflict of laws, Kegel emphasizes that they serve merely political purposes. However, according to the now dominant view on recognition in international law, recognition and non-recognition are not merely political acts; but rather they are legal acts. In this section, I would like to examine the cases14 which Kegel invokes in order to justify his view. The Soviet government, which was not recognized by the French government till 1924, enacted a statute in 1918. This statute repealed the Tsarist Ukases (edicts) of August 11, 1817 and April 3, 1847 which gave various real and other property situated in Russia and belonging to Lieutenant-General Stroganoff a special status and determined their devolution by inheritance. The applicability of the said statute was disputed in the French court with regard to the devolution by inheritance of the said property. The French Cour de Cassation delivered its judgment on May 3, 1973. This judgment took into account the statute of the Soviet government, confirming that a French judge may not disregard the rules of private law enacted by the foreign government prior to its recognition – in respect of the territory over which it effectively fulfilled the requirements for statehood (non-recognition as a political act). While maintaining the policy of non-recognition of North Korea, the government of Japan nevertheless sometimes indicated in the Parliament (Diet) that it was cognizant of the fact that North Korea substantially fulfills the conditions for statehood, i. e. that North Korea had a defined territory over which a government had effective control. See 48th session of the Diet, House of Representatives, Proceedings of the Foreign Affairs Committee, No. 9 (March 26, 1965) (in Japanese) 6 – 7; 50th session of the Diet, House of Representatives, Proceedings of the Special Committee on Treaties and Agreements between Japan and the Republic of Korea, No. 3 (October 26, 1965) (in Japanese) 4; 50th session of the Diet, House of Representatives, Proceedings of the Special Committee on Treaties and Agreements between the Diet of Japan and the Republic of Korea, No. 6 (October 29, 1965) (in Japanese) 18; Proceedings of the Foreign Affairs Committee, No. 3 (October 2, 1991) (in Japanese) 22. 14 See Kegel (note 1) 10.
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exercises its authority – on the grounds that the foreign government is not recognized.15 Though it is true that the French government did not grant recognition to the Soviet government until 1924, the non-recognition in this case refers to political rather than legal non-recognition. The French government does not seem to have expressed its legal position on the question as to whether the Soviet government prior to 1924 fulfilled the conditions for government laid down by international law. In other words, there is no definite evidence that the French government ascertained the Soviet government’s nonfulfillment of the relevant conditions. In this regard, the United States government’s explanation for non-recognition of the Soviet government ought to be instructive. It states as follows: “The Department of State is cognizant of the fact that the Soviet regime is exercising control and power in territory of the former Russian Empire and the Department of State has no disposition to ignore that fact.” “The refusal of the Government of the United States to accord recognition to the Soviet regime is not based on the ground that that regime does not exercise control and authority in territory of the former Russian Empire, but on other facts.”16
The non-recognition of the Soviet government here should be understood not as legal act of non-recognition, but rather political act of non-recognition. The statement shows that the United States government is cognizant of the fact that the Soviet regime substantially satisfied the requirements for a government in the sense of international law. However, as observed above, political non-recognition has no legal effect. Consequently, the French judges were left to decide for themselves whether the Soviet government fulfilled the conditions for a government prior to 1924. By answering in the affirmative, they took into account the statute of the Soviet government. The following excerpt from the above judgment of the Cour de Cassation would support such an interpretation: “Mais attend que, tant par motifs propres que par motifs adoptés, la Cour d’appel énonce, à bon droit, que le défaut de reconnaissance d’un gouvernement étranger ne permet pas au juge français de méconnaître les lois de droit privé édictées par ce gouvernement, antérieurement à sa reconnaissance, pour le territoire sur lequel il exerçait effectivement son autorité.”
The words “pour le territoire sur lequel il exerçait effectivement son autorité” seem to denote the Cour de Cassation’s judgment that the foreign government in question had established effective control over the territory; that is, it satisfied the conditions for a government laid down by international law. The other case invoked by Kegel is as follows. The 1950 marriage act of the People’s Republic of China was applied by a German court before Germany recognized the People’s Republic of China.17 In this case also, the German government not recognizing the People’s Republic of China should be understood not as legal non15
Revue critique de droit international privé 1975, 426, Note by Loussouarn, Yvon. New York Reports 262 (1933) 224. 17 Krüger, Hilmar (ed.): Gutachten zum internationalen und ausländischen Privatrecht 1972, Nr. 26. 16
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recognition, but rather merely political non-recognition. It does not seem that the German government expressed its legal position on the question as to whether the People’s Republic of China fulfilled the conditions for a state (government) required by international law at that time. In other words, there is no definite evidence that the German government ascertained the People’s Republic of China’s nonfulfillment of the relevant conditions.18 The discussion in this section shows that the cases invoked by Kegel are related only to political non-recognition, which in itself has no legal effect and, accordingly, bears no relation to international law.
V. Summary and Conclusion The terms “recognition” and “non-recognition” can have two entirely different meanings: they can refer to a legal act or a political act. Today’s predominant view in the literature seems to explain recognition in international law principally as the legal act of recognition. Indeed, it is the legal act of recognition that is important from the viewpoint of international law. However, in state praxis, “recognition” and “non-recognition” have on occasion also been used to denote the political act of recognition and non-recognition. Kegel seemed to mainly have political non-recognition in mind when he argued that courts can apply the law of the unrecognized state (government). Political non-recognition, however, is immaterial from the viewpoint of international law because it has no legal effect. The relationship between state recognition and the conflict of laws could therefore be set out as follows. Legal recognition is the ascertainment of a given community (political power) fulfilling the requirements for statehood (government), and legal non-recognition is the ascertainment of a given community (political power) not yet fulfilling these requirements. Under the decentralized structure of the international community, legal recognition and legal non-recognition have the same character as the ascertainment of a legally relevant fact (fact finding) by a court under municipal law. This means that they have the legal effect of definitively and decisively determining the existence or nonexistence of a state (government) under international law in relation to the state according or refusing recognition. It then follows that the courts of the recognizing state should treat the recognized community (political power) as a state (government) and apply its law, and the courts of the state refusing to accord recognition to a given community (political power) on the ground of its nonfulfillment of the conditions of statehood (government) should not treat it as a state (government) and should not apply its law. In treating the community (political power) in this way, the court is appropriately performing the legal duty arising out of the state affording legal 18 This is also true of the Japanese government’s attitude toward the People’s Republic of China at the time of the Treaty of Peace between Japan and the Republic of China. See Taki (note 8) 89 – 97.
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recognition or legal non-recognition.19 In this sense, it could be argued that the recognition of states or governments under international law is closely connected with conflict of laws. However, if the state of the forum has granted neither legal recognition nor legal non-recognition, i. e. it has not expressed its legal position as to whether a given community (political power) has fulfilled the requirements for statehood (government), the courts are free to ascertain independently whether the requirements have been fulfilled in a given case. In this sense, it could be argued that political non-recognition has no connection with the conflict of laws.20 It was merely this political non-recognition that Kegel actually had in mind when he argued that recognition bears no relation to conflict of laws, and that courts may apply the law of an unrecognized state (government).
19 This position results from an axiomatic principle that a state should in good faith perform an obligation arising under international law. 20 The distinction between political and legal non-recognition does not correspond to the distinction “between passive and active non-recognition” drawn by Nedjati, Zaim M., Acts of Unrecognised Governments, in: International and Comparative Law Quarterly 30 (1981) 413.
A Legal Reform for Small Public Interest Associations in Japan By Ken’ichi Tanaka
I. Introduction Over the past two decades, businesses implemented voluntarily for public interest by small associations in the private sector have become increasingly important due to changes in Japan’s social and economic situation. Two great earthquakes were especially significant turning points. Many small associations were founded to promote restoring and reconstructing areas affected by the Great Hanshin Awaji-Earthquake (Kobe) in 1995 and grew to lead relief activities in response to the Great Higashi Nihon-Earthquake (East Japan) in 2011 by cooperating with the public sector. As a result, victims of the disasters, as well as non-victims, came to recognize their tremendous efforts and importance. Under these circumstances, Japanese private laws relating to small public interest associations have been reformed. In the past, small associations seemed to be at a disadvantage with few opportunities to incorporate. The legal reform, however, created two legal forms appropriate for small associations, which are Specified NonProfit Corporations and General Incorporated Associations. This legal reform promoted small public interest associations’ activities and, therefore, numerous small associations were founded in a short period of time. The governance of small associations, however, was not sufficiently considered. In order to promote the small associations’ activities, the newly created private laws relating to small public interest associations followed a laissez-faire approach. Multiple scandals, such as the large-scale losses on derivatives by private universities and the Japan Sumo Organisations’ involvement with organized crime and fixing bouts, caused the loss of faith in nonprofit governance. Although the named organisations involved in scandals are large, this issue cannot be ignored so far as small associations are concerned. The purpose of this article is to explain the changing circumstances affecting small public interest associations in Japan before and after the two great earthquakes (Chapter II.) and the reform of laws regarding these associations over the past two decades (Chapter III.). Moreover, a method of good governance specifically for small associations is suggested (Chapter IV.).
