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German Pages 414 Year 1978
LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH IM AUFTRAGE DER GÖRRES-GESELLSCHAFT HERAUSGEGEBEN V O N PROF. DR. H E R M A N N K U N I S C H
NEUE FOLGE / A C H T Z E H N T E R BAND
1977
Das »Literaturwissensdbaftlidie Jahrbuch' wird im Auftrage der Görres-Gesellsdiaft herausgegeben von Professor Dr. Hermann Kunisch, Nürnberger Straße 63, 8000 München 19. Schriftleitung: Professor Dr. Günter Niggl, Löfftzstraße 1, 8000 München 19. Das ,Literaturwissenschaftliche Jahrbuch' erscheint als Jahresband jeweils im Umfang von etwa 20 Bogen. Manuskripte sind an den Herausgeber zu senden. Unverlangt eingesandte Beiträge können nur zurückgesandt werden, wenn Rückporto beigelegt ist. Es wird dringend gebeten, die Manuskripte druckfertig, einseitig in Maschinenschrift einzureichen. Den Verfassern wird ein Merkblatt für die typographische Gestaltung übermittelt. Die Einhaltung der Vorschriften ist notwendig, damit eine einheitliche Ausstattung des ganzen Bandes gewährleistet ist. Besprechungsexemplare von Neuerscheinungen aus dem gesamten Gebiet der europäischen Literaturwissenschaft, einschließlich Werkausgaben, werden an die Adresse der Schriftleitung erbeten. Eine Gewähr für die Besprechung kann nicht übernommen werden. Verlag: Duncker & Humblot, Dietrich-Schäfer-Weg 9, 1000 Berlin 41.
LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH ACHTZEHNTER
BAND
LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH I M AUFTRAGE DER GÖRRES-GESELLSCHAFT H E R A U S G E G E B E N VON H E R M A N N
NEUE FOLGE/ACHTZEHNTER
KUNISCH
BAND
1977
DUNCKER
&
HÜMBLOT
/
B E R L I N
Schriftleitung: Günter Niggl
Alle Rechte, audi die des auszugsweisen Nachdrucks, der photomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1978 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1978 bei Berliner Buchdruckerei Union GmbH., Berlin 61 Printed in Germany ISBN 3 428 04188 7
INHALT
AUFSÄTZE Werner Bergengruen , Genie und Talent. Aus dem Nadilaß mitgeteilt von Charlotte Bergengruen 1 Christoph Gerhardt (Trier), Die Skiapoden in den ,Herzog Ernst'-Dichtungen
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Wilhelm Große (Trier), „Wenn (der Kunstrichter) . . . schreibt, so schreibt er vortrefflich." Anmerkungen zum „aristokratisch-diktatorischen Ton" der poetologischen Prosaschriften Klopstocks und zu seiner poetologischen Odendichtung
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Ernst Loeb (Kingston, Ontario), Tantalus absconditus in Goethes Iphigenie* 105 Werner Struhe (Bochum), Schillers Kallias-Briefe oder über die Objektivität 115 der Schönheit Helene M. Kastinger Riley (New Haven, Connecticut), Notizen über einiges Unveröffentlichtes aus den Beziehungen der Brüder Schlegel zur zeitgenössischen Romantik 133 Lawrence O. Frye (Bloomington, Indiana), Irretrievable Time and the Poems in Tieck's ,Der Runenberg' 147 Detlev W. Schumann (Providence, Rhode Island), Rätsel um Eichendorffs A h nung und Gegenwart*. Spekulationen 173 Ernst Pfeiffer
(Göttingen), Zugang zu Rilke
203
Richard S hep par d (Norwich), Jakob van Hoddis' Literary Remains. A Preliminary Text-critical Analysis and Dating of the Poems 1908 - 1915 plus 19 uncollected poems from the same period 219 Franz H. Link Doolittles
(Freiburg i. Br.), Bild und Mythos in der Dichtung Hilda 271
BERICHTE Hermann Kunisch (München), Natur und Kunst. Aus Anlaß von Wolf gang Sdiadewaldts ,Goethestudien' 309 Ansgar Hillach (Frankfurt a. M.), Die Einholung des Traums in das Leben mittels der Kunst. Über romantische und avantgardistische Esoterik anläßlich Albert Béguins ,Traumwelt und Romantik' 336
Volker Kapp (Trier), Das Problem der „seherischen Dichtung" bei Rilke. Zu Hermann Kunischs Rilke-Buch 345 Kurt Bartsch (Graz), Tendenzen der Horvath-Forschung
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BUCHBESPRECHUNGEN Sprachen der Lyrik. Festschrift für Hugo Friedrich zum 70. Geburtstag. Herausgegeben von Eridi Köhler. (Von Volker Kapp) 383 Karl-Heinz Ludwigy Bertolt Brecht. Philosophische Grundlagen und Implikationen seines Denkens und seiner Dramaturgie. (Von Manfred Stöckler) . . . . 387
Namen- und Sachregister
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GENIE U N D TALENT Ans dem Nachlaß von Werner Bergengruen Mitgeteilt von Charlotte Bergengruen Ich muß gestehen, daß ich mit den Worten „Genie" und „Talent" und mit dem zwischen diesen beiden konstruierten Gegensatz nicht zurechtkomme, und so mag es heute vielen ergehen. Dies legt den Verdacht nahe, wir schleppten uns hier mit abgelebten Dingen, leergewordenen Schalen und Ballast. Es ist gut, von Zeit zu Zeit hergebrachte Worte und Begriffe zu revidieren. Es sind uns hier viele schulmäßige Definitionen überliefert. Zuletzt laufen sie alle darauf hinaus, im Genie eine höchste Schöpferbegabung, sozusagen eine Fähigkeit der Urzeugung zu erblicken, während das Talent als eine ausgezeichnete Geisteskraft gilt, die nur jener letzten Ursprünglichkeit des Genies ermangele. Vielfach wird auch das Talent auf ein bestimmtes Betätigungsfeld verwiesen, während dem Genie ein universalistisches Moment zuerkannt wird. Das Wort Talent, sonst oft in rühmlichem Sinne gebraucht, verfällt einer Diskreditierung, sobald es dem Genie gegenübergestellt wird. Da heißt es etwa, es sei durch sicheren, raschen Überblick, durch Gewandtheit und Leichtigkeit in Ausübung einer Fertigkeit oder Kunst charakterisiert, während das eigentlich Schöpferische ihm fehle. Das Alberne dieser Definition wird sofort deutlich, wenn wir uns all der vielen Künstler erinnern, die niemand als Genies wird bezeichnen wollen, die aber durch ein ihren Schöpfungen anhaftendes Element des Mühevollen, Schwererkämpften dartun, daß von jener ominösen Leichtigkeit, Gewandtheit und Fertigkeit bei ihnen nicht die Rede sein kann. Burckhardt sagt in seinen Betrachtungen über die geschichtlichen Krisen: „Dagegen umspinnt in ganz ruhigen Zeiten das Privatleben mit seinen Interessen und Bequemlichkeiten den zum Schaffen angelegten Geist und raubt ihm die Größe; vollends aber drängen sich die bloßen Talente an die erste Stelle, daran kenntlich, daß ihnen Kunst und Literatur als Spekulationszweige, als Mittel, Aufsehen zu erregen, gelten und daß ihnen die Ausbeutung ihrer Geschicklichkeit keine Beschwerde macht, weil ihnen kein 1 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 18. Bd.
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Werner Bergengruen
Überquellen des Genius im Wege ist. Und oft nicht einmal das Talent." Burckhardt hat also hier lediglich die fatale Erscheinung einer bestimmten Abart des Talents im Auge, für die wir leider kein eigenes Wort besitzen; und vielleicht ist das Fehlen eines solchen Wortes der Grund dafür, daß wir immer noch, wenn auch mit Unbehagen, von Fall zu Fall nach der Bezeichnung Genie greifen, um die Abgrenzung gegenüber dieser Art von Talenten deutlich zu machen, auch dort, wo man besser von echten und unechten Talenten spräche. Etwas Ähnliches wie die Burckhardtsdie Äußerung meint offenbar Geibels Distichon: „Was die Epoche besitzt, das verkündigen hundert Talente, aber der Genius bringt ahnend hervor, was ihr fehlt.", wobei freilich zu bedenken bleibt, daß die Worte „Genie" und „Genius" im Deutschen nicht unbedingt gleichgesetzt zu werden pflegen. Bettina schreibt im ersten Teil von ,Goethes Briefwechsel mit einem Kinde': „ . . . Verstehen, wie der Philister verstehet, der seinen Verstand mit Konsequenz anwendet und es so weit bringt, daß man Talent nicht vom Genie unterscheidet. Talent überzeugt, aber Genie überzeugt nicht: dem, dem es sich mitteilt, gibt es die Ahndung vom Ungemessenen, während Talent eine genaue Grenze absteckt und so, weil es begriffen ist, auch behauptet wird. Das Unendliche im Endlichen, das Genie in jeder Kunst ist Musik." Auf ähnliche Art unterscheidet Jean Paul, der in der Vorschule der Aesthetik sagt: „Das Talent stellet nur Teile dar, das Genie das Ganze des Lebens", und ferner: „Da es kein Bild, keine Wendung, keinen einzelnen Gedanken des Genies gibt, worauf das Talent im höchsten Feuer nicht auch käme — nur auf das Ganze nicht — so lässet sich dieses eine Zeitlang mit jenem verwechseln, ja, das Talent prangt oft als grüner Hügel neben der kahlen Alpe des Genies." Mit diesen großartigen Worten, die dem Talent gerechter werden als eine bloße Herabsetzung es vermöchte, machte Jean Paul eine Unterscheidung von Tief sinn; aber auch sie zeigt zuletzt, daß die große Zahl der möglichen Unterscheidungsmerkmale die sichere Unterscheidung nicht zuläßt. Gutzkow bezeichnet das Talent als Form, das Genie als Stoff. Interessanter als diese Trivialität ist aber seine Bemerkung, das Talent habe darin fast immer einen Vorsprung vor dem Genie, daß jenes ausdauere, dieses oft verpuffe. Diese Äußerung, hinter der die ressentimentale, oft gekränkte Eitelkeit ihres Urhebers sichtbar wird, zeigt deutlich, wie sehr
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sich zur Zeit Gutzkows der Begriff des Genies bereits nach der Seite gewisser äußerlicher Kennzeichen, etwa im Sinne des Auffallenden, Eklatanten und Epatanten verschoben hat, ja, wie fragwürdig er bereits geworden ist. Nichts kann dieser Gutzkowschen Behauptung vom Verpuffen des Genies entgegengesetzter sein als die Auffassung Goethes. Bei Eckermann findet sich unter dem 11. März 1828 die folgende Stelle: „Sie scheinen", versetzte ich, „in diesem Falle Produktivität zu nennen, was man sonst Genie nannte." — „Beides sind aber auch sehr naheliegende Dinge", erwiderte Goethe. „Denn was ist Genie anders als jene produktive Kraft, wodurch Taten entstehen, die vor Gott und in der Natur sich zeigen können und die eben deswegen Folge haben und von Dauer sind? Alle Werke Mozarts sind dieser Art; es liegt in ihnen eine zeugende Kraft, die von Geschlecht zu Geschlecht fortwirket und so bald nicht erschöpft und verzehrt sein dürfte. Von anderen großen Komponisten und Künstlern gilt dasselbe. Wie haben nicht Phidias und Raffael auf nachfolgende Jahrhunderte gewirkt, und wie nicht Dürer und Holbein! — Derjenige, der zuerst die Formen und Verhältnisse der altdeutschen Baukunst erfand, sodaß im Laufe der Zeit ein Straßburger Münster und ein Kölner Dom möglich wurde, war auch ein Genie, denn seine Gedanken haben fortwährend produktive Kraft behalten und wirken bis auf die heutige Stunde. Luther war ein Genie sehr bedeutender Art! Er wirkt nun schon manchen guten Tag, und die Zahl der Tage, wo er in fernen Jahrhunderten aufhören wird, produktiv zu sein, ist nicht abzusehen. Lessing wollte den hohen Titel eines Genies ablehnen; allein seine dauernden Wirkungen zeugen wider ihn selber. Dagegen haben wir in der Literatur andere und zwar bedeutende Namen, die, als sie lebten, für große Genies gehalten wurden, deren Wirken aber mit ihrem Leben endete, und die also weniger waren als sie und andere dachten. Denn, wie gesagt, es gibt kein Genie ohne produktiv fortwirkende Kraft, und ferner, es kommt dabei garnicht auf das Geschäft, die Kunst und das Metier an, das einer treibt, es ist alles dasselbige. Ob einer in der Wissenschaft sich genial erweist, wie Oken und Humboldt, oder im Krieg und der Staatsverwaltung, wie Friedrich, Peter der Große und Napoleon, oder ob einer ein Lied macht, wie Beranger, es ist alles gleich und kommt bloß darauf an, ob der Gedanke, das Aperçu, die Tat lebendig sei und fortzuleben vermöge." Es fällt auf, daß Goethe das Kennzeichen des Genies ausschließlich im über die eigene Zeit dauernden Fortwirken der Leistung erblickt. Das heißt also, er gesteht das Recht zur Verleihung des Genie-Titels nur der Nachwelt zu, an deren Stelle er freilich vorwegnehmend das Wort zu erl*
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greifen sich befugt meint, vielleicht nicht immer zu Recht, wie der Fall Berangers und Lavaters dartut, denn auch diesen hat er ja den Genie-Titel nicht vorenthalten. Im zweiten Buch der Wanderjahre lesen wir: „Man erinnerte an die Notwendigkeit sicherer Grundsätze in anderen Künsten . . . Was uns aber zu strengen Forderungen, zu entschiedenen Gesetzen am meisten berechtigte, ist: daß gerade das Genie, das angeborene Talent sie am ersten begreift, ihnen den willigsten Gehorsam leistet. Nur das Halbvermögen wünschte gern eine beschränkte Besonderheit an die Stelle des unbedingten Ganzen zu setzen und seine falschen Griffe unter Vorwand einer unbezwinglichen Originalität und Selbständigkeit zu beschönigen . . . Mit dem Genie haben wir am liebsten zu- tun: denn dieses wird eben von dem guten Geiste beseelt, bald zu erkennen, was ihm nutz ist. Es begreift, daß Kunst eben darum Kunst heiße, weil sie nicht Natur ist. Es bequemt sich zum Respekt, sogar vor dem, was man konventionell nennen könnte, denn was ist dieses anders, als daß die vorzüglichsten Menschen übereinkamen, das Notwendige, das Unerläßliche für das Beste zu halten; und gereicht es nicht überall zum Glück?" Im Anschluß an diese Äußerungen wird auch hier wieder auf die drei oder schließlich auf die vier Ehrfurchten verwiesen. Der alte Goethe identifiziert also die Begriffe „Genie" und „angeborenes Talent". Die Stelle zeigt deutlich, wie völlig Goethes jugendliche, aus dem Sturm und Drang stammende Genieauffassung ad acta gelegt ist. Was hier Genie heißt, steht in diametralem Gegensatz zu dem, was dereinst darunter verstanden wurde und auch heute noch nachspukt. Die tüchtige, durch Selbstzucht entwickelte und geförderte Begabung wird als Genie dem angeborenen Talent gleichgesetzt und dem originalitätssüchtigen Geniewesen gegenübergestellt; ja, dieses, das jedes Maß und jede Regel in sich selbst finden will, wird geradezu als ein seine beschränkte Besonderheit durchsetzenwollendes Halbvermögen bezeichnet. Das Wort Talent hat Goethe immer im höchsten Sinne gebraucht. Wir erinnern uns daran, daß es ursprünglich eine Gewichts- und Münzeinheit bedeutete, und wenn wir an jenes neutestamentliche Diktum denken, dann werden wir schon in dem bloßen Wort die Aufforderung entdecken, es möge ein jeder mit seinem Pfunde wuchern. Von sich selbst spricht Goethe als von einem Talent, aber das tut er keineswegs aus affektierter Bescheidenheit, denn nur die Lumpe sind ja bescheiden. Wenn er in einem Gedicht sagt: „Da Gott mir aber Talent gezollt, hat er mir viel vertraut", so klingt auch hier die Erinnerung an das Bibelwort vom anvertrauten und zum Wucher verpflichtenden Pfunde an. Die Unterscheidung zwischen
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Genie und Talent im uns geläufigen Sinne macht er nicht, wohl aber hält er seinen Begriff des Dämonischen bereit, um in entsprechenden Fällen den Begriff des Talentes nach der Seite des Genialischen hin verstärkend zu ergänzen. Vielleicht werden auch wir Goethe gerechter, wenn wir nicht sagen: er war ein Genie, sondern: er war eine Natur! Oder man wäre versucht, es auf die Formel zu bringen: der junge Goethe war ein Genie, der ganze Goethe aber war eine Natur. Die Jean Paul'sche Unterscheidung deutet bereits etwas an, was bei der Goetheschen vollends merklich wird. Goethe nämlich legt den Nachdruck nicht auf die Beschaffenheit, nicht auf das Sein, sondern auf die Leistung, die Hervorbringung. Der von Goethe so geschätzte und nicht etwa auf eine Sphäre braver Subalternität eingeschränkte Begriff des „Tüchtigen", — in welchem, an die virtus der Römer gemahnend, noch die Worte „taugen" und „Tugend" mitklingen, — will sich mit dem Genialen, dem Genialischen nicht vertragen. Für Goethe müßte zum Genie eine allerhöchste, eine vollkommene Gesundheit und Ganzheit gehören, mag diese auch nicht geschenkt, sondern in mühevollem Siege über die kränklichen Wesenszüge errungen sein. Goethe würde es kategorisch ablehnen, einen Menschen als Genie zu bezeichnen, der, im Besitz genialer Gaben, aus Gründen seelischer Labilität oder sonst krankhafter Disposition, nicht dazu gelangt wäre, diesen Gaben entsprechend Leistungen hervorzustellen. Ja, eine „geniale" Unfähigkeit zur Selbstdisziplinierung würde ihm auch die größten Gaben verdächtig machen. So ist es verständlich, wenn Goethe die Worte Genie und Talent fast synonym braucht und allenfalls bisweilen einen graduellen Unterschied zwischen beiden Begriffen zuläßt. Er berührt sich hierin mit den Franzosen. Diese kennen einen Unterschied zwischen Genie und Talent nicht, ebensowenig wie zwischen Kultur und Zivilisation. Das Wort Genie meint bei ihnen unter Umständen nur einen gesteigerten Esprit, ohne jeden Beiklang einer dämonischen Note. Der neuzeitliche Geniekultus ist vorwiegend eine deutsche Erscheinung, zu der es einige wenige englische Parallelen gibt. Er wurzelt im deutschen Sturm und Drang, und vielleicht haben wir es hier mit einem jener deutschen Irrtümer zu tun, die seit der Reformation unser nationales Leben so vielfach beherrscht haben. Das Wort Genie gebrauchen wir noch. Aber in seiner Anwendung findet sich, obwohl offiziell den alten Definitionen noch Geltung zugesprochen wird, eine gänzliche Unsicherheit, und als fühle man das Unzulängliche der Erklärungen, so hat der Sprachgebrauch, vielleicht auf Nebendinge allzustarke Akzente setzend, längst die rezeptmäßigen Anweisungen modifiziert. Wir verleihen den Genie-Titel leicht in einem abgewandelten, schwer
