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German Pages 308 [359] Year 1978
Akademie der Wissenschaften der D D R Zentralinstitut für Geschichte Wissenschaftsbereich Kulturgeschichte/ Volkskunde
Jahrbuch für Volkskunde und Kulturgeschichte
Neunzehnter Band (Neue Folge Band 4) Jahrgang 1976
AKADEMIE-VERLAG 19 77
BERLIN
Herausgeber: Helmut Bock, Hans-Jürgen Räch, Hermann Strobach, Bernhard Weißel Redaktion: Ulrich Bentzien, Siegfried Neumann, Peter Schuppan
Herausgegeben vom Zentralinstitut für Geschichte der AdW der D D R , 108 Berlin, Clara-Zetkin-Str. 26 Das Jahrbuch für Volkskunde und Kulturgeschichte erscheint jährlich. Erschienen im Akademie-Verlag, 108 Berlin, Leipziger Str. 3—4 © Akademie-Verlag Berlin 1977 Lizenznummer: 202 • 100/332/77 Umschlaggestaltung: Helga Klein Gesamtherstellung: VEB Druckerei „Thomas Müntzer", 582 Bad Langensalza Bestellnummer: 7529032 (2166/4) • LSV 0705 Printed in G D R D D R 25,— M
INHALTSVERZEICHNIS ABHANDLUNGEN
Marx und Engels über Kultur und Kulturentwicklung. Theoretische Grundlagen für eine Gegenstandsbestimmung der marxistisch-leninistischen Kulturgeschichtsschreibung
9
Über die Bedeutung der Kategorie Lebensweise für volkskundliche Forschungen
55
„Renaissance" und Renaissance. Zur Rezeption der Kultur des Altertums im Mittelalter als universalgeschichtliches Problem (Thesen)
71
: Säulenbücher. Zur Antikerezeption in den Tischlerzünf, ten des 16. bis 18. Jahrhunderts
87
PETER S C H U P P A N :
BERNHARD WEISSEL:
HUBERT M O H R :
REINHARD PEESCH
Kellergewölbe in Merseburg. Neue Materialien und Erkenntnisse zur Frühgeschichte der Stadt . 109
H A N S - H A R T M U T SCHAUER:
: Der Groß-Ottersleber „Fachverein" unter den Bedingungen des Sozialistengesetzes 135
G E R H A R D BIRK
DISKUSSION G Ü N T E R LANGE
: Noch einmal zum Problem Heimat
153
DOKUMENTATION Über den Handel mit Lieferungsromanen im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Nach Zwickauer Polizeiakten von 1887 167
HAINER P L A U L :
U L R I C H BENTZIEN, R U D O L F QUIETZSCH
gen zum Kartenausschnitt D D R
: Pfluggeräte
1850—1870.
Erläuterun179
Interpretationsmöglichkeiten der DDR-Karte „Pfluggeräte". Eine Nachbemerkung (Ulrich Bentzien) 185
6
Inhaltsverzeichnis
BERICHTE UND MITTEILUNGEN VI. Internationaler Kongreß der Volkserzählungsforscher 1974 in Helsinki (Gisela Burde-Schneidewind) 189 Ethnologischer Atlas Europas — 5. Arbeitstagung 1974 in Visegrâd (Ulrich Bentzien) 191 15. Jahrestagung des „Arbeitskreises für Haus- und Siedlungsforschung" 1974 in Weimar (Hans-Jürgen Räch, Karl Baumgarten) 192 Kolloquium „Volkskultur in der Zeit des deutschen Bauernkrieges" 1975 in Bad Frankenhausen (Siegfried Neumann) 193 Personalia
194
BIBLIOGRAPHIE P . I. PUCKOV, T . A . BEREZINA u n d K . V . CECHANSKAJA : S o w j e t i s c h e
Ver-
öffentlichungen zur Ethnographie (1965—1974). Annotierte Auswahlbibliographie 197
BESPRECHUNGEN SIGFRID SVENSSON, Einführung in die europäische Ethnologie (Rudolf Weinhold)
221
RICHARD BEITL, Wörterbuch der deutschen Volkskunde (Hermann Strobach)
223
V. K . BANDARCYK, Gistorija belaruskaj etnagrafii (Bernd Schöne)
225
WALTER MÖNCH, Deutsche Kultur von der Aufklärung bis zur Gegenwart (Peter Schuppan)
.
INGEBORG WEBER-KELLERMANN, Die deutsche Familie (Bernhard Weißel)
227 230
K u l t u r u n d L e b e n s w e i s e d e s P r o l e t a r i a t s . H r s g . v o n WOLFGANG JACOBF.IT u n d U T E MOHRMANN
(Gisela Burde-Schneidewind) MARTIN SCHAFFNER, Die Basler Arbeiterbevölkerung im 19. Jahrhundert (Wolfgang Jacobeit) •
232 235
Der Bauer Mittel- und Osteuropas im sozio-ökonomischen Wandel des 18. und 19. Jahrhunderts (Ulrich Bentzien)
236
ANNEMIE SCHENK u n d INGEBORG WEBER-KELLERMANN, I n t e r e t h n i k u n d s o z i a l e r W a n d e l in e i n e m
mehrsprachigen D o r f des rumänischen Banats (Bernhard Weißel)
238
Werte unserer Heimat. Heimatkundliche Bestandsaufnahme in der Deutschen Demokratischen Republik. Bd. 19—25 (Hans-Jürgen Räch)
242
Denkmale der Geschichte und Kultur. Ihre Erhaltung und Pflege in der Deutschen Demokratischen Republik (Christel Heinrich)
244
7
Inhaltsverzeichnis Technische Denkmale in der Deutschen Demokratischen Republik (Hans-Jürgen Räch) . . .
246
HANS-JÜRGEN RÄCH, Bauernhaus, Landarbeiterkaten und Schnitterkaserne (Hermann Wirth) .
247
L.BRANDTS BUYS, De landelijke bouwkunst in Hollands Noorderkwartier (Karl Baumgarten)
249
GHEORGHE FOC$A, Das Museum des Dorfes Bucurejti (Karl Baumgarten)
250
RAINER G. SCHÖLLER, Der gemeine Hirte (Rudolf Quietzsch)
251
IVAN BALASSA, AZ eke és a szàntàs torténete magyarorszàgon (Ulrich Bentzien)
254
EDIT FÉL und TAMÀS HOFER, Geräte der Àtànyer Bauern (Ulrich Bentzien)
255
Land Transport in Europe (Rudolf Quietzsch)
256
HYLKE SPEERSTRA, De laatste echte Schipper (Wolfgang Rudolph)
258
CHRISTIAN NIELSEN, Danske bàdtyper (Wolfgang Rudolph)
258
Autorenkollektiv, Über künstlerisches Volksschaffen (Ute Mohrmann)
260
'P. G. BOGATYREV, Voprosy teorii narognogo iskusstva (Viktor E. Gusev)
260
WOLFGANG SUPPAN, Deutsches Liedleben zwischen Renaissance und Barock (Hermann Stro'bach)
261
Lochamer Liederbuch. Hrsg. von KONRAD AMELN — Die Ebermannstädter Liederhandschrift. H r s g . v o n R O L F W I L H . BREDNICH u n d W O L F G A N G S U P P A N — R U D O L F ZACHARIAS BECKER,
Mildheimisches Liederbuch (Erich Stockmann)
263
S ü d f r a n z ö s i s c h e S a g e n , H r s g . v o n FELIX KARLINGER u n d INGE ÜBLEIS ( G i s e l a B u r d e - S c h n e i d e -
wind)
265
SIEGFRIED NEUMANN, Eine mecklenburgische Märchenfrau (Ingeborg Müller)
266
LUTZ MACKENSEN, Zitate, Redensarten, Sprichwörter (Siegfried Neumann)
268
GERDA GROBER-GLÜCK, Motive und Motivationen in Redensarten und Meinungen (Siegfried Neumann)
268
Dialekt als Sprachbarriere? (Hans-Joachim Gernentz)
271
ROLF ENGELSING, Analphabetentum und Lektüre (Hartmut Schaffner)
273
INGEBORG SPRIEWALD, Vom „Eulenspiegel" zum „Simplizissimus" (Hermann Strobach) . . .
275
HORST DENKLER, Restauration und Revolution. Politische Tendenzen im deutschen Drama (Helmut Bock)
276
GERALD STIEG u n d BERND WITTE, A b r i ß e i n e r G e s c h i c h t e d e r d e u t s c h e n
Arbeiterliteratur
(Klaus Kändler) URSULA MÜNCHOW, Frühe deutsche Arbeiterautobiographien (Hartmut Schaffner)
277 280
FRANZ REHBEIN, D a s L e b e n eines L a n d a r b e i t e r s . H r s g . v o n KARL-WINFRIED SCHAFFHAUSEN
(Siegfried Neumann)
283
GEORG FÜLBERTH, Proletarische Partei und bürgerliche Literatur (Peter Schuppan)
284
Theater und Gesellschaft. Das Volksstück im 19. und 20. Jahrhundert. Hrsg. von JÜRGEN HEIN (Siegfried Kube)
287
MAX BURGHARDT, Ich war nicht nur Schauspieler (Harald Kintscher)
289
WOLFGANG KIESSLING, Alemania Libre in Mexiko (Ursula Adam)
291
Beiträge zur Geschichte des Buchwesens. Bd. 5 (Harald Kintscher)
293
8
Inhaltsverzeichnis
PETER NUSSER, Romane für die Unterschicht (Hainer Plaul)
294
MANFRED NAGL, Science Fiction in Deutschland (Hainer Plaul)
296
WILLI HÖFIG, Der deutsche Heimatfilm (Gerhard Birk)
298
ROLF SCHMIEDERER, Zwischen Affirmation und Reformismus (Harald Kintscher)
300
Autorenverzeichnis
302
ABHANDLUNGEN Marx und Engels über Kultur und Kulturentwicklung Theoretische Grundlagen für eine Gegenstandsbestimmung der marxistisch-leninistischen Kulturgeschichtsschreibung V o n PETER S C H U P P A N
1. Z u m E n t w i c k l u n g s s t a n d der K u l t u r g e s c h i c h t s s c h r e i b u n g in der D D R
1964 publizierte D. Mühlberg seinen Aufsatz „Zur marxistischen Auffassung der Kulturgeschichte" mit der Feststellung: Sie stehe „als selbständige Disziplin am Anfang" und sei „noch nicht fest umrissen". Diese Tatsache werde daraus ersichtlich, daß „ihr möglicher wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Nutzen keineswegs evident ist, ihre theoretischen Voraussetzungen noch nicht fixiert sind, und keine Schwerpunkte der Forschungsarbeit formuliert wurden." 1 Mühlbergs Aufsatz gehörte zu den ersten, die sich — zumindest in der D D R — grundlegend mit der Notwendigkeit, dem Gegenstand und den Aufgaben einer marxistisch-leninistischen Kulturgeschichte auseinandersetzten. Den Ausgangspunkt bildete die Kulturtheorie. Auf ihrer Grundlage, so Mühlbergs These, vermag die marxistische Kulturgeschichtsschreibung erst ihren Forschungsgegenstand abzustecken. Andererseits benötige die Kulturtheorie die Kulturgeschichte, um sich als Wissenschaft zu etablieren, denn die kulturellen Prozesse sind primär historisch und nur aus der Geschichte zu deuten und abzuleiten. Auch in anderen sozialistischen Ländern äußerte sich seit den sechziger Jahren ein verstärktes Interesse an der Kulturgeschichte. In der Sowjetunion etwa sprach sich 1962 B. N. Ponomarjow auf einer Unionskonferenz der Historiker programmatisch für eine entsprechende Disziplin aus. „Unter den vor uns stehenden Aufgaben", stellte er fest, „ist die herangereifte Notwendigkeit zu nennen, einen Bereich der Geschichtswissenschaft wie die Geschichte der Kultur zu entwickeln. Bisher gibt es bei uns nur Arbeiten zu ihren einzelnen Zweigen. . . Das genügt jetzt nicht mehr. Wir brauchen Arbeiten zur Geschichte der Kultur, in denen die Entwicklung aller ihrer Komponenten in ihrer Gesamtheit und ihren Wechselbeziehungen als integrierender Teil des historischen Gesamtprozesses untersucht wird." 2 1971 wiederholte M. Jowtschuk diese Forderung auf einer Beratung der Parteiinstitute und der Akademie der Wissenschaften der UdSSR über die Entwicklung der Gesellschaftswissenschaften nach dem XXIV. Parteitag der KPdSU. Er zählte die „Theorie und Geschichte der Kultur" zu 1
Dietrich Mühlberg, Zur marxistischen Auffassung der Kulturgeschichte. DZfPh 12,1964, S. 1037. B. N. Ponomarev, Die Aufgaben der Geschichtswissenschaft und die Ausbildung von wissenschaftlichen und pädagogischen Kadern auf dem Gebiet der Geschichte, Moskau 1962, S. 30 (russ.). 2
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PETER S C H U P P A N
den Zweigen, wo die Forschungsarbeit entsprechend den Erfordernissen der entwickelten sozialistischen Gesellschaft verstärkt werden müsse. 3 In der D D R waren es zunächst Vertreter der Kulturtheorie, die nicht nur für die Notwendigkeit der Kulturhistorie eintraten, sondern auch, im Zuge des Aufbaus der Kulturwissenschaften, theoretische Bausteine für eine marxistische Kulturgeschichte zusammentrugen. Was beinhaltet Kultur? Welcher Stellenwert kommt ihr als Triebkraft beim Aufbau der entwickelten sozialistischen Gesellschaft und in der weltweiten Systemauseinandersetzung unserer Tage zwischen Sozialismus und Kapitalismus zu? Welchen spezifischen Aspekt und welche gesellschaftlichen Bereiche umfaßt die Kulturentwicklung, und wie wirkt sie auf den Geschichtsverlauf ein? Mit der Klärung dieser und anderer Probleme wurde zugleich die Diskussion von Grundfragen einer marxistischen Theorie der Kulturgeschichte eröffnet und vorangetrieben. 4 Von großer Bedeutung war auch, daß die Kulturtheoretiker die systematische Sammlung von Äußerungen der Klassiker zu Fragen der Kultur und Kulturgeschichte weiterführten und als erste den Versuch unternahmen, jenes Gerüst einer Kulturgeschichte des deutschen Volkes nachzuzeichnen, das besonders Friedrich Engels in seinen historischen Arbeiten hinterlassen hat! 5 Von den Fachhistorikern, also den Vertretern der politischen Geschichte, wurden diese Erkenntnisfortschritte — mithin die Weiterentwicklung des historischen Materialismus auf einem bestimmten Gebiet — zunächst kaum zur Kenntnis genommen. Es waren vielmehr einige historische Spezialdisziplinen wie vor allem die Literaturgeschichte, zum Teil auch die Kunst-, Schul- und Bildungsgeschichte und die Volkskunde, die sich übergreifenden kulturhistorischen Fragestellungen zu öffnen begannen, und zwar in dem Maße, wie sie die komplexen Zusammenhänge der historischen Entwicklung in das Blickfeld ihres
3 M. Jowtschuk, Gegenwärtige Probleme des ideologischen Kampfes und der sozialistischen Ideologie und Kultur, in: Der XXIV. Parteitag der K P d S U und die Entwicklung der marxistisch-leninistischen Theorie, Berlin 1971, S. 189. 4 Vgl. u. a. Hans Koch, Kultur in den Kämpfen unserer Tage. Theoretische Probleme der sozialistischen Kulturrevolution in der D D R , Berlin 1959; Hans Koch/Erika Hinckel, Zur marxistischleninistischen Theorie der Kultur. Einheit 17, 1962, H. 6, S. 45 ff. ; Kultur in unserer Zeit. Zur Theorie und Praxis der sozialistischen Kulturrevolution in der D D R , Berlin 1965, S. 7—28; Fred Staufenbiel, Kultur heute — für morgen. Theoretische Probleme unserer Kultur in ihrer Beziehung zur technischen Revolution, Berlin 1966, S. 38-72; Erhard John, Probleme der Kultur und der Kulturarbeit, Berlin 1957, 2. erw. Aufl. 1967, S. 13—113; Die entwickelte sozialistische Gesellschaft. Wesen und Kriterien, Berlin 1973, S. 200 ff. (Kap. VIII: Die Schaffung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft und die Kultur in der D D R ) ; Erna Heckel/Dieter Ulle, Kultur im Kampf zwischen Sozialismus und Imperialismus. Weimarer Beiträge 19, 1973, H. 1, S. 10 ff. ; Erhard John, Zur Dialektik des Sozialen, Nationalen und Internationalen in der Kulturentwicklung, Berlin 1972; Kultur in der entwickelten sozialistischen Gesellschaft, hrsg. von Marianne Lange, 2. Auflage, Berlin 1974. — Eine Bibliographie der bis 1971/72 erschienenen kulturtheoretischen Arbeiten enthält : JbfVkKg 1 6 ( N . F . 1), 1973, S. 195 ff. 5 Marx/Engels/Lenin, Über Kultur, Ästhetik, Literatur, Hrsg. Hans Koch, 2. Aufl. Leipzig 1971 ( = R U B , Bd. 30). In der Einleitung entwickelt der Hrsg. kulturgeschichtliche Grundauffassungen der Klassiker. — Hans Koch, Unsere Literaturgesellschaft, Berlin 1965, S. 493 ff.
Marx und Engels über Kultur
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Fachgebietes einbezogen. 5 a Der kulturelle Wirkungseffekt etwa von Literatur und Kunst, von Schule und Bildung, Arbeit und Freizeit, die Rolle und Funktion der Traditionen in einzelnen kulturellen Bereichen erwiesen sich dabei als fruchtbare Fragestellungen, die auf kulturhistorisches Gebiet führten. Besonders die Probleme des kulturellen Erbes waren es, die auch an die Historiker herangetragen wurden, sobald sie in interdisziplinären Kontakt zu diesen Fächern traten. 6 In der eigentlichen Fachhistorie begann indes ebenfalls, wenn zunächst auch vereinzelt, eine Hinwendung zur Kulturgeschichte. Bereits auf dem II. Historikerkongreß 1962 machte Ernst Engelberg auf das Erfordernis aufmerksam, die politische Geschichte durch die Kulturgeschichte zu ergänzen. Dabei ging er von der Auffassung aus, daß wir, bei aller zentralen Bedeutung der politischen Geschichte, allein „mit dem politischen Kampf der Klassen den Sinn der Geschichte nicht ausgedeutet haben." 7 In die Bände des Hochschullehrbuches der deutschen Geschichte wurden seit den sechziger Jahren besondere Kapitel oder Abschnitte aufgenommen, die die Kulturentwicklung mehr oder weniger ausgiebig berücksichtigen. 8 1965 erfolgte schließlich die G r ü n d u n g einer Kommission für Kulturgeschichte bei der Historikergesellschaft der D D R unter Leitung von Hubert M o h r und R. F. Schmiedt, die in den folgenden Jahren zwei Kolloquien veranstaltete. 9 Ihre Arbeit geriet jedoch bald ins Stocken. Zu weit gespannte Anfangsziele, vor allem das Fehlen einer institutionellen Verankerung und damit Verantwortlichkeit für die neue Disziplin sowie Schwierigkeiten bei ihrer theoretisch-methodologischen Fundierung bildeten die wohl entscheidenden Hemmnisse. Anfang der siebziger Jahre wurden neue Impulse wirksam und brachten die Bemühungen wieder in Gang. Vor allem die von der Partei der Arbeiterklasse den Historikern der D D R gestellte Aufgabe, eine das marxistische Geschichtsbild der e n t w i c k e l t e n sozialistischen Gesellschaft repräsentierende Gesamtdarstellung der Geschichte des deutschen Volkes auszuarbeiten, schloß die For5 a Vgl. u. a. Bernhard Weißel, Zum Gegenstand und zu den Aufgaben volkskundlicher Wissenschaft in der D D R . JbfVkKg 16 (1973) S. 9 ff.; Peter H. Feist, Prinzipien und Methoden marxistischer Kunstwissenschaft, Leipzig 1966, bes. S. 18ff., 2 7 f f . ; Gesellschaft — Literatur — Lesen. Literaturrezeption in theoretischer Sicht, hrsg. v. M. Naumann, 2. Aufl., Berlin 1975. 6
So etwa bei der interdisziplinären Diskussion ideologischer und methodischer Fragen der Erbeaneignung und Traditionserschließung an der AdW im Frühjahr 1973. Vgl. Dialog über Tradition und Erbe. Kolloquium des Forschungsbereichs Gesellschaftswissenschaften der A d W der D D R , hrsg. v. Dieter Schiller und Helmut Bock, Berlin 1976. 7 Ernst Engelberg, Probleme des nationalen Geschichtsbildes der deutschen Arbeiterklasse, ZfG 10, 1962, Sonderheft, S. 17 f. 8 Vgl. die Bände 1 — 10 des Lehrbuchs der deutschen Geschichte (Beiträge), die für die einzelnen Epochen von der Urgesellschaft bis zum Jahre 1933 die kulturelle Entwicklung behandeln, darunter Bd. 9 ( 1 8 9 7 - 1 9 1 7 ) seit der 3. Auflage (Berlin 1972), Bd. 10 ( 1 9 1 7 - 1 9 3 3 ) seit der 2. Auflage (Berlin 1974). In den Bänden 11 und 12, die die Periode von 1933—1945 zum Gegenstand haben, sucht man dagegen vergeblich Abschnitte über die antifaschistische Kultur und über die Kulturbarbarei des Nationalsozialismus. 9
Mitteilungen der Deutschen Historiker-Gesellschaft, Jg. 1966, H. 1, S. 19 ff.; ZfG 14, 1966, S. 972 f. und 15, 1967, b. S7U.
12
PETER S C H U P P A N
derung ein, auch die Grundlinien der Kulturentwicklung mit zu erfassen. Erstmalig fanden sich Vertreter der politischen Geschichte mit Vertretern der Volkskunde und der Geschichte des Bildungswesens, der Literatur-, Kunst-, Musikund Sprachgeschichte zu einer interdisziplinären Arbeitsgruppe zusammen und erarbeiteten gemeinschaftlich einen Leitfaden der Kulturentwicklung des deutschen Volkes von den Anfangen bis zur Gegenwart. Er ist in den inzwischen veröffentlichten Grundriß der Geschichte des deutschen Volkes eingeflossen und bietet dort einen ersten Versuch, im Zusammenhang mit der ökonomischen und politischen Geschichte die Entwicklung zunächst der g e i s t i g e n Kultur zu berücksichtigen. 10 Seit 1969 wurde im Zentralinstitut für Geschichte der Akademie der Wissenschaften mit dem Aufbau eines Wissenschaftsbereichs Kulturgeschichte/Volkskunde begonnen und in ihm erstmals eine Stätte kulturgeschichtlicher Forschung von Seiten der Geschichtswissenschaft geschaffen. Der hier von Volkskundlern erarbeitete Abriß „Zur Geschichte der Kultur und Lebensweise der werktätigen Klassen und Schichten vom 11. Jahrhundert bis 1945" 11 sowie eine Reihe weiterer volkskundlicher Publikationen dokumentieren die inzwischen geleistete Arbeit auch auf kulturhistorischem Neuland. 1 2 Auch an anderen Instituten wandten sich Historiker und Vertreter benachbarter Disziplinen kulturgeschichtlichen Problemen zu, vor allem auf dem Gebiet der Ur- und Frühgeschichte und der Ethnographie, der Geschichte der griechisch-römischen Antike und der der älteren außereuropäischen Völker, wo der kulturelle Aspekt seit jeher ein relativ großes Gewicht besitzt und einen integrierten Bestandteil des Forschungsgegenstandes bildet. 13 Nicht zuletzt wirkte die verstärkte Publikationstätigkeit einer
10 Klassenkampf, Tradition, Sozialismus. Von den Anfangen der Geschichte des deutschen Volkes bis zur Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft in der Deutschen Demokratischen Republik. Grundriß, Berlin 1974. 11 Als Diskussionsmaterial teilweise veröffentlicht in: Deutsche Historikergesellschaft. Wissenschaftliche Mitteilungen, Jg. 1972, H. 1 - 3 . Rez. JbfVkKg 17 (N.F. 2), 1974, S. 258 ff. (Erik Hühns). 12
Vgl. vor allem die Bde. 1 — 3 der Neuen Folge des Jahrbuches für Volkskunde und Kulturgeschichte, Berlin 1973—1975. — Ferner u. a. Der arm man. Volkskundliche Studien, hrsg. v. Hermann Strobach, Berlin 1975; Hans-Jürgen Räch, Bauernhaus, Landarbeiterkaten und Schnitterkaserne, Berlin 1974. 13 Die umfangreichste, inzwischen im Druck befindliche Arbeit bildet die zweibändige Kulturgeschichte der griechisch-römischen Antike. Vgl. dazu: Reimar Müller, Theoretische und methodologische Grundfragen der antiken Kulturgeschichte. Klio 56, 1974, S. 297 ff.; derselbe, Kulturgeschichte der griechisch-römischen Antike — Erfahrungen und erste Ergebnisse der Arbeit an einem Gemeinschaftsprojekt. Wissenschaftl. Beiträge d. Friedrich-Schiller-Univ. Jena, Jena 1974, S. 9—22; vgl. auch: Die Slawen in Deutschland. Geschichte und Kultur der slawischen Stämme westlich von Oder und Neiße vom 6. —12. Jh., Handbuch, hrsg. v. Joachim Herrmann, 4. Auflage, Berlin 1974; Joachim Herrmann, Zwischen Hradschin und Vineta. Frühe Kulturen der Westslawen, Leipzig 1971; F. Schlette, Germanen zwischen Thorsberg und Ravenna. Kulturgeschichte der Germanen bis zum Ausgang der Völkerwanderung, Leipzig 1972; L. J. Albaum/B. Brentjes, Wächter des Goldes. Zur Geschichte und Kultur mittelasiatischer Völker vor dem Islam, Berlin 1972.
Marx und Engels über Kultur
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Reihe von Verlagen auf kulturgeschichtlichem Gebiet anregend für Forschung und Darstellung. 14 Diese Entwicklung wurde besonders durch Erkenntnisse und Schlußfolgerungen vorangetrieben, die vom XXIV. Parteitag der KPdSU und vom VIII. Parteitag der SED ausgingen. Im Zusammenhang mit der Präzisierung der strategischen Ziele und unmittelbaren Aufgaben beim Aufbau der entwickelten sozialistischen Gesellschaft und ihres Übergangs zum Kommunismus rückten beide Parteitage die Bedeutung des kulturellen Faktors in ein neues Licht und verdeutlichten zugleich die Komplexität, die innere Struktur und den Klassencharakter der kulturellen Seite der gesellschaftlichen Entwicklung. Sie wiesen auf die gesetzmäßig anwachsende Rolle des subjektiven Faktors im allgemeinen, des Kulturniveaus der Gesellschaft im besonderen und auf die fortschreitende Verflechtung aller sozialen Prozesse mit der Kulturentwicklung hin. Sie zeigten, daß und wie in der Etappe des reifen Sozialismus und seiner Fortbildung zum Kommunismus die kulturhistorische Seite der Mission der Arbeiterklasse in ein qualitativ neues Stadium ihrer Verwirklichung tritt. Überblickt man den gegenwärtigen Stand der Forschung in der DDR, so wird man konstatieren müssen: 1. Die kulturgeschichtliche Publikationstätigkeit hat sich in den letzten Jahren verstärkt, unter den drei Hauptdisziplinen der einheitlichen marxistischen Geschichtswissenschaft — der politischen Geschichte, Wirtschaftsgeschichte und Kulturgeschichte 15 — ist die letztere jedoch nach wie vor die am wenigsten entwickelte. Sie befindet sich noch immer in ihrer Anfangs- und Aufbauphase. Sieht man von jenen oben genannten Gebieten der Geschichtsschreibung einmal ab, wo die kulturelle Entwicklung schon traditionsgemäß zum Forschungsgegenstand des Historikers gehört, so fehlen für die deutsche Geschichte und besonders für die Neuzeit kulturgeschichtliche Monographien und Epochendarstellungen fast völlig. 16 In Lehrbüchern und Uberblicksdarstellungen wird die Spezifik der kulturellen Seite des Geschichtsverlaufs in der Regel nicht berücksichtigt. Hier herrscht zumeist die Praxis, in besonderen Kulturkapiteln und -abschnitten einzelne Bereiche der höheren geistigen Kultur — Wissenschaften, Literatur, Künste und Bildungswesen — additiv aneinanderzureihen, sie aus-
14 Zu nennen wäre hier vor allem der Verlag Edition Leipzig mit seiner „Sammlung Kulturgeschichte", in der u. a. erschienen: D. Hoffmann, Die Welt der Spielkarte. Eine Kulturgeschichte, 1972; E. Ortmann, Zinnfiguren, 1973; Heinz Mode, Fabeltiere und Dämonen. Die phantastische Welt der Mischwesen, 1973: W. Rudolph, Boote, Flöße, Schiffe. Kulturgeschichte der Wasserfahrzeuge, 1974; R. Weinhold, Kulturgeschichte des Weinbaus und des Weins, 1975. — Ferner publiziert der Verlag Koehler und Amelang (Leipzig) eine kulturgeschichtliche Reihe, die vorwiegend kunstgeschichtlich orientiert ist, und der Prisma-Verlag (Leipzig) eine mit populärwissenschaftlich-belletristischem Charakter, deren einzelne Bände von sehr unterschiedlicher Qualität sind. 15 Für die strukturelle Gliederung in drei Hauptdisziplinen vgl. Einführung in das Studium der Geschichtswissenschaft, hrsg. v. Walter Eckermann/Hubert Mohr, Berlin 1966, S. 76 ff. — Wenn im Folgenden von politischer Geschichte die Rede ist, handelt es sich um einen Zweig der Geschichtswissenschaft. Politisch im weiteren Sinne der Ideologiegebundenheit jeder Geschichtsschreibung ist natürlich auch die Kulturgeschichte. 16 Erste Ansätze bieten einzelne Sammelbände. Vgl. u. a.: Das Jahrhundert Goethes. Kunst, Wissenschaft, Technik und Geschichte zwischen 1750 und 1850, Hrsg. Nationale Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur, Weimar o. J. (1967); Kultur und Lebensweise des Proletariats, hrsg. v. Wolfgang Jacobeit und Ute Mohrmahn, 2. Auflage, Berlin 1974; Deutsche Kunst- und Literaturgeschichte in der frühbürgerlichen Revolution, Hrsg. Autorenkollektiv unter Ltg. von Karl-Heinz Klingenburg, Berlin 1975.
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PETER S C H U P P A N
schließlich unter dem Gesichtspunkt des ideologischen Klassenkampfes zu behandeln und somit in die politische Geschichte zu integrieren. Diese Methode ist zwar völlig legitim vom Standpunkt einer weitgehend auf die politische Geschichte beschränkten Geschichtsschreibung; sie ist jedoch selbst nicht Kulturgeschichte. Hier manifestiert sich die Dominanz eines Zweiges, nämlich der politischen Geschichte, innerhalb der marxistischen Geschichtswissenschaften. So berechtigt diese Dominanz in der Übergangsperiode war, wo dem politischen Klassenkampf für die Schaffung und Festigung der sozialistischen Ordnung das entscheidende Primat zukam, so notwendig ein solcher Vorrang sicher auch in der Zukunft sein wird, solange die weltweite Auseinandersetzung zwischen Sozialismus und Imperialismus letztlich durch politische Mittel entschieden wird — in der entwickelten sozialistischen Gesellschaft kann eine Beschränkung auf die politische Geschichte zur Einseitigkeit werden angesichts der wachsenden, mannigfaltiger werdenden Aufgaben der Geschichtswissenschaft für die Bewußtseinsbildung. 2. Es existiert kein institutionelles Zentrum, das für die Planung und Leitung der kulturgeschichtlichen Forschung und vor allem für die unerläßliche interdisziplinäre Zusammenarbeit der verschiedenen kulturhistorisch relevanten Disziplinen in der D D R zuständig und verantwortlich wäre. Die relativ kleine Zahl der Kulturhistoriker bzw. kulturhistorisch interessierten Forscher arbeitet zumeist vereinzelt und ohne festen Kontakt und Austausch untereinander. Mit dem seit 1973 erscheinenden „Jahrbuch für Volkskunde und Kulturgeschichte" besitzen die Kulturhistoriker jedoch erstmals in der D D R die Möglichkeit, sich ein interdisziplinäres Fachorgan zu schaffen. 3. Kennzeichnend ist ferner, daß Hauptkategorien und Methodik noch nicht aufgearbeitet sind und selbst die Auffassungen über Gegenstand und Forschungsfelder der marxistischen Kulturgeschichte auseinandergehen. Die 1973 in der „Zeitschrift für Geschichtswissenschaft" eröffnete Diskussion zu diesen Problemen zeigte jedoch, daß die Notwendigkeit der Kulturgeschichte weitgehend anerkannt wird und die Dringlichkeit ihrer Gegenstandsbestimmung herangereift ist. 17 4. Auch der Stellenwert und die Perspektive der Kulturgeschichtsschreibung im Rahmen der bewußtseinsbildenden Aufgaben der Geschichtswissenschaft wurden bisher noch nicht diskutiert. Hier handelt es sich aber um eine zentrale Frage: um die Selbstverständigung der Historiker über den politischen Nutzen, die Notwendigkeit und Zielsetzung der Kulturhistorie entsprechend den objektiven Bedürfnissen der entwickelten sozialistischen Gesellschaft und den neuen Bedingungen des internationalen Klassenkampfes. Es geht um die Frage, welche Bedeutung der Kulturgeschichte im gegenwärtigen und künftigen Geschichtsbild der Arbeiterklasse zukommt aufgrund objektiver, absehbarer gesellschaftlicher und politisch-ideologischer Entwicklungstendenzen.
Jede Bestimmung des Gegenstandes und der Forschungsgebiete, der Zielsetzung und der Aufgaben der marxistisch-leninistischen Kulturgeschichte wird von den wissenschaftspolitischen und geschichtsideologischen Erfordernissen auszugehen haben, die die entwickelte sozialistische Gesellschaft und der internationale Klassenkampf gegenwärtig und in Zukunft an die Geschichtsschreibung herantragen. Sie wird zweitens die Entwicklung und Kooperationsanforderungen vor allem solcher Nachbardisziplinen berücksichtigen müssen, die einen kulturhistorisch relevanten Gegenstand besitzen. Das Verhältnis zu diesen Fächern und damit die Stellung der Kulturhistorie im System der historischen Wissenschaften ist besonders für die Kennzeichnung der empirischen Forschungsfelder wichtig. Den entscheidenden Ausgangspunkt für eine Gegenstandsbestimmung bildet in letzter Instanz jedoch die marxistisch-leninistische Kulturtheorie, die als theoretische Verallgemeinerung der Kulturentwicklung der Menschheit
17 Ernst Engelberg, Zu Fragen der Volkskunde und Kulturgeschichte, ZfG 21, 1973, S. 970 ff.; Wolfgang Jacobeit, Die Volkskunde — eine eigenständige historische Disziplin. Ebda. 22, 1974, S. 443 ff.; Ute Mohrmann, Volkskunde und Kulturgeschichte. Ebda., S. 748 ff.; Peter Schuppan, Bemerkungen zum Gegenstand einer marxistischen Kulturgeschichte. Ebda., S. 1359 ff.
15
Marx und Engels über Kultur
ein Bestandteil des historischen Materialismus ist und Auskunft gibt über Wesen, Charakter und Wirkungsmechanismen der Kultur als einer spezifischen gesellschaftlichen Erscheinung im Geschichtsprozeß. Die systematische Erschließung dieser Seite der Geschichtstheorie aus den Werken der Klassiker des Marxismus-Leninismus ist seit den letzten fünfzehn Jahren vor allem von Philosophen und Kulturtheoretikern vorangetrieben worden. Im Mittelpunkt standen dabei die Wesensmerkmale des kulturhistorischen Prozesses, die Herausbildung der sozialistischen Kultur und die Gesetzmäßigkeiten der sozialistischen Kulturrevolution. 1 8 Damit ist jedoch die umfangreiche Hinterlassenschaft der Klassiker bei weitem noch nicht ausgeschöpft. Das gilt vor allem für den Inhalt und die Gesetzmäßigkeiten der universalhistorischen Kulturentwicklung in der Abfolge der ökonomischen Gesellschaftsformationen. Gerade hier sind Beiträge von Seiten der Historiker möglich und erforderlich, die sich, zumindest in der D D R , an dieser Aufgabe bisher kaum nennenswert beteiligt haben. Als Beitrag zu einer künftigen Gegenstandsbestimmung der Kulturgeschichte soll im folgenden der Versuch unternommen werden, die Klassiker des MarxismusLeninismus nach ihren Grundauffassungen über den kulturhistorischen Prozeß zu befragen. 19 Dabei wird zunächst die Auswertung der Werke von Marx und Engels im Mittelpunkt stehen. Die systematische Erschließung der wissenschaftlichen Hinterlassenschaft Lenins muß weiterführenden Beiträgen vorbehalten bleiben. 2. D i e k u l t u r e l l e S e i t e d e r g e s c h i c h t l i c h e n
Entwicklung
Zuweilen wird die Meinung vertreten, die Begründer des wissenschaftlichen Kommunismus hätten ihre Kulturgeschichtsauffassung in keiner besonderen Schrift ausgearbeitet und den Kulturbegriff überhaupt selten benutzt. 20 Was die Häufigkeit des Begriffs Kultur anbetrifft, so fehlt vorläufig eine exakte Analyse, in die übrigens auch der Begriff Zivilisation aufgenommen werden müßte, den Marx und Engels sowohl als Synonym für Kultur als auch zur Kennzeichnung einer bestimmten historischen Kulturstufe verwandten. 21 Aber auch die Annahme, daß sie ihre Kulturauffassung in keiner besonderen Schrift ausgearbeitet hätten, erscheint recht problematisch. Denn erstens haben sie diese in mehreren Werken ausgearbeitet, und zwar in der Regel dort, wo sie ihre materialistische Geschichts18
_ Vgl. außer der in Anmerkung 4 und 5 angegebenen Literatur die neueren sowjetischen Arbeiten: Wladimir Gorbunow, Lenin und die sozialistische Kultur, Berlin 1974; E. W. Sokolow, Die Elemente der Kulturtheorie. Kunst und Literatur 22, 1974, S. 899 ff., 1068 ff., 1123 ff.; A. J. Amoldow, Kulturelle Prozesse im Sozialismus, Berlin 1975. 19 Als vorläufigen Versuch einer Gegenstandsbestimmung vgl. Peter Schuppan, Bemerkungen zum Gegenstand einer marxistischen Kulturgeschichte. Z f G 22, 1974, S. 1359-1376. 20 Fred Staufenbiel, Kultur heute — für morgen, a. a. O., S. 41. 21 In den meisten marxistischen Lexika wird der Begriff Zivilisation, ausgehend von Engels' „Ursprung der Familie", nur als bestimmte historische Kulturstufe definiert. Vgl. Kulturpolitisches Wörterbuch, Berlin 1970, S. 589 f.; Philosophisches Wörterbuch, Bd. 2, 10. Auflage, Leipzig 1974, S. 1330 f.
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auffassung zusammenhängend darlegten. Zweitens gibt es aber auch eine Reihe, von Arbeiten, die ihre Kulturgeschichtsauffassung explizit enthalten, darunter besonders Engels' „Ursprung der Familie". Darauf wird noch einzugehen sein. Sieht man von unterschiedlichen Auffassungen in Detailfragen einmal ab, so stimmen die meisten marxistischen Kulturtheoretiker darin überein, daß unter Kultur eine b e s t i m m t e , s p e z i f i s c h e S e i t e des gesellschaftlichen Lebens und der Geschichte zu verstehen ist. Ihren zentralen Inhalt bildet die fortschreitende Entwicklung der Menschen, die durch ihre wachsende Aneignung, Umgestaltung und Beherrschung der Natur sowie durch den wachsenden Reichtum ihrer gesellschaftlichen Beziehungen und schließlich die Beherrschung ihrer sozialen Lebensverhältnisse sich von ihrem ursprünglichen, tierischen oder naturhaften Zustand entfernen und sich als menschliche und zugleich gesellschaftliche Wesen verwirklichen. 22 Für die Geschichtswissenschaft besitzt diese Auffassung zwei Bedeutungswerte. Zunächst einmal gehört der zentrale Inhalt der Kulturentwicklung — die Selbstverwirklichung der Menschen als gesellschaftliche Gattungswesen — zu den allgemeinsten inhaltlichen Bestimmungen des Geschichtsprozesses überhaupt. Er charakterisiert, philosophisch ausgedrückt, Inhalt und Richtung jener Bewegungsform der Materie, die wir die gesellschaftliche nennen. Fortschreitende Umgestaltung und Anpassung der natürlichen Umwelt an menschliche Existenzbedingungen durch die Arbeit, wobei „alle Produktion . . . Aneignung der Natur von seiten des Individuums innerhalb und vermittelst einer bestimmten Gesellschaftsform" ist, 23 die Entwicklung und Entfaltung der Menschen durch ihre naturverändernde Tätigkeit auf immer höherer, differenzierterer sozialer Stufenfolge — dies kennzeichnet die gesellschaftliche Bewegungsform der Materie im Unterschied zur biologischen, wo sich die Gattungen der Naturumwelt anpassen oder aussterben. Der kulturelle Fortschritt der Gesellschaft bildet daher auch den eigentlichen Inhalt jener Entwicklung vom Niederen zum Höheren, der sich im Prozeß der Abfolge der ökonomischen Gesellschaftsformationen durchsetzt. Zum anderen beinhaltet die Kulturentwicklung eine b e s o n d e r e Seite des Geschichtsprozesses, die sich vom materiellen Lebenserzeugungsprozeß und von der politischen Seite der gesellschaftlichen Entwicklung unterscheidet und in einem komplexen Wechselverhältnis mit der ökonomischen Basis und dem politischen Klassenkampf als spezifische historische Triebkraft wirksam wird. Beschäftigt sich die Wirtschaftsgeschichte mit der Abfolge der Produktionsweisen der materiellen Lebensgrundlagen, die politische Geschichte mit den politischen Organisations- und Herrschaftsformen der Gesellschaft, mit deren 22 Philosophisches Wörterbuch, Bd. 2, 6. Auflage, Leipzig 1969, S. 629 f.; Kulturpolitisches Wörterbuch, a. a. O., S. 286; H. Koch/E. Hinckel, Zur marxistisch-leninistischen Theorie der Kultur, a. a. O., S. 45; E. John, Probleme der Kultur, 2. Aufl., a. a. O., S. 8 0 - 8 6 ; F. Staufenbiel, Kultur heute, a. a. O., S. 40; D. Mühlberg, Zur marxistischen Auffassung der Kulturgeschichte, a. a. O., S. 1053. 23 Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (Rohentwurf), 2. Auflage, Berlin 1974, S. 9.
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Ablösung durch den Kampf der Klassen um die politische Macht, so die Kulturgeschichte mit den Kulturstufen, Kulturtypen und kulturellen Systemen, die die verschiedenen Gesellschaftsformationen auf der Grundlage ihrer Produktionsweisen, der Teilnahme der einzelnen Klassen an der Produktion und Aneignung des materiellen und geistigen Reichtums der Gesellschaft sowie der politischen Herrschaftsformen hervorbrachten. 24 Im Verlauf der Kulturentwicklung gestalten die Menschen ihre Naturumwelt um, indem sie diese menschlichen Bedürfnissen anpassen, vermehren sie den objektiven Reichtum der Gesellschaft an materiellen und geistigen Gütern, an Arbeitserfahrungen, Arbeitsfertigkeiten und geistigen Erkenntnissen der Natur und Gesellschaft, verändern sie ihre gesellschaftlichen Organisationsformen, ihre Lebensweisen und Sitten, sozialen Beziehungen und Verhaltensweisen, ihre Denkweisen, Moralnormen und Wertauffassungen, ihr Welt- und Menschenbild und Bildungsniveau, bereichern und vervollkommnen sie vor allem ihre eigene menschliche Natur, ihre körperlichen und intellektuellen Fähigkeiten und Kräfte und ihre individuellen sozialpsychischen Merkmale. Die Ergebnisse der natur- und gesellschaftsverändernden Tätigkeit — von Generation z1: Generation, von Epoche zu Epoche weitergegeben und modifiziert — fließen in historisch unterschiedliche kulturelle Systeme ein, bilden zusammenhängende Kulturstufen und Kulturtypen, in denen sich letztlich der Entwicklungsgrad des gesellschaftlichen Menschen manifestiert: die jeweilige historische Stufe sowohl der Vergegenständlichung dieses Prozesses in der Naturumwandlung, in den sozialen Lebensformen und geistigen Schöpfungen (objektive Kultur) als auch der in den Individuen selbst lebendigen und entfalteten Fähigkeiten und Kräfte (subjektive Kultur). Die Kulturstufe bzw. das kulturelle System einer Gesellschaft wirkt als spezifische Seite des Geschichtsprozesses, als besonderer Bereich des gesellschaftlichen Lebens in vielfältiger, komplexer Weise, vorantreibend oder retardierend, auf die ökonomische Basis und den politischen Klassenkampf und damit auf die Durchsetzung des geschichtlichen Fortschritts insgesamt zurück. Dabei geht es nicht nur um die zeitliche Abfolge von Kulturstufen und deren Einwirkung auf den Geschichtsverlauf in den einzelnen Gesellschaftsformationen, Epochen und Perioden. Es geht auch um ihre räumliche Ausprägung in Gestalt regionaler Kulturen, die besonders in der vorkapitalistischen Zeit die geschichtliche Entwicklung beeinflußten, sowie nationaler Formen des kulturhistorischen Verlaufs einschließlich ihrer gesetzmäßigen universellen Annäherung im Kapitalismus und Sozialismus. Beide Bedeutungswerte der kulturellen Seite des Geschichtsprozesses bilden zusammen den Ausgangspunkt für die inhaltliche Bestimmung sowohl der Kulturentwicklung als auch des Gegenstandes der Kulturgeschichtsschreibung. 24
Marx und Engels verwandten vornehmlich den Begriff Kulturstufe, während Lenin den Begriff Kulturtyp bevorzugte. So sprach er u. a. von „Typen vorbürgerlicher Kultur, d. h. der Beamten- oder der Leibeigenschaftskultur". Vgl. W. I. Lenin, Werke, Bd. 33, Berlin 1963, S. 474. Die synonyme bzw. unterschiedliche Verwendung beider Begriffe bedarf noch der Klärung. — Zur Problematik der Kultur als eines besonderen Systems und Bereichs des gesellschaftlichen Lebens vgl. E. W. Sokolow, Die Elemente der Kulturtheorie, a. a. O., S. 1123 ff. 2
Volkskunde
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Die Erforschung der Kulturstufen, Kulturtypen und kulturellen Systeme zielt auf die historisch-konkrete Untersuchung einer spezifischen, besonderen Seite des gesellschaftlichen Lebens, auf die Analyse bestimmter Prozesse, Verhältnisse und Bereiche, die in ihrem geschichtlichen Zusammenhang die Kultur einer Gesellschaft ausmachen. Führt diese Bedeutung zur Markierung der spezifischen Forschungsgebiete und Forschungsfelder der Kulturhistorie, so kennzeichnet andererseits die Kulturentwicklung als qualitative Wesensbestimmung der gesellschaftlichen Bewegungsform der Materie jenen grundlegenden Aspekt, unter dem die Disziplin Kulturgeschichte bestimmte Prozesse und Verhältnisse aus allen Lebensbereichen der Gesellschaft untersucht und historisch einordnet. Aus dieser zweiten Bestimmung folgt, unter welcher besonderen, ihr eigenen Fragestellung und in welchem spezifischen Zusammenhang die Kulturhistorie die geschichtliche Entwicklung erforscht und beschreibt. Marx und Engels betrachteten die Kulturentwicklung der Menschheit als immanenten Wesensbestandteil des Geschichtsprozesses, als ein qualitatives Merkmal der gesellschaftlichen Bewegungsform. Diese Auffassung bildete den Ausgangspunkt und eine entscheidende Grundlage ihrer materialistischen Geschichtstheorie. Schon in den „Ökonomisch-philosophischen Manuskripten" betonte Marx, daß „für den sozialistischen Menschen die ganze sogenannte Weltgeschichte nichts anderes ist als die Erzeugung des Menschen durch die menschliche Arbeit, als das Werden der Natur für den Menschen. . ," 2 5 In der „Deutschen Ideologie" beginnt die Darlegung der materialistischen Geschichtsauffassung mit der Feststellung: „Die erste Voraussetzung aller Menschengeschichte ist natürlich die Existenz lebendiger menschlicher Individuen. Der erste zu konstatierende Tatbestand ist also die körperliche Organisation dieser Individuen und ihr dadurch gegebenes Verhältnis zur übrigen N a t u r . . . Alle Geschichtsschreibung muß von diesen natürlichen Grundlagen und ihrer Modifikation im Laufe der Geschichte durch die Aktion der Menschen ausgehen. Man kann die Menschen durch das Bewußtsein, durch die Religion, durch was man sonst will, von den Tieren unterscheiden. Sie selbst fangen an, sich von den Tieren zu unterscheiden, sobald sie anfangen, ihre Lebensmittel zu produzieren. Indem die Menschen ihre Lebensmittel produzieren, produzieren sie indirekt ihr materielles Leben selbst." 2 6 Und in seinem berühmten Brief an Annenkow, in dem Marx die Quintessenz der in der „Deutschen Ideologie" ausgearbeiteten neuen Geschichtsauffassung zusammenfaßte, schrieb er: „Dank der einfachen Tatsache, daß jede neue Generation die von der alten Generation erworbenen Produktivkräfte vorfindet, die ihr als Rohmaterial für neue Produktion dienen, entsteht ein Zusammenhang in der Geschichte der Menschen, die um so mehr Geschichte der Menschheit ist, je mehr die Produktivkräfte der Menschen und infolgedessen ihre gesellschaftlichen Beziehungen wachsen. Die notwendige Folge: Die soziale Geschichte der Menschen ist stets nur die Geschichte ihrer individuellen Entwicklung, ob sie sich dessen bewußt sind oder nicht. Ihre materiellen Verhältnisse sind die Basis aller ihrer Verhältnisse." Die Geschichte der Menschheit als Geschichte der Entwicklung und Entfaltung des gesellschaftlichen Menschen im Prozeß wachsender Naturbeherrschung und fortschreitender sozialer Verhältnisse, sie ist — wie Marx weiter ausführt — zugleich die Geschichte ihrer Kultur: „Die Menschen verzichten nie auf das, was sie gewonnen haben, aber das bedeutet nicht, daß sie nie auf die Gesellschaftsform verzichten, in der sie bestimmte Produktivkräfte erworben haben. Ganz im Gegenteil. U m des erzielten Resultats nicht verlustig zu gehen, um die Früchte der Zivilisation nicht zu verlieren, sind die Menschen gezwungen, sobald die Art und Weise ihres Verkehrs den erworbenen Produktivkräften nicht
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Karl Marx, Friedrich Engels, Werke (im Folgenden zitiert: MEW), Erg. Bd. 1, S. 546. MEW, Bd. 3, S. 20 f.