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II. Small Public Interest Associations in Japan 1. Japanese Pioneers of Small Public Interest Associations One of the most significant Japanese pioneers of small public interest associations was the type of association established by people living in a particular region. After World War II, these local associations were created in nearly every town and village. Their principal objective was to operate businesses that benefited their “local” community, such as local cleaning projects, preparing festivals at their local shrine respectively temple, or activities that benefited local children1 (e. g. coaching sports, camping during summer vacation). The role of such associations did not fulfill the role of social services, and their activities were focused on their own interest. They seldom acted to protect human rights nor did they address social injustices; however, these issues are focal activities for modern public interest associations. Considering that these associations were comprised of local members, it is only natural that they were limited to local activities. Furthermore, even though these associations held significant influence over their local society, they did not have any influence over society as a whole. At the time, surely something no one expected was that small public interest associations would fulfill important roles as leaders for social services. In addition to their stringent focus on local interests, the “exclusiveness” of these associations led people, in the past, to misjudge the potential ability of small public interest associations. Because former small non-profit associations were primarily organized by region, they seldom accepted members who lived outside their region and it was common that participation in activities was limited to members. Although there were exceptions where non-members could participate, these non-members were seldom given a warm welcome by the association’s members. At the time, people did not learn the details of activities conducted by small associations outside of their own village or town and, thus, did not compare their own activities to others. It is not hard to imagine that this situation deprived small associations of opportunities to improve their activities. People in the past may have expected small associations to continue existing in their current state. Under these circumstances, the public sector did not expect these small associations to be responsible for social services; therefore, Japanese private law did not permit them to incorporate. In accordance with civil law at that time2, non-profit3 associations for public interest could be established as an “incorporated association” 1
Local associations for children’s upbringing are called Kodomo-kai in Japan. Art. 34 of the Japanese Civil Code before 2006 reads as follows: Any association or foundation relating to any academic activities, art, charity, worship, religion, or other public interest which is not for profit may be established as a juridical person with the permission of the competent government agency. 3 As mentioned below, “non-profit” is legally defined in Japan as not distributing the organisation’s net earnings to its members, officers or directors. 2
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(shadan ho¯jin), under the condition that a relevant government agency granted them permission to do so. Although the civil law permitted these associations to incorporate, in reality, permission was seldom granted4. Reasons for not granting small associations permission to incorporate at an official level included that small associations did not have appropriate skills, enough experience, or adequate funds to provide social services. Another reason, which better reflects reality, was that small associations were deemed useless to the relevant government agency. In fact many officers at incorporated associations had been appointed through “amakudari”, which is a Japanese system of allocating posts at government-affiliated institutions to retired civil servants. Because small associations could not accept retired civil servants, they did not attract the attention of the relevant government agency. From the perspective of the public sector, small public interest associations did not seem to be important. 2. The Burst of the Economic Bubble and the Great Hanshin-Awaji Earthquake The circumstances surrounding small associations have changed slowly and steadily. The burst of the 1980’s economic bubble, however, suddenly accelerated this change. During the 1980’s, the private profit sector constituted the base of Japan’s economy and society and fueled Japan’s tremendous growth and development. In turn, increases in tax revenue secured revenue available for social services. Indeed, some people may express the view that the Japanese population believes that the public sector offers sufficient social services, but in reality this reflects an utopian vision. During the 1990’s, the level of corporate bankruptcies skyrocketed amid the collapse of Japan’s bubble economy and the prolonged economic slump ensued. The decreased tax revenue forced Japan to change its attitude toward social services and Japan required leaders to provide social services alongside the public sector. Small associations emerged as a potential answer in response to the Great Hanshin-Awaji-Earthquake in 1995. This was an unprecedented disaster5. Local government buildings and systems in areas afflicted by the disaster were damaged considerably and it was difficult to immediately restore the administrative functions of municipalities. Amidst this crisis, small local associations in areas afflicted by the earthquake volunteered. In cooperation with the public sector, the small associations led relief activities, which included patrolling, distributing water and relief supplies, providing support to the elderly and handicapped, and cleaning houses that were damaged in the disaster.
4
However, associations which have specific purpose, e. g. medical, religious, social welfare, can incorporate under special legal codes. 5 Although Japan is often considered to be a land of earthquakes, Japan did not suffer from such large, natural disasters since the Great Kanto¯-Earthquake (area around Tokyo) in 1923.
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Most notably, small local associations that led relief activities changed their attitude and began welcoming non-member participants in their activities. Considering that many of their local members were also victims of the earthquake, the small associations could not rely on their members to provide relief. Rather, the small associations required non-member participants who did not suffer from the earthquake. The small associations struggled to gather participants on their own accord and relied on the media to call on people from all over Japan to participate in their activities. Various corporations also adopted a system that permitted employees to retire temporarily, receive paid vacation, and become involved in the small associations’ activities. This resulted in many non-members, who lived outside of areas afflicted by the disaster, joining their activities. Although there were certain conflicts between members and non-members, which are discussed below, their joint activities was an overall success. Through this process, small public interest associations, which were originally an exclusive organisation, became more inclusive.
II. A New Type of Small Public Interest Associations Many people, regardless of whether or not they suffered in the disaster, applauded the activities and the small local associations, which were comprised of people living in a particular region, came to realize their own limitations. As they worked with local governments and the Japan Self Defense-Forces, which are experienced in providing various forms of relief, they recognized the necessity of incorporating such activities into their regular operations in order to efficiently cooperate with such organisations6. The small associations’ lack of experience occasionally hindered relief activities or caused animosity between victims and the associations. It should clearly be emphasized that small local associations did valuable work, but training and experience before the disaster struck would have improved their work. It is not easy, however, for small local associations to do business that is not directly beneficial to their local community. Most, if not all, association members are interested in business beneficial to their local community. On the other hand, some members actively participate in efforts for public interest, while others do not. Association members share the common interest of conducting activities, not for public interest, but for local interests. In other words, they conduct activities for their own interest. Although the small associations may engage in activities for public interest during times of disaster, we cannot expect them to engage in social services during ordinary times. This tendency especially applies to local associations where members are obligated by neighborliness to join the association.
6 Naikakufu bo¯sai tanto¯ (Cabinet Office, Disaster Management), bo¯sai bolantia katsudo¯ ni kan suru rontenshu¯ (Collection of issues regarding volunteer activities during disasters) http:// www.bousai-vol.go.jp/product/ronten_h22.pdf.
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In order to establish associations that regularly conduct social activities, it became necessary that the association be comprised of members who agree with the mission of that association, which may be, for example, supporting the elderly or handicapped, preventing crime, or protecting human rights. A small association has to make clear to its members what its mission is and what activities it engages in to accomplish its mission. For instance, an association whose mission is to support the elderly, may take the elderly to a supermarket and assist with their shopping once a week. After the Great Hanshin Awaji-Earthquake, numerous small associations that were comprised by members set to accomplish a specific mission to benefit the public through social services were founded and enthusiastically engaged in their activities. The founding of such associations was not limited to areas afflicted by the disaster but were also founded throughout Japan. Japanese society warmly welcomed these new associations. The public sector was pressured by such movements to change its attitude towards small associations and create a method for the associations to incorporate. This was the beginning of the legal reform focused on small public interest associations.
III. The Legal Reform for Small Public Interest Associations As mentioned above, there are two legal forms appropriate for small associations, which are “Specified Non-Profit Corporations” (tokutei hieiri katsudo¯ ho¯jin), commonly called NPO (Non-Profit Organisation)-Ho¯jin and “General Incorporated Associations” (ippan shadan ho¯jin). The former is regulated by the “Act on the Promotion of Specified Non-Profit Activities” (commonly called NPO-Law) enacted in 1998. The latter is regulated by the “Act on General Incorporated Associations and General Incorporated Foundations” enacted in 2006. With the enactment of this law most articles in the Japanese Civil Code relating to associations (and foundations) were deleted. 1. Specified Non-Profit Corporations a) Purpose According to Art. 2 Act of the NPO-Law, the main purpose of Specified NonProfit Corporations must match at least one of the purposes listed in the Law7 and must promote the interests of many and unspecified persons. Associations whose 7 These purposes are as follows; health, medical treatment, welfare, social education, administration of organisation, community development, sound nurturing youth, science, culture, the arts, sports, environment, vocational expertise, international corporation, promotion of economic activities, human rights, promotion of peace, community safety, information technology, equal gender participation, disaster relief, protection of consumer, tourism and others which are defined in local ordinances.
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main purpose is missionary work, promoting, supporting, or opposing political doctrine, or recommending, supporting, or opposing a certain person who is a candidate for public office are especially prohibited from incorporating. Although Art. 2 of the NPO-Law also prohibits distributing the corporation’s net earnings amongst its members, officers, or directors, this non-distribution constraint does not prohibit the corporation from profit-making businesses. According to Art. 5 NPO-Law, they are free to conduct profit-making businesses, so long as the operation of those businesses does not cause trouble and the profits from those businesses provide capital for the operation of businesses for public interest. The prevailing interpretation of “does not cause trouble” referred to in Art. 5 is that corporations should not operate any speculative transactions8, financing with high interest rates, or conduct business that could harm public policy. b) Organisation The Specified Non-Profit Corporation is required to be a membership organisation with a general assembly, three (or more) directors, and at least one auditor. The establishment of a council comprised of all its directors is not mandatory. Directors and auditors are typically appointed by a general assembly of the members, although they may be appointed through a different method given that the method is defined in the organisation’s articles of incorporation9. According to the NPO-Law, directors, auditor(s), and a general assembly are responsible for the internal governance. With exception to matters that the articles of incorporation mandate directors to decide, a general assembly meeting is permitted to adopt resolutions on all matters in accordance to Art. 14-5 NPO-Law. Because it is difficult, however, to frequently call general assembly meetings, business operations of the organisation are determined by a majority rule among the directors. Directors should establish a system that ensures all business operations of the organisation are conducted in a proper manner, although this is not clearly defined in the NPO-Law. If a council is established, the council can function to supervise its directors. According to Art. 18 NPO-Law, an auditor(s) shall audit the performance of the directors’ duties. In addition to these three organs, a secretariat is typically established (although not mandatory), which executes clearly defined activities. In practice, however, it is not uncommon, that the role that each organ fulfills is not correctly recognized or separated10.