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und selten in seinem eigentlichen Sinne. Wir haben eine Scheu, das Prädikat an Mitlebende zu vergeben, und doch scheint das nicht nur in einem, wirklichen oder angenommenen, Mangel an schöpferischen Begabungen seine Ursache zu haben. Für manche war Nietzsche das letzte Genie, für andere Stefan George, der übrigens von seinen Jüngern selten als Genie bezeichnet wurde, da er ja als eine Inkarnation von Gottheiten oberhalb solcher, immerhin menschlicher, Titulaturen stand. Sonst aber sprechen wir von einem Kneip-, Sauf-, Sumpf-, Pumpgenie, auch wohl von einem „verkommenen" Genie, worunter man nichts anderes versteht als einen heruntergekommenen Menschen von einigen geistigen Gaben oder doch Ambitionen. Der Ausdruck „jugendliches Genie" wird fast nur noch ironisch angewandt. Einen einzelnen Einfall nennen wir allenfalls noch genial; ja, wir sprechen (das heißt, nicht gerade wir, aber die Leute um uns her) sogar vom genialen Erfinder einer Flugzeugverbesserung. Abseits hiervon brauchen wir das Eigenschaftswort mit aller Selbstverständlichkeit im Sinne von konfus, zerstreut, schlampig, vergeßlich, lebensuntüchtig, (wobei freilich nicht außer Acht gelassen werden soll, daß sich die Adjektiva genial und genialisch vom eigentlichen Geniebegriff schon vor Zeiten abgelöst haben). Dies alles zeigt doch, daß für den heutigen Menschen das Wort Genie nicht mehr seine alte Gültigkeit und Würde besitzt. Es ist also selber von jener Herabwertung erfaßt worden, die zu seinen Gunsten das Wort Talent hatte erleiden müssen. Diese Herabwertung ist das eine beachtenswürdige Moment. Das zweite ist die Fraglichkeit der Definitionen, die Ungewißheit der Kriterien, zu der sich die Ungewißheit ihrer Anwendung gesellt. Nirgends ist eine Übereinkunft des Urteils. Die sprichwörtlichen Redensarten „das Genie ist der Fleiß" — sie soll auf Lessing zurückgehen, — meint doch offenbar nicht das Genie, sondern die hohe Begabung schlechthin. Schopenhauer hat noch Genie mit Objektivität gleichgesetzt, das heißt: mit der so seltenen Fähigkeit bevorzugter Menschen, sich zeitweilig von allem Subjektiven, Willensmäßigen und Privaten freizumachen und solchermaßen eine ungetrübte Welt in sich aufzunehmen und widerzustrahlen. Demgegenüber neigt die Mehrzahl der Menschen dazu, dem Genie das Privileg des alleräußersten Subjektivismus zuzuerkennen. Gottfried Keller sagte von Scherenberg, einem heutzutage nur noch wenigen Älteren bekannten Lobsinger preußischer Schlachten und Siege, er sei ein Genie, aber ein alter unwissender Hanswurst, der den Mangel an Selbstbeaufsichtigungs- und Bildungsfähigkeit durch allerlei Charlatanerie
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zu verdecken suche. Es ist klar, daß es sich bei einer solchen Äußerung nicht mehr um den Geniebegriff von einst, nicht um den Geniebegriff der herkömmlichen Terminologie handeln kann. Der eine empfindet das Genie als eine graduelle Steigerung des Talents, aber nicht als etwas von ihm Wesensverschiedenes. Untalentierte Literarhistoriker sagen immer noch abschätzig, der und der sei ein bloßes Talent gewesen. Und der großen Menge unserer Zeitgenossen, — aber auf diese große Menge kommt es wohl nicht an, — erscheint doch, allem gelegentlichen Stutzen und auch allen Einwänden Nachdenklicherer zum Trotz, das Genie nicht als ein Komparativ oder Superlativ des Talentes, sondern als etwas unter ganz anderen Gesetzen Stehendes, gewissermaßen Außermenschliches oder Übermenschliches, das sich rätselhaft in menschliche Zonen verirrt habe. Damit wären wir wieder beim Dämonischen angelangt, das uns nicht recht weiter bringt und vielleicht besser durch den Begriff des Naturhaften zu ersetzen wäre, wobei man freilich zwischen großen und reinen Naturen zu unterscheiden hätte. Zum Genie scheint es zu gehören, daß etwas Nachtwandlerisch-Geheimnisvolles aus ihm laut wird, etwas von dem, was Goethe als inkalkulabel bezeichnet. Dies Inkalkulable beherrscht fast jede Zeile des Novalis. Wer aber nennt ihn ein Genie? Was rechnet weiter unter die Kennzeichen? Vielleicht noch am ehesten ein Überwiegen des schöpferischen über das künstlerische Vermögen. Aber müßte nicht eigentlich das Genie dort zu erblicken sein, wo beide Elemente sich vollkommen die Wage hielten? Merkwürdig ist auch, daß dem Begriff des Genies etwas Jugendliches anzuhaften scheint. Von alten Genies ist selten die Rede. Ja, wir sträuben uns, dem altgewordenen genialen Menschen den Genie-Titel zu belassen. Offenbar hängt das damit zusammen, daß wir etwas Chaotisches, Brausendes, Gärendes, Problematisches, wie es der Jugend eignet, auch als Genie gehörig empfinden. Rechnet dazu nicht auch eine gewisse elementare, unbekümmerte Lautheit des Sich-in-Szene-Setzens? Ein gewisser Dämonismus auch des äußeren Gehabens, der Lebensgebarung, mindestens aber der Schicksalsstruktur? Und ist das der Grund, warum wir dem an Weisheit und Gelassenheit reichgewordenen Greise den einstmals verliehenen Genie-Titel stillschweigend wieder aberkennen? Ja, vielen mag als genial in der Tat der Mensch gelten, der, sieht man genauer zu, aus einem genialischen Jugendzustande nie herausgefunden hat. Dergleichen wäre geeignet, alles auf ein falsches Geleis geraten zu lassen, indem nämlich zuletzt in äußeren Kennzeichen das Charakteristikum des
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Genies gesucht werden könnte. Dies Äußere und Innere verknüpft sich in der Note des ewigen Ungenügens, der Nie-Saturiertheit, in einem Element des Interessanten und Pittoresken, auch wohl des Fragmentarischen, ja, des Zweideutigen, des sittlich Fragwürdigen, und gar in einer Beimischung des Kranken. Spricht aber nicht zugleich in uns eine unüberhörbare Stimme zugunsten der Auffassung, gerade das Genie müsse der einheitliche Mensch sein, der Mensch der höchsten, aber im Gleichgewicht befindlichen Kräfte? Ja, um einmal ohne Scheu dies suspekt gewordenen, allzu sehr nach Glätte und Akademismus schmeckende Wort zu brauchen: der Mensch der Harmonie? Manche haben auch die Vorstellung, zum Genie gehöre etwas Gewalttätiges. Dieser Gedanke stammt wohl geradewegs aus der Sturm- und Drang-Zeit; übrigens war der Titel eines Genies oder Originalgenies damals am wohlfeilsten zu haben. In diesem Gedanken scheint schon etwas vom künftigen Übermenschen- und Herrenmenschentum vorgebildet. In allen solchen Auffassungen handelt es sich nicht so sehr um die Antithese von Genie und Talent; eher schon um die Antithese von Genie und Durchschnittsmensch. Sind Ursprünglichkeit und Unmittelbarkeit die Zeichen des Genies? Aber wer wird Eichendorff oder Mörike diese Eigenschaften absprechen wollen? Und doch wird man sich scheuen, sie Genies zu nennen. Wiederum geschähe, das fühlen wir deutlich, mit der Bezeichnung Talent, — in dem Sinne, den die Definitoren diesem Wort gegeben haben, — ihnen ein Unrecht. Eher wird man bereit sein, Kleist unter die Genies einzureihen. Er selbst rechnet sich einmal zu den halben Talenten, die vom Teufel stammen, während die ganzen Talente von Gott gegeben würden; übrigens eine Aussage, der eine wenigstens annähernde Gleichsetzung von Genie und Talent zu Grunde zu liegen scheint. Aber ist Kleist etwa an ursprünglicher Schöpferkraft Eichendorff oder Mörike überlegen gewesen? Freilich hatte er im Gegensatz zu ihnen die tragische Zerrissenheit, das Preisgegebensein gegenüber dem Dämon. Doch dem Dämon war auch Lenau ausgeliefert, der wohl nie als Genie empfunden oder bezeichnet worden ist. Von Clemens Brentano wird man sagen, er habe geniale oder genialische Züge. Aber erklärt man ihn für ein Genie? Oder Jean Paul, der doch im Vergleich zu Kleist zweifellos der größere ist? Wie steht es mit Stifter, Grillparzer, Hebbel? Und wie in anderen Künsten? Michelangelo, Lionardo, Rembrandt gelten als Genies. Schon bei Dürer stutzt man, nicht zu reden von Holbein, Raffael, Tizian, Goya, den
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großen Niederländern. Mozart und Beethoven werden als Genies betrachtet. Selten nennt man Bach so. Will man ihn als „Talent" klassifizieren und deklassieren? Auf die Fragwürdigkeit des Geniebegriffs fällt auch ein Licht von Richard Wagner aus. Woran liegt es, daß wir mit dem überlieferten Geniebegriff nicht mehr ins Gleiche kommen? Worauf ist seine Erschlaffung zurückzuführen? Man könnte versucht sein, hier eine Wirkung der materialistisch-sozialistischen Weltbetrachtung und Geschichtsschreibung zu erblicken. In der Tat konnte deren Auffassung des Menschen als eines kollektiv gebundenen Wesens, eines Massenbestandteils, auch seine Kulmination im Genie nicht unangetastet lassen. Aber andererseits hat gerade diese nivellierende Betrachtungsart zu Reaktionserscheinungen gegenteiligen Charakters geführt, wie das beispielsweise die ungeheure Vorliebe dartut, die sich etwa zu Beginn der zwanziger Jahre der Biographie und dem biographischen Roman zuwandte und noch heute nicht gewichen ist. Je geräuschvoller man den Menschen für ein bloßes Produkt materieller und soziologischer Bedingungen erklärte, um so mehr wuchs das Verlangen, sich über die eigene Gebundenheit zu erheben und große Persönlichkeiten, die solcher Bedingtheiten zu spotten schienen, auf sich wirken zu lassen, und sei es nur, weil man innerhalb der eigenen Gedrücktheit tröstlich erfahren wollte, welches Aufschwunges das herabgewürdigte, das dethronisierte Individuum fähig sei. Ja, auch die Konzeption und der spätere Kultus des Übermenschen mag bereits eine Reaktion auf die Nivellierungstendenzen des Industrialisierungszeitalters gewesen sein. Ferner scheint es mir, daß es nicht so sehr die von marxistischen Einflüssen bestimmte Masse ist, sondern daß vornehmlich wir Individualisten es sind, denen der alte Geniebegriff verdächtig wurde. Was hier tatsächlich am Werke ist, das ist das Verlangen nach einem neuen Menschenbilde. Die Anthropologie unserer Zeit, noch von der Aufklärung und vom sogenannten deutschen Idealismus her genährt, hat ihren Schiffbruch erfahren. Die Auflösung des von ihr festgehaltenen Menschenbildes, durch Generationen vorbereitet, ist heute schauerlich offenbar geworden. Seit langem spürten wir, daß es mit diesem Menschenbilde seine Richtigkeit nicht mehr hatte. Darum erhoben es die einen justament zu den Sternen, die anderen begannen das überlieferte Bild zu prüfen, es an außerhalb seiner liegenden Maßen zu messen, es brüchig zu finden und nach einer neuen Konzeption Ausschau zu halten. Die Antike und das Mittelalter haben Begriff und Kultus des Genies in unserem Sinne nicht gekannt. Für sie gab es den großen Mann. Dies war
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derjenige, der die Grenzen des Menschlichen ausfüllte, vielleicht sie erweiterte, nicht aber sprengte. Denn dies Sprengen des Umfanges deutete die Dissonanz an, und der Zerrissene, der an der höchsten Ganzheit nicht Teilhabende konnte diesen Epochen nicht ein großer Mann sein. Die Renaissance hat den Geniebegriff vorbereitet, die Sturm- und Drangperiode seine moderne Ausprägung in Erscheinung gesetzt. Der Geniebegriff des achtzehnten Jahrhunderts wurde, nicht zuletzt unter dem Einfluß Kants, im Wesentlichen auf den Künstler, speziell den Dichter, angewandt, strahlte dann aber auf benachbarte und entferntere Distrikte hinüber. Es entstand der Zwiespalt zwischen „Genie haben" und „ein Genie sein". Der Ausweis durch die Leistung wurde nicht mehr verlangt. Der geniale Mensch erschien als ein Versprechen, das, entgegen der Forderung des alten Goethe, nicht unbedingt innerhalb des empirischen Raumes eingelöst zu werden brauchte. Nicht seine Leistung, sein bloßes Vorhandensein schien den Durchschnittsmenschen bei allem Ärgernis, das sie an ihm nahmen, wichtig. Potentiell konnte da jeder ein Ausnahmemensch sein oder doch dieses und jenes von den dem Ausnahmemenschen zuerkannten Prärogativen sich zu nutze machen. In diesem Sinne mag Heinse gewirkt haben, der das schrankenlose Sichausleben des Genies weniger als Recht denn als sittliches Gebot proklamierte und damit nicht so sehr Nietzsche als vielmehr den um Nietzsche aufgekommenen Mißverständnissen den Weg bereitete. Im Kultus des Genies steckt etwas von der Vergottung des Menschen, etwas Hybrides, und so scheint der Geniebegriff vorzugsweise in Zeiten heimisch, denen der Gedanke einer auf einen ausstrahlenden Mittelpunkt gerichteten Lebensordnung verdunkelt oder verloren gegangen ist. Das Genie erscheint als dem Geltungsbereich der Gesetzlichkeiten enthoben und nur den eigenen Gesetzen Untertan. In ihm kulminiert der Mensch, der das Maß aller Dinge zu sein als sein Recht in Anspruch nimmt. Der Geniebegriff glorifiziert die prometheische Empörung, er setzt die Autonomie des Individuums voraus, er vernichtet die objektive zugunsten der subjektiven Welt. So entfaltete und verklärte er sich nicht in Zeiten eines klaren und sicheren geistigen Besitzes, sondern in den Epochen der Auflösungen und Umgestaltungen. Zeiten wie die unseren verlangt es nicht mehr nach Titanen; und doch möchte ich das Schwinden dieses Verlangens nicht mit einem bloßen Katzenjammer erklärt sehen, denn die neue Umwertung der Werte hat sich ja von langer Hand her angekündigt und vorbereitet; ja, sie mag bereits am Werke gewesen sein, bevor Nietzsche sein Wort von der Umwertung der Werte ausgesprochen hatte, — so gering ist im geistigen Räume die Bedeutung des kalendarisch fixierbaren zeitlichen Ablaufes.
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In jenem iieuen Menschenbilde, dessen Heraufsteigen wir mitzuerleben meinen, muß nicht Raum sein für das Genie, sondern für den großen, der Schöpfung nicht entwachsenen, sondern ihr bis in die letzten Tiefen, ja, bis in die letzten Abgründe inkorporierten Menschen.
DIE SKIAPODEN I N D E N ,HERZOG E R N S T - D I C H T U N G E N V o n Christoph Gerhardt
Und das schmerzt midi wahrhaftig tief. Er war kein ersetzlicher Toter, wie ein Diener. Er war kein schwer ersetzlicher Toter, wie ein Sohn. Er war ein unersetzlicher Toter. Ihn finde ich nie wieder. Auf der ganzen Welt nicht mehr. Er war mein einziger Sciopode . . . Du warst ein Teil von mir, mit dir habe idi gerechnet wie mit einem Hut oder Finger. Du hast mir, wenn die Sonne niederstach wie am heutigen Tag, hier vor Nürnberg, Schatten gegeben. Ein Schirm ist der Knecht dem Herrn und Schatten gegen brennende Gefahr. Oh, du wirst von Wolke zu Wolke springen, dir wird ein großer Flügel wachsen, und du darfst den Heiligen Schatten schenken... (Peter Hacks, Das Volksbuch vom Herzog Ernst, Dritte Abteilung: Der Tod des Sciopoden)
I I n der ,Civitas dei' stellt Augustin die Frage utrum ex filiis Noe uel potius ex illo uno homine, unde etiam ipsi extiterunt, propagata esse credendum sit quaedam monstrosa hominum genera, quae gentium narrat historiaf 1 M i t der darauf folgenden Aufzählung verschiedener genera hominum monstrosa und Augustins „ w i t h cunning ingenuity" 2 gegebener A n t w o r t konnte das christliche Mittelalter dieses geographisch-ethnographische heidnische Erbe übernehmen, nachdem es m i t der A u t o r i t ä t der Bibel i n Einklang gebracht worden w a r 8 . I n dieser von Augustin aufgeführten und ähnlicher Form haben die „Wunder des Ostens" das gesamte Mittelalter hin1 ed. B. Dombart und A. Kalb, Leipzig 41928/29, X V I , 8. R. Wittkower, Marvels of the East. A Study in the History of Monsters, Journal of the Warburg and Courtauld Inst. 5 (1942), S. 159- 197, hier S. 167. Seiner erklärten Absicht (S. 169) nach behandelt Wittkower das Mittelalter nur recht summarisch. 3 Wittkower [Anm.2], S. 167; vgl. H . Kolb, Der Hirsch, der Schlangen frißt. Bemerkungen zum Verhältnis von Naturkunde und Theologie in der mittelalterlichen Literatur, in: Mediaevalia literaria. Festschrift für H . de Boor, München 1971, S. 583 -610, hier S. 586. 2
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durch und bis weit i n die Neuzeit hinein die Gelehrten und Laien gelockt und beschäftigt: „ A n d of the Cannibals, that each other eat; The A n t h r o pophagi, and men whose heads D o grow beneth their shoulders: this to hear W o u l d Desdemona seriously incline" (Shakespeare, ,Othello' 1,3, V . 143 ff.). I n einer Zeit, i n der Listen angefertigt wurden m i t Berechnungen, wieviele Tagesreisen das irdische Paradies von Gallien entfernt liegt 4 , und später i n der Zeit der Jerusalempilgerfahrten, Chinareisen und Mongolenmission konnten die Anrainervölker dieser Gegend m i t größtem Interesse verschiedenster Kreise rechnen. I n den Enzyklopädien, i n naturwissenschaftlichen, kosmographischen Werken, i n Weltchroniken, Reiseberichten und Weltkarten, den „Inventaren der sichtbaren Schöpfung" 5 , führen die Wunderwesen, und unter ihnen die Skiapoden 6 , i n der Nähe des irdischen Paradieses meist ein friedliches, von allen gesellschaftlichen und materiellen Veränderungen und Umbrüchen freies und unabhängiges Dasein und haben i n dem „idealen Staat Indien", für den die so verbreiteten Bezeichnungen „Fabelweit", „Märchenwelt" u. ä. nicht recht angemessen sind, ihren literarischen, zwei Jahrtausende überdauernden Existenzbereich gefunden, i n dem ihnen ein Leser immer wieder aufs Neue begegnen konnte 7 . 4 E. v. Dobschütz, Wo suchen die Menschen das Paradies, in: Fs. z. Jahrhundertfeier der Universität zu Breslau, im Namen d. Gesellsch. f. Volkskunde hsg. v. Th. Siebs (Mitteilungen d. schles. Ges. f. Volkskde 13/14), Breslau 1911, S. 246 ff., das Itinerar S. 249 f. Vgl. auch L.-I. Ringbom, Gralstempel und Paradies. Beziehungen zwischen Iran und Europa im Mittelalter (Kgl. Vitterhets Hist. odi Antikvitets Akademiens Handlingar 73), Stockholm 1951, S. 251 ff. ,Das irdische Paradies. Die mittelalterliche Erdkunde.' F. Pfister, Von den Wundern des Morgenlandes, in: Kleine Schriften zum Alexanderroman, hsg. v. R. Merkelbad) (Beitr. z. klass. Philol. 61), Meisenheim am Glan 1976, S. 120 - 142, hier S. 138 f. 6 Anna-Dorothee v. den Brincken, „ . . . ut describeretur universus orbis". Zur Universalkartographie des Mittelalters, in: Methoden in Wissenschaft und Kunst des Mittelalters (Miscellanea Mediaevalia 7), Berlin 1970, S. 249-278, hier S. 278. Auf der Tafel 1 (Londoner Psalterkarte aus der 2. Hälfte des 13. Jhs.) ist leider nicht ganz genau zu erkennen, ob unter den Monstern im Süden Afrikas auch ein Skiapode (oder monocolus) ist; doch scheint ein dem auf der Hereforder Karte (s. Anm. 25) ähnlicher darunter zu sein. 6 Ich benütze einheitlich diese Namensform, auch dann, wenn sie der Sache nach — wie z. B. bei Odo von Magdeburg — nicht immer ganz korrekt ist. 7 Vgl. R. A. Wisbey, Wunder des Ostens in der ,Wiener Genesis' und in Wolframs ,Parzival', in: Studien zur frühmhd. Literatur. Cambridger Colloquium 1971, Berlin 1974, S. 180-214 mit umfassenden Literaturangaben. Vgl. darüber hinaus den Artikel „Fabelwesen" im Reallex. z. dt. Kunstgesdi. V I , München 1973, Sp. 739 - 816 v. Salome Zajadacz-Hastenrath [ = R D K ] , in dem die Fabelwesen alphabetisch verzeichnet sind. Uber die Wünsche und Sehnsüchte, die mit Indien als dem „gelobten Land" verbunden wurden, vgl. K . Zatloukal, India — Ein idealer Staat im Jüngeren Titurel', in: Strukturen und Interpretationen, Fs. B. Horacek z. 60. Geb. (Philologia Germanica 1), Wien/Stuttgart 1974, S. 401 -445, bes. S. 425 Anm. 67, 428 ff.; H . Mode, Fabeltiere und Dämonen. Die phantastische Welt der Mischwesen, 2 Leipzig 1977, S. 212 ff. ,Reisen in die Fabelländer', S. 221 über die Skiapoden.