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mehr entspricht, alle ihre überkommenen Gesellschaftsformen zu ändern. " 2 7 Die V e r m e n s c h l i c h u n g der Menschen, die Entfaltung ihrer Fähigkeiten, Kräfte und Bedürfnisse im Prozeß steigender Naturbeherrschung, des wachsenden Reichtums der Gesellschaft und der Bereicherung, Vermenschlichung und schließlich Beherrschung der sozialen Lebensverhältnisse — in dieser Seite des geschichtlichen Verlaufs sahen Marx und Engels den Inhalt der Kulturentwicklung, die Früchte der fortschreitenden Zivilisation. Sie kennzeichneten die Kulturentwicklung daher auch als Wachstum der tatsächlichen Freiheit gegenüber den objektiven, sowohl naturhaften wie gesellschaftlichen Lebensbedingungen, von denen die Menschen zwar immer abhängig bleiben, die sie jedoch zu ihren Gunsten zu verändern und zu modifizieren imstande sind. Freiheit also nicht im Sinne einer „geträumten Unabhängigkeit" von den Gesetzen der Natur und des gesellschaftlichen Zusammenlebens, sondern im Sinne der „Erkenntnis dieser Gesetze und in der damit gegebenen Möglichkeit, sie planmäßig zu bestimmten Zwecken wirken zu lassen. . . Freiheit besteht also in der, auf Erkenntnis der Naturnotwendigkeiten gegründeten Herrschaft über uns selbst und über die äußere N a t u r ; sie ist damit notwendig ein Produkt der geschichtlichen Entwicklung. Die ersten, sich vom Tierreich sondernden Menschen waren in allem Wesentlichen so unfrei wie die Tiere selbst; aber jeder Fortschritt in der Kultur war ein Schritt zur Freiheit", schrieb Engels im „Antidührung". 2 8 Marx ergänzte im „ K a p i t a l " diese Auffassung des kulturgeschichtlichen Prozesses aus dem Blickwinkel der Ökonomie: „ D a s Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört; es liegt also der Natur der Sache nach jenseits der Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion. Wie der Wilde mit der Natur ringen muß, um seine Bedürfnisse zu befriedigen, um sein Leben zu erhalten und zu reproduzieren, so muß es der Zivilisierte, und er muß es in allen Gesellschaftsformen und unter allen möglichen Produktionsweisen. Mit seiner Entwicklung erweitert sich dies Reich der Naturnotwendigkeit, weil die Bedürfnisse; aber zugleich erweitern sich die Produktivkräfte, die diese befriedigen. Die Freiheit in diesem Gebiet kann nur darin bestehen, daß der vergesellschaftete Mensch, die assoziierten Produzenten, diesen ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen, statt von ihm als von einer blinden Macht beherrscht zu werden; ihn mit dem geringsten Kraftaufwand und unter den ihrer menschlichen Natur würdigsten und adäquatesten Bedingungen vollziehen. Aber es bleibt dies immer ein Reich der Notwendigkeit. Jenseits desselben beginnt die menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt, das wahre Reich der Freiheit, das aber nur auf jenem Reich der Notwendigkeit als seiner Basis aufblühen kann. Die Verkürzung des Arbeitstages ist die Grundbedingung." 2 9
Diese Feststellungen sind durchaus nicht so zu interpretieren, daß sich die Kulturentwicklung außerhalb der materiellen Produktionssphäre und der materiellen Lebensbedingungen der Gesellschaft vollzieht. Im Gegenteil: Die Art und Weise und der Umfang der Befriedigung unmittelbar lebensnotwendiger Bedürfnisse — Nahrung, Kleidung, Wohnung, Heizung, Sexualität usw. — gehört zur Kultur. 30 Der kulturelle Fortschritt findet jedoch nach Marx dort statt, wo sich die Bedürfnisse der Menschen und die gesellschaftlichen Produktivkräfte zu ihrer Befriedigung im historischen Prozeß jeweils über das unmittelbar zum Leben Nötige hinaus erweitern und tatsächlich eingehen in eine Bereicherung 27 Marx an P. W. Annenkow, 28. 12. 1846. MEW, Bd. 27, S. 452 f. (Hervorhebungen in den Zitaten von P. S.) 2S MEW, Bd. 20, S. 106. — Vgl. auch Friedrich Engels, Dialektik der Natur. Ebda., S. 453: Die Menschen beherrschen die Natur keineswegs „wie ein Eroberer ein fremdes Volk beherrscht, wie jemand, der außer der Natur steht", sondern in der Weise, daß sie „mit Fleisch und Blut und Hirn ihr angehören und mitten in ihr stehn, und daß unsre ganze Herrschaft über sie darin besteht, im Vorzug vor allen andern Geschöpfen ihre Gesetze erkennen und richtig anwenden zu können." 29 MEW, Bd. 25, S. 828. 30 Marx: „. . . die ökonomische Gestaltung und dadurch bedingte Kulturentwicklung der Gesellschaft". MEW, Bd. 19, S. 21. — „. . . Die materiellen Produktionsbedingungen, die Bedingungen der Kultur als solche . . .". MEW, Bd. 26, 1, S. 261 etc. 2*
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und Entfaltung der menschlichen Natur. Dabei ist zu beachten, daß der Standard der unmittelbar lebensnotwendigen Bedürfnisse von Generation zu Generation, von Epoche zu Epoche wächst. Die Kulturentwicklung ist auch — wie aus dem wiedergegebenen Zitat hervorgeht — nicht mit einem bloß quantitativen Wachstum der Bedürfnisse und der gesellschaftlichen Kräfte zu ihrer Befriedigung identisch. Sie hängt wesentlich davon ab, in welcher gesellschaftlichen Form und mit welchem sozialen Ergebnis die Menschen ihren Stoffwechsel mit der Natur regeln. Die Produktions- und Eigentumsverhältnisse bestimmen also entscheidend den Kulturfortschritt mit: nämlich die qualitative Seite der Bedürfnisse, die rationelle und menschenwürdige Art und Weise ihrer Befriedigung sowie die tatsächliche Bereicherung der menschlichen Natur. So ist etwa, wie noch im einzelnen zu zeigen sein wird, die Kulturstufe der kapitalistischen Gesellschaft durch ein vergleichsweise dynamisches Wachstum der Naturbeherrschung und des gesellschaftlichen Beziehungsreichtums, durch ständige, rasche Bedürfniserweiterung und permanenten Wandel der Lebensweisen gekennzeichnet. 31 Diese t e n d e n z i e l l e Entwicklung bildet jedoch nur die eine Seite eines tiefgreifenden Kulturantagonismus. Die kapitalistischen Produktions- und Ausbeutungsverhältnisse verhindern auf der anderen Seite eine mit dem geringsten gesellschaftlichen Kraftaufwand betriebene, menschenwürdige Erweiterung der Bedürfniswelt. Sie sind verbunden mit einem „ununterbrochenen Opferfest für die Arbeiterklasse, maßlosester Vergeudung der Arbeitskräfte und den Verheerungen gesellschaftlicher Anarchie", 3 2 sie führen zu einer „Akkumulation von Elend, Arbeitsqual, Sklaverei, Unwissenheit, Brutalisierung und moralischer Degradation" auf Seiten der werktätigen Massen, 33 zu einer fortschreitenden Zerstörung sowohl der lebendigen Arbeitskraft als auch der Naturressourcen. 3 4 Die kapitalistische Zivilisation verhindert nicht nur, daß das wachsende Ausmaß der Bedürfnisse und der gesellschaftlichen Produktivkräfte eingeht in eine entsprechende Bereicherung der menschlichen Natur der unmittelbaren Produzenten, also der Mehrheit der Gesellschaft. Sie deformiert auch die Bedürfniswelt der herrschenden Klasse und erzeugt in steigender Progression unmenschliche Bedürfnisse in der gesamten Gesellschaft. 35 Die Kulturentwicklung wird von Marx nicht zuletzt unter dem Aspekt betrachtet, daß sie mit der „menschlichen Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt", identisch ist: mit der wachsenden Entfaltung der Schöpferkraft und freien Selbstbetätigung der Menschen als Gattungswesen. Es wird noch darzulegen sein, daß dieser Aspekt vornehmlich für die hochentwickelten Kulturstufen der Menschheit gilt, wo der geschichtliche Fortschritt in einem immer stärkeren Ausmaß tatsächlich von der Entfaltung der schöpferischen Kräfte in den Individuen auf der Grundlage eines entsprechend variantenreichen, mannigfaltig 31 32 33 34 35
Karl Marx, Grundrisse, a. a. O., S. 312 f. Karl Marx, Kapital. MEW, Bd. 23, S. 516. Ebda, S. 674 f. Ebda, S. 5 2 8 - 5 3 0 ; MEW, Bd. 25, S. 821. Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte. MEW, Ergbd. 1, S. 547 f.
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differenzierten Angebotes historisch akkumulierter, objektiver Kultur abhängt. Auf früheren Kulturstufen dominierte dagegen das Festhalten an überlieferten kulturellen Traditionen, die Wahrung des Erreichten und eine weitgehende Abwehr von Innovationen, solange die Gesellschaft von einer übermächtigen, ihr unbekannten und bedrohlichen Naturumwelt abhängig war. Die hier wiedergegebenen Äußerungen von Marx und Engels verdeutlichen ihre Auffassung vom Inhalt der kulturellen Seite des Geschichtsprozesses und enthalten implizite die Grundpositionen einer Theorie der Kulturgeschichte, deren wichtigste Gesetzmäßigkeiten und Zusammenhänge die Klassiker an anderen Stellen ihrer Werke detailliert dargelegt haben. 3. D i e R o l l e d e r A r b e i t u n d d a s V e r h ä l t n i s von materieller und geistiger K u l t u r
Die entscheidende Quelle und Triebkraft des Kulturfortschritts bildet nach Marx und Engels die Arbeit, mithin die Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte. 36 Durch die Arbeit eignen sich die Menschen die Natur, die potentielle Quelle allen materiellen Reichtums der Gesellschaft fortschreitend an, entfalten sie zugleich ihre körperlichen und geistigen Fähigkeiten und ihre Kenntnisse, entwickeln sie ihre Bedürfnisse 37 und vergrößern sie die arbeitsfreie Zeit, die ihrer individuellen Entwicklung zugute kommen kann. 3 8 In diesem Zusammenhang betonten die Klassiker, daß es die g e g e n s t ä n d l i c h e , der materiellen Lebenserhaltung dienende Arbeit ist, die nicht nur den Menschen schuf und aus dem Tierreich heraushob, sondern auch die Kulturentwicklung in letzter Instanz vorantreibt. 39 Sie unterstrichen zweitens, daß die naturverändernde Tätigkeit der Menschen sich immer unter bestimmten gesell36 „Alle Fortschritte der Zivilisation . . oder in anderen Worten alle Vermehrung der gesellschaftlichen Produktivkräfte, if you want der Produktivkräfte der Arbeit selbst — wie sie resultieren von Wissenschaft, Erfindungen, Teilung und Kombination der Arbeit, verbesserten Kommunikationsmitteln, Schaffung des Weltmarktes, Maschinerie etc . . ." Karl Marx, Gründrisse, a. a. O., S. 215. 37
Indem der Mensch mit Kopf und Hand „auf die Natur außer ihm wirkt und sie verändert, verändert er zugleich seine eigene Natur". Karl Marx, Kapital, MEW, Bd. 23, S. 192. — „Zum Leben aber gehört vor allem Essen und Trinken, Wohnung, Kleidung und noch einiges Andere. Die erste geschichtliche Tat ist also die Erzeugung der Mittel zur Befriedigung dieser Bedürfnisse, die Produktion des materiellen Lebens selbst. . . Das Zweite ist, daß das befriedigte erste Bedürfnis selbst, die Aktion der Befriedigung und das schon erworbene Instrument der Befriedigung zu neuen Bedürfnissen f ü h r t . . . " Karl Marx, Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie. MEW, Bd. 3, S. 28. 38 „Die wirkliche Ökonomie . . . besteht in Ersparung von Arbeitszeit;. . . diese Ersparung (ist) aber identisch mit Entwicklung der Produktivkraft. Also keineswegs Entsagen vom Genuß, sondern Entwicklung von power, von Fähigkeiten zur Produktion und daher sowohl der Fähigkeiten wie der Mittel des Genusses . . . Die Ersparung von Arbeitszeit (ist) gleich Vermehrung der freien Zeit, d. h. Zeit für die volle Entwicklung des Individuums, die selbst wieder als die größte Produktivkraft zurückwirkt auf die Produktivkraft der Arbeit. . ." Karl Marx, Grundrisse, a. a. O., S. 599. 39
Friedrich Engels, Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen. MEW, Bd. 20, S. 444, 450 f.; Karl Marx, Theorien über den Mehrwert. MEW, Bd. 26, 1, S. 256 ff. (Auseinandersetzung mit der Zivilisationstheorie des Ökonomen Heinrich v. Storch); Friedrich Engels, Das Begräbnis von Karl Marx. MEW, Bd. 19. S. 335 f.
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schaftlichen Bedingungen vollzieht, also der g e s e l l s c h a f t l i c h e Charakter der Arbeit für die Kulturentwicklung entscheidend ist. Die produktive Auseinandersetzung mit der Natur entwickelte sich auf der Grundlage einer steigenden gesellschaftlichen Arbeitsteilung, der Herausbildung eines immer differenzierteren, reicheren Systems von Arbeitsarten und eines fortschreitenden gesellschaftlichen Austauschs. Sowohl die wachsende Teilung und Vergesellschaftung der Arbeit als auch ihre historische Fixierung in bestimmten Produktions- und Eigentumsverhältnissen sind für die Wirksamkeit der Arbeit als Quelle der Kultur maßgebend. Hinsichtlich der Entwicklung der Menschen faßte Marx diesen dialektischen Zusammenhang in die knappe Formel: „Die Produktivkräfte und gesellschaftlichen Beziehungen — beides verschiedene Seiten der Entwicklung des gesellschaftlichen Individuums". 4 0 Und in der „Kritik des Gothaer Programms" betonte er, daß die Arbeit immer unter bestimmten gesellschaftlichen Produktionsbedingungen zu einer Quelle der Kultur wird: so für die unmittelbaren Produzenten, die werktätigen Klassen im vollen Maße nur dann, wenn sie Eigentümer sowohl der gegenständlichen Bedingungen als auch der Ergebnisse der Arbeit sind. 41 Mit der historischen Dialektik der kulturschöpferischen Rolle der Arbeit, die einerseits ein bestimmtes Verhältnis zur Natur, andererseits ein bestimmtes Verhältnis der Menschen zueinander beinhaltet, haben sich die Begründer des wissenschaftlichen Kommunismus grundlegend und ausgiebig beschäftigt. So vertrat Marx die Auffassung, daß in den Anfangen der Kulturentwicklung die Arbeit besonders von den Naturbedingungen, und zwar speziell vom natürlichen Reichtum an Lebensmitteln abhängig war und sich hauptsächlich als Austausch zwischen Mensch und Natur vollzog. 42 Die stärksten Kulturfortschritte entwickelten sich daher zunächst in jenen Gebieten der Erde, wo die Natur ein reiches Angebot an Lebensmitteln hervorbringt, wo folglich die zur einfachen Lebenserhaltung der Produzenten nötige Arbeitszeit relativ gering und die Möglichkeiten zur Erzeugung eines Mehrprodukts relativ groß waren. Hier wurde zuerst ein Teil der Bevölkerung für andere Arbeiten als die Lebensmittelproduktion freigesetzt, hier konnte sich zuerst eine Klasse von Menschen herausbilden, die von fremder Arbeit lebt und sich nicht in der materiellen Produktion unmittelbar zu betätigen braucht. Selbstverständlich war auch in den Kulturanfängen der Menschheit die Auseinandersetzung mit der Natur gesellschaftlich vermittelt und organisiert — zunächst in Form einfacher, naturwüchsiger, auf Geschlechtsund Familienbanden beruhender Gemeinwesen. Auch wurde schon damals der Kulturfortschritt durch die Höherentwicklung des gesellschaftlichen Charakters der Arbeit vorangetrieben. So entstanden die ersten Hochkulturen dort, wo es notwendig wurde und den Menschen gelang, eine Naturkraft im größeren Maßstab durch ihre gemeinschaftliche Anstrengung unter Kontrolle zu bringen und
40 Karl Marx, Grundrisse, a. a. O., S. 593 f.; vgl. auch Theorien über den Mehrwert. MEW, Bd. 26, 3, S. 370. MEW, Bd. 19, S. 1 5 - 1 7 . « Zum Folgenden vgl.: Karl Marx, Kapital. MEW, Bd. 23, S. 535—537.
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sich nutzbar zu machen. Dies war etwa in Mesopotamien, im Nil- und Industal der Fall, wo große Flüsse reguliert und Bewässerungssysteme eingerichtet wurden. Im weiteren Verlauf der Kulturentwicklung wandelte und verringerte sich zugleich die Rolle der Naturbedingungen und vergrößerte sich die Bedeutung der gesellschaftlichen Bedingungen der Arbeit. Die Menschen lernten, immer mehr Naturkräfte zu beherrschen und in ihren Dienst zu stellen, eine immer breitere Palette von Arbeitsarten und Bedürfnissen bildete sich heraus, der Umfang des gesellschaftlichen Austauschs von Tätigkeiten und Produkten nahm zu, und damit erlangten die Formen der gesellschaftlichen Organisation der Arbeit, also die Ausbeutungsweisen, ein immer größeres Gewicht. Nicht mehr der natürliche Reichtum an Lebensmitteln, sondern das potentielle Naturangebot an Arbeitsmitteln, Energiequellen und Rohstoffen, seine Differenziertheit und Mannigfaltigkeit, wurde entscheidend. Der Kulturfortschritt verlagerte sich in gemäßigtere Klimazonen, wo die Umstände die Menschen stärker zur Vervielfältigung und Differenzierung ihrer Arbeitsmittel, Arbeitsarten, Fähigkeiten und Bedürfnisse anspornten als in Gebieten mit einem verschwenderischen Lebensmittelangebot. Insgesamt aber nahm der Einfluß der Naturbedingungen in dem Maße ab, wie die Naturumwelt durch die Arbeit von Generationen umgestaltet und menschlichen Bedürfnissen angepaßt wurde. An die Stelle einer vorrangigen Nutzung der spontanen Naturproduktion trat die auf Naturerkenntnis und Naturveränderung beruhende Produktion. Im großen Maßstab begann dies mit der industriellen Produktionsweise des Kapitalismus. 43 Die Art und Weise der gesellschaftlichen Organisation der Arbeit, die Produktionsverhältnisse und Eigentumsformen wurden also in immer höherem Grade für den Kulturfortschritt entscheidend. So boten die feudalen Produktionsverhältnisse günstigere objektive Möglichkeiten für den Fortschritt der Produktivkräfte und die Entfaltung der Anlagen, Fähigkeiten und Bedürfnisse der unmittelbaren Produzenten als die der Sklavenhaltergesellschaft, 44 die kapitalistischen Produktionsverhältnisse günstigere Möglichkeiten als die feudalen usw. 45 Die materielle gesellschaftliche Arbeit stuften Marx und Engels schließlich auch unter dem Gesichtspunkt als entscheidende Triebkraft der Kulturentwicklung ein, als sie die geistige Aneignung und Erkenntnis der objektiven Wirklichkeit in letzter Instanz bedingt und vorantreibt. In dem Maße, wie der Mensch die Natur zu einem Teil seines materiellen Lebens und seiner praktischen Tätig43 „Die Gunst der Naturbedingungen liefert immer nur die Möglichkeit, niemals die Wirklichkeit der Mehrarbeit, also des Mehrwerts oder des Mehrprodukts . . . Auf die Mehrarbeit wirken sie nur als Naturschranke, d. h. durch die Bestimmung des Punkts, w o die Arbeit für andere beginnen kann. In demselben Maß, worin die Industrie hervortritt, weicht diese Naturschranke zurück." Karl Marx, Kapital. MEW, Bd. 23, S. 537. - Vgl. auch: Theorien über den Mehrwert. MEW, Bd. 26, 2, S. 369. 44 Marx verdeutlichte diese Tatsache anhand eines Vergleichs der Arbeitsrente mit der Produktenrente. Karl Marx, Kapital. MEW, Bd. 25, S. 803 f. 45 Karl Marx, Friedrich Engels, Manifest. MEW, Bd. 4, S. 464—467; Karl Marx, Grundrisse, a. a. O., S. 231, 3 1 1 - 3 1 4 ; Kapital. MEW, Bd. 25, S. 827; W. I. Lenin, Werke, Bd. 3, Berlin 1971, S. 6 1 7 - 6 2 1 .
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keit macht, macht er sie zu einem Bestandteil seines Bewußtseins. Seine Lebenstätigkeit ist im Unterschied zum Tier „bewußte Lebenstätigkeit", „Gegenstand seines Wollens und seines Bewußtseins". 46 Einen wesentlichen Bestandteil der Kulturentwicklung bildet daher die wachsende Einsicht in die Gesetzmäßigkeiten der Natur und Gesellschaft, die aus der materiellen gesellschaftlichen Praxis hervorgehende weltanschauliche und ästhetische Wertung der Wirklichkeit sowie die Entfaltung der intellektuellen Anlagen und der geistigen Schöpferkraft der Menschen. Manifestiert sich in der m a t e r i e l l e n K u l t u r der historische Entwicklungsgrad der gesellschaftlichen Naturbeherrschung, also Umfang und Gestaltung der durch materielle Tätigkeit umgewandelten und veränderten Natur, Produktionsmittel und Ergebnisse der Arbeit, aber auch Arbeitsfertigkeiten und -kenntnisse der Menschen, so beinhaltet die g e i s t i g e K u l t u r die Ergebnisse der geistigen Tätigkeit: die in der weltanschaulichen und ästhetischen Wertung zum Ausdruck kommende Beziehung zur Natur und Gesellschaft, die wissenschaftliche Systematisierung des gesellschaftlichen Bewußtseins und die Entwicklung der intellektuellen Anlagen, Sinne und Gefühle der Menschen. Beide Bereiche sind nicht schematisch zu trennen und abzugrenzen, sie gehen in der menschlichen Lebenstätigkeit ineinander über. Ihre Verschiedenheit beruht vor allem auf der unterschiedlichen Funktion im gesellschaftlichen Leben und als historische Triebkraft. 4 7 Die Klassiker haben die Abhängigkeit der geistigen Kultur von den materiellen Lebensverhältnissen der Gesellschaft als entscheidendes Prinzip der materialistischen Geschichtsauffassung immer wieder betont und herausgearbeitet, aber zugleich auch die relative Eigengesetzlichkeit der geistig-kulturellen Entwicklung unterstrichen. Sie beruht vor allem auf der geschichtlichen Arbeitsteilung zwischen materieller und geistiger Tätigkeit, auf der partiellen Loslösung der geistigen Produktion der herrschenden Klassen vom materiellen Lebensprozeß der Gesellschaft und auf dem Charakter der Klassenideologien in den antagonistischen Gesellschaftsformationen. 48 Die Geschichte der Ideen und der geistigen Kultur wird in marxistischen Arbeiten allgemein unter dem völlig richtigen Gesichtspunkt erforscht und dargestellt, daß die Gedanken der herrschenden Klassen in jeder Epoche die herrschenden Gedanken waren und die herrschenden Gedanken „weiter nichts als der ideelle Ausdruck der herrschenden materiellen Verhältnisse; also der Verhältnisse, die eben die eine Klasse zur herrschenden machen, also die Gedanken ihrer Herrschaft." 4 9 In der Tat, die geistige Kultur entwickelt sich als Geschichte von Klassenideologien. Weniger wird dagegen in der Regel berücksichtigt, daß sich in der Entwicklung der geistigen Kultur stets auch das aktive Verhältnis der 46
Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte. MEW, Ergbd. 1, S. 516. E. W. Sokolow, Die Elemente der Kulturtheorie, a. a. O., S. 1084 f. -»8 Karl Marx, Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie. MEW, Bd. 3, S. 26 f., 30 f.; Friedrich Engels, Dialektik der Natur. M E W , Bd. 20, S. 540 f.; derselbe, Brief an Conrad Schmidt, 27. 10. 1890. M E W , Bd. 37, S. 490 ff. « MEW, Bd. 3, S. 46.
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Menschen zur Natur, der Grad der Naturbeherrschung sowie des gesellschaftlichen Beziehungsreichtums widerspiegelte, ja daß diese Seite der materiellen Lebensbedingungen der Gesellschaft die letztlich entscheidende, wenn auch durch die Klassenideologien vermittelt wirkende Triebkraft des geistig-kulturellen Fortschritts bildet. „Aber grade die Veränderung der Natur durch den Menschen, nicht die Natur als solche allein, ist die wesentlichste und nächste Grundlage des menschlichen Denkens, und im Verhältnis, wie der Mensch die Natur verändern lernte, in dem Verhältnis wuchs seine Intelligenz," schrieb Engels. 50 Und in der „Deutschen Ideologie" findet sich die grundlegende Feststellung, „daß der wirkliche geistige Reichtum des Individuums ganz von dem Reichtum seiner wirklichen Beziehungen abhängt." 51 Neben den Klassen- und Ausbeutungsverhältnissen prägt auch das Verhältnis der Menschen zur Natur und ihr gesellschaftlicher Beziehungsreichtum den jeweiligen historischen Typus der geistigen Kultur: sowohl die Möglichkeiten und Grenzen des intellektuellen Entfaltungsgrades der Klassenindividuen als auch das geistig-weltanschauliche Niveau, auf dem die Klassen ihre Ideologien artikulieren. Darauf haben die Klassiker wiederholt aufmerksam gemacht. So wies Marx darauf hin, daß der Kunst und Geisteskultur der griechischen Antike ein ganz bestimmtes religiös-mythologisches Verhältnis zur Natur und Gesellschaft zugrunde lag. 52 Im „Kapital" charakterisierte er die historische Stufe der geistigen Kultur der altasiatischen und antiken Gesellschaftsformen durch das Verhältnis der Menschen sowohl zur Natur als zueinander: „Jene alten gesellschaftlichen Produktionsorganismen sind außerordentlich viel einfacher und durchsichtiger als der bürgerliche, aber sie beruhen entweder auf der Unreife des individuellen Menschen, der sich von der Nabelschnur des natürlichen Gattungszusammenhangs mit anderen noch nicht losgerissen ha,t, oder auf unmittelbaren Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnissen. Sie sind bedingt durch eine niedrige Entwicklungsstufe der Produktivkräfte der Arbeit und entsprechend befangene Verhältnisse des Menschen innerhalb ihres materiellen Lebenserzeugungsprozesses, dah'er zueinander und zur Natur. Diese wirkliche Befangenheit spiegelt sich ideell wider in den alten Natur- und Volksreligionen." 53 Die geistige Kultur der kapitalistischen Gesellschaft wird dagegen von einer Produktionsweise geprägt, die ein vorwiegend rationales, nüchternes, von Nützlichkeitserwägungen bestimmtes Verhältnis zur Natur und Gesellschaft hervorbringt und diesseitiges, wissenschaftliches Denken fördert. Das Kapital erst schafft „ein System der allgemeinen Exploitation der natürlichen und menschlichen Eigenschaften, ein System der allgemeinen Nützlichkeit, als dessen Träger die Wissenschaft selbst so gut erscheint wie alle physischen und geistigen Eigenschaften... Die Natur wird erst rein Gegenstand für den Menschen, rein Sache der Nützlichkeit, hört auf als Macht für sich anerkannt zu werden." 5 4 Die für die kapitalistische Produktionsweise charakteristische allgemeine Warenproduktion bezieht so Friedrich Engels, Dialektik der Natur. MEW, Bd. 20, S. 498. — Vgl. auch Karl Marx, Theorien über den Mehrwert. MEW, Bd. 26. 1, S. 256 f: „Aus der bestimmten Form der materiellen Produktion ergibt sich eine bestimmte Gliederung der Gesellschaft, . . . zweitens ein bestimmtes Verhältnis der Menschen zur Natur. Ihr Staatswesen und ihre geistige Anschauung ist durch beides bestimmt. Also auch die Art ihrer geistigen Produktion." 5 1 MEW, Bd. 3, S. 37. 52 Karl Marx, Grundrisse, a. a. O., S. 30 f. Vgl. auch: Reimar Müller, Hegel und Marx über die antike Kultur. Philologus 116, 1972, S. 1 ff. 5 3 MEW, Bd. 23, S. 93 f. 54 Karl Marx, Grundrisse, a . a . O . , S. 313; Vgl. auch MEW, Bd. 4, S. 464 f. - Die Tatsache, daß im Kapitalismus eine diesseitige, wissenschaftliche Einstellung zur Wirklichkeit die geistige Kultur prägt, heißt nicht, daß auf dieser Kulturstufe das religiöse Denken bereits ausstirbt. Vgl. dazu: Friedrich Engels, Antidühring. MEW, Bd. 20, S. 294 f.
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erstmals auch alle geistige Tätigkeit in einen universellen gesellschaftlichen Austausch ein, und die ständig erweiterte, auf Reichtumserwerb orientierte Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens dynamisiert das objektive geistig-kulturelle Angebot, das allen Gesellschaftsmitgliedern — allerdings nur potentiell, nämlich auf dem Markt — zur Verfügung steht. 55 Schließlich bringen der hohe Vergesellschaftungsgrad der Arbeit und der Lebensformen, die im Vergleich zu früheren Gesellschaftsformationen höhere Entwicklungsdynamik aller gesellschaftlichen Bereiche einschließlich der Lebensweise einen neuen Menschentyp von hoher geistiger Mobilität auch in der arbeitenden Klasse hervor. „Hebung der Produktivkräfte der gesellschaftlichen Arbeit und Vergesellschaftung dieser Arbeit" — diese beiden Hauptkennzeichen der kapitalistischen Produktionsweise führen, wie Lenin betonte, „unvermeidlich auch zu einer Veränderung des geistigen Gepräges der Bevölkerung. Der sprunghafte Charakter der ökonomischen Entwicklung, die schnelle Umgestaltung der Produktionsmethoden und die gewaltige Konzentration der Produktion, der Wegfall aller Formen der persönlichen Abhängigkeit und der patriarchalischen Beziehungen, die Beweglichkeit der Bevölkerung, der Einfluß der großen Industriezentren usw. — all das muß zu einer tiefgreifenden Veränderung des Charakters der Produzenten führen..." 5 6 Erstmals in der Geschichte des ausgebeuteten, werktätigen Volkes vermag daher die Arbeiterklasse ihre grundlegenden Interessen und Klassenkampfziele in Form eines wissenschaftlichen, säkularisierten Weltbildes zu artikulieren und unter Führung ihrer revolutionären Partei sich wissenschaftliches Denken anzueignen, wird das Bündnis zwischen politischer Bewegung einer Klasse und Wissenschaft objektiv möglich und historisch realisiert.
Gerade die Kulturgeschichtsschreibung darf sich also bei der Erforschung der geistigen Kultur nicht auf deren politisch-ideologische Funktion allein beschränken. Sie muß die geistige Kultur als Ausdruck des jeweiligen historischen Verhältnisses der Menschen zur Natur und zueinander, den geistig-kulturellen Fortschritt als abhängig von der zugleich natur- und gesellschaftsverändernden Tätigkeit begreifen und darstellen. Sie muß ferner von der unterschiedlichen Funktion der materiellen und geistigen Kultur im historischen Prozeß ausgehen. Die Entwicklung der materiellen Kultur — der Prozeß der wachsenden Naturbeherrschung auf immer höherer gesellschaftlicher Stufenfolge — bildet die Grundlage des gesamten kulturellen Fortschritts. Die geistige Kultur besitzt dagegen vorwiegend eine menschliches Handeln organisierende, zielorientierende und prognostizierende Funktion entsprechend den materiellen Bedürfnissen und Interessen der einzelnen Klassen. In dem Maße, wie die Kulturentwicklung der Menschheit voranschreitet, steigt die Bedeutung dieser Funktion und damit der geistigen Kultur überhaupt. Der Spielraum für die geistige Entfaltung der Menschen wächst, je weniger Zeit die Gesellschaft für die Befriedigung ihrer wachsenden materiellen Lebensbedürfnisse aufzuwenden braucht. Mit der Akkumulation menschlichen Wissens, menschlicher Denk- und Gefühlsweisen vergrößert sich andererseits der Reichtum und die Vielfalt an Varianten, 55 Karl Marx, Grundrisse, a. a. O., S. 484; „Alle früheren [d. h. vorkapitalistischen. P. S.] Eigentumsformen verdammen den größern Teil der Menschheit, . . . reine Arbeitsinstrumente zu sein. Die geschichtliche Entwicklung, politische Entwicklung, Kunst, Wissenschaft etc. spielen in den höheren Kreisen über ihnen. Das Kapital aber erst hat den geschichtlichen Progreß gefangen genommen in den Dienst des Reichtums." — Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, daß die kapitalistische Produktionsweise nicht alle Bereiche der geistigen Tätigkeit im gleichen Maß vorantreibt und z. B. der künstlerischen und poetischen Produktion tendenziell feindlich gegenübersteht. Vgl. Karl Marx, Theorien über den Mehrwert. MEW, Bd. 26, 1, S. 257. 56 W. I. Lenin, Die Entwicklung des Kapitalismus in Rußland. Werke, Bd. 3, Berlin 1971, S.617, 621.
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die den Menschen objektiv als Erbe zur Verfügung stehen, um die Probleme ihres gesellschaftlichen Lebens sachkundig und schöpferisch zu bewältigen. Die steigende Bedeutung der geistigen Kultur zeigt sich nicht zuletzt in der neuen historischen Qualität, die sie im Sozialismus gewinnt, wo die wissenschaftliche Erkenntnis der Gesetze des gesellschaftlichen Lebens und die geistig-kulturelle Entfaltung aller Gesellschaftsmitglieder zum entscheidenden Hebel der bewußten, planmäßigen Gestaltung und Verwirklichung des ökonomischen und sozialen Fortschritts wird. Darauf wird noch einzugehen sein. 4. D i e W i d e r s p r ü c h l i c h k e i t d e s K u l t u r p r o z e s s e s die H a u p t s t a d i e n der K u l t u r e n t w i c k l u n g
und
Die Kulturentwicklung der Menschheit ist — nach der Auffassung von Marx und Engels — ihrem Wesen nach, d. h. als Ganzes und in jeder Epoche der Geschichte, ein widersprüchlicher Prozeß. Diese Widersprüchlichkeit beruht zunächst auf der Tatsache, daß der kulturelle Prozeß eine dialektische Einheit unterschiedlicher Seiten bildet. Zum einen handelt es sich um die fortschreitende Beherrschung und Anpassung der natürlichen Umwelt an wachsende menschliche Bedürfnisse, um die Schaffung der objektiven, materiellen Bedingungen spezifisch menschlicher Existenz, mit dem Ergebnis einer Abhängigkeitsverminderung der Menschen von den äußeren Naturbedingungen. Die andere Seite beinhaltet das gesetzmäßige Wachstum des subjektiven Faktors: die Vervollkommnung und Bereicherung der Menschen als gesellschaftliche Individuen, ihrer körperlichen und vor allem geistigen Fähigkeiten, ihrer Kenntnisse und ihres Intellekts, ihrer Sinne und G e f ü h l e . 5 7 Beide Seiten des Prozesses entwickeln sich in Wechselwirkung zueinander, aber nicht im Gleichmaß. Die Schaffung der objektiven, materiellen Grundbedingungen menschlicher Existenz — die wachsende Umwandlung der Natur in einen „unorganischen Leib" des Menschen, in seine Arbeits- und Lebensmittel 58 — bildet die entwicklungsbestimmende Seite, die Basis. Die entsprechenden Fähigkeiten und Kräfte des Menschen als subjektive Seite sowie die Erkenntnis der Gesetzmäßigkeiten von Natur und Gesellschaft als ideelle Seite der Kultur entfalten sich letztendlich in Abhängigkeit von der Basis, jedoch in Form eines relativ eigenständigen Prozesses, der auf die Basisentwicklung vorantreibend oder hemmend zurückwirkt. Marx und Engels haben die Haupterscheinungsformen und Hauptursachen des dialektischen Charakters der Kulturentwicklung überzeugend herausgearbeitet, indem sie zeigten, wie diese Widersprüchlichkeit zum Antagonismus 5? Vgl. Horst Redeker, Der Kulturprozeß und die wachsende Rolle des subjektiven Faktors. DZfPh 22, 1974, S. 564 ff.; Gottfried Stiehler, Gesellschaft und Geschichte. Zu den Grundlagen der sozialen Entwicklung, Berlin 1974, S. 9—39. 58 „Die Universalität des Menschen (gegenüber dem Tier. P. S.) erscheint praktisch eben in der Universalität, die die ganze Natur zu seinem unorganischen Körper macht, sowohl insofern sie 1. ein unmittelbares Lebensmittel, als inwiefern sie 2. die Materie, der Gegenstand und das Werkzeug seiner Lebenstätigkeit ist. Die Natur ist der unorganische Leib des Menschen, nämlich die Natur, soweit 'sie nicht selbst menschlicher Körper ist." Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte. MEW, Ergbd. 1, S. 515 f.
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in den auf Ausbeutung beruhenden Klassengesellschaften wird. Dabei handelt es sich erstens um die Widersprüchlichkeit von Gattungs- und Individualentwicklung. Ist die Umwandlung der Natur entsprechend den menschlichen Bedürfnissen, also das Wachstum der objektiven Kultur, stets das Ergebnis des gesellschaftlichen Zusammenwirkens der Menschen, die Vergegenständlichung ihres „werktätigen Gattungslebens" 5 9 , so existiert die mit diesem Prozeß verbundene subjektive Seite der Kultur — die Entfaltung der Menschen — nur in den Individuen. Sieht man von den subjektiven Fähigkeiten und Anlagen des Einzelindividuums ab, so werden die sozialen Möglichkeiten und Grenzen der individuellen Aneignung der objektiven Kultur durch die jeweiligen Eigentumsund Klassenverhältnisse bestimmt. Die Tatsache, daß nach Auflösung der Gentilgesellschaft die Höherentwicklung der Kultur zunächst gesetzmäßig durch eine Reihe antagonistischer Gesellschaftsformationen vorangetrieben wird, führt zu einer klassenmäßig bedingten Divergenz von Gattungs- und Individualentwicklung. Die große Mehrzahl der Menschen, die Angehörigen der werktätigen und ausgebeuteten Klassen, können sich infolge der herrschenden Produktionsverhältnisse die Kulturfortschritte der Gesellschaft nicht oder nur begrenzt aneignen, sie können ihre individuellen Kräfte und Fähigkeiten kaum oder nur beschränkt und, soweit sie dazu in der Lage sind, nur als Ergebnis eines permanenten Klassenkampfes entfalten. Marx betonte diesen Antagonismus durch die Feststellung, daß die „Entwicklung der Fähigkeiten der Gattung Mensch, obgleich sie sich zunächst auf Kosten der Mehrzahl der Menschenindividuen und ganzer Menschenklassen macht, schließlich diesen Antagonismus durchbricht und zusammenfällt mit der Entwicklung des einzelnen Individuums, daß also die höhere Entwicklung der Individualität nur durch einen historischen Prozeß erkauft wird, worin die Individuen geopfert werden . . ." 6 0 Und in der „Kritik des Gothaer Programms" formulierte er als historisches Gesetz: „In dem Maße, wie die Arbeit sich gesellschaftlich entwickelt und dadurch Quelle von Reichtum und Kultur wird, entwickeln sich Armut und Verwahrlosung auf Seiten des Arbeiters, Reichtum und Kultur auf Seiten des Nichtarbeiters. Dies ist das Gesetz der ganzen bisherigen Geschichte." 61 Bei dieser zugespitzten Formulierung ist allerdings der tendenzielle Charakter historischer Gesetzmäßigkeiten zu berücksichtigen. Die fortschreitende kulturelle Verarmung und Verwahrlosung des Arbeiters ist ein relativer Prozeß, bezogen auf den jeweiligen Entwicklungsgrad der objektiven Kultur und des wachsenden Reichtums der Gesellschaft. Auch die Möglichkeit, die klassenbedingten Grenzen des kulturellen
59 „Eben in der Bearbeitung der gegenständlichen Welt bewährt sich der Mensch daher erst wirklich als ein Gattungswesen. Diese Produktion ist sein werktätiges Gattungsleben. Durch sie erscheint die Natur als sein Werk und seine Wirklichkeit. Der Gegenstand der Arbeit ist daher die Vergegenständlichung des Gattungslebens der Menschen: Indem er sich . . . werktätig, wirklich verdoppelt und sich selbst daher in einer von ihm geschaffenen Welt anschaut." Karl Marx, ebda. S. 517. 60 Karl Marx, Theorien über den Mehrwert. MEW, Bd. 26, 2, S. 111. 61 MEW, Bd. 19, S. 17. Wenn Marx von der „ganzen bisherigen Geschichte" spricht, so ist damit die historische Entwicklung unter den Verhältnissen der Ausbeutung gemeint.
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Status durch den Klassenkampf graduell zu erweitern, bleibt bei der Marx'schen Formulierung außerhalb der Betrachtung. Eine zweite wesentliche Erscheinungsform des antagonistischen Charakters der Kulturentwicklung bildet die Divergenz zwischen einerseits steigender gesellschaftlicher Naturbeherrschung und Naturerkenntnis, andererseits Herrschaftsverlust und relativem Zurückbleiben der Erkenntnis gegenüber den Gesetzen des sozialen Zusammenlebens. Auch dieser Widerspruch beruht letztlich auf der antagonistischen Klassenspaltung und auf der dem gesamten Geschichtsprozeß zugrundeliegenden Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen. Die mit der Umwandlung und Beherrschung der Natur gesetzmäßig verknüpfte Höherentwicklung, Differenzierung und Bereicherung der sozialen und politischen Lebensformen entgleitet im Laufe der Geschichte immer mehr der Kontrolle der Menschen. In dem Maße, wie die Differenziertheit und Komplexität der gesellschaftlichen Organismen zunimmt, entwickeln sich die Gesetzmäßigkeiten des sozialen Zusammenlebens zu einer die Menschheit blind beherrschenden Macht, solange die Klasseninteressen einer Minderheit die materiellen Lebensbedingungen und den Erkenntnisfortschritt der Gesellschaft bestimmen. „Hat es aber schon die Arbeit von Jahrtausenden erfordert, bis wir einigermaßen lernten, die entferntem natürlichen Wirkungen unserer auf die Produktion gerichteten Handlungen zu berechnen, so war dies noch weit schwieriger in bezug auf die entfernteren gesellschaftlichen Wirkungen dieser Handlungen", stellte Engels in der „Dialektik der N a t u r " fest. 62 „Die Menschen dagegen, je mehr sie sich vom Tier im engeren Sinne entfernen, desto mehr machen sie ihre Geschichte selbst, mit Bewußtsein, desto geringer wird der Einfluß unvorhergesehener Wirkungen, unkontrollierter Kräfte auf diese Geschichte, desto genauer entspricht der geschichtliche Erfolg dem vorher festgestellten Zweck. Legen wir aber diesen Maßstab an die menschliche Geschichte, selbst der entwickeltsten Völker der Gegenwart, so finden wir, daß hier noch immer ein kolossales Mißverhältnis besteht zwischen den vorgesteckten Zielen und den erreichten Resultaten, daß die unvorhergesehenen Wirkungen vorherrschen, daß die unkontrollierten Kräfte weit mächtiger sind als die planmäßig in Bewegung gesetzten... Wir haben in den fortgeschrittensten Industrieländern die Naturkräfte gebändigt und in den Dienst der Menschen gepreßt; wir haben damit die Produktion ins unendliche vervielfacht... Und was ist die Folge? Steigende Überarbeit und steigendes Elend der Massen und alle zehn Jahre ein großer Krach. Darwin wußte nicht, welch bittre Satire er auf die Menschen... schrieb, als er nachwies, daß die freie Konkurrenz, der Kampf ums Dasein, den die Ökonomen als höchste geschichtliche Errungenschaft feiern, der Normalzustand des Tierreichs ist. Erst eine bewußte Organisation der gesellschaftlichen Produktion, in der planmäßig produziert und verteilt wird, kann die Menschen ebenso in gesellschaftlicher Beziehung aus der übrigen Tierwelt herausheben, wie dies die Produktion überhaupt für die Menschen in spezifischer Beziehung getan hat." 6 3 Durch die fortschreitende Erkenntnis, Umwandlung und Beherrschung der Natur heben sich die Menschen in einem jahrtausendelangen Prozeß aus dem Tierreich heraus. Umso stärker geraten sie jedoch unter die Herrschaft blind und zerstörerisch wirkender gesellschaftlicher und historischer Gesetze. Bei allem Fortschritt der Kultur bleiben sie dem „Tierreich" verhaftet, solange sie ihre gesellschaftlichen Lebensbedingungen nicht zu kontrollieren und zu beherrschen imstande sind, solange die Geschichte „nach Art eines Naturprozesses" 6 4 sich gegen den Willen und die Absichten der Menschen durchsetzt. Mit dem Fortschritt der Zivilisation wird also zugleich Barbarei auf neuer Stufenleiter erzeugt bzw. konserviert. Dieser Antagonismus scheint im Kapitalismus seine höchste Zuspitzung zu erreichen. Der „Darwinsche Kampf ums Einzeldasein" wird „aus der Natur mit potenzierter Wut « MEW, Bd. 20, S. 453. « Ebda, S. 323 f. 64 Friedrich Engels an J. Bloch, 21./22. 9. 1890. MEW, Bd. 37, S. 464.
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übertragen in die Gesellschaft. Der Naturstandpunkt des Tieres erscheint als Gipfelpunkt der menschlichen Entwicklung." 6 5
Die Auffassung vom in sich widersprüchlichen Charakter des Kulturfortschritts, der von der Auflösung der Urgesellschaft bis zum Kapitalismus seinen Ausdruck findet im Fortschreiten einer Zivilisation, die eine neue Art der Barbarei erzeugt und damit Erscheinungsformen vergangener, überholter Kulturstufen ständig reproduziert — diese Auffassung bildet einen der Eckpfeiler der Kulturgeschichtskonzeption und Zivilisationstheorie von Marx und Engels. Auf die ideengeschichtlichen Quellen und die Ausarbeitung dieser Lehre kann im Rahmen dieses Aufsatzes nicht eingegangen werden. Hier muß der Hinweis genügen, daß Marx und Engels sich seit der Begründung ihrer wissenschaftlichen Geschichtsauffassung bis zu ihren Alterswerken immer wieder mit der geschichtlichen Problematik der Zivilisation und einer wissenschaftlichen Zivilisationskritik beschäftigten, wobei sie vor allem an die Auffassungen des utopischen Sozialisten Charles Fourier anknüpften. In der „Heiligen Familie" und anderen Schriften vor 1848 polemisierten sie wiederholt gegen die banale Fortschritts- und Zivilisationsgläubigkeit und die spekulativ-idealistische Geschichtsauffassung der Hegelianer und „wahren" Sozialisten, indem sie Fouriers Kulturgeschichtstheorie und Zivilisationskritik ins Feld führten. 6 6 In ihren Arbeiten über die kapitalistische Gesellschaft und Ausbeutung gaben sie der Zivilisationstheorie Fouriers eine materialistische, ökonomisch begründete Basis. 67 Im „Antidühring" setzte Engels schließlich den Erkenntnissen Fouriers ein Denkmal. Er stufte ihn als einen „der größten Satiriker aller Zeiten" ein, der „die materielle und moralische Misère der bürgerlichen Welt unbarmherzig" aufgedeckt und die „gleißenden Versprechungen der Aufklärer von der Gesellschaft, in der nur die Vernunft herrschen werde, von der alles beglückenden Zivilisation, von der grenzenlosen menschlichen Vervollkommnungsfahigkeit" mit der erbärmlichen kapitalistischen Wirklichkeit konfrontiert habe. „Noch meisterhafter ist seine Kritik der bürgerlichen Gestaltung der Geschlechtsverhältnisse und der Stellung des Weibes in der bürgerlichen Gesellschaft. Er spricht es zuerst aus, daß in einer gegebenen Gesellschaft der Grad der weiblichen Emanzipation das natürliche Maß der allgemeinen Emanzipation ist. Am großartigsten aber erscheint Fourier in seiner Auffassung der Geschichte der Gesellschaft. Er teilt ihren ganzen bisherigen Verlauf in vier Entwicklungsstufen: Wildheit, Patriarchat, Barbarei, Zivilisation, welch letztere mit der jetzt sogenannten bürgerlichen Gesellschaft zusammenfallt, und weist nach, ,daß die zivilisierte Ordnung jedes « Friedrich Engels, Antidühring. M E W , Bd. 20, S. 255. Vgl. auch Engels an P. L. Lawrow, 12. 11. 1875. MEW, Bd. 34, S. 170 f. 66 M E W , Bd. 2, S. 88 f., 207 f., 607; Bd. 3, S. 502. - Es wäre eine für die marxistische Kulturgeschichte äußerst verdienstvolle Arbeit, die Zivilisationslehre Fouriers als Quelle für die historischmaterialistische Kulturauffassung von Marx und Engels aufzuarbeiten. 67 Friedrich Engels, Die Lage der arbeitenden Klasse in England. MEW, Bd. 2, S. 307—310, 398, 404 f.; Karl Marx, Arbeitslohn. MEW, Bd. 6, S. 553: „Die Barbarei erscheint wieder, aber aus dem Schoß der Zivilisation erzeugt und ihr angehörig; daher aussätzige Barbarei, Barbarei als Aussatzkrankheit der Zivilisation."