8 As mentioned below, it was regarded as a serious problem that several private universities did speculative transactions and caused large-scale losses. 9 Tokyo chiho¯ saibansho (Tokyo District Court) Judgement of November 15, 1957, in: 8 Kakyu¯ Minshu¯ 2123 (1957). 10 Baba, Hideaki: Governance of Nonprofit Organisation: Philosophy and Truth of Monitoring by Citizen’s Initiative, in: The Journal of Community Design Studies 16 (2013).
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Adding to the internal governance, a relevant government authority supervises the Specified Non-Profit Corporations. This supervision is not regular but occurs only when necessary. Art. 41 NPO-Law specifies that when there are sufficient reasonable grounds to suspect a violation of laws, a relevant government authority may require the corporation to report the circumstances of its operational organisation and business activities, allow government officials to enter the premise, and the authority may inspect the circumstances of its operational organisation, business activities, financial books, documents, or other items. c) Establishment The following is required to establish a Specified Non-Profit Corporation: – at least ten members (a director or an auditor may become a member), – three (or more) directors and at least one auditor, – preparation of: – articles of incorporation, – a statement of the reasons for establishment, – a business plan for the first and second business year of establishment, – a budget statement for the first and second business year of establishment, – first general assembly meeting for the establishment. After fulfilling these legal requirements, a representative(s) of members has to submit an application for its establishment to the relevant government authority. Following the submission of the application, it takes two months to publicly inspect and publicise details of the application. The relevant authority examines the application for four months. According to Art. 12 Act NPO-Law, however, the relevant government authority is required to accept the establishment given that the organisation fulfills all legal requirements. In other words, the examination is perfunctory. The registration of incorporation of a Specified Non-Profit Corporation shall be completed at the location of the principal office within two weeks of the notification11. A Specified Non-Profit Corporation is formed when its incorporation is registered at the address of its principal office. d) Termination According to Art. 12 NPO-Law, a Specified Non-Profit Corporation may be dissolved when the following conditions are met: – a resolution to do so at the general assembly of members, 11
According to Art. 2 Registration Order.
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– grounds for dissolution as prescribed in the articles of incorporation, – inability to succeed in the business that is the purpose of the Specified Non-Profit Corporation, – insufficient number of members12 – a merger, – a decision to commence bankruptcy proceedings, – a rescission of the incorporation of the Specified Non-Profit Corporation by the relevant government authority.13 Ownership of residual assets shall be as prescribed by the articles of incorporation. If not, residual assets belong to the national treasury. e) Tax law There are tax exemptions for Specified Non-Profit Corporations. According to Art. 4 Corporation Tax Law, a Specified Non-Profit Corporation is liable to pay corporate tax only when it conducts profit-making businesses14. A Specified Non-Profit Corporation is liable to pay metropolitan (or prefectural) inhabitant taxes. The local government where the organisation is located may, however, establish exemptions to the inhabitant tax should the organisation meet certain criteria, such as not conducting profit-making businesses. There is also a tax exemption for donors to an “authorized” Specified Non-Profit Corporation. According to Art. 44 NPO-Law, this is a Specified Non-Profit Corporation whose operational organisation and business activity promotes public interests authorized by the relevant government authority. However, the conditions to authorize these entities are so stringent15 that few corporations (less than two percent of all Specified Non-Profit Corporations) are authorized as mentioned below. 2. General Incorporated Association a) Purpose Dissimilar to Specified Non-Profit Corporations, there are no limitations regarding the purpose of General Incorporated Associations. The principal objective of this form of association may be to operate profit-making businesses. According to Art. 11 12
This means “no members”. The aforementioned “ten members” requirement is only needed to establish the Specified Non-Profit Corporation. 13 Art. 43 NPO-Law defines the details to rescind the incorporation. 14 Art. 5 Order for Enforcement of the Corporation Tax Act defines the details of “a profitmaking business”. 15 Art. 45 NPO-Law defines the details of the standards of authorization.
A Legal Reform for Small Public Interest Associations in Japan
499
and 35 General Associations Law, however, the organisation is prohibited from distributing its net earnings to its members, officers, or directors. Similar to Art. 2 NPOLaw, these articles do not prohibit profit-making businesses. Rather, unlike a Specified Non-Profit Corporations16, a General Incorporated Association is free to conduct profit-making businesses. b) Organisation A General Incorporated Association must be a membership organisation with a general assembly and at least one director. According to Art. 60 General Associations Law, a General Incorporated Association may have a council, an auditor, or an accounting auditor as provided for in its articles of incorporation17. However, largescale General Incorporated Associations18 shall have an accounting auditor. The director, auditors, and accounting auditor shall be appointed by a resolution passed by the general assembly. The accounting auditor shall be a certified public accountant or an auditing firm. Regarding the internal governance of the organisation, the director, auditor, council, and general assembly of the General Incorporated Association share the same responsibility as their counterparts at Specified Non-Profit Corporations. According to Art. 107 General Association Law, the accounting auditor will audit the financial statements and the annexed detailed statements of the General Incorporated Association. Unlike Specified Non-Profit Corporations, a relevant government authority does not supervise a General Incorporated Association. However, if a General Incorporated Association is “authorized” by the administrative agency19, the agency may supervise the association under certain conditions. This will be mentioned below. c) Establishment The following is required to establish a General Incorporated Association: – at least two members (a director or an auditor may become a member), 16
See III. 1. a). According to Art. 61 General Associations Act, there are five possible set ups of the organisation: – a general assembly + director(s), – a general assembly + director(s) + auditor(s), – a general assembly + director(s) + auditor(s) + accounting auditor(s), – a general assembly + a council + directors + auditor(s), – a general assembly + a council + directors + auditor(s) + accounting auditor(s). 18 If the total liabilities on the balance sheet of the most recent business year exceed twenty billion yen. 19 According to Art. 3 General Association Law, the administrative agency according to this Law shall be the Prime Minister or the Prefectural Governor. 17
500
Ken’ichi Tanaka
– at least one director, – preparation of articles of incorporation (they shall be certified by a notary). After fulfilling these legal requirements, a representative(s) of directors must submit a registration application. Dissimilar to establishing a Specified Non-Profit Corporation, the representative(s) is not required to submit an application for establishment to an administrative agency. A General Incorporated Association is formed when its incorporation is registered at the address of its principal office. d) Termination According to Art. 148 Act of the General Association Law, a General Incorporated Association may be dissolved when the following conditions are met: – expiration of its duration as prescribed in the articles of incorporation, – grounds for dissolution as prescribed in the articles of incorporation, – a resolution to do so at the general assembly of members, – insufficient number of members – a merger, – a decision to commence bankruptcy proceedings, – a court ruling that orders dissolution.20 Ownership of residual assets shall be as prescribed by the articles of incorporation. If not, residual assets belong to the national treasury. e) Tax law There is a tax exemption for General Incorporated Associations if they meet criteria to be a “non-profit type”. An association of this type shall be taxable only where it conducts profit-making business. According to Art. 2 Corporation Tax Law, this type of General Incorporated Association must fall under one of the following items: – a corporation whose purpose is not to obtain profits from its business or distribute any of the obtained profits and whose organisation operates within the framework permitted by the respective Cabinet Order, – a corporation that utilizes membership fees received from its members and conducts its business to obtain a profit common to the said members and whose organisation to operate the business is specified by the respective Cabinet Order as being proper.
20
Art. § 261 General Association Law defines the conditions of a dissolution order.
A Legal Reform for Small Public Interest Associations in Japan
501
However, even this non-profit type of General Incorporated Associations is liable to pay metropolitan (or prefectural) inhabitant tax. The local government where an association is located does not typically establish exemptions for the General Incorporated Association’s inhabitant tax. A public interest association, which is authorized by the administrative agency21, shall be taxable only where it conducts a profit-making business. The local government where the organisation is located may occasionally establish exemptions to the inhabitant tax should the organisation meet certain criteria. There are also tax exemptions for donors of a public interest association.
IV. A New Problem – Governance of Small Public Interest Associations 1. Confidence in the Governance of Small Public Interest Associations The aforementioned law reforms promoted small public interest associations’ activities and numerous small associations were accordingly established in a short period of time. The governance of small associations, however, was not sufficiently considered. Public confidence in Japanese corporate governance has recently been rattled by incidents that include large embezzlements by the Daio Paper founding family and accounting fraud to cover up tremendous losses on financial products at Olympus. Such cases have caused serious concern over Japanese corporate governance. The problem is, however, not limited to the governance of profit corporations. Scandals, such as the large-scale losses on derivatives by many private universities and the Japan Sumo Organisation’s involvement with organized crime and fixing bouts, have also caused a loss of faith in non-profit governance, which include small public interest associations. 2. What are Governance Principles? In order to establish good governance, it is important to clarify the association’s governance principles. Clarifying the principles serves as a reference for persons re21 This authorization is called the “Public Interest Corporation Authorization”. The Law on Authorization of Public Interest Incorporated Associations and Public Interest Incorporated Foundations defines the standards and process of this authorization. It is notable that to the extent necessary for ensuring suitable operations of business by public interest corporations, the administrative agency may require the public interest corporation to: – report the circumstances of their operational organisation and business activity, – allow agency employees to enter the office of said public interest incorporated association to inspect the circumstances of its operational organisation and business activity, financial books, documents, or other items or to question concerned persons.