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I m engeren Bereich der volkssprachlichen erzählenden Unterhaltungsliteratur haben dagegen die „Wunder des Ostens" i m Wesentlichen nur i n den Alexanderstoff Eingang gefunden 8 , sieht man einmal von den zahlreichen Darstellungen der „häßlichen Menschen" ab, die i n vielen Details den Wundervölkerschaften verpflichtet sind 9 . I m Gegensatz zum ,Herzog Ernst' ( = H E ) 1 0 , i n dem nur sechs verschiedene Wundervölkerschaften auftreten, die alle Isidorschem Sprachgebrauch gemäß zum genus humanuni zählen und somit auch an der Erlösung Teil haben k ö n n e n 1 0 a , spielen i m Alexanderroman darüber hinaus seltsame und schreckenserregende Tiere sowie wunderbare Bäume eine große Rolle. Was 8 Vgl. J. Brummack, Die Darstellung des Orients in den deutschen Alexandergeschichten des Mittelalters (Philolog. Studien und Quellen 29), Berlin 1966, S. 115 ff. Abbildungen von verschiedenen Wunderwesen aus der Alexandertradition bei D. J. A. Ross, Illustrated Medieval Alexander-Books in Germany and the Netherlands. A Study in Comparative Iconography (Publications of the Modern Humanities Research Association 3), Cambridge 1971, s. Index s. v. Monstrous races, S. 201. Vgl. auch J. Strzygowski, Der Bildkreis des griechischen Physiologus, des Kosmas Indikopleustes und Oktateudi (Byzant. Archiv 2), Leipzig 1899, Nachdruck Groningen 1969, S. 109. Es sei hier noch angefügt, daß W. Fränger, Hieronymus Bosch. Das tausendjährige Reich. Grundzüge einer Auslegung, Coburg 1947, S. 54-58 in Hartliebs Alexanderbudi „die eigentliche Quelle der Tropen wunder" (S. 56) sieht, die Bosch auf dem linken Flügel des Triptychons »Garten der Lüste' dargestellt hat. 9 S. R. A. Wisbey, Die Darstellung des Häßlichen im Hoch- und Spätmittelalter, in: Deutsche Literatur des späten Mittelalters. Hamburger Colloquium 1973, Berlin 1975, S. 9 - 3 4 . Herzog Ernst [A, B, F, G], hsg. von K. Bartsch, Wien 1869, Nachdruck Hildesheim 1969; Herzog Ernst [ D ] , hsg. v. F. H . von der Hagen, in: Deutsche Gedichte des Mittelalters I, Berlin 1808; Herzog Ernst [C], ed. M. Haupt, ZfdA 7 (1849) 193 -303; Ernestus seu Carmen de varia Ernesti Bavariae ducis fortuna auctore Odone ex Ms. Cl. viri Jacobi Du Poirier Doctoris Medici [apud Turones], edd. E. Martene u. U. Durand, in: Thesaurus novus anecdotorum I I I , Paris 1717, S. 307-376; Gesta Ernesti Ducis, ed. P. Lehmann, in: Abhlgn. d. Bayer. Akad. d. Wiss., philos.-philolog. u. hist. Kl. 32, 5, München 1927, S. 3 - 56; die Ausg. S. 9 - 3 8 ; H . Menhardt, Ein neuer mitteldeutscher Herzog Ernst aus Klagenfurt [ K l ] , ZfdA 65 (1928) 201 -212; Herzog Ernst. Ein mittelalterliches Abenteuerbuch. In der mhd. Fassung B nach der Ausg. v. K. Bartsch, mit den Bruchstücken der Fassung A, hsg., übersetzt, mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen v. B. Sowinski (Reclams Universal-Bibliothek 8352—57), Stuttgart 1970. loa Dies spielt insbesondere wegen der Cynocephalen eine bedeutende Rolle, zu denen der hl. Christophorus gehörte, s. Wisbey [Anm. 7], S. 202 und 211 und Gertrud Benker, Christophorus, München 1975, S. 15 ff., 33 ff. mit Abb. 30—50, H . Günter, Psychologie der Legende, Freiburg 1949, S. 74 f. Der ausführliche RDKArtikel [Anm. 7], Sp. 766—773 weist nicht darauf hin, daß die Cynocephalen auch in der Astrologie eine gewisse Rolle spielen, s. z. B. die Abb. 43 in F. Saxl, A Heritage of Images. A Selection of Lectures, a Peregrine Book, 1970, S. 33 (Sphaera barbarica, die Paranatellonten des 1. Dekans) oder Lisa Ponomarenko/A. Rossel, La Gravüre sur bois k travers 69 incunables et 434 gravures, Paris 1970, Buch Nr. 4 Abb. 22 (Astrolabium) und F. Boll/C. Bezold/Tff.Gundel, Sternglaube und Sterndeutung, 6. Aufl. v. H . G. Gundel, Darmstadt 1974, S. 152. Die Cynocephalen im ,Rolandslied', V. 2656 sind von Richter [Anm. 114], Anm. z. St. völlig mißgedeutet.
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aber die beiden Romane verbindet, ist die auf den Helden bezogene Funktion der Wundervölker innerhalb der Handlung. In diesem Punkt schließen sich die beiden Romane gelehrten Ursprungs gegen die anderen, wissenschaftlichen Texte zusammen, in denen die Wunderwesen jeweils nur genannt, bzw. nach geographischen oder anderen Ordnungsprinzipien aufgezählt und beschrieben werden, da Naturgeschichte in der Hauptsache eine erweiterte und detaillierte Beschreibung der Schöpfungsgeschichte ist. In den Romanen dienen die Wunderwesen „als Mittel, Stärke und Tapferkeit des eigentlichen Helden sichtbar zu machen. Mit der Größe" — und ich füge hinzu: Exotik — „des Gegners wächst die Größe des Helden" 1 1 ; und beiden Helden ist bei den Kämpfen ein ausgeprägtes ethnographisches Interesse gemeinsam. Denn Kuhns Meinung, daß die „gegenständliche Symbolik monströser Gegenbilder des christlichen Ritters" u. a. neben dem Minnetrank in Eilharts ,Tristan' zu sehen sein solle, „zu bloß symbolischer Rührung* des Helden" diene und nur „symbolisch-spielerische" Realität sei l l a , verschiebt die Akzente in einer der Dichtung nicht mehr angemessenen Weise. Da die Skiapoden in die Alexanderromane bis auf eine Ausnahme12 keinen Eingang gefunden haben und damit z. B. auch in den Berichten fehlen, 11 H . Szklenar, Studien zum Bild des Orients in vorhöfischen deutschen Epen (Palaestra 243), Göttingen 1966, S. 174, vgl. auch S. 152; ebenso auch Vogt [Anm. 49], S. 103. In dem Kap. I V „Herzog Ernst" findet sich bei Szklenar eine Reihe guter Beobachtungen hinsichtlich der Unterschiede zwischen H E und dem Alexanderroman (z.B. S. 169 f., 181 f.) in Beziehung auf die Wunderwesen. H . Gregor, Das Indienbild des Abendlandes (bis zum Ende des 13. Jahrhunderts), Wien 1964, ist ziemlich unergiebig; die Skiapoden werden S. 49 nur flüchtig erwähnt. Den Vorwurf von U. MeveSy Studien zum König Rother, Herzog Ernst und Grauer Rock (Orendel) (Europäische Hochschulschriften I, 181), Frankfurt/Bern 1976 [recte 1977], S. 175 Anm. 4, daß meine Auffassung von der Affinität zwischen dem HE und der Alexanderüberlieferung zu undifferenziert sei, hoffe ich hier entkräften zu können, s. auch S. 62, 67 f., Anm. 12, 74, 76. lia Hugo Kuhn, Dichtung und Welt im Mittelalter, Stuttgart 1959, S. 35. Audi R. Fisher, Studies in the Demonic in Selected Middle High German Epics (GAG 132), Göppingen 1974 sieht in den Orientabenteuern „a metaphysical significance" (S. 68): „the use of abnormal opponents as a proving-ground against which the guilty hero can gain (or regain) his moral status" (S. 64). Im übrigen ist diese Arbeit für meine Fragestellung sehr unergiebig, da den Skiapoden nur sieben Zeilen (S. 69) gewidmet sind und die ethnographische Literatur nicht herangezogen wird. 12 Die RDK, Abb. 6 als Skiapoden gedeuteten Wesen nennt Ross [Anm. 8] Abb. 401 Cyclopen, Wittkower [Anm. 2], S. 180 „one-eyed raceVgl. u. Anm. 70. S. Ulrich von Etzenbach, ,Alexandreis' (hsg. v. W. Toischer), V. 25176 ff.:
an ein ander volc er quam daz sado er sich mit den füezen decken, als den süezen künic wundert sere. Selbst wenn von Ulrich die Bearbeitung D des H E nicht stammt, ist die Abhängigkeit offensichtlich (vgl. Brummack [Anm. 8], S. 121, 145), zumal er sich V. 25102
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die sich um den Priester Johannes ranken 13 , haben diese in der Erzählliteratur nur eine bescheidene Verbreitung gefunden, die auf die verschiedenen Fassungen des H E und auf von ihm abhängige Dichtungen wie den ,Reinfried von Braunschweig' 14 beschränkt ist; aber selbst in diesem eng ausdrücklich auf herzogen Ernstes buoche beruft. Daß diese Stelle, insbesondere aber das Mitnehmen der Belegexemplare der Wundervölker nicht ohne Kenntnis des H E geschehen sein kann, wird allgemein angenommen. Es sei die Vermutung ausgesprochen, daß der HE-Dichter sich zu diesem Tun seines Helden durch den Alexanderroman hat anregen lassen; vgl. in der ,Historia de preliis' (ed. Hilka) z.B. cap. 94, S. 178, wo einige der bärtigen Frauen gefangen und vor Alexander gebracht werden (vgl. R D K [Anm. 7], Sp. 778); cap. 95, S. 179, wo das selbe über die Lamien berichtet wird (vgl. R D K [Anm. 7], Sp. 783 f.); cap. 113, S. 225 trifft Alexander auf Wasserfrauen (vgl. R D K [Anm. 7], Sp. 807 f.: insequentes autem illas Macedones apprehenderunt ex ipsis du as. Hält man an Ulrichs Verfasserschaft fest, bietet die Annahme, daß Ulrich seine HE-Bearbeitung noch nicht geschrieben, sondern nur seine spätere Vorlage oder sonst eine Fassung gekannt hätte, als er die ,Alexandreis' schrieb, die Möglichkeit, an Rosenfelds [Anm. 110] relativer Chronologie festzuhalten, und auch, den falschen Bezug als Erinnerungsfehler leichter erklärbar zu machen; vgl. W. Toischer, Über die Alexandreis Ulrichs von Eschenbach, WSB 97, 2, Wien 1880, S. 395 ff.; H . Paul, Ulrich von Eschenbach und seine Alexandreis, Diss. Berlin 1914, S. 159 ff., Ross [Anm. 8], S. 72 f. Insofern ist es für die Beurteilung der Skiapodenbeschreibung in der ,Alexandreis' einigermaßen gleichgültig, ob der H E D Ulrich zu- oder abgesprochen wird und ebenso für die der Rezeption des HE-Stoffes in der ,Alexandreis'. 13 S. F. Zarncke, Der Priester Johannes, Abhlgn. d. phil.-hist. K l . d. kgnl. sächs. Gesellsch. d. Wissensch. 7,8 (1879), S. 827- 1030; 8,1 (1876), S. 1-184. Z.B. S. 911, § 15-20, Lesarten S. 926, 895 und 947, 949 f., 960, 974 f., 997. Auch in Ratramnus* ,Epistola de cynocephalis' PL 121, S. 1153- 1156, im ,Liber Floridus', Faksimileausg. v. A. Derolez, Gent 1968, cap. 31, S. 101 ff. oder in Martianus Capeila, ,De nuptiis Philologiae et Mercurii' (ed. F. Eyssenhardt), V I , 674 fehlen die Skiapoden; ebenso bei Bartholomaeus Anglicus, ,De rerum proprietatibus', Nachdruck der Ausg. v. 1601, Frankfurt 1964, X V , 52 und 73, der in gewohnter Selbständigkeit der Formulierung sagt (S. 662): et caeteri homines monstrosi, de quibus in tractatu de animalibus monstrosis dictum est; ähnlich im ,Buch Sidrach', hsg. v. H . Jellinghaus (BLVSt 235), Tübingen 1904, cap. 75, S. 80 - 84, wo es abschließend, ohne daß die Skiapoden erwähnt werden, heißt: Dar synt ok vele anderer arde van luden, de to lank weren to seggen. 14 ,Reinfried von Braunschweig' (hsg.v. K. Bartsch), V. 19312 ff. und 19370 ff. Hier werden einmal die Monocöli als mit den Cyclopen identisch beschrieben (so schon Bartsch [Anm.lO], S. C X X I V , s.u. S. 40 und Anm. 70), danach die Skiapoden, wobei das Schützen vor Wind und Wetter, und vielleicht der Vergleich über die Breite der Füße an den H E erinnert: swannen > wannen, vielleicht in — falscher — Analogie zur Entwicklung der Konjunktion swanne > wanne; der Vergleich ist aber ziemlich verbreitet, s. BMZ I I I , 502 a, Lexer I I I , 681 f., Gereke, S. 425 f., im ,niederrheinischen Bericht über den Orient' [Anm. 55], S. 74,4, bei Johann von Soest ,Die Kinder von Limburg' (hsg. v. M. Klett), V I I I , 1866 (in Bezug auf die Ohren des Riesen Polifemus). Vgl. zu den beiden Völkern die Anmerkung P. Gerekes, Studien zum Reinfried von Braunschweig, PBB 23 (1898), S. 408 f., der den wahren Sachverhalt nicht durchschaut hat: ein voky daz kan gäben mit loufe sneller denn ein tier, bräht mit im der fürste zier mit helfetlicher meine, niht wan üf eirne beine 2 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 18. Bd.
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begrenzten Bereich scheinen sie nie eigentlich volkstümlich und so wenig heimisch geworden zu sein, daß sie zusammen mit den anderen Wundervölkern, den Arimaspen 15, Panoten, Pygmäen und Giganten in der jüngdaz volc loufet ttnde stät. vornen an der stirne hat ez ein ouge und niht me ein volc was ungehiure, des wir sprechen müezen: st waren an den füezen breit alsam die wannen. zeit und hütten spannen sach man si nie dur ir gemach. swenn in der ruowe not beschach von weter ald von winde, si leiten sich geswinde mit snelleclicher muoze und dahten mit dem fuoze von regen winde alle ir lip. ob ich hie ungelouben trib, des waen ich niht, ez ist also. „Die Vermengung der axiörcoöec und (bxu^oöeg bzw. jiovotcoösg, die sich bei Isidor findet" (Szklenar [Anm. 11], S. 167), — aber auch schon bei Plinius oder Augustin und früher (s. Wittkower [Anm. 2], S. 160 Anm. 3), was Szklenar übersehen hat — ist im ,Reinfried 4 wieder rückgängig gemacht worden, so daß auf ein Volk auch nur eine proprietas kommt. Die Skiapoden des ,Reinfried 4 unterscheiden sich von denen des H E also nicht nur in der Funktion, sondern auch in der Sache. S. auch noch V. 19670 f. und Ulrich von Etzenbach ,Alexandereis 4 (hsg.v.Toischer), V. 25073 ff. und die o. Anm. 12 zitierte Stelle. In der Geschichte des ,Guerino Meschino4 (Padua 1473) hört der Held auf seiner Reise durch Indien zu den Sonnen- und Mondbäumen von den Kynokephalen und den Skiapoden, s. J. Dunlopl F. Liebrechty Geschichte der Prosadichtungen, Berlin 1851, S. 314 mit Anm. 394. 15 Uber die Arimaspen s. die neueste Quellenzusammenstellung in dem Glossar zur frühmittelalterlichen Geschichte im östlichen Europa, hsg. v. J. Ferluga, M. Hellmann, H . Ludat, Ser. A.: Lateinische Namen bis 900, Wiesbaden 1975, Bd. I Lieferung 4, s. v. S. 128 f. — In dem Verzeichnis der von Feirefiz besiegten Völker- und Ländernamen und ihrer Herrscher wird Parz. 770,6 der künec Amaspartms nach Lachmanns Lesarten (d) zu künec arimaspis. Martin z. St. verweist zur Erklärung auf Solin. Mir scheint es wahrsdieinlicher, daß hier eine Reminiszenz an einen volkssprachlichen Text, nämlich den H E vorliegt. Nach Gesa Bonath, Untersuchungen zur Überlieferung des Parzival Wolframs von Eschenbach (German. Studien 239), Lübeck/Hamburg 1971, Bd. I I , S. 11 Anm. 1 hat die Gruppe + mno diese Lesart, die seit 1331 nachweisbar ist. Insofern hat Meves [Anm. 11] diesen Beleg mit Recht in seinem Kap. „Literarische Anspielungen auf den H E in der mhd. Literatur des 13. Jhs.44 (S. 173 - 179) nicht behandelt. Zur weiteren Ergänzung seiner Belege: Obwohl Bartsch [Anm. 10] S. C X L I V einen Zusammenhang zwischen H E und dem Jüngeren Titurel 4 ablehnt, sollte doch festgehalten werden, daß mehrfach vermutet wurde, Tsdiionatulanders Orientfahrt sei nach dem Muster des H E gestaltet; s. H . Bode, Untersuchungen zum Sprach- und Werkstil des Jüngeren Titurel 4 von Albrecht von Scharfenberg, Diss. phil. Freiburg i. Br. 1966, S. 103; so auch Bartsch [Anm. 10], S. CL, dazu Meves [Anm. 11], S. 174 f. — G. T. Gillespie, A Catalogue of Persons Named in German Heroic Literature (700- 1600), Including Named Animals and Objects and Ethnic Names, Oxford 1973, S. 39 s.v. ist geeignet, den Namen des Burggrafen Ernst aus dem ,Wolfdietrich4 vom HE herzuleiten.