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Laster, welches die Barbarei auf einfache Weise ausübt, zu einer zusammengesetzten, doppelsinnigen, zweideutigen, heuchlerischen Daseinsweise erhebt', daß die Zivilisation sich in einem fehlerhaften Kreislauf bewegt, in Widersprüchen, die sie stets neu erzeugt, ohne sie überwinden zu können, so daß sie stets das Gegenteil erreicht von dem, was sie erlangen will oder zu erlangen vorgibt. So daß z. B. ,in der Zivilisation die Armut aus dem Überfluß selbst entspringt'." 6 8 Nach dem Erscheinen von Morgans Werk „Ancient Society" (1877), das nicht nur in der Erkenntnis der urgesellschaftlichen Verhältnisse einen Meilenschritt nach vorn bedeutete, sondern auch eine historisch begründete Zivilisationsauffassung enthielt, machten sich Marx und Engels an die Darstellung ihrer eigenen Kulturgeschichtsauffassung und Zivilisationstheorie. Nach dem Tode von Marx führte Engels die Arbeit allein fort, stützte sich jedoch bei der Ausarbeitung seines Werkes „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates" auf einen umfangreichen, kritischen Konspekt, den Marx zu Morgans Buch angefertigt hatte. 69 „Ein Hauptpunkt noch: ich muß nachweisen, wie genial Fourier in so vielen Sachen den Morgan antizipiert hat. Fouriers Kritik der Zivilisation tritt erst durch Morgan in ihrer ganzen Genialität hervor," schrieb Engels während der Niederschrift des „Ursprungs der Familie" an Kautsky. 7 0 Er fand zwar nicht die Zeit, dieses Vorhaben zu verwirklichen. 71 Er legte jedoch — und das ist entscheidend — in diesem Spätwerk die Hauptgesichtspunkte der materialistischen Kulturgeschichtsauffassung und Zivilisationstheorie zusammenfassend dar, die Marx und Engels sich nach 1848 schrittweise erarbeitet hatten: vor allem in den „Grundrissen", im „Kapital" und „Antidühring". Den ganzen Reichtum der kulturhistorischen Einsichten dieser Werke kann ein Aufsatz nicht erschließen. Nur auf einige universalhistorische Grundlinien der Kulturgeschichtsauffassung von Marx und Engels soll hier — unter dem Gesichtspunkt des widerspruchsvollen Charakters der Zivilisation — hingewiesen werden. „Wie die Menschen ursprünglich aus dem Tierreich — im engeren Sinne — heraustreten, so treten sie in die Geschichte ein: noch halb Tiere, roh, noch ohnmächtig gegenüber den Kräften der Natur, noch unbekannt mit ihren eigenen; daher arm wie die Tiere und kaum produktiver als sie." 7 2 Das erste Stadium ihrer kulturellen Entwicklung umfaßte nach Engels die „ v o r g e s c h i c h t l i c h e n K u l t u r s t u f e n " der Wildheit und Barbarei. 73 Eine „äußerst unentwickelte Produktion" und geringe Bevölkerungsdichte, „fast vollständiges Beherrschtsein des Menschen von der ihm fremd gegenüberstehenden, unverstandnen äußern Natur" — widergespiegelt in „kindischen religiösen Vorstellungen" — sowie die Zugehörigkeit zu eng begrenzten, auf verwandtschaftlichen Verhältnissen beruhenden „naturwüchsigen Gemeinwesen" bestimmten den äußerst langsamen, viele Jahrtausende um-
«s MEW, Bd. 20, S. 242 f. 69
Deshalb sah Engels auch in diesem Werk die „Vollführung eines Vermächtnisses" seines K a m p f genossen. Vgl. M E W , Bd. 21, S. 27. 70
Engels an Kautsky, 26. 4. 1884. MEW, Bd. 36, S. 143. „Ich beabsichtigte anfangs, die brillante Kritik der Zivilisation, die sich in den Werken Charles Fouriers zerstreut vorfindet, neben diejenige Morgans und meine eigene zu stellen. Leider fehlt mir die Zeit dazu". Friedrich Engels, Der Ursprung der Familie. M E W , Bd. 21, S. 172. 72 Friedrich Engels, Antidühring. MEW, Bd. 20, S. 166. •» Friedrich Engels, Ursprung der Familie. MEW, Bd. 21, S. 30, 35. 71
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fassenden kulturellen Entwicklungsgang der G e n t i l o r d n u n g . Die gemeinsame P r o d u k t i o n u n d direkte Verteilung der P r o d u k t e vollzog sich innerhalb dieser naturwüchsig-kommunistischen G e meinschaften in engsten gesellschaftlichen Schranken, „ a b e r sie führte mit sich die H e r r s c h a f t der Produzenten über ihren P r o d u k t i o n s p r o z e ß und ihr P r o d u k t . . . ; und solange die P r o d u k t i o n auf dieser G r u n d l a g e betrieben wird, kann sie den Produzenten nicht über den K o p f w a c h s e n . . . " 7 4 Die Entwicklung der P r o d u k t i v k r ä f t e , die ersten gesellschaftlichen Arbeitsteilungen (Viehzucht u n d Feldbau, E n t s t e h u n g des H a n d w e r k s ) und die H e r a u s b i l d u n g eines sporadischen gesellschaftlichen Austauschs — zunächst an den Grenzen, d a n n innerhalb der gentilen G e m e i n s c h a f t e n — vergrößerten allmählich den gesellschaftlichen Reichtum, differenzierten die sozialen Verhältnisse u n d m a c h t e n die Erzeugung eines M e h r p r o d u k t s möglich. Die gentilen Gemeinwesen zerbrachen schließlich mit der Entstehung des Privateigentums, der A u s b e u t u n g u n d Klassenspaltung u n d der H e r a u s b i l d u n g des Staates. D a m i t begann ein neues S t a d i u m in der kulturellen Entwicklung der M e n s c h h e i t : die Z i v i l i s a t i o n . „ M i t der Sklaverei, die unter der Zivilisation ihre vollste Entfaltung erhielt, trat die erste große Spaltung der Gesellschaft ein in eine a u s b e u t e n d e u n d eine ausgebeutete Klasse. Diese Spaltung dauerte fort w ä h r e n d der ganzen zivilisierten Periode. Die Sklaverei ist die erste, der antiken Welt eigentümliche F o r m der A u s b e u t u n g ; ihr folgt die Leibeigenschaft im Mittelalter, die L o h n a r b e i t in der neueren Zeit. Es sind dies die drei großen F o r m e n der Knechtschaft, wie sie f ü r die drei großen E p o c h e n der Zivilisation charakteristisch sind. . , " 7 5 Die Klassenspaltung der Gesellschaft bildete eine einschneidende Zäsur, eine historische Gesetzmäßigkeit u n d einen bedeutenden Fortschritt in der Kulturentwicklung. „ O h n e Sklaverei kein griechischer Staat, keine griechische Kunst u n d Wissenschaft; o h n e Sklaverei kein R ö m e r r e i c h . O h n e die G r u n d l a g e des G r i e c h e n t u m s u n d des R ö m e r r e i c h s aber auch kein m o d e r n e s E u r o p a " , schrieb Engels im „ A n t i d ü h r i n g " . „ E s ist n u n einmal eine Tatsache, d a ß die Menschheit v o m Tiere angefangen u n d d a h e r barbarische, fast tierische Mittel nötig gehabt hat, u m sich aus der Barbarei herauszuarbeiten... Solange die menschliche Arbeit noch so wenig p r o d u k t i v war, d a ß sie n u r wenig U b e r s c h u ß über die notwendigen Lebensmittel hinaus lieferte, war Steigerung der P r o d u k t i v i t ä t , A u s d e h n u n g des Verkehrs, Entwicklung von Staat u n d Recht, B e g r ü n d u n g von K u n s t u n d Wissenschaft n u r möglich vermittelst einer gesteigerten Arbeitsteilung, die zu ihrer G r u n d l a g e haben m u ß t e die große Arbeitsteilung zwischen den die einfache H a n d a r b e i t besorgenden Massen u n d den die Leitung der Arbeit, den Handel, die Staatsgeschäfte u n d späterhin die Beschäftigung mit K u n s t u n d Wissenschaft betreibenden wenigen Bevorrechteten..." 7 6 Mit der Zivilisation trat die Menschheit in ein Entwicklungsstadium ein in welchem sich der Kulturfortschritt gegenüber den vorgeschichtlichen K u l t u r s t u f e n erheblich beschleunigte, dieser aber einen neuen, einen antagonistischen C h a r a k t e r a n n a h m u n d von qualitativ andersartigen Gesetzmäßigkeiten vorangetrieben wurde. „ D a die G r u n d l a g e der Zivilisation die A u s b e u t u n g einer Klasse d u r c h eine andere ist, so bewegt sich ihre ganze Entwicklung in einem f o r t d a u e r n d e n Widers p r u c h . " 7 7 A n die Stelle einer K u l t u r , die d u r c h naturwüchsige, auf Geschlechtsbanden gegründete Gemeinwesen geprägt u n d in engen Schranken vorangetrieben worden war, traten „ n e u e soziale E l e m e n t e " als T r i e b k r ä f t e ; wachsender gesellschaftlicher A u s t a u s c h und fortschreitende Arbeitsteilung auf der G r u n d l a g e des Privateigentums, die A u s b e u t u n g f r e m d e r A r b e i t s k r a f t u n d die sozialen Unterschiede in der A n e i g n u n g des gesellschaftlichen Reichtums, die Klassengegensätze u n d der Klassenkampf.78 Die Zivilisation ist — nach der Definition von Engels — „die Entwicklungsstufe der Gesellschaft, auf der die Teilung der Arbeit, der a u s ihr entspringende Austausch zwischen einzelnen u n d die beides z u s a m m e n f a s s e n d e W a r e n p r o d u k t i o n zur vollen E n t f a l t u n g k o m m e n und die ganze f r ü h e r e Gesellschaft u m w ä l z e n . " 7 9 Mit dieser Feststellung charakterisierte Engels den entscheidenden 74 7
E b d a , S. 97, 168 f.
5 E b d a , S. 170.
76
M E W , Bd. 20, S. 168.
77
Friedrich Engels, U r s p r u n g der Familie. M E W , Bd. 21, S. 171.
7
8 E b d a , S. 28.
7
? E b d a , S. 168.
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kulturgeschichtlichen Inhalt der Zivilisation: den Prozeß der schrittweisen Auflösung und Beseitigung jener naturwüchsigen, lokalen Gemeinschaftsformen und Gemeinwesen, die in der Gentilordnung auf verwandtschaftlichen Beziehungen, in den vorkapitalistischen Gesellschaftsformationen auf persönlichen Formen der Abhängigkeit und Knechtschaft beruhten und Folge der geringen Entwicklung der Produktivkräfte und Naturbeherrschung waren. Es war dies zugleich der Prozeß der wachsenden Vergesellschaftung der Arbeit und aller sozialen Lebensformen auf der Grundlage steigender Arbeitsteilung und des fortschreitenden gesellschaftlichen Austausches bis zu jenem Punkt, wo — im Kapitalismus — die gesellschaftlichen Zusammenhänge allseitig und universell, wenn auch in einer den Menschen entfremdeten Form sachlicher Abhängigkeiten sich herausbildeten. Die Zivilisation könnte man daher mit den Worten von Marx auch als jenes Stadium der Kultur bezeichnen, in der die Menschen „noch in der Schöpfung der Bedingungen ihres sozialen Lebens begriffen sind"; denn sie können sich „ihre eigenen gesellschaftlichen Zusammenhänge nicht unterordnen..., bevor sie dieselben geschaffen haben." 8 0 Im Verlauf der Zivilisation vermehren die Menschen mit dem Grad der Naturbeherrschung und der Vergesellschaftung der Arbeit den materiellen und geistigen Reichtum der Gesellschaft und ihre Bedürfnisse und Fähigkeiten soweit, daß die Abschaffung aller Ausbeutung und aller Ausbeuterklassen objektiv möglich und historisch notwendig wird. Notwendig, weil sich die antagonistischen Widersprüche mit dem Fortgang der Zivilisation im gleichen Schrittmaß zuspitzen und sich schließlich zu einem Hemmnis für die Höherentwicklung der Naturbeherrschung und für die weitere Vervollkommnung der menschlichen Natur auswachsen. Die Zivilisation begann mit jener großen gesellschaftlichen Arbeitsteilung, die die ausgebeuteten Klassen auf die materielle Produktion beschränkte und sie von der Aneignung des wachsenden materiellen und geistigen Reichtums der Gesellschaft ausschloß, während die nichtarbeitenden herrschenden Klassen sich der Arbeitsleitung, den Staatsgeschäften, den Wissenschaften und Künsten sowie der individuellen Aneignung der gesellschaftlichen Kultur widmen konnten. „ D a s Gesetz der Arbeitsteilung ist es also, was der Klassenteilung zugrunde liegt... Aber wenn hiernach die Einteilung in Klassen eine gewisse geschichtliche Berechtigung hat, so hat sie eine solche doch nur für einen gegebenen Zeitraum, für gegebene gesellschaftliche Bedingungen. Sie gründete sich auf die Unzulänglichkeit der Produktion; sie wird weggefegt werden durch die volle Entfaltung der modernen Produktivkräfte..." Die Abschaffung der Ausbeuterklassen „hat also zur Voraussetzung einen Höhegrad der Entwicklung der Produktion, auf dem Aneignung der Produktionsmittel und Produkte, und damit der politischen Herrschaft, des Monopols der Bildung und geistigen Leitung durch eine besondere Gesellschaftsklasse nicht nur überflüssig, sondern auch ökonomisch, politisch und intellektuell ein Hindernis der Entwicklung geworden ist." 81 Die Beseitigung der Ausbeuterklassen und aller Ausbeutung durch die sozialistische Revolution setzt also einen bestimmten Entwicklungsgrad der objektiven Kultur voraus. Diese geschichtliche Schwelle erreicht die Menschheit am Ende der Zivilisationsepoche mit der vollen Entfaltung der kapitalistischen Produktionsweise und ihrer Widersprüche. „Die Möglichkeit, vermittelst der gesellschaftlichen Produktion allen Gesellschaftsgliedern eine Existenz zu sichern, die nicht nur materiell vollkommen ausreichend ist und von Tag zu Tag reicher wird, sondern die ihnen auch die vollständige freie Ausbildung und Betätigung ihrer körperlichen und geistigen Anlagen garantiert, diese Möglichkeit ist jetzt zum ersten Mal da", stellte Engels vier Jahrzehnte vor dem Sieg der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution fest. 82 Mit ihr begann welthistorisch das Ende jener antagonistischen Periode der Zivilisation, in der jeder Kulturfortschritt mit einer neuen Stufe der Barbarei verknüpft war. Mit ihr wurde ein qualitativ neues 80 „Die universal entwickelten Individuen, deren gesellschaftliche Verhältnisse als ihre eigenen gemeinschaftlichen Beziehungen auch ihrer eigenen gemeinschaftlichen Kontrolle unterworfen sind, sind kein Produkt der Natur, sondern der Geschichte. Der Grad und die Universalität der Vermögen, worin diese Universalität möglich wird, setzt eben die Produktion auf der Basis der Tauschwerte voraus, die mit der Allgemeinheit die Entfremdung des Individuums von sich und von anderen, aber auch die Allgemeinheit und Allseitigkeit seiner Beziehungen und Fähigkeiten erst produziert." Karl Marx, Grundrisse, a. a. O., S. 79 f. «> Friedrich Engels, Antidühring, MEW, Bd. 20, S. 262 f. 82 Ebda, S. 263 f.
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Volkskunde
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Stadium der Kulturentwicklung eröffnet: der Eintritt der Menschen in wirklich menschliche Lebensbedingungen, der „Sprung der Menschheit aus dem Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit.""
Die hier wiedergegebene Konzeption des universalhistorischen Prozesses verdeutlicht nicht nur, daß die Begründer des wissenschaftlichen Kommunismus bis in ihre Alterswerke den kulturhistorischen Aspekt als einen wesentlichen immanenten Bestandteil in ihre Geschichtsauffassung einbezogen haben. 8 4 Mit dieser Konzeption gaben sie uns auch die Grundlage für eine Periodisierung, die, von der Spezifik des kulturhistorischen Verlaufs ausgehend, die Menschheitsentwicklung in drei große Stadien gliedert: vorgeschichtliche Kulturstufen, die mit den antagonistischen Gesellschaftsformationen identischen Perioden (bzw. Kulturstufen) der Zivilisation, gefolgt vom Eintritt der Menschheit in wirklich menschliche Lebensverhältnisse mit dem Aufbau der sozialistisch-kommunistischen Gesellschaftsformation. 5. D e r K l a s s e n c h a r a k t e r der P o l i t i s c h e r K l a s s e n k a m p f und
Kultur.
Kulturfortschritt
Dem historischen Platz des Kapitalismus in der Kulturentwicklung wandten Marx und Engels ihre besondere Aufmerksamkeit zu. Zwei Gründe waren dafür vor allem maßgebend. Zunächst einmal besaß die Analyse der Gesetzmäßigkeiten dieser Kulturstufe für die revolutionäre Arbeiterklasse als wissenschaftliche Grundlage ihrer Strategie und Taktik eine erstrangige Bedeutung. Zum anderen bot die kapitalistische Gesellschaftsformation als die damals höchste F o r m der gesellschaftlichen Entwicklung das fortgeschrittenste Modell, um die allgemeinen Gesetzmäßigkeiten des historischen Fortschritts, darunter auch die spezifische Rolle der Kulturentwicklung, herauszuarbeiten und zu verallgemeinern. Die für den Kapitalismus kennzeichnende Vereinfachung der Klassengegensätze sowie die Klassenkämpfe seit der großen französischen Revolution führten nach 1815 zur Entdeckung der Bedeutung der Klassen und des Klassenkampfes im Geschichtsprozeß. 8 5 Damit ergab sich auch die Möglichkeit, den kulturellen Aspekt des Klassenkampfes, die Wechselwirkungen zwischen politischem Klassenkampf und Kulturfortschritt und die Klassenbedingtheit der Kulturentwicklung überhaupt zu erkennen. Nach der materialistischen Geschichtsauffassung bildet der p o l i t i s c h e Klassenkampf die entscheidende Triebkraft der historischen Entwicklung in den antagonistischen Klassengesellschaften. Durch die politische Aktion und durch politische Vereinigungen von Klassen erfolgt letztlich der Sturz überlebter Klassenherrschaften und die Ablösung der ökono83 Ebda. 8 4 Damit soll nicht gesagt werden, daß jener Aspekt der einzige oder gar entscheidende für diese geschichtliche Konzeption gewesen ist. Zu den aus der politischen Praxis der revolutionären Arbeiterklasse in den 70er und 80er Jahren sich herleitenden Ursachen vgl. Ernst Engelberg, Probleme der gesetzmäßigen Abfolge der Gesellschaftsformationen. ZfG 22, 1974, S. 155 ff. 85 Friedrich Engels, Ludwig Feuerbach. M E W , Bd. 21, S. 298 f.; Karl M a r x an J. Weydemeyer, 5. 3. 1852. M E W , Bd. 28, S. 507 f.
Marx und Engels über Kultur
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mischen Gesellschaftsformationen. Die Kulturentwicklung fließt jedoch in komplexer Weise als spezifisch wirksame gesellschaftliche Triebkraft in diesen Prozeß ein. Wie das geschieht, haben Marx, Engels und Lenin vor allem anhand der kapitalistischen Stufe der Kulturentwicklung, anhand der kulturellen Situation der Arbeiterklasse und des proletarischen Klassenkampfes analysiert und deutlich gemacht. Unter dem Gesichtspunkt der Entfaltung der gesellschaftlichen Individuen fixierte Marx den besonderen historischen Platz des Kapitalismus in jener oft zitierten Periodisierung aus den „Grundrissen": „Persönliche Abhängigkeitsverhältnisse (zuerst ganz naturwüchsig) sind die ersten Gesellschaftsformen, in denen sich die menschliche Produktivität nur in geringem Umfang und auf isolierten Punkten entwickelt. Persönliche Unabhängigkeit auf sachlicher Abhängigkeit gegründet ist die zweite große Form, worin sich erst ein System des allgemeinen gesellschaftlichen Stoffwechsels, der universalen Beziehungen, allseitiger Bedürfnisse und universeller Vermögen bildet. Freie Individualität, gegründet auf die universelle Entwicklung der Individuen und die Unterordnung ihrer gemeinschaftlichen, gesellschaftlichen Produktivität, als ihres gesellschaftlichen Vermögens, ist die dritte Stufe. Die zweite schafft die Bedingungen der dritten." 8 6 Für alle v o r k a p i t a l i s t i s c h e n K u l t u r s t u f e n war ein relativ niedriges Niveau und langsames Wachstum der gesellschaftlichen Naturbeherrschung kennzeichnend. Die Produktionsmittel entwickelten sich in den Grenzen des Kleinbetriebs, zugeschnitten auf den persönlichen Gebrauch der unmittelbaren Produzenten (Bauern und Handwerker), die in der Regel Besitzer ihrer zwerghaften Arbeitsmittel waren. Den sozialen Rahmen des materiellen Lebensprözesses der Gesellschaft und der Entfaltung des Menschen bildeten Gemeinschaften und Gemeinwesen — etwa die antike Polis, die feudale Zunft und Kommune, die Dorfgemeinde und Markgenossenschaft etc. in Europa —, bildeten persönliche Abhängigkeits- und Knechtschaftsverhältnisse, die diesen — letztlich aus der Gentilordnung herrührenden — Gemeinwesen aufgepfropft erscheinen und sie historisch modifizierten. 87 Vorherrschend blieb unter diesen Bedingungen die Produktion von Gebrauchsgütern. Die Erzeugung von Tauschwerten, die Warenproduktion konnte sich hier nur in lokalem und begrenztem Maße entfalten. Wo sie diesen Rahmen überschritt, führte sie immer zum Untergang der betreffenden Produktionsweise und der sie tragenden gesellschaftlichen Organismen. 88 Da die Masse der unmittelbaren Produzenten im Besitz der Arbeitsmittel war. da persönliche Abhängigkeitsverhältnisse und die Zugehörigkeit der Produzenten zu einer relativ stabilen Gemeinschaft, zu einem lokalen Gemeinwesen die entscheidenden gesellschaftlichen Lebensbedingungen bildeten, blieb die 86 Karl Marx, Grundrisse, a. a. O., S. 75 f. 87
„Sklaverei und Leibeigenschaft sind daher nur weitere Entwicklungen des auf Stammwesen beruhenden Eigentums. Sie modifizieren notwendig alle Formen derselben." Karl Marx, ebda, S. 392. 88 „Patriarchalische, wie antike Zustände (ebenso feudale) verfallen daher ebensosehr mit der Entwicklung des Handels, des Luxus, des Geldes, des Tauschwertes, wie die moderne Gesellschaft im gleichen Schritt mit ihnen emporwächst." Karl Marx, ebda, S. 76. 3*
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individuelle Entfaltung der Menschen notwendigerweise begrenzt. „Das Individuum kann hier nie in der Punktualität auftreten, in der es als bloßer Arbeiter erscheint", konstatierte Marx. „In allen diesen Formen ist die Reproduktion vorausgesetzter — mehr oder minder naturwüchsiger oder auch historisch gewordener, aber traditionell gewordener — Verhältnisse des Einzelnen zu seiner Gemeinde und ein bestimmtes, ihm vorherbestimmtes objektives Dasein, sowohl im Verhalten zu den Bedingungen seiner Arbeit wie zu seinen Mitarbeitern, Stammesgenossen etc., Grundlage der Entwicklung, die von vornherein daher eine beschränkte ist, aber mit Aufhebung der Schranke Verfall und Untergang darstellt . . . Es können hier große Entwicklungen stattfinden innerhalb eines bestimmten Kreises. Die Individuen können groß erscheinen. Aber an freie und volle Entwicklung, weder des Individuums noch der Gesellschaft [ist] nicht hier zu denken . . ," 8 9 Die Herrschaft traditioneller Verhältnisse, ererbter Sitten und Bräuche, althergebrachter Denkweisen, als göttliche Ordnung in der Regel religiös motiviert und verkleidet, prägte mehr oder weniger die Lebensweisen, Verhaltensformen und Denkmuster der Menschen — sowohl die Volkskultur der werktätigen, ausgebeuteten Klassen als auch die Kultur der herrschenden Klasse, solange die betreffenden sozialen Gemeinwesen und Gemeinschaftsformen sich nicht schon in ihrer Auflösung befanden. Innovationen setzten sich vor allem in der Volkskultur nur langsam und regional unterschiedlich durch, waren doch die oft jahrhundertealten, tiefeingewurzelten Sitten, Verhaltensweisen, Moralnormen und Denkmuster das bewährte Ergebnis kollektiver empirischer Erfahrungen, wie man sich am besten gegenüber den übermächtigen, weitgehend unerkannten Naturgewalten und den Wechselfällen des gesellschaftlichen Lebens praktisch und geistig behaupten konnte. Während die Fortschritte in der materiellen Kultur fast immer das Ergebnis der Tätigkeit der werktätigen Klassen und Schichten waren, spielte sich die Höherentwicklung der geistigen Kultur weitgehend in den höheren gesellschaftlichen Regionen ab, zu denen die Volksmassen keinen Zutritt besaßen. Insgesamt waren infolge der relativ schwach entwickelten Warenproduktion die sozialökonomischen Verhältnisse noch nicht soweit entfaltet und in Bewegung geraten, daß sie sich als übermächtige, zerstörerische, in sachlicher Form blind waltende Naturgesetze den Menschen gegenüber völlig verselbständigen konnten. Wo die Erzeugung für den unmittelbaren Selbstbedarf überwiegt und Sklaverei oder Leibeigenschaft die breite Basis der gesellschaftlichen Produktion bilden, ist „die Herrschaft der Produktionsbedingungen über die Produzenten . . . versteckt durch die Herrschaftsund Knechtschaftsverhältnisse, die als unmittelbare Triebfedern des Produktionsprozesses erscheinen und sichtbar sind." 9 0 Anders im K a p i t a l i s m u s . Die Naturbeherrschung und -erkenntnis erreichte mit dieser Gesellschaftsformation innerhalb zweier Jahrhunderte in den industriell fortgeschrittensten Gebieten der Erde einen Entfaltungsgrad und eine Dynamik, die alle vorangegangene Menschheitsentwicklung in den Schatten stellte. Dieser 89 Karl Marx, ebda, S. 3 8 5 - 3 8 7 . w Karl Marx, Kapital. MEW, Bd. 25, S. 839; vgl. auch ebda, Bd. 23, S. 91 f.
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Prozeß vollzog sich auf der Grundlage der industriellen Produktionsweise, der Ersetzung der zwerghaft-kleinen Arbeitsmittel früherer Epochen durch eine nur gesellschaftlich anwendbare Technologie, die auf wissenschaftlicher Erkenntnis beruhte. 91 Er gründete sich auch auf eine qualitativ neue Stufe der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und die volle Durchsetzung der Warenproduktion. Nicht nur die materiellen und geistigen Produkte aller Erdteile wurden in wachsendem Ausmaß in einen universellen gesellschaftlichen Austausch eingebracht, sondern auch die menschliche Arbeitskraft wurde erstmals in vollem Umfang zu einer Ware. Im A u s m a ß u n d T e m p o der N a t u r b e h e r r s c h u n g und -erkenntnis, in der steigenden Vergesellschaftung der Arbeit u n d aller sozialen Lebensformen, in der ständigen, quantitativen Erweiterung der Bedürfniswelt und des gesellschaftlichen Beziehungsreichtums der Menschen sah M a r x die progressiven Entwicklungstendenzen der kapitalistischen K u l t u r s t u f e . „ A l s o Explorieren der ganzen N a t u r , u m neue nützliche Eigenschaften der Dinge zu e n t d e c k e n ; universeller A u s t a u s c h der P r o d u k t e aller f r e m d e n Klimate und L ä n d e r ; . . . die Entwicklung der N a t u r w i s s e n s c h a f t d a h e r zu ihrem höchsten P u n k t ; ebenso die E n t d e c k u n g , S c h ö p f u n g und Befriedigung neuer, aus der Gesellschaft selbst hervorgehender Bedürfnisse; die K u l t u r aller Eigenschaften des gesellschaftlichen Menschen und P r o d u k t i o n desselben als möglichst Bedürfnisreichen weil Eigenschafts- u n d Beziehungsreichen... — ist ebenso eine Bedingung der auf K a p i t a l gegründeten P r o d u k t i o n . . . Hence the great civilising influence of capital; seine P r o d u k t i o n einer Gesellschaftsstufe, gegen die alle f r ü h r e n n u r als lokale Entwicklungen der Menschheit u n d als Naturidolatrie erscheinen". 9 2 E r s t a u f dieser Stufe der Menschheitskultur wurde, vorangetrieben d u r c h die ständige Jagd des K a p i t a l s n a c h Profit, der R e i c h t u m Zweck der P r o d u k t i o n , w u r d e d a h e r das Arbeiten ü b e r n a t u r n o t w e n d i g e Bedürfnisse h i n a u s z u m Allgemeingut der Menschen. „ D i e große geschichtliche Seite des Kapitals ist diese Surplusarbeit... zu schaffen, und seine historische Bestimmung ist erfüllt, sobald einerseits die Bedürfnisse soweit entwickelt sind, d a ß die Surplusarbeit über das N o t w e n d i g e h i n a u s selbst allgemeines Bedürfnis ist, aus den individuellen Bedürfnissen selbst hervorgeht, — andererseits die allgemeine A r b e i t s a m keit d u r c h die strenge Disziplin des Kapitals... entwickelt ist als allgemeiner Besitz des neuen G e schlechts, — endlich d u r c h die Entwicklung der P r o d u k t i v k r ä f t e der Arbeit, die das K a p i t a l in seiner unbeschränkten Bereicherungssucht... beständig voranpeitscht, soweit gediehen ist, daß... die arbeitende Gesellschaft sich wissenschaftlich zu dem P r o z e ß ihrer fortschreitenden R e p r o d u k t i o n , ihrer R e p r o d u k t i o n in stets größerer Fülle verhält..." 9 3 Zu den progressiven kulturellen E r r u n g e n schaften der kapitalistischen Zivilisation rechneten M a r x u n d Engels nicht zuletzt, d a ß auch die frühere Traditionsgebundenheit der Lebens- und Denkweisen der Klassen beseitigt wird u n d die sozialen Beziehungen ihres patriarchalischen C h a r a k t e r s u n d altehrwürdigen „Heiligenscheins" entkleidet werden. „ D i e Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen a n z u s e h e n . " 9 4 Alle diese Entwicklungsprozesse vollzogen sich j e d o c h auf d e m Boden u n d in den S c h r a n k e n des kapitalistischen Privateigentums, sie w u r d e n vorangetrieben vom Profitstreben u n d R e i c h t u m s erwerb individueller Privatinteressen auf Kosten aller übrigen Glieder der Gesellschaft. D e r von den unmittelbaren P r o d u z e n t e n geschaffene, ins Gigantische wachsende gesellschaftliche R e i c h t u m vermehrte in erster Linie d a s Eigentum u n d die Macht einer immer kleineren Zahl von K a p i t a l b e sitzern. Die Vergesellschaftung der P r o d u k t i o n aber verwandelte sich in die zerstörerische, blind 9
< Karl Marx, ebda. M E W , Bd. 23, S. 509 ff. Karl M a r x , Grundrisse, a. a. O., S. 312 f. " Ebda, S. 231. 94 Karl Marx, Friedrich Engels, Manifest. M E W , Bd. 4, S. 465. Vgl. a u c h : Karl M a r x , Arbeitslohn. M E W , Bd. 6, S. 555 f.; derselbe, Grundrisse, a. a. O., S. 313: „ D a s Kapital treibt dieser seiner Tendenz nach ebensosehr h i n a u s über nationale Schranken u n d Vorurteile, wie ü b e r N a t u r v e r g ö t terung, und überlieferte, in bestimmten Grenzen selbstgenügsam eingepfählte Befriedigung vorh a n d e n e r Bedürfnisse u n d R e p r o d u k t i o n alter Lebensweise." 92
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waltende Herrschaft entfesselter, spontan und anarchisch wirkender Gesetze der kapitalistischen Warenproduktion. Periodische Wirtschaftskrisen und schließlich imperialistische Kriege, die den Reichtum und die Produktivkräfte der Gesellschaft immer wieder massenhaft zerstören, waren die zwangsläufigen Folgen. Die den materiellen Lebenserzeugungsprozeß der Gesellschaft anarchisch beherrschenden Profitmechanismen führen zu einer fortschreitenden Zerstörung sowohl der menschlichen Arbeitskraft wie der Naturreichtümer, stellte Marx fest. 95 Er kennzeichnete damit einen entscheidenden Antagonismus der kapitalistischen Zivilisation, der sich im Imperialismus bis zu einer weltweiten ökologischen Krise ausweitet und heute das weitere Wachstum der gesellschaftlichen Naturbeherrschung in der kapitalistischen Welt immer mehr in Frage stellt. Einen weiteren antagonistischen Widerspruch erblickte Marx in der Tatsache, daß die Vergesellschaftung der Produktion, daß der universelle, allseitige gesellschaftliche Zusammenhang, in den die Individuen treten, nicht zu einer die Menschen bereichernden, sondern sie knechtenden Herrschaft der sozialen Beziehungen und der Sachenwelt wird. Denn der gesellschaftliche Zusammenhang existiert nur in einer den Menschen entfremdeten F o r m : im Warenaustausch, der den spontanen Gesetzen der kapitalistischen Markt- und Profitwirtschaft gehorcht. 96 „Der Arbeiter wird umso ärmer, je mehr seine Produktion an Macht und Umfang zunimmt. Der Arbeiter wird eine um so wohlfeilere Ware, je mehr Waren er schafft. Mit der (kapitalistischen P. S.) Verwertung der Sachenwelt nimmt die Entwertung der Menschenwelt in direktem Verhältnis zu." 9 7 Mit diesen Worten charakterisierte Marx nicht nur einen ökonomischen Tatbestand, sondern den eigentlichen k u l t u r e l l e n G r u n d W i d e r s p r u c h d e s K a p i t a l i s m u s : daß der objektive Kulturfortschritt der Gesellschaft mit der Entfaltung und Höherentwicklung der Menschen divergiert, ja mit ihrer Verarmung gepaart ist, und zwar in erster Linie auf seiten der arbeitenden und ausgebeuteten Mehrheit. Zwar setzte sich im Kapitalismus erstmals in der Geschichte die individuelle Vereinzelung und Entwicklungsmöglichkeit der Menschen voll durch. „Je tiefer wir in der Geschichte zurückgehen", schrieb Marx, „je mehr erscheint das Individuum, daher auch das produzierende Individuum, als unselbständig, einem größeren Ganzen angehörig. Erst in dem 18. Jahrhundert, in der bürgerlichen Gesellschaft', treten die verschiedenen Formen des gesellschaftlichen Zusammenhangs dem Einzelnen als bloßes Mittel für seine Privatzwecke entgegen, als äußerliche Notwendigkeit. Aber die Epoche, die diesen Standpunkt erzeugte, den des vereinzelten Einzelnen, ist gerade die der entwickeltsten gesellschaftlichen... Verhältnisse." 98 Als individuelle Warenbesitzer, ob Kapitaleigentümer oder „freie" Verkäufer ihrer Arbeitskraft, treten die Menschen in einen allseitigen gesellschaftlichen Austausch. Und der eigentumslose, „freie" Arbeiter verdrängt den für die früheren Zivilisationsstufen charakteristischen Bauern und Handwerker, der als Besitzer seiner Arbeitsmittel innerhalb lokaler, begrenzter Gemeinschaftsbindungen lebte und arbeitete oder in persönlichen Abhängigkeitsverhältnissen zu einem Herrn stand. Erst unter den Bedingungen der industriellen Produktions-
95 „Die kapitalistische Produktion entwickelt daher nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter." Karl Marx, Kapital. MEW, Bd. 23, S. 529 f.; vgl. auch ebda, Bd. 25, S. 821. 96 „Der Austausch als vermittelt durch den Tauschwert und das Geld setzt allerdings die allseitige Abhängigkeit der Produzenten voneinander voraus, aber zugleich die völlige Isolierung ihrer Privatinteressen und eine Teilung der gesellschaftlichen Arbeit, deren Einheit und wechselseitige Ergänzung gleichsam als ein Naturverhältnis außer den Individuen, unabhängig von ihnen, existiert. . . Die Individuen sind unter die gesellschaftliche Produktion subsumiert. . .; aber die gesellschaftliche Produktion ist nicht unter die Individuen subsumiert, die sie als ihr gemeinsames Vermögen handhaben." Karl Marx, Grundrisse, a. a. O., S. 76. 97 Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte. MEW, Ergbd. 1, S. 511. 98 Karl Marx, Grundrisse, a. a. O., S. 6; vgl. auch ebda, S. 395 f: „Der Mensch vereinzelt sich erst durch den historischen Prozeß. Er erscheint ursprünglich als ein Gattungswesen, Stammwesen, Herdentier . . . Der Austausch selbst ist ein Hauptmittel dieser Vereinzelung. Er macht das Hürdenwesen überflüssig und löst es auf." — Zum eigentumslosen Arbeiter als „Geschöpf der Zivilisation" vgl. auch: Karl Marx, Theorien über den Mehrwert. MEW, Bd. 26,3, S. 369 f.
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weise mit ihrer Vergesellschaftung der Arbeit, mit ihrem ständigen Wechsel der Technik und der Arbeitsformen wird auch die „allseitige Beweglichkeit des Arbeiters", seine „möglichste Vielseitigkeit" zum allgemeinen Produktionsgesetz. Erst die kapitalistische Produktionsweise, die „die Ungeheuerlichkeit einer elenden, für das wechselnde Exploitationsbedürfnis des Kapitals in Reserve gehaltenen, disponiblen Arbeiterbevölkerung" hervorbringt, erzeugt auch die objektive Notwendigkeit, diese „... zu ersetzen durch die absolute Disponibilität des Menschen für wechselnde Arbeitserfordernisse; das Teilindividuum... durch das total entwickelte Individuum, für welches verschiedene gesellschaftliche Funktionen einander ablösende Betätigungsweisen sind." 9 9 Aber die jetzt erstmals objektiv mögliche und erforderliche Entwicklung der vollen Individualität der unmittelbaren Produzenten wird durch die Eigentums- und Ausbeutungsverhältnisse verhindert. Die kapitalistische Produktionsweise führt zu einer tendenziellen Verarmung der Menschen, zur „vollen Entleerung" der Individualität, wie Marx es formulierte. 1 0 0 Da die Arbeiterklasse sich das Ergebnis der gesellschaftlichen Produktion nicht aneignen kann, sondern den wachsenden Reichtum der Gesellschaft als Kapital produziert, können die Arbeiter ihre Bedürfnisse, Anlagen und Interessen, also ihre Individualität nur soweit entfalten, wie das Kapital in seinem Profitinteresse zuläßt. Da alle Elemente des Produktionsprozesses — die gegenständlichen Bedingungen einschließlich der Natur, die geistigen Komponenten und die gesellschaftlichen Kombinationen der Arbeit — sich in Mächte des Kapitals verwandeln, führt der Fortschritt der gesellschaftlichen Produktivkräfte nicht zu einer Höherentwicklung der individuellen Fähigkeiten und Kräfte der unmittelbaren Produzenten, die Vergesellschaftung der Arbeit nicht zur Entwicklung humaner Gemeinschaftsbindungen, nicht zur tatsächlichen, bewußten Entfaltung der Menschen als gesellschaftliche Wesen. Die Arbeit gewährt infolge ihres Ausbeutungscharakters nicht die Befriedigung eines menschlichen Bedürfnisses, in der sich der Arbeiter als Mensch bejaht und entwickelt, sondern dient als äußerliches Mittel zur Befriedigung von Bedürfnissen außerhalb und losgelöst von der Arbeit, wobei die Bedürfnisse zwangsläufig den unmenschlichen, barbarischen Charakter von Betäubungs- und Kompensationsmitteln für eine inhaltsleere, dem Menschen entfremdete Arbeit annehmen müssen. „. . . Innerhalb des kapitalistischen Systems vollziehn sich alle Methoden zur Steigerung der gesellschaftlichen Produktivkraft der Arbeit auf Kosten des individuellen Arbeiters; alle Mittel zur Entwicklung der Produktion schlagen um in Beherrschungs- und Exploitationsmittel des Produzenten, verstümmeln den Arbeiter in einen Teilmenschen, entwürdigen ihn zum Anhängsel der Maschine, vernichten mit der Qual seiner Arbeit ihren Inhalt, entfremden ihm die geistigen Potenzen des Arbeitsprozesses, im selben Maße, worin letzterem die Wissenschaft als selbständige Potenz einverleibt wird; sie verunstalten die Bedingungen, innerhalb deren er arbeitet, unterwerfen ihn während des Arbeitsprozesses der kleinlichst gehässigen Despotie, verwandeln seine Lebenszeit in Arbeitszeit... Die Akkumulation von Reichtum auf dem einen Pol ist also zugleich Akkumulation von Elend, Arbeitsqual, Sklaverei, Unwissenheit, Brutalisierung und moralischer Degradation auf dem Gegenpol, d. h. auf Seite der Klasse, die ihr eigenes Produkt als Kapital produziert." 1 0 1 Auch auf Seiten der herrschenden Klasse entwickeln sich — wie Marx und Engels nachgewiesen haben — in steigender Progression Unmenschlichkeit und Barbarei, wenn auch in anderer Weise und mit anderen Folgen als bei der Arbeiterklasse. Die Bourgeoisie eignet sich den gesellschaftlichen Reichtum zwar an; ihr Charakter als nichtarbeitende und ausbeutende, im Imperialismus als zunehmend parasitäre Klasse deformiert jedoch im wachsenden Ausmaß ihre Bedürfniswelt ins Unmenschliche, und die Jagd nach der allgemeinen Form des Reichtums, nach Geld, führt zu einer tendenziellen Verarmung der Individualität, zu ihrer Verengung auf Reichtumserwerb und Besitzgier. Vor allem im Imperialismus finden in dem Maße, wie die kapitalistische Ordnung ihrem Untergang entgegengeht, barbarische Formen in die Lebensweise, Moral und Ideologie der herrschenden Klasse Eingang, die von hier aus die gesamte Gesellschaft vergiften. Kennzeichnend wird die Verherrlichung von 99
Karl Marx, Kapital. MEW, Bd. 23, S. 511 f. Karl Marx, Grundrisse, a. a. O., S. 80, 387. 101 Karl Marx, Kapital. MEW, Bd. 23, S. 674 f. Zu den kulturellen Auswirkungen der kapitalistischen Produktionsweise auf die Arbeiterklasse vgl. auch; Derselbe, Grundrisse, a. a. O., S. 715 f.; Theorien über den Mehrwert. MEW, Bd. 26,1, S. 365—368; Ökonomisch-philosophische Manuskripte. MEW, Ergbd. 1, S. 511—518. 100
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Brutalität, Gewalt, von asozialen u n d animalischen Instinkten in den sozialen Beziehungen, im Welt- und Menschenbild der Bourgeoisie und in der Imperialistischen Massenkultur, wird der R ü c k griff auf H e r r s c h a f t s p r a k t i k e n u n d Ideologien vergangener K u l t u r s t u f e n : auf Folter und Femegerichte, die Massenvernichtung von Menschen u n d Austilgung „unwerten L e b e n s " (Euthanasie), auf Aberglauben, Mystizismus usw. Der gewaltig ansteigende materielle und geistige R e i c h t u m der Gesellschaft f ü h r t unter kapitalistischen Bedingungen nicht zu einer Bereicherung u n d Humanisier u n g der Bedürfniswelt, wie M a r x schon vor über einem J a h r h u n d e r t voraussagte: „ M i t der Masse der G e g e n s t ä n d e wächst d a h e r das Reich der f r e m d e n Wesen, denen der Mensch u n t e r j o c h t ist, und jedes neue P r o d u k t ist eine neue Potenz des wechselseitigen Betrugs u n d der wechselseitigen Ausplünderung. Der Mensch wird u m s o ä r m e r als M e n s c h . . . Subjektiv selbst erscheint dies so, teils d a ß die A u s d e h n u n g der P r o d u k t e u n d der Bedürfnisse zum erfinderischen und stets kalkulierenden Sklaven unmenschlicher, raffinierter, unnatürlicher und eingebildeter Gelüste wird. . . Teils zeigt sich diese E n t f r e m d u n g , indem die R a f f i n i e r u n g der Bedürfnisse und ihrer Mittel auf der einen Seite die viehische Verwilderung, vollständige, rohe, a b s t r a k t e Einfachheit des Bedürfnisses auf der a n deren Seite produziert. . . " 1 0 2 Die im wachsenden A u s m a ß ins Unmenschliche und Barbarische pervertierte Bedürfniswelt u n d Lebensweise der kapitalischen Gesellschaft verdeutlicht, d a ß „die besitzende Klasse u n d die Klasse des Proletariats. . . dieselbe menschliche S e l b s t e n t f r e m d u n g " darstellen — jedoch mit einem qualitativen U n t e r s c h i e d : „. . . die erste Klasse fühlt sich in dieser Selbstentfremdung wohl u n d bestätigt, weiß die E n t f r e m d u n g als ihre eigene Macht u n d besitzt in ihr den Sehein einer menschlichen Existenz; die zweite f ü h l t sich in der E n t f r e m d u n g vernichtet, erblickt in ihr ihre O h n m a c h t und die Wirklichkeit einer unmenschlichen Existenz." Die Arbeiterklasse wird d a h e r auch zwangsläufig zur E m p ö r u n g getrieben „ d u r c h den W i d e r s p r u c h ihrer menschlichen Natur mit ihrer Lebenssituation, welche die offenherzige, entschiedene, u m f a s s e n d e Verneinung dieser N a t u r ist . . , " 1 0 3
Ihre unmenschlichen, barbarischen Lebensbedingungen zwingen die Arbeiterklasse zur revolutionären Umwälzung der herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse. Die entscheidende Triebkraft dieses Prozesses bildet der Klassenkampf, und zwar — wie die Klassiker immer wieder unterstrichen haben — die p o l i t i s c h e A k t i o n un,d die p o l i t i s c h e V e r e i n i g u n g des Proletariats. 104 Die Kulturentwicklung geht in den politischen Klassenkampf in Gestalt verschiedener Wirkungszusammenhänge ein. Zum einen prägt der objektive kulturelle Entwicklungsgrad der Gesellschaftsformation auch die Formen und damit das historische Niveau des politischen Klassenkampfes. Der Mechanismus des kapitalistischen Produktionsprozesses selbst schult, vereinigt und organisiert die Arbeiterklasse. Die vergesellschaftete Arbeit in der großen Industrie ermöglicht erstmals eine Organisierung der arbeitenden, ausgebeuteten Klasse im großen Maßstab und bringt eine internationalistische Klasse und einen universellen Klassenkampf hervor. Sie schafft einen qualitativ neuen Typ des unmittelbaren Produzenten von hoher sozialer und geistiger Mobilität, der zum organisierten Handeln und zum geistigen Erfassen der tatsächlichen gesellschaftlichen und historischen Zusammenhänge fähig ist. 105 Nicht zuletzt erreicht auch die geistige Kultur der Gesellschaft jene Stufe, 102 Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte. M E W , Ergbd. 1, S. 547 f. Zu den kulturellen und moralischen Auswirkungen der kapitalistischen Produktionsweise auf die herrschende Klasse vgl. u. a . : Karl M a r x , ebda, S. 540, 546—552; Karl M a r x , Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie. M E W , Bd. 3, S. 4 0 2 - 4 0 4 .
Karl M a r x , Friedrich Engels, Die Heilige Familie. M E W , Bd. 2, S. 37. km Vgl. u. a. Karl M a r x , Friedrich Engels, Manifest. M E W , Bd. 4, S. 4 7 0 - 4 7 2 . '05 Friedrich Engels, Die Lage der arbeitenden Klasse in England. M E W , Bd. 2, S. 238 f.; Karl M a r x , Kapital. M E W , Bd. 23, S. 790 f.; W. I. Lenin, Werke, Bd. 3, S. 619 - 6 2 1 .