502
Ken’ichi Tanaka
sponsible for overseeing the association’s governance. One such governing principle is the consideration of benefits that “organisation-owners” receive. The majority of Japanese profit corporations are stock companies that have the clear governing principle of maximizing its shareholders’ wealth. The shareholders are the owners of the company. Being a shareholder implies that they contribute capital to the company and, in exchange, have the rights to elect the board of directors and to receive dividends of surplus profits and distribution of residual assets. If their company fails, they loose their investments. Those entrusted with corporate governance, therefore, oversee the management of the corporation with a focus on benefits to the shareholders. Dissimilar to a profit corporation, however, small public interest associations do not have a clear defined “owner” and, therefore, benefits to the owners cannot be included as a governance principle. Both Specified Non-Profit Corporations and General Incorporated Associations are legally forbidden to distribute surplus earnings and residual assets to its members. Thus, members of a small public interest association are not “owners” of the association. 3. Governance from the Perspective of Public Good Many people argue that benefiting the “public good” is an obvious starting point for creating good governance at small public interest associations. According to legal frameworks, “public good” is considered one of the most significant benchmarks for evaluating small association activities. The problem is, however, that the concept of public good is far too abstract to serve as a governance principle. Because a “public good” is not clearly defined, those entrusted with governance do not have a specific reference from the perspective of public good to supervise the association. This results in the failure of relevant authorities and administrative agencies from appropriately overseeing the small associations. Some contend that this is not a serious situation, but considering that small associations are eligible to receive preferential tax treatment, it is in fact a serious issue. Oversight of the association’s management will not be executed sufficiently so long as “public good” remains the association’s governance principle. This situation will aggravate concerns regarding small association governance, which is compounded by such aforementioned scandals. We should, therefore, launch an effort to seek a new, clearly definable governance principle instead of relying on an old, obscure principle such as “public good”. 4. An Emphasis on Donor Expectations In order to establish good governance, governance principles that are clearly for the “public good” have to be identified. The United States experiences provide a hint. Non-Profit organisations have played significant roles in U.S. society since the early
A Legal Reform for Small Public Interest Associations in Japan
503
17th century. Early settlers built schools and churches to maintain public welfare and gave of their time and property to support these communal efforts. There have been, however, occasional scandals in the context of non-profit management where donors’ good intentions were squandered and wasted. This resulted in a shift in cognition towards donations. This is to say that donations became recognized as a contract that actualizes the social/public benefits that the donors expect. There is, in fact, a judicial precedent reflecting this thought. This legal case ruled against a non-profit organisation that had received donations from a donor and engaged in an action that was expressly against the will of the donor. The non-profit organisation was ordered to return the donation to the donors for breach of contract22. This case from the United States demonstrates that donor expectations were highly valued. The emphasis on donor expectations is a valid suggestion for governance of small public interest associations in Japan23. Compared to the Americans and British, Japanese are known to be less active in providing donations. Nonetheless, Japanese society has recently been donating over one trillion yen per year. Furthermore, even though Japanese small associations traditionally financed themselves by selling products or offering services at a cost, they have begun to rely on fundraising activities. Currently, small associations receive approximately 30 % of their funding through donations. Japanese donors seldom specify how their donations should be used. Even when donors did specify the use, they would rarely confirm whether the recipient associations actually used their donations for the stated purpose. In other words, while Japanese people and corporations are becoming increasingly proactive with providing donations, they are not particularly interested in how their donations are used. In fact, there are few cases in which donors sue the recipient concerning the use of donations. Some may claim that Japanese donors are less interested in how their donations are being used because small public interest associations in Japan rarely engage in activities that are considered problematic to society and, therefore, it is not necessary for donors to specify how their money is used. In light of truly inappropriate practices, such as fixing Sumo bouts, however, it has become impossible to retain unquestionable faith in the activities of small associations.
22
First Presbyterian Church v. Dennis, 178 Iowa 1352, 161 N.W. 183 (1917); Congregation B’Nai Sholom v. Martin, 382 Mich. 659, 173 N.W.2d 504 (1969); Floyd v. Christian Church, 296 Ky. 196, 176 S.W.2d 125 (1943). 23 This point of view is shared in Germany too. See von Hippel, Thomas: Nonprofit Organisations in Germany, in: Hopt, Klaus J./von Hippel, Thomas (ed.), Comparative Corporate Governance of Nonprofit Organizations, Cambridge u. a. 2010, p. 197, 213.
504
Ken’ichi Tanaka
5. Taking the Lead in Non-Profit Governance Donors are increasingly expressing the purpose of their donation and simply giving money is not enough to contribute to society. Both recipients and donors must express their intent, and donations should be treated as a contract between the donor and recipient. Profit organisations and commercial corporations in Japan should take the initiative to change the concept of donations and to establish good governance for the following two reasons. Firstly, corporations are the major donors to non-profit organisations in Japan. Of the one trillion yen in annual donations – mentioned above – approximately half is donated by corporations. While personal donations at the individual level are common in the U.S. and the U.K., donations at the corporate level comprise a large share of non-profit organisations’ financial base in Japan. Therefore, corporations could and should play a significant role in reforming the method of donations in Japan. Another reason is that giving the usage of donations due consideration leads to enhancing “corporate” governance. As mentioned above, Japanese corporations are proactive in their contribution to non-profit organisations. Simultaneously, corporations have the clear governing principle of maximizing its shareholders’ wealth. Considering that contributing to small associations reduces benefits available to distribute to the company’s shareholders, the donating corporations are required to adduce reasons that support their donations. This implies that donating corporations should not give donations to small associations that have spent previously donated money rashly or against the donors’ intentions, even if the money spent was from donors other than the donating corporation. If corporations donated to rash, undisciplined associations instead of distributing benefits to their shareholders, the corporation would be heavily criticized for insufficient governance.
V. Conclusion Circumstances surrounding small public interest associations have changed dramatically over the past two decades. The catalyst of this change were the two great earthquakes, which led to legal reforms for small associations by enacting the “Act on Promotion of Specified Non-Profit Activities” and the “Act on General Incorporated Associations and General Incorporated Foundations”. Although these two laws promoted activities for small associations, scandals involving non-profit organisations caused a loss of faith in non-profit governance. In order to create non-profit governance, it is important to establish clear governance principles that provide specific criteria for overseeing small associations. Emphasizing donor expectations should be one of these principles. In Japan, neither donors nor recipients have focused their attention on the will of the donors. With confidence in non-profit governance eroding the cognition towards donations must be altered and Japanese corporations should take the initiative in establishing good governance for non-profit organisations.
Verzeichnis der Schriften von Prof. Dr. Dr. h.c. Koresuke Yamauchi Monographien (1)
Reception av västeuropeisk rätt och den recipierade utländska rättens funktion i Japan (Rezeption westeuropäischen Rechts und Funktion des rezipierten ausländischen Rechts in Japan), Lund 1984, 33S. —
(2) —
(3)
— —
2001 324S. 2001 430S.
(4)
2003 382S.
(5) (6)
1988 292S.
Das globale Internationale Privatrecht im 21. Jahrhundert – Wendung des klassischen Paradigmas des IPRs zur Globalisierung –, Christian Tietje/Gerhard Kraft (Hrsg.), Beiträge zum Transnationalen Wirtschaftsrecht, Heft 88 (Institut für Wirtschaftsrecht, Forschungsstelle für Transnationales Wirtschaftsrecht, Juristische und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg), Halle Juni 2009, 19S. 1
(7)
2011 319S.
(8)
Japanisches Recht im Vergleich, Tokyo 2012, 438S.
(9)
21
2012 360S. 2
(10)
2016 657S. 2016 351S.
(11) 3
(12)
2017 Herausgeberschaft
(1)
Beiträge zum japanischen und ausländischen Bank- und Finanzrecht 1988 233S.
(2)
1998 zusammen mit:
260S.
(3)
2000 zusammen mit:
582S.
2002 zusammen
(4)
APEC mit:
(5)
Probleme des deutschen, europäischen und japanischen Rechts—Festschrift aus Anlass des 20-jährigen Bestehens der Partnerschaft der Westfälischen-Wilhelms-Universität Münster und der Chuo-Universität Tokio auf dem Gebiet der Rechtswissenschaft— Duncker & Humblot, Berlin 2006 zusammen mit: Bernhard Großfeld/Dirk Ehlers/Toshiyuki Ishikawa
(6)
308S.
2007 395S. zusammen mit:
506
Verzeichnis der Schriften von Prof. Dr. Dr. h.c. Koresuke Yamauchi 20 2007 522S. zusammen mit:
(7)
—
(8)
— 2008 125S.
(9)
25 Meilensteine im Internationalen Privat- und Wirtschaftsrecht—Festgabe für Bernhard Großfeld und Otto Sandrock— 2014 436S. zusammen mit: F
(10)
—Wissenschaftsfamiliäre Festgabe für Heinrich Menkhaus 2016 158S. zusammen mit: Lehr- und Lernbücher 1983 129S.
(1) (2)
69
1985 197
1992 157S.
(3)
1992 296S.
(4) 1993 270S.
(5) (6)
130
1994 207
(7)
1997 182S. zusammen mit:
(8)
1998 163S. zusammen mit:
(9)
1999 zusammen mit:
(10) (11)
2000 222S. zusammen mit:
(12)
2 2
298S.
2002
CD-Rom2002 zusammen mit:
(15) (16)
2001 151S.
2001 164S. zusammen mit:
(13) (14)
171S. 1999 285S.
3
319S.
2006
2007 395S. zusammen mit:
(17) [
(18)
]
2010 254S.
2012 455S.
(19) Übersetzungen (1) (2)
—
1982 396S. 1989 564S.
—
— —
Verzeichnis der Schriften von Prof. Dr. Dr. h.c. Koresuke Yamauchi (3)
1990 462S. F 1995 334S.
(4) (5) (6)
507
1995 131S. 1996
278S.
(7)
2
1999 328S. F
(8)
—
2002 208S.
(9)
2003 172S.
(10)
2004 376S.
(11)
—
2005 160S.
(12)
—
2007 184S.
(13)
—
(14)
2008
—
2008 256S.