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sten Version des H E , dem den volkssprachlichen Dietrichliedern i n Form und I n h a l t stark angeglichenen ,Lied v o n Herzog Ernst', sozusagen als Fremdkörper wieder ausgeschieden worden sind. N u r gelegentlich konnten Skiapoden i n bildlichen Darstellungen, wie z. B. am Basler Münster, i n Kastelaz bei T r a m i n (fast lebensgroß) oder am romanischen Pfarrhoftor i n Remagen 16 , einen Weg zu anderen Kreisen finden als dem, der i n den gelehrten Schreibstuben saß; denn auf die gelehrten Kreise, für die dort gearbeitet wurde, weisen die vielen Illustrationen von wissenschaftlichen Handschriften 1 7 ; u n d der Gebrauch anderer Handschriften war ja auch nur auf die kleine, geschlossene Schicht beschränkt, die sich illustrierte Psalter, Breviere, Stundenbücher u. a. herstellen lassen und bezahlen konnten. Der Adamskindschaft verdanken die Skiapoden ihr erstes, wenn auch noch eher beiläufiges Auftreten i n der mhd. Literatur, der ,Wiener Genesis'; denn der Ungehorsam der Kainstöchter hatte zur Folge, daß von ihren Kindern: Etlicher het einen fuoz unt was der vile groz: d i mite liuf er so balde sam daz tier da ze walde 18 .
i« S. R D K [Anm. 7], Sp. 803 Abb. 40, 20, Wittkower [Anm. 2], S. 176 f., Tafel 46 a, c und A. M. Koeniger, Die Rätsel des romanischen Pfarrhoftores in Remagen, München 1947, Abb. 1 und 4, dazu S. 44-48. Koeniger beschreibt die Figur irrigerweise als zweifüßig; es handelt sich dabei um den Typ, der auf dem Rücken liegt, mit der einen Hand den Kopf, mit der anderen das steif nach oben gestreckte Bein abstützt (s. RDK, Sp. 802). Da er die Zugehörigkeit zu den Skiapoden nicht wahr haben will, ist auch seine Deutung der Figur als Sinnbild für „Untätigkeit und Trägheit" (S. 47) hinfällig. Vgl. J. Sauer, Symbolik des Kirchengebäudes und seiner Ausstattung in der Auffassung des Mittelalters, Freiburg 21924, Nachdruck Münster 1964, S. 239 ff., der zur größten Zurückhaltung bei symbolischer Ausdeutung von Fabelwesen aller Art mahnt; vgl. u. Anm. 36, wo Ausdeutungen von Skiapoden angeführt sind. i? S. R D K [Anm. 7], Sp. 802 f., besonders Abb. 41 (aus einer Kanontafel), 42 (Psalter); Lilian M. C. Randall, Images in the Margins of Gothic Manuscripts, Berkely/Los Angeles 1966, S. 212 b, s. v. 18 Die frühmhd. Wiener Genesis, hsg. v. Kathryn Smits (Philolog. Studien und Quellen 59), 652 f.; ebd., S. 16 die verschiedenen Datierungen (meist 1060- 1080). Die ,Millstädter Genesis* (hsg. v. J. Diemer), S. 26,8 f. hat keine sachliche Variante. Über die „trüberen Quellen" der ,Wiener Genesis4 (W. Scherer, Geistliche Poeten der deutschen Kaiserzeit. Studien. 1. Heft: Zu Genesis und Exodus [Quellen und Forschungen 7], Straßburg 1874, S. 19 f.) s. Wisbey [Anm. 7], S. 194; vgl. auch H . W. Janson, Apes and Ape Lore in the Middle Ages and the Renaissance (Stud. of the Warburg Inst. 20), London 1952, S. 94. tier dürfte hier wegen des Gebrauchs in einer Metapher in der Bedeutung ,Rehc stehen, s. Lexer I I , 1433 f. Die Stelle ist von S. Bey schlag, Die Wiener Genesis. Idee, Stoff und Form, WSB 220, 3, Wien/Leipzig 1942, S. 9 f. ganz und gar mißverstanden, da V. 653 b Metapher und Explizierung von balde ist. 2*
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Geschah dieser erste Auftritt in der Volkssprache noch gewissermaßen auf „kleinem Fuße" und vor allem namenlos19, so kamen danach die Skiapoden mit dem H E in „voller Schönheit" zur Geltung. Ich kann nämlich nicht finden, daß de Vries' Bemühungen, die blatvuze des ,König Rother' (V. 1872) unabhängig vom H E zu erklären, überzeugend sind 20 . Der Name fehlt z. B. auch bei Thomas Cantimpratensis, ,Liber de natura rerum' [ed. H . Boese], Berlin/New York 1973, 3,5,14: Homines alii sunt, qui unum tantum pedem habent, quo velocissime currunt. Habent autem tantam pedis latitudinem, quod eius planta contra solis fervorem umbram spatiosam sibi faciunt ex quasi in domo sub planta pedis requiescunt. Die von A. Hilka, Liber de monstruosis hominibus Orientis aus Thomas von Cantimpre: De natura rerum, in: Fs. z. Jahrhundertfeier der Universität Breslau, hsg. v. Schlesischen Philologenverein, Breslau 1911, S. 153 - 165 nach einer Breslauer Handschrift edierte Fassung (S. 161,15) ist identisch, ebenso die der Handschrift, von der Wittkower [Anm. 2], Tafel 44 a die entsprechende Seite abgebildet hat, und die, von der im R D K [Anm. 7], Abb. 4 die Monsterseite wiedergegeben ist; doch vgl. die Variante in Anm. 82. Über Thomas s. die sich durch erstaunliche Ubersetzungen auszeichnende Arbeit (s. u. a. S. 34, 36) von M. Misch, Apis est Animal — Apis est Ecclesia. Ein Beitrag zum Verhältnis von Naturkunde und Theologie in spätantiker und mittelalterlicher Literatur (Europ. Hochschulschriften I, 107), Bern/Frankfurt 1974, S. 70-103, dazu Chr. Hünemörder, Die Bedeutung und Arbeitsweise des Thomas von Cantimpre und sein Beitrag zur Naturkunde des Mittelalters, Medizinhistorisches Journal 3 (1968) 345 - 357, bes. S. 348 über die Uberlieferung des 3. Buches (,De monstruosis hominibus') und Henkel [Anm. 81], S. 157 Anm. 27. Auch bei Thomas' Ubersetzern fehlt der Name, s. Jacob Maerlant's »Naturen Bloeme', hsg. v. E. Verwijs (Bibliothek van mnl. Letterkunde 5), Groningen 1878, V. 314-20: Ander volc es daer geboeren, Die lopen utermaten sere Met enen voete ende niet mere; Nochtan es die voet so breet, Dat si jeghen die sonne heet Hern bescermen doer mede, Waer dat si rüsten in enighe stede. und Konrad von Megenberg, ,Buch der Natur' (hsg. v. F. Pfeiffer),
S. 490, 18 ff.:
Laut sint, die habent neur ainen fuoz und laufent gar snell, und der fuoz ist so prait, daz er ainen grozen schaten gibt gegen der sunnen, und ruoent si under irm fuoz reht sam under aim obdach. Wittkower [Anm. 2], S. 178 f. zeigt, daß Megenberg-Illustrationen auf eine illustrierte Thomashandschrift zurückgehen, also der selben Vorlage folgen wie ursprünglich der Autor selbst. Die Seite aus dem Druck von Sorg, Augsburg 1482, die u. a. auch einen Skiapoden zeigt, ist faksimilisiert bei K. E. Heilmann, Kräuterbücher in Bild und Geschichte, München-Allach 21973, S. 155. 2 S. ,Rother', hrsg. v. J. de Vries (German. Bibl. I I , 13), Heidelberg 1922, S. L X X V und Anm. z. St. S. 111. Diese Anmerkung ist irreführend, da einmal in den Zs.aufsätzen keinerlei zusätzliches Material beigebracht wird und zum anderen dadurch, weil in den zitierten volkssprachlichen Texten gerade der Name, auf den es ankommt, nicht erscheint; und auch die Belege aus Vokabularien, die Bartsch [Anm. 10], S. C L X I X beigebracht hat, sind in diesem Zusammenhang
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Z w a r ist i n der ältesten Fassung des H E (A), die nur i n Bruchstücken überliefert ist, die Passage, i n der die Skiapoden bekämpft und besiegt werden, nicht erhalten, es besteht aber Übereinstimmung i n der Gewißheit, daß sie, wie die m i t den Kranichmenschen, Arimaspen, Panoten, Pygmäen und Giganten auch, der ersten Fassung angehört h a t 2 1 , u n d zwar i n einer ähnlichen Gestaltung wie sie die Fassung B bietet, die also Basis und Ausgangspunkt der Untersuchung abgeben muß. Haupts, möglicher Weise auf L u d w i g Uhlands Drama (1817) und seiner Inauguralrede von 1832 beruhende, abschätzige Beurteilung der Orientabenteuer: „die Schilderung der abenteuer die Ernst i n fernen ländern besteht hat nichts volksmäßiges und trägt zum theil das deutliche gepräge gelehrter d. h. mönchischer erfindung" (S. 293) wurde, getragen durch seine Autorität, zum literaturgeschichtlichen Allgemeingut und ließ das philologische Interesse an diesen „willkürlichen erfindungen" eines „trockenen gemütes" (ebd., S. 299) zu Gunsten der „unschuldig sich v o n selbst bildenden sage" (ebd.), dem ersten Teil, erlösdien und bewirkte, daß man sich allgenidit beweiskräftig, da sie aus Drucken von 1512 und 1507 (nach Diefenbach) stammen. Darüber, daß die Bezeichnung platfuoz, deren ersten Bestandteil Haupt [Anm. 10], S. 290 von plat und nicht blat ableitet, sicherlich nicht zweimal unabhängig voneinander gefunden worden sein kann, stimmen alle einheitlich überein, s. u. Anm. 107. — Dafür, daß der Form platfuoz (B b) gegenüber plathuov (B a), die beide auch in den Handschriften Jans Enikles vorkommen, die Priorität gebührt, s. R. Reitzenstein, Zum Text des Herzog Ernst B, ZfdA 62 (1925) 181 bis 184, S. 181 (so Haupt). — Außerdem scheint mir de Vries y dem Szklenar [Anm. 11], S. 155 vorsichtig zustimmt, Haupts (s. S. 262) und v. Bahders Argument (s. German. 29 [1884], S. 287) nicht entkräftet zu haben, daß den „Zuhörern die blatfüeze schon bekannt sind, denn er fügt kein Wort der Erläuterung bei; nur eine deutsche Quelle, unser Herzog Ernst, kann die Bekanntschaft vermittelt haben". Wichtig scheint mir noch zu sein, daß die blatvüeze im ,König Rother' ganz beiläufig ohne tieferen Zusammenhang und erzählerische Notwendigkeit unvermittelt stehen, während sie im H E doch ein fest integrierter Bestandteil des Romans sind. v. Bahder, de Vries (S. L X I I I ) und wohl audi R. Reitzenstein y Studien zu den Fassungen A und B des Herzog Ernst, Diss phil. masch. Göttingen 1922, S. 111 f., der ansonsten de Vries* Argumentation ablehnt, rechnen an dieser Stelle ohnedies mit einer Interpolation. Es scheint auch mir das Wahrscheinlichste, daß diese Verse von einem jüngeren Schreiber in den ,Rother 4 gewissermaßen als Zitat nachträglich hinzugetan worden sind und dem Text zur besonderen Zierde gereichen sollten. Für die Abhängigkeit des ,König Rother' vom H E in toto plädiert K. Siegmundy Zeitgeschichte und Dichtung im »König Rother' (Philolog. Studien und Quellen 3), Berlin 1959, S. 76 f. (mit weiterer Literatur Anm. 108 f.); zur damit verbundenen Frage der absoluten Chronologie s. über die sehr divergierenden Datierungsversuche M. Curschmann y ,Spielmannsepik'. Wege und Ergebnisse der Forschung von 1907—1965. Mit Ergänzungen und Nachträgen bis 1967 (Überlieferung und mündliche Kompositionsform), Stuttgart 1968, S. 31 f. und neuerdings F. Urbanek, Kaiser, Grafen und Mäzene im ,König Rother' (Philolog. Studien und Quellen 71), Berlin 1976 sowie Meves [Anm. 11], pss., bes. S. 99. 2i S. Haupt [Anm. 10], S. 279 ff., Bartsch [Anm. 10], S. X X ff.; K. Sonneborn,, Die Gestaltung der Sage vom Herzog Ernst in der altdeutschen Literatur, Diss. Göttingen 1914, S. 2 diskutiert anderslautende Thesen und lehnt sie ab.
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mein 22 mit Haupts Hinweis auf die „bereite vorrathskammer mönchischer gelehrsamkeit" (ebd.) — womit Isidors ,Etymologien' gemeint sind — zufrieden gab. Die folgenden Ausführungen sollen zeigen, daß die Sachlage so eindeutig und klar nicht ist, daß schärferes Betrachten auf dem heller ausgeleuchteten Traditionshintergrund doch weiterführen kann, und sie können im Gegensatz z.B. zu Wittkowers und Wisbeys weitausholenden und umfassenden Überblicken über die Gesamtheit der „Wunder des Ostens" zwar in Beschränkung auf ein einziges Wundervolk, aber deswegen nicht weniger augenfällig illustrieren, welch reizvolle Variationen das Wechselspiel von Traditionsgebundenheit und individueller Ausgestaltung zu zeitigen vermag. Die Beschränkung auf ein Wundervolk hat außerdem den Vorteil, daß möglichst viele Texte im vollen Wortlaut herangezogen und im Einzelnen verglichen und interpretiert werden können, wodurch erst der Blick für die Individualleistungen frei wird und auch manches Pauschalurteil über Abhängigkeiten modifiziert werden kann. Die Verbindung jedoch der Orientreise insgesamt und ihrer einzelnen Etappen mit der „Reichsgeschichte", so wichtig dieses Problem für das Verständnis des H E auch sein mag, fällt nicht unter meine Fragestellung. Bevor jedoch die Darstellung der Skiapoden im H E analysiert werden soll, will ich die Tradition, auf der der HE-Dichter fußt, mit ihren wichtigsten Unterschieden beschreiben; griechische Texte sollen bei Seite bleiben23. Innerhalb seiner ,Naturalis historia' 24 liefert Plinius im 7. Buch, das der Anthropologie und Physiologie des Menschen gilt, eine Beschreibung des in 22 S. u.a. Bartsch [Anm. 10], S. C L X I X , Sowinski [Anm. 10], S. 392 Anm. z. St., Szklenar [Anm. 11], S. 167; Fisher [Anm. I I a ] , S. 69; Sonnehorn [Anm. 21], S. 3; selbst der sonst so umsichtige und kritische O. Doberentz, Die Erd- und Völkerkunde in der Weltchronik des Rudolf von Hohen-Ems, ZfdPh 12 (1881) 257 bis 301, 387—454, 13 (1882) 29—57, 165—223 [ursprünglich Diss. phil. Halle/S. 1880 bei J. Zacher], S. 297 kann sich davon nicht freimachen, obwohl er es eigentlich besser gewußt haben konnte; W. J. Schröder, Spielmannsepik (Sammlung Metzler 19), Stuttgart 21967, nennt nicht viel präziser Plinius, Solin und „die mittelalterlichen Enzyklopädien" (S. 42); G. Ehrismann, Gesch d. dt. Lit. bis z. Ausgang d. Ma. I I , 2,1, S. 45, dem H.-F. Rosenfeld, Verf.lex. V, Sp. 392 und Sowinski, S. 421 folgen, läßt den HE-Dichter einen „lateinischen Orientroman" benützen, nennt aber auch die anderen naturkundlichen Schriften. G. Gröber, Ubersicht über die lateinische Litteratur von der Mitte des V I . Jahrhunderts bis zur Mitte des X I V . Jahrhunderts, Strassburg 1902, Nachdruck München o. J. [1963], S. 320 nennt neben dem „obligatorischen" Isidor „und anderen orientalischen Uberlieferungen" aber auch die „Alexanderbriefe" als mögliche Quelle. 23 Vgl. Doberentz [Anm. 22], S. 46 Anm. 1, 48 f., Wittkower [Anm. 2], S. 159 ff. und insbesondere Pfister [Anm. 4], der S. 122 spezifische Quellenuntersuchungen für „jedes einzelne dieser Monstra" fordert. 24 ed. C. Mayhoff — L. Ian, V I I , 2, 23.
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Indien wohnenden Volkes, die (wie auch sonst so oft) zum Ausgangspunkt der für das Mittelalter bedeutsamen Tradition geworden ist: Idem hominum genus, qui Monocoli vocarentur, singulis cruribus, mirae pernicitatis ad saltum; eosdem Sciapodas vocari, quod in maiore aestu humi iacentes resupini umbra se pedum protegant25.
Eine hiervon in zwei Punkten abweichende Darstellung gibt Augustin kurz nach der Eingangs zitierten Stelle: Item ferunt esse gentem, ubi singula crura in pedibus habent nec poplitem flectunt, et sunt mirabilis celeritatis; quos Sciopodas vocant, quod per aestum in terra iacentes resupini umbra se pedum protegant.