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auf der eine wissenschaftliche Erkenntnis und Prognose der gesellschaftlichen Entwicklung möglich und in Gestalt der Weltanschauung der revolutionären Arbeiterklasse Wirklichkeit wird. Der Marxismus erlangte, wie Lenin festgestellt hat, gerade dadurch seine weltgeschichtliche Bedeutung, daß er sich „auf das feste Fundament des menschlichen Wissens stützte, das unter dem Kapitalismus errungen worden war", daß er sich „alles, was in der mehr als zweitausendjährigen Entwicklung des menschlichen Denkens und der menschlichen Kultur wertvoll war, aneignete und es verarbeitete." 106 Wie der Marxismus-Leninismus als politische Ideologie der revolutionären Arbeiterklasse zugleich einen der größten Fortschritte in der Menschheitskultur beinhaltet, so stellt auch das Proletariat als Klasse insgesamt einen qualitativen Fortschritt in der Entwicklung der objektiven Kultur dar: als Repräsentant und Verkörperung der modernen, vergesellschafteten Produktivkräfte, als politische Bewegung mit einem erstmals wissenschaftlichen Programm und einer geschichtlich neuartigen Organisiertheit des werktätigen Volkes, als Schöpfer einer geistigen Kultur, die zum ersten Mal in der Geschichte der ausgebeuteten Klassen das progressive Erbe der Weltkultur in sich aufnimmt und verarbeitet und sich in Gestalt einer eigenen, arbeitsteilig geschaffenen Philosophie, Wissenschaft, Pädagogik, Literatur, Kunst und Musik artikuliert. In diesem Sinne sagte etwa Franz Mehring mit Recht von der revolutionären Arbeiterbewegung, daß sie zu einem „Eckstein der menschheitlichen Kulturentwicklung geworden" sei, „daß Deutschland aus dem Reigen der großen Kulturvölker verschwinden würde, wenn die Zerschmetterung seines klassenbewußten Proletariats gelänge . . ." 1 0 7 Auf der anderen Seite wirkt das subjektive Kulturniveau der Angehörigen der Arbeiterklasse, wirken Ausmaß und Inhalt der angeeigneten Kultur auf den politischen Klassenkampf ein. Die kapitalistischen Produktions- und Ausbeutungsverhältnisse verurteilen das Proletariat, wie bereits dargelegt wurde, tendenziell zur Kulturlosigkeit, indem sie verhindern, daß die wachsenden Produktivkräfte und der steigende Reichtum der Gesellschaft zu einer wirklichen Bereicherung der menschlichen Natur der unmittelbaren Produzenten führen. Diese Gesetzmäßigkeit steht durchaus nicht im Widerspruch zu der Tatsache, daß die Bourgeoisie, entsprechend den Erfordernissen der technischen Entwicklung, bestimmten Teilen der Arbeiterklasse ein wachsendes Bildungs- und Kulturniveau einzuräumen gezwungen ist. Sie steht auch nicht im Widerspruch dazu, daß die Arbeiterklasse selbst durch den ökonomischen Klassenkampf zeitweise und graduell ihren Anteil am gesellschaftlichen Reichtum zu vergrößern, ihre Bedürfnisse zu erweitern und ihre kulturelle Situation zu verbessern imstande ist, die dann als „historisches und moralisches Element" in die Wertbestimmung der Ware Arbeitskraft einfließt. 108 Das mit der Entwicklung der >06 W. I. Lenin, Die Aufgaben der Jugendverbände. Werke, Bd. 31, Berlin 1959, S. 276; Über proletarische Kultur. Ebda., S. 308. 107 Franz Mehring, Geschichte der deutschen Sozialdemokratie. Gesammelte Schriften, Bd. 2, Berlin 1960, S. 703. los Karl Marx, Kapital. MEW, Bd. 23, S. 185, 246; Friedrich Engels, Die Lage der arbeitenden Klasse in England. MEW, Bd. 2, S. 3 0 7 - 3 0 9 ; Karl Marx, Arbeitslohn. MEW, Bd. 6, S. 545.
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kapitalistischen Gesellschaft besonders in den fortgeschrittenen Industrieländern relativ wachsende Kulturniveau von Teilen der Arbeiterklasse wirkt sich jedoch zwiespältig auf die politische Reife und den politischen Klassenkampf aus. Solange die kapitalistische Ordnung und die bürgerliche Klassenkultur herrschend sind, beinhaltet die Erhöhung des Kulturniveaüs immer auch die tendenzielle Möglichkeit einer weltanschaulichen und kulturellen Integration von Teilen der Arbeiterklasse in die herrschende bürgerliche Klassenkultur. Vor allem im Imperialismus bezweckt und erreicht die Monopolbourgeoisie mit Hilfe ihrer Maximalprofite und ihres gigantischen Manipulierungsapparates die Verbürgerlichung eines nicht unerheblichen Teils des Proletariats in den hochentwickelten Industrieländern. Das subjektive Kulturniveau wirkt daher nicht als quantitativer Faktor, sondern qualitativ, entsprechend seiner Klassengeprägtheit, auf den Klassenkampf fördernd oder hemmend ein. Nur dann, wenn das Wachstum der subjektiven Kultur in die politische Aktion und Organisiertheit, in die tatsächliche Erhöhung der weltanschaulich-ideologischen und moralischen Potenzen der Arbeiterklasse zur revolutionären Beseitigung der herrschenden Ordnung einmündet, wenn es einfließt in Elemente einer von der Partei der Arbeiterklasse organisierten und geführten s o z i a l i s t i s c h e n Gegenkultur gegen die herrschende bürgerliche Klassenkultur — nur dann wirkt es sich positiv auf den politischen Klassenkampf aus. Nur dann bedeutet es auch einen echten kulturellen Fortschritt der Arbeiterklasse, denn unter kapitalistischen Bedingungen können sich die Arbeiter nur in der Empörung gegen die herrschende Ordnung intellektuell und moralisch als Individuen entwickeln und ihre menschliche Natur bereichern. 1 0 9 Entscheidend für die politische Reife und Organisiertheit der Klasse auf dem Wege zur proletarischen Revolution ist daher also nicht das quantitative kulturelle Entwicklungsniveau des Proletariats, sondern die Ausprägung und Aneignung einer proletarisch-revolutionären Klassenkultur, wie auch Lenin gegenüber revisionistischen Auffassungen betont hat, die die Beseitigung des Kapitalismus als vom kulturellen Reifegrad der Arbeitermassen abhängig erklärten. „Die ganze Schwere der russischen Revolution besteht darin, daß es für die russische revolutionäre Arbeiterklasse bedeutend leichter war als für die westeuropäische Arbeiterklasse, die Revolution zu beginnen, daß es für uns aber schwerer ist, sie fortzusetzen. Dort, in den westeuropäischen Ländern, ist es schwieriger, die Revolution zu beginnen, weil sich dort der hohe Stand der Kultur gegen das revolutionäre Proletariat auswirkt und die Arbeiterklasse sich in Kultursklaverei befindet." 1 1 0 Auf der Grundlage ihrer Lebensbedingungen und im Klassenkampf gegen die kapitalistische Ausbeuterordnung bringt die Arbeiterklasse die Elemente einer sozialistischen Klassenkultur hervor, d. h. eigene Ideen und Vorstellungen, Sitten und Wertmaßstäbe, Verhaltensweisen, Denkmuster und sozialpsychische 109 Friedrich Engels, Die Lage der arbeitenden Klasse in England. MEW, Bd. 2, S. 343, 430 f. no W. I. Lenin, Werke, Bd. 27, S. 464. Im ähnlichen Sinne äußerte sich Lenin gegenüber Clara Zetkin; vgl. Clara Zetkin, Erinnerungen an Lenin, Berlin 1957, S. 18 f.
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Wesensmerkmale. Dies konstatierte schon Engels anhand empirischer Untersuchungen des englischen Proletariats, indem er feststellte, daß die in der Arbeiterbewegung aktivsten Teile der Klasse auch die Avantgarde einer eigenständigen proletarischen Kultur innerhalb der englischen Nation bilden und in ihren kulturellen Bedürfnissen am weitesten fortgeschritten sind. 111 Lenin baute die Erkenntnis schließlich unter den Bedingungen des Imperialismus zur Lehre von den zwei Klassenkulturen in jeder bürgerlichen Nationalkultur aus. „In jeder nationalen Kultur gibt es — seien es auch unentwickelte - Elemente einer demokratischen und sozialistischen Kultur, denn in jeder Nation gibt es eine werktätige und ausgebeutete Masse, deren Lebensbedingungen unvermeidlich eine demokratische und sozialistische Ideologie erzeugen. In jeder Nation gibt es aber auch eine bürgerliche . . . Kultur, und zwar nicht nur in Form von Elementen', sondern als herrschende Kultur." 1 1 2 Daß die Kulturstufe jeder Klassengesellschaft klassengebunden ist, daß sie sich aus unterschiedlichen Klassenkulturen zusammensetzt und in antagonistischen Gesellschaftsformationen durch historisch-konkrete Kulturantagonismen geprägt ist, diese Erkenntnis gehört zu den Grundpfeilern der marxistischleninistischen Kulturgeschichtsauffassung. Durch den Kampf der Klassen um die politische Macht erfolgt die Ablösung der verschiedenen ökonomischen Gesellschaftsformationen und damit auch der von ihnen repräsentierten historischen Kulturstufen. Die Stellung einer Klasse innerhalb der Produktion und Aneignung des materiellen und geistigen Reichtums der Gesellschaft bestimmt ihre kulturelle Situation: die Entfaltungsmöglichkeiten und -grenzen der Klassenindividuen, ihre Lebensweise, Bedürfniswelt und Mentalität, ihre Ideen und Vorstellungen, ihr Welt- und Menschenbild und Lebensgefühl. Diese kulturelle Situation geht in die Klasseninteressen und Klassenkampfziele ein, und sie prägt wesentlich das historische Niveau des politischen Klassenkampfes, seiner gesellschaftlichen und geistig-weltanschaulichen Formen. Dabei ist zu unterscheiden einmal das subjektive Kulturniveau der Klassenangehörigen, das in vorgegebenen Klassenschranken entwicklungsfähig ist, sich individuell entfaltet und sich in zwiespältiger Weise, fördernd oder hemmend, auf den Klassenkampf auswirkt; zum anderen die objektive Kulturstufe einer Gesellschaftsformation, die generell das historische Niveau des Klassenkampfes bedingt. Die objektive Kulturstufe der Gesellschaft existiert zwar immer in Gestalt der — entweder herrschenden oder in Elementen ausgebildeten — Klassenkulturen; zugleich ist sie aber auch als eine spezifische historische Qualität mehr als die arithmetische Summe der Klassenkulturen. Vor allem der Grad der Naturbeherrschung und der Teilung und Vergesellschaftung der Arbeit, die durch die Produktionsweise bedingten Ziele und Formen des materiellen Lebenserzeugungsprozesses sowie der für die subjektive Aneignung potentiell zur Verfügung stehende gesellschaftliche Reichtum an materiellen und geistigen " i Friedrich Engels, Die Lage der arbeitenden Klasse in England. M E W , Bd. 2, S. 351, 453 ff. 112 W. I. Lenin, Kritische Bemerkungen zur nationalen Frage. Werke, Bd. 20, S. 8 f., 17. D a ß eine Anwendung der Zwei-Kulturen-Theorie Lenins auf die vorkapitalistischen Klassengesellschaften nur bedingt und modifiziert möglich ist, darauf kann hier nur hingewiesen werden.
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Gütern, Erkenntnissen, Werten und Bedürfnissen beinhalten ein bestimmtes historisches Verhältnis der Menschen zueinander und zur Natur, das als objektive Kulturstufe der gesamten Gesellschaft den u n t e r s c h i e d l i c h e n Klassenkulturen ein g e m e i n s a m e s Gepräge verleiht: allgemeine Grenzen für die unterschiedlichen Entfaltungsmöglichkeiten der Klassenindividuen setzt, einen bestimmten Charakter der geistigen Produktion und gemeinsame Merkmale und Schranken der geistigen Aneignung der Wirklichkeit hervorbringt. Diese objektive Kulturstufe der Gesellschaft meinte auch Lenin, als er nach dem Sieg der proletarischen Revolution, unter Berücksichtigung der besonderen Bedingungen Rußlands, dazu aufforderte, daß sich die werktätigen Massen zunächst die bürgerliche Kultur, das kulturelle Niveau der fortgeschrittensten kapitalistischen Länder aneignen müßten, um den Sozialismus aufbauen zu können. 1 1 3 6. D i e K u l t u r s t u f e d e r k o m m u n i s t i s c h e n G e s e l l s c h a f t s f o r m a t i o n als h i s t o r i s c h e G e s e t z m ä ß i g k e i t der K u l t u r e n t w i c k l u n g
Die Geschichtsauffassung der Klassiker gipfelt in dem wissenschaftlichen Nachweis, daß die Kulturentwicklung der Menschheit gesetzmäßig in eine qualitativ neue Stufe, die der kommunistischen Gesellschaft, einmünden wird und daß der revolutionären Arbeiterklasse die Verwirklichung dieses Prozesses als ihre historische Mission zufällt. Am einprägsamsten hat Friedrich Engels im „Antidühring" diese Gesetzmäßigkeit formuliert: Mit der Besitzergreifung der Produktionsmittel durch die Gesellschaft wird die „Anarchie innerhalb der gesellschaftlichen Produktion . . . ersetzt durch planmäßige bewußte Organisation. Der Kampf ums Einzeldasein hört auf. Damit erst scheidet der Mensch, im gewissen Sinn, endgültig aus dem Tierreich, tritt aus tierischen Daseinsbedingungen in wirklich menschliche. Der Umkreis der die Menschen umgebenden Lebensbedingungen, der die Menschen bisher beherrschte, tritt jetzt unter die Herrschaft und Kontrolle der Menschen, die nun zum ersten Male bewußte, wirkliche Herren der Natur, weil und indem sie Herren ihrer eigenen Vergesellschaftung werden. Die Gesetze ihres eigenen gesellschaftlichen Tuns, die ihnen bisher als fremde, sie beherrschende Naturgesetze gegenüberstanden, werden dann von den Menschen mit voller Sachkenntnis angewandt und damit beherrscht. . . Erst von da an werden die Menschen ihre Geschichte mit vollem Bewußtsein selbst machen, erst von da an werden die von ihnen in Bewegung gesetzten gesellschaftlichen Ursachen vorwiegend und in stets steigendem Maße auch die von ihnen gewollten Wirkungen haben. Es ist der Sprung der Menschheit aus dem Reiche der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit. Diese weltbefreiende Tat durchzuführen, ist der geschichtliche Beruf des modernen Proletariats." 1 1 4 In dieser Zielsetzung erscheinen die mit
113 „Für den Anfang sollte uns eine wirkliche bürgerliche Kultur genügen, für den Anfang sollte es uns genügen, wenn wir ohne die besonders ausgeprägten Typen vorbürgerlicher Kultur auskommen . . ." W. I. Lenin, Lieber weniger, aber besser. Werke, Bd. 33, S. 474 f. 114 Friedrich Engels, Antidühring. MEW, Bd. 20, S. 264 f.
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der Eroberung der politischen Macht durch die Arbeiterklasse beginnende sozialistische Umwälzung und die Errichtung des Kommunismus i n s g e s a m t als eine Kulturrevolution, ja als die eigentliche Kulturrevolution der Menschheit, die den Weg zu wirklich menschlichen Lebensverhältnissen öffnet. Von ihr ist die sozialistische Kulturrevolution im engeren Sinne zu unterscheiden. Die eine mündet im Zuge des Aufbaus des Kommunismus in die andere ein. Faßt man die Wesensmerkmale der Kulturstufe der kommunistischen Gesellschaftsformation als Ganzes ins Auge, so wird erstens der Prozeß der fortschreitenden Umwandlung und Anpassung der Naturumwelt an menschliche Bedürfnisse von seinen Widersprüchen und Schranken in den antagonistischen Klassengesellschaften befreit und gelangt damit schrittweise zu seiner Vollendung. Er erreicht in dem Maße eine neue Dynamik und eine neue historische Qualität, wie die Menschen lernen, die Gesetze ihres sozialen Zusammenlebens, ihres gesamtgesellschaftlichen Stoffwechsels mit der Natur zu beherrschen und sich voll nutzbar zu machen, sowie durch ihre produktive Tätigkeit die materielltechnische Basis des Kommunismus errichten. Dieses zukünftige Stadium der Naturbeherrschung hat Marx dahingehend charakterisiert, daß die unmittelbare Arbeit aus dem Produktionsprozeß immer mehr eliminiert und der Mensch zunehmend zum „Wächter und Regulator" von Naturprozessen wird, die er durch die technische Anwendung der Wissenschaft in industrielle Prozesse umwandelt und „als Mittel zwischen sich und die anorganische N a t u r " schiebt, um sich dieser zu bemeistern. „Er tritt neben den Produktionsprozeß, statt sein Hauptagent zu sein. In dieser Umwandlung ist es weder die unmittelbare Arbeit, die der Mensch selbst verrichtet, noch die Zeit, die er arbeitet, sondern die Aneignung seiner allgemeinen Produktivkraft, sein Verständnis der Natur und die Beherrschung derselben durch sein Dasein als Gesellschaftskörper — in einem Wort die Entwicklung des gesellschaftlichen Individuums, die als der große Grundpfeiler der Produktion und des Reichtums erscheint." 115 Voraussetzung und zugleich Bestandteil dieses Entwicklungsstadiums der objektiven Kultur ist zweitens eine qualitative Höherentwicklung und Vervollkommnung des gesellschaftlichen Organismus auf der Grundlage der gesellschaftlichen Aneignung der Produktionsmittel durch die unmittelbaren Produzenten. Verkörpert in den sozialistischen und kommunistischen Produktionsverhältnissen, hat diese Höherentwicklung des gesellschaftlichen Ganzen die volle, wirkliche Vergesellschaftung der Menschen zum Inhalt: deren bewußte gesamtgesellschaftliche Organisierung zur gemeinsamen Steuerung und Erweiterung aller Lebensprozesse der Gesellschaft, die Entfaltung ihres universellen Beziehungsreichtums und die Ausprägung ihrer sozialen Beziehungen als sozialistische, „worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist." 1 1 6 Die kommunistische Gesellschaft kennzeichnete Marx deshalb „als wirkliche Aneignung des menschlichen Wesens durch und für den Menschen; . . . als vollständige, bewußt und innerhalb des ganzen Reichtums H5 Karl Marx, Grundrisse, a. a. O., S. 592 f. H6 Karl Marx, Friedrich Engels, M a n i f e s t . M E W , Bd. 4, S. 482.
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der bisherigen Entwicklung gewordne Rückkehr des Menschen für sich als eines gesellschaftlichen, d. h. menschlichen Menschen", als „vollendeten Humanism u s " und „wahrhafte Auflösung des Widerstreites . . . zwischen Individuum und Gattung." 1 1 7 Die Auflösung des antagonistischen Widerspruchs zwischen objektivem Kulturfortschritt der Gesellschaft und Entwicklung der subjektiven Kultur der gesellschaftlichen Individuen bildet also jenes entscheidende Merkmal der Kulturstufe der kommunistischen Gesellschaftsformation, in welchem ihr realer Humanismus zum Ausdruck kommt. Zum ersten Mal in der Geschichte verbindet sich das kulturelle Fortschreiten des gesellschaftlichen Ganzen — die Vergesellschaftung der Produktion und der Lebensverhältnisse, die steigende Naturbeherrschung und Vermehrung des gesellschaftlichen Reichtums — mit der ständigen Bereicherung der menschlichen N a t u r a l l e r Gesellschaftsmitglieder, das heißt auch aller Werktätigen, die als die eigentlichen Schöpfer des gesellschaftlichen Reichtums in ihrer Mehrzahl bisher vom Kulturfortschritt weitgehend ausgeschlossen waren. Die allseitige Entfaltung der Individuen in Gemeinschaft mit anderen wird ihrerseits zur wichtigsten Triebkraft für die weitere Bereicherung und Humanisierung der sozialen Verhältnisse, für die wachsende Mobilisierung der gesellschaftlichen Potenzen in der Naturbeherrschung und planmäßigen, kontinuierlichen Vermehrung des allgemeinen Reichtums. „. . .Wenn die bornierte bürgerliche F o r m abgestreift wird", schrieb Marx, „was ist der Reichtum anders, als die im universellen Austausch erzeugte Universalität der Bedürfnisse, Fähigkeiten, Genüsse, Produktivkräfte etc. der Individuen? Die volle Entwicklung der menschlichen Herrschaft über die Naturkräfte, die der sogenannten N a t u r sowohl, wie seiner eignen N a t u r ? Das absolute Herausarbeiten seiner schöpferischen Anlagen, ohne andre Voraussetzungen als die vorangegangene historische Entwicklung, die diese Totalität der Entwicklung, d. h. der Entwicklung aller menschlichen Kräfte als s o l c h e r . . . zum Selbstzweck macht?" 1 1 8 Und Engels stellte schon 1847 fest, daß der gemeinsame Betrieb der Produktion durch die ganze Gesellschaft „ganz andere Menschen bedürfen und auch erzeugen" wird. „Die gemeinsam und planmäßig von der ganzen Gesellschaft betriebene Industrie setzt vollends Menschen voraus, deren Anlagen nach allen Seiten hin entwickelt sind, die imstande sind, das gesamte System der Produktion zu überschauen." 1 1 9 Grundlage dieser neuen, nichtantagonistischen Dialektik von objektiven Bedingungen und subjektivem Faktor im kulturellen Entwicklungsprozeß ist die Befreiung der Arbeit von ihrem Ausbeutungscharakter, ist die Aufhebung der durch die kapitalistische Form der Warenproduktion bedingten gesellschaft117
Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte. MEW, Ergbd. 1, S. 536. "8 Karl Marx, Grundrisse, a. a. O., S. 387. H9 Friedrich Engels, Grundsätze des Kommunismus. MEW, Bd. 4, S. 376; vgl. auch Karl Marx, Friedrich Engels, Manifest. Ebda., S. 476: „In der bürgerlichen Gesellschaft ist die lebendige Arbeit nur ein Mittel, die aufgehäufte Arbeit zu vermehren. In der kommunistischen Gesellschaft ist die aufgehäufte Arbeit nur ein Mittel, um den Lebensprozeß der Arbeiter zu erweitern, zu bereichern, zu befördern."
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liehen Entfremdung der Menschen durch die sozialistische Vergesellschaftung der Arbeit und die Beseitigung jeder Aneignungsform, die durch die Herrschaft einer nichtarbeitenden Minderheit bestimmt wird. Erst auf dieser Grundlage entstehen die objektiven gesellschaftlichen Bedingungen dafür, daß die Angehörigen der werktätigen Klassen und darüber hinaus alle Mitglieder der Gesellschaft in der gemeinschaftlichen Produktion und Aneignung des gesellschaftlichen Reichtums ihre Fähigkeiten, Anlagen und Bedürfnisse allseitig entwickeln, sich als Individuen voll entfalten können, und zwar in dem Grade, wie sie den allgemeinen Reichtum schaffen und vermehren. Die politische Herrschaft der Arbeiterklasse, ihre Entwicklung zum gesellschaftlichen Eigentümer der Produktionsmittel und zum subjektiven Hauptfaktor des materiellen und geistigen Kulturfortschritts, ihrer Klassenkultur zur herrschenden Kultur bilden die geschichtlichen Voraussetzungen dieses Prozesses. Ist der Aufbau, die schrittweise Verwirklichung der neuen Stufe der Kulturentwicklung die historische Mission der Arbeiterklasse, so wird andererseits Umfang und Qualität der kulturellen Entfaltung der Arbeiterklasse unter Führung ihrer Partei der entscheidende Gradmesser des allgemeinen Kulturfortschritts der sozialistisch-kommunistischen Gesellschaft. Die kulturschöpferische Rolle des werktätigen Volkes gewinnt eine neue geschichtliche Qualität und wächst gesetzmäßig in dem Maße, wie die Errichtung der Gesellschaftsformation voranschreitet. Durch ihre produktive und gesellschaftliche Tätigkeit und durch ihren politischen Kampf verändert die Arbeiterklasse die gesellschaftlichen Umstände wie die Menschen, indem sie sich vor allem selbst völlig wandelt. 120 Mit der gesellschaftlichen Inbesitznahme der Produktionsmittel ist notwendigerweise die Aneignung einer vergesellschafteten Totalität von Produktivkräften verbunden. Dieser Aneignungsprozeß bedeutet zugleich „die Entwicklung einer Totalität von Fähigkeiten in den Individuen selbst." Marx und Engels sahen hierin einen revolutionären Vorgang, in welchem der „universelle Charakter und die zur Durchführung der Aneignung nötige Energie des Proletariats sich entwickelt, ferner das Proletariat alles abstreift, was ihm noch aus seiner bisherigen Gesellschaftsstellung geblieben ist." 121 Als Hauptproduzent und sozialer Träger der fortgeschrittensten Produktivkräfte, als quantitativ größte, am weitesten organisierte und disziplinierte Klasse bringt die Arbeiterklasse in ihrer materiellen Tätigkeit, in ihren Arbeitskollektiven jene neuen Gemeinschaftsformen und Gemeinschaftsbindungen hervor, die die Keimzellen der zukünftigen kommunistischen Gesellschaft bilden. 122 Sie entwickelt jene Verhaltensweisen, Moralnormen und Einstellungen zur Gesellschaft, zum gesellschaftlichen Reichtum und zum Eigentum, sie formt als Klasse jene sozialpsychischen Merkmale aus, die als sozialistisches Persönlichkeitsideal und als sozialistische Lebensweise immer stärker die Kultur der gesamten Gesellschaft prägen und die gemeinsame Grundlage für die Annäherung der 120 Karl Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich. MEW, Bd. 17, S. 343. '2' Karl Marx, Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie. MEW, Bd. 3, S. 67 f. 122 Diese Auffassung vertritt G. J. Glesermann, Dqjr historische Materialismus und die Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft, 2. Aufl., Berlin J>973, S. 216 ff.
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Klassen und Schichten abgeben. 123 Von ihrer Tätigkeit in der Produktion hängt nicht nur der Reichtum der materiellen und der arbeitsteilig geschaffenen geistigen Kultur, damit die Quantität des gesellschaftlichen Kulturangebots und die Befriedigung der gesetzmäßig anwachsenden materiellen und kulturellen Bedürfnisse der Individuen in letzter Instanz ab. Indem die Arbeiterklasse ihre kulturellen Ziele, Ideale und Bedürfnisse, ihre sozialistischen Denk- und Verhaltensweisen, ihre gesellschaftliche Psychologie ausbildet und immer mehr zum Maßstab der gesamten Gesellschaft macht, prägt sie auch die qualitative Seite, den sozialistischen Charakter der herrschenden geistigen Kultur: Inhalt und Ziele des Bildungswesens, den sozialistisch-humanistischen Gehalt der ästhetischen Aneignung der Wirklichkeit etc. Nicht zuletzt wird die Weltanschauung der revolutionären Arbeiterklasse — und ihre ständige Weiterentwicklung aufgrund des in der Praxis gewonnenen Erfahrungszuwachses der internationalen Arbeiterklasse — unter Führung der marxistisch-leninistischen Parteien das wissenschaftliche Instrument der planmäßigen, bewußten Errichtung der neuen Gesellschaftsformation in allen ihren Lebensbereichen, die ideologische Grundlage der fortschreitenden Erkenntnis von Natur und Gesellschaft und die weltanschauliche Plattform der das ganze progressive Erbe der Weltkultur in sich aufnehmenden sozialistischen Geisteskultur. 124 Die Entfaltung der internationalistischen Kultur der Arbeiterklasse zur herrschenden Kultur ist es also, die als subjektiver Faktor .die Verwirklichung der qualitativ neuen historischen Stufe der Menschheitskultur bedingt. Die Herausbildung der Kulturstufe der kommunistischen Gesellschaftsformation vollzieht sich, beginnend mit der proletarischen Revolution, über eine Reihe historischer Entwicklungsetappen: die Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Sozialismus, die Periode der Schaffung der Grundlagen des Sozialismus und die Periode der entwickelten sozialistischen Gesellschaft und ihres allmählichen Hinüberwachsens in den Kommunismus. 1 2 5 Diesen Perioden entsprechen mehrere Etappen der sozialistischen Kulturrevolution. Mit dem Aufbau der entwickelten sozialistischen Gesellschaft wird eine qualitativ neue Etappe eröffnet, die zugleich die abschließende Phase der sozialistischen Kulturrevolution ist. 126 Es kann nicht das Ziel dieser Darlegungen sein, diesen Prozeß im Einzelnen nachzuzeichnen, der heute Gegenstand intensiver Forschung und Diskussion ist. Einige wesentliche — nicht alle — Merkmale und Zusammenhänge sollten charakterisiert werden, die die Kulturstufe der gesamten Gesellschaftsformation 123 Vgl. W. I. Lenin, Gruß an die ungarischen Arbeiter. Werke, Bd. 29, S. 378 f.; derselbe. Der linke Radikalismus. Werke, Bd. 31, S. 29, 103—105; derselbe, Die Aufgaben der Jugendverbände. Ebda., S. 2 8 1 - 2 8 4 . 124 W. I. Lenin, Über proletarische Kultur. Werke, Bd. 31, S. 307 f; derselbe, Die Aufgaben der Jugendverbände. Ebda., S. 273-280; derselbe, Lieber weniger, aber besser. Werke, Bd. 33, S. 474 bis 476. 125 G. J. Glesermann, Der historische Materialismus, a. a. O., S. 29 ff. 126 Die Frage der Etappen der sozialistischen Kulturrevolution wird noch diskutiert; vgl. Gudrun Freitag, Zur Entwicklung der Theorie der Kulturrevolution in der UdSSR. Weimarer Beiträge 22 (1976), H. 4, S. 160 ff., Helmut Hanke, Kuhurrevolution in der entwickelten sozialistischen Gesellschaft. Weimarer Beiträge 19, 1973, H. 8, S. 91 f.
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— in ihrer Einheit von sozialistischer und kommunistischer Phase — als neue historische Qualität kennzeichnen. Diese Blickrichtung gewinnt in dem Maße an Bedeutung, wie sich die sozialistische Gesellschaft auf ihren eigenen Grundlagen als reifer sozialer Organismus entfaltet und in ihre kommunistische Phase hinüberzuwachsen beginnt. Im Verlauf dieses Prozesses nehmen die kulturelle Praxis und die kulturellen Aufgaben der Arbeiterklasse und ihrer Partei einen immer umfassenderen, komplexen Charakter an. J e weiter die bewußte, planmäßige und organisierte Errichtung der neuen Gesellschaftsformation voranschreitet, ein umso größeres Gewicht erlangen die kulturellen Prozesse, umso enger verflechten sie sich mit allen Lebens- und Tätigkeitsbereichen der Gesellschaft. Damit erweitert sich auch der Inhalt der sozialistischen Kulturrevolution im eigentlichen Sinn. Er läßt sich immer weniger auf ein eng begrenztes, abgesondertes Gebiet, auf die Bereiche der geistigen Kultur reduzieren. Die für die neue Gesellschaftsformation charakteristische Gesetzmäßigkeit der dialektischen Wechselwirkung von objektiver Kulturentwicklung, verkörpert in den gesellschaftlichen Lebensbedingungen, und Individualentfaltung tritt in den Mittelpunkt der kulturpolitischen Praxis: einerseits die sozialistische Gestaltung und Durchdringung der materiellen, gesellschaftlichen und geistigen Lebensprozesse entsprechend den Bedürfnissen, Idealen und Zielen der Arbeiterklasse, von der Gestaltung der Umwelt, der Arbeitswelt, der sozialen Beziehungen und der Lebensweise des Alltags bis zu den Wissenschaften, den Künsten und dem Bildungswesen; andererseits die massenhafte sozialistische Persönlichkeitsentwicklung, die individuelle Entfaltung der weltanschaulichen Bewußtheit, des Kulturniveaus, der Schöpferkraft und Aktivität aller Gesellschaftsmitglieder als einer entscheidenden Voraussetzung für den weiteren Aufbau der Gesellschaftsformation in allen ihren Lebenssphären. „Wenn wir von Kultur und kulturellen Aufgaben in der entwickelten sozialistischen Gesellschaft sprechen, so meinen wir nicht ein eng begrenztes Gebiet", stellte K . Hager auf dem 6. Plenum der S E D fest. „Es geht uns um die Gesamtheit der Lebensbedingungen, der materiellen und geistigen Werte, Ideen und Kenntnisse, durch deren Aneignung die Menschen in Gemeinschaft mit anderen zu fähigen, gebildeten und überzeugten Erbauern des Sozialismus, zu wahrhaft sozialistischen Persönlichkeiten reifen". 1 2 7 Damit erweitert sich aber auch unser Verständnis vom Inhalt des marxistischleninistischen Kulturbegriffs. Er gewinnt jenen gesellschaftlich umfassenden, komplexen Charakter, in dem Marx und Engels ihn verstanden und auf den historischen Prozeß der Menschheitsentwicklung anwandten, den aber auch Lenin benutzte, wenn er die Ziele und Aufgaben der sozialistisch-kommunisti-
127 Kurt Hager, Zu Fragen der Kulturpolitik der S E D , 6. T a g u n g des Z K der S E D , Berlin 1972, S. 10. — Zur Kulturentwicklung in der entwickelten sozialistischen Gesellschaft vgl.: M. J o w t s c h u k , Gegenwärtige Probleme, a. a. O., S. 190 ff.; Hans K o c h , Die Schaffung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft. Wesen und Kriterien, Berlin 1973, S. 2 0 0 f f . ; Helmut Hanke, Kulturrevolution in der entwickelten sozialistischen Gesellschaft, a. a. O., S. 91 f f . ; A. S. A r n o l d o w , Kultur in der entwickelten sozialistischen Gesellschaft. Weimarer Beiträge 19, 1973, S. 3, S. 10 ff.
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sehen Gesellschaftsformation als Ganzes ins Auge faßte und historisch einordnete. 128 *
Worin bestanden für Marx und Engels Wesen und Inhalt der Kulturentwicklung, und welche Grundpositionen prägten ihr Kulturgeschichtsbild ? Fassen wir das Ergebnis der Befragung zusammen. Kultur und Kulturentwicklung — diese Begriffe kennzeichnen ein Spezifikum, ein Phänomen, das ausschließlich den Menschen, im Unterschied zur übrigeij Tierwelt zu eigen ist. Diese Auffassung bildete für Marx und Engels den Ausgangspunkt. Ihre biologisch angelegte Fähigkeit zur Arbeit nutzend, produzieren die Menschen ihr materielles Leben selbst: Sie verändern und beherrschen im Laufe der Geschichte zunehmend ihre Naturumwelt, indem sie sie den wachsenden menschlichen Bedürfnissen anpassen, und sie verändern, bereichern und beherrschen schließlich ihre Beziehungen zueinander, unter denen sie ihren gesellschaftlichen Stoffwechsel mit der Natur vollziehen. Durch ihre praktische Tätigkeit schaffen sie also zum einen jene objektiven Bedingungen spezifisch menschlicher Existenz, durch die sie sich von der biologischen Daseinsweise der Tierwelt immer weiter entfernen; zum anderen entfalten sie ihre individuellen körperlichen und geistigen Fähigkeiten, Kräfte und Bedürfnisse, bereichern sie ihre spezifisch menschlichen Eigenschaften, verwirklichen sie sich endlich als gesellschaftliche Gattungswesen. Da die Menschen bewußt lebende und handelnde Wesen sind, schließt diese Entwicklung auch den Prozeß der geistigen Aneignung der objektiven Wirklichkeit ein: die fortschreitende Erkenntnis der Natur und Gesellschaft und die ständige weltanschauliche wie ästhetische Wertung und Orientierung der natur- und gesellschaftsverändernden Tätigkeit; aber auch den Prozeß der individuellen Entfaltung des Intellekts, der Sinne und der Gefühlswelt. In dieser Einheit und Wechselwirkung materieller und geistiger Faktoren umfaßt der Inhalt der kulturellen Entwicklung also zwei miteinander dialektisch verbundene Stränge: die Selbstverwirklichung des Menschen als gesellschaftliches Gattungswesen und die objektiven Grundlagen dieses Prozesses, die Schaffung spezifisch menschlicher Lebensverhältnisse. Die Kulturentwicklung ist damit auch der Prozeß der wachsenden Freiheit der M e n s c h e n gegenüber ihren äußeren — natürlichen wie gesellschaftlichen — Abhängigkeiten und der Prozeß wachsender menschlicher Schöpferkraft, und zwar in dem Sinne, daß die Menschen die Gesetze der Natur und der Gesellschaft zunehmend erkennen und zu ihrem Nutzen praktisch anwenden. Die kulturelle Seite der historischen Entwicklung bezeichnet einen grundlegenden Aspekt des Geschichtsverlaufs, der zu den qualitativen Wesensmerkmalen der gesellschaftlichen Bewegungsform der Materie gehört. Sie kennzeichnet den eigentlichen Inhalt jener Entwicklung vom Niederen zum Höheren, die sich über die gesetzmäßige Abfolge der ökonomischen Gesellschaftsformationen vollzieht. Für die marxistische Kulturgeschichtsschreibung bildet diese Seite, dieser 128
W . I. Lenin, Über das Genossenschaftswesen. Werke, Bd. 33, S. 460 f.
Marx und Engels über Kultur
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Aspekt den grundlegenden Bezugspunkt, unter dem sie bestimmte Prozesse, Bereiche und Verhältnisse des historischen Verlaufs erforscht und wissenschaftlich einordnet. Kulturhistorie fragt danach, welche Leistungen eine Klasse, Schicht oder Einzelpersönlichkeit innerhalb einer konkreten Gesellschaftsformation, Epoche oder Periode den Leistungen vergangener Generationen hinzufügte, im Hinblick auf die Umgestaltung und Beherrschung der Natur, die Bereicherung und Vermenschlichung der gesellschaftlichen Beziehungen sowie die geistige Reflexion oder Vorwegnahme dieser Prozesse. Sie erforscht den historischen Verlauf unter einer besonderen, ihr eigenen Fragestellung und in einem spezifischen Zusammenhang: der geschichtlichen Menschwerdung des Menschen. Sie wählt auch die Gegenstände ihrer Untersuchung von diesem ihr eigenen Forschungsaspekt, von dieser besonderen Fragestellung her aus. Die Gegenstände mögen Bereiche, Verhältnisse oder Prozesse aus dem materiellen, geistigen, sozialen oder politischen Leben der Gesellschaft sein — die Kulturgeschichtsschreibung erforscht und untersucht sie als Vergegenständlichungen einer historisch-konkreten Stufe menschlicher Schöpferkraft, als Objektivationen der Entwicklung des gesellschaftlichen Menschen, die von Generation zu Generation tradiert, angeeignet und historisch modifiziert werden und als Ganzes die Geschichte seiner selbsttätigen, eigenschöpferischen Kultivierung ergeben. In diesem Sinne ist der kulturhistorische Prozeß der Menschheit der entscheidende Ausgangspunkt für die Gegenstandsbestimmung der marxistischen Kulturhistorie. Über Wesen und Verlauf der kulturhistorischen Entwicklung haben Marx und Engels, wie wir gesehen haben, präzise Auffassungen und Vorstellungen entwickelt. Zunächst einmal schließt nach ihrer Auffassung der kulturelle Prozeß die objektiven, materiellen Grundlagen ein, worauf er beruht: die zunehmende Umwandlung der Natur in einen unorganischen Leib der Menschen, in ihre Arbeits- und Lebensmittel, sowie die wachsende Differenzierung und Höherentwicklung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Da die Menschen auf jeder Stufe der historischen Entwicklung, unabhängig von ihrem Wollen und Bewußtsein, bestimmte Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse, bestimmte objektive Beziehungen zur Natur und zueinander vorfinden, die sie modifizieren und weiterentwickeln, vollzieht sich der kulturelle Fortschritt als gesetzmäßiger, „naturgeschichtlicher" Vorgang auf der Basis des fortschreitenden materiellen Lebenserzeugungsprozesses der Gesellschaft. 129 In dieser Grundposition kommt die materialistische und zugleich wissenschaftliche Auffassung von Marx und Engels über die Kulturentwicklung zum Ausdruck. Hier liegt auch eine entscheidende Abgrenzung zur bürgerlichen Kulturgeschichtsschreibung, die über 129
Im Vorwort zum „Kapital" akzeptierte Marx u. a. folgende Feststellung eines Rezensenten als „treffende" Darstellung seiner Methode: „Marx betrachtet die gesellschaftliche Bewegung als einen naturgeschichtlichen Prozeß, den Gesetze lenken, die nicht nur von dem Willen, dem Bewußtsein und der Absicht der Menschen unabhängig sind, sondern vielmehr umgekehrt deren Wollen, Bewußtsein und Absichten bestimmen . . . Wenn das bewußte Element in der Kulturgeschichte eine so untergeordnete Rolle spielt, dann versteht es sich von selbst, daß die Kritik, deren Gegenstand die Kultur selbst ist, weniger als irgend etwas andres, irgendeine Form oder irgendein Resultat des Bewußtseins zur Grundlage haben kann." MEW, Bd. 23, S. 26 f. 4*
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idealistische Grundpositionen nie hinausgelangt ist. Die marxistische Kulturgeschichte betrachtet die materielle Kultur und den hier wurzelnden objektiven Entwicklungsgang als Grundlage des kulturhistorischen Prozesses. Sie ist daher auch niemals möglich als Geistesgeschichte. „Man sieht, wie die Geschichte der Industrie und das gewordne gegenständliche Dasein der Industrie das aufgeschlagene Buch der menschlichen Wesenskräfte, die sinnlich vorliegende menschliche Psychologie ist, die bisher nicht in ihrem Zusammenhang mit dem Wesen des Menschen, sondern immer nur in einer äußeren Nützlichkeitsbeziehung gefaßt wurde, weil man — innerhalb der Entfremdung sich bewegend — nur das allgemeine Dasein des Menschen, die Religion, oder die Geschichte in ihrem abstrakt-allgemeinen Wesen, als Politik, Kunst, Literatur etc. als Wirklichkeit der menschlichen Wesenskräfte und als menschliche Gattungsakte zu fassen wußte." 1 3 0 Mit dieser Feststellung umriß Marx nicht nur jenen spezifischen Aspekt, unter dem die Kulturgeschichte die materiellen Grundlagen des gesellschaftlichen Lebens erforscht und beschreibt. Er weist uns auch darauf hin, daß jede von geistigen Faktoren und Prozessen ausgehende, jede auf Geistesgeschichte reduzierte Kulturgeschichtsschreibung eine vom Standpunkt der herrschenden Klassen geprägte Kulturauffassung impliziert. Die materialistische Auffassung von Marx und Engels betrachtet dagegen den Kulturgeschichtsprozeß vom Standpunkt und unter dem Blickwinkel des werktätigen, arbeitenden Volkes. Für sie ist nicht nur die materielle Produktion eine kulturschöpferische Tätigkeit, auf die sich der gesamte Kulturfortschritt letztlich gründet. Die kulturelle Entwicklung und das Kulturniveau der werktätigen Klassen, der grqßen Mehrheit der Gesellschaft also, ist für sie auch ein entscheidendes Kriterium des Kulturfortschritts. Und es sind vornehmlich die sozialkulturellen Massenprozesse, nicht nur die herausragenden Einzelleistungen der arbeitsteilig tätigen Minderheit der „Kulturschaffenden", die im Mittelpunkt des Interesses der marxistischen Kulturgeschichtsschreibung stehen. Auch diese Betrachtungsweise bildet eine Grundposition der Kulturgeschichtsauffassung der Klassiker. 131 Eine weitere, ebenfalls aus der materialistischen Geschichtsauffassung folgende Grundposition besteht in der Erkenntnis, .daß die kulturelle Entwicklung durch die materiellen Interessen und Interessengegensätze der Klassen sowie durch den Klassenkampf entscheidend bestimmt und vorangetrieben wird. 132 Die Klassenzugehörigkeit prägt nicht nur die objektiven Möglichkeiten und Grenzen der individuellen Entfaltung der Menschen; die Stellung der Klassen in der Produktion 130
Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte. MEW, Ergbd. 1, S. 542.
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Vgl. auch W. I. Lenin, Lieber weniger, aber besser. Werke, Bd. 33, S. 474: In kulturellen Dingen darf „nur das als erreicht gelten . . ., was in die Kultur, in das Alltagsleben, in die Gewohnheiten eingegangen ist." 132 Friedrich Engels, Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft. MEW, Bd. 19, S. 208: „Aber die alte idealistische Geschichtsauffassung . . . kannte keine auf materiellen Interessen beruhenden Klassenkämpfe, überhaupt keine materiellen Interessen; die Produktion wie alle ökonomischen Verhältnisse kamen in ihr nur so nebenbei, als untergeordnete Elemente der Kulturgeschichte' vor."
M a r x und Engels über K u l t u r
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und Aneignung des materiellen und geistigen Reichtums der Gesellschaft bedingt auch die sozialen Beziehungen und Verhaltensweisen, die Lebensweise und die geistig-weltanschaulichen Zielvorstellungen und Kulturideale. A u c h die K u l turstufen der Gesellschaftsformationen existieren, sieht man von der Gentilgesellschaft einmal ab, in Gestalt unterschiedlicher — herrschender oder in Elementen ausgebildeter — Klassenkulturen. In diesem Punkt unterscheidet sich die marxistische Kulturgeschichtsauffassung ebenfalls grundsätzlich von bürgerlichen Auffassungen, die bestenfalls die Existenz von Kulturen oder Subkulturen sozialer Gruppen und Schichten anerkennen, nicht aber die in der historischen Abfolge der materiellen Produktionsweisen wurzelnde Gesetzmäßigkeit der Entstehung und Beseitigung einzelner Klassen und Klassenherrschaften und eine hierauf sich gründende Kulturentwicklung. Die Kulturgeschichte ist ferner — nach der Auffassung von Marx und Engels — ein in sich widersprüchlicher Prozeß. Diese Widersprüchlichkeit beruht darauf, daß die Kultur eine außerordentlich komplexe Erscheinung ist, zusammengesetzt aus verschiedenen Seiten und Hauptsträngen, die sich nicht im Gleichmaß entwickeln. In den antagonistischen Klassengesellschaften verwandelt sich diese Widersprüchlichkeit in einen antagonistischen Charakter des Kulturfortschritts. Dieser Charakter findet nicht nur und nicht in erster Linie seinen Ausdruck in der Tatsache, daß die im Ganzen aufsteigende Linie der Kulturentwicklung der Menschheit von zeitweiligen und regionalen Rückschritten und Stagnationserscheinungen durchbrochen wird. Der Kulturfortschritt selbst ist in sich antagonistisch, solange er sich auf der Grundlage antagonistischer Klassenspaltung vollzieht und daher gepaart ist mit einer ständigen Konservierung und Reproduktion von Kulturerscheinungen, die für vergangene, überholte Kulturstufen typisch waren und jetzt als Äußerungen der Barbarei innerhalb der Zivilisation in Erscheinung treten. Diese von Marx und Engels ausgearbeitete Lehre vom antagonistischen Charakter der Kulturentwicklung in den auf Ausbeutung beruhenden Klassengesellschaften bietet zum einen das Fundament und die Kriterien für eine wissenschaftliche, auf die Geschichte gegründete Kulturkritik. Sie grenzt zum anderen die marxistische Kulturgeschichtsauffassung von allen mechanistischen, einschichtigen Konzeptionen des Kulturfortschritts sowie von solchen idealistischen Konstruktionen bürgerlicher Provenienz ab, die Kultur und Zivilisation trennen und einander entgegensetzen. Die Begründer des wissenschaftlichen Kommunismus haben schließlich in ihren Alterswerken, besonders in Engels' „Ursprung der Familie", eine universalhistorische Periodisierung unter Einschluß des kulturgeschichtlichen Aspekts ausgearbeitet. Sie beruht auf einer Gliederung in drei große historische Entwicklungsstadien: vorgeschichtliche Kulturstufen; Zivilisation, die die von den antagonistischen Gesellschaftsformationen repräsentierten Kulturstufen umfaßt; Eintritt der Menschheit in wirklich menschliche Daseinsbedingungen auf der Kulturstufe der kommunistischen Gesellschaftsformation. Diese Periodisierung gründet sich auf die gesetzmäßige A b f o l g e der ökonomischen Gesellschaftsformationen, sie legt aber an diesen Prozeß zugleich übergreifende kulturhistorische Kriterien an, indem sie die Geschichte nach Stadien der Herausbildung und Beherr-
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schung des gesamtgesellschaftlichen Stoffwechsels mit der Natur durch die Gesellschaft sowie nach Formen des Kulturprozesses gliedert. Die Triade nichtantagonistischer — antagonistischer — nichtantagonistischer Charakter des Kulturfortschritts zeigt nicht zuletzt, welche entscheidende Bedeutung der historischen Entstehung und Beseitigung der antagonistischen Klassenspaltung der Gesellschaft für die Periodisierung der Kulturentwicklung zukommt. Die Kulturgeschichtsauffassung der Klassiker gipfelt in dem Nachweis, daß die Menschheitsentwicklung gesetzmäßig in die Kulturstufe der kommunistischen Gesellschaft einmündet und damit eine grundsätzlich neue historische Qualität erreicht: Die „Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft" wird abgeschlossen, 133 die Geschichte einer wirklich menschlichen Gesellschaft eröffnet. Diese Grundposition bildet die wichtigste Abgrenzung der marxistischen Kulturgeschichtsauffassung gegenüber allen bürgerlichen Konzeptionen, die zur Erkenntnis dieser Gesetzmäßigkeit nicht vorstoßen können, weil und solange sie den weltanschaulichen Schranken einer Ausbeuterklasse verhaftet bleiben. 134 Die hier in ihren Hauptpositionen dargelegte Geschichtsauffassung von Marx und Engels bietet entscheidende theoretische G r u n d l a g e n für eine Bestimmung des Gegenstandes der marxistischen Kulturgeschichte. Diese Kulturgeschichtskonzeption ist jedoch noch nicht die Gegenstandsbestimmung selbst. Um zu ihr zu gelangen, ist es vor allem erforderlich, die Kulturentwicklung als b e s o n d e r e S e i t e des Geschichtsverlaufs zu fassen, die in Wechselwirkung mit der ökonomischen und politischen Seite des historischen Gesamtprozesses in spezifischer Weise geschichtswirksam wird; ist es erforderlich, die gemeinsame spezifische Triebkraftfunktion zu verstehen, die die kulturellen Prozesse, Erscheinungen und Verhältnisse zu einer komplexen gesellschaftlichen Systemeinheit und Besonderheit zusammenbindet. Diese Problematik wurde im Zusammenhang mit der Erörterung des Verhältnisses von politischem Klassenkampf der Arbeiterklasse und Kulturentwicklung angeschnitten. Hier sind jedoch weiterführende theoretische Überlegungen und Forschungen dringend notwendig. Die Klassiker haben uns auch zu dieser Frage des Wechselverhältnisses von Ökonomie, Politik und Kultur viele Hinweise hinterlassen, vornehmlich in ihren Äußerungen zur historisch-konkreten Kulturentwicklung einzelner Länder und Epochen. Sie konnten in dieser Abhandlung nicht berücksichtigt werden. Ihre Aufarbeitung und damit die Klärung des Gegenstandes, der Theorie und Methode der marxistisch-leninistischen Kulturgeschichte würde jenes Vermächtnis erfüllen, das Friedrich Engels 1889 in die Worte faßte: „Und es ist theoretisch doch noch so viel zu tun, namentlich auf dem Gebiet der ökonomischen Geschichte und ihrer Zusammenhänge mit der politischen, der Rechts-, Religions-, Literatur- und Kulturgeschichte überhaupt, wo nur ein klarer theoretischer Blick den richtigen Weg im Labyrinth der Tatsachen zu zeigen imstande ist."i35 133 Karl Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie. MEW, Bd. 13, S. 9. 134
Vgl. Peter Schuppan, Kulturgeschichte und Geschichtsbild. Tendenzen der Kulturgeschichtsschreibung in der B R D . JbfVkKg 18 (N. F. 3), 1975, S. 51 ff. 135 Friedrich Engels an Conrad Schmidt, 17. 10. 1889. MEW, Bd. 37, S. 290 f.