(15)
II—
2013 184S.
(16)
—
2016 Oberaufsicht der Übersetzungen
1992
(1) (2)
1995 Abhandlungen, Kommentierungen und Sonstiges [A]= Abhandlung, [M]= Materialien, [R]= Rezension, [U]= Urteilsanmerkung, [Ü]= Übersetzung, [S]= Sonstiges
2017 4
(1) [S] (2) [Ü] 2017 (3) [A]
21
—
2017 4
—
508
Verzeichnis der Schriften von Prof. Dr. Dr. h.c. Koresuke Yamauchi
(4) [A] (5) [A]
2008
—2
2008 123 7
—1
(6) [S]
123 8 89 124
News Letter 52
— —
2017 2 3
717 741
45
2016 (1)
[A]EU
(2)
[A]EU
(3)
[A]
(4)
[A]EU
(5)
[A]
(6)
[A]
(7)
[A]
(8)
[A]EU
2014
—2
2014
—1
2016 521 562
122 11 12
122 9 10
—
— — —Wissenschaftsfamiliäre Festgabe für
Heinrich Menkhaus 2016 1 55
— 2014 — —Wissenschaftsfamiliäre Festgabe für Heinrich Menkhaus 2016 75 122 2
—(2
65 105 (9)
— 2016 145 194
“
)
” 2
—
2
583 651
2014
1 8 151 256
—
—2 —
—2015
2016
[Ü] 2016
(10) [Ü]
1934
2004
—
—
2016 (11) [Ü] 2016 2015 (1) [A]
—
122 1 2
—
2015 855 910
Verzeichnis der Schriften von Prof. Dr. Dr. h.c. Koresuke Yamauchi (2) [A] 2015 29 58
— 121 11 12
—
1
4
509 2
2014 (1) [A] 121 7 8
—
2014 403 432 —
(2) [A] 120 9 10
—1 —1 2014 707 732
(3) [A]
25 —Meilensteine im Internationalen Privat- und Wirtschaftsrecht — Festgabe für Bernhard Großfeld und Otto Sandrock— 2014 3 20
(4) [A]
—
—
25 —Meilensteine im Internationalen Privatund Wirtschaftsrecht—Festgabe für Bernhard Großfeld und Otto Sandrock— 2014 277 386 (5) [A]Rechtsmärchen in Österreich und Japan, Schweighofer/Handstanger/Hoffmann/Kummer/Primosch/Schefbeck/Withalm (Hrsg.), Zeichen und Zauber des Rechts—Festschrift für Friedrich Lachmayer—, Editions Weblaw, 2014 S. 77 – 87. (6) [S]
113 3
2014 201 202 65 6
(7) [S] Hakumon 238 2014 (8) [S] jp/aboutus/communication/hakumon/2014_04/
2014 32 33 42 43 http://www.chuo-u.ac.
2013 (1) [A]Aufgabe der Weltjuristen im 21. Jahrhundert, SCHLAGLICHTER 12 (2012/2013), S. 3 – 9. (2) [A]
—
715 785
120 1 2
—
65 6
(3) [S]
2013 2013 32 33
2012 (1) [A] 301 (2) [U]62 (3) [U]68 (4) [S]
—1
—
119 5 6 1992.9.25
185
2012 239
2012 126 127 1995.10.9 64 6
185
2012 138 139
2012 41 42
510
Verzeichnis der Schriften von Prof. Dr. Dr. h.c. Koresuke Yamauchi
(5) [Ü] II
2012 1 62
—
(6) [Ü] 2012 63 108
—
II
2011 — — Kookmin Finance Law Review Festschrift für Won Ho Lee zum 65. Geburtstag Finance Law Institute, Kookmin University, Seoul, Korea 2011 27 60
(1) [A]
(2) [A]
—
— 2011 191 240
— — Future of Comparative Study in Law: The 60th anniversary of The Institute of Comparative Law in Japan, Chuo University 2011 907 979
(3) A
—
(4) [A]
— 2011 35 80
(5) [A] —
118 3 4
—
2011 933 1044
(6) [A]Vorgehensweise bei der “Rechtsvergleichung”—zur strukturellen Analyse des Hand1 lungsverlaufs bei der “Vergleichung”— 2011 207 245 (7) [R]Christian Tietje (Hrsg.), Internationales Wirtschaftsrecht 20 2011 271 275 s2010 9 22 (8) [S] “Europäisches Gesellschaftsrecht: Grenzen der Niederlassungsfreiheit und Entwicklung europäischer Gesellschaftsformen” News Letter 42 2011 5 (9) [Ü]
—
D
D
— 2011 19 45
2010 (1) [A]Gesellschaftsstatut und Durchgriffshaftung in der internationalprivatrechtlichen Gerichtspraxis Japans, ZVerglRW (Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft; Archiv für Internationales Wirtschaftsrecht) Band 109 (2010) Heft 1, S. 42 – 75 (2) [S]12
[
2010 26 28
(3) [S]37 2010 82 83
[
] ]
Verzeichnis der Schriften von Prof. Dr. Dr. h.c. Koresuke Yamauchi
511
[
(4) [S]38 2010 84 85 [
(5) [S]39 2010 86 87
] [
(6) [S]40 2010 88 89 62 6
(7) [S]
News Letter
(8) [S]
]
]
2010 11 40
2010 4 6
2009 (1) [A] —
—
116 11 12
(2) [S]
5
— 2008
2009 721 774 —
2009 257
2008 (1)
[A]Brücke und Rechtskultur – Zugleich Dankesrede für die Verleihung der Festschrift Japanischer Brückenbauer zum deutschen Rechtskreis –, Japan-Zentrum: Philipps-Universität Marburg, Occasional Papers No. 33: Akademische Feier aus Anlaß der Überreichung der Festschrift Japanischer Brückenbauer zum deutschen Rechtskreis an Prof. Dr. YAMAUCHI Koresuke am 2. Mai 2007, Alte Aula der Philipps-Universität Marburg, Juni 2008, S. 19 – 37.
(2)
[R]Philip Kunig/Makoto Nagata, Deutschland und Japan im rechtswissenschaftlichen Dialog, Verfassung und Recht in Übersee (VRÜ), Law and Politics in Africa/Asia/ Latin America, 41. Jahrgang (2008) Heft 2 (Nomos) S. 255 – 262
(3)
[S]2007 4
(4)
[S]
2007
2008 1 zusammen mit:
— 2008 116 123 (5)
[S]
(6)
[S]
(7)
[S]
(8)
[S]
(9)
[S]2008
(10) [S]
— 126
ii
214
hh
2008 14 15 2007
2008 314
2009 2008 4 60 6 5
2008
20
(11) [Ü] 2008 97 125
2008 629
2008 23
2008 11 1 zusammen mit:
512
Verzeichnis der Schriften von Prof. Dr. Dr. h.c. Koresuke Yamauchi
(12) [Ü] 2008 1 55 (13) [Ü] 2008 139 177 —
(14) [Ü] —
2008 179 238
2007 (1)
[A]
—
— (2)
[A]
”
—
(3)
[A] 20
(4)
[U]62
(5)
[U]68
(6)
[A] —
(7)
[S]2006
(8)
[S]
(9)
[S] —JUAA38
2007 409 427 —
—20
1992.9.25 185 2007 126 127 1995.10.9 185 2007 138 139
[ 2 ]
—
2006
2007 3 79
2007 1 zusammen mit: 8
2006
2007 254 —
2007 4
19
2007 24 2003
(11) [Ü] 27 55
20
2007 475 504
[ 2 ]
3
20
2007 351 389
—
—
(10) [S]
“
2201
20
2007
(12) [Ü] 2007 81 104 (13) [Ü] 2007 105 132 (14) [Ü] 2007 133 163
— 20
20
20
Verzeichnis der Schriften von Prof. Dr. Dr. h.c. Koresuke Yamauchi
513
1934 4
(15) [Ü] 22 —2004 12 30 20
2007 393 407
(16) [Ü]
20
2007 431 473 (17) [Ü] 2007 55 73 (18) [Ü]
2007 75 111 (19) [Ü] 2007 113 158 2006 (1)
[A] [ 3 ]
(2)
[A]
2006 283 310
2006 627 702
—
—
112 11 12
(3)
[A]Kultur, Recht, Rechtskultur, Freundeskreis Rechtswissenschaft SCHLAGLICHTER 5, Ansprachen und Reden an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät Münster im Akademischen Jahr 2005/2006, Münster 2006, S. 79 – 98.
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(5)
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(6)
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(7)
[S] 192
(8)
[S]2005
(9)
[S]
(10) [S]
2
3
2006 41 2005
2006 1 zusammen mit: 7
2005
2006 244 58 6
2006 18 19
514
Verzeichnis der Schriften von Prof. Dr. Dr. h.c. Koresuke Yamauchi
2005 “ ” 111 9 10
—
(1)
[A]
(2)
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(3)
[S]
(4)
[S]
—(1)
2005 1 39
2005 64 65 2
(5)
[S] 124 125
(6)
[S]
(7)
[S]
(8)
[S] 280 281
(9)
[S]
2005 122 123 2
2005 2
2005 125 2
2005 201 2
2
2005 2005 316 317
(10) [R]Oliver Remien, Zwingendes Vertragsrecht und Grundfreiheiten des EG-Vertrages 14 2005 242 245 (11) [S]2004
2004
2005 4 zusammen mit:
(12) [S]Nationality of a Corporation and Diplomatic Protection for Corporations in International Law, The Japanese Annual of International Law, Vol. 47 2004 [2005], 298 – 299. (13) [S] 57 5 (14) [S]
2005 4 5
Hakumon
247 —
— — I II 2005 51 53
2005
(15) [Ü] 2005 1 26 (16) [Ü] 2005 27 60 (17) [Ü] 2005 61 97 (18) [Ü] 2005 99 135 2004 (1)
[A] —(3
)
“ 111 1 2
” 2004 41 105
—
Verzeichnis der Schriften von Prof. Dr. Dr. h.c. Koresuke Yamauchi
515
(2)
[A]Was ist Japanisches Recht?, Bork/Hoeren/Pohlmann (Hrsg.), Recht und Risiko: Festschrift für Helmut Kollhosser, Band II Zivilrecht, 2004 Karlsruhe, S. 799 – 810.