Abgesehen davon, daß der eine Name (Monocoli) entfällt, überträgt Augustin einmal die sonst vom Elephanten26 oder Elch 27 berichtete Eigenschaft der gelenklosen Beine auf die Skiapoden28; zum Anderen macht er, 25 Auf dieser Darstellung beruhen z.B. Solin (ed. Th. Mommsen, 21895, 52, 29, S. 187 f.): legimus monocolos quoque ibi nasci singulis cruribus et singulari pernicitate, qui ubi defendi se velint a calore, resupinati plantarum suarum magnitudine inumbrentur; Gellius, ,Noctes Atticarum 4 (ed. M. Hertz), 9, 4, 9: atque esse item alia apud ultimas orientis terras miraculi homines, qui monocoli' appelentur, singulis cruribus saltuatim currentes, vivacissimae pernicitatis; K. Miller, Mappae Mundi. Die ältesten Weltkarten hsg. und erläutert, 4. Heft: Die Hereford-Karte, Stuttgart 1896, S. 33. Monocoli sunt in Yndia singulis cruribus, pernici (s)celeritate. Qui ubi defendi se velint a calore solis, plantarum suarum magnitudine obumbrantur. Besser abgebildet ist diese Karte in: G. Grosjean/R* Kniauer, Kartenkunst und Kartentedinik vom Altertum bis zum Barock, Bern/Stuttgart 1970, S. 28. 26 Vgl. F. Lauchert, Geschichte des Physiologus, Strassburg 1889, Nachdruck Geneve 1974, S. 206; D. Schmidtke, Geistliche Tierinterpretation in der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters (1100—1500), Diss. phil. Berlin FU 1968, S. 275 ( X I V ) ; O. See/, Der Physiologus, übertragen und erläutert (Lebendige Antike), Zürich/Stuttgart 1960, S. 90 Anm. 182; Guillaume le Clerc, Le Bestiaire, hsg. v. R. Reinsch (Afrz. Biblioth. 14), Leipzig 1892, Nachdruck Wiesbaden 1967, S. 143, 160 f., 175; in: Theobaldi »Physiologus4 (ed. P. T. Eden [Mittellat. Stud. und Texte 6], Leiden/Köln 1972, S. 64, 9); ,Liber Floridus 4 [Anm. 13], S. 101, Gereke [Anm. 14], S. 437 f. Dasselbe berichtet von Menschen Johann de Piano Carpini, Geschichte der Mongolen und Reisebericht 1245—1247, übersetzt und erläutert v. F. Risch (Veröffentlichungen d. Forschungsinst. f. vergleichende Religionsgesch. an d. Universität Leipzig I I , 11), Leipzig 1930, V, § 1, S. 112, „die kein Wort sprechen können und keine Gelenke in den Beinen haben, so daß sie von selbst ohne fremde Hilfe gar nicht aufstehen können, wenn sie mal gefallen sind". 27 Vgl. Caesar, bell. Gall. (ed. A. Klotz), V I , 27; vgl. auch Plinius V I I I , 39 (achlis). 28 Dies hat der ,Liber monstrorum de diversis generibus4 (ed. M. Haupt, in: Opuscula I I , Leipzig 1876, Nachdruck Hildesheim 1967, S. 228, I, 17), zu dem
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wie audi Solin, aus dem geschwinden Hüpfen (mirae pernicitatis ad saltum) 29 eine undifferenzierte mirabilis celeritas, die im weiteren Verlauf der Tradiaion zu einem „Laufen" verdeutlicht wird 3 0 . ManitiuSy Gesch. d. lat. Lit. d. MAs I, München 1911, S. 114—118 zu vergleichen ist, übernommen: Et ferunt genus esse hominum quos appellant Graeci sciapodas [die Handschriften haben: scinopodos, -das] eo quod se ab ardore solis pedum umbra iacentes resupini defendunt. Sunt enim celerrimae naturae. Singula tantum in pedibus crura habent et eorum genua inflexibili durescunt compagine; Audi Hartmann Schedel, der in seiner ,Weltchronik' (Nachdruck der deutschen Übersetzung, Nürnberg 1493, München 1965) zwei stark divergierende Skiapodenbeschreibungen anbietet (u. Anm. 71 die zweite), schließt sich in der einen dieser Version an (S. X I v ) : Item ettliche andere haben fast groß fueß vn payn on puge vn sind doch wüd'perlicher Schnelligkeit, vn bedecken sich zu sumerzeit mit de schatten irer fuß am rugken ligende;
hierbei ist der Kontext wichtig, da es sich an dieser Stelle in der ,Weltchronik' um eine Anlehnung an die Eingangs und hier zitierte Augustinstelle handelt. — Nach Schorbachs [Anm. 52] Angaben, S. 143 f. hat der Redaktor des Lübecker ,Lucidarius'-Druckes von 1520 sich bei der Neugestaltung des V I I I . cap. ,Van mänygerleye wanschapen mynschen in Jndyen' an Augustin, civ. dei angelehnt. 29 So heißt es in Sebastian Münsters ,Cosmographei', über die Wittkower [Anm. 2], S. 183 ff. zu vergleichen ist: Darnach sind andere, di haben nit mere dann einen fuoss y mit dem hupfen sie so schnell, das inen kein zweifuossiger mag zuo lauffen. und wann sie die sonn mit grosser hitz brent, legen sie sich an rucken und machen in selbs mit irem fuoss ein schatten (zitiert nach Bartsch [Anm. 10], S. C L X X ) ; bei Juan Bustamente de La Camera, (De Animantibus Scripturae Sacrae), Lvgdvni M D C X X V I I , p. 6 [Exemplar der H A B Wolfenbüttel, Sign.: 62.8 Phys., Hinweis von H . Reinitzer, Hamburg]: Sunt denique animantia omnia terrestria, aquatilia, & aera. Terrestria quaedam gradiuntur, trahuntur quae dam, serpunt alia , gressibilia quaedam moventur passu, saltu reliqua. passu bipeda y vel quadrupeda; saltu, vel vno pede y vt Patagones died homines, qui vno pede saltant y de quibus capite de homine dicemus, aut dvobus y vt pesser, cassita. Vgl. dazu audi Anm. 81; oder s. Adam von Bremen, Hamburgische Kirchengeschichte (hsg. v. B. Schmeidler, Hannover/Leipzig 1917, IV, 25), wo es bei der Beschreibung Schwedens heißt: Ibi sunt Amazonesy ibi Cynocephali, ibi Ciclopes y qui unum in fronte habent oculum; ibi sunt hii y qui Solinus die it Ymantopodes, uno pede salientes ... Über die Himantopoden s. R D K [Anm. 7], Sp. 781. Auf die Spur, wie es zu dem Namenstausch gekommen sein könnte, führt Pomponius Mela, ,Chorographia' (ed. C. Frick I I I , 103): Ab eo tractu [in Afrika bzw. Libyen] quem ferae infestant proximi sunt Himantopodes inflexi lentis cruribus y quos serpere potius quam ingredi referunt. Die meisten Handschriften bieten statt Himantopodes (nach der Ausg. v. G. Parthey y S. 216 z. St.) Scimantopodes u. ä.; damit ist eine Verwechslung zwischen den Sci-mant-opodes und den Sci-opodes erklärlich, einem typischen Schreiberfehler ent-
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Als dritter Zeuge soll Isidor zu Wort kommen, da sein Einfluß auf die folgende Zeit direkt und indirekt von besonderer Mächtigkeit war 3 1 : Sciopodum gens fertur in Aethiopia singulis cruribus et celeritate mirabili: quos inde oxtörcoöac Graeci vocant, eo quod per aestum in terra resupini iacentes pedum suorum magnitudine adumbrentur 32. sprechend, dem gemäß bei längeren und ungeläufigeren Wörtern die Mittelsilbe besonders für Auslassung oder Verderbnis anfällig ist. Für den verwechselten Namen wäre dann der geläufigere eingesetzt worden. Da Solin zu salientes keine Entsprechung hat, ist diesem Quellenverweis mit Skepsis zu begegnen und er nicht ganz so ernst zu nehmen wie es Wittkower [Anm. 2], S. 170 Anm. 5 tut. Solin und Isidor waren Autoritäten, die zu zitieren immer gut erschien, wenn es darum ging, Dinge, die man selbst nicht kannte und verstand, anderen einsichtig und glaubwürdig zu madien; vgl. u. S. 74 f., wo Solin korrekt zitiert wird, und S. 57 mit Anm. 105, wo Isidor als Gewährsmann für eine freie Erfindung fungieren muß; vgl. Anm. 36. Die Verpflanzung der „Wunder des Ostens" an die Ostsee nach Schweden ist im Übrigen einigermaßen ungewöhnlich und vielleicht mit Jacobus de Vitriaco zu vergleichen, der in seiner ,Historia Hierosolimitana' alle Wunderwesen nach Palestina versetzt (nach Doberentz [Anm. 22], S. 427, da mir die Ausg. Douai 1597 nicht zur Verfügung stand); zu Jans Enikel s. Anm. 47. Adam von Bremen hat an der Hereford-Karte [Anm. 25] Ergänzungen vorgenommen (nach Miller). 30 Vgl. z.B. Thomas von Cantimpre [Anm. 19]. 31 Vgl. die Ansätze zu einer Beschreibung der Wirkungsgeschichte Isidors in der deutschen Literatur von H . Kolb, Isidors ,Etymologien' in der deutschen Literatur des Mittelalters, Archiv 205 (1969) 431—453; ders., Isidorsche Etymologien' im ,Parzival', in: Wolfram-Studien [ I ] , Berlin 1970, S. 117—135. Es bleibt allerdings Manches weniger eindeutig als es Kolb durch den Titel seiner Aufsätze suggeriert. S. unter F. Ohlys einschlägigen Arbeiten insbesondere die letzte: Diamant und Bocksblut. Zur Traditions- und Auslegungsgeschichte eines Naturvorgangs von der Antike bis in die Moderne, in: Wolfram-Studien I I I . Schweinfurter Kolloquium 1972, Berlin 1975, S. 72—188. In der staunenerregenden Fülle des Materials verliert hier aber der einzelne Beleg allzuleicht seinen Individualcharakter und versinkt in der ,Tradition', vgl. z.B. S. 115. S. auch Henkel [Anm. 81], S. 154 f. Anm. 14, wo er auf weitere Teilversifikationen von Isidors Etymol. verweist (vgl. Anm. 32). 32 Isidor, ,Etymologiae' (ed. W. M. Lindsay) X I , I I I , 23; daß Isidor hier von Solin abhänge (so Wittkower [Anm. 2], S. 168) ist nur bedingt richtig. Wörtlich übernommen von Hraban, ,De universo', PL 111, V I I , 7, S. 197 C und Vincentius Bellovacensis, ,Speculum historiale', Nachdruck der Ausg. von 1624, Graz 1965, S. 34 b, I, 92 (und im ,Speculum naturale' ein zweites Mal, s. Doberentz [Anm. 22], S. 294 f.). Etwas verkürzt im ,Summarium Heinrici' (hsg. v. R. Hildebrandt, I I I , I X , 329 ff.). Vgl. noch Chr. Hünemörder, Isidorus versificatus. Ein anonymes Lehrgedicht über Monstra und Tiere aus dem 12. Jahrhundert, Vivarium X I I I (1975) 103—118, V. 15 f.: Sunt alii celeres uno pede Semper euntes Quos tegit a sole planta superposita; oder K. Miller, Mappae Mundi. Die ältesten Weltkarten hsg. und erläutert, 1. Heft: Die Weltkarte des Beatus (776 n.Chr.), Stuttgart 1895, S. 58, wo es in der dritten, Aethiopien betreffenden Version der Beschreibung des vierten Erdteils heißt: Hec pars ab ardore solis incognita nobis et inhabitabilis. Inanes (immanes) scopodas fertur habitare ... [wörtlich wie Isidor].
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Isidors Neuerung besteht darin, daß er die Skiapoden nach Aethiopien verlegt und daß er expressis verbis den Namen auf das Griechische zurückführt. D a aber das gesamte Mittelalter hindurch Indien und Äthiopien auf den Weltkarten nebeneinander lagen oder ineinander übergingen, und auch deswegen beide Länder ziemlich unterschiedslos austauschbar waren, hat dieser Ortswechsel keine besondere inhaltliche Bedeutung 3 3 . N i m m t man das allen Beschreibungen Gemeinsame, so ergibt sich, daß die Skiapoden ein V o l k Asiens sind, einfüßig, schnell, und daß sie sich m i t diesem einen Fuß Schatten spenden bei zu großer H i t z e . Dementsprechend zog Honorius Augustodunensis i n seiner ,Imago mundi' die Summe aus der i h m bekannten Tradition: Sunt et Scinopodae, qui uno tantum fulti pede auram cursu vincunt; et in terram positi umbram sibi planta pedis erecta faciunt 34. Millers generelle Feststellung, Isidor ist „die einzige sicher nachweisbare Buchquelle" (S. 65) trifft also auch für die Skiapodenbesdireibung zu, da es Augustin, wie Miller ebd. behauptet, offenkundig nicht sein kann. ö3 S. Wittkower [Anm. 2], S. 161 mit Anm. 4, Szklenar [Anm. 11], S. 154 f., P. Kunitzsch, Die Arabica im »Parzival* Wolframs von Eschenbach, in: WolframStudien I I , Berlin 1974, S. 12 Anm. 17, Hygin, Fabulae (ed. H . I. Rose), CLIV, 3 und Kommentar z. St.; Strzygowski [Anm. 8], S. 94. Hünemörders Bemerkung [Anm. 34], S. 281 ist demnach zu berichtigen. PL 172, I, 12. Doberentz [Anm. 22], S. 41 meint, daß „für den die Wunder Indiens betreffenden abschnitt unmittelbare benutzung Solins deutlich zu tage liegt" und „daß an einen unmittelbaren Zusammenhang der angaben des Honorius mit denen des Isidor gar nicht gedacht werden kann". S. 43 muß er aber konstatieren, daß die Angabe sunt et Scinopodae von Honorius hinzugefügt ist; und diese Angabe wird er wohl doch aus Isidor — direkt oder indirekt über Mittelsmänner wie Hraban — bekommen haben, den er ja ansonsten hinreichend gekannt und genutzt hat; wenn Wittkower [Anm. 2], S. 169 Anm. 4 aber nur Isidor allein als Quelle angibt, so ist das auch ein Wenig einseitig. Vgl. noch Doberentz, S. 42, wo er Isidors Einfluß bei der Beschreibung derer, quae quinquennes pariunt zugeben muß; und auf eben dieses Volk folgen die Skiapoden unmittelbar. — Benutzt wurde die ,Imago mundi' z. B. von Gervasius von Tilboury in seinen ,Otia imperialia* (ed. W. Leibnitz, I, S. 912), der ja wahrscheinlich an der Ebsdorfer Weltkarte mitgewirkt hatte: Illic sunt monocoli et ** cyclopes, ex quibus fuit Polyphemus; et unipedes, qui uno fulti pede auram currendi celeritate vicunt, wobei der Name unipedes wohl mit monocoli des Plinius, Solin und Gellius in Zusammenhang gesehen werden muß (vgl. u. Anm. 81 f» und S. 68); Wittkowers [Anm. 2] Angabe, daß der Teil über die Monster „is largely borrowed from the letter of Fermes to Hadrian" (S. 169 f. Anm. 6) wird von dieser Stelle nicht bestätigt; denn in dem Brief des Pharasmanes (Fermes) an Kaiser Hadrian (hsg. in: Pfister [Anm. 4], S. 366—371) kommen die Skiapoden gar nicht vor; Endres [Anm. 35], S. 20 rechnet richtiger mit der Abhängigkeit Gervasius* von Honorius; oder in: Das Lehrgedicht ,De monstris Indie' (12. Jahrhundert). Ein Beitrag zur Wirkungsgeschichte des Solinus und Honorius Augustodunensis, v. Chr. Hünemörder, Rhein. Mus. 119 (1976) 267—284, V. 30—34: De Scenopedis Svnt etiam stulti solo tantum pedi fulti
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I n der Sache hat Honorius die Beschreibung der Skiapoden u m kein Detail vermehrt oder verändert, er t u t jedoch dadurch einen Schritt i n eine andere, neue Richtung, daß er die unbestimmte inhabilis celeritas durch auram cursu vincunt konkretisiert. Honorius' Beitrag beschränkt sich auf die rhetorische Gestaltung des Traditionsgutes, ein Zug, der für seine A r beiten insgesamt charakteristisch ist 3 5 , indem er eine inhaltliche „Leerstelle" bildhaft ausschmückt. Die breite Nachfolge 3 6 , die Honorius insbesondere i n den volkssprachlichen Texten 3 7 damit gefunden hat, macht deutlich, daß man diesen Schritt nicht gering einschätzen darf. Außerdem hat sich H o n o rius m i t der Namensform Scinopodae von der etymologischen Grundlage Uno cruro meant uincentes cursibus auras Dicti scenopede, qui fessa membra calore (T)erra prostrati dorso plantaque supini Vmbrarum latis faciunt sibi tegmina plantis. 35 Vgl. J. A. EndreSy Honorius Augustodunensis. Beitrag zur Geschichte des geistigen Lebens im 12. Jahrhundert, Kempten/München 1906, S. 16 ff., 20 f.; S. 45 bis 49 über die ,Imago mundi' oder H . Riedlinger, Die Makellosigkeit der Kirche in den lateinischen Hoheliedkommentaren des Mittelalters (Beiträge z. Gesch. d. Philos. und Theologie d. Mittelalters 38,3), Münster 1958, S. 136 f.: „Honorius war ein enzyklopädisch eingestellter Sammler und Popularisator, der traditionelle Gedanken gern mit einem phantastischen Kleid von Symbolen und Allegorien umgab". 3 ® Vgl. z.B. die ,Gesta Romanorum' (ed. H . Oesterley), cap. 175, das also, obwohl es nicht in allen von Oesterley aufgezählten Handschriften steht, zum „Vulgärtext" gehört, aber auch schon dem ältesten handschriftlichen Bestand zugehört hat:
In Ethiopia sunt homines, tantum unum pedem habentes, tante tarnen velocitatis sunt, ut bestias currendo insequantur. HU sunt Uli, qui habent tantum unum pedem perfectionis erga deum et proximum, scilicet pedem caritatis. Tales sunt veloces versus regnum Celeste. In der Ausg. v. W. Dick, cap. 95: Item in Ethyopia homines vno pede latissimo tarn veloces, vt bestias insequuntur. In die mhd. Übersetzung (hsg. v. A. Keller) ist dieses Kapitel nicht aufgenommen worden. Der das Kapitel einleitende Quellenhinweis Plinius narrat ist für die Skiapoden zumindest nicht richtig (vgl. Anm. 29); J. G. Th. Grässe gibt in seiner Ubersetzung, Leipzig 31905, I I , S. 278 in der Anm. z. St. Mandeville als Quelle an. — Eine andere, negative Auslegung nach dem sensus moralis ist R D K [Anm. 7], Sp. 801 aus einer afrz. moralisierenden Bearbeitung des ,Liber de monstruosis hominibus orientis' aus Thomas von Cantimpre zitiert; vgl. Wittkower [Anm. 2], S. 177 f. Bemerkenswert ist noch, daß i n den ,Gesta Romanorum' der Name Skiapode und mit ihm die entsprechende Eigenschaft des sich selbst Schattenwerfen, wie z.B. auch bei Gellius fehlt. Die Zugehörigkeit zu diesem Wundervolk ist aber dennoch eindeutig. Szklenars Bemerkung [Anm. 11], S. 167 Anm. 16: „ I n den ,Gesta Romanorum' (Nr. 175) stehen die äthiopischen einbeinigen Schnellfüßler für sich allein" ist mir deswegen unverständlich. 37 Vgl. die schon zitierten Stellen aus der »Wiener Genesis' (S. 19 und Sebastian Münsters ,Cosmographei' (Anm. 29).
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entfernt und dadurch die Beziehung zwischen Namen und Verhalten der Skiapoden unkenntlich gemacht (s. u. S. 68, 74). Dieses detaillierte Nachzeichnen der „ T r a d i t i o n " 3 8 , bei dem die verschiedenen Kontexte — zumal nach Wisbeys Überblick — unberücksichtigt bleiben konnten, da sie für den H E ohne Bedeutung sind, w a r nötig, u m einerseits erkennen zu können, i n welchem Ausmaß die Beschreibung der Skiapoden i m H E aus dem Rahmen des üblichen fällt, um andererseits aber auch Fehlurteile zu vermeiden, unter denen die Behauptung, daß Isidor die Quelle des HE-Dichters sei, noch das Geringfügigste ist. Zunächst soll der Text der Fassung B nach den beiden Handschriften a und b gesondert 30 vorgestellt werden, da die Unterschiede nicht unbeträchtlich sind: b 1 Platfuzz warn sy genant Sy tath im schadn in seine lant Vnd prachtn dikch in arbait Die fuez warnn in vil prait 5 Vnd als den swannen gestalt Die furtn grossen gwalt Vber veld vnd haid Si hetn seltsam cblaid Schuck ir chainer trueg 10 Die fuezz warn in vngefug Wenn vngewit 9 wolt werdn Ain yeder lait sich auf die erdn Vnd habt ainn fuez vber sich Das was genug wunderlich 15 Do mit er sich pedacht Den and yn er zw im strakcht Das er nicht scholt werdn nas Ain selczams dob) das was So im der selbig mud war
a 1 Plathauwen warn sye genant Vnd daten ym schaden in syn laut Vnd brachten yen dicke in arbeit Den waren die fuße vil breit 5 Vnd also den swanen gestalt Dye fürten großen gewalt Vbir hart vnd*) bruch Sye trugen keyner slachte schuch Wanne vngewiter wolte werden 10 So leite er sich vff die erden So hebet er eynen fuß ubir sich Das was genug wunderlich
Dasc) ym das weter lenge war Den andern fuß hebete er dar
38 K.-G. Bauer, Sternkunde und Sterndeutung der Deutschen im 9.—14. Jahrhundert unter Ausschluß der reinen Fachwissenschaft (German. Stud. 186), Berlin 1937, Nachdruck Nendeln 1967, gibt S. 183 eine tabellarische Quellenübersicht über die wichtigsten der von ihm behandelten Werke. Die Filiation der Texte, die auch von mir herangezogen worden sind, deckt sich mit seinen Angaben weitgehend. Damit wird die Skiapodenbeschreibung aus der Vereinzelung herausgenommen und kann durch diese Bestätigung von einer recht verschiedenen Seite her als für die Monsterbeschreibungen einigermaßen repräsentativ gelten. 39 Ich zitiere jeweils nach einem Mikrofilm, da Bartsdos [Anm. 10] Lesartenverzeichnis die Mängel auch besitzt, die er S. X X X V I I Haupt ankreidet. In seiner Ausgabe sind es die Vv. 4671—4688.
Die Skiapoden in den ,Herzog Ernst'-Dichtungen 20 Den and'n fuez habt er dar Also warn sy pewart Alezeit an der vart Das in zw kain* stund 24 Chain wet y geschadn chund b) Haupt [Anm. 10], S. 279: „de für dinc die hs.u
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15 So ym dieser mut wart Also waren sye bewart Das yen zu keyner stunde 18 Keyn weter geschaden künde a) Bartsch: und über, s. die Anm. z. St. S. 173. c) Bartsch konjiziert: So.