Über die Bedeutung der Kategorie Lebensweise für volkskundliche Forschungen
V o n B E R N H A R D WEISSEL
Die Grundkategorien des historischen Materialismus „Kultur" und „Lebensweise", für sich genommen und in ihren Wechselbeziehungen, gehören zu den allgemeinen gesellschaftswissenschaftlichen Themen, die in der D D R in den letzten Jahren einen größeren Kreis von Gesellschaftswissenschaftlern in die Diskussion einbezogen haben. Das erklärt sich letztlich aus dem humanistischen Wesen unserer Gesellschaftsordnung, in der die Entwicklung allseitig gebildeter sozialistischer Persönlichkeiten mit hohen kulturellen Ansprüchen an die Lebensweise aller Mitglieder der Gesellschaft eine wesentliche Grundvoraussetzung für die weitere Entfaltung der Schöpferkraft des Volkes auf dem Wege zum Kommunismus darstellt. Die vom VIII. Parteitag der SED formulierte Hauptaufgabe, die materiellen und kulturellen Lebensbedürfnisse der Werktätigen, vor allem der Arbeiterklasse, immer besser zu befriedigen, löste unter den Gesellschaftswissenschaftlern zahlreiche Initiativen aus, die Objekt-SubjektDialektik in ihrem Wesen und in ihrer historisch bestimmten Wirkungsweise noch tiefer zu erfassen. In der Philosophie und Soziologie, in der Geschichte und in den kultur- und kunstwissenschaftlichen Disziplinen wurden neue Anstrengungen sichtbar, die historischen Dimensionen der Problematik der Aneignung des fortschrittlichen Kulturerbes, vor allem der revolutionären Traditionen der Arbeiterklasse, noch tiefer auszuloten. Damit verbanden sich Bemühungen, die Fragen der künstlerisch-ästhetischen Aneignung der Realität und der Dialektik der Entwicklung und Befriedigung kultureller Bedürfnisse stärker in die Forschungsprogramme der wissenschaftlichen Kollektive einzubeziehen. Hier wurden namentlich von Kultursoziologen, konkreten Sozialforschern und Literaturwissenschaftlern präzisierte Definitionen geboten, neue Aspekte erschlossen und Wege für den wissenschaftlichen Meinungsstreit gewiesen. 1 Für die skizzierte Entwicklung könnten zahlreiche Parallelen in den Ländern der sozialistischen Staatengemeinschaft angeführt werden. Die bestimmenden Ursachen dafür liegen in der Gemeinsamkeit der Grundinteressen, des Wegs und Ziels. Dabei verdienen die Initiativen und Ergebnisse der Gesellschaftswissenschaften der Sowjetunion besondere Aufmerksamkeit.
1 Vgl. z. B. Kulturpolitisches Wörterbuch, hrsg. von Harald Bühl u. a., Berlin 1970; Lebensweise und Moral im Sozialismus, hrsg. von Günther Hoppe u. a., Berlin 1972, 2. Aufl. 1974, sowie zahlreiche Aufsätze in den Weimarer Beiträgen. Zeitschrift für Literaturwissenschaft, Ästhetik und Kulturtheorie, Berlin und Weimar (z. B. H. 6, 1970; H. 9, 1970, H. 4, 1971, H. 7 usw.).
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Auch in der marxistisch-leninistischen Volkskunde der D D R wurden Kultur und Lebensweise Gegenstand verschiedener Diskussionen. Das ist nur zu verständlich, bezeichnen beide doch konstitutive Elemente in ihrem Selbstverständnis als Disziplin. 2 Dabei geht es zum einen um das Verhältnis von „Kultur" und „Lebenweise", zum anderen um Inhalt und Umfang der letzteren. I.
Im folgenden wird versucht, das Verhältnis zwischen den beiden Kategorien Kultur und Lebensweise näher zu bestimmen. Das kann hier freilich nur partiell geschehen und impliziert nicht den Anspruch, neue, exakte Begriffsbestimmungen liefern oder vorhandene ergänzen zu wollen. Dazu besteht unseres Erachtens, zumindest im Hinblick auf die Gegenstandsbestimmung von Kultur, auch kein zwingendes Bedürfnis. Wir betrachten die von marxistisch-leninistischen Philosophen und Kulturtheoretikern in den letzten Jahren erarbeiteten Definitionen des Wesens der Kultur in dem uns interessierenden Zusammenhang als gesicherte Ausgangsgrundlage, zumal unser Versuch nicht über nächstliegende, unmittelbar praktisch-fachliche Ziele hinausgeht. Wir halten übrigens auch die uns bekannten a l l g e m e i n e n Bestimmungen des Wesens der Lebensweise für unsere Zwecke für ausreichend. 3 Nach unserer Auffassung werden Kultur und Lebensweise in der marxistischleninistischen gesellschaftswissenschaftlichen Literatur zu Recht als korrelierende Kategorien, jedoch nicht schlechthin als Synonyma verwendet. Sie sind stets aufeinander bezogen und bilden insofern eine unauflösliche Einheit, als die Kulturen im Verlaufe der Weltgeschichte stets mit historisch bestimmten Arten der Lebensweise, d. h. der Gestaltung der Lebenstätigkeit des gesellschaftlichen Menschen, verbunden waren und sind. Diese waren und sind durch die jeweilige ökonomische Gesellschaftsformation, den gesellschaftlichen Charakter der Produktionsweise und die durch sie repräsentierte welthistorische Kulturstufe geprägt. Für die Ausbeuterordnungen, in denen die Eigentümer der Produktionsmittel 2 Vgl. die Einleitung zu: Kultur und Lebensweise des Proletariats, hrsg. von Wolfgang Jacobeit und Ute Mohrmann, Berlin 1973, ferner den Sammelband: Probleme und Methoden volkskundlicher Gegenwartsforschung, hrsg. von Wolfgang Jacobeit und Paul Nedo, Berlin 1969, u. a. Von monographischen Arbeiten aus der UdSSR sind hervorzuheben z. B. V. Ju. Krupjanskaja, N. S. Policuk, Kul'tura i byt rabocich gornosavodskogo Urala. Konec 19-nacalo 20 veka, Moskva 1971; Ju. V. Bromlej. Etnos i etnografija, Moskva 1973, des weiteren zahlreiche Arbeiten in der Zeitschrift Sovjetskaja Etnografija. 1
Aus der philosophisch-soziologischen Literatur der UdSSR der letzten Jahre seien hier angeführt: G. Glesermann, Lenin i formirovanie socialisticeskogo obraz zizni. Kommunist 1/1974, S. 105 bis 118: S. G. Strumilin und E. E. Pisarenko, Socialisticeskij obraz zizni: metodologija issledovanija. Voprosy filosofii 2/1974, S. 27-38 und 4/1974, S. 98 — 104; dt. u. d. T. Die sozialistische Lebensweise (Methodologische Probleme). Sowjetwissenschaft, Gesellschaftswiss. Beiträge 27 (1974) S. 449-461. Besondere Beachtung verdient die aus Komplexforschungen erwachsene Monographie von L. A. Gordon und E. V. Chlopov, Celovek posle raboty. Social'nye problemy byta i vnerabocnogo vremeni po materialam izucenija bjudzetov vremeni rabocich v krupnich gorodach evropejskoj casti SSSR, Moskau 1972; aus der D D R sei hier auf die Arbeit: Lebensweise und Moral im Sozialismus, hrsg. von Günter Hoppe u. a., 2. Aufl., Berlin 1974, hingewiesen.
Bedeutung der Kategorie
Lebensweise
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und die unmittelbaren Produzenten ihre Lebenstätigkeiten entsprechend ihrer Stellung im System der herrschenden Produktionsverhältnisse unter grundlegend verschiedenen Bedingungen gestalten, ist dem entsprechend auch die Existenz verschiedener Lebensweisen der verschiedenen Klassen und Schichten charakteristisch.4 Ausgehend von den Entwicklungsstadien der ökonomischen Gesellschaftsformationen als der Grundlage für die Bestimmung der Wesensmerkmale der Lebenweise, haben die Klassiker des Marxismus-Leninismus dieser Problematik in mehreren Werken ihre besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Neben dem „Kapital" von Karl Marx wären hier vor allem Friedrich Engels' „Die Lage der arbeitenden Klasse in England" und Lenins „Die Entwicklung des Kapitalismus in Rußland" als die Werke zu nennen, in denen die Dialektik von Lebensbedingungen und Lebensweise und die Ausprägung der grundlegenden Klasseninteressen in den Lebensweisen der antagonistischen Klassen der Bourgeoisie und des Proletariats ihre klassische Darstellung erfahren haben. Kultur und Lebenweise stehen auch deshalb in ausgeprägter Korrelation zueinander, weil die Lebensweise als ein wesentliches konstitutives Moment in den weiten marxistisch-leninistischen Kulturbegriff eingeht. Die Befriedigung der Bedürfnisse des gesellschaftlichen Menschen von den Bereichen der Nahrung, Wohnung und Kleidung bis zur Aneignung der geistigen Güter und zur Herausbildung von Traditionen in Sitte und Brauch in den verschiedenen Formen des Gemeinschaftsleben weist wie alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens Kulturaspekte auf. Als gesellschaftliche Lebenstätigkeiten, die letztlich ihr Gepräge durch die Arbeit als Grundlage des Kulturfortschritts erfahren, sind sie kulturell bestimmte Tätigkeiten und nehmen ihren rechtmäßigen Platz in der Kulturgeschichte ein. Durch die jeweilige Kulturstufe werden die objektiven Bedingungen für die Gestaltung der wesentlichen Lebenstätigkeiten des gesellschaftlichen Menschen vorgezeichnet, während diese wiederum als relativ selbständiges historisches Moment auf den Gang der kulturhistorischen Entwicklung einwirken, ihren Verlauf beschleunigen oder hemmen können. Als gesellschaftliche, historisch bestimmte Weisen der Gestaltung der menschlichen Lebenstätigkeiten müssen die Lebensweisen verschiedener Klassen und Schichten in den einzelnen Epochen der Menschheitsgeschichte vor allem danach beurteilt werden, wieweit die Errungenschaften des objektiv meßbaren Kulturfortschritts Eingang in das alltägliche Leben gefunden haben. Am Ausmaß ihrer Aneignung, ihrer Konsumtion, die in der produktiven Nutzung der Naturkräfte und in den Normen des gesellschaftlichen Lebens zum Ausdruck kommt, können auch die Kriterien des Fortschritts in der historischen Aufeinanderfolge der Lebensweisen bestimmt werden. Auch die Geschichte der Lebensweisen von der Lebensweise der Sammler und Jäger in den frühen Stadien der Urgesellschaft bis zur Herausbildung der sozialistischen Lebensweise in den Ländern der sozialistischen Staatengemeinschaft in der gegenwärtigen welthistorischen Epoche
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Zu diesem Problemkomplex s. G. Glesermann, a. a. O., S. 107—109.
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des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus/Kommunismus weist eine gesetzmäßige, aufsteigende Entwicklung vom Niederen zum Höheren aus. Diese hier nur in allgemeinsten Zügen umrissene Ausgangsposition der marxistisch-leninistischen Ethnographie bei der Erforschung der historischen Entwicklung der Kultur und Lebensweise in der Geschichte der ethnischen Gemeinschaften schließt damit auch die Auseinandersetzung mit allen Richtungen des „Kulturrelativismus" in der bürgerlichen Ethnographie ein.5 Bekanntlich prägen diese in ihren verschiedenen Spielarten, die letztlich alle die bestimmenden Einflüsse spätbürgerlicher Geschichts- und Gesellschaftsauffassungen auf die Gestaltung der Forschungskonzeptionen erkennen lassen, in den letzten Jahrzehnten weitgehend das Bild der Forschungen zur Kultur und Lebensweise — von den in ihrer sozial-ökonomischen und kulturellen Entwicklung zurückgebliebenen und kolonial unterdrückten ethnischen Gemeinschaften bis zu den „complex societies", d. h. kapitalistischen Völkern und Nationen in der Gegenwart. Die Ursprünge liegen in der Sozial- und Kulturanthropologie der angelsächsischen Länder, ihr Einflußbereich hat sich in den letzten Jahren auch auf Ethnographen weiterer kapitalistischer Länder, darunter auch auf bürgerliche Volkskundler der BRD, ausgedehnt. 6 Mit der Betonung der Gleichberechtigung und Gleichwertigkeit aller Kulturen und Lebensweisen in der Geschichte der Menschheit, die zugleich als Legitimation liberaler und „demokratischer" Gesinnung offeriert wird, verbindet sich aber die schroffe Ablehnung des Entwicklungsgedankens, 7 selbst noch in jenen Formen, in denen er im 19. Jahrhundert in der Geschichte der bürgerlichen Soziologie als platter Evolutionismus zutage trat. Läßt sich als Ergebnis des hier Dargelegten festhalten, daß Kultur und Lebens5 Ihre deutlichste Ausprägung erfuhr diese Richtung in der programmatischen Arbeit der USamerikanischen Ethnographin Ruth Benedict, Patterns of Culture, 1. Aufl., New York 1934 sowie in Arbeiten ihres Landsmannes Melville Herskovits. Hier sei erwähnt: Man and his works, New York 1948. Zwar wurde der „Kulturrelativismus", der jede Kultur als ein Einmaliges faßt und darum im Grunde keine Vergleiche zwischen den Kulturstufen gestattet, auch von US-amerikanischen Kulturanthropologen kritisch beleuchtet, ohne daß jedoch entscheidende Konsequenzen gezogen wurden. Eine sehr scharfe Kritik an der kulturrelativistischen Konzeption Ruth Benedicts anläßlich der Neuherausgabe ihrer Patterns of Cultur in Taschenbuchform übte Elgin Williams, Anthropology for the common man. American Anthropologist 49 (1947) S. 84—90. 6 In der Volkskunde tritt der Einfluß dieser Konzeption besonders in den Arbeiten von Gerhard Heilfurth und Ina-Maria Greverus hervor. Nähere Angaben s. Bernhard Weißel, Volkskunde zwischen Kulturanthropologie und empirischer Sozialforschung. In: Evolution und Revolution in der Weltgeschichte. Ernst Engelberg zum 65. Geburtstag, Berlin 1974, S. 613—679. 7 Darin sind sich alle namhaften Sozial- und Kulturanthropologen in England und den USA einig. Sie werden nicht müde, die Idee der Evolution, wie sie in den Werken Morgans hervortritt, als „durch die Forschungsergebnisse überholt" und darum als nicht haltbar zu denunzieren. Eine Ausnahme bildet Leslie A. White, der in vielen Artikeln und Monographien den Entwicklungsgedanken Morgans gegen seine zahlreichen Kritiker verteidigt. Siehe besonders: Diffusion versus evolution: An antievolutionist fallacy. American Anthropologist 47 (1945) S. 339—356 und: History, evolutionism and finotunalism: three types of interpretation of cultur. Southwestern Journal of Anthropology 1 (1954) S. 221—248. Siehe auch seine Darstellung The science of cultur, 2. Aufl., New York 1969. In seiner „kulturologischen" Konzeption leitet er die Idee der Evolution unmittelbar aus der Entwicklung der Produktivkräfte und der Technik in der Geschichte der Menschheit ab.
Bedeutung der Kategorie
Lebensweise
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weise unauflöslich aufeinander bezogen sind, daß Kultur im weiteren Sinne stets Lebensweise einschließt und die Lebensweise als Inbegriff der gesellschaftlichen Lebenstätigkeiten durch den Grad der Aneignung der Kulturgüter — diese nicht als bloße Rezeption, sondern zugleich als schöpferische Weiterentwicklung verstanden —, bestimmt werden, so bedeutet dies jedoch nicht, daß die durch beide Kategorien erfaßten objektiven Inhalte als Ausschnitte aus der Totalität der gesellschaftlichen Beziehungen völlig kongruent wären. Nach unserer Auffassung ist der Begriffsumfang von Kultur und damit der Kreis der darin umschriebenen Gegenstände, Probleme und Beziehungen größer als der der Lebensweise. Selbst wenn der Begriff Lebensweise nicht als Gesamtheit der unter russ. byt zusammengefaßten, von der Ethnographie bearbeiteten und eindeutig bestimmten, traditionell gesicherten Forschungsfelder, also im engeren, sondern als obraz zizni im weiteren Sinne — wie in neueren philosophisch-soziologischen Definitionsversuchen — verstanden wird, zählen zu seinem Gegenstands* und damit Forschungsbereich nicht alle Probleme, Prozesse und gesellschaftlichen Beziehungskomplexe, die von der Kulturgeschichte in Verallgemeinerung und synthetischer Darstellung der Forschungsergebnisse der Einzelwissenschaften zu behandeln wären. 8 Im Verhältnis von allgemeiner Kulturgeschichte zur Geschichte der Lebensweisen stellt erstere nach unserer Auffassung das Primäre, letztere das Abgeleitete dar. Die Darstellung der Geschichte der Lebensweisen ist für die verschiedensten Bereiche und Aspekte der materiellen und geistigen Kultur auf Vorarbeiten angewiesen, die von den einzelnen kultur- und kunstwissenschaftlichen Disziplinen geleistet werden. Wieweit hier die „Mittlerdienste" der Kulturgeschichtsschreibung in Anspruch genommen werden können, hängt praktisch vom Entwicklungs- und Organisationszustand ab, in dem sich die allgemeine Kulturgeschichte als selbständige Disziplin befindet. In ihren Gegenstandsbereichen führen die einzelnen kultur- und kunstwissenschaftlichen Disziplinen wie z. B. Literaturgeschichte, Kunstgeschichte und Musikgeschichte Forschungen zu Problemen der Kulturgeschichte durch, ohne damit zugleich notwendigerweise Fragen zur Geschichte der Lebensweise einbeziehen zu müssen. Freilich finden, wie besonders aus literaturhistorischen Forschungen der letzten Jahre ersichtlich, die Probleme der Aneignung und Konsumtion der Kunstwerke, kurz der „Wirkungsgeschichte", immer stärkere Beachtung. Damit wurde dort, zumindest partiell, die Problematik der Lebensweise berührt. Diese Erscheinung verdient unsere Aufmerksamkeit, sollte aber in ihrer Bedeutung nicht überschätzt werden. Was aber bildet den Gegenstand der Forschungen zur Lebensweise? Wie wird der vorhin apostrophierte unauflösliche Zusammenhang zwischen Kultur und Lebensweise im Ergebnis der Forschungen hergestellt? Welche Mittel und Methoden sind erforderlich, um adäquate, effektive Ergebnisse zu gewährleisten? 8 Das bedeutet jedoch nicht, den weiten Ausdehnungsbereich der Lebensweise einzuengen. In ihrem vorhin (Anm. 3) zitierten Artikel verweisen S. G. Strumilin und E. E. Pisarenko auf den außerordentlich komplexen Charakter der „Lebensweise" als eine der allgemeinsten soziologischen Kategorien, in dem wie in einem Brennspiegel ökonomische, soziale, psychologische, ideologische, moralische und Familienbeziehungen zusammentreffen.
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Der konkreten Praxis der gesellschaftlichen Forschung wäre freilich mit abstrakten und apodiktisch formulierten Forderungen an die Adresse des jeweiligen Nachbarn wenig gedient. Deshalb müssen der konkrete Entwicklungsstand der bestehenden Disziplinen, das historisch entstandene System der Arbeitsteilung zwischen ihnen und die Forschungstraditionen in die weitere Betrachtung einbezogen werden. Dabei geht es uns vor allem um den Verantwortungsbereich der Volkskunde. W u r d e vorhin gesagt, d a ß die Darstellung der Geschichte der Lebensweisen auf Vorarbeiten angewiesen sei, die von anderen kultur- und kunstwissenschaftlichen Disziplinen wie auch eventuell durch die Vermittlung der allgemeinen Kulturgeschichte zu leisten seien, so m u ß hier auf die besondere Stellung der V o l k s k u n d e hingewiesen werden. Im Ergebnis der historisch entstandenen Arbeitsteilung f ü h r t sie wie andere kultur- u n d kunstwissenschaftliche Disziplinen u n d in A b s t i m m u n g mit ihnen F o r s c h u n g e n auf vielen Teilgebieten der Geschichte der materiellen u n d geistigen K u l t u r durch. So ü b e r n a h m sie z. B. in der Geschichte des Bauens und W o h n e n s , im künstlerischen Volksschaffen, in der Literatur und Musik Bereiche und T h e m e n , die als A u s d r u c k s f o r m e n einer relativ selbständigen Volkskultur angesehen u n d jeweils als K o m p l e m e n t e zu den Bereichen und T h e m e n bewertet wurden, die von der Kunstgeschichte, der Geschichte der Architektur, der Literaturgeschichte und der Musikgeschichte bearbeitet werden. Somit leistete sie wie diese auf Teilbereichen k o n k r e t e kulturhistorische F o r s c h u n g e n . Zugleich legt ihr die Bezeichnung der Wissenschaftsdisziplin als Volkskunde — in marxistisch-leninistischer D e u t u n g : Erforschung von K u l t u r und Lebensweise der werktätigen Klassen und Schichten des deutschen Volkes — die Verpflichtung auf, die einzelnen Forschungsergebnisse im Hinblick auf ihre Aussagefähigkeit für die Darstellung der Gesetzmäßigkeiten in der Geschichte der K u l t u r und Lebensweise der werktätigen Klassen u n d Schichten des deutschen Volkes einzuschätzen. Im Bereich „ K u l t u r u n d Lebensweise" der werktätigen Klassen und Schichten ü b e r n i m m t die Volksk u n d e f ü r das, was oft allzu verkürzt u n d d a r u m unscharf als Volkskultur bezeichnet wird, als G a n z e s gegenüber ihren einzelnen Sachbereichen u n d G a t t u n g e n eine analoge A u f g a b e , wie sie von der allgemeinen Kulturgeschichte gegenüber den einzelnen kultur- u n d kunstwissenschaftlichen Disziplinen erwartet wird. Mit der E r f ü l l u n g dieser F o r d e r u n g steht und fällt die A u f f a s s u n g von der Volksk u n d e als einer kulturhistorischen Disziplin. Wollte sie sich dieses A n s p r u c h s begeben, so entfiele d a m i t a u c h die G r u n d v o r a u s s e t z u n g ihrer Existenz als eigenständiges Fach, und ihre einzelnen Sachbereiche und G a t t u n g e n k ö n n t e n o h n e Schäden für die Wissenschaften von den b e n a c h b a r t e n Disziplinen ü b e r n o m m e n werden. D e r v o m Wissenschaftsbereich Kulturgeschichte/Volkskunde des Zentralinstituts f ü r Geschichte bei der A d W der D D R vorgelegte „ A b r i ß zur Geschichte der K u l t u r u n d Lebensweise der werktätigen Klassen und Schichten des deutschen Volkes", die bisherigen Neuen Folgen des „ J a h r b u c h s f ü r Volksk u n d e und K u l t u r g e s c h i c h t e " und die in den letzten J a h r e n erschienenen und vorbereiteten M o n o graphien von Mitarbeitern des Wissenschaftsbereichs geben A u s k u n f t d a r ü b e r , in welchem M a ß e der in der G e g e n s t a n d s b e z e i c h n u n g des Fachs implizierten F o r d e r u n g heute schon entsprochen werden k a n n . O h n e hier auf Details in der Bilanz eingehen zu k ö n n e n , sei folgendes in der gebotenen K ü r z e festgehalten: Wohl beziehen Untersuchungen zur Geschichte der materiellen und geistigen K u l t u r sowie geistig-künstlerischen K u l t u r — was auch schon an der Schriftenreihe des ehemaligen Instituts für deutsche V o l k s k u n d e verifiziert werden k a n n — zu einem bestimmten Teil stets Fragen der Lebensweise ein, sind doch die Objektivationen der materiellen u n d geistigen K u l t u r a u s d e m Alltagsleben der Werktätigen hervorgegangen u n d k ö n n e n d a h e r n u r im engen Z u s a m m e n h a n g mit ihm in ihrer historischen Wertigkeit eingeschätzt werden. Insgesamt blieben aber bis heute noch weite Bereiche aus der Geschichte der Lebensweise ausgespart und die Probleme und Prozesse des W a n d e l s k o n n t e n deshalb nicht immer überzeugend dargestellt werden. Seit der E r a r b e i t u n g des „ A b r i ß " , mit der Vorlage des S a m m e l b a n d e s „ D e r arm m a n 1525" u n d weiteren Arbeiten des Wissenschaftsbereichs Kulturgeschichte/Volkskunde, die in nächster Zeit der Ö f f e n t lichkeit vorgelegt werden k ö n n e n , wurde versucht, weiße Flecken d u r c h neue Forschungsergebnisse auszufüllen. D a s setzte die konsequente Orientierung der F o r s c h u n g s t h e m e n a m konkreten Verlauf der Geschichte des deutschen Volkes in den einzelnen E p o c h e n und Perioden u n d ihre A u s w a h l u n t e r d e m
Bedeutung der Kategorie
Lebensweise
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Aspekt der allgemein-historischen Relevanz voraus. D a s hier Gesagte gilt f ü r den ganzen historischen Zeitraum, der in volkskundlichen Forschungsarbeiten e r f a ß t wird, und nicht n u r f ü r einzelne Perioden. Wer meint, die wissenschaftliche L ö s u n g von P r o b l e m e n der „ L e b e n s w e i s e " sei einzig etwa den M i t a r beitern aufgegeben, die sich mit der Geschichte der K u l t u r u n d Lebensweise der Arbeiterklasse beschäftigen, unterliegt einem folgenschweren Irrtum. D a s öffentliche Ansehen der V o l k s k u n d e als Disziplin wird nicht an einzelnen Ergebnissen zu einzelnen T h e m e n gemessen, u n d m ö g e n sie f ü r die engere Fachwelt noch so interessant sein, sondern an ihrem Beitrag, den sie auf ihrem V e r a n t w o r t u n g s b e r e i c h zur A u f d e c k u n g und Darstellung der Wirkungsweise der objektiven Gesetzmäßigkeiten in der K u l t u r entwicklung im konkreten Geschichtsverlauf zu leisten vermag. D a m i t aber wird sie auf die Geschichte der Lebensweise der werktätigen Klassen und Schichten als das Arbeitsfeld verwiesen, das ihr keine andere Disziplin streitig macht. Die Tatsache, d a ß G e n e r a t i o n e n bürgerlicher Volkskundler mit ihren F o r s c h u n g e n u n d ihrer populärwissenschaftlichen Tätigkeit a u f g r u n d ihrer konservativ-reaktionären Geschichts- und J Gesellschaftsauffassungen einen erheblichen Anteil d a r a n h a b e n , d a ß die Lebensweise der Werktätigen entfernterer Geschichtsperioden r o m a n t i s c h verklärt u n d damit der Blick auf ihre historische Existenz und die realen Entwicklungsprobleme verstellt wurde, verpflichtet die marxistisch-leninistischen Volkskundler, an die Bewertung der gesellschaftlichen Berechtigung ihrer F o r s c h u n g s t h e m e n strengste M a ß s t ä b e anzulegen. Die Flucht in s o g e n a n n t e unverbindliche T h e m e n ist kein Ausweg, und die Berufung auf die „ W i s s e n s c h a f t s t r a d i t i o n " zielt ins Leere, wenn T h e m e n ausfindig gemacht werden, die vermeintlich d e m historischen W a n d e l nicht in demselben M a ß e unterliegen wie andere, eindeutig „geschichtsrelevante". U m Mißverständnissen vorzubeugen u n d nicht in den Verdacht der „Bilderstürmerei" zu geraten, sei unmißverständlich z u m A u s d r u c k geb r a c h t : Wie jede andere gesellschaftswissenschaftliche Disziplin kennt auch die V o l k s k u n d e g r ö ß e r e oder kleinere T h e m e n , die sich auf größere oder kleinere Ausschnitte a u s der historischen Realität beziehen, und wie diese hat auch sie eine interne Gliederung ihrer T h e m e n nach Sachbereichen, einen Katalog von F o r s c h u n g s p r o b l e m e n , kurz eine innere S t r u k t u r aufzuweisen. K r i t i k w ü r d i g sind nicht schlechtweg einzelne, wenig Aufsehen erregende Themen, zumal die V o l k s k u n d e in ihren F o r s c h u n g e n nicht nur auf historisch progressive, sondern auch auf historisch überlebte, deri Fortschritt h e m m e n d e Traditionen u n d Tendenzen stößt u n d die Entwicklung der Lebensweise als widerspruchsvolles G a n z e s darstellen m u ß . Die Kritik wird d o r t herausgefordert, wo sich in der W a h l u n d Anlage von T h e m e n Bestrebungen artikulieren, den G e g e n s t a n d aus seinen entscheidenden historisch-gesellschaftlichen Beziehungen herauszulösen und ihn in einem Sinne zu isolieren, d a ß alle Aussagen über Typ, F u n k t i o n und Struktur jeder echten historischen Aussage entbehren. Es wäre ein Fehler zu meinen, d a ß solche G e f a h r e n nur bei der Beschäftigung mit T h e m e n aus entfernteren Geschichtsperioden u n d zu einzelnen Sachbereichen a u f t a u c h e n k ö n n t e n . Es gibt absolut keine „ u n v e r b i n d l i c h e n " T h e m e n . Ausnahmslos alle T h e m e n müssen u n d k ö n n e n , ganz gleich, wo sie chronologisch angesiedelt sind, nach ihrem Wert für die weitere Ausgestaltung des marxistisch-leninistischen Geschichtsbildes eingeschätzt werden. Das bedeutet aber, d a ß sie nach ihrer Aussagefähigkeit im Hinblick a u f / l a s Wirken der Gesetzmäßigkeiten in der Entwicklung der K u l t u r und Lebensweise geprüft werden müssen, u n d d a s verweist wiederum auf den Beziehungskomplex Kultur und Lebensweise als die H a u p t k o o r d i i i a t e n volkskundlicher F o r s c h u n g . D a s Verständnis dieser Kategorien zu vertiefen u n d das Wissen u m ihren Inhalt durch neue Forschungsergebnisse ständig zu bereichern, sollte d a s Anliegen aller Volkskundler der D D R sein.
Zum Verständnis der Kategorie Lebensweise empfiehlt sich ein Blick auf die sowjetische gesellschaftswissenschaftliche Terminologie. In der russischen Sprache existieren zwei entsprechende Termini, die oben schon kurz erwähnt wurden: obraz zizni (wörtlich 'Art [Weise, Form] des Lebens') und byt (wörtlich 'Dasein'), die beide in Übersetzungen ins Deutsche in der D D R gewöhnlich durch „Lebensweise" wiedergegeben werden, und zwar sowohl in philosophischen und kultursoziologischen als auch in ethnographischen Texten. Wie verhalten sich nun aber Inhalt und Umfang der beiden Begriffe obraz zizni und byt zueinander? Welche Beziehungen bestehen zwischen ihnen?
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Unter dem Stichwort byt bietet die „Große Sowjetenzyklopädie" eine Definition 9 , die diese als Sphäre der menschlichen Lebenstätigkeiten außerhalb der eigentlichen Produktion ausweist, wobei konstatiert wird, daß diese Tätigkeiten wiederum auf die Arbeitstätigkeit zurückwirken, ihre Entwicklung fördern oder hemmen können. Eine ähnliche Auffassung vertritt der bekannte Leningrader Soziologe und Familienforscher A. G. Charcev. 10 Dagegen bieten der auch in der D D R bekannte Philosoph G. Glesermann sowie S. G. Strumilin und E. E. Pisarenko eine Definition, die die Arbeit als grundlegende Lebenstätigkeit in die Kategorie Lebensweise einschließt. 11 Er verwendet für die so verstandene Lebensweise die Bezeichnung obraz zizni, die einen größeren Begriffsumfang als den des byt aufweist. Nach seiner Auffassung schließt obraz "zizni die Komponenten ein, die mit den Organisationsformen der Produktion verbunden sind, kann aber als sozialer Begriff nicht auf diese reduziert werden. Unter den Elementen, die den obraz zizni konstituieren, nimmt byt — als gesellschaftliche Lebenstätigkeit außerhalb der Produktionssphäre — einen bedeutenden Platz ein. 12 Mit dieser Auffassung stimmen auch die Autoren der DDR-Publikation „Lebensweise und Moral im Sozialismus" überein. Ihre Definition der Lebensweise lautet: „Die Lebensweise der Mitglieder einer Gesellschaft, die die historisch bestimmte Art und Weise der gesamten Lebenstätigkeit der Menschen von der materiellen Produktion bis zu den persönlichen Beziehungen in der Familie ist, ergibt sich aus dem Entwicklungsstand der Produktivkräfte, aus der Teilung der Arbeit, aus den Produktionsverhältnissen, aus dem Charakter der Beziehungen zwischen den Klassen." 13 Die Gemeinsamkeit der Auffassungen kommt besonders aber in der Definition der s o z i a l i s t i s c h e n Lebensweise zum Ausdruck. Es muß hervorgehoben werden, daß die Anstöße, die Kategorie Lebensweise erneut zu bestimmen, aus dem Bestreben erwuchsen, die historischen Erfahrungen in der Herausbildung der sozialistischen Lebensweise in den Ländern der sozialistischen Staatengemeinschaft theoretisch zu verallgemeinern. Da diesen Versuchen allgemeine gesellschaftswissenschaftliche Bedeutung zukommt, sollten ihre Ergebnisse auch von den Volkskundlern der D D R gründlich studiert werden. In der Ethnographie der UdSSR bezeichnen Kultur und Lebensweise in ihrem wechselseitigen Zusammenhang Eckpfeiler im Selbstverständnis der Disziplin. Beide werden, wie die vielfaltigen Wortverbindungen für einzelne Teilgebiete {Familie und Lebensweise, Wohn- und Lebensweise) oder solche Zusammensetzungen wie Familien-Lebensweise sowie das verallgemeinernde Kompositum bytovaja kuPtura bezeugen, als unauflösliche Einheit behandelt. Die Probleme der Kultur werden insoweit in Untersuchungen und Darstellungen einbezogen, als ihre Elemente in die Lebensweise eingegangen, d. h. feste Errungenschaften » Bol'saja Sovetskaja Enzyklopedija, 3. Aufl., Bd. 4, Moskau 1971, S. 183, Sp. 5 3 6 - 3 7 . 10
A. G. Charcev, Byt i familija v socialisme. Voprosy filosofii 3/1967, S. 12—29. 11 Vgl. Fußnote 3. 12 G. Glesermann, a. a. O., S. 108. 13 Lebensweise und Moral im Sozialismus, a. a. O., S. 26.
Bedeutung der Kategorie Lebensweise
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des Alltagslebens geworden sind. Soweit wir es übersehen, waren die Probleme der wechselseitigen Bezogenheit der beiden Kategorien in den letzten Jahren nicht Gegenstand spezieller wissenschaftlicher Diskussion. A u c h die Fragen nach dem „weiteren" und „engeren" Begriff der Lebensweise haben keinen deutlich erkennbaren Niederschlag im wissenschaftlichen Meinungsstreit der Ethnographen gefunden. Wer die Entwicklung der Forschungen der sowjetischen Ethnographen in den letzten Jahrzehnten verfolgt, wird feststellen, daß andere theoretische Probleme wie die des historischen Stellenwerts der ethnischen Gemeinschaften und die Ausarbeitung der Theorie des Ethnos und der ethnischen Prozesse im Vordergrund des Interesses standen. In ihren Untersuchungen zur Geschichte der Kultur und Lebensweise — und dies gilt sowohl hinsichtlich der Arbeiterklasse im Kapitalismus als auch des gesetzmäßigen Wandels der Lebensweise im Übergang zum Kommunismus — folgen sie einer Begriffsbestimmung, die im allgemeinen mit der vorhin erwähnten Definition der „ G r o ß e n Sowjetenzyklopädie" übereinstimmt. So bildet die Arbeit als kulturell bestimmende und bestimmte Lebenstätigkeit die Ausgangsgrundlage aller Forschungen, aber diese erstrecken sich im Sinne der Definition von byt nur auf den unter diesem Stichwort in der Großen Sowjetenzyklopädie verzeichneten engeren Gegenstandsbereich. Allerdings hat die sowjetische Enthnographie in praxi wesentliche Beiträge zur Geschichte der Produktivkräfte und der Produktionsund Arbeitsweisen ethnischer Gemeinschaften auf niederen Stufen der sozialökonomischen Entwicklung erbracht. Zusammenfassend ist zu bemerken: Sowjetische Philosophen und Soziologen verwenden die Kategorie Lebensweise als obraz zizni in einem weiteren Sinne, die Ethnographen beziehen sich in ihren Arbeiten auf den engeren, mit byt umschriebenen Gegenstandsbereich. Philosophen und Soziologen beziehen byt als Bestandteil der Lebensweise unter den obraz zizni ein; die Ethnographen konzentrieren sich in ihren Forschungen auf byt als Inbegriff der menschlichen Tätigkeiten in der Alltagswelt außerhalb der eigentlichen Sphäre der Arbeit. Beide Definitionen liegen auf verschiedenen Abstraktionsebenen. Welche Position sollten die Volkskundler der D D R im Streit der Meinungen beziehen? Darauf soll im folgenden Abschnitt näher eingegangen werden. II. Es ist gewiß kein Zufall, daß die Diskussionen um die hier anvisierte Problematik zuerst diejenigen Volkskundler ergriffen hat, die sich mit der Geschichte der Kultur und Lebensweise der Arbeiterklasse unter den Bedingungen des Kapitalismus beschäftigen, und so ist es auch zu erklären, daß aus diesem Kreis auch die ersten Diskussionsbeiträge zu Protokoll gegeben wurden. D a ß diejenigen Mitarbeiter, deren Arbeitsfeld vornehmlich in der Untersuchung von Problemen der Geschichte der Kultur und Lebensweise der Bauern, Handwerker und anderer werktätiger Schichten in vorkapitalistischen Gesellschaftszuständen liegt, hier anfangs Zurückhaltung übten, mag verschiedene Gründe gehabt haben. Z u m einen mögen sie Forschungsgegenstand, -ergebnisse und -traditionen für so
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eindeutig bestimmt gehalten haben, daß sie kein Bedürfnis nach Reflexionen über die Kategorie Lebensweise empfanden. Hinzu kommt, daß auch die entsprechenden Forschungsfelder in ihrer Gesamtheit und im einzelnen — unbeschadet der unterschiedlichen Ausmaße — zahlreiche Analogien zur Forschungspraxis der Ethnographie der UdSSR aufweisen (abgesehen von der ethnischhistorischen Spezifik als konstitutives Element im Wissenschaftsverständnis der sowjetischen Ethnographen) und damit theoretisch abgesichert schienen. Schließlich schien der Einsatzraum der volkskundlichen Forschungen voll ausgemessen, und das Problem der Grenzflächen zu benachbarten Disziplinen wie der Wirtschafts-, insbesondere der Agrargeschichte, der Literatur-, der Musikgeschichte, der Geschichte der Architektur usw. spielte keine nennenswerte Rolle. Im Gegenteil, einzelne „Grenzverletzungen" der Volkskundler brachten allen Beteiligten Nutzen. Anders war die Situation, als sich die Volkskundler anschickten, ihren Einsatzbereich bei der Erforschung der Geschichte der Kultur und Lebensweise der Arbeiterklasse festzulegen. Hier fruchtete keine Berufung auf gesicherte Forschungstraditionen, und die Gegenstandsbestimmung und die daraus abzuleitende Forschungskonzeption wurden zu existentiellen Fragen der Volkskunde. Hier war vieles in Frage zu stellen, denn die Qualität der Fragen und die Präzision der Antworten konnten in gewisser Weise schon das Ergebnis der Forschungen vorwegnehmen. Wie bei jeder neuen Forschung trat auch hier die einfache Wahrheit zutage, daß es keine „voraussetzungslose" Forschung gibt, in der die Probleme der Theorie und Methodologie als unerheblich beiseite gelassen werden könnten. In dieser Situation waren die Bemühungen, das Verhältnis von Kultur und Lebensweise zu bestimmen, zugleich Versuche zu erklären, was unter volkskundlicher Beschäftigung mit der Kultur und Lebensweise der Arbeiterklasse zu verstehen sei und was ihr Wesen ausmache. In diesem Zusammenhang erlangten die Fragen nach dem „weiteren" oder „engeren" Umfang der Kategorie Lebensweise sowie besonders das strittige Problem, ob Lebensweise die Arbeit einschließe oder als Lebenssphäre außerhalb der Tätigkeit in der materiellen Produktion aufzufassen sei, erstrangige praktische Bedeutung. Der Meinungsstreit dauert heute noch an. Ihn erneut anzufachen und Wortmeldungen für die nächsten Folgen unseres „Jahrbuchs" zu evozieren, ist ein erklärter Zweck dieses Beitrags. In den Diskussionen, die unter Ethnographen der D D R um die Relevanz der Kategorie Lebensweise geführt werden, nehmen die Fragen nach dem Verhältnis und der terminologischen Abgrenzung der Begriffe Lebensweise, Lage und Lebensstandard für ihre spezifischen Forschungen einen verhältnismäßig breiten Raum ein. Auf den ersten Blick betrachtet, mag das als ein müßiger Streit erscheinen. Tatsächlich geht es aber um das aktuell-praktische Erfordernis, bei Komplexuntersuchungen, die in interdisziplinärer Kooperation durchgeführt werden, die Einsatzräume der beteiligten Disziplinen abzustecken und die Zonen zu bestimmen, in denen die Partner unter verschiedenen Aspekten Teilbeiträge zur Bewältigung der gemeinsamen Probleme zu erbringen haben. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit und ohne einer detaillierten Gliederung
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der Themen und dem Katalog der Fragen vorgreifen zu wollen, die von der Ethnographie bearbeitet werden sollten, sei auf folgende Bereiche hingewiesen, die aufgrund des Selbstverständnisses der Ethnographie nach unserer Auffassung unabdingbar Bestandteil ihrer Forschungen sein müssen. Das sind Arbeitskultur, Einstellung zur Arbeit, Zeitbudget, Nahrung, Kleidung, Wohnweise, Hygiene, Familienleben und Familienstruktur, Familienbudgets; Formen der außerfamiliären Kommunikation und des geselligen Lebens im Wohngebiet; Formen der Konkurrenz und der Solidarität; Bildung, Qualifikations- und Berufsstruktur mit ihren Auswirkungen auf das Kultur- und Lebensniveau, Lebenserwartungen und -ansprüche; Kulturrezeption, Möglichkeiten, Formen und Grenzen künstlerischer Selbstbetätigung; die Angleichung der allgemeinen Lebensbedingungen in ihrer Auswirkung auf eine gleichartige Lebensweise unter Berücksichtigung ethnischer und regionaler Besonderheiten. Dazu kommen Probleme des Altersaufbaues, der Geburten- und Sterblichkeitsraten, der sozialen Mobilität usw., kurz: Fragen, die im Grenzgebiet zwischen Demographie, Geographie und Ethnographie angesiedelt sind. Hier kann die Ethnographie der D D R beim weiteren Ausbau ihrer Forschungsmethodik auf die reichen Forschungsergebnisse der sowjetischen Ethnographen zurückgreifen. Wegen ihrer Bedeutung als erster Arbeit, die entsprechende Forschungsergebnisse auf hohem theoretischen Niveau verallgemeinert, sei hier auf die Monographie von V. Ju. Kozlov. „Die Dynamik der zahlenmäßigen Zusammensetzung der Völker", 14 verwiesen. Im Zusammenhang mit all diesen Faktoren muß die Wirkung der Institutionen und Instanzen auf der lokalen und überlokalen Ebene untersucht werden, durch welche die im Kapitalismus herrschende Kultur und Lebensweise, die offizielle bürgerliche Moral im konkreten Milieu der einzelnen Schichten und Gruppen im Interesse der Bourgeoisie „eingebürgert" werden. Hierzu gehören die Tätigkeit der regionalen und lokalen Organe des bürgerlichen Staatsapparats, das Schulwesen, die Kirchen, bürgerliche Parteien, Organisationen und Vereine, die bürgerliche Presse, insbesondere die lokalen Bibliotheken und Literaturvertriebe mit ihrem Steuerungsmechanismus zur Regulierung des Lese- und Bildungsbedürfnisses in der für die Herrschaftsinteressen der Bourgeoisie erwünschten Richtung, insbesondere die sogenannte „Massenliteratur". Es geht, kurz gesagt, um wesentliche Seiten im System und in der Funktionsweise der bürgerlichen Kultur und Lebensweise. Die Untersuchungen zur Kultur und Lebensweise des Proletariats in den vielfältigen gesellschaftlichen Lebensbereichen müssen, wenn ihre Autoren zur weiteren Ausgestaltung des marxistisch-leninistischen Geschichts- und Menschenbildes beitragen wollen, im engsten Kontakt mit der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung durchgeführt werden. Die Arbeitsergebnisse dieser Disziplin müssen ebenso wie die der Geschichte des deutschen Volkes und der Kulturgeschichte bereits in die Ansätze der Forschungskonzeption eingehen. 14 V. Ju. Kozlov, Dinamika cislennosti narodov. Metodologija issledovanija i osnovye faktorov, Moskva 1969; Ju. V. Bromlej, Etnografija na sovremennom etape. Kommunist 16/1974, S. 62—73.