(3)
[A]Der Schutz ausländischer Geschädigter beim Straßenverkehrsunfall in der japanischen Gerichtspraxis—Ein Thema im Spannungsfeld von Recht und Kultur —, Mansel/Kronke/Hausmann/Kohler/Pfeiffer (Hrsg.), Festschrift für Erik Jayme, München 2004, S. 1011 – 1023.
(4)
[A]Gegenwärtiger Stand des japanischen Bankenaufsichtsrechts—Ein Beispiel für Unternehmen im Spannungsfeld zwischen Marktfreiheit und staatlicher Inpflichtnahme—, Blaurock/Schwarz (Hrsg.), Unternehmen im Spannungsfeld zwischen Marktfreiheit und Staatlicher Inpflichtnahme (Berichte in der Fachgruppensitzung für Handels- und Wirtschaftsrecht der Deutschen Gesellschaft für Rechtsvergleichung vom 17. bis. 19. September 2003 in Dresden), EUROPARECHT Beiheft 2/2004 (Baden-Baden), S. 61 – 77.
(5)
[U]60
(6)
[U]66
(7)
[R]
(8)
[S]
1992.9.25 2004 122 123 172
1995.10.9 2004 134 135 103 1
SCJ
69 (9)
172
[S]
JUAA32
2004 131 134
2004 3
2004 68
2004 3 56 6
(10) [S] (11) [S]
2005
2004 15 16 2004 50 51
2003 36
(1)
[A] 2003
(2)
[A]
(3)
[A]
(4)
[A]
(5)
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(6)
[R]Eva-Maria Kieninger, Wettbewerb der Privatrechtsordnungen im Europäischen Bin12 2003 223 226 nenmarkt
(7)
[S]
(8)
[S]
—(1)
“ 109 5 6
—(2)
“ 110 5 6
”
—
” 2003 1 37
1999 3 9 2003 101 144
“ —
2003 469 500
— ” 109 11 12
—
2003 418 426 SCJ
2003
64
2003 90 92
516 (9)
Verzeichnis der Schriften von Prof. Dr. Dr. h.c. Koresuke Yamauchi 109 11 12
[S] 1 3
2003
(10) [Ü] 2003 79 104 (11) [Ü]
2003 131 158
2002 (1)
[A]
(2)
[A]
—
— 2002 441 489 — 2002 21 38
(3)
[A]
(4)
[A] ]
(5)
[A]
(6)
[S]
510
APEC
2002 34 46 [
2002 264 288 1100
2002 68 70
Loseblatt
2002 1700 25 1700 32
31 32
(7)
[R]Martin Franzen, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft 11 2002 176 179
(8)
[S]
—
2002 13 16 (9)
—
6 21
[S]
83 49
2002 68 69
1 F
(10) [Ü] 2002 1 42 (11) [Ü]
F
2002 57 85
(12) [Ü] F
2002 149 184
2001 (1)
[A] —
(2)
[A]
107 9 10
2001 — 7
—
2001 143 166
—
Verzeichnis der Schriften von Prof. Dr. Dr. h.c. Koresuke Yamauchi (3)
[A] 2001 127 186
—
517
—
108 5 6 [
2 ]
[
2 ]
(4)
[S]9
(5)
[S]10
(6)
[S]16 2001 35 37
[
2 ]
(7)
[S]19 2001 42 43
[
2 ]
(8)
[S]20 2001 44 45
[
2 ]
(9)
[S]21 2001 46 47
[
2 ]
(10) [S]27 2001 58 59
[
2 ]
(11) [S]28
2001 18 20 — 2001 21 22
[
2001 60 61
2 ]
(12) [S]29 2001 62 63
[
2 ]
(13) [S]30 2001 64 65
[
2 ]
(14) [S]36 2001 76 77
[
2 ]
(15) [R]Yuko Nishitani, Mancini und die Parteiautonomie im internationalen Privatrecht, 100 2 2001 67 70 (16) [S]Professor Kunishige SUMIDA—seine Person, Personalität und Persönlichkeit— 23 2001 6 7 53 6
(17) [S] 401
(18) [S] —
(19) [S] (20) [Ü]
2001 13
2001 3 —
2001 8
D 2001
D
1 17 2000 (1)
[A]
(2)
[A]
— —
“
” 106 9 10 “
99 2
— 2000 33 75 ” 2000 1 32
—
518
Verzeichnis der Schriften von Prof. Dr. Dr. h.c. Koresuke Yamauchi — 2000 117 135
(3)
[A]
(4)
[A]
(5)
[S]Japan, in: Bergmann/Ferid/Henrich (Hrsg.), Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, Loseblatt (2000), 57S., insb. S. 10 – 21 (Staatsangehörigkeitsrecht) (zusammen mit: Heinrich Menkhaus/Fumihiko Sato)
(6)
[A]Staatshaftung für Kriegsgeschädigte im japanischen Internationalen Privatrecht, Berger/Kühne/Großfeld/Ebke/Elsing (Hrsg.), Festschrift für Otto Sandrock, Heidelberg 2000, S. 1057 – 1064.
(7)
[A]Vorgeschichte des Internationales Eherechts in Japan, Jayme/Schwab/Gottwald (Hrsg.), Festschrift für Dieter Henrich, Bielefeld 2000, S. 657 – 666.
(8)
[S] 2000
(9)
[S]
(10) [S]
—
2
— 34 3
—
1 344 346
2000 2000
(11) [S]
2000 1 36
7 23 24 7 87 88
2000
(12) [R] 52 4
7 88
j 2000 62 63
k
(13) [R]Horst Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, Möglichkeiten und Grenzen der öko9 2000 166 169 nomischen Analyse des Rechts, (14) [R]j
k
—
—l
51 8
(15) [S]
2000 140 141 —
98 6
2000vol.1
—
—
— 2000 70 113
FD
—
52 6
(19) [S] (20) [S] (21) [S]
— 2000 110
2000 12 13
54 —1 2
52 3
— 2000 118 119
2000 18 19
Verzeichnis der Schriften von Prof. Dr. Dr. h.c. Koresuke Yamauchi
519
1999 (1)
[A]Zur Anwendung ausländischer unselbständiger Kollisionsnormen, Hübner/Ebke (Hrsg.), Festschrift für Bernhard Großfeld, Heidelberg 1999, S. 1357 – 1365.
(2)
[A] 439 480
(3)
[A] —
—
50
—
—
105 6 7 — 50
1999
50 1999 893 904
—(
(4)
[A]
(5)
[A] —
(6)
[A]Stand und Perspektiven der Deregulierung in Japan, Blaurock (Hrsg.), Grenzen des Wettbewerbs auf deregulierten Märkten, Baden-Baden 1999, S. 29 – 39.