Bartsch hat seinen Text insgesamt ganz auf die Handschrift a gebaut40 und auch an dieser Stelle die Plusverse von b nicht in seinen Text aufgenommen. An der ersten Stelle (a Z. 7/8 — b Z. 7 - 10) sind die Zusatzverse wegen der durch den dem bayrisch-österreichischen Sprachraum zugehörigen Schreiber der Handschrift vorgenommenen Vermeidung des Reimwortes bruch notwendig geworden 41 und sicherlich sekundär. Die Wiederholung von b 4 in b 10 legt diesen Schluß ebenso nahe wie die Art, in der a 8 in b 8/9 erweiternd und umrahmend paraphrasiert worden ist. Nicht so eindeutig scheint es mir bei den Versen b 15 - 18 zu sein, daß sie in b hinzugekommen seien. Dafür, daß diese vier Verse so oder ähnlich der Fassung B angehört haben, spricht nämlich einmal, daß b 15 etwa dem entspricht, was sonst mit se protegant (Plinius, Augustin), adumbrentur (Isidor) oder umbram sibi faciunt (Honorius) gemeint ist, nämlich das sich mit dem empor gehobenen Fuß Schützen, b 17 findet seine Entsprechung darin, was sonst durch per aestum (Augustin, Isidor), a calore (Solin), contra solis fervorem (Thomas) oder ab ardore (,Liber monstrorum') ausgedrückt wird. Die inhaltliche Übereinstimmung von b 14/a 12 Das was genug wunderlich mit b 18 Ain selczams do das was könnte den Schreiber der Handschrift a, Heinricum de Steynfurt, clericum Osnabrugensem (Ausg., S. X X V ) , zu einem Augensprung veranlaßt haben, dem en bloc vier Verse zum Opfer gefallen wären, die inhaltlich Neues bringen, das sowohl in der Tradition 40 „Von beiden Handschriften ist a in jeder Beziehung die vorzüglichere; b gibt den Text so vielfach entstellt und gekürzt, dass aus ihr ein Bild des Gedichtes zu gewinnen unmöglich ist" (S. X X V ) . « So schon Bartsch [Anm. 10], S. X X V I . Vgl. z.B. den ,Straßburger Alexander' (hsg. v. K. Kinzel), V 4893 f. mit der Basler Version (hsg. v. R. M. Werner), V. 3332 ff.
beide berge unde brüch macheten ime di wege lanc
war in sin gevertte trüg an wasser, bruk, an fürt an berg und an dal bis er spurt
...
oder ,Rolandslied' (hsg. v. C. Wesle) y V. 3528 und Strickers ,Karl der Große' (hsg. v. K. Bartsch) y V. 4266: in prüch unt in graben
si wurden in pfuole /Laa.: in die svl y hulben] unde in graben
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stützende Bestätigung findet, als auch nicht ohne Kenntnis dieser Tradition aus dem Kontext heraus entwickelt werden kann, wie z . B . die Zusatzverse von b i n der folgenden Partie V . 4689 f f . 4 2 . Für diese Deutung spräche noch, daß ein korrekter syntaktischer Anschluß v o n a 13 an a 12 erst durch eine Konjektur, die sich an b anlehnt, hergestellt werden muß. Die syntaktische Unstimmigkeit wäre dann nicht durch einen Schreibfehler (Übernahme des ersten Wortes der vorhergehenden Zeile), sondern durch eine Lücke zu erklären. Daß auch schon Bartsch Zweifel an seiner Textherstellung gehegt hat, läßt sich vielleicht der Radikallösung entnehmen, die er für die Verse 4690 ff. i n der Anmerkung S. 173 vorgeschlagen hat. Dabei w i r d der Flickvers a 12/b 14 gänzlich eliminiert. Abgesehen davon, daß Bartsch beim Schreiben der Anmerkung übersehen hat, daß auf diese Weise V . 4679 (der letzte Vers S. 100) eine Waise w i r d , besteht für eine weitere Verkürzung, die außerdem die K o n j u n k t u r i n a 13 (So) nicht überflüssig macht, auch v o m Stil des HE-Romans her gesehen kein zwingender A n l a ß 4 2 a . Z u bedenken ist allerdings, daß b auch i m Folgenden der Skiapodenepisode eine Reihe v o n Zusatzversen einschiebt, die sich jedoch leicht als Eigentum von b zu erkennen geben und inhaltlich nichts Neues h i n z u t u n 4 3 . Die Umstel42 Reitzenstein [Anm. 20] behandelt in seiner Diss. diese Stelle nidit unter textkritischem Gesiditspunkt. G. Voss, Die Sage vom Herzog Ernst unter dem Einflüsse Wolframs von Eschenbach, Programm Buchsweiler, Colmar 1886, führt S. 15 zwei Beispiele aus der näheren Umgebung der hier zur Debatte stehenden Stelle an, bei denen a gegenüber b ein sachliches Defizit hat und die Lesart von b durch den H E D als richtig erwiesen wird. S. H E B , V. 4616, wo schon Bartsch [Anm. 10] in der Anm. z. St. (4617) diese Erklärung gibt und H E B , V. 4778, wo Reitzenstein [Anm. 20], S. 46 sich zustimmend äußert, und womit H E D , V. 3928 ff. zu vergleichen wäre. 42a S. Jäger [Anm. 160a], S. 188. 43 Diese punktuelle Kritik an Bartschs einseitiger Bevorzugung der Handschrift a ist generell von Voss [Anm. 42], S. 8—16 vorgetragen und von Reitzenstein [Anm. 20] erneuert worden; F. Ahlgrimm, Untersuchungen über die Gothaer Handschrift des »Herzog Ernst* [ D ] , Diss. phil. Kiel 1890, S. 2 und Sonneborn [Anm. 21], S. 7 stimmten Voss zu. Doch hat sich Reitzensteins Hoffnung, „genügend zweifei an der allgemeingültigkeit der hs. a geweckt zu haben" und sein Wunsch, „dass weitere nachprüfung (s)ein Ergebnis bestätigt" (S. 184), der allgemeinen Mißachtung von älteren Dissertationen und Programmschriften entsprechend nicht erfüllt, s. z.B. Ehrismann [Anm. 22], S. 50 Anm. 3 oder Rosenfeld [Anm. 22], Sp. 397 und insbesondere Sowinski [Anm. 10], der gar Bartschs Text ohne die Lesarten sanktioniert» Vor allem Reitzensteins leider nur masch.sdiriftlich vorliegende Dissertation scheint mir zu wenig beachtet worden zu sein. — Vgl. audi Meves [Anm. 11], S. 140—142 zum Verhältnis von a und b, allerdings nur generell und ohne Bezugnahme auf spezielle Textstücke. Über die Versdifferenz zwischen a und b und deren Interpretation sei zur Stützung meiner Auffassung noch folgendes angemerkt: Die Episodenfolge bei den Arimaspen geht in Bartschs Ausgabe [Anm. 10] von V. 4477—5332, umfaßt also 856 Verse. In b sind es nach einer eigenen Zählung die Verse 4294—5167, also 874 Vv. Gemessen an den sonstigen Kürzungen in b — die Differenz gegen Bartschs Ausg. beträgt am Ende knapp 200 Verse — ist die größere Ausführlichkeit dieses Teils der Orientfahrt, die noch durch eine auf Augensprung. (S. V. 5316 und 5364) oder Blattverlust (s.
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lung i n b 19/20 gegenüber a 14/15 4 4 , die w o h l durch die Vertauschung von wart
(a 15) und war (b 19) bedingt ist, geht sicherlich auf das K o n t o v o n
b, da „ i n b Umstellungen der beiden Verse eines Reimpaares von a (sehr häufig s i n d ) " 4 5 . Nachdem die textliche Grundlage genügend gesichert ist 4 6 , kann die Darstellung der Skiapoden näher betrachtet werden. Der HE-Dichter setzt sich — sieht man einmal von dem Namen ab — i n drei Punkten, die z. T . noch detailreich ausgesponnen werden, von der skizzierten T r a d i t i o n ab, indem er „seinen" Skiapoden Schwanenfüße verleiht, sie zu Zweibeinern macht und sie sich schließlich nicht gegen Sonne und H i t z e sondern gegen Regen und Sturm durch die breiten Füße schützen läßt. Neuere Forschung konstatiert noch eine vierte Abweichung: „ D i e A n gaben über ihre Schnelligkeit werden hier weggelassen" meint Sowinski i m Anschluß an Szklenar 4 7 und übersetzt V . 4677 f. die juorten grozen gewalt Bartsch, S. X X I X ) beruhende Lücke am Ende der Episode gemindert ist, vielleicht doch nicht so ganz zu Unrecht mit dem besonderen Interesse des bearbeitenden Schreibers an diesen „Geschichten" zu erklären. Im Übrigen ist Meves in dem Verlangen nach einer genaueren Analyse der jeweiligen Kürzungen und Erweiterungen beizupflichten, die natürlich viel schwankender und variantenreicher sind, als ich in meinem kurzen Pauschalurteil andeuten konnte. 144 Die Angabe in Bartschs Lesartenapparat ist zu korrigieren. 43 Voss [Anm. 42], S. 13. Einige Beispiele für den Austausch beider Verben bei M. v. Stosch, Schreibereinflüsse und Schreibertendenzen in der Uberlieferung der Handschriftengruppe + W o von Wolframs ,Willehalm', München 1971, S. 100 oder Jänickes Anm. zu Wolfd. D I X , 74,3. 46 Die Führungsrolle von a ist vor allem von Reitzenstein [Anm. 20] soweit in Zweifel gezogen worden, daß ich im Folgenden von der Fassung a, die insgesamt auch Reitzenstein, z. B. S. 51, für die bessere und zuverlässigere hält, ausgehen kann, die aber um die vier Verse b 15—18 erweitert ist, wobei auch der Anschluß a 13 nach b 19 — Bartsch folgend — korrigiert ist. 47 Sowinski [Anm. 10], S. 392 Anm. z. St.; Szklenar [Anm. 11], S. 167, wo noch fälschlich Isidor zugeschrieben wird, eine celeritas mirahilis in die Skiapodenbeschreibung eingeführt zu haben. — Es muß allerdings zugegeben werden, daß die Eigenschaft „Schnelligkeit" gelegentlich in Skiapodenbeschreibungen fehlt, vgl. den o. Anm. 12 zitierten Beleg aus Ulrichs von Etzenbach ,Alexandreis'; M. R. James, Ovidius de mirabilibus mundi, in: Essays and Studies Presented to William Ridgeway, Cambridge 1913, S. 286—298, V. 85 (s. dazu M. Manitius, Gesch. d. lat. Lit. d. MAs., I I I , S. 735 f.): (56) Scenopoda Hic pedis obiectu sese defendit
ab qstu;
oder, welche Stelle wie die beiden anderen auch stark verkürzt oder durdi Erinnerungslücken rudimentär geworden ist, Jans Enikels ,Weltchronik' (hsg. v. Ph. Strauch), V. 21119 ff. Dort heißt es von Julius Caesar: Dar nach fuor er zehant in der platfüezen lant. die warn griulich gestalt: er waer junc oder alt,
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Christoph Gerhardt
über hart und über bruoch dementsprechend: „ I n Wäldern und Sümpfen übten sie große Macht aus." Dieser — für sich genommen nicht unrichtige — Gedanke scheint mir an dieser Stelle dennoch unpassend zu sein und die Geschlossenheit der descriptio zu zerstören. Der Verfasser des H E D hat, V. 3829, daher m. E. die Verse richtiger und in Ubereinstimmung mit der Tradition verstanden, wenn er sie mit Die Ii e f f en uff brach vnd uff mos wiedergibt 48 . Über die Bedeutung „große Stärke in Bewegung setzen" ist die Möglichkeit gegeben, den Vers als Umschreibung für currere zu verstehen, wie das der Autor des H E C (S. 229, 30), Odo von Magdeburg (s. u. S. 69), oder der Verfasser der ,Gesta Ernesti ducis* (cursu pernici transmeantesy S. 30, 15) auch getan haben. Veranlaßt mag der Dichter des H E zu dieser ungewöhnlichen, mißverständlichen und komplizierten Formulierung dadurch worden sein, daß er, nachdem er seine Geschöpfe mit Schwanenfüßen versehen hatte, diesen eine besondere Funktion zu geben versuchte, indem sie den Skiapoden die Fähigkeit verleihen, nicht nur über festen Sandboden (HE C, F) bzw. Wald, sondern auch über Sümpfe bzw. das Meer (HE C, F, s. u. S. 62 f.) eilen zu können. Diese Fähigkeit wäre dann nur eine sekundäre Ausschmückung der primären Veränderung, der Ausstattung der Skiapoden mit Schwanenfüßen. Parallel zu dieser ersten sekundären Ausweitung der Tradition ist dann noch eine zweite zu sehen, nämlich die, daß die Skiapoden keine Schuhe er het einen fuoz als ein schilt und was eislich als ein wilt er jagt die selben liut da in daz verr Indiä. Es ist singulär, daß Enikel die Lokalisierung der Skiapoden in Indien durch Caesar vornehmen läßt (vgl. o. Anm. 29). F. Massmanns Erklärung (Kaiserchronik I I I , S. 491), daß Enikel bei der Erwähnung der einougen die platfüeze assoziiert habe, trifft daher wohl das Richtige, da von Alters her die Cyclopen aus Sizilien nach Indien vertrieben worden sind, s. Szklenar [Anm. 11], S. 154. Als die Anregung für eine solche Assoziation vermittelnde Quelle kommt der deutschen Namensform wegen trotz Strauchs Einwand (Anm. 5 z. St., S. 404) wohl doch nur der H E in Frage (so Haupt [Anm. 10], S. 289), wenn auch der Vergleich fuoz als ein schilt eher an den ,Reinfried von Braunschweig' (alsam die wannen ) erinnert; vgl. u. Anm. 82. Gestützt wird die Erklärung, daß Enikel die platfüeze hier ohne direkte schriftliche Quelle aus dem Gedächtnis, und daher so fragmentarisch, zitiert habe (vgl. o. Anm. 12), vielleicht dadurch, daß nur die charakteristischste Eigenschaft, die auch den Namen gegeben hat, der große Fuß, genannt wird, das Schattenwerfen und die Schnelligkeit jedoch fehlen. An letztere mag in verstümmelter oder umgedeuteter Weise der Vergleich eislich als ein wilt erinnern, der so und ähnlich öfters verwendet wird; vgl.,Wiener Genesis', Hartmann Schedel (Anm. 71), ,Gesta Romanorum' (Anm. 36), ¿ucidarius* von 1535 (Anm. 71). 48 Bartsch [Anm. 10], S. X X paraphrasiert die Stelle: „ . . . mit denen sie sehr geschwind durch Wald und Busch liefen"; hierbei ist allerdings „Wald und Busch" inkorrekt, vgl. Anm. 108.
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tragen. Bei diesen beiden Details hat der Dichter seine Phantasie zu Wort kommen lassen und das traditionelle Bild in der Sache zwar nicht geändert, aber seinen Lesern und Zuhörern viel einprägsamer und drastischer entworfen; hieran erkennt man, daß der Dichter mehr Spielraum hat als der Gelehrte. Durch die Beliebtheit seiner Dichtung sind im Zuge der verschiedenen Bearbeitungen diese dichterischen Erfindungen traditionsstiftend geworden, wie schon in b, wo zu den Schuhen noch Kleider gekommen sind, wie dann aber besonders deutlich in den lateinischen Übersetzungen zu sehen sein wird. Bevor eine Antwort auf die Frage versucht werden soll, was den HEDichter zu diesen seinen Abweichungen veranlaßt und angeregt haben mag, muß an einige Punkte in Bezug auf die Person des Dichters erinnert werden, über die in der Forschung mehr oder weniger Einigkeit besteht. Zum einen: „Der Verfasser von A gehörte nicht zu den niederen Spielleuten, er konnte lateinisch, der zweite Teil des Gedichtes ruht auf lateinischer Grundlage, er war also ein Kleriker, wenn auch vielleicht ein vagierender." 49 Man muß sich allerdings darüber im Klaren sein, daß damit über den Autor allzuviel nicht ausgesagt ist; denn es dürfte z. B. für den Stil des Werkes von erheblicher Bedeutung sein, ob der Autor bei der Abfassung ein älterer Herr war oder ein junger Geistlicher, ob er, vielleicht altersbedingt, noch literarischen Traditionen verpflichtet war, die schon überholt waren, oder ob er den neuesten literarischen Bestrebungen aufgeschlossen gegenüber stand, die gerade zu seiner Zeit überall sich zeigten 49a . Zum anderen: „ I n die Zeit des weifischen Zusammenbruches, vielleicht auch unmittelbar danach, als der Herzog aus Deutschland verbannt war 49 Ehrismann [Anm. 22], S. 50; den Begriff clericus präzisiert W. Ho ff mann, Mittelhochdeutsche Heldendichtung (Grundlagen der Germanistik 14), Berlin 1974, S. 38. F. Vogt, Gesch. d. mhd. Lit. I, Berlin/Leipzig 31922, S. 103 ist anderer Meinung und sucht den Dichter „in den ritterlichen Kreisen". Daß auch R. Bräuer, Literatursoziologie und epische Struktur der deutschen ,Spielmanns'- und Heldendichtung (Dt. Akademie d. Wiss. zu Berlin. Veröffentlgn. d. Inst. f. dt. Sprache u. Lit. 48, Reihe C), Berlin 1970, S. 8 nur ungern in dem HE-Dichter einen Geistlichen sehen will, ist in Hinblick auf seine Gesamtthese nicht weiter verwunderlich. Auf ebenso unsicherer Basis ruht seine Deutung des H E als „Stadtdichtung", und für geradezu falsch halte ich seine Deutung der „werbewirksamen Orientfahrt" „als handfeste Kreuzzugspropaganda" (S. 9), zumal sie ja eigentlich eine verkappte „Brautwerbungsfahrt" ist, die deren „typische Züge" zeigt (S. 83—88, Zitat S. 83)! Insgesamt fand Bräuer nicht einmal in den eigenen Reihen Beifall mit seiner These, s. Ingeborg Spriewald, Hildegard Schnabel, W. Lenk, H . Entner, Grundpositionen der deutschen Literatur im 16. Jahrhundert, Berlin/Weimar 21976, S. 410 f., wo außerdem eine Neufassung des Begriffes „Spielmannsdichtung" versucht wird. 49 a S. de Boor, Gesch. d. dt. Lit. I, S. 262: „Wir stellen uns den Dichter als einen älteren Mann mit politischen und gelehrten Interessen vor". Der Spott von C. v. Kraus, Abhlgn. d. Bayer. Akad. d. Wiss., philos.-philolog. u. hist. Kl. 30,6, München 1919, S. 4 Anm. 1 über derartige Fragen ist unberechtigt.
3 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 18. Bd.