Volkskunde
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Daraus erwachsen vielfältige Möglichkeiten der Kooperation und Konsultation. Die Aufzählung der Forschungsfelder bliebe unvollständig, wenn verkannt würde, daß die historische Mission der Arbeiterklasse und die Resultate des Klassenkampfes zwischen Proletariat und Bourgeosie in den einzelnen Geschichtsperioden in ihren Auswirkungen auf die Herausbildung von Elementen einer sozialistischen Kultur und Lebensweise in den einzelnen Schichten und Gruppen des Proletariats den zentralen Bezugspunkt der Forschungskonzeption bilden. Erst damit grenzt sich die ethnographische Forschung der D D R unübersehbar gegen Forschungen in kapitalistischen Ländern ab. Der wichtigste Differenzpunkt besteht gerade darin, daß die bürgerlichen Ethnologen und Volkskundler entweder die kapitalistische Gesellschaftsordnung offen bejahen oder Aussichten auf utopisch-reaktionäre Scheinalternativen zu eröffnen versuchen und im Proletariat höchstens eine leidende Klasse erblicken. Da Theorie und Methodologie in historisch-materialistischer Auffassung eine unauflösliche Einheit darstellen, schließt die Auswertung von Forschungsverfahren und -methoden der bürgerlichen Ethnologie oder empirischen Kulturforschung stets die Kritik ihrer theoretischen Grundlagen und der ideologischen Funktionen der Forschungsprogramme in der Systemauseinandersetzung zwischen Imperialismus und Sozialismus ein. Darum ist das Wirken der revolutionären Partei der Arbeiterklasse, ihrer Massenorganisationen, ihrer Kulturpolitik, ihrer Bildungsbestrebungen, der Verbreitung der wissenschaftlichen Weltanschauung und neuer, aus der Solidarität in den Klassenkämpfen erwachsenen Verhaltensweisen und ihrer Tradierung im Kampf gegen das bürgerliche Bildungsmonopol, gegen die gesamte herrschende Moral und Lebensweise im Kapitalismus nicht schlechthin als Komplement zu den vorhin genannten Forschungsfeldern zu erfassen. Dadurch wird vielmehr die theoretisch-methodologische Ausgangsposition bezeichnet, von der aus der gesamte Komplex der Fragen nach der Art und Weise der Gestaltung der gesellschaftlichen Beziehungen in ihren realen historischen Dimensionen darzustellen ist. Das setzt eine konsequent historisch-materialistische Interpretation der objektiven Bedingungen voraus, erfordert zugleich, die Objekt-Subjekt-Dialektik tiefer zu erfassen, als dies in früheren ethnographischen Arbeiten geschah. Eine Übersicht über die bisher vorliegenden oder in Bälde als abgeschlossen zu erwartenden Forschungsresultate in der D D R läßt erkennen, daß die Forschungskollektive der D D R dieser Problematik ihr Augenmerk schenken. Es darf jedoch nicht übersehen werden, daß es weiterer Arbeiten auf theoretischmethodologischem Gebiet bedarf, um den Wert der Ergebnisse für verallgemeinerungsfähige Aussagen über die Wirkung der Gesetzmäßigkeiten in der Geschichte der Kultur und Lebensweise zu erhöhen. An dieser Stelle möchten wir zu der eingangs dieses Abschnitts aufgeworfenen Frage nach der Relevanz einiger zentraler, allgemein soziologischer Kategorien Stellung nehmen. Zuerst sei die Frage wieder aufgenommen, wieweit die Arbeit als gesellschaftliche Kategorie in den Gegenstand der Untersuchungen zur Geschichte der Kultur und Lebensweise des Proletariats eingeht. Daß keine Untersuchung der Lebensweise von der Arbeit als entscheidender und unerläßlicher
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Existenzbedingung de», gesellschaftlichen Menschen und seiner wichtigsten Lebenstätigkeit, in deren Resultaten sich seine Wesenskräfte vergegenständlichen, abstrahieren kann, bedarf keiner Frage. Daß die jeweilige Produktionsweise nach der bekannten Definition aus der „Deutschen Ideologie" von Karl Marx „schon eine bestimmte Art der Tätigkeit dieser Individuen, eine bestimmte Art, ihr Leben zu äußern, eine bestimmte L e b e n s w e i s e derselben" ist-und daß sich mit der gesetzmäßigen Abfolge der Produktionsweisen auf dem Wege vom Niederen zum Höheren im Verlauf der Weltgeschichte auch die Lebensweise der Menschen verändert, ist ebenfalls jedem Streit entzogen. Davon muß jede Untersuchung, gleichgültig auf welche Aspekte, Seiten und Teile sie sich erstreckt, ausgehen. Für die Gesellschaftsformation des Kapitalismus müssen der durch die kapitalistischen Produktionsverhältnisse und das kapitalistische Eigentum an den wichtigsten Produktionsmitteln bestimmte gesellschaftliche Charakter der Arbeit, das Niveau der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, das Verhältnis von geistiger und körperlicher Arbeit, die Ausbeutung des unmittelbaren Produzenten und die durch den Charakter der kapitalistischen Warenproduktion bedingte Entfremdung der Arbeit mit ihren Auswirkungen auf das Verhältnis Arbeit — Freizeit jeder Untersuchung als theoretische Ausgangsbasis zugrundeliegen. Als Folgerung glauben wir daraus ableiten zu können, daß die K u l t u r d e r A r b e i t , das durch die Bestrebungen nach Profitmaximierung für die kapitalistischen Unternehmer geprägte Regime der kapitalistischen Arbeitsdisziplin mit seiner historischen Befehls- und Kommandostruktur in den Betrieben, das sich auch in den Beziehungen zwischen den Kapitalisten und ihren technischen und administrativen Exekutivorganen und den Arbeitern insgesamt (und nach ihren Qualifikationsgruppen getrennt) sowie in den Beziehungen unter den Arbeitern im sogenannten Betriebsklima offenbart, einen unabdingbaren Bestandteil konkreter Untersuchungen zur Kultur und Lebensweise darstellt. Darin sind auch sozialpolitische Verhältnisse wie Hygiene usw. auf der Betriebsebene einzubeziehen. Die Ethnographie bearbeitet hier historisch weitgehend Themen, die in der Gegenwart von der Industriesoziologie erforscht werden. Die konkrete Arbeit zur Erzeugung von Gebrauchswerten, die organisatorisch-technologische Seite des Produktionsprozesses kommen aber nur insofern in Betracht, als sie Aussagen über die Qualifikationsstruktur und die soziale Mobilität (verschiedener Qualifikationsgrad mit Gelernten, Ungelernten und Angelernten in ihren Beziehungen zueinander) im engeren und über die Auswirkungen im weiteren Sinne auf die gesamte Lebensweise gestatten. Damit ist zugleich gesagt, daß die materiellen Lebensbedingungen und die Lage der Arbeiter, der Lebensstandard — dieser im weiteren, von der konkreten Sozialforschung definierten Sinne verstanden — G r u n d l a g e n für die Erforschung der Lebensweise bilden. 15 Sich auf sie zu beschränken, wäre allerdings 15 Nach der Anm. 3 zitierten Arbeit von S. G. Strumilin und E. E. Pisarenko (a. a. O., S. 31) schließt die Lebensweise (obraz zizni) die Lebensbedingungen (uroven' zizni) ein. Während letztere sich aber hauptsächlich auf die ökonomische Seite beziehen und in erster Linie die Stufe der Befriedigung der historisch entstandenen Bedürfnisse repräsentieren, enthält erstere qualitative Merkmale, die die Befriedigung intellektueller und sozialer Bedürfnisse einschließen.
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ebenso unzulässig wie sie zu übergehen. Erstens würde die Ethnographie auf die Geschichte der Lage der Arbeiterklasse reduziert, die von der Wirtschaftsgeschichte erforscht wird und bekanntlich in der DDR dank dem beispielhaften schöpferischen Wirken Jürgen Kuczynskis und seiner Schule weltweit anerkannte Erfolge verweisen kann. 16 Das zweite verstieße insofern gegen die dialektischen Wechselbeziehungen, als die Negierung des Verhältnisses von Lage und Lebensweise im konkreten Geschichtsverlauf die Bedeutung des subjektiven Moments des Handelns und der organisierten Aktionen der Arbeiter zur Verbesserung ihrer Lage faktisch aus dem konkreten Geschichtsprozeß eleminieren würde. Mit der weiteren theoretischen Klärung dieses grundlegenden historischen Sachverhalts können auch die ethnographischen Forschungsprogramme in der hierarchischen Struktur ihrer Themen weiter präzisiert werden. Was auf der allgemeinen theoretisch-methodologischen Ebene eindeutig abgegrenzt werden kann, stellt im konkreten Geschichtsverlauf eine Totalität der verschiedenartigsten Beziehungen zwischen den Elementen und Komponenten dar. Die bisherigen Erfahrungen in der Forschung zeigen, daß die Ethnographen, wollen sie zu verallgemeinerungsfähigen Aussagen gelangen, auch in Bereiche vorstoßen müssen, die in die Zuständigkeitsbereiche anderer Disziplinen fallen. Es wäre aber verfehlt, aus solchen Anlässen Kompetenzstreitigkeiten zu entfesseln. Ausschlaggebend ist der Gesichtspunkt des effektiven Nutzens der Ergebnisse für die allgemeine Geschichtswissenschaft. III. Der Leser dieses Beitrags mag bisher den Eindruck gewonnen haben, daß der Autor nicht hält, was er verspricht. Zwar wurde die zentrale Bedeutung der Kategorie Lebensweise für die gesamte volkskundliche Forschung mehrfach betont, aber die Notwendigkeit, sie weiter zu präzisieren und sie eindeutig handhabbar, praktikabel zu machen, wurde fast ausschließlich an Problemen der Geschichte der Kultur und Lebensweise der Arbeiterklasse exemplifiziert. Darum sei bemerkt, daß die Themenbereiche in dieser Hinsicht auswechselbar sind. Um jeder Mißdeutung zu begegnen, sei abschließend betont, daß der Demonstrationsversuch als pars pro toto angesehen werden sollte und daß Volkskundler der DDR, gleichviel an welchen Problemen und in welchen Perioden sie auch arbeiten, aufgerufen sind zu prüfen, was sie zur weiteren konkreten Gestaltung und Anwendbarkeit der Kategorie „Lebensweise" beitragen können. Es braucht wohl nicht betont zu werden, daß alles, was zur Erforschung der Geschichte der Kultur und Lebensweise der Arbeiterklasse bemerkt wurde, mutatis mutandis z. B. auch für die Untersuchung der Geschichte der Kultur und Lebensweise der Werktätigen, insbesondere der plebejischen Schichten im Manufakturstadium des Kapitalismus als einem weiteren volkskundlichen Forschungsschwerpunkt in der DDR gilt. Darüber hinaus muß ein stärkeres Eingehen auf historische Kern16
Jürgen Kuczynski, Die Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus, Bd. 1—40, Berlin 1960 ff.
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probleme der Lebensweise in Arbeiten zu allen anderen Themen, gleichgültig, auf welche Periode bezogen, gefordert werden. Notwendig erscheint uns, die verstärkte Beschäftigung mit theoretisch-methodologischen Grundlagen an zwei Aufgaben darzutun, denen in den folgenden Jahren steigende Bedeutung zukommt. Beide stehen in einem unauflöslichen Zusammenhang, und die zweite darf nicht als bloßer Annex der ersten gesehen werden. In diesem Rahmen können beide nur gestreift werden, ihrer Bedeutung entsprechend verdienen sie in den nächsten Folgen des „Jahrbuchs" ausführlicher behandelt zu werden. Die erste Aufgabe betrifft Probleme der Gemeinschaftsarbeit der Ethnographen der Länder der sozialistischen Staatengemeinschaft bei der Erforschung des gesetzmäßigen Wandels der Kultur und Lebensweise der Arbeiterklasse und der Bauernschaft in der sozialistischen Gegenwart ihrer Länder. 1 7 Mit diesen Arbeiten wird zugleich eine neue Phase in der Kooperation der Ethnographen und Folkloristen der beteiligten Länder eingeleitet. Unnötig zu betonen, daß daraus auch höhere Anforderungen an die Brauchbarkeit des wissenschaftlichen Instrumentariums und an die Präzision der zu verwendenden Kategorien und Begriffe erwachsen, liegt hier doch der Schwerpunkt in der Erforschung der Dialektik des Allgemeinen, für den realen Sozialismus Gesetzmäßigen bei der Herausbildung der sozialistischen Lebensweise und ihrer Entwicklungsperspektive auf dem Wege zum Kommunismus und des Besonderen, der nationalen Formen, ihrer Ausprägung unter den konkret-historischen Bedingungen jedes einzelnen Landes. Die Fragen nach dem Wirken der Gesetzmäßigkeiten erhalten damit einen höheren Rang als bei der Beschränkung auf Themen zur Geschichte der einzelnen Länder, dem freilich auch eine höhere Verantwortung entsprechen muß. Zur Vorbereitung auf diese neue, fruchtbare Forschungsperspektive müssen die Grundkategorien der volkskundlichen Forschung erneut an den Forderungen der Praxis geprüft werden. Welches Gewicht dieser Problematik in den nächsten Jahren zukommt, geht schon allein daraus hervor, daß die Etappen der sozialistischen Kulturrevolution und die sozialistische Lebensweise bisher zwar stets einen wesentlichen theoretisch-methodologischen Bezugspunkt unserer Forschungen bildeten, jedoch von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen noch keinen festen Platz in der volkskundlichen Forschung in der D D R einnehmen. Die zweite Aufgabe erstreckt sich auf den Bereich der Kritik der bürgerlichen Ideologie, das heißt den Nachweis dieser Ideologie in den Wissenschaftskonzeptionen der bürgerlichen Ethnographie in Arbeiten aus den letzten Jahrzehnten und die Auseinandersetzung damit. Der Wettbewerb der beiden Gesellschaftssysteme des Sozialismus und des Kapitalismus wird bekanntlich nicht nur auf dem Felde der Ökonomie ausgetragen. Die Probleme der Lebensweise rücken immer stärker in den Mittelpunkt des Interesses, treten doch die Vorzüge des Kommunismus gegenüber den ways of life in dem vom Imperialismus beherrschten Teil der Welt besonders in der sozialistischen Lebensweise hervor. In das Feld der ideologischen Auseinandersetzung müssen zukünftig die Probleme der historischen Entwicklung der Lebensweise der Werktätigen weit stärker als in der Vergangenheit einbezogen werden. Man mag einwenden, daß man theoretischen Problemen der Lebensweise nur selten in „reiner Gestalt" in Arbeiten bürgerlicher Autoren begegnet. Das ist nur begrenzt richtig. Gleichviel ob bürgerliche Ethnographen sich dieses Begriffs.oder anderer Termini bedienen, ihre Untersuchungen zur Geschichte der Kultur — sowohl der sogenannten „primitiven" Gemeinschaften in kolonialen und abhängigen Ländern als auch der „complex societies" in den Zitadellen des Imperialismus — schließen notwendigerweise das Moment der Lebensweise in sich ein. Tatsächlich wird die Lebensweise in einigen der zahlreichen Definitionen des Wesens der Kultur, die für die bürgerliche Ethnographie — darin auch die in diesem Beitrag bereits erwähnte angloamerikanische Sozial- und Kulturanthropologie einbegriffen — charakteristisch sind, unmittelbar namentlich erwähnt, in anderen Definitionsversuchen wird der Begriff durch Aufzählung der einzelnen Ele-
17 Verwiesen sei hier auf das Protokoll des 1. Internationalen Symposiums über Probleme der sozialistischen Kultur und Lebensweise, 30. 9. bis 3. 10. 74, in Burgas, an dem Vertreter der Ethnographie aller Länder der sozialistischen Staatengemeinschaft teilnahmen.
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mente umschrieben. 18 Selbst dort, wo scheinbar strikte Abstinenz gegenüber verallgemeinernden Aussagen auf solch hoher Abstraktionsebene geübt wird und nur Teilprobleme behandelt werden, können Fragen der Lebensweise, der Lebensbedingungen und der Gestaltung der menschlichen Lebenstätigkeiten in den einzelnen Gesellschaftsformationen nicht gänzlich ausgeklammert werden. Das zeigen Arbeiten von Volkskundlern der BRD jüngerer ebenso wie älterer Generation in gleicher Weise. Die Aussagen zur Lebensweise sind notwendigerweise immer von den Geschichts- und Gesellschaftsauffassungen der jeweiligen Autoren geprägt und mitbestimmt. Diese treten nicht immer augenfällig in Erscheinung und müssen nicht explizit ausgewiesen sein. Sie sind oft nur in den Forschungsansätzen erkennbar und können vielfach nur auf dem Weg über eine detaillierte theoretisch-methodologische Analyse der Grundlage erschlossen werden, auf der die einzelnen Aussagen stehen. Erleichtert wird diese Arbeit dort, wo unter Bezug auf die verschiedenen Theorien und Richtungen der spätbürgerlichen Philosophie und Sozialwissenschaften eindeutige Positionen formuliert werden. In der Auseinandersetzung mit ihnen ist den Einflüssen der Sozial- und Kulturanthropologie auf die Ausprägung der Forschungskonzeptionen zu den sogenannten „Subkulturen" weit mehr Beachtung zu schenken, bietet sich in ihnen doch das Instrumentarium dar, das bürgerliche Ethnographen vorzugsweise bei der Untersuchung der Kultur und Lebensweise von „Randgruppen", von „Unterprivilegierten", kurz der Ausgebeuteten und Unterdrückten der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, zum Einsatz bringen. Die vorhin erwähnten Begriffsbestimmungen marxistisch-leninistischer Philosophen und Sozialforscher zur sozialistischen Lebensweise, denen die Lehre von der ökonomischen Gesellschaftsformation als bestimmendes Moment der Lebensweise zugrundeliegt, bieten auch den Volkskundlern der D D R neue Denkanstöße zu noch tieferer Erschließung des Inhalts und des Wesens der Kultur und Lebensweise der werktätigen Klassen und Schichten. Daraus erwachsen auch neue Möglichkeiten, die theoretisch-ideologische Funktion der „Subkulturen" in den spätbürgerlichen Geschichts- und Gesellschaftskonzeptionen präziser zu bestimmen.
Abschließend sei uns gestattet, nochmals auf Zweck und Ziel dieses Beitrags hinzuweisen. Sie ergaben sich aus laufenden Vorhaben und unmittelbar bevorstehenden praktischen Aufgaben. Es war unsere Absicht, die Diskussion weiterzutreiben, einige Schwerpunkte zu fixieren und Richtungen ihres weiteren Verlaufs anzudeuten. Für die hier vorgetragenen Standpunkte und Auffassungen darf zum Teil allgemeiner Konsensus vorausgesetzt werden, zu einigen Fragen dürften Meinungsverschiedenheiten bestehen.
18 Alfred L. Kroeber und Clyde Kluckhohn konnten bereits 1952 mehrere Dutzend Definitionen des Kulturbegriffs verzeichnen: Culture. A critical review to concepts and definitions by A. L. Kroeber and Clyde Kluckhohn. Papers of the Peaboda Museum of American Archaeology and Ethnology, Harvard Universität, vol. 47/1, Cambridge 1952. Inzwischen ist die Zahl der Begriffsbestimmungen weiter angestiegen.
„Renaissance" und Renaissance Zur Rezeption der Kultur des Altertums im Mittelalter als universalgeschichtliches Problem (Thesen) V o n HUBERT MOHR
Die folgenden Thesen sind in Anlehnung an die Arbeiten von N. I. Konrad, V. I. Semanov, V. M. Zirmunskij, V. K. Calojan, S. P. Nucubidze, I. M. Fil'stinskij, I. S. Braginskij, I. V. Borolina, V. B. Nikitina, P. G. Bulgakov u. a. entstanden. 1 Die wichtigsten Arbeiten von N. I. Konrad erschienen 1966 im Sammelband „Zapad i vostok", erregten beträchtliches Aufsehen und lösten Diskussionen aus. Die hier dargelegte Meinung, erstmalig auf einem Kolloquium „Das Menschenbild in der Geschichte" im Jahre 1972 an der Pädagogischen Hochschule „Karl Liebknecht" Potsdam vorgetragen, unterscheidet sich von der Konrads und der übrigen oben genannten Autoren dadurch, daß die analogen Vorgänge einer „Rückkehr zum Altertum", einer Rezeption des kulturellen Erbes aus dem Altertum, im Stadium des voll entfalteten Feudalismus in den außereuropäischen Feudalstaaten (vorderer und mittlerer Orient, China) nicht mit der europäischen Renaissance an der Schwelle der Neuzeit gleichgesetzt, sondern mit der Rezeption der Antike im europäischen Hochmittelalter verglichen werden, obwohl sie über diese Einzelerscheinungen weit hinausgehen. Die europäische Renaissance war mit der Entwicklung des Manufakturkapitalismus verbunden, der im Osten erst viel später und nur in Ansätzen sich entwickelte, um dann — mit Ausnahme Japans — aus verschiedenen inneren und äußeren Ursachen erneut gehemmt bzw. vernichtet zu werden. 2 Der Terminus Renaissance ist historisch festgelegt, und eine Übertragung dieser Bezeichnung auf analoge Erscheinungen in anderen Ländern und Zeiten führt zu den verschiedenartigsten Schwierigkeiten, insbesondere zu einer Eliminierung vieler konkreter Merkmale, die mit diesem historisch festgelegten und schon
1 Vgl. dazu den Artikel von N. I. Konrad, Ob epoche vozrozdenija. In: Zapad i vostok. Statji, Moskau 1966, S. 240—288; D. E. Bertel's Vorwort zu: Adam Mez, MusuFmanskij renessans. Übersetzung aus dem Deutschen, Moskau 1966, S. 3—12; Sovetskaja istoriceskaja enciklopedija, Bd. 3, Moskau 1963, Sp. 606 f.; L. Pinskij, Vozrozdenije. In: Filosofskaja enciklopedija, Bd. 1, Moskau 960, S. 272; S. D. Skazkin, K voprosu o metodologii istorii vozrozdenija i gumanizma. In: Srednie veka 11 (1958) S. 134—136. In der genannten Literatur zahlreiche Hinweise auf weitere Titel. Zum Forschungsstand in der D D R vgl. Walter Dietzel, Raum, Zeit und Klasseninhalt der Renaissance, Berlin 1974 ( = Sitzungsberichte d. AdW der D D R , Jg. 1973, Nr. 11). 2 Vgl. dazu: O genezise kapitalisma v stranach vostoka (XV—XIX vv.). Materialy obsuzdenija, Moskau 1962.
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von Friedrich Engels ausführlich behandelten Terminus 3 wesentlich verbunden sind. Ähnlich steht es mit dem Terminus Antike (anticnosf), einem Begriff, der auf das griechisch-römische Altertum und die dort ausgeprägte Sklavenhaltergesellschaft eingeengt ist. 4 G a n z anders verhält es sich jedoch mit dem Begriff Altertum (Alte Welt, drevnost', drevnij mir), der im engeren Sinne für die Epoche der Sklavenhaltergesellschaft (einschließlich ihrer frühen Formen) verwandt wird: In diesem Sinne wird in den Thesen die Rückkehr zum Altertum als welthistorisches P h ä n o m e n behandelt. Es handelt sich um ein Wiederanknüpfen an bestimmte Perioden und Traditionen des Altertums, der alten Geschichte des eigenen oder eines anderen Volkes, das in verschiedenen Phasen der Entwicklung des Feudalismus in einigen Ländern zu beobachten ist. Im folgenden wird der Feudalismus konsequent nicht in europazentrischem Sinne, sondern als welthistorische Kategorie betrachtet. In diesem umfassenden Sinne sind sowohl die islamische Welt als auch das indische und chinesische Mittelalter feudal, d. h. der feudalen Gesellschaftsordnung zugehörend. Dabei werden die regionalen Unterschiede nicht übersehen. Die europäische Ausprägung feudaler Verhältnisse — auch hier gibt es bekanntlich große Unterschiede zwischen Ost und West, zwischen Süd und N o r d 5 — wird jedoch nicht als „typisch", „klassisch" oder „ n o r m a t i v " aufgefaßt, sondern als eine Ausprägung unter anderen, und zwar eine, die nachgewiesenermaßen zunächst über ein halbes Jahrtausend gegenüber den östlichen Ausprägungen im Rückstand war, was sich deutlich im Bereich der materiellen und geistigen Kultur äußert. 6 Der Autor ist sich bewußt, d a ß nicht alle Sinologen eine Sklavenhalterepoche in China und nicht alle Indologen eine solche für Indien anerkennen, ja nicht einmal eine Feudalepoche. Auf die Diskussion über die „asiatische" Produktionsweise bzw. F o r m a t i o n , über die chinesischen Besonderheiten u. a. kann hier nur hingewiesen werden. 7 Der Verf. schließt sich in den Thesen der Meinung der Autoren der sowjetischen Weltgeschichte 8 und der sowjetischen Historischen
Friedrich Engels, Dialektik der Natur (einschließlich der Notizen und Fragmente zu diesem Werk). M E W , Bd. 20, Berlin 1972, S. 3 1 1 - 3 1 3 , 463 ff. 4 Sovetskajaistoriceskajaénciklopedija, Bd. 1, M o s k a u 1961, Sp. 616. Im Unterschied z u m deutschsprachigen Gebrauch, wie er etwa in Meyers N e u e s Lexikon. Bd. 1, Leipzig 1971. S. 360, benutzt wird, hat der Begriff anticnost', antiquité, antiquiiy in den anderen europäischen Sprachen einen allgemein historischen Bezug und ist nicht auf den kulturellen Bereich beschränkt. 5 Vgl. dazu die beiden sowjetischen Veröffentlichungen: Jugovostocnaja Evropa v è p o c h u feodalizma, Kisinev 1973, insbesondere den Beitrag von Z. V. Udal'cova/E. V. G u t n o v a : K voprosu o tipologii feodalizma v zapadnoj i j u g o - v o s t o c n o j Evrope. In: Problemy vozniknovenija feodalizma u n a r o d o v SSSR, M o s k a u 1969. 6 Vgl. Istorija stran zarubéznoj Azii v srednie veka, M o s k v a 1970; Istorija stran Azii i Afriki v srednie veka, M o s k a u 1968; N . I. Konrad, Zapad i vostok, M o s k v a u 1966, S. 117. 7 D i e umfassendste Information bietet: Ju. V. Kacanovskij, Rabovladenie, feodalizmus ili aziatskij s p o s o b proizvodstva? Spor o b o b s c e s t v e n n o m stroe drevnego i srednevekovogo V o s t o k a , dokolonial'noj Afriki i d o k o l o l u m b o v o j Ameriki, M o s k a u 1971: ferner: V. N . Nikiforov, V o s t o k i v s e m i m a j a istorija, M o s k a u 1975.
» Weltgeschichte (dt.), Berlin 1961 ff., z.B. Bd. 2, S. 473 ff., 525 ff. für China; S. 565 ff. und 580 ff. für Indien.
.Renaissance" und Renaissance
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Enzyklopädie 9 an. Übrigens ist es für unseren Zusammenhang unwichtig, ob die „Rückkehr zum Altertum" eine Rückkehr zur europäischen Antike oder zu einem wie immer gearteten asiatischen Altertum ist. In Schwierigkeit geraten allerdings die Verfechter einer angeblich rückständigen „asiatischen" Produktionsweise im orientalischen Altertum oder gar Mittelalter (im Vergleich zur europäischen Antike und erst recht zum europäischen Mittelalter) angesichts der großen Leistungen der orientalischen Völker sowohl auf dem Gebiet der materiellen als auch der geistigen Kultur in dieser Epoche. Die sowjetische Mediävistik hat bekanntlich das Problem der feudalen Synthese eingehend erörtert. Danach entsteht der Feudalismus in Form einer Synthese von Elementen der ausgehenden Urgesellschaft und der zerfallenden Sklavenhalterordnung. Sie stellte Elemente der Synthese bei allen Übergängen zumindest in Europa fest, wobei die Verteilung und das Gewicht der einzelnen Elemente der Synthese sehr unterschiedlich sein können. 1 , 0 Nimmt man dazu die Tatsache, daß alle jungen Feudalstaaten gewisse Elemente der Kultur des Altertums im eigenen Land oder aus einem Nachbarland übernehmen — und sei es in noch so geringem Umfang —, so kann man von einer e r s t e n , der frühmittelalterlichen Rezeption des Erbes aus dem Altertum sprechen. Dieser folgt dann in der Phase der vollen Ausprägung der feudalen Gesellschaftsordnung, insbesondere im Zusammenhang mit der Entstehung der Warenwirtschaft, den damit verbundenen Ware-Geld-Beziehungen und den entsprechenden sozialen Verhältnissen und Bedürfnissen, eine z w e i t e Rezeption, die noch ganz im Rahmen der Feudalstruktur bleibt, obwohl sie gewisse Elemente des Überbaus teilweise negiert, z. B. die Vorherrschaft des Glaubens vor dem Wissen und die damit verbundene geistige Herrschaft des Klerus. Am Ende der Feudalepoche steht dort, wo sich frühkapitalistische Verhältnisse im Schöße der spätfeudalen Ordnung entwickeln, eine d r i t t e Rezeption des Altertums, eine dritte Rückkehr zur Antike, die den Rahmen der Feudalordnung sprengt und die Neuzeit eröffnet. Das ist eindeutig in Europa der Fall: „Die neue Zeit fangt an mit der Rückkehr zu den Griechen — Negation der Negation!" 1 1 Die erste Rezeption ist jedoch nur eine uneigentliche; rezipiert werden nicht Errungenschaften des klassischen Altertums, sondern vorgefundene geistige Produkte der ausgehenden Sklavenhalterordnung. Für West- und Mitteleuropa hat das der junge Herder pointiert formuliert: „Mönche und fränkische Priesterhorden führten, das Schwert in der einen und das Kreuz in der anderen Hand, den Götzendienst des Papstes, die schlechtesten Trümmer der römischen Wissenschaften und den niedrigsten Gassen- und Klosterdialekt der römischen Sprache in Deutschland ein: drei Schwestern der Barbarei und des Unglücks. . ," 1 2 Auch die „karolingische Renaissance" hat nichts mit einer wirklichen Rezeption der klassischen Antike zu tun; rezipiert wurden nur einige Teile aus dem Trüm« Sovjetskaja istoriceskaja énciklopedija, Sp. 297 ff. für China. i° Z. V. Udal'cova/E. V. Gutnova, a. a. 11 Friedrich Engels, Dialektik der Natur 12 J. G. Herder, Sämtliche Werke, hrsg.
Moskau 1961 ff., Bd. 5, Sp. 848ff. für Indien; Bd. 7, O., S. 16. (Notizen und Fragmente), a. a. O., S. 463. von B. Suphan, Bd. 1, Berlin 1877, S. 364 f.
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merhaufen der spätrömischen Kultur, und auch diese nur formal. Diese erste Rezeption kann daher in den folgenden Thesen außer Betracht bleiben. Als erste Rezeption des klassischen Altertums im Mittelalter wird im folgenden diejenige bezeichnet, die in der Periode der vollen Entfaltung des Feudalismus im Hochmittelalter stattfand, d. h. zu dem Zeitpunkt, als sich im Rahmen der feudalen Produktionsweise die Ware-Geld-Beziehungen und mit ihnen ein selbstbewußtes Bürgertum mit einer entsprechenden Intelligenz — Magister, Literaten und Künstler — entwickeln, die zum großen Teil aus dem Bürgertum kommen oder vom bürgerlichen Denken beeinflußt sind, sich im Gegensatz zum Klerus mit seinen Dogmen ein eigenes Weltbild, eine eigene Wissenschaft, Literatur und Kunst schaffen, in denen die Interessen aller aufstrebenden Schichten sich widerspiegeln. Dieser Prozeß kann in West und Ost verfolgt und miteinander verglichen werden. Dabei ergibt sich die Frage nach dem Verhältnis dieser Erscheinung zur zweiten Rezeption, zur eigentlichen Renaissance, vor allem aber das Problem, warum diese erste Rezeption des Altertums in einigen Ländern des Ostens im 9. bis 13. Jahrhundert auf der Basis feudaler Verhältnisse schon Züge aufweist, die in Europa sich erst in der Periode der Renaissance im 15./16. Jahrhundert auf der Basis frühkapitalistischer Verhältnisse entwickelten. Das hat bekanntlich manche Historiker dazu veranlaßt, die erste Rezeption in den Ländern des Ostens unter den Begriff Renaissance zu subsumieren und von einer Renaissance im mittelalterlichen arabischen Kalifat und im mittelalterlichen China zu sprechen. Thesen 1. Die geistige K u l t u r der F e u d a l e p o c h e trägt viele Züge, die denen der klassischen Antike direkt entgegengesetzt sind, also deren Negation d a r s t e l l e n . " Solche Züge sind u. a . : a. Die allgemeine H e r r s c h a f t einer Weltreligion u n d deren Institution, einer wie immer gearteten Kirche (Buddhismus, Islam, Christentum). „ D a s D o g m a der Kirche ist A u s g a n g s p u n k t und Basis alles D e n k e n s . " 1 4 b. D a m i t v e r k n ü p f t ist das allgemeine Vorherrschen des G l a u b e n s d e n k e n s als vorwissenschaftliches D e n k e n und die Unkenntnis, Ignorierung bzw. A b l e h n u n g des wissenschaftlichen Denkens, U n t e r o r d n u n g aller wissenschaftlichen Disziplinen unter die Theologie, die Philosophie als „ M a g d der Theologie". c. Relative Bedeutungslosigkeit des Individuums, seine E i n b i n d u n g in G e m e i n s c h a f t e n , Stände, Standesorganisationen und dergleichen; 1 5 seine Ausrichtung auf das Jenseits, geistige V e r k r ü p p e l u n g des Menschen d u r c h den Asketismus, d u r c h B u ß ü b u n g e n , W u n d e r - und Reliquienglauben; Unterw e r f u n g unter den Willen eines Priesters, Aufgehen in „ G o t t " , im „ N i r w a n a " ; E n t h a l t u n g von Wissenschaft und weltlicher K u n s t , von der bewußten und zielgerichteten Gestaltung des Lebens; bei der Geistlichkeit E n t h a l t u n g selbst von der Ehe und Familie. D a s Ideal (Leitbild) ist der „ M ä r t y r e r " und „ A s k e t " , der allem entsagende, sich in „ G o t t " ( „ N i r w a n a " ) versenkende, in ihm a u f g e h e n d e „ H e i l i g e " d. Die spezielle Institution, die dieses Menschenbild hochzüchten und demonstrieren soll, sind die O r d e n , ist das M ö n c h t u m : das buddhistische ( A b k e h r von der Welt, der „ a c h t f a c h e W e g " z u m Nir"
Friedrich Engels, Materialien z u m A n t i - D ü h r i n g . M E W , Bd. 20, Berlin 1972, S. 583 f. Friedrich Engels (und Karl Kautsky), Juristensozialismus. M E W . Bd. 21, Berlin 1972, S. 492. 15 Karl M a r x spricht in diesem Z u s a m m e n h a n g von der „ U n r e i f e des individuellen M e n s c h e n " u n d von „ u n m i t t e l b a r e n Herrschafts- u n d Knechtschaftsverhältnissen", aus denen dieses Z u r ü c k treten des I n d i v i d u u m s hinter die gesellschaftlichen Bindungen resultiert ( D a s Kapital, Bd. 1). I n : M E W , Bd. 23, Berlin 1972, S. 93. 14
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wana), das islamische (Sufismus, Derwischorden, „vierfacher Weg" zur Vereinigung mit G o t t ; der zweite davon beinhaltet die Aufgabe des eigenen Willens: „Der Murid muß in den Händen seines Scheichs sein wie eine Leiche in den Händen des Totenwäschers"), das christliche (ebenfalls „blinder Gehorsam", mystische Versenkung bzw. Einswerden mit Gott). 2. Die Feudalgesellschaften erreichen in der Regel einen Punkt in der Periode ihrer vollen Entfaltung, in der die Negierung des klassischen Altertums wieder, wenn auch partiell, negiert wird, in der ein bestimmter Teil der Bevölkerung, und zwar das Bürgertum der Städte, bürgerliche Gelehrte, Schriftsteller, Publizisten, Künstler, das klassische Altertum mit seinen Idealen teilweise wieder entdecken und die zwischen dieser und der Gegenwart liegende Zeit als „mittlere" Zeit, als Zeit der Abkehr von den alten Idealen ablehnen, bekämpfen und zur „Rückkehr zum Altertum", zu einem positiven Naturverhältnis und zur Wertschätzung des Individuums, zum „antiken" Menschenbild, zur Humanitas aufrufen. Es ist auffallend, daß dieses neue Epochenbewußtsein im Osten sich in gewissem Maße schon bei der ersten Rezeption, in Europa jedoch erst in der zweiten, der Renaissance, findet. 3. Dieser Vorgang vollzieht sich a. zunächst als p r i m ä r e Erscheinung bei den großen Kulturvölkern, die ein klassisches Altertum, eine Sklavenhalterepoche (bei ajlen regionalen Verschiedenheiten) durchgemacht haben: in Italien, Griechenland, Vorder- und Mittelasien, China. Das wesentliche dabei ist nicht der Grad der Entwicklung der Sklaverei, ihres Eindringens in die Produktion, sondern der Grad der Entwicklung einer Warenwirtschaft, eines überregionalen Produktenaustausches und dementsprechend die Entwicklung einer Handwerker- und Kaufmannsschicht sowie einer entsprechenden Intelligenz. Unter diesen Verhältnissen entsteht in der Sklavenhaltergesellschaft eine im gewissen Sinne „klassische" Kultur, in der das alte, mit der Naturalwirtschaft verbundene religiöse Denken weitgehend säkularisiert wird, der Mensch und sein weltweites Interesse an Natur und Gesellschaft in den Vordergrund rückt. An diese „große Vergangenheit", die „mittlere" (klassische) Periode des Altertums, knüpfen später die Träger der mittelalterlichen Ware-Geld-Beziehungen mit ihren analogen Interessen und Bedürfnissen wieder an; sie „entdecken" sie als ihr Leitbild. b. Von diesen Ländern aus greift diese geistige Strömung als s e k u n d ä r e Erscheinung auf die Völker über, die keine eigentliche Sklavenhalterepoche durchgemacht haben, sondern von der Urgesellschaft bzw. einer patriarchalischen Sklaverei aus zum Feudalismus übergegangen sind. Dementsprechend ist die „Rückkehr" zum Altertum, zur Antike, hier keine Rückbesinnung auf eigene Traditionen, sondern auf die Tradition des Kulturgebiets, von dem aus sie im Rahmen der feudalen Synthese beeinflußt sind (z B. Japan von China, Deutschland von Italien und Griechenland). Erstere wiederentdecken das klassische Altertum, letztere entdecken es. 4. Die Entdeckung bzw. Wiederentdeckung des klassischen Altertums geschieht zweimal, das e r s t e Mal im Sinne einer Integrierung antiker Denkformen, Kunstformen, literarischer Formen usw. in die jeweiligen feudalen Strukturen, das z w e i t e Mal als Form des Verlassens feudaler Strukturen oder des Kampfes gegen sie, als Form, die einen neuen Inhalt gestalten soll. Den ersten Vorgang kann man als eine Art Rezeption des antiken Erbes im Prozeß der Weiterentwicklung feudaler Verhältnisse in der Periode der vollen Entfaltung des Feudalismus bezeichnen (in gewissem Sinn ist das eine höhere Stufe der feudalen Synthese, die ja in dieser oder jener Form am Anfang des Feudalismus stand), den zweiten Vorgang als eine Rezeption der Antike zum Zwecke der Beseitigung feudaler Formen, als eine Methode des Kampfes gegen den Feudalismus. Die erste Rezeption tritt dort viel früher ein, wo es keinen „Bruch" zwischen Altertum und Feudalismus gab, sondern die Kontinuität stärker ausgeprägt ist; das ist meist dort der Fall, wo die WareGeld-Beziehungen des Altertums nicht völlig untergehen, sondern nur zeitweise zurückgehen und stagnieren und deshalb rascher wieder belebt werden können. Ein Beispiel dafür ist das arabische Kalifat. Hier liegen zwischen der Eroberung der Araber und der Verbrennung der Bibliothek in Alexandria durch Omar einerseits und der „muslimischen Renaissance" andererseits nur zwei Jahrhunderte. In Europa, wo der Bruch stark ausgeprägt war, vergeht über ein halbes Jahrtausend bis zu der ersten großen Rezeption antiken Denkens im 12./13. Jahrhundert.
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5. Den Ähnlichkeiten der Vorgänge im kulturellen Bereich liegen bestimmte Übereinstimmungen in der Basis zu Grunde. Die sozialökonomische Basis für die beiden „Wiederentdeckungen" des klassischen Altertums ist verschieden. F ü r die e r s t e Rezeption ist es die relativ stark entfaltete Ware-Geld-Beziehung innerhalb des Feudalismus, in der das Bürgertum der Städte und mit ihm eine bestimmte Intelligenzschicht höhere intellektuelle, ästhetische, literarische usw. Interessen und Bedürfnisse hat und dementsprechend Ansprüche stellt. In dieser Phase der vollen Entfaltung des Feudalismus mit seinen „ G l a n z p u n k t e n " , den Städten, sind die inneren Voraussetzungen für diese Rezeption gegeben. Die sozialökonomische Basis für den z w e i t e n Vorgang ist eine bestimmte neue Stufe der Entwicklung der Ware-Geld-Beziehungen, nämlich von vor- und frühkapitalistischen Verhältnissen innerhalb der Ware-Geld-Beziehungen der mittelalterlichen Städte. Die Akkumulation von Handelsund Wucherkapital sowie M a n u f a k t u r k a p i t a l ermöglicht es einer bestimmten Schicht des Bürgertums, sich einer Wissenschaft, Technik, Kunst und Literatur zu widmen und zu bedienen, die den herangereiften Bedürfnissen des Städtebürgertums entsprechen, d a s für die Weiterentwicklung der Gesellschaft Wissenschaft und Technik braucht und dessen geistige Bedürfnisse nicht mehr durch d a s scholastische, mittelalterliche, dogmengebundene Weltbild der Kirche befriedigt werden können. 6.1. Merkmale der e r s t e n Rezeption sind a. eine Übersetzungswelle alter (antiker) Schriften oder deren Bearbeitung (Kommentare), die der Verbreitung des entsprechenden Ideengutes und damit auch des Ideengutes seiner Vermittler dient, z. B. in Europa die Kommentare zu Aristoteles und dessen Schriften selbst. 1 6 b. Entstehung einer gegen die Orthodoxie (die herrschende Glaubenslehre) gerichteten oder zumindest stark von ihr abweichenden Strömung, wie etwa der lateinische Averroismus in Europa, die nicht nur neue Formen, sondern teilweise auch neue Inhalte hat wie die These von der Ewigkeit der Materie, von der Sterblichkeit der individuellen Einzelseele, von der Eigenständigkeit des naturwissenschaftlichen und philosophischen Denkens gegenüber der Theologie usw. c. Kirchliche Gegenströmung, die zuerst mit Verboten und Interdikten, dann aber mit der Methode des AufTangens arbeitet, indem sie antike Kategorien übernimmt, „entgiftet" und in ihr Lehrgebäude integriert. d. Diese offizielle Übernahme beschränkt sich im wesentlichen auf die F o r m , auf die Übernahme von Kategorien, wissenschaftlichen Verfahrensweisen, einer gewissen Rationalität des Denkens. Es entstehen „ S u m m e n " , Enzyklopädien und dergleichen als systematische Darlegungen des Wissens jener Zeit. e. Die Übernahme schließt aber auch eine gewisse Hinwendung zu naturwissenschaftlicher Problematik, zum weltlichen Wissen, zum Experiment und zur Erfahrung ein, wobei sie jedoch der Theologie untergeordnet bleibt; zumindest erreicht sie noch keine volle Selbständigkeit. f. D a s Individuum erhält eine größere Verantwortlichkeit und eine dementsprechende Bedeutung gegenüber dem Frühmittelalter, und zwar sowohl im Bereich des Glaubens, wo die subjektive Frömmigkeit in Gestalt der Mystik mit ihrer „Vergöttlichung" des Individuums sich stärker entwickelt, als auch in der intellektuellen Sphäre, wo z. B. die magistri an den Universitäten, die Poeten, Bildhauer und Maler nach der Verwirklichung ihrer Persönlichkeit, nach Ruhm und Anerkennung streben. D a s Ganze hält sich jedoch noch im engen Rahmen der Kirchlichkeit oder wenigstens der Religion, und wo eine Individualität diesen Rahmen zu sprengen droht, wird sie religiös, moralisch oder auch physisch vernichtet. 6. 2. Die Merkmale der z w e i t e n Rezeption sind folgende: a. D a s nach diesseitiger Vervollkommnung strebende Individuum wird wiederentdeckt, die freie Entfaltung der Persönlichkeit (des K a u f m a n n s , des Unternehmers, des wissenschaftlichen oder künstlerischen Pioniers) steht im Vordergrund; sie setzt sich durch gegen die Knechtung und geistige Verkrüppelung durch die Kirche. 1 6 Vgl. G . Sarton, Introduction to the history of science, Bd. II/I, Baltimore 1931, S. 339. Hier wird eine ausführliche Aufzählung der vielen Übersetzungen antiker Schriften bzw. von Kommentaren zu solchen aus dem Arabischen, Hebräischen und schließlich dem Griechischen gegeben.
„ R e n a i s s a n c e " und Renaissance
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b. Die R a t i o als selbständige, vom G l a u b e n emanzipierte Kategorie k o m m t wieder zur G e l t u n g und setzt sich d u r c h gegen die irrationale, mystische H a l t u n g der devotio m o d e r n a . c. Der freie G e d a n k e , die freie F o r s c h u n g und d a s kritische, mit Empirie und Praxis v e r b u n d e n e Denken setzt sich d u r c h bzw. k ä m p f t u m D u r c h s e t z u n g gegen den D o g m a t i s m u s , Scholastizismus und den Inquisitionsterror. Die N a t u r wird als diesseitiges P h ä n o m e n entdeckt, zu dessen Erschließung es nicht des G l a u b e n s , sondern der experimentellen N a t u r w i s s e n s c h a f t bedarf. d. Das nationale D e n k e n , die N a t i o n a l s p r a c h e setzt sich d u r c h gegen d a s imperiale, ü b e r n a t i o n a l e D e n k e n in Gestalt etwa des I m p e r i u m R o m a n u m (weltliche F o r m ) u n d des W e l t h e r r s c h a f t s a n s p r u c h s des P a p s t t u m s (geistliche F o r m ) . e. Ein neues Bildungsideal entsteht, das in b e w u ß t e n G e g e n s a t z z u m mittelalterlichen, scholastischen gesetzt wird. 7. Die erste S t r ö m u n g ruft zwar zunächst auch eine Krise des feudalen, d o g m a t i s c h g e b u n d e n e n D e n k e n s h e r v o r ; so geraten z. B. in E u r o p a die f r ü h e n Vertreter der Rezeption antiken bzw. arabischjüdischen G e d a n k e n g u t s allesamt m e h r oder weniger mit der offiziellen G l a u b e n s l e h r e und deren Vertretern in K o n f l i k t ; sie werden angefeindet, gemaßregelt, vertrieben, gebannt o d e r gar v e r b r a n n t . Dieses Schicksal trifft auch arabische Philosophen, die es wagen, das antike Erbe u n o r t h o d o x zu interpretieren, wie z. B. Ibn Baddja. Aber es ist kein tödlicher Stoß gegen d e n F e u d a l i s m u s , s o n d e r n im allgemeinen ein Versuch, der im R a h m e n des G l a u b e n s bleiben, ihn n u r der V e r n u n f t a n n e h m b a r machen will. Den Vertretern der Theologie gelingt es, diesen Stoß a b z u f a n g e n , die S t o ß r i c h t u n g abzubiegen u n d mit Hilfe ihrer neuen Systeme der G l a u b e n s l e h r e den neuen A n s p r ü c h e n des D e n k e n s gerecht zu werden. Dementsprechend richtet sich diese S t r ö m u n g gegen die dogmatische Enge der jeweils herrschenden Weltreligion: den Buddhismus, den Islam, d a s C h r i s t e n t u m u n d deren Institutionen, die b u d d h i stische, islamische u n d christliche Kirche mit ihrer m e h r oder weniger entwickelten Hierarchie, mit ihrem entwickelten M ö n c h t u m , das die A u f g a b e hat, das Menschenbild der jeweiligen Religion vorzuleben u n d als Leitbild zu entwickeln sowie das entsprechende Weltbild theoretisch (theologisch, moralisch, asketisch) a u s z u b a u e n . Diese Opposition vollzieht sich in zwei F o r m e n , der F o r m der Ignorierung und V e r a c h t u n g sowie der des direkten Angriffs in m a n n i g f a c h e n F o r m e n . Exkurs: In C h i n a finden wir eine analoge Erscheinung u n t e r der B e z e i c h n u n g / « - ^ « ifu . R ü c k k e h r ' , gu ,Altertum'); im islamischen Bereich (vorderer und mittlerer Orient) ebenfalls als R ü c k k e h r zu den „ A l t e n " (der Antike Persiens und Indiens). „ W i r sollten uns auf das b e s c h r ä n k e n , womit sich die Alten beschäftigt haben, u n d d a s vervollk o m m n e n , was sich v e r v o l l k o m m n e n l ä ß t " , schrieb al-Biruni, 1 7 und al-Kindi betont, d a ß o h n e die Bücher des Griechen Aristoteles „kein Mensch a u s k o m m e n k a n n , der sich die Philosophie aneignen und sie beherrschen will." 1 8 Wie allgemein die W e r t s c h ä t z u n g der antiken Wissenschaftler im arabischen Kalifat war, geht u. a. auch d a r a u s hervor, d a ß Bezeichnungen von Gelehrten als „zweiter Aristoteles", „zweiter G a l e n " , „zweiter H i p p a r c h " , „zweiter E u k l i d " , „zweiter P t o l e m ä u s " u. dgl. sehr geläufig w a r e n . " Mez nennt deshalb sein 1922 erschienenes und in der U d S S R noch 1966 n a c h g e d r u c k t e s klassisches
17 Zitiert n a c h : J. D. Bemal, Die Wissenschaft in der Geschichte, 3. Aufl., Berlin 1967, S. 178. Die hier vertretene These, d a ß die A r a b e r „wenig Ehrgeiz" zeigten, das antike Wissen zu verbessern, ist d u r c h die sowjetische Wissenschaft widerlegt, so z. B. f ü r den genannten al Biruni d u r c h P. G . Bulgakov, Zizn' i t r u d y Beruni, T a s c h k e n t 1972, S. 13 und passim. Die großen Gelehrten der a r a bischen Welt (genauer des vorderen und mittleren Orients u n d N o r d a f r i k a s ) verhalten sich d u r c h a u s kritisch z u m antiken Erbe und gehen in vielem d a r ü b e r hinaus. D a s gilt f ü r die Philosophie ebenso wie f ü r die N a t u r - u n d Gesellschaftswissenschaften. 18 T r a k t a t ü b e r die Anzahl der Bücher des Aristoteles u n d d a r ü b e r , was notwendig ist zur Aneign u n g der Philosophie (russisch). I n : Izbrannye proizvedenija myslitelej stran bliznego i srednego vostoka, M o s k a u 1961, S. 41.
i« P. G . Buljakov, a. a. O., S. 13.