(7)
[U]
(8)
[R]Klaus Peter Berger, Formalisierte oder „schleichende“ Kodifizierung des transnatio8 1999 249 250 nalen Wirtschaftsrechts
(9)
[R] 229 233
1999 256 276 106 1 2
1999 213 229
15 1998.10.9 1999 288 290
—
2
1157
11
10
3
98 1 2
1999
51 11
(10) [R] 64 65 (11) [S] —
1998 1999 28 41
(14) [S]
1999 51 1
(13) [S] —
1999 58 —
1999 2 3 51 6
(15) [S] — (16) [S] ( )( )( )
16
—
105 6 7
(12) [S]
3 1999 6
(17) [S]
1999
1999 15 16 —
( )( )( )
1999 17
(18) [S] 1999 ii 1998 (1) [A] in the 21st Century 1998 1553 1585
—
— Toward Comparative Law
520
Verzeichnis der Schriften von Prof. Dr. Dr. h.c. Koresuke Yamauchi “
(2) [A] 104 8 9 (3) [A] 1998 79 116 (4) [A]
”
—
—
1998
—
104 10 11 “
105 2 3
—
161 196
”
—
—
1998 89 144
(5) [R]Stefan Habermeier, Neue Wege zum Wirtschaftskollisionsrecht: Eine Bestandsaufnahme prävalenter wirtschaftsrechtlicher Methdologie unter dem Blickwinkel des kritischen 7 1998 184 185 Rationalismus (6) [R]Daniel Zimmer, Internationales Gesellschaftsrecht, 1998 192 193 50 6
(7) [S]
1998 12 13
1997 (1) [A]
—
—
103 11 12
1997 137 217
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1997 26 32 26
(4) [S]
1997 49 6
(5) [S]
1997 23 24
24
(6) [S] 43 44
a
1997
1996 — 1996 101 104
—1995
(1)
[S]
(2)
[S]22 (
(3)
[S]105
(4)
[S]140
(5)
[R]Bernhard Großfeld, Internationales und Europäisches Unternehmensrecht 5 1996 178 180
(6)
[S] S
(7)
[S]
(8)
[S]
) 1996 53 54 (
) 1996 198 199 (
) 1996 264 265
4
1996 48 6 48 2
1996 23 24 1996 15
Verzeichnis der Schriften von Prof. Dr. Dr. h.c. Koresuke Yamauchi (9)
[Ü]
521
1996 1 55
(30) (10) [Ü]
1996
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(2)
[A]
—
125 154
—“
101 9 10
” 1995
(3)
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(4)
[U]74
(5)
[U]127
(6)
[S] —
(7)
[S] 1995 57 58
(8)
[S]
(9)
[S]
3
1990.8.6 1995 150 151
133 3
15 4
1976.9.30 1995 256 257
133 —
1995 6
1995 117 1995 119 1995 259
(10) [S]
1995 288 289
(11) [S]
1995 530 531
(12) [S]
4
(13) R M. Herdegen, Internationales Wirtschaftsrecht 1995 195 197 (14) [S]
1995 86 99
—
—
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(16) [S]
1995 47 6
(17) [S]
1995 25 26 ( )
(18) [S] 1995 iv vii (19) [S]
12
1995 24
54 26
1996
522
Verzeichnis der Schriften von Prof. Dr. Dr. h.c. Koresuke Yamauchi “
(20) [S]6
” 89
1995 4 27 1995
(21) [S] 243 244 — 1995 124 132
(22) [S]
— —
(23) [Ü]
— 1995 23 39
(24) [Ü]
F 1995 1 37 F 1995
(25) [Ü] 223 270 (26) [Ü]
(29) F 1995 271 311
1994 —
(1)
[A]
(2)
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(4)
[S]
(5)
[S]
(6)
[S]
(7)
[S]
(8)
[S]cross talk 7
(9)
[S]
—
1994 145 167
1994 27 32 (2)
1994 4 BOLOGNA1994 1994
1994 14 15
(10) [Ü] (11) [Ü]
H A
2
B
1994
62 H
1994 134 157 46 6 1994 113 124 125 134
1991
1994 22 23 1993
Verzeichnis der Schriften von Prof. Dr. Dr. h.c. Koresuke Yamauchi
523
1993 (1)
[A]
(2)
[S]
—
—1992
1990 6 22 1993 251 256 13 8
1993 7
45 1
1993 186 187
(3)
[R]
(4)
[R]Albert Bleckmann, Die völkerrechtlichen Grundlagen des internationalen Kollisions2 1993 91 92 rechts
(5)
[S]
(6)
[S]
(7)
[S] 1993 87 89
(8)
[S]
45 3
12 *
307
1993 3 1993
F
1993 (9)
510
[S]
O
1993 2 45 6
(10) [S] (11) [S]
1993
—
1993 21 22
— 1993 118 120 W
(12) [Ü] 215 257 zusammen mit: (13) [Ü]
H
1993
(15)
EC 1993 1 5
1992
1992 (1)
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(2)
[U]
(3)
[S]9
(4)
[S]10
(5)
[S]16 1992 35 37
(6)
[S]19 1992 42 43
(7)
[S]20 44 45
(8)
[S]21 1992 46 47
1992
5
[
3
1991.9.19
] 1992 158 161
1992 18 20 1992 21 22
— [
[
]
[
]
]
[
]
[
] [
1992 ]
524 (9)
Verzeichnis der Schriften von Prof. Dr. Dr. h.c. Koresuke Yamauchi [
[S]27 1992 58 59
] [
(10) [S]28 1992 60 61 [
(11) [S]29 1992 62 63
] ]
(12) [S]30 1992 64 65
[
]
(13) [S]36 1992 76 77
[
]
(14) [A]
—
—1991
(1) (4 ) 44 4 (15) [A] 1992 22 28, 44 9 1992 22 30
1992 239 241
1992 44 52, 44 5
1992 62 67, 44 8
10 (16) [S] 1992 44 48 1
(17) R. W. Ebke, Internationales Devisenrecht
1992 158 159
1
(18) [S] 1992 50 51
410
(19) [S] 7 10
1992
(20) [Ü] 1992 44 58
408
1991 (1)
[A]
(2)
[A]
“ 24 4
— —
377 412
” (1) — 1991 1 19 —
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1991
(3)
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[A]
(6)
[S]
(7)
[A] 43 12
(8)
[S]
(9)
[S]
124
1991 112
— 1991 217 221
—1990
EC
1991 301 309
(1) (3 1991 36 45
)
46 43 6
1991
43 12
36 45, 43 11
1991
32 41,
1991 36 37
1991 128 43 10
(10) [S] (11) [S]cross talk 7 29
43 10
1991 46 69
1991 2 3 1991
Verzeichnis der Schriften von Prof. Dr. Dr. h.c. Koresuke Yamauchi 98 1 2
(12) [S]
525
1991 1 3 — 1991 9 11
(13) [S] V36
— A—
1990 (1)
[A]
—
—
10 1990 21 38
10 —
—
(2)
[A] 96 11 12
(3)
[A]Zu den Bank- und Effektengeschäften im japanischen Gesetzes- und Gewohnheits24 2 1990 1 20 recht
(4)
[A]Zur Änderung des Internationalen Ehe- und Kindschaftsrechts in Japan 10 IPRax, Juli/ August (1990), Heft 4, Bielefeld, S. 268 – 270.
(5)
[A]Internationales Konzernrecht in Japan 1990 1 22
(6)
[U] 274 276
1988.5.20
1990 677 689
96 3 4
957
1990
(7)
(1) (9 ) 42 4 1990 40 47,42 5 1990 [A] 52 59,42 6 1990 32 39,42 7 1990 50 59,42 8 1990 30 39,42 9 1990 42 52,42 10 1990 28 34,42 11 1990 74 81,42 12 1990 34 45
(8)
[S]
(9)
[S]
News Letter 42 9
1990 5
1990 96
(10) [Ü] 1990 73 144 (11) [Ü]
1990
145 261 (12) [Ü]
1990
397 418 (13) [Ü] 1990 419 446 1989 (1) [A]
— Law in the World Today
—“ ” Conflict and Integration—Comparative 1989 995 1011 41 12
(2) [S] (3) [S] 41 1
40
1989 118 125
1989 4 5
526
Verzeichnis der Schriften von Prof. Dr. Dr. h.c. Koresuke Yamauchi
1988 —
—
(1)
[A]
(2)
[A]
(3)
[A]Die Trennung von Banken und Effektenfirmen in Japan, in: Yamauchi (Hrsg.), Beiträge zum japanischen und ausländischen Bank- und Finanzrecht, Tokio 1988, S. 217 – 233
(4)
[S]
(5)
[A]
(6)
[R]
(7)
[S] 73 80
(8)
[Ü]
(9)
[Ü]
8 1987 1988 24 47
J O 1988 32 37
1988 226 227 — 1988 228 235 —
22 2
—1987
1988 175 180
—A J 40 1
1988
1988 153 181
1988 203 222 H
(10) [Ü]
1988 223 249 19
(11) [Ü]
3
1988
387 406 1987 (1) [A] (2) [A]
— 86 2
(3) [A]
1987
1987 1 29 1983
—
—
—
94 3 4 5 —
(5) [A]
(7) [R] 21 2 (8) [S]
— 1987 1 41 346
(4) [M]
(6) [R]
—
305 309
21 2
1987 37 43 —1986
1987 227 235
1987 99 101
1987 102 104 —
85 6
1987 143 145
—
Verzeichnis der Schriften von Prof. Dr. Dr. h.c. Koresuke Yamauchi International Taxation7 11
(9) [S]
527
1987 10 11
1986 1961.2.10 1986 144 145
(1)
[U]69
(2)
[U]117
(3)
[M] 1986 37 45
(4)
[A]
(5)
[R]j k 142
(6)
[R]
(7)
Christian von Bar, Zur Reform des Deutschen Internationalen Eherechts als Teil [S] der Reform des Deutschen Internationalen Privatrechts 19 4 1986 84
(8)
[S] —
(9)
[Ü] 1986 145 190 zusammen mit:
2
87 2
1976.9.30 1986 240 241
87
344
1986 17 26,345
1985 1
20 2 — 1986 143 146
20 2
(10) [Ü]
1986 134 138
1984 1985
—
93 3 4 5
1986 139
1986 93 1 2
1986 139 167
1985 “
”
— 1985 468 494
(1)
[A]
(2)
[A]Internationales Gesellschaftsrecht in Japan, 30 Die Aktiengesellschaft (AG) (1985), Nr. 9, Köln, S. 229 – 237 zusammen mit: Bernhard Großfeld
(3)
[A]Zur Änderung des japanischen Staatsangehörigkeits- und Personenstandsrechts, 5 Praxis des Internationalen Privat- und Verfahrensrechts (IPRax), Januar/Februar (1985), Heft 1, Bielefeld, S. 59 – 60
(4)
[A]
(5)
[M] 121 156
(6)
[S] 10
—
100
—
1985 75 92 (6
1985 145 146 (7)
[S] 14 1985 149 150
(8)
[S] 18 69
5 )
—
18 4
1985
169
69
1985 153 154
528 (9)
Verzeichnis der Schriften von Prof. Dr. Dr. h.c. Koresuke Yamauchi [S] 30
A
A
B
B A 69
1985 163 165
212
(10) [R] 1985 8 (11) [S] 37 1
1985 27 28
(12) [S] (13) [S]
100
19 20 1985 EC
EC
101
1985 24 25
Gerard-René de Groot, Probleme juristischer Übersetzungen aus der Perspekti(14) [S] ve eines Rechtsvergleichers 19 3 1985 45 (15) [Ü]
91 11 12
1985 81 103 18 4
(16) [Ü] 37 93 (17) [Ü] — 325
1985 2 10
(18) [Ü] (4 ) 36 43
328
(19) [Ü]
35 1
326
—( )
1985 2 14
1985 2 8,329
1985
(1) (2) (3) 1985 2 10,331 1985
1985 2 11,330
1985 1 38 zusammen mit:
1984 (1) [A]
—
90 7 8
1984 113 153
— 18 1
(2) [A]Oasengesellschaften und Art.482 jap.HGB
(1984) S. 1 – 21.