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(bis 1185), d. h. um oder bald nach 1180, würde demnach das Gedicht entstanden s e i n " 5 0 ; aber man sollte Rosenfelds Warnung, „ m a n bleibt für die Datierung also ganz auf die Dichtung selbst angewiesen" (S. 119) nicht wie üblich allzu leicht bei Seite schieben. Die Lokalisierung schließlich ist so umstritten, daß jüngst die Forschungslage resümiert wurde: „Since the patronage of the Herzog Ernst cannot he established with certainty, this whole question must be left unresolved." 51 Bartsch hatte vorgeschlagen, den Dichter sich „ i n der Umgebung H e i n richs lebend" vorzustellen (S. C X X I X ) , da Heinrich der Löwe „das gleiche Interesse an der damals schön und hoffnungsvoll sich entwickelnden deutschen Poesie" genommen hatte wie sein Vater Heinrich der Stolze und seine G a t t i n Mathilde (ebd.). Diese These, die u. a. sogar Scherer akzeptierte 5 2 , ist von F. Urbanek wieder aufgegriffen worden. Er versucht sie dadurch zu erhärten, daß er eine „mancherorts überraschende Ähnlichkeit [ . . . ] i m Wortschatz, Reimgebraudi und S t i l " 5 3 zwischen dem H E und Berthold von H o l l e feststellt und Belege dafür anführt, die auf eine literarische K o n tinuität am Braunschweiger Weifenhof weisen 54 . Ausgemacht dürfte es jeso de Boor [Anm. 49 a], S. 260; so auch Rosenfeld [Anm. 22], Sp. 396; Hugo Kuhn versieht im RL I, 500 b die Datierung „um 1180" mit einem Fragezeichen; L. Denedte, Ritterdichter und Heidengötter (1150—1220) (Form und Geist 13), Leipzig 1930, S. 60 verlegt den H E in das „vorletzte Jahrzehnt des 12. Jhs."; Schröder [Anm. 22], S. 39 f. schließt sich Rosenfelds Skepsis an; vgl. auch Meves [Anm. 11], S. 136—139, wo die Frühdatierung entschieden abgelehnt wird. Dem Terminus ante quem 1186, dem einzigen als für die HE-Datierung sicher geltenden Datum, ist durch H.-F. Rosenfeld, Das Herzog Ernst-Lied und das Haus Andechs, ZfdA 94 (1965) 108—121 die Grundlage entzogen worden und zugleich auch die enge Bindung an Bayern zumindest in Frage gestellt. 51 W. C. McDonald / U. Goebel, German Medieval Literary Patronage from Charlemagne to Maximilian I. A Critical Commentary with Special Emphasis on Imperial Promotion of Literature (Amsterdamer Publikationen z. Sprache u. Lit. 10), Amsterdam 1973, S. 91 (in dem Abschnitt ,The WelfsM). ö2 W. Scherer y Gesch. d. dt. Lit., Berlin «1902, S. 94; s. z.B. E. Gierach, Zur Sprache von Eilharts Tristrant (Prager dt. Studien 4), Prag 1908, S. 246; K. Schorbach, Studien über das deutsche Volksbuch Lucidarius und seine Bearbeitungen in fremden Sprachen (Quellen und Forschungen 74), Strassburg 1894, S. 9. Vgl. noch Meves [Anm. 11], S. 139, 146 f., 170—173; auch ihm ist die Zuordnung des H E zum weifischen Literaturinteresse nicht unwahrscheinlich. 53 F. Urbanek, Der sprachliche und literarische Standort Bertholds v. Holle und sein Verhältnis zur ritterlichen Standessprache am Braunschweiger Weifenhof, Diss. phil. Bonn 1952, S. 148—154 „Berthold und der »Herzog Ernst'"; Zitat S. 149. G. v. Malsen-Tilborch [Anm. 98] stimmt offenbar vorsichtig zu, s. S. 16 Anm. 54, 177 Anm. 16. 54 „Vom wiederholten Lesen und Hören ging daher etwas vom Reimgebrauch, vom Wortschatz und vom Stil des H E auf B [ertholds] eigenes Dichten über" (ebd., S. 154). Beachtenswert ist daher F. Lichtensteins Hinweis, Eilhart von Oberge (Quellen und Forschungen 19), Strassburg 1877, S. CXC Anm.: „Ich will nicht unterlassen zu bemerken, dass es mir nicht gelungen ist, irgend welche Beziehungen des Tristrant zu dem nach Bartschs Ansicht an dem Hofe Heinrichs des Löwen gedichteten Herzog Ernst zu entdecken". — Über weitere künstlerische Unterneh-
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doch sein, daß der HE-Dichter überhaupt einen Mäzen gehabt hat und die Dichtung nicht als freies Eigentum ihres Urhebers „ i m Räume stand"; nur hat sich der Auftrag, wie auch immer er i m Einzelnen ausgesehen haben mag, i n der Dichtung nicht so ausgewirkt, daß sich sichere und eindeutige Rückschlüsse auf den Auftraggeber und Mäzen ziehen ließen. Eine am Weifenhof entstandene und geförderte Dichtung muß deshalb nicht gleich auch eine prowelfische Hausdichtung sein 5 4 a . Unter den zahlreichen Texten, i n denen die Skiapoden beschrieben werden, ist keiner außer den HE-Dichtungen, i n dem sie ebenfalls Schwanenfüße hätten 5 5 , nicht „schwanenflügelähnliche Füße" wie Jäger [ A n m . 160a], S. 203 mißversteht. Es ist nun auffällig, daß i n Illustrationen „die Füße der Skiapoden mehrfach m i t Schwimmhäuten zwischen den Zehen versehen sind mungen und Aktivitäten am Weifenhof s. P. Paulsen, Drachenkämpfer, Löwenritter und die Heinrichsage. Eine Studie über die Kirchentür von Valthjofsstad auf Island, Köln/Graz 1966, S. 190 ff. Zusammengefaßt: „Sicher ist, daß um Heinrich den Löwen eine Reihe von Kunstwerken steht, die an Zahl und Bedeutung sehr großartig und in ihrer Beziehung auf eine zentrale Persönlichkeit beispiellos ist" (S. 191, nach G. Swarzenski). 54 a Zu dem literar-historischen Phänomen Auftragsdichtung s. die (nicht so neue wie das Erscheinungsdatum vorgibt) Arbeit von Inge Leipold, Die Auftraggeber und Gönner Konrads von Würzburg. Versuch einer Theorie der ,Literatur als soziales Handeln' (GAG 176), Göppingen 1976, die sich ohne ersichtlichen Grund als „Beitrag für eine umfassendere Typologie der Auftragsdichtung" (S. 8) versteht. S. auch in der Anm. 49 zitierten Kollektivarbeit S. 29 oder die anregenden Bemerkungen von F. P. Pickering, Literatur und darstellende Kunst im Mittelalter (Grundlagen der Germanistik 4), Berlin 1966, S. 45—49. 55
S. aber [ R . ] Röhricht
und [ H . ] Meisner,
E i n niederrheinischer bericht über
den Orient, ZfdPh 19 (1887) 1—86, hier S. 12 über Indien:
Vort in eynem andern werde wonent lüde, die en haint nyet me dan eynen voySj ind die is dünne as eynre gans, ind is so breydt, dat sy sich da mit bedeckent intghain de sonne ind vur den rayn ind vur die wilde dier, ind sint snell ind zo male guet schützen. S. 5 ist als Quelle für diesen Bericht Isidor angegeben. Doch der Gänsefuß, das schützende Hochhalten des Fußes gegen Regen und insbesondere die Tatsache, daß sie als gute Schützen bezeichnet werden (s. u. S. 55), die außerhalb der HE-Tradition nie erwähnt wird, machen es zweifelsfrei, daß der anonyme Verfasser, der ohnehin die vorhandenen Berichte der Mongolenmissionare und die Pilgerliteratur nicht benützt hat (s. Röhricht!Meisner, S. 4), bei der Skiapodenbesdireibung auf den HE zurückgegriffen hat. M. Sommerfelds generelle Behauptung, daß für die Verfasser von Pilgerreisebeschreibungen „die aus literarischen Quellen gewonnenen Anregungen nur von sekundärer Bedeutung seien" (Die Reisebeschreibungen der deutschen Jerusalempilger im ausgehenden Mittelalter, DVjS 2 [1924] 816—851, hier S. 831), ist wohl etwas einzuschränken. Nur für die Angabe, daß sie sich mit ihrem Fuß vur die wilde dier bedeckent, findet sich in den anderen Skiapodenbeschreibungen keine Parallele und mag daher ein individueller, ausschmückender Zusatz sein oder auf einem Mißverständnis beruhen, das dem von Jans Enikel ähnelt (s. Anm. 47). Von vil groisser broiche in Indien wird S. 11 und 12 berichtet, über Inseln (werde) als typische Wohnsitze von HeiHenvölkern s. Richters Kommentar zum ,Rolandslied' [Anm. 114], V. 2634. *
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und Entenfüßen, Froschfüßen oder Fischflossen ähneln" 5 6 . Sogar i n einigen Thomas von Cantimpre-Handschriften oder K o n r a d von Megenberg-Illustrationen bekommen die Skiapoden einen Schwimmfuß, obwohl die Texte dafür keinen Anhaltspunkt bieten. Wenn diese ikonographischen Belege auch später liegen als der H E , so scheinen sie mir dennoch nicht zu erlauben, die schwanenfüßigen Skiapoden des H E ohne weiteres als Erfindungen ihres Dichters zu bezeichnen. Wie die Illustratoren darauf gekommen sind, ist eine zweite Frage. Möglicherweise steckt eine ins B i l d gesetzte Redensart: „plattfüßig wie eine Gans" dahinter 5 7 . 56 R D K [Anm. 7], Sp. 804, Abb. 8, 42; weitere Belege bei Wittkower 2], Tafel 44 a, b; L. Randall [Anm. 17]. 5 7 Vgl. DWb V I I , 1912 s.v. Plattfuß, oder Plinius, nat. hist. X , 11
[Anm.
volucrum prima distinctio pedibus maxime constat: aut enim adunctos ungues habent aut digitos , aut palmipedum in genere sunt , uti anseres et aquaticae fere aves. Beide Verdeutschungen bei Diefenbach s. v. palmipedes (S. 407 b): breitfuoß und platte voessen gelten von Vögeln. S. den wenn auch späten Vergleich in Georg Forsters ,Frischen Teutschen Liedlein4 (hsg. v. M. Elizabeth Marriage) II, V I Den besten vogel den ich waiß dz ist ein gans. sie hat zwen preyte fuß dar zu ein lange halß ... und auch J. Grimm , Dt. Mythol. 4 I , S. 356, wo „Bertha mit dem (breiten) Fuß" als „gansfüssige königin" zitiert wird (vgl. S. 232 f.). Vgl. auch RDK [Anm. 7], Sp. 800: „Daß die Füße der Skiapoden wie Entenfüße seien (bei Suidas, 2. H. 10. Jh., überliefertes Ktesiasfragment . . . [ed.Ada Adler IV, S. 378, 2 601]) ist zwar nicht in die allgemeine literarische Überlieferung eingegangen, hat jedoch für einige bildliche Darstellungen Bedeutung . . . " . Da eine direkte Verbindung zwischen Suidas und dem H E nicht nachzuweisen ist, scheint ein ikonographischer Vermittlungsweg naheliegender, für den K. Burdach einige Beispiele bietet: Nachleben des griediisch-römisdien Altertums in der mittelalterlichen Dichtung und Kunst und deren wechselseitige Beziehungen, in: Vorspiel I, 1, Halle/S. 1925, S. 49- 100. Es muß aber bedacht werden, daß Heinrich der Löwe 1172 auf seiner Jerusalempilgerfahrt zu Ostern nach Konstantinopel kam und dort bei Kaiser Manuel einige Zeit weilte. Dabei könnten einschlägige wissenschaftliche Kontakte stattgefunden haben und — neben den Reliquien, u. a. dem Haupt des hl. Gregor von Nazianz — Handschriften den Besitzer gewechselt haben. Denn: „byzantinische Handschriften sind im 12. Jh. reichlicher als in nur einem Exemplar im Abendland umgegangen" konstatiert Hella Voss , Studien zur illustrierten Millstätter Genesis (MTU 4), München 1962, S. 84 Anm. 105 in dem Kapitel, in dem über ikonographische Beziehungen zur byzantinischen Malerei gehandelt wird (S. 52 ff., beachte S. 2). Da es jedoch anscheinend keine illustrierten Handschriften der griechischen Lexika gibt, dürften illuminierte Suidashandschriften kaum darunter gewesen sein. Auch sei nicht verschwiegen, daß nach Ada Adlers Nachweis RE I V a, 1 (1931), Sp. 716, 10 Robert Grosseteste verschiedene Suidas-Glossen (um bei diesem in der Lexikographie eingebürgerten Namen zu bleiben) aus einer ihm gehörenden Handschrift übersetzt hat. Im 13. Jahrhundert ist also eine Bekanntschaft mit diesem Lexikon möglich, sogar in lateinischer Übersetzung, wie Beryl Smalley , English Friars and Antiquity in the Early Fourteenth Century, Oxford 1960, S. 119 belegt. Diese Möglichkeit aber auf das 12. Jahrhundert zu übertragen, scheint mir nicht so ohne weiteres statthaft zu sein. So ist allein schon die Frage nach Kenntnis und Verbreitung des Griechischen im 12. Jahrhundert, ins-
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I n jüngster Zeit hat Wisbey nachdrücklich betont, daß man auch bei dem gelehrten Dichter der ,Wiener Genesis' die Möglichkeit einer Beeinflussung durch nicht schriftliche, sprich ikonographische Quellen keineswegs ausschließen dürfe 5 8 , und daß z. B. von Hrabans ,De universo' seit dem 9. Jahrhundert illustrierte Handschriften existierten. W i t t k o w e r gibt einen Überblick über die ikonographische Tradition der ,Wunder des Ostens* u. a. i n Solinoder Isidorhandschriften und Weltkarten 5 9 . Es ist also nicht unwahrscheinlich, daß der HE-Dichter unter seinen lateinischen Quellen 6 0 eine Handschrift gesehen hat, die einen Skiapoden m i t besondere in Deutschland, bzw. Norddeutschland, im Gegensatz z. B. zu süditalienischen Skriptorien, durchaus ungeklärt, vgl. z.B. Norden [Anm. 116], S. 666 Anm. 1, Béryl Smally, S. 56, 70 f. (aber schon zum 13. Jahrhundert) und B. Bischoff, Das griechische Element in der abendländischen Bildung des Mittelalters, Byz. Zs. 44 (1951) 2 7 - 5 5 ; ders., The Study of Foreign Languages in the Middle Ages, Spéculum 36 (1961) 209-224. So hat, um nur einen, weniger bekannten Punkt zu nennen, die sprachlich-literarisch-theologische Vermittlungstätigkeit des Dominikanerkonvents in Konstantinopel erst im 13. Jahrhundert eingesetzt, s. F. Stegmüller, Analecta Upsaliensia theologiam medii aevi illustrantia, I : Opera systematica (Acta Universitatis Upsaliensis 1953, 7), Upsala/Wiesbaden 1953, S. 322 ff. Im Hinblick auf Odos Skiapodenbeschreibung sei noch angemerkt, daß in der Suidas-Glosse 2 600 die Skiapoden auf allen Vieren kriechen, also wie auch in 2 601, desgleichen bei Hesych (ed. M. Schmidt) IV, S. 44, 2 974 f. (vgl. o. Anm. 14) zwei Beine haben, von denen sie eines gegen die Sonne empor strecken; von einem Abwechseln ist allerdings nicht die Rede. Erinnert sei auch daran, daß nach der Kreuzholzlegende die Königin von Saba bzw. die Sibylle einen oder zwei Gänsefüße gehabt hat, und daß diese Version seit dem 12. Jh. nachzuweisen ist, vgl. W. Hang, Das Mosaik von Otranto. Darstellung, Deutung und Bilddokumentation, Wiesbaden 1977, S. 44 f. mit Anm. 73. In René d'Anjou ,Le Livre du Cuer d'Amours espris' hat die Zwergin Jalousie Füße breit und plump wie die eines Schwans. — Ich kann hier nur auf diese Parallele in der byzantinischen Lexikographie hinweisen; sie in ihrer Bedeutung für den HE-Dichter gebührend einzuschätzen, vermag ich nicht. 58 Wisbey [Anm. 7], S. 196 und Wittkower [Anm. 2], S. 173 f.; vgl. noch: „Man kann sich gut vorstellen, daß Wolfram — obwohl er erwiesenermaßen sonst zu vielfältigen Quellen gegriffen hat — sämtliche Einzelheiten, die er für seine zusammenfügende Beschreibung Cundries und ihres Bruders brauchte, aus illustrierten Werken über Alexanders Heldentaten im sagenhaften Osten hätte schöpfen können. Man kann sogar behaupten, daß solche Werke, Text wie Illustration, einen wesentlichen Einfluß hatten auf abendländische Vorstellungen von exotischen Wesen überhaupt" (Wisbey, S. 203 f.); vgl. auch Henkel [Anm. 81], S. 104, der für den ,Melker Physiologus' eine bildliche Vorlage wahrscheinlich machen kann. s» Wittkower [Anm. 2]. S. 171 - 176. S. noch F. Saxl, Illustrated Mediaeval Encyclopaedias I, I I , in: Lectures, London 1957, S. 228 -254 und D. J. A. Ross, Alexander Historiatus. A Guide to Medieval Illustrated Alexander Literature (Warburg Institute Surveys 1), London 1963, S. 77 - 79 über illustrierte Solinhandschriften. 60 In diesem Zusammenhang wird immer wieder auf die lateinischen Namensformen Arimaspi und Prechami verwiesen, z.B. von Ehrismann [Anm. 22], S. 45 Anm. 7 oder Sowinski [Anm. 10], S. 421, worüber ausführlich Emma CaflischEinicher, Die lateinischen Elemente in der mittelhochdeutschen Epik des 13. Jahrhunderts (Prager deutsche Studien 47), Reichenberg 1936, Nachdruck Hildesheim 1974, S. 279-282 handelt.
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Schwimmfuß sei es als Textillustration, sei es als Marginalie aufwies und er dadurch zu seiner Skiapodendarstellung angeregt worden ist 61 . Solange jedenfalls keine schriftlichen Quellen gefunden werden, die dieses Detail unabhängig vom H E bieten und die dem HE-Dichter einigermaßen leicht zugänglich sein konnten, scheint mir diese Erklärung näher zu liegen, als mit unabhängiger Erfindung des Dichters zu rechnen; denn daß die verschiedenen Illustrationen sämtlich vom H E abhängig sein sollten, dürfte ausgeschlossen sein. Für das zweite, von der Tradition abweichende Detail der Skiapodenbeschreibung, daß nämlich der Fuß gegen Ungewitter, nicht aber gegen Sonne und Hitze, emporgestreckt wird, gibt Szklenar, dem sich Sowinski anschließt, eine Erklärung: „Eine südländische Vorstellung wird durch eine dem Norden verständlichere ersetzt. Der Schatten war wohl für den Süden wichtig, nicht aber für den Norden." 62 In der Sache wird Szklenars Deutung das Richtige getroffen haben. Es verwundert aber etwas, daß Szklenar hier dem Dichter eine so originelle Erfindung zutraut, den er kurz danach wie folgt charakterisiert: „Es fehlt dem Dichter nämlicli durchaus an wirklicher Phantasie. Gewiß, man kann sich kaum Phantastischeres vorstellen als eine Schlacht zwischen einäugigen Arimaspen und schwanenfüßigen Skiapoden und Langohren. Doch diese phantastischen Erscheinungen verdankt der Dichter der Tradition, und es ist allenfalls die Phantasie griechischer Schriftsteller wie des Ktesias, die hier noch nach Jahrhunderten das Publikum unterhält. Der Dichter selber ist auf diesem Gebiete völlig einfallslos. Er vermehrt die Zahl der ethnographischen Wunder nicht, ja er verwendet sogar nur eine sparsame Auswahl aus der reichen Überlieferung, und er setzt sie nicht anders ein, als wären es gewöhnliche Menschen; er weiß mit ihnen nichts anzufangen. Kein originelles Abenteuer entwickelt sich aus der ab-
61 Generell vgl. Marie Theres Bergenthal , Elemente der Drolerie und ihre Beziehungen zur Literatur, Diss. phil. Bonn 1936. — In Kastelaz bei Tramin ist ein fast lebensgroßer Cynocephale mit zwei Entenfüßen dargestellt, vgl. R D K [Anm. 7], Abb. 20 und Sp. 771. Die modifizierte Fußform eines der Völker des Ostens, hier der Skiapoden, ist also nicht singulär und eine Übertragung um so wahrscheinlicher. Nebenbei sei nodi vermerkt, daß auch das Mischwesen des Titelkupfers zu Grimmelshausens ,Simplizissimus' einen Gänse- (oder Enten-) fuß hat, den Stammler [Anm. 96], S. 17 als Hinweis „auf den elbisch-dämonisdien Charakter" versteht; s. den Katalog der Ausstellung: Simplicius Simplicissimus. Grimmelshausen und seine Zeit, Münster 1976, S. 109-116 (Gisela Noehles), wo der „Flossenfuß" allerdings ungedeutet bleibt. Henkel [Anm. 81], S. 107 weist eine Darstellung des Meerwunders ¿illa' mit Entenfüßen nach. «2 Szklenar [Anm. 11], S. 167, Sowinski [Anm. 10], S. 392 Anm. z. St.: „Die dort mitgeteilte Gewohnheit, sich vor der Hitze mit den Füßen wie mit einem Schirm zu schützen, wird jedoch vom Dichter auf nördlichere Verhältnisse, nämlich auf Unwetter, bezogen."