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HUBERT M O H R
Werk über die K u l t u r der Völker des arabischen Kalifats „ R e n a i s s a n c e des I s l a m " 2 0 , wobei er die „ W i e d e r g e b u r t der antiken griechisch-römischen L e h r e n " als das Hauptereignis der von ihm behandelten Epoche (9./10. J a h r h u n d e r t ) bezeichnet. 2 1 Diese „ R ü c k k e h r z u m A l t e r t u m " im nahen und fernen Orient hat j e d o c h trotz vieler ideologischer Ähnlichkeiten eine a n d e r e Basis u n d auch einen a n d e r e n sozialökonomischen u n d politischen Inhalt als die europäische Renaissance des 15./16. J a h r h u n d e r t s . M a n k a n n sie d a h e r nur in uneigentlichem Sinne als Renaissance bezeichnen, wie Mez, K o n r a d u. a. d a s tun. Die Bezeichnung dieser Vorgänge im Orient, die der ersten Rezeption antiken Ideengutes zuzurechnen sind, mit d e m T e r m i n u s Renaissance erfolgte auf G r u n d der vielen verblüffenden Ähnlichkeiten. 2 2 Die Ursachen für dieses P h ä n o m e n liegen u. a. in der relativen K o n t i n u i t ä t der Entwicklung (kein solcher Bruch wie im Westen), in der hochentwickelten P r o d u k t i o n , d e m weltweiten Handel, u n d Verkehr u n d dem damit v e r b u n d e n e n Z u s a m m e n s t o ß der verschiedenen Ideologien und K u l t u r e n u n d ihres wechselseitigen Einflusses aufeinander, wie sie K. M. P a n i k k a r in seiner Geschichte Indiens bei der Beschreibung der Universität N a l a n d a voller Begeisterung überschwenglich r ü h m t . 2 3 Auf G r u n d dieser Verhältnisse entwickelt sich in einigen außereuropäischen F e u d a l k u l t u r e n die erste Rezeption nicht n u r rascher, sondern auch intensiver, radikaler, weniger gehemmt d u r c h die religiösen feudalen Ideologien und Institutionen. D a h e r werden einige Ideen, zu denen E u r o p a erst in der Renaissance des 15./16. J a h r h u n d e r t s auf einer fortgeschrittneren Basis gelangte, im Orient schon früher entwickelt bzw. wieder aufgegriffen. D a s berechtigt zwar zu einem Vergleich, wie ihn N. I. K o n r a d vollzog. A b e r es bleibt ein rein ideologischer Vergleich, der nicht die historische G e s a m t e r s c h e i n u n g erfaßt u n d deshalb nicht dazu f ü h r e n k a n n , ihnen die gemeinsame Bezeichnung Renaissance im eigentlichen, k o n k r e t historischen Sinne des W o r t e s zu geben. Dabei geht es nicht allein u m das Fehlen der f r ü h k a p i t a listischen Basis, s o n d e r n auch u m den Klasseninhalt, die Zielrichtung u n d dergleichen. 8. D e r B e g i n n der E p o c h e der ersten Rezeption des Altertums liegt in China schon im 8. J a h r h u n d e r t (Tan-Periode), d a s E n d e im 13. J a h r h u n d e r t ( M o n g o l e n s t u r m ) ; in Vorder- u n d Mittelasien u m f a ß t diese E p o c h e das 9. bis 13. J a h r h u n d e r t ; a m spätesten beginnt sie in E u r o p a , nämlich im 12. J a h r h u n d e r t . 9. D o r t , wo diese Entwicklung nicht gehemmt wird d u r c h innere o d e r äußere Einflüsse, geht die erste Rezeption in eine zweite über auf der Basis eines sich entwickelnden frühkapitalistischen Bürgert u m s : zur eigentlichen R e n a i s s a n c e . Dieser Schritt erfolgt n u r in E u r o p a im 15./16. J a h r h u n d e r t . Die inneren Hemmnisse in den L ä n d e r n des Orients sind u. a. d a s Fortbestehen von Resten der alten O r d n u n g e n wie D o r f g e m e i n d e s t r u k t u r und Sklaverei, ferner überstarker Zentralismus, Schutz 20 A. Mez, Die Renaissance des Islam, Heidelberg 1922. Russische Ü b e r s e t z u n g : M u s e l ' m a n s k i j renessans, M o s k a u 1966. V o r w o r t dazu von D. E. Bertel's, der ausführlich auf die umstrittene Bezeichnung „ R e n a i s s a n c e " und die Diskussion d a r ü b e r eingeht (S. 8 — 11). So wird z. B. die Richtigstellung des Titels d u r c h V.V. Bartold a n g e f ü h r t , es müsse eigentlich „Renaissance in der Welt des I s l a m " heißen. 21 A. a. O., S. 176. 22 Eine ähnliche Erscheinung finden wir beim Vergleich der Ideologie des Hussitismus mit der des Deutschen Bauernkrieges 1517. In der Diskussion über den C h a r a k t e r der hussitischen Revolution im Vergleich mit der frühbürgerlichen Revolution in Deutschland, wie sie von den Historikern der D D R und ÖSSR u. a. g e f ü h r t wurde (vgl. G. Vogler: P r o b l e m e der Klassenentwicklung und der sozialen u n d politischen Bewegungen in der Feudalgesellschaft in Mittel- und W e s t e u r o p a v o m 11. bis z u m 18. J a h r h u n d e r t . M a n u s k r i p t d r u c k . Hrsg. als Arbeitsmaterial f ü r den V. H i s t o r i k e r k o n g r e ß der D D R , Dresden, 12. —15. Dez. 1972; ders. P r o b l e m e der Klassenentwicklung in der Feudalgesellschaft, Z f G 21 (1973), S. 1182 ff.), gibt es ähnliche Schwierigkeiten. D e m H u s s i t e n t u m fehlte die frühkapitalistische Basis, trotzdem erreichte es eine radikale ideologische A u s p r ä g u n g , die z. T. über die der frühbürgerlichen Revolution in D e u t s c h l a n d sogar hinausging, weshalb m a n c h e Historiker, wie z. B. B. R. Kalivoda, es zur Kategorie der frühbürgerlichen Revolution z u r e c h n e n ; vgl. D a s hussitische Denken im Lichte seiner Quellen. Mit einer Einleitung von R. Kalivoda. hrsg. von R Kalivoda u n d A. Kolesnyk, Berlin 1969, S. 45 ff.
23 K. M P a n i k k a r , Geschichte Indiens, Düsseldorf 1957, S. 116 ff.
79 des steuerzahlenden bäuerlichen Produzenten vor gänzlicher E x p r o p r i a t i o n d u r c h den Staat, H e r r schaft des Staates über die Stadt und — a u s all dem resultierend - das Fehlen eines freien Bürgertums, einer K o m m u n e b i l d u n g , eines allmächtigen Handels- u n d K a u f m a n n s k a p i t a l s , d a s in die P r o d u k t i o n eindringen k a n n , auf der einen Seite u n d die Schwierigkeit, den Produzenten in einen L o h n a r b e i t e r zu verwandeln, auf der a n d e r e n Seite. D a m i t fehlen die beiden Voraussetzungen f ü r d a s Entstehen kapitalistischer Verhältnisse oder entwickeln sich n u r langsam. Die ä u ß e r e n Einflüsse sind in den periodisch wiederkehrenden Einfällen n o m a d i s c h e r S t ä m m e u n d Völkerschaften zu sehen, wie z. B. im Einfall der M o n g o l e n im 13. J a h r h u n d e r t . Diese Einfälle rufen A b w e h r k ä m p f e hervor, die nur unter f ü h r e n d e r Beteiligung des Feudaladels siegreich bestanden werden k ö n n e n ; d a d u r c h wird der Feudaladel in eine relativ progressive Rolle als F ü h r e r „ n a t i o n a l e r " A b w e h r k ä m p f e ged r ä n g t , gerät in ein partielles Bündnis mit den zur Befreiung d r ä n g e n d e n Volksmassen, „ e r n e u e r t " sich und ist imstande, nach dem Siege eine Refeudalisierung einzuleiten. Es k o m m t hier also nicht bzw. verspätet zur H e r a u s b i l d u n g frühkapitalistischer Verhältnisse. 10. Es gibt j e d o c h ä u ß e r e Ähnlichkeiten zwischen der ersten Rezeption im Orient und der zweiten Rezeption, der Renaissance, in E u r o p a . D a s trifft zu f ü r einen zentralen Begriff der Renaissance, die humanitas. Wie in E u r o p a wird die vorausgehende Zeit auch in C h i n a u n d d e m vorderen u n d mittleren Orient als „finstere", „ d u n k l e " Zeit bezeichnet u n d abgelehnt, in der Unwissenheit, U n moral, Verwilderung der Sprache u n d Literatur herrschten. Diese „ m i t t l e r e " Zeit, d a s „ f i n s t e r e " Mittelalter, war in C h i n a die Periode vom E n d e des zweiten J a h r h u n d e r t s bis z u m achten J a h r h u n d e r t , in Vorder- u n d Mittelasien die Zeit v o m 7. bis zum 9. J a h r h u n d e r t , in E u r o p a die Zeit v o m 6. bis z u m 14. J a h r h u n d e r t . Die relativ lange Zeitdauer in E u r o p a ist mit den W o r t e n Engels' d a r a u s zu erklären, d a ß sich E u r o p a „ g a n z aus d e m R o h e n " entwickelte und eine lange Periode der H e r r s c h a f t der Naturalwirtschaft (6. bis 11. J a h r h u n d e r t ) hatte, 2 4 w ä h r e n d in den betreffenden Teilen Asiens die Ware-Geld-Beziehungen u n d die d a m i t v e r b u n d e n e Entwicklung des S t ä d t e b ü r g e r t u m s mit seinen intellektuellen, ethischen u n d ästhetischen A n s p r ü c h e n nicht so lange u n t e r b r o c h e n waren, sondern nach einer Periode des Ü b e r g a n g s verhältnismäßig rasch wieder in G a n g k a m e n . 11. Im Gegensatz zu den bürgerlich-klerikalen H u m a n i s m u s a u f f a s s u n g e n , die d a r a u f hinauslaufen, den H u m a n i s m u s aus d e m Schöße der Kirchen, aus d e m kirchlichen D e n k e n h e r a u s entstehen zu lassen, und zwar mit der H i n w e n d u n g zur individuellen F r ö m m i g k e i t , zur D e v o t i o m o d e r n a , beginnt nach m a r x i s t i s c h e m Verständnis der H u m a n i s m u s d o r t , wo sich d a s D e n k e n vom christlichen Menschenbild, dessen H e t e r o n o m i e , löst und wesentliche Schritte in R i c h t u n g zur A u t o n o m i e macht, auch wenn diese noch nicht voll erreicht wird und das akirchliche oder antikirchliche M e n schenbild noch mit vielen Inkonsequenzen behaftet ist. 12. Die W e l t a n s c h a u u n g der europäischen R e n a i s s a n c e ist d u r c h folgende M e r k m a l e gekennzeichnet : a. Antikirchlich und antischolastisch: Sie h ö r t auf, „ M a g d der T h e o l o g i e " zu sein u n d entwickelt sich in antischolastischer R i c h t u n g ; die O p p o s i t i o n gegen die Scholastik beginnt auf d e m G e b i e t der Ethik. b. Antikisierend: A n k n ü p f u n g an antike philosophische Theorien verschiedenster Art (wenn dies auch nicht die einzigen Quellen waren). c. Naturwissenschaftliche N e u o r i e n t i e r u n g : E n t s t e h u n g naturwissenschaftlicher K o n z e p t i o n , die den Z u s a m m e n b r u c h des scholastischen Weltbildes u n d der scholastischen N a t u r e r k e n n t n i s bedeuten und auf Empirie und Experiment gegründet sind. d. Soziologische N e u o r i e n t i e r u n g : neue soziologische K o n z e p t i o n e n , so d a s Verständnis der Gesellschaft als S u m m e isolierter Individuen (bürgerlicher Individualismus); Staat u n d weltliche Behörden als völlig u n a b h ä n g i g von Religion und Kirche; vereinzelt d e m o k r a t i s c h e Gesellschaftslehren; z u m Teil utopischer C h a r a k t e r des Gesellschafts- und Menschenbildes. e. In der Ethik finden sich neben Elementen des P i a t o n i s m u s u n d Stoizismus vor allem starke Einflüsse der epikureischen Schule. Insbesondere macht sich eine T e n d e n z zur Loslösung der Ethik von der Religion und zur Ableitung ihrer N o r m e n aus der N a t u r b e m e r k b a r . 24
Friedrich Engels, D e r deutsche Bauernkrieg. M E W , Bd. 7, Berlin "1964, S. 343.
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13. Viele dieser M e r k m a l e finden sich, wie schon gesagt, a u c h in der Phase der ersten Rezeption des A l t e r t u m s im vorderen, mittleren und fernen Orient. F ü r C h i n a haben d a s N . I. K o n r a d u n d V. I. Semanov ausführlich nachgewiesen, 2 5 f ü r Grusinien und Armenien 5. P. N u c u b i d z e und V. A. C a l o j a n , 2 6 für den Iran u n d Mittelasien 1. S. Braginskij, für die „östlichen L i t e r a t u r e n " allgemein V. M . Z i r m u n s k i j , I. V. Borolina, V. B. Nikitina u. a. Die Ähnlichkeit der M e r k m a l e soll hier im A n s c h l u ß an N. 1. K o n r a d nur a m Beispiel Chinas demonstriert werden. Die a n g e f ü h r t e n Stellen aus den Werken H a n Jüs ( H a n Yu), 768-824, und seines Zeitgenossen Liu D s u n g Jüängs (773—819) werden nicht im Sinne einer Beweisführung gebracht, sondern zur D e m o n s t r a t i o n ; dabei wird unterstellt, d a ß d e m Leser genügend Beispiele a u s der europäischen Renaissance präsent sind, u m Vergleichsmaterial f ü r diese Gegenüberstellung zu h a b e n . Es braucht nicht noch einmal d a r a u f hingewiesen zu werden, d a ß dieser Vergleich partiell ist und nicht die G e s a m t e r s c h e i n u n g der europäischen Renaissance des 15./16. J a h r h u n d e r t s mit der G e s a m t e r s c h e i n u n g der chinesischen K u l t u r p e r i o d e des 8. bis 13. J a h r h u n d e r t s auf eine Entwicklungsstufe stellen will. a. Die S t o ß r i c h t u n g der chinesischen „ R e n a i s s a n c e " geht bei H a n Jü eindeutig gegen den Buddhism u s mit seinem Mönchswesen und gegen den D a o i s m u s Lao-tses; in seiner Schrift „ Ü b e r den W e g " fordert er im 16. Abschnitt die A u f l ö s u n g der Klöster u n d U m w a n d l u n g der Tempel in W o h n h ä u s e r : „ W e n n m a n nicht den Lehren Lao-tses und des Buddha ein Ende setzt, k ö n n e n wir nichts verwirklichen. Wenn m a n die M ö n c h e in weltliche Menschen verwandelt, ihre Bücher verbrennt, wenn m a n ihre Tempel und G ö t z e n h ä u s e r in W o h n h ä u s e r verwandelt..., wenn m a n sich u m die alleinstehenden M ä n n e r u n d F r a u e n k ü m m e r t , f ü r die Waisen sorgt, für die Alten und unheilbar K r a n k e n und K r ü p pel — d a n n wird m a n dem n a h e k o m m e n , was notwendig ist." 2 7 b. Die A u f f o r d e r u n g zur „ R ü c k k e h r zum A l t e r t u m " findet sich in vielen Schriften, bei H a n Jü unter der Bezeichnung/i/-gw, eine A u f f o r d e r u n g , die sich ebenso bei seinem F r e u n d Liu D s u n g - J ü ä n g findet. D a m i t ist, wie K o n r a d nachgewiesen hat, nicht eine einfache R ü c k k e h r z u m K o n f u z i a n i s m u s gemeint; auch andere fortschrittliche Traditionen des chinesischen Altertums greift er wieder auf, so u. a. den G e d a n k e n der „Liebe zu den a n d e r e n " von Mo-dsi (497-381 v. u. Z.), der gegen K o n fuzius u n d seine Lehre aufgetreten war, d a ß die Menschen in Adlige und Niedrige zu teilen seien, f ü r die jeweils verschiedene Verhaltensnormen bestünden. K o n r a d weist auch d a r a u f hin, d a ß der Terminus fu-gu gleichermaßen „ R ü c k k e h r z u m A l t e r t u m " wie auch „ W i e d e r g e b u r t des A l t e r t u m s " bedeuten könne, u n d er fügt hinzu : „ W i e w ü r d e sich Vasari (1511 — 1574), der als erster im 16. J a h r h u n d e r t die Epoche des H u m a n i s m u s in Italien mit d e m W o r t rinàscita bezeichnete (die Wiedergeburt der Antike im Auge habend), gewundert haben, wenn er erfahren hätte, d a ß viele J a h r h u n d e r t e vor ihm das gleiche W o r t im gleichen Sinne eine Epoche humanistischer Bewegung im fernen C h i n a bezeichnete." 2 8 c. Die naturwissenschaftliche Orientierung H a n Jüs u n d seiner F r e u n d e geht bis z u m Materialismus. G e g e n ü b e r den religiös-mystischen A n s c h a u u n g e n des Buddhismus vertrat er „die Ansicht, die N a t u r entwickle sich nach eigenen Gesetzen, gleich u n a b h ä n g i g vom ,Willen des Himmels' wie auch v o m Menschen s e l b s t " ; 2 9 die E m p f i n d u n g e n u n d G e d a n k e n des Menschen entstehen bei seiner B e r ü h r u n g mit den Dingen. — Es ist b e k a n n t , d a ß die Tang-Zeit wie auch die Sung-Zeit eine Epoche des Aufschwungs der Naturwissenschaften und Technik waren. In dieser Zeit entstanden die Weltzentren der Porzellan- u n d Fayenceherstellung in China, der T e e a n b a u w u r d e heimisch, die Papierherstellung gelangte bis in die westlichen Teile, wo in der zweiten Hälfte des 8. J a h r h u n d e r t s schon die A r a b e r mit ihr b e k a n n t w u r d e n ; der Buchdruck mittels gravierter Tafeln verbreitete sich, der „chinesische Pfeil" w u r d e e r f u n d e n (969), das Pulver wurde a n g e w a n d t für friedliche und für Kriegs-
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N. I. K o n r a d , a. a. O., S. 240 ff. > S. P. Nucubidze, Rustaveli i vostoényj renessans, Tiflis 1947; I. Dzavachisvili, Istorija Gruzii, Tiflis 1948; V. A. C a l o j a n , A r m j a n s k i j renessans, M o s k a u 1963; ders., Vostok i z a p a d . M o s k a u 1968. 27 N a c h der Übersetzung von N. I. K o n r a d : O puti. I n : N. I. K o n r a d , a. a. O., S. 1 2 1 - 1 2 7 . Die zitierte Stelle findet sich unter N r . 16 auf S. 127. 2 « N. I. K o n r a d , a. a. O., S. 142. Z u m v o r s t e h e n d e n : ebda. S. 138 ff., 140 f. 2» Geschichte der Philosophie, Bd. 1, Berlin 1959, S. 163. 2(
81 zwecke (10. J a h r h u n d e r t ) und der Letterndruck e r f u n d e n (1069), um n u r einige E r r u n g e n s c h a f t e n zu nennen. d. Die soziale N e u o r i e n t i e r u n g wird von Liu D s u n g J ü ä n g a m deutlichsten a u s g e s p r o c h e n : „ U n d Ihr, Regierungsbeamte im L a n d , wißt Ihr, worin Euer Dienst besteht? N u r in d e m E i n e n : Diener des Volkes zu sein u n d nicht d a s Volk zu Eurem Diener zu machen. D a s Volk e r n ä h r t sich v o m Boden. Es gibt den 10. Teil der Ernte und mietet Euch, Beamte, damit Ihr f ü r R u h e und O r d n u n g sorgt, aber ... Ihr erfüllt Eure Pflicht nicht ... , und nicht nur das, Ihr r a u b t d a s Volk auch aus. N e h m e n wir an, Du mietest Dir einen Diener im Haus, und dieser tut seine Pflicht nicht, obwohl er von Dir Lohn erhält, und bestiehlt Dich sogar noch. Natürlich wirst D u zornig, jagst ihn d a v o n und bestrafst ihn. In unserer Zeit verfährt die Mehrheit von Euch, Ihr Beamten, genauso wie dieser Diener, aber d a s Volk kann seinem Z o r n nicht freien Lauf lassen. Euch d a v o n j a g e n und Euch bestrafen . . . Diejenigen von Euch, die die Gesetze der Dinge nicht verstehen, m ü ß t Ihr Euch nicht f ü r c h t e n , nicht vor Angst e r z i t t e r n ? " In d e m Begriff des Volkes sind die Bauern, H a n d w e r k e r und K a u f l e u t e eingeschlossen. „So ist also das Volk der H e r r " , interpretiert K o n r a d , „die Beamten, die Herrscher sind nichts anderes als gemietete Wächter, die die Menschen und ihr Eigentum zu bewachen h a b e n " . 3 0 Der utopische und wohl auch demagogische C h a r a k t e r zeigt sich in d e m ständigen G e b r a u c h der W o r t e Liebe, Gerechtigkeit und Eintracht. Wenn die Regierenden, gestützt auf diese Lehre, „ m i t ihrem Herzen regieren, herrscht überall Eintracht und F r i e d e n . " 3 1 e. Die Ethik ist ganz auf den Menschen gegründet, die N o r m e n des Verhaltens und H a n d e l n s werden aus den Bedürfnissen des Menschen, aus der „Liebe zu allen" abgeleitet: „Liebe zu allen — das ist das Menschliche im Menschen. Das Menschliche verwirklichen, und zwar so, wie es sich gehört, das ist Pflichtgefühl im M e n s c h e n . " 3 2 Als Kennzeichen des H u m a n i s m u s der „Renaissancezeit" in China f ü h r t N. I. K o n r a d die Formel a n : „ D e r Mensch . . . da wir in der Welt des Menschen leben, m u ß m a n ihm, dem Menschen, treu sein." 3 3 Das ist der Inhalt des „ n e u e n W e g e s " bei H a n Jü, das „menschliche Prinzip", das „ P r i n z i p des Menschlichen". 3 4 14. M e r k m a l e auf dem Gebiet der L i t e r a t u r und K u n s t der europäischen. Renaissance sind u. a . : a. A b k e h r von biblischen, religiösen Motiven und H i n w e n d u n g zu Motiven des täglichen Lebens, Verweltlichungsprozeß. In dieser H i n w e n d u n g zeigt sich deutlich die Verlagerung des Z e n t r u m s vom Jenseits zum Diesseits, z u m Menschen und zur N a t u r ( E n t s t e h u n g des Portraits und der Landschaftsmalerei). b. A b k e h r von den starren alten . F o r m e n und K o n v e n t i o n e n ' , von den T o p o i ; realistische Züge. „Ein strenggläubiger M ö n c h schrieb mit Entsetzen, d a ß m a n am Tage unmöglich in die Kirche gehen könne, weil eine M e n g e j u n g e r Künstler darin hin- und herliefen, laut schrien, die Heiligenbilder gottlos mit den Fingern betasteten und ausriefen: ,Ach, diese heilige A n n a ist die Bäckersfrau G i o v a n n a , und die heilige Susanne ist die T o c h t e r vom Schankwirt M i c h e l e ' " 3 5 c. N e u e Literaturgattungen, z. B. Novelle, Biographie, Tragödie. d. A b l e h n u n g der asketischen, lebensentsagenden H a l t u n g , H i n w e n d u n g zur Lebensbejahung. e. Z u m Teil polemische H a l t u n g gegen P a p s t t u m und Kirche, gegen Klerus, M ö n c h t u m u n d die Dogmen. f. Protest gegen die Privilegien der Feudalhierarchie insgesamt (nicht n u r die geistliche Hierarchie). Bekannt sind die Verse des französischen Dichters Jean d u Pont Alais: „ V o m Verbrechen lebt der Adel heute, / säckelt aus u n d ruiniert die Leute / . . . Ä n d e r n wollt ihr diese B r ä u c h e ? / A n den Galgen hängt die G ä u c h e ! " 3 6
30 Die vorstehenden Zitate nach N. I. K o n r a d , a. a. O., S. 133 f., 134 31 H a n Jü, Ü b e r den Weg. Nach N. I. K o n r a d , a. a. O., S. 126. 32 H a n Jü, Über den Weg, P u n k t 1. N a c h N. I. K o n r a d , a. a. O., S. 121. 33 N. I. K o n r a d , a. a. O., S. 198. 34 A. a. O., S. 137. 35 A. D. Epstein, W e l t a n s c h a u u n g und K u l t u r der Renaissance, Berlin 1952, S. 21. 36
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Zitiert nach A. D . Epstein, a. a. O., S. 26.
Volkskunde
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15.1. D e m entsprechenden T h e m a „Literatur der asiatischen R e n a i s s a n c e " hat N . I. K o n r a d mehrere Aufsätze gewidmet. 3 7 Er nennt Li B o (Li T a i - b o ) , 7 0 1 - 7 6 2 , den ersten Dichter der „chinesischen R e n a i s s a n c e " und widmete ihm zusammen mit seinen Zeitgenossen W a n Wei ( 6 9 9 - 7 5 9 ) und Du Fu ( 7 1 2 - 7 7 0 ) als den drei großen Initiatoren der Poesie der „chinesischen R e n a i s s a n c e " mehrere Untersuchungen. 3 8 a. In ihren Dichtungen, wie auch in denen der anderen großen Dichter der folgenden Jahrhunderte, ist kein religiöser Hauch zu spüren. „ N i e war Li B o Anhänger irgendeiner Religion, weder im Sinne einer kirchlichen Organisation noch im Sinne eines D o g m e n g l a u b e n s " , schreibt K o n r a d . 3 9 A u c h bei D u F u steht der Mensch als solcher mit seinem Schicksal im Vordergrund und findet sich keine Spur religiöser oder kirchlicher Gebundenheit. A m wenigsten noch entfernte sich der kaiserliche Beamte, Dichter und M a l e r W a n Wei von der Religion, er wurde der „ D i c h t e r m ö n c h " genannt. 4 0 b. Deutlich zeigt sich der Realismus der Chinesen in den Trinkliedern Li Bos ( „ G e n i e ß e n soll der Mensch sein Leben . . . " ) , noch mehr in seinen Anti-Kriegsliedern: „ D i e Mordlust blüht in allen Dynastien. Die Kaiser wechseln, nicht die Generale . . . rot ist die Erde, zerhackt die Leiber, Glieder abgeschlagen." A m deutlichsten zeigt sich der Realismus in den sozialen Gedichten Du F u s : „Zerschlissen die Decken, kalt wie Eis, zerstrampelt hat sie oft im S c h l a f mein Kind, das sich vor K ä l t e nicht zu helfen weiß. Weil sein Eltern arm und hilfslos sind. muß es nun frieren! Regen rinnt in Strömen durch das abgetragne D a c h . Die Betten triefend n a ß ; im ganzen R a u m kein trockner F l e c k . Der Kleine schreit im T r a u m . Die lange Nacht sitz ich in Ängsten wach und d e n k e : O b es j e m a l s geben mag Häuser für alle Armen, hell und licht, so fest, daß sie auch nicht der stärkste Sturm zerbricht. Ach, käm doch j e n e r T a g — und war ich arm auch dann, arm bis zum T o d , ich klagte n i c h t ! " 4 1 c. D a s Neue in den Literaturformen der Tang-Zeit zeigt sich im Verlassen der „ b a r o c k e n " Versform, in der Ablehnung der alten Versgesetze und der Hinwendung zum T o n des Volksliedes und zur Sprache der Volksdichtung. Durch Han J ü wird die Kunstnovelle ausgebildet. In der Sung-Zeit entstehen die Biographie und der R o m a n („Pilgerfahrt nach dem W e s t e n " ) und im 17. Jahrhundert schließlich das Drama. d. Die Ablehnung der buddhistischen und daoistischen Lebensführung k o m m t am besten in den Trinkliedern Li Bos zum Ausdruck, die Du F u in einem seiner Gedichte verherrlicht: „ G a r oft Su Dschin den sündigen Leib kasteit, vor Buddhas Antlitz fastet und bereut, doch braucht er nur zu riechen W e i n , sogleich vergeht ihm alle Lust zur F r ö m m i g k e i t . Nach einem Humpen Wein schreibt Li T a i - b o die herrlichsten Gedichte — und en gros! —, nickt dann, erschöpft vom Schöpferdrange, ein in Tschangan auf dem Marktplatz irgendwo . . . 5 " N. 1. K o n r a d , T r i poeta (a. a. O., S. 119 ff.); ders., V o s e m ' stansov o b osenji Du F u (a. a. O., S. 73 ff.); ders., Problemy sovremennogo stravnitel'nogo literaturovedenija (a. a. O . S. 304ff.). « N. I. K o n r a d , a. a. O., S. 152 ff. . 3 » A. a. O., S. 160. 40 a . a. O., S. 168. 41 Dieses und die folgenden Gedichtausschnitte werden zitiert in der Nachdichtung aus: Chrysanthemen im Spiegel. Klassische chinesische Dichtungen, hrsg. und aus dem Chinesischen übertragen und nachgedichtet von Ernst Schwarz, Berlin 1969, S. 229 f.
„ R e n a i s s a n c e " und Renaissance
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Drei Schälchen Wein genügen für D s c h a n g Su, daß Wunderwerke in Kalligraphie von kosmischer Gewalt sein Pinsel schafft — nur neigt er dann auch sehr zur Blasphemie. Fünf Humpen braucht Dschau Sue, bis er, beglückt vom Wein, den Degen seines Geistes zückt, dann aber legt er los mit solcher Macht, daß alles kracht und jeder G a s t erschrickt." 4 2 e. und f. Die polemische Haltung gegen Religion und Kirche, gegen Mönchtum und D o g m e n sowie der Protest gegen die Privilegien und Verbrechen der Feudalhierarchie zeigte sich schon in den zitierten Anti-Kriegsliedern, in denen die Eroberungssucht der Kaiser und die S k r u p e l l o s i k e i t der Generale, wie auch in den Trinkliedern, in denen die asketische Haltung und Scheinheiligkeit der Mönche angeprangert bzw. verspottet werden. D a s Mitgefühl mit dem geschundenen Volke verbindet sich z. B. bei D u F u mit dem Haß gegen seine Feinde; ergreifend ist d a s Lied von den siechenden Palmen: „Zerhauen, zerschrammt, zerschunden haben sie, mein Volk, auch dich, aus hunderttausend Wunden blutest D u — blute auch ich. Die Büttel, die Beamten bekümmert nicht Dein L e i d ; sie schinden den zerschrammten mit aller Grausamkeit. Und wie die Palmen sterben, zerschunden und zerschrammt, so mußt auch D u verderben, zum Hungertod verdammt. Die Amsel singt so müde, ein Grauen faßt mich an — ich denk bei ihrem Liede an Euch, Ihr todgeweihten Palmen von S e t s c h u a n . " 4 3 15.2. In der K u n s t Chinas vom 8. bis zum 13. Jahrhundert entwickeln sich ebenfalls zahlreiche neue Gattungen, Genres und F o r m e n ; die Hinwendung zum Menschen ist unverkennbar, d a s „humanistische Grundelement" tritt deutlich hervor. 4 4 D a s zunehmende Interesse für die menschliche Persönlichkeit, besonders in der Sung-Zeit, rief das Genre der psychologischen Portraitplastik ins Leben. Vor allem in der Malerei tritt der „Renaissance"-Charakter der Kunst deutlich hervor. Außergewöhnlich scharfe Beobachtung und eine große Breite in der Darstellung der Natur bilden die charakteristischen Merkmale. Landschaftsmalerei, Alltags- und Genremotive erobern selbst die religiöse Kunst. In der weltlichen Malerei spielen die Darstellung des täglichen Lebens der Menschen und die Landschaftsmalerei, d a s sogenannte Genre der Blumen und Vögel, sowie die Portraitkunst eine bestimmende Rolle. Die berühmten „ F ü n f O c h s e n " von H a n g H u a n g (723—787), der durch d a s große Werk „ D e r Garten der Literatur" bekannt ist, 4 5 weisen eine verblüffende Ähnlichkeit mit den Tierstudien der europäischen Renaissance auf. Auch in der Portraitkunst steht die „ A u s d r u c k s k r a f t der Linien . . . der in den Zeichnungen Holbeins nicht n a c h . " 4 6 An die europäische Renaissance « «
A. a. O., S. 236 f. A. a. O., S. 231 f.
Allgemeine Geschichte der Kunst, Bd. 3, Leipzig 1964, S. 386. 5 A. a. O., S. 411. 4 « M. W. Alpatow, Geschichte der Kunst, Bd. 1, 2. Aufl., Dresden 1964, S. 343.
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erinnern a u c h die Schriften zur Malerei, die theoretische Fragen der Maltechnik behandeln. „Eine so eingehende Darlegung der M a l e r e i " wie in den Schriften W a n g Weis (8. J a h r h u n d e r t ) und K u o Hsis (11. J a h r h u n d e r t ) „ f i n d e n wir im Westen bis zur europäischen Renaissance n i c h t . " 4 7 16. Es erhebt sich die Frage nach den Ursachen einer so h o h e n renaissance-ähnlichen K u l t u r e n t wicklung im Osten zu einer Zeit, da noch der Feudalismus in seiner vollen Entfaltung war. O h n e Zweifel sind es die Städte des mittelalterlichen Chinas, in denen „ein Geist der Freiheit und der F r e i d e n k e r e i " herrschte. 4 8 Fraglos erreichten H a n d w e r k u n d Handel in der Tang- und Sung-Zeit, wenn auch d u r c h Kriege und innere Wirren o f t u n t e r b r o c h e n , einen außerordentlichen und im Vergleich z u m E u r o p a des 12 /13. J a h r h u n d e r t s unvergleichlich höheren Stand der Entwicklung. Die in „ Z e c h e n " z u s a m m e n geschlossenen H a n d w e r k e r u n d K a u f l e u t e der Städte wurden vom Staate als wichtigste Träger der Ware-Geld-Beziehungen und kräftigste Steuerzahler geschützt. D e r sich nach allen Seiten ausbreitende Innen- und A u ß e n h a n d e l f ü h r t e zur Entwicklung eines Handels- u n d Wucherkapitals, das riesige A u s m a ß e a n n a h m u n d schließlich — schon im 1 ( ( . J a h r h u n d e r t — zur G r ü n d u n g von Kreditanstalten, zur E i n f ü h r u n g von Wechseln („fliegendes G e l d " ) und P f a n d b r i e f e n und d a n n zur S c h a f f u n g von Papiergeld führte. D a s K a u f m a n n s k a p i t a l begann die H a n d w e r k e r von sich a b h ä n g i g zu machen und ging stellenweise schon z u m Verlagswesen über. 4 9 Staatliche M a n u f a k t u r e n u n d H a n d e l s m o n o p o l e h e m m t e n zwar die Entwicklung des privaten H a n d w e r k s u n d Handels, förderten aber andererseits sowohl den Export als auch den I m p o r t . Die Z a h l der ausländischen H ä n d l e r aus aller Welt stieg in die T a u s e n d e . 5 0 Wir finden in China unter den Bedingungen des entwickelten Staatsfeudalismus schon L o h n a r b e i t e r in einigen Produktionszweigen, vor allem in den staatlichen M a n u f a k t u r e n , die, wie in den Schiffswerften, den keramischen Werkstätten sowie in den Textilwerkstätten, bis zu 700 Menschen beschäftigten, von denen ein Teil schon L o h n a r b e i t e r waren, wenn a u c h noch handwerklich produziert wurde. Deshalb sind „einige Historiker, die die Geschichte C h i n a s erforschen, der Ansicht, d a ß die Tatsache, d a ß solche Werkstätten bestanden haben und d a ß der Binnenhandel und der G e l d u m l a u f entwickelt waren, die Bedingungen f ü r die Entwicklung kapitalistischer Elemente geschaffen h a t . " 5 1 Im allgemeinen sprechen jedoch die Befürworter selbständiger kapitalistischer Entwicklungen im Osten selbst im Falle J a p a n s , des einzigen Beispiels eines selbständigen, relativ f r ü h e n Ü b e r g a n g s z u m Kapitalismus o h n e kolonisatorische Einmischung in Asien, von kapitalistischen M a n u f a k t u r e n erst seit dem 16. J a h r h u n d e r t , wenngleich auch hier das Handels- u n d W u c h e r k a p i t a l sich schon E n d e des 12. J a h r h u n d e r t s zu entwickeln begann. 5 2 So bleibt als A n t w o r t auf die Frage nach den Ursachen so vieler renaissanceähnlicher M o m e n t e in der K u l t u r Chinas vom 8. bis 13. J a h r h u n d e r t n u r der Hinweis auf die verhältnismäßig starke Entwicklung der Ware-Geld-Beziehungen, ein hochentwickeltes H a n d w e r k , einen weltweiten Handel und ein f ü r die Feudalgesellschaft hochentwickeltes Bürgertum als G r u n d l a g e für diese Erscheinung; und diese G r u n d l a g e ist nicht n u r in China zu finden, sondern auch in anderen orientalischen L ä n d e r n , z. B. im A b b a s i d e n k a l i f a t . Sie bewirkt, d a ß die „ R ü c k k e h r z u m A l t e r t u m " , zu fortschrittlichen kulturellen Traditionen der vorausgehenden F o r m a t i o n , radikaler, tiefgreifender u n d u m f a s s e n d e r war als im E u r o p a des 12./13. J a h r h u n d e r t s ; aber d e n n o c h läuteten sie keine neue Ära ein, waren sie nicht das 47
A. a. O.. S. 332. Allgemeine Geschichte der K u n s t , Bd. 3, Leipzig 1964, S. 367. 4 « Ocerki istorii Kitaja, M o s k a u 1959, S. 231. 50 Chinesische Überlieferungen aus der Tang-Zeit sprechen von phantastischen Zahlen, die zwischen 120000 und 200000 schwanken. Vgl. ebenda, S. 232. 51 Weltgeschichte in zehn Bänden, Bd. 3, Berlin 1963, S. 320. Vgl. dazu V. M. §tejn, Kitai v X i XI vekach. Sovetskoje Vostokovedenie 1945, N r . 3. Ders., Byli Ii v e k o n o m i k e stran vostoka elementy kapitalizma d o vtorzenija evropejskich d e r z a v ? I n ; O genezise kapitalizma v stranach vostoka (XV d o X I X vv.), M o s k a u 1962, S. 196—211. Im letzteren Artikel nimmt Stejn seine frühere These von der E n t s t e h u n g kapitalistischer M a n u f a k t u r e n in der Tsung-Periode zurück u n d r ä u m t ein, d a ß m a n „ v o n den A n f ä n g e n des Kapitalismus in C h i n a n u r in bezug auf einige J a h r h u n d e r t e s p ä t e r " sprechen k ö n n e (a. a. O., S. 205). 48
52 O genezise kapitalisma v stranach vastoka, a. a. O., S. 5 ff. (A. L. Galperin, K voprosu o genezise kapitalizma v Japonii).
.Renaissance" und Renaissance
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Morgenrot der Neuzeit wie die europäische Renaissance des 15./16. Jahrhunderts, und eben darin liegt der wesentliche Unterschied. 17. Die Befürworter einer Berechtigung des Terminus Renaissance für die analogen Vorgänge im Hochmittelalter des Orients verweisen gelegentlich auf die Renaissance-Päpste und die von ihnen geförderte Renaissancekultur. Von einem Frühkapitalismus im Kirchenstaat kann natürlich ebenfalls keine Rede sein. Die sich hier abspielenden kulturellen Vorgänge bewegen «ich auf feudaler Basis. Das Problem der „Renaissancepäpste" löst sich ähnlich dem des aufgeklärten Absolutismus. Die Förderung der Renaissancekunst und -Wissenschaft sollte der Festigung (Verherrlichung) der absolutistischen Herrschaft der Päpste dienen; sie war eine Form der Anpassung an die neuen Verhältnisse, um die alten besser konservieren zu können. Dies bestätigt die allgemeine Erfahrung, daß Vertreter der herrschenden Klasse in der Übergangsperiode zeitweilig die neuen, ihnen feindlichen geistigen Strömungen unter deren teilweiser Deformierung und Entschärfung für die Festigung ihrer Herrschaft ausnutzen. Eine ideologische Befreiung konnte sich im Rahmen dieser „Renaissance" nicht entfalten; deshalb sind hier die gleichen Bedenken gegen den Terminus Renaissance zu erheben wie im mittelalterlichen Orient. Die Päpste dieser Periode waren ebensowenig Renaissancepäpste wie die aufgeklärten absolutistischen Monarchen der Aufklärungszeit Aufklärer waren.
Säulenbücher Zur Antikerezeption in den Tischlerzünften des 16. bis 18. Jahrhunderts V o n R E I N H A R D PEESCH
Die Säulenbücher
Die Entwicklung einer deutschsprachigen Fachliteratur, die sowohl die Bildungsinteressen des Zunftbürgertums als auch seine Bedürfnisse an praktisch anwendbaren theoretischen Kenntnissen erfüllen konnte, beginnt nach Anfangen gegen Ende des 15. Jahrhunderts im ersten Viertel des 16. Jahrhunderts. Verhältnismäßig spät, nämlich erst nach 1550, kommen dann jene Fachbücher für den Bereich der Bau- und Innenarchitektur auf, die unter der Bezeichnung „Säulenbücher" bekannt sind. Was uns veranlaßt, diesen Büchern eine eigene Studie zu widmen, ist der bemerkenswerte Umstand, daß sie sich über 200 Jahre lang als Mittler antiker Kunstnormen und Kunstformen in den Tischlerzünften behaupten und eine nicht geringe Wirkung auf die ästhetischen Prinzipien der deutschen Kunsttischlerei ausüben konnten. In der Vorrede, oft auch im Text berufen sich die Säulenbücher zumeist auf Vitruvianische Lehren. Gemeint ist damit die Architekturlehre des Vitruvius Pollio, dessen „10 Bücher von der Architektur", geschrieben zwischen 32 und 22 v. u. Z., als einziges Fachbuch der Römer für den künstlerischen und technischen Bereich des Bauwesens und der Maschinenkonstruktion überliefert sind. Allerdings gehen die Säulenbücher nicht direkt von diesem Text aus, der 1415 wieder aufgefunden und nach dem ersten, von dem Italiener Battista degl' Alberti herausgegebenen Druck (1485) in zahlreichen lateinischen Editionen in Europa verbreitet wurde und der schließlich 1548 auch in einer deutschen Übersetzung erschien. 1 Das erste deutsche Säulenbuch, das Buch Von den fünf Säulen des Baumeisters Hans Blum von Lohr am Main (Zürich 1550), hat vielmehr in den wesentlichen Partien das italienische Werk Regole generali di Architettura von Sebastiano Serlio (Venedig 1537) zur Vorlage. Mit diesem Werk hatte Serlio in Verwendung und freier Ergänzung der Vitruvianischen Architekturlehre ein grundlegendes System der fünf Säulenordnungen mit einer allgemein verständlichen Proportionslehre geschaffen, die ganz auf die zeitgenössische Architektur-Praxis orientiert und vielseitig anwendbar war. 2 Dank 1
Rivius (Walter Ryff), Vitruvius Teutsch . . . , Nürnberg 1548. Deutsche Übersetzung des 4. Buches mit der Säulenlehre von Peter Coeck von Alst: Die gemaynen reglen von der architectur über die fünf manieren der gebeu . . ., Antorff (Antwerpen) 1542. Neue Übersetzung des ganzen Werkes: Von der Architectur fünff Bücher . . ., Basel 1609. — Serlio konnte für sein Werk die im letzten Viertel des 15. Jh. einsetzenden Bearbeitungen und Kommentare des Vitruv-Textes italienischer Autoren benutzen, von denen hier hervorzuheben sind: Leone Battista degl' Alberti, X libri de re aedificatoria (1485/1486); Grapaldi, de partibus aedium (1484); Gio2
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REINHARD
PEESCH
der gut gelungenen Umsetzung ins Deutsche und der vorzüglichen Holzschnittillustrationen wurde Blums Werk mit mehreren Auflagen, darunter auch niederländischen und lateinischen, bis zum Ende des Jahrhunderts zum weitestbekannten und meistbenutzten Elementarbuch antik-italienischer Architekturlehren, das später durch einen zweiten Teil mit zahlreichen ArchitekturBeispielen unter dem Titel Ein kunstrych Buch von allerley antiquiteten, so zum verstand der Fünff Seulen der Architectur gehören (Zürich 1579) ergänzt wurde. In Norddeutschland vermittelten neben Blums Säulenbuch nach 1560 vor allem niederländische Autoren die neuen Architekturlehren. 3 Von diesen müssen wir Jan Vredeman de Vries hervorheben, der mit seinen vielen Vorlagenbüchern und einem eignen Säulenbuch, das in Deutsch verbreitet wurde, 4 großen Einfluß auf die Bau- u n d Innenarchitektur norddeutscher Städte ausübte. Offensichtlich von dieser reichen niederländischen Vorlagenliteratur angeregt, begann gegen 1595 der rührige Verleger Bussemacher zu Köln mit der Herausgabe von deutschen Zieraten- und Säulenbüchern, die in rascher Folge und teils in mehreren Auflagen bis u m 1630 erschienen. Was sie jedoch von der gesamten ausländischen Architektur-Literatur dieser Zeit in markanter Weise unterscheidet, ist die soziale H e r k u n f t ihrer Autoren. Es sind nämlich durchweg Zunftmeister des Tischlerhandwerks, die Bussemacher mit der Herstellung dieser Bücher betraute. Die Tischler Veit Eck und Jacob Guckeisen aus Straßburg, J o h a n n Ebelmann aus Speier u n d Gabriel K r a m m e r aus Zürich sind seine bekanntesten Autoren. Aber auch in der folgenden Periode treten Zunftmeister des Tischlerhandwerks und gelegentlich anderer Handwerke als Verfasser von Säulen- und Vorlagenbüchern auf. In der folgenden Tabelle nennen wir davon diejenigen Titel, die — nach unserer Kenntnis — unter den Z ü n f t e n am meisten verbreitet waren. Die Tabelle läßt erkennen, d a ß mit der verstärkten Bautätigkeit nach dem Dreißigjährigen Krieg auch eine Reihe neuer Säulenbücher zu erscheinen beginnt. In dieser Periode werden sogar einige ältere italienische Werke erstmals ins Deutsche übertragen (so die Bücher von G i a c o m o Barozzi da Vignola, 5 Andrea Palladio, 6 Vincenzo Scamqzzi 7 ), die allerdings k a u m noch die von den Z u n f t condo, Baumeister des Dominikanerordens, mit der ersten illustrierten, die Maßangaben Vitruvs bildlich veranschaulichenden Ausgabe (1511/1513). — Wertvolle Hinweise auf die italienische Vitruv-Literatur und ihre Bedeutung für die humanistische Antikerezeption in Deutschland sowie auf die frühe deutschsprachige Fachliteratur verdanke ich meinem Kollegen D r . ' H e l m u t Wilsdorf, Dresden. Die stilkundliche Bedeutung der Säulenbücher behandelt ausführlich E. Forssman, Säule und Ornament. Studien zum Problem des Manierismus in den nordischen Säulenbüchern und Vorlageblättern des 16. und 17. Jahrhunderts, Stockholm 1956. 4
Architectura Oder Bauung der Antiquen auss dem Vitruvius, wcellches sein funff Collummen orden . . ., Antorff 1581. 5 Zweisprachige niederländisch-deutsche Ausgabe: Regel der fünff Orden, Amsterdam 1669. 6 Deutsche Übersetzung der ersten zwei Bücher mit Anmerkungen und Erläuterungen von dem Baumeister und Ingenieur Georg Andreas Böckler: Die Baumeisterin Pallas oder der in Teutschland entstandene Palladius, Nürnberg 1698. 7 Deutsche Ausgabe: Klärliche Beschreibung der fünff Säulen-Ordnungen und der gantzen BauKunst, Nürnberg 1678.
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Säulen bûcher
Name/Herkunft
Beruf
Buchtitel
Hans Blum Lohr am Main dcrs.
Baumeister
Von den fünff Seulen . . .
Wendel Dietterlin Straßburg
Maler und Baumeister
Jakob Guckeisen Straßburg und Johann Ebelmann Speier
Schreiner
Gabriel Krammer Zürich
Schreiner und Radierer
Rütger Kassmann Köln
Architekt, Schreiner und Radierer Stadtschreiner
Georg Caspar Erasmus Nürnberg Abraham Leuthner Neustadt Prag Simon Cammermeir Wemding im Ries
Schreiner und Radierer
Maurermeister Ornamentzeichner
Johann Georg Erasmus (Sohn des G. C. Erasmus) Nürnberg
Schreiner
Johann Indau Wien Johann Christian Senckeisen Leipzig Marcus Nonnenmacher Prag
Hoftischler Tischler
Hoftischler
Ort/Jahr
Zürich 1550 (Zürich 1579) Ein kunstrych Buch von Zürich o. J. allerley antiquiteten, so zum (um 1560) verstand der Fünff Seulen der Architectur gehören . . . (2. Teil des Säulenbuches) Architectura und AustheiBd. 1 Stuttgart 1593, lung der V seuln . . . Bd. 2 Straßburg 1594 (Nürnberg 1655) Seilen Buch darinnen Köln o. J. (um 1600) derselben Grünt, Theilung, Zieradt, und gantze Volkomenheit vorgebildet wirdt . . . Architectura Von den fünf Köln 1600 Seulen sambt iren Orna(Köln 1610) menten und Zierden . . . (vgl. Taf. 1) Architectura Lehr Seiulen Köln 1615 Bochg. . . (Köln 1630) (Architectur . . .) Seulen-Buch. Oder Gründ- Nürnberg 1667 licher Bericht von (Nürnberg 1672) den Fünff Seulen . . . Gründtliche Darstellung Prag 1677 Der Fünff Seullen Von den Fünff Ordnungen Nürnberg 1678 der Seulen in der Bau Kunst. . . Kurtzer . . . Bericht von Nürnberg o. J. denen in der löblichen (um 1685) Baukunst wohlbekandten und so genandten Fünff Säulen . . . Wiennerisches Architectur- Wien 1686 Kunst-Und Säulen-Buch . . . Leipziger ArchitecturLeipzig o. J. Kunst- und Seulen(um 1700) Buch . . . Der architektonische Tischler oder ArchitecturKunst und Säulenbuch . . .