(3) [A]Ein Vergleich des internationalen Familienrechts zwischen den Niederlanden und 18 3 1984 57 89 Japan — Eine systematische Skizze — (4) [A]Der Erwerb und die Änderung des Familiennamens im japanischen Recht, 37 Zeitschrift für das Standesamtswesen (StAZ) (Dezember 1984), Heft 12, Frankfurt am Main, S. 329 – 336. (5) [M] 49 81,18 1
1984 77 111,18 2
(2) (5) 1984 79 110,18 3
17 4 1984 1984 125 160
1983 — — 89 9 10 1983 167 207 [Überlagerungstheorie im deutschen Internationalen Privatrecht, Chuo Law Review, Band 89]
(1)
[A]
(2)
[A]
—
90 1 2
1983
65 94
—
Verzeichnis der Schriften von Prof. Dr. Dr. h.c. Koresuke Yamauchi
529
(3)
[A]Der Zwischenentwurf zur Änderung des japanischen Staatsangehörigkeitsgesetzes 17 2 (1983) 3 – 47.
(4)
[A]
(5)
[M] 107 135
(6)
[S] 205
(7)
[S]8 1983 16 18
(8)
[S]9 19 21
(9)
[S]13 29 31
—
90 5 6
1983
—
55 73 (1) —
17 3 —
1983 1983 194
1983 1983 1983 36 37
(10) [S]16
1983 38 39
(11) [S]17 (12) [S]18 40 41
1983
(13) [S]23 50 51
1983 1983
(14) [S]24 52 53
1983 54 55
(15) [S]25
1983 56 57
(16) [S]26 35 1
(17) [S]
1983 36 41
35 2
(18) [S]
90 3 4
(19) [Ü] 143 178 (20) [Ü] (21) [Ü]
90 11 12 308
1983 135 172
1983 13 25
1982 (1) [A] 1982 39 86
1983 42 47
—
30
—
1983
530
Verzeichnis der Schriften von Prof. Dr. Dr. h.c. Koresuke Yamauchi
1981 (1)
[U] 30 — 737
—
1981 146 148 CIEC
1980.2.22 (6) (7)
(2)
[M] 273
(3)
[M] 95 158
(4)
[M]
(5)
[R]B. Dutoit, La Nationalité de la Femme Mariée 1981
(6)
[R]D. Dumusc, Le Divorce Consentment Mutuel dans les Législation Européennes 15 1 1981 287 288
(7)
[S]
(8)
56 [S] 1981 138 139
(9)
[S]
(10) [Ü]
1981 38 43
274
1981 41 46
14 88 5 6
80 2
1981
1981 171 203
1981 81 124 Law School35
1981
63 13
88 1 2
3
1981 142 145
1981 143 163
1980 (1) [A] —
86 7 8 9
1980
—
103 134
1980 51 52
(2) [S]23
1980 177
(3) [S]93
(4) [R]European Communities: Twelfth General Report on the Activities of the EC in 1978 12 —1978— 14 1 1980 137 139 87 5 6
(5) [Ü] 154
1980 119
1979 (1) [U] 30 705
1978.3.10
1979 156 158 Law School14
(2) [S] (3) [Ü]
(1) (2 ) sammen mit:
12 2
1979 75 171
1979
13 1
1978 (1) [A]
—
84 10 11 12
1978 167 206
—
1979 41 76 zu-
Verzeichnis der Schriften von Prof. Dr. Dr. h.c. Koresuke Yamauchi (2) [U] 150
”
—“
— 1974.11.14
1978 35 40
531
1978 87 96
(3) [M] (4) [S]62 23) [
]
(5) [S]63 23) [
]
(1) (2) 20
(6) [S]
(
1978 137 138
(
1978 139 141
53
(7) [Ü]
=
(8) [Ü]
=
1978
11 2
1978 77 112 zusammen mit:
1978 95 130 zusammen mit: 1977 (1) [A]“ 1977 13 24
”
—
—
(2) [U]
2
159 161
1975.6.27
630
1977
1977
(3) [S] (4) [Ü] 228
127
1977 4 12
1976 (1) [A] (2) [A] (3) [A]
82 6 7
“ 1976
1 151
82 8 9
“ 1976
21 68
“ 82 10 11 12
1976
”
(1)—
—
”
(2)—
—
” 27 77
(3
CIEC (4) [M] 218 1976 6 15, 219 1976 35 44,220 1976 35 44
)—
—
(1) (5 ) 1976 34 42,222 1976 36 45,223 10 1
(5) [M]
1976 59 87
1975 (1) [U]
—
[
(2) [S] (3) [S]
1974.6.17
1 (1975)
]
591 1975
— 1975 132 134
532
Verzeichnis der Schriften von Prof. Dr. Dr. h.c. Koresuke Yamauchi
1974 (1) [M]
—
1974 153 184
—
1973 (1) [S]Rechtstatsachen zur Dauer des Zivilprozesses (erste Instanz) —Modell einer Gesetzesvorbereitung mittels elektronischer Datenverarbeitungsanlagen — 80 4 1973 51 54,88 110 (2) [A] 1973
Autorenverzeichnis Birk, Rolf, Prof. Dr. Dres. h.c. em., IAAEU, Trier Universität, Campus II, Behringstraße 21, Building H, 7. Floor, D-54296 Trier Bork, Reinhard, Prof. Dr., Seminar für Zivilprozess- und Allgemeines Prozessrecht, Universität Hamburg, Rothenbaumchaussee 33, D-20148 Hamburg Brondics, Klaus, Direktor, Arbeitsgericht Aachen, Justizzentrum, Adalbertsteinweg 92, D-52070 Aachen Dreyer, Julia, Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Institut für Informations-, Telekommunikations- und Medienrecht (ITM), Universität Münster, Leonardo-Campus 9, D-48149 Münster Ebke, Werner F., Prof. Dr. Dres. h.c., LL.M. (UC Berkeley), Direktor, Institut für deutsches und europäisches Gesellschafts- und Wirtschaftsrecht, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Friedrich-Ebert-Platz 2, D-69117 Heidelberg Ehlers, Dirk, Prof. Dr. Dr. h.c. em., Zentrum für öffentliches Wirtschaftsrecht, Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Universitätsstraße 14 – 16, D-48143 Münster Gornig, Gilbert, Prof. Dr. Dr. h.c. mult. em., Philipps-Universität Marburg, Fachbereich Rechtswissenschaften, Universitätsstraße 6, D-35037 Marburg De Groot, Gerard, Prof. Dr., Universität Maastricht, NL-6211 LH Maastricht Großfeld, Bernhard, Prof. Dr. em., Von Manger-Str. 3, D-48145 Münster Hoeren, Thomas, Prof. Dr., Institut für Informations-, Telekommunikations- und Medienrecht (ITM), Universität Münster, Leonardo-Campus 9, D-48149 Münster Jung, Peter, Prof. Dr., Maître en droit, Ordinarius für Privatrecht, Juristische Fakultät der Universität Basel, Peter Merian-Weg 8, CH-4002 Basel Kadelbach, Stefan, Prof. Dr., LL.M., Johann Wolfgang Goethe-Universität, Institut für Öffentliches Recht, Professur für Öffentliches Recht, Europarecht und Völkerrecht, Theodor-W.Adorno-Platz 4, D-60629 Frankfurt am Main Kling, Michael, Prof. Dr., Professur für Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht, Europarecht sowie Gewerblichen Rechtsschutz, Institut für Handels-, Wirtschafts- und Arbeitsrecht, Landgrafenhaus, Universitätsstraße 7, D-35032 Marburg Kojima, Chie, Ph.D. (Chuo), LL.M. (Yale), J.S.D. (Yale), Associate Prof., Faculty of Law, Musashino University, 3-3-3 Ariake, Koto-ku, Tokyo 135-8181, Japan Kreuzer, Karl, Prof. Dr. jur. utr. em., Schlehenweg 9, D-97076 Würzburg Lee, Won Ho, Prof. Dr. em., Incheon, Gangwhagoon, Gangwhaeup, Gapryonggil 35, Grangdbill Apt 101 dong 501 ho, Südkorea
534
Autorenverzeichnis
Menkhaus, Heinrich, Prof. Dr., Lehrstuhl für Deutsches Recht, Rechtswissenschaftliche Fakultät & Rechtsgraduiertenschule, Universität Meiji, 1-1 Kanda Surugadai, Chiyoda-ku Tokyo 101-8301, Japan Narazaki, Midori, Prof., Chuo University, 742-1 Higashinakano, Hachioji-shi, Tokyo 1920393, Japan Pohlmann, Petra, Prof. Dr., Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Institut für Internationales Wirtschaftsrecht, Universitätsstraße 14 – 16, D-48143 Münster Saenger, Ingo, Prof. Dr., Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Institut für Internationales Wirtschaftsrecht, Universitätsstraße 14 – 16, D-48143 Münster Sandrock, Otto, Prof. Dr. em., Birkhahnweg 1, St. Mauritz, D-48155 Münster Sato, Fumihiko, Prof. Dr., Chuo University, 742-1 Higashinakano, Hachioji-shi, Tokyo 1920393, Japan Schneider, Hildegard, Prof. Dr., Dekanin der Juristischen Fakultät, Universität Maastricht, NL-6211 LK Maastricht Stumpf, Cordula, Prof. Dr. em., Godelsberg 3, D-63739 Aschaffenburg Taki, Hiroshi, Prof., Chuo University, 742-1 Higashinakano, Hachioji-shi, Tokyo 192-0393, Japan Tanaka, Ken’ichi, Associate Prof., Asia University, 5-24-10 Sakai, Musashino-shi, Tokyo 1808629, Japan