Nürnberg 1710 2. Aufl. Frankfurt, Leipzig 1751
Standortnachweis der Säulenbücher: Deutsche Staatsbibliothek Berlin, außer S. Cammermeir und J. G. Erasmus: Sächsische Landesbibliothek Dresden, J. Chr. Senckeisen: Univ.-Bibliothek Leipzig, M. Nonnenmacher: Univ.-Bibliothek Jena
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meistern betriebene Kunsttischlerei beeinflussen, sondern hauptsächlich die repräsentative Bauarchitektur. Dasselbe gilt von der Literatur aus der Feder akademisch ausgebildeter Architekten, wie zum Beispiel des Fürstlich Mecklenburgischen Hofarchitekten Charle Philippe Dieussart, der in seinem Theatrum Architecturae Civilis (Güstrow 1679) die Säulenordnungen von sechs frühen italienischen Autoren nebeneinander stellt, oder akademischer Baukunstlehrer, wie des Architektur- und Mathematik-Professors Leonhard Christian Sturm, der das bekannte Werk Nicolai Goldmanns Vollständige Anweisung zu der CivilBau-Kunst (Braunschweig 1699) herausgibt. Die deutschen Säulenbücher sind, wenn man ihren sozialökonomischen Standort fixieren will, einzuordnen in die allgemeine Entwicklung der Produktivkräfte dieser Periode. 8 Ihre spezifische Stellung in diesem Prozeß ergibt sich daraus, daß sie seit ihrem ersten Auftreten ganz und gar auf die handwerkliche Praxis des Kunsthandwerks orientiert sind. Die aktive Beteiligung der in der unmittelbaren Produktion tätigen Handwerker an der Abfassung von Säulenbüchern dürfte nicht wenig zu diesem charakteristischen Praxisbezug beigetragen haben. Damit tritt also für das Kunsthandwerk eine für die praktischen Aufgaben anwendbare Fachliteratur auf (zu der neben den Säulenbüchern die sogenannten Geometrien, Perspektiven, Zieraten- und Kunstbücher gehören). Das bedeutet, daß in diesem gewerblichen Bereich zum ersten Mal auch Fachliteratur als Produktivkraft in Erscheinung tritt. Ihre Funktion wird hier nun vor allem dadurch bestimmt, daß sie bestimmte Fachkenntnisse vermittelt außerhalb der bis dahin allein durch die Zunftmeister gelehrten Kenntnisse von handwerklicher Technologie und Arbeitserfahrung, deren Tradierung noch weitgehend unter dem Zwang lokaler Beschränkung und zünftlerisch gehüteter Produktionsgeheimnisse erfolgten. Das heißt: zunftfreie Verfügbarkeit neuer Kenntnisse in überlokaler, nationaler und internationaler Verbreitung. W i r k u n g s i n t e n t i o n e n der S ä u l e n b ü c h e r
Für welchen Leserkreis diese Literatur bestimmt ist, sagen Autoren und Verleger in den Widmungsvorreden, in den Einführungen oder schon im Titel. So heißt es in Blums Titel (nach der Züricher Ausgabe 1579): „Allen kunstrychen Buwherrn / Werckmeisteren / Steinmetzen / Maleren / Bildhouweren / Goldschmiden / Schreyneren / ouch allen die sich deß cirkels vnd rychtschyts gebrauchend / zu grossem nutz vnd vorteil dienstlich". Bis in die 70er Jahre des 17. Jahrhunderts bleibt es bei der Aufzählung dieser Handwerker, wenn auch die Reihenfolge manchmal wechselt. Der Tischlermeister Krammer gibt in der Überschrift des Vorworts der Architectura seinen Zunftgenossen den Vorrang und nennt die übrigen nur summarisch: „Allen Erbaren Meistern vnd Schreinwerckersgesellen sampt anderer der freyen Kunst zugethanen / wünscht Gabriel Krammer / gluck vnnd heyl". Dieselbe Gruppierung von Handwerkern finden wir auch in den Titeln der Zieratenbücher, Geometrien und Perspektiven. Das Vorbild liefert zweifellos Dürers bekannte Underweysung der messung (1525), wo 8
Vgl. Hans Mottek, Wirtschaftsgeschichte Deutschlands, Bd. 1, Berlin 1957, S. 263 ff.
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es in der Vorrede heißt: „nicht alleyn den maleren / sonder Goldschmiden Bildhaweren Steynmetzen Schreyneren und allen den so sich des mass gebrauchen dienstlich seyn mag . . Demnach sind alle Handwerker angesprochen, die an der Bau- und Innenarchitektur maßgeblichen Anteil haben. Die Maler stehen zu Recht in dieser Reihe, liefern sie doch als Autoren von Zieratenbüchern und Ornamentstichen anderen Handwerkern die Vorlagen für die ornamentale Gestaltung von architekturmäßig gestalteten Fassaden und nutzen andererseits die Ornamentik der Antike in der angewandten Malerei und Graphik, die von Entwürfen für Fassaden repräsentativer Gebäude bis zu Titelkupfern mit dem beliebten Portalmotiv reichen. Auch Goldschmiede waren an dieser Literatur interessiert, da sie für die Gestaltung von Pokalen, Tafelaufsätzen und kirchlich-rituellen Behältern oft auch spezifische Architekturelemente verwendeten. Nach 1640 werden sie jedoch in den Titeln nicht mehr erwähnt. Außer den Handwerkern werden nur die Bauherren, also die Auftraggeber, als Leser noch direkt genannt, aber nur vereinzelt im 16. Jahrhundert. Auf diesen Leserkreis ist der Inhalt der Säulenbücher ausgerichtet. Ihre Wirkungsintentionen geh^n deshalb eindeutig in diese Richtung, wie wir sowohl einzelnen Passagen der Texte wie auch ihrer gesamten Anlage und Ausführung entnehmen können. Worum es im Kern dabei geht, sagt Dürer in der Vorrede seiner Underweysung: „. . . man hat byssher in unsern deutzschen landen / vil geschickter jungen / zu der künst der mallerey gethon / die man an allen grundt unnd alleyn auss einem täglichen brauch gelert hat / sind die selben also im Unverstand wie eyn wylder unbeschnytener bawm auf erwachsen / . . . Das aber solche maier wolgefallen in Jren yrthumben gehabt / ist alleyn ursach gewest / das sie die kunst der messung nit gelernet haben / an die keyn rechter werckmann werden oder seyn kan / Das aber Jr meyster schuld gewest die solche kunst selbs nit gekündt haben / Sie weyl aber die der recht grundt ist aller mallerey / hab jch mir fürgenomen allen künstbegyrigen jungen / eyn anfang zustellen / und ursach zugeben damit sie sich der Messunge zirckels und richtscheyt / underwinden unnd daraus die rechten warheyt erkennen unnd vor äugen sehen mögen / damit sie nit alleyn zu künsten begirig werden / sonder auch zu eynem rechten und grösseren verstant komen mögen . . . " Eindringlich beklagt also Dürer die Beschränktheit zünftlerischer Ausbildung, die gerade das nicht vermittelte, was für die tägliche Arbeit gebraucht wurde; nämlich die elementare Geometrie und Optik, die zur Erfassung der Perspektive erforderlich sind. Und er beklagt unverhohlen den Bildungsmangel der Meister, der am Zurückbleiben hinter den Anforderungen der an italienischen Vorbildern gebildeten Auftraggeber schuld ist. Diesem Mangel abzuhelfen sollte sein Buch dienen, das sich deshalb vor allem an die „jungen" wendet. Damit sind spezielle Bildungs- und Erziehungsaufgaben gestellt, deren gesellschaftliche Notwendigkeit freilich nicht nur für Maler gegeben war, sondern für andere Kunsthandwerker in gleicher Weise und in gleichem Umfang. Denn den steigenden Anforderungen konnte der Zunfthandwerker in dieser Periode nur noch nachkommen, wenn er seine technologischen Kenntnisse, die zu diesem Zeitpunkt ein unbestreitbar hohes Niveau erreicht hatten, durch theoretisches Fachwissen
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ergänzen konnte. Ein solches Wissen in einer für die angesprochenen Schichten verständlichen und praktizierbaren Form zu vermitteln, war die Aufgabe, die sich die Säulenbücher gesetzt hatten. Den K a n o n antiker P r o p o r t i o n e n sehen die A u t o r e n als zeitlos gültig an und tasten ihn nicht an. Die B e m ü h u n g e n sind deshalb stets d a r a u f gerichtet, möglichst einfache und verständliche Anwendungsverfahren der antiken A r c h i t e k t u r - L e h r e zu finden und darzustellen. So motiviert zum Beispiel Wendel Dietterlin das pädagogische Anliegen seiner Architectura (1655) in folgender Weise: „ D a n n in was merckliche vngestalt / vnd deformitet / der stück eins vnd das a n d e r gerahte / gibt vilmahls der Augenschein / d a s auch bey Zurichtung ernanter stück einsen vnd deß a n d e r n (anderer zugehöriger zierden / oder auch anderer Architectischen H a u p t b ä w geschwigen) eine o d e r die a n d e r e art der Säulen / in keine acht g e n o m m e n worden ist. D e m n a c h Ich aber befunden / das solches nicht so viel d e m vnfleiß / oder auch der vnwissenheit zuzuschreiben / als diesem d a s die bericht vnnd vnderricht von rechter P r o p o r t z vnnd Symmetria ( o b wol die einzejt wie die ander in ihrem f u n d a m e n t o vnverruckt bleiben) so verdunckelt vnd schwerer fürgestellt worden seind / d a ß nicht allein andere K u n s t f r e u n d vnd liebhaber sondern auch die Jugend selbs / so dessen notwendig sich gebrauch sollen / d u r c h solche schwere dunckle vnnd verwirrte beschreibung eins theils gar abgeschreckt worden / a n d e r n theils zu I r r t h u m b , vnlust vnd v e r d r u ß gerathen seind. Derowegen ich der Jugend zuvorderst / als auch a n d e r n dieser Kunst begirigen / z u m besten / zu erleichterung / besorgter beschwerlichen m ü h e / a u c h v f f m u n t e r u n g tragenden lusts / diß werck für mich g e n o m m e n . . . " Die hier zum A u s d r u c k gebrachten Intentionen bestimmen n u n weitgehend die gesamte stoffliche Darstellung der Säulenbücher. Sie sind als E l e m e n t a r b ü c h e r einer dekorativen Kunst angelegt, die überall d o r t a n w e n d b a r war, w o nicht n u r Schauseiten von G e b ä u d e n , I n n e n r ä u m e n , D e n k m a l e n , sondern vor allem auch repräsentative Möbel und andere Ausstattungsstücke fassadenartig gegliedert und verziert werden sollten. N a c h d e m manieristischen Prinzip galten die Säulen selbst (ebenso wie Pilaster) als rein dekorative Elemente; tragende F u n k t i o n h a t t e n sie k a u m noch. V o n ihrer Glied e r u n g werden alle G r u n d p r o p o r t i o n e n f ü r die Aufgliederung einer Fassade abgeleitet, wobei nach Vitruvianischer Lehre jede Säulenart d u r c h ein ganz bestimmtes Zahlenverhältnis aller einzelnen Teile zueinander u n d d u r c h spezifische Zierelemente charakterisiert wird. In den Säulenbüchern bilden d e s h a l b die S ä u l e n o r d n u n g e n den wichtigsten Teil des Textes u n d der Tafeln. In stets gleichbleibender Reihenfolge behandeln sie die drei antiken O r d n u n g e n Dórica, Jónica u n d Coríntica sowie die erst in der Neuzeit hinzugefügten Tuscana, die in den Säulenbüchern den antiken O r d n u n g e n vorangestellt wird, und Composita, die an letzter Stelle folgt. Die seit der Mitte des 17. J a h r h u n d e r t s in Deutschland a u f k o m m e n d e gewundene Säule wird gelegentlich in späteren Säulenbüchern als eigene O r d n u n g angefügt. A b g e h a n d e l t wird bei der Darstellung einer O r d n u n g der A u f r i ß der Säule mit P o s t a m e n t und G e b ä l k (bzw. Gesims) sowie ein P r o p o r t i o n s - bzw. Teilungsmaßstab, der sehr detailliert H ö h e und Breite aller Säulenteile angibt, ferner ein Text, m a n c h m a l direkt neben den Riß gesetzt (so bei Blum), meist aber den Tafeln vorgesetzt. Der Text vollzieht den G a n g der K o n s t r u k t i o n im einzelnen und gibt a u ß e r d e m meist eine kurze, a u s der antiken T r a d i t i o n hergeleitete ästhetische Charakteristik der Säulenart mit Hinweisen f ü r Anwendungsmöglichkeiten. Ergänzt werden die O r d n u n g e n in der Regel d u r c h Tafeln mit dekorativen Beispielen f ü r Säulendetails (Kapitelle, Gesimse u. a.) u n d f ü r ausgewählte Architektureinheiten (Portale, Fenster mit R a h m e n , K a m i n e , Epitaphe, Möbel u. a.). Den S ä u l e n o r d n u n g e n wird oft noch eine allgemeine Zeichen- u n d K o n s t r u k t i o n s l e h r e vorangestellt, nach d e m M u s t e r der seit den 30er J a h r e n bis z u m E n d e des 16. J a h r h u n d e r t s viel gedruckten G e o m e t r i e n u n d Perspektiven, wie sie auch Serlio in seiner Regole generali de Architettura 1537 gebracht h a t t e (in der deutschen A u s g a b e von 1608 als 1. Buch von der Geometría, oder rechten Kunst des abmessen in gemein und 2. Buch von der schönen Kunst der Perspectiva). Ebenso hat der V i t r u v - Ü b e r setzer Rivius in seiner eigenen Schrift Bawkunst (Basel 1547) einer G e o m e t r i e f ü r die handwerkliche Praxis breiten Platz eingeräumt. Vor diesen h a t t e aber bereits 1525 Albrecht D ü r e r in der Underweysung der messung eine E i n f ü h r u n g in die darstellende G e o m e t r i e gegeben, die er sich n a c h der Euklidischen Überlieferung und ihren italienischen Interpreten u n t e r weitgehender N u t z u n g d e r mündlich tradierten H a n d w e r k s g e o m e t r i e der mittelalterlichen B a u h ü t t e selbst erarbeitet hatte. 9 W a s die Säu-
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Vgl. M. Steck, Dürers Gestaltlehre der M a t h e m a t i k und der bildenden Künste, Halle 1948.
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lenbücher a u s diesen älteren W e r k e n ü b e r n e h m e n , sind gewöhnlich n u r stark vereinfachte G r u n d regeln, deren Nützlichkeit aber stets besonders betont wird. So sagt G a b r i e l K r a m m e r in gereimter F o r m Von der CEO METRIA : G e o m e t r i s c h e K u n s t vnd Lehr/ Allen Architecten dient sehr. Bringt nutz vnd vortheil allezeit/ R u n d in dem Zirckel vnd Richtscheid. In allweg halt den punct in acht/ Ein Zirckel soll fein scharpff sein gemacht/. L a ß den nicht weichen a u ß d e m Riß/ Kein theilung d u sonst findest gwiß. Rieht dich nach den Figuren schlecht/ A u f f d a ß d u diß erlehrnest recht. . . . D a m i t bieten die Säulenbücher neben den kodifizierten O r n a m e n t - E l e m e n t e n der „ O r d n u n g e n " auch die notwendigsten Hilfsmittel für die rechnerisch-konstruktive A n w e n d u n g dieser Elemente (die sog. Austeilung der O r d n u n g ) u n d die zeichnerische Darstellung (die sog. Visierung). Die teilweise doch recht schwierigen Sachverhalte der Vitruvianischen Architekturlehre einem Leserkreis von H a n d w e r k e r n sprachlich zu veranschaulichen und so verständlich zu machen, d a ß sie in die Praxis handwerklicher A r b e i t s a u f g a b e n umgesetzt werden k o n n t e n , war ein Problem, d a s die Säulenbücher mit bemerkenswertem Geschick gelöst h a b e n . Wie wichtig den H a n d w e r k e r - A u t o r e n die terminologische Seite der Lehre ist, erkennt m a n d a r a n , d a ß sie — besonders bei E r l ä u t e r u n g der G r u n d b e g r i f f e — vielfach ausdrücklich auf die geläufigen F a c h t e r m i n i hinweisen und sie gesondert a u f f ü h r e n . So sagt z u m Beispiel Dietterlin in seiner Architectura (1655): „Voigt erstlichen ein kurtzer Underricht / f ü r die a n g e h e n d e Jugend / wie in diesem meinem geringfügen Werck / ein jedwedere Linien / Vierung vnnd R o n d u n g / s a m p t den N a m e n / an einem G e s i m b s / geheissen / oder genennt w e r d e n . " In I n d a u s Wiener Säulenbuch (1713) heißt es: „ Z u m A n f a n g wird erfordert von d e m j e n i g e n / welcher sich in die Studia der A r c h i t e c t u r - K u n s t begeben will / d a ß er z u m A n f a n g in G o t t e s N a m e n sich befleisse ein G e s i m b s / welches die Glieder der Architectur seyn / zu zeichnen und zu lernen / wie eins und das a n d e r e genennet w i r d . " U n d Senckeisen verbindet (im Leipziger Säulenbuch von 1700) mit einer größeren Tabelle von 71 Begriffen in systematischer O r d n u n g , in der zweispaltig die von Baumeistern gebrauchten A u s d r ü c k e den entsprechenden der Tischler gegenüber gestellt sind, sogar weitergehende Bildungsabsichten: „ U n d will ich . . . alle diejenigen N a h m e n und K u n s t - W ö r t e r / womit ein jedes Glied von den Baumeistern / und d a n n gleich gegen über / wie sie von den H a n d w e r k kern / sonderlich von denen Tischlern / genennet werden / hierher setzen. W o r a u s nicht allein der Nutzen entstehen wird / d a ß wenn Baumeister mit H a n d w e r c k e r n zu t h u n haben / sie e i n a n d e r desto eher verstehen / sondern auch / wenn die letzern in den grossen Büchern (als im G o l d m a n n / in d e m so genannten grossen Vignola / in H e r r n M. Christian Seylers Paralelismo etc.) lesen wollen / sie sich als d a n n besser darein finden k ö n n e n . " Welche wichtige Rolle n u n das V o k a b u l a r in dieser sprachlichen F u n k t i o n spielt, m ö c h t e n wir an einigen Beispielen aus Blums Säulenbuch von 1550 zeigen. F ü r die Hauptteile der Fassade benutzt er postement die W ö r t e r : gesimps, frieß, archatrab (später meist Architrab), sauI mit capitäl und schafft, (später Postament); f ü r deren Details (die späteren Profile der Tischlerei): blatten, stab, käl u n d holkäl, karnieß, faß (von Jasen ' a b s c h r ä g e n ' , hier also 'Schräge'), kärben. Schwächere Profile werden stets d u r c h Diminutiva in schwäbisch-alemannischen F o r m e n gekennzeichnet: blättle u n d blättlin, släble u n d stäblin, karnießle, leistle und lystly, rünßle, mütlin. Die Bezeichnung f ü r die Teile insgesamt ist glider (PI.) oder glidmassen (PI.). D u r c h h o h e Anschaulichkeit fallen besonders die m e t a p h o r i s c h e n Bild u n g e n für reliefartig geformte O r n a m e n t b ä n d e r und E i n z e l o r n a m e n t e a u f : kalbsaugen, kelberzcin, dropffen, schallen, körner, löuber ' A k a n t h u s - B l a t t w e r k des korinthischen Kapitells', schnörckel, wirbel. Dieser W o r t s c h a t z d ü r f t e größtenteils der B a u h ü t t e n t r a d i t i o n e n t s t a m m e n .
Mit diesem starken volkssprachlichen Element gewinnt Blums Säulenbuch einen volkstümlichen Charakter, der für die Rezeption der antiken Architekturlehre in den Kreisen des Zunftbürgertums die besten Grundlagen schuf. Daß Blum
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hiermit eine sprachliche Form gefunden hatte, die den Wirkungsintentionen eines solchen Lehrbuches in dieser Periode voll entsprach, zeigt sich nicht zuletzt darin, daß seine Nachfolger im großen und ganzen (mit Ausnahme der schwäbischalemannischen Diminutiva) bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts daran festhielten. D i e L e h r e v o n d e n f ü n f S ä u l e n im A u s b i l d u n g s s y s t e m d e r T i s c h l e r z ü n f t e
Sobald die in den Säulenbüchern vertretene Architekturlehre in die Praxis der Tischlerwerkstätten Eingang gefunden hatte, konnte es nicht ausbleiben, daß die Zünfte dieser Lehre einen festen Platz im zünftlerischen Ausbildungssystem einräumen mußten, denn ihnen allein oblag die Aufgabe, für die Ausbildung des Nachwuchses zu sorgen. Zu unterscheiden sind dabei die eigentliche Lehre, die in den Händen der Zunftmeister lag und die nur an das gebunden war, was innerhalb einer Zunft als verbindliche Norm galt, und die anschließende Weiterbildung in der praktischen Arbeit bei anderen Meistern in anderen Orten, die gegebenenfalls mit der Aufnahme in die Zunft und Errichtung einer eigenen bzw. Übernahme einer bereits vorhandenen Werkstatt abgeschlossen wurde. Welchen Rang nun die Zünfte der Architektur-Lehre zuweisen, lassen die Zunftordnungen der größeren Städte erkennen, wo unter anderem gefordert wird, daß sich der angehende Meister diese Lehre aneignen und ihre Kenntnis in einem bestimmten Meisterstück nachweisen muß, bevor er in die Zunft aufgenommen wird. Bevor wir auf diese Zunftdokumente näher eingehen, werfen wir einen Blick auf Art und Umfang der Kenntnisse, die sich ein Lehrjunge und junger Tischler aneignen mußte. Für die späte Zeit dieser Entwicklung können wir aus der Beschreibung Christoph Weigels von 1698 stichwortartig deren weit gefächerten Inhalt ermessen, wobei die hervorragende Stellung der „Architektur-Kunst" nicht zu übersehen ist: „Diese Tischler- oder Schreiner-Kunst ist nicht eine von den geringsten/wie sie von manchem gehalten wird. Erstlich muß einer/der sich will einen rechten verständigen Schreiner nennen/die Architectur-Perspectivund Bau-Kunst wohl verstehen/ja er muß auch mehr als ein halber Bildhauer seyn/und in Laub- und Blumwerck wissen zu reißen/so wohl auch in Figuren/ dann man von dergleichen eingelegter Arbeit/von Bildern/Blum- und Laubwerck offt so schön macht/als obs ein künstlicher Mahler verfertigt. So soll auch ein Schreiner ein guter Erfinder seyn: . . ," 10 Hierzu müssen wir gleich einige Einschränkungen machen. Ein solcher Katalog von speziellen Fachkenntnissen hatte niemals allgemeine Gültigkeit. Er traf sicherlich zu für Städte, die im größeren Umfang eine kunsthandwerkliche Tischlerei mit überlokalem Absatz ausgebildet hatten, wie Augsburg, Nürnberg, Basel, Straßburg, Frankfurt am Main, Köln, Hamburg, Danzig, zu denen nach 1650 auch einige Residenzstädte hinzukamen, wo zunächst vor allem feudale Auftraggeber, dann in steigendem Umfang das wohlhabende Handelsbürgertum ihren Bedarf an luxuriösen, repräsentativen Raumausstattungen und Möbeln deckten. Chr. Weigel, Abbildung der gemein-nützlichen Haupt-Stände, Regensburg 1698, S. 432.
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Für die große Masse der übrigen Städte dürfte der U m f a n g der Fachkenntnisse bescheidener und den tatsächlichen handwerklichen Erfordernissen angepaßt gewesen sein, wie sie sich aus den kulturellen Bedürfnissen der jeweiligen Stadtund Landbevölkerung ergaben. Aber auch für die genannten Hauptorte der Kunsttischlerei gab es beachtliche Unterschiede, die in regionalen Traditionslinien begründet waren, sowohl bezüglich der speziellen Funktionalformen der Raumausstattung und des Möbels mit ihren Besonderheiten in Gliederung und Ausführung der Details, als auch in den verschiedenartigen Dekortechniken (Intarsia, Schnitzwerk, Hobelwerk). Und es ist kein Zufall, d a ß der Regensburger Christian Weigel in seinem kurzen Bericht besonders die in Süddeutschland beliebte „eingelegte Arbeit" hervorhebt. D a ß unter diesen Umständen auch das, was ein Lehrjunge lernen konnte und lernen mußte, nach Ort und Zunft — es gab bekanntlich in manchen Orten in zünftlerischer Arbeitsteilung zwei oder sogar mehrere Tischlerzünfte (z. B. in Augsburg) — recht unterschiedlich war, ist verständlich. Dabei dürften die Ziele der Lehre kaum über die Aneignung technischmanueller Fertigkeiten hinausgegangen sein, wie sie für die Tätigkeit des Gesellen in der gewöhnlichen Alltagsarbeit der jeweiligen lokalen Zunft erforderlich waren. Die Architektur-Lehre aber tritt offensichtlich erst am Ende der Lehrzeit in Erscheinung, wenn der Lehrjunge losgesprochen und in die Gesellenschaft aufgenommen wird. U n d das geschieht recht handgreiflich. In dem bekannten Depositionszeremoniell des Hobelns muß sich nach Frieses Ceremonial-Política von 1705 der Junge hinlegen, „da denn einem Gesellen von denen Meistern aufgegeben wird eine Architectonische Seule, welche sie wollen aus ihm zu machen. Solche muß ein Geselle mit einem großen höltzernen Circuí, an dessen einem F u ß ein mit schwartzer Farbe eingenetzter Pinsel steckt, an dem in der Stube liegenden Candidaten aufreisen. Wenn nun der Geselle mit dem Riß fertig ist, so spricht ein Meister: die Seule wäre nicht recht, und sey nichts nütze.Darauff der Geselle die Hand voll R u ß habende, das neuen Gesellens Gesichte überstreichet, und ihn also gantz schwartz machet." 1 1 Zweifellos bedeutet diese Szene die „Austeilung der Säulen-Ordnung", indem sie symbolisch vereinfacht nur die manuelle Geste dieser Arbeit darstellt. Mehr über die Säulen-Ordnungen erfahren wir aus der Hobelpredigt, die zur „Taufe" des neuen Gesellen gehalten wird. Im mittleren Teil enthält sie nämlich die Aufzählung der fünf Ordnungen mit ihren Hauptmerkmalen. Bei Friese lautet ihr Text so : 12 Die erste Seule, Toscana genannt, die uns Tischern wohl bekannt, trägt schwere Last wie eine Mauer, wird verglichen einem groben Bauer. Die andre heist man Dórica, wie ich meld, vergleicht sich einem tapfern Held, der izt soll streiten in dem Feld. 11 F. Friese, Der vornehmsten Künstler und Handwercker Ceremonial-Politica, Leipzig 1705, S. 101. Weitere Belege über das „Rißmachen" in den 30er Jahren bei R. Wisseil, Des alten Handwerks Recht und Gewohnheit, Bd. 2, Berlin 1929, S. 452.
12 F. Friese, a. a. O., S. 107 f.
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Die dritte heist m a n Jonica eben, wird von sieben Theilen z u s a m m e n gegeben, ihre Gestalt und P r o p o r t i o n vergleicht sich einer Weibs-Person. H e r n a c h k o m m t die Corinthiaca frey, die übertrifft die andern drey, die giebt so einen zierlichen Schein, als wie ein zartes Jungfräulein, wird von acht Theilen z u s a m m e n gemacht, wiewohl sie hat eine schöne Pracht. H e r n a c h k o m m t die C o m p o s i t a eben, wird von neuen Theilen z u s a m m e n gegeben; ihre Subtiligkeit zu jeder Frist keinem Menschen zu vergleichen ist; sie hat ihren N a m e n recht e m p f a n g e n von einer ausgestreckten Schlangen. Diese holperigen Verse gehen zum größten Teil wörtlich zurück auf ein Fastelabendspiel des 17. J a h r hunderts, das im Text einer H a m b u r g e r A u f f ü h r u n g von 1696 überliefert ist. 1 -' Die ästhetische Charakteristik der ersten vier S ä u l e n o r d n u n g e n durch den Vergleich mit bestimmten stereotyp gekennzeichneten menschlichen Gestalten hat freilich eine ältere Quelle zur Vorlage. Sie s t a m m t teils wörtlich, teils nur wenig abgewandelt aus Blums Säulenbuch (1550), wo wir, jeweils im ersten Absatz der Beschreibung der S ä u l e n o r d n u n g , f i n d e n : Tuscana „ D i s e erste c o l u m m vergleycht sich einem groben Bauwren / von wegen jrer sterck", Dorica „ D i e a n d e r C o l u m wirt vergleycht einem starcken h e l d e n " , Jonica „ D i e dritte C o l u m wirdt gezogen uff den weybischen cörper einer d a p f f e r e n f r a u w e n " , Corinthia „ D i e vierdte C o l u m / vergleycht sich einer schönen J u n g k f r a u w e n / von wegen jres herlichen ansehens an der reine". Diese a n t h r o p o m o r p h e Charakteristik geht übrigens zurück auf eine aus der Antike überlieferte mythologische Genesis der Säulenformen, die Blum nach Serlio-Vitruv in der Vorrede seines Werks ausführlich wiedergibt und die von späteren A u t o r e n als eine Art historische Einleitung immer wieder kolportiert wird. Deshalb fehlt bei Blum ein Vergleich für die erst in der Neuzeit konzipierte f ü n f t e O r d n u n g , von der es einfach heißt: „ D i e f ü n f f t C o l u m m ist ein z u s a m e n s e t z u n g / oder Vermischung von den anderen seulen zusamen gefügt". So dürfte in der Hobel-Predigt der unverständliche und nicht zu den übrigen passende, auch im Fastelabendspiel noch nicht v o r h a n d e n e Vergleich mit der Schlange eine Z u t a t des P r e d i g t - K o m p i l a t o r s sein. Die Vorstellung der S ä u l e n o r d n u n g e n in dieser Hobelpredigt enthält nun an drei Stellen, bei der Jonica, der Corinthiaca und der Composita, A n g a b e n über eine in Zahlen ausgedrückte G r ö ß e , deren Bedeutung aus d e m Kontext jedoch nicht verständlich ist. Ebenso wie die ästhetische Charakteristik k o m m e n diese Teilungszahlen aus der Blumschen Architekturlehre, deren einfache und e i n p r ä g s a m e Zahlensysteme auf die handwerkliche Praxis zugeschnitten sind. 1 4 Die Zahlen in der Hobelpredigt, die d o r t unvollständig und an falscher Stelle eingesetzt sind, gehören nun sicherlich zu der Zahlenreihe, mit der d a s Verhältnis von Säulenstärke zur Säulenhöhe ausgedrückt wird. Sie lautet in der Reihenfolge der fünf O r d n u n g e n : 6 7 8 9 10, wobei die Zahlen den Multiplikator angeben, mit d e m der untere Säulendurchmesser multipliziert wird, u m die Säulenhöhe (einschließlich S ä u l e n f u ß u n d Kapitell) zu erhalten. G e h t m a n umgekehrt von der H ö h e aus, so geben die Zahlen den Bruchteil an, der den Durchmesser ergibt. Diese einfachste der Blumschen Zahlenreihen f a n d weite Verbreitung, auch d u r c h Säulenbücher anderer A u t o r e n , z. B. K r a m m e r s Architectura (1600). A u c h G e o r g C a s p a r E r a s m u s verwendet sie in seinem Säulenbuch (1667), wo er sie sogar in einem langen „Poetischen V o r t r a g von U r s p r u n g der f ü n f f H a u p t - S e u l e n " als angeblich antikische Weisheit mit unterbringt. A b e r auch m ü n d lich d ü r f t e die Reihe d u r c h die Tischler-Zünfte verbreitet worden sein. D e n n I n d a u , der selbst ein eigenes Zahlensystem für seine S ä u l e n - K o n s t r u k t i o n e n erfindet, bemerkt etwas abfällig in der Vorrede
13 R. Wisseil, a. a. O., Bd. 2, S. 601. 1 4 Vgl. E. F o r s s m a n a. a. O., S. 76 ff.
TAFEL I
REINHARD
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Bild 1. Titel zu Gabiiel Krammers „Architectura", Cöln, um 1610, mit der Darstellung der fünf Säulen und anderer Architekturelemente. Repro: Deutsche Staatsbibliothek Berlin
Säulenbücher
TAFEL III
Bild 3. Titelkupfer der Lübecker Schrift „ D e r A u f z u g der Tischler Gesellen, A n n o 1768. . ." mit A b b i l d u n g des neuen Herbergsschildes. R e p r o : Stadtbibliothek L ü b e c k
TAFEL
II
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B i l d 2. Pingeling, „Abbildung des Aufzuges der Gesellen des 1
. II
REINHARDT
PEESCH,
Säulenbücher
en des Tischler A m b t s in H a m b u r g
N a c h G. J a a c k s , Festzüge in H a m b u r g 1696 — 1913
Säulenbücher
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seines Buchs (1713): „. . die alten Regel sagt, daß durch die Dickung einer Saul die Höhe müsse genommen werden, als von der Tuscana die Dicke 6 Theil hoch, von der Dorica 7, von der Jonica 8, der Corinthia 9, der Composita 10 Theil, . ." Eine gewöhnliche, weit bekannte Faustregel— so stellt sich also dem Wiener Hoftischler Indau an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert der alte Blumsche Proportionssatz dar. In einer deutschen Hobelpredigt von einer Kopenhagener Zunft aus den 30er Jahren des 18. Jahrhunderts finden wir dann eine andere Zahlenreihe, die gleichfalls aus Blums Werk stammt. Aus dem langen Text, der übrigens auch — etwas verballhornt — die Säulencharakteristik im Stile Blums enthält, führen wir hier die betreffenden Stellen an: Tuscana: „von nein Theile zusammen gemacht", Dorica: „acht Theile hat sie zu Theil", Jonica: „kom von 14 Theil", Corinthica: „wird sie von nein Theile ausgetriebt", Composita: keine Zahl angegeben. 15 Die Reihe, die hier gemeint ist, lautet vollständig: 9 8 14 9 13 und hat in der Lehre Blums grundlegende Bedeutung, da sie zur Darstellung des Verhältnisses von Postament- zur Säulenhöhe dient, von dem aus dann weitere Verhältniswerte ermittelt werden. Aber auch andere Autoren fanden mit ihren Lehren gelegentlich Aufnahme in Hobelpredigten, so zum Beispiel der Italiener Barozzi da Vignola, wie wir einer späten Aufzeichnung aus Tübingen von 1770 entnehmen. 1 6 Dort trug ein Geselle als Teil der Predigt einen vollständigen Fassaden-Riß für ein Portal nach Art der Säulenbücher vor. Ihr Anfang lautet: „Also mit Gunst! Großgünstige Meister und wehrteste Mitgesellen, ich soll nach altem Brauch nunmehr den Riß vorstellen, so führ ich diß vor allen ein, das man möcht ein wenig stille seyn, und wen sich unverhofft ein Fehler sollte zeigen, alsdan wird auch die Klag vorbracht. Ein Portal will ich nach Paroci von Viginol anführen und solches mit der Corintischen Ordnung nebst einem beilaster zihren." Dann folgt der eigentliche Riß in Form der Arbeitsbeschreibung, deren Text schon durch die häufig verwendeten schwäbischen Diminutivformen die Umsetzung der italienischen Kunstlehre in das zünftlerische Wissen Tübinger Gesellen bestens bezeugt. Wenn auch von der antikischen Architekturlehre der Säulenbücher bloß geringe Teile, und diese dazu noch verstümmelt und verballhornt, in das Brauchtum der Tischlergesellen eingingen, so sind sie doch das einzige, was im groben Spiel der Deposition dem Jungen überhaupt vom Arbeitsgegenstand der Tischlerei vorgetragen und eingebleut wurde. Der eigentliche Inhalt dieses Spiels liegt also darin, daß hier die Architektur-Lehre als Inbegriff des zünftigen Gesellenlebens dargestellt wird. Auf welche Weise aber der junge Tischler deren praktische Kenntnis erwerben sollte, das blieb ihm selbst überlassen. Von seinem Zunftmeister, der ihn in den Handfertigkeiten und technischen Grundkenntnissen des Handwerks unterwiesen und ihm auch einige ästhetische Faustregeln für die regional üblichen Formen beigebracht hatte, durfte er in der Regel wohl kaum eine theoretische Unterweisung erwarten. Welche Möglichkeiten sich hierfür boten, zeigt eine autobiographische Notiz des Nürnberger Meisters Georg Caspar Erasmus in der Vorrede seines Seulen-Buches von 1667: „Als ich von meiner Jugend auf ein besonderes Gefallen und Belieben zu der Geometria und Architectur-Kunst getragen / ja so viel mir müglich / und ich sonsten neben meinem Handwerck und Beruf Zeit gehabt / mich darinnen geübet und erlustiret/auch durch so genanntes Exercitium den sauern Arbeit-Schweiß/gleichsam abgetrucknet. Darum ich zum öfftern/die fünff Seulen/aus den grössern so genannten Vignola nachgezeichnet/habe aber damals/als ein incipient den Wortverstand/sambt den Modulis und Partibus nicht begreifen mögen; biß ich folgends / zweiffelsohne aus sonderbarer Schickung Gottes / in einer vornehmen Stadt / ohngefehr / einen guten Kunsterfahrnen und bekanten Meister angetroffen / welcher in der Geometria und Architectur wol erfahren / dahero / als er meinen Lust verspüret / er mir aus meinem Traum geholfen / den Irrthum benommen / und das rechte Fundament gewiesen hat / bey welchen ich dann auch folgende fünf Termes gezeichnet und gerissen habe." 15 16
7
C. Nyrop, Haandvcerksskik i Danmark, Kopenhagen 1903, S. 12 f. Ebda, S. 31 f. (s. auch am Schluß des Bandes: Tilföjelser!).
Volkskunde
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Die Art des Selbststudiums, die Erasmus hier beschreibt, dürfte in dieser Periode unter den Gesellen allgemein üblich gewesen sein. Man hat aus irgendeinem bei einem Meister vorhandenen Säulenbuch die Säulenrisse „nachgezeichnet" oder bereits vorhandene Kopien nachgerissen, um die Säulenordnungen zu lernen. Der Zufall wollte es, daß es in diesem Falle der schwer verständliche „Vignola" war. Daß unser Erasmus — wohl auf der Wanderschaft — nun einen „kunsterfahrenen" Meister fand, der ihn in der Architektur-Theorie weiterbilden konnte, war allerdings ein besonders glücklicher Umstand. Im allgemeinen war der Geselle darauf angewiesen, seine Kenntnisse durch praktische Arbeit bei fremden Meistern zu erwerben. So bemerkt Senckeisen in seinem Leipziger Säulenbuch von 1700 (S. 46), bevor er den damals als Muster feinster Möbelkunst berühmten Hamburger Dielenschrank in den technischen Details beschreibt: „Was bey Verfertigung eines solchen Schranckes oder Hamburger Schappes zu observiren / soll mit wenigen angemercket werden / (wiewohl es von manchen vor was Unnöthiges wird geachtet werden /) weil es von vielen selbst kan an Ort und Stelle practiciret werden / indem daß Hamburg so ein weltberühmter Ort ist / da in einem Jahre mehr denn 2 biß 300 Bursche ab und zu reissen und solche [nämlich die Dielenschränke] in zahlreicher Menge / nicht allein zu sehen / sondern auch da zu machen bekommen." Die wandernden Gesellen müssen also die Verfertigung eines Möbels „practiciren", um die Kunsttischlerei nach Hamburger Art zu erlernen. Das heißt, daß in dieser Periode die mündlich-gedächtnismäßige Aneignung von Fachkenntnissen immer noch die allgemeine Regel darstellt. Ziele des Gesellenwanderns waren deshalb die Hauptorte handwerklicher Kunsttischlerei, wie es Senckeisen zum Beispiel für Hamburg ausdrücklich hervorhebt. — Wie aus kleinstädtischer Perspektive und unter dem Zwang dirigistischer Weisung die Auswahl der Wanderorte getroffen wurde, zeigt das süddeutsche Beispiel der Fürstlich Oettingschen Wanderordnung von 1785, durch die „jedem Handwerk die Orte zu besuchen vorgeschrieben, wo es am vollkommensten getrieben wird." 1 7 In einer besonderen „Wander-Tabelle" werden dort für den Schreiner folgende Orte aufgeführt: Neuwied [bei Koblenz: mit der berühmten, bereits nach Art einer Manufaktur betriebenen Werkstätte der Ebenisten Abraham und David Roentgen], Gera, Wien, Berlin, Hamburg, Frankreich. An dieser Liste fallt vor allem auf, daß Augsburg, Nürnberg und Frankfurt a. M., die früher führenden Orte der Kunsttischlerei, hier bereits ausgeschieden sind. In welchem Grade der Tischler die Architektur-Lehre beherrschen mußte, bevor er als Meister das Handwerk selbständig ausüben durfte, erfahren wir aus den Bestimmungen der Zunftordnungen über die Anfertigung des Meisterstücks. Als Probe und Nachweis handwerklichen Könnens wird das Meisterstück im letzten Drittel des 14. Jahrhunderts und im 15. Jahrhundert vereinzelt genannt (München, Danzig, Köln, Lüneburg), setzt sich aber erst im Laufe des 16. Jahrhunderts in den größeren Städten als fachliche Voraussetzung für die Aufnahme in die Zunft durch. 1 8 Nach der Mitte des 16. Jahrhunderts wird dann allgemein das hauptsächliche Stück (neben Tisch, Spielbrett u. a.), das stets in einem repräsentativen Möbel besteht, dadurch näher bestimmt, daß seine Ausführung nach der „Architektur" gefordert wird. So heißt es 1589 in Basel: „ . . . ein gewant Kasten in seiner rechten Proportion und abtheilung, wie solche die Architectur und Art der fünf Seulen bescheidentlich außweisen thut." 1 9 Oder 1607 in Münster:,, . . . ein tresor von 4 füßen breit, unden offen, mit 2 gerunden Säulen, genant Dorica, oben an jeder Seiten mit 2 gerunden säulen, genant Jonica, mit ihren gesimbsen nach Ordnung der Architectur." 2 0 Und rund 80 Jahre später wird in Braunschweig verlangt: „ . . . ein Schapp nach der architectur zu machen von 4 Ellen hoch mit zwey Thüren, es muß aber furniret sein, . . ." 2 1 Statt des Begriffs Architectur führt man in gleicher Bedeutung manchmal einzelne Säulennamen auf oder fordert einfach Säulen oder spricht von künstlicher Austeilung, so z. B. in Frankfurt a. M. 1589: „ . . . einen gewandtkasten mit vier thüren nach künstlicher außtheilung und art deß hanntwercks." 2 2
n J. A. Ortloff, Corpus Juris Opificiarii, Erlangen 1820, S. 419 ff. 18 F. Hellwag, Die Geschichte des Deutschen Tischlerhandwerkes, Berlin 1924, S. 215 ff. 1» Ebda., S. 229. 20 R. Krumbholtz, Die Gewerbe der Stadt Münster bis zum Jahre 1661, Leipzig 1898, S. 444. 21 F. Fuhse, Vom Braunschweiger Tischlerhandwerk, Braunschweig 1925, S. 33 f. 22 F. Hellwag, a. a. O., S. 228.
Säulenbücher
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Gleichzeitig mit dieser ästhetischen Orientierung auf die Säulenortfnung wird das Meisterstück erweitert durch die Anlage eines Risses, für den ebenfalls die Säulenbücher die Vorbilder liefern. Mit einem solchen Riß beginnt die Arbeit am Meisterstück, und erst wenn dieser nach den Regeln der ,.Architektur" für gut befunden worden ist, darf der Stückmeister an die Ausführung des Möbels gehen. Die Bremer Tischler-Ordnung von 1555 ist die erste, die den Riß nennt. 2 3 Manche Ordnungen sagen deutlich, was damit bezweckt wird, so die Augsburger von 1575, wo es heißt: „ . . . ainen Kasten, auß rechter Khunst und Artt, wie er willens ist, denselben zu machen, auffreißen, damit man sehen mege, ob er solcher arbaitt khinde vorsteen oder nit. Er soll auch, solcher Visierung gemäß, den grundt [d. h. Grundriß] darzue gleichfalls aufreyßen." 2 4 Im übrigen ist der Stückmeister verpflichtet, die Arbeit genau so auszuführen, wie der Riß ausweist, ohne fremde Hilfe in Anspruch zu nehmen. Die Frankfurter Ordnung von 1589 erläutert dieses Prinzip: „Eß soll auch kein meister oder gesell einem, der daß meisterstückh macht, an seinen stücken, wie ettwan geschehen, helffen, es sey gleich viel oder wenig zyrath oder wie das namen haben mag, sondern derjenig, der stück macht, soll bey seiner auffgerissener form und maß pleiben und eß selbst mit seinen eigenen handen machen . . ," 2 5 Wenn man später vereinzelt (Basel 1728, Köln 1797) zur Meisterprobe nur noch den Riß, aber kein Möbel mehr verlangt, so hat das ökonomische Gründe, denn die Repräsentationsmöbel, die der angehende Meister gemäß der Zunftordnung anzufertigen hatte, waren oft nur schwer abzusetzen. Welche Säulenbücher den Zünften zur Vorlage dienten, darüber lassen sich die Ordnungen nicht aus. Sofern Maßangaben und Weisung für die Gliederung des Möbels ausführlicher fixiert sind, können wir vergleichend zumindest feststellen, daß offenbar jede Zunft die Architektur-Lehre auf eigene Weise auslegte, sie oft noch vereinfachte und in das lokale Längenmaß-System umsetzte. Von Nürnberg ist das bekannt, wo es in der Ordnung um 1720 heißt: „Es solle aber obgemelter Behälter oder Kasten von Eichen-, Eschen- und Flaterholz gemacht werden und soll die Höhe desselben ganzen corporis sieben Schuch und anderthalben Zoll ohne Kugeln [sein]. Der Fuß oder das unterste Teil daran soll sein ein und einhalb Schuch hoch. Die Columna aber oder das mittlere Corpus soll sein viereinhalb Schuch hoch; das Hauptgesims oder das obere Teil ein anderthalb Zoll, also daß diese drei Hauptglieder gegeneinander proportionirt sein sollen, wie es die corinthische Columna erfordert, da das Postament der dritte und das Hauptgesims der Vierde Teil der Columnenhöhe, die Dicke aber derselben der zehende Teil sein solle." 26 Anhand der Proportion der drei „Hauptglieder" läßt sich nachweisen, daß in diesem Fall aus Wendel Dietterlins Architectura die Ordnung der Corinthia als ursprüngliche Vorlage gedient hat. Die Proportion der „Dicke" stammt aber nicht daher, sondern dürfte eigene Erfindung sein. — Aus der Mainzer Zunft ist ebenfalls ein bestimmtes Säulenbuch als direkte Vorlage nachgewiesen; denn dort wird 1759 bei der Maßausteilung für den Meisterriß eines Schreibtisches auf das zirgerbuch (mundartlich gesprochen: zircherbuch\), das ist das in Z ü r i c h erschienene Säulenbuch von Blum, verwiesen. 27 Die erhaltenen Meisterrisse von Mainz gestatten sogar einen Vergleich mit dem Buch, da sie bis 1780 neben dem Aufriß des Möbels stets die Proportionsmaße in der Art der Säulenbücher, von 1731 bis 1780 sogar als eigenen Säulenriß enthalten. 28 Es sind, wie sich nachprüfen ließ, tatsächlich die Proportionen aus Blums Werk, und zwar die der Corinthia. An diesen Bestimmungen für die handwerkliche Ausbildung hielten die meisten Zünfte im 18. Jahrhundert auch dann noch lange Zeit fest, wenn sie unter den Erfordernissen des wechselnden Zeitgeschmacks von Zeit zu Zeit ihr Meisterstück ändern mußten. So blieb die Mainzer Zunft nach Ausweis der Meisterrisse von 1697 bis 1780 bei der überlieferten Säulenordnung, obwohl man in diesen acht Jahrzehnten zuerst vom Kleiderschrank zum Kabinettschrank, dann zum Schreibschrank (mit herab-
23 V. C. Habicht, Die Meisterzeichnungen der Möbeltischler im Besitze des Gewerbemuseums zu Bremen. Der Cicerone 5 (1915) S. 865. 24 F. Hellwag, a. a. O., S. 194. 25 K. Bücher und B. Schmidt, Frankfurter Amts- und Zunfturkunden, Teil 1, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1914, S. 18. 26 A. Jegel, Alt-Nürnberger Handwerksrecht und seine Beziehungen zu andern, Nürnberg 1965, S. 305. 27 H. Schrohe, Aufsätze und Nachweise zur Mainzer Kunstgeschichte, Mainz 1912, S. 225 f. 28 F. Arens, Meisterrisse und Möbel der Mainzer Schreiner, Mainz 1955.
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