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sonderlichen Erscheinungsform seiner Orientalen." 63 Um die Diskrepanz zwischen dem phantasie- und einfallslosen Dichter, der aber dennoch die „südländische Vorstellung durch eine dem Norden verständlichere" zu ersetzen weiß, aufzulösen, soll auch für diesen Punkt die Quellenfrage, von der Szklenar meinte, daß sie „aus dem Spiel bleiben" könnte 64 , neu gestellt werden. Es ist eigentlich verwunderlich, daß im Zusammenhang mit den Wundervölkern des H E nie auf den ,Lucidarius' verwiesen worden ist 65 , der auf Veranlassung Heinrichs des Löwen am Braunschweiger Hof „zwischen dem Spätsommer 1185, von welcher Zeit an Heinrich wieder in Deutschland weilen durfte und seinem Todestag" [sc. 1195] geschrieben worden sein dürfte 66 . Uber das Zustandekommen dieser ,Summa' heißt es in der älteren, gereimten Vorrede: sine capellane er hiez die rede suochen an den Schriften
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Diese Angabe wird man mit Wilhelm dahingehend deuten, „dass, bevor an die Bearbeitung des deutschen Textes herangetreten wurde, Collectanea in lateinischer Sprache zusammengeschrieben wurden und diese ihrerseits die eigentliche Quelle des Lucidarius gebildet haben... Verfaßt ist das Werk wohl von e i n e m Mann, und die Kapläne, die nach Vorrede A 12 daran arbeiteten, wird man sich als die Zusammensteller der lateinischen Collectaneen denken müssen"68. Bei der Beschreibung von Indien 69 heißt es: «3 Szklenar [Anm. 11], S. 169. Ähnlich urteilt z.B. de Boor [Anm. 49a], S. 261 oder Ehrismann [Anm. 22], S. 46; aus anderer Blickrichtung mit gleichem Ergebnis auch H . Lichtenberg, Die Ardiitekturdarstellungen in der mhd. Dichtung (Forschungen z. dt. Sprache und Dichtung 4), Münster 1931, S. 86. 64 Szklenar [Anm. 11], S. 181 Anm. 3. 65 In W. Wackernagels Gesch. d. dt. Lit., 2. Aufl. v. E. Martin, Basel 1879, I, S. 233 Anm. 13 ist zwar der ,Lucidarius' genannt, doch ohne dabei einen näheren Zusammenhang herzustellen, denn es heißt ebd. auch: „Der Dichter des Ernst aber schöpfte unmittelbar aus Isidors Etymologien"; vgl. o. Anm. 22! Reitzenstein kommt in seiner Dissertation [Anm. 20], S. 93 ff., wo er glaubte, in Honorius* ,De imagine mundi' die Quelle des HE-Dichters gefunden zu haben, meiner Ansicht am nächsten. Den ,Lucidarius* erwähnt Reitzenstein jedoch nicht. Ehrismann [Anm. 22], S. 46 (und andere, ihm folgend) erwähnte Honorius nur ganz beiläufig und konsequenzlos. 66 F. Wilhelm, Denkmäler deutscher Prosa des 11. und 12. Jahrhunderts, A. Texte, München 1914, B Kommentar, München 1916-18, Nachdruck München 1960, S. 225. Die Datierung ist ganz und gar unsicher; im Allgemeinen heißt es ,um 1190'. 67 E. Schröder, Die Reimvorreden des deutschen Lucidarius, GGN 1917, 2, S. 153 - 172; S. 156, V. 12 f. der Fassung A. M Wilhelm [Anm. 66], S. 224 und 226. Daß in Z. 12 von den vier Handschriften nur die älteste den Plural bewahrt hat, erklärt Schröder [Anm. 67], S. 158 einleuchtend mit der Ungewöhnlichkeit der Sache; der Z. 24 und 29 genannte meister dürfte der eigentliche Verfasser gewesen sein. J. Schwieterings Ansicht (Kl. Schriften, S. 195 f.), daß der Prolog von einem der Mitarbeiter stamme,
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Christoph Gerhardt da bi sint lüte heizen Ciclopesdie hant nuwen einen fuoz; die lufent balder den der vogel fleige. swen sie aber sizcent, so schetuwen sü in selber mit dem fuze , unde schirment sich da mite so ungewiter cumet"? 1.
die „zu der Übersetzungskunst des Meisters bewundernd aufsahen", überzeugt nicht recht; und wie G. Eis zu der Erkenntnis gekommen ist, daß der ,Lucidarius' „von zwei Geistlichen" verfaßt wurde, bleibt sein Geheimnis, s. Kurzer Grundriß der germanischen Philologie bis 1500, Berlin 1971, I I , S. 538. — Eine ganz ähnliche Arbeitsweise wie die von Wilhelm für den ,Lucidarius' vermutete nimmt A. E. Schönbach für Bartholomäus Anglicus an, s. Des Bartholomaeus Anglicus Beschreibung Deutschlands gegen 1240, in: Mitteilungen des Instituts f. österr. Gesch.forsch. 27 (1906), S. 61; vgl. auch Manitius y Gesch. d. lat. Lit. d. MAs I, S. 124 f. Vgl. auch Schmidtke [Anm. 26], S. 98, wo über die 29jährige Entstehungszeit des ,Lumen animae' gehandelt wird, für das, wie im Prolog berichtet wird, mit Unterstützung dreier Ubersetzer in vielen Bibliotheken Nachforschungen angestellt wurden. Selbst wenn viele Zitate fiktiv sind, so ist an dieser Angabe über die Länge der Entstehungszeit kein Grund zu zweifeln gegeben. Riedlinger [Anm. 35] führt S. 268, 272 aus, daß Hugo von St. Cher bei der Herstellung seiner Bibelpostillen in der Zeit von 1230-35 „von einem ganzen Stab von Ordensbrüdern unterstützt wurde", wobei diese „Hilfsredaktoren" auch für „einzelne Formulierungen verantwortlich" sein dürften. Auch an König Alfons den Weisen mit seinem Stab von Übersetzern, Kompilatoren, Kopisten und Beratern sowie anderen Gelehrten kann hier erinnert werden. to» Über die verschiedenen Anknüpfungspunkte für die jeweiligen Erd- und Völkerkunden s. G. Glogner, Der mittelhochdeutsche Lucidarius. Eine mittelalterliche Summa (Forsch, z. dt. Sprache und Dichtung 8), Münster/W. 1937, S. 35 f.: a) an das Sechstagewerk, b) an den Sündenfall, c) an die Söhne Noahs, d) an den Turmbau zu Babel. Im ,Lucidarius* ist diese Passage äußerlich an die Söhne Noahs geknüpft, „der eigentliche innere Anknüpfungspunkt ist das Schöpfungswerk" (Glogner, S. 37). Vgl. auch H . J. Witzel, Der geographische Exkurs in den lateinischen Geschichtsquellen des Mittelalters, Diss. phil. Frankfurt/M. 1952. 70 Hier liegt ein Fehler vor, der nur in gelehrten Kreisen entstanden sein kann. Die monocöli (Plinius, Solin, Gellius), ,Einschenklige, Einfüßler' wurden mit den monoculi »Einäugige* verwechselt und für dieses dann das gleichwertige cyclopes ,Rundäugige' eingesetzt. Vgl. neben R D K [Anm. 7], Sp. 800 o. Anm. 12, 14 den ,Reinfried von Braunschweig' und u. S. 57 mit Anm. 105. Einem umgekehrt verlaufenden Mißverständnis verdankt vielleicht der Waldmensch sein Aussehen, so wie er in ,The Lady of the Fountain', in: The Mabinogion, Translated with a Introduction by G. and T. Jones (Everyman's Library 97), London 1961, S. 158 geschildert wird: „ . . . and a big black man shalt thou see on the middle of the mound who is not smaller than two of the men of this world. And one foot has he, and one eye in his forehead's core; and he has a club of iron . . . " (vgl. Wisbey [Anm. 7], S. 205 Anm. 85); hier wird ein Cyclop als monocölus geschildert, s. Barbara Seitz, Die Darstellungen häßlicher Menschen in mittelhochdeutscher erzählender Literatur von der Wiener Genesis bis zum Ausgang des 13. Jahrhunderts, Diss. phil. Tübingen 1967, S. 69. Daß auch Skiapoden häufiger als Einäugige dargestellt worden sind, ist R D K [Anm. 7], Sp. 803, nachgewiesen, s. die Anm. 25 genannte Abb. und Wittkower [Anm. 2], Tafel 42 a. 71 S. ,Lucidarius' (hsg. v. F. Heidlauf), S. 12,7 ff. In den ältesten ,Lucidarius'Fragmenten ist diese Stelle nicht erhalten, s. Marlis Dittrich, ZfdA 77 (1940) 218 -255 und V. Mertens, ZfdA 97 (1966) 117- 126. In dem Druck von Augsburg 1479 (Johannes Bämler) lautet die Stelle: da bey sei lewt die heyssend Ciclopes, die habent nicht mer dann eynen fuß vnd lauffend tratter dann eyn vogel gefliegen mag wan sy sitzend so beschattent sy sich selber mit den fussen
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H i e r finden w i r neben dem traditionellen sich Schatten werfen auch die Variante, daß der platfuz
als Regenschirm verwendet w i r d .
Ich möchte nun die These wagen, daß der Dichter des H E , ein Kleriker, i n irgendeiner Weise Zugang zu den Collectaneen gehabt hat, die zur V o r bereitung des ,Lucidarius' sicherlich nicht von Heute auf Morgen gesammelt w u r d e n 7 2 — Thomas arbeitete an seiner Enzyklopädie gut 14 Jahre und auch Bartholomäus exzerpierte nicht weniger lange — , bzw. daß er m i t den capellanen, die m i t den Sammlungen beschäftigt waren, i n Verbindung gestanden und von daher insgesamt an die Kenntnisse, die er für den „Orientteil" seiner Dichtung brauchte, und damit auch an die Skiapoden, gekommen (Apollonius von Tyrus. Griseldis. Lucidarius, mit einem Nachwort von H. Melzer, H. D. Kreuder und dems. [Dt. Volksbücher in Faksimiledrucken A 2], Hildesheim/New York 1975, [S. 14]). Bezeichnenderweise fehlt hier schon der für meine Fragestellung wichtige letzte Satz, vgl. Schorbach [Anm. 52], S. 142. Im ,Lucidarius'-Druck von Straßburg 1535 (Jacob Cammerlander) ist diese Beschreibung völlig neu gefaßt und zwar in partieller Übereinstimmung mit den ,Gesta Romanorum' [Anm. 36] und Hartmann Schedels zweiter Version (s. o. Anm. 28 die erste), vgl. auch Schorbach [Anm. 52], S. 145 - 148, 275; ,Weltchronik', S. X I I r: Itez [sie] in ethiopia gein dem nidergang sind lewt mit einem prayten fuss. vnd so schnell das sie die wilden thier erfolgen. Im ,Lucidarius' von 1535, dem ersten nachreformatorischen und unter dem Einfluß der Reformation stehenden Druck, lautet die Stelle: In Ethiopia gegen dem nidergang sind leut mit einem einigen breiten fuß und so schnelly das sie die wilden thier erfolgen; unnd beschatten sich offtmals vor der Sonnen hitz mit der breite irer fuß (in: Volksbücher von Weltweite und Abenteuerlust, hsg. v. F. Podleiszek [DLE, Reihe Volks- und Schwankbücher 2], Leipzig 1936, Nachdruck Darmstadt 1964, S. 110, 2 ff.). Im Übrigen — das sei eigens betont — bleibt wie bei jeder Untersuchung, die auf genauen Wortlaut des originalen ,Lucidarius' angewiesen ist, auch bei mir ein ungewisser Rest Unsicherheit, da die Heidlaufsdie Ausgabe (wegen der DTM-Prinzipien) sehr unvollständig und, was die Variantenmitteilung anbelangt, nur in Maßen brauchbar ist, und die bisherigen Vorstellungen von dem Original durch Mertens' Fund eher noch weiter verwirrt sind. Doch hätte Heidlauf s a c h l i c h e Varianten aus der Rezension I I (Schorbachs A) wohl angeben müssen (s. S. X I V ) , so daß ich damit rechnen darf, es haben die für meine Frage wichtigen Zeilen mit der Skiapodenbeschreibung i m W e s e n t l i c h e n so wie zitiert im Original-,Lucidarius' gelautet; s. Anhang I. 72 Uber die Art der Quellenbenützung und die Arbeitsweise s. F. Heidlauf, Das mittelhochdeutsche Volksbuch Lucidarius, Diss. phil. Berlin 1915, S. 40-69. Als Vorlagen hat Schorbach [Anm. 52], S. 157 das ,Elucidarium', ,De imagine mundi' und die ,Gemma animae' (bzw. nadi Glogner [Anm. 69], S. 4 Ruperts von Deutz ,De divinis offieiis') des Honorius sowie die unter dessen Namen laufende Schrift ,De philosophia mundi' von Wilhelm von Conches nachgewiesen. Aber es müssen, wie „eine eingehende Vergleichung zeigt, . . . für manche Teile noch andere Quellen vorgelegen haben" (Heidlauf, S. 40). S. 53 hält Heidlauf eine „direkte Benutzung" von Plinius für „rundweg ausgeschlossen"; das Gleiche gelte für Solin. Im Übrigen ist Heidlauf hinsichtlich der Quellenfragen in den wenigsten Fällen zu einem positiven Resultat gelangt.
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ist: „Gespräche bilden den Hintergrund zu jedem mittelalterlichen Werk" formulierte Pickering [Anm. 54], S. 47! Es scheint mir sehr viel wahrscheinlicher und auch naheliegender, daß der meister oder ein Mitglied seines Mitarbeiterstabes, die souverän mit ihrem Stoff umgegangen sind, die hier zur Debatte stehende Umdeutung auf die »nördlicheren Verhältnisse' hinzugefügt haben — sei es auf Grund eigenständiger Überlegung, sei es nach einer noch in einer Handschrift verborgenen lateinischen Variante —, und daß der HE-Dichter nur diese eine Variante als die seiner Vorstellungswelt konformere ausgewählt hat, als daß die gelehrten Sammler sich von dem HE-Dichter hätten anregen lassen sollen, zumal man dann erwarten sollte, auch eine Spur der anderen Abweichungen von der Tradition durch den HE-Dichter im ,Lucidarius' erkennen zu können. Denn daß zwei Autoren — der eine (bzw. der Stab) mit Sicherheit, der andere mit Wahrscheinlichkeit — etwa zur gleichen Zeit 7 3 am Hofe Heinrichs des Löwen ihre Werke geschaffen hätten, ohne von einander zu wissen, halte ich für sehr unwahrscheinlich. Gibt man jedoch diese Verbindung zu, dann wird mit einem Schlage der „Sitz im Leben" des H E wesentlich deutlicher zu erkennen als bisher. Das durch die Kreuzzüge im Allgemeinen und Heinrichs des Löwen Pilgerzug ins Heilige Land im Besonderen neu geweckte Interesse des Publikums an Berichten über den Orient trägt zwar die Dichtung vom H E ebenso wie die ,Summa'74. Aber der Dichter schöpfte ebenso wie der Enzyklopädist seine Kenntnisse über den Orient aus der wissenschaftlichen Auf die Unsicherheit, bzw. Willkür der Datierungen beider Werke sei nochmals hingewiesen. Die unbestimmten Datierungen de Boors (,um oder bald nach 1180') und Wilhelms (ab 1185) lassen eine zeitliche Überschneidung zumindest nicht unmöglich erscheinen. K. Bertau, Deutsche Literatur im europäischen Mittelalter, 2 Bde., München 1972/73, übernimmt S. 647 Wilhelms Datierung mit einer durch die Kürze unrichtigen Angabe über die Quelle S. 1335. Den HE hat Bertau offenbar, wie z. B. den ,Moriz von Craün* auch, vergessen. 74 Vgl. zum H E Chr. Gerhardt , Verwandlungen eines Zeitliedes. Aspekte der deutschen Herzog-Ernst-Überlieferung, in: Verführung zur Geschichte. Fs. z. 500. Jahrestag der Eröffnung einer Universität in Trier. 1473 - 1973, Trier 1973, S. 71 - 89 oder F. Vogt und M. Koch , Gesch. d. dt. Lit. »I, S. 90; zum ,Lucidarius' vgl. Glogner [Anm. 69], S. 33: „Der Abschnitt über die Ordnung der Welt (8, 16-30,5) wird es gewesen sein, der in erster Linie dem Lucidarius zu seinem großen Erfolg verholfen hat", oder Doberentz [Anm. 22], S. 388, 393, 401 ff.; die schon für den ,Lucidarius* nachgewiesene „Vernachlässigung des geographisch-topographischen dementes und dem gegenüber zweitens das anwachsen der fabelhaften und wunderreichen bestandteile" (S. 424) belegt Doberentz , S. 426 ff. für verschiedene, auf Honorius fußende Werke. Weil der H E und der Alexanderroman, wie ich meine, zu Recht nebeneinander gesehen werden (vgl. Gerhardty S. 80), ist in diesem Zusammenhang von Bedeutung, daß die volkssprachliche „Rezeption der antiken Alexanderliteratur in die Zeit der Kreuzzüge fiel, in der das Interesse am Orient besonders stark war" (H. Buntz , Die deutsche Alexanderdichtung des Mittelalters [Slg. Metzler 123], Stuttgart 1973, S. 1).
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Überlieferung und nicht etwa aus mündlichen Augenzeugenberichten 74a. So wird auch verständlich, daß es nicht möglich ist, zwischen der Pilgerfahrt Heinrichs und Herzog Emsts Kreuzfahrt wirklich eindeutige, historische Verbindungen nachzuweisen75, und daß vielmehr der erste Teil von Emsts Orientreise mit der Reise St. Brandans zusammenhängt76 oder Parallelen zu der Reisebeschreibung des Benjamin von Tuidela zeigt (s. Bartsch [Anm. 10], S. CXLVf.), in der das Lebermeer auch schon nicht mehr in Nordwesteuropa (vgl. MSD 3 I I , S. 190 f.), sondern im Orient liegt. Der Weifenhof, an dem mindestens die Quellen — und zwar ganz „moderne" —, die für den ,Lucidarius' herangezogen und exzerpiert wurden 77 , bereit standen, bot dem HE-Diditer die denkbar besten Voraussetzungen und Möglichkeiten, durch einschlägige Handschriften, u. U. mit Illustrationen, die ja um diese Zeit noch durchaus Kostbarkeiten darstellten und nicht überall in beliebiger Menge greifbar waren, aber auch durch wissenschaftliches Gespräch mit guten Kennern der Materie, sich sein Wissen um die ,Wunder des Ostens* anzueignen, das er dann dem staunenden Publikum vorlegte. Die dem H E und dem ,Lucidarius' gemeinsame Einstellung gegenüber den „Wundern des Ostens" schließt diese beiden Werke, in denen sie „ohne direkten Bezug zum heidnisch-bösen Bereich" 773, allein mit ethnographi74a So auch P. Kunitzsch, Die orientalischen Ländernamen bei Wolfram (Wh. 74,3 ff.), in: Wolfram-Studien I I , Berlin 1974, S. 152, der meint, daß für die Beurteilung und Erklärung der Orientalia Wolframs „gerade auch das Element mündlicher Berichte, von Augenzeugen etwa, prinzipiell ausgeschaltet bleiben sollte". Den Vermittlungsweg von den lateinischen und altfranzÖsisdien schriftlichen Quellen bis hin zur Person Wolframs läßt Kunitzsch offen (ob Wolfram also selbst gelesen hat oder sich hat vorlesen lassen [s. S. 168 „Gewährsmann"]); vgl. noch ders., Quellenkritische Bemerkungen zu einigen Wolframschen Orientalia, in: WolframStudien I I I , Berlin 1975, S. 263 - 275, bes. S. 264 f., 274 f. Sommerfelds^ Überblick [Anm. 55] behandelt die frühen Berichte, auf die es hier ankommt, nicht. 75 Vgl. St. J. Kaplowitt, ,Herzog Ernst* and the Pilgrimage of Henry the Lion, Neophil. 52 (1968) 387-393, dem Meves [Anm. 11], S. 136 zustimmt. 76 Vgl. H . Beckers, Brandan und Herzog Ernst. Eine Untersuchung ihres Verhältnisses anhand der Motivparallelen, Leuv. Bijdr. 59 (1970) 41 - 55, und kurz Meves [Anm. 11], S. 138. Doch steht die Sage vom die Schiffe verderbenden Magnetberg auch im ,Commonitorium Palladii' (ed. F. Pfister, Kleine Texte zum Alexanderroman, Heidelberg 1910, S. 2,17 ff.) und dürfte im Rahmen der Alexandertradition bekannt gewesen sein, und sie wird weiterhin in Steinbüchern arabischen Ursprungs tradiert; vgl. V. Rose, Aristoteles de lapidibus und Arnoldus Saxo, ZfdA 18 (1875) 321 - 455, hier S. 368,7 ff., dazu S. 410 ff., vgl. S. 338 ff. (nicht S. 440, Nr. 52 oder in Volmars Steinbuch, bei Isidor, Bartholomaeus, Thomas, Alexander Neckam). S. 332 beklagt Rose die „einmengung des fabelhaften (Alexander-sage)" in das Steinbuch. 177 1 Glogner [Anm. 69], S. 4 führt aus, daß die Auswahl „zweckmäßig und naheliegend" war. 77a B. Seitz [Anm. 70], S. 69; vgl. ebd. S. 25 und S. Stein, Die Ungläubigen in der mittelhochdeutschen Literatur von 1050 bis 1250, Diss. phil. Heidelberg 1933, Nachdruck Darmstadt 1963, S. 54.
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schem Interesse angesehen werden, denn auch enger zusammen und setzt sie von anderen Dichtungen ab, in denen diese Völker als Vertreter des Typus „wilder Heide" fungieren. Die Modifizierung der Tradition, wie sie im H E und im ,Lucidarius' zuerst, später in weiteren volkssprachlichen Dichtungen, die auf diesen beiden Texten beruhen 78, vorgenommen worden ist, möchte ich also in die ge7S S. Rudolf von Ems, »Weltchronik4 (hsg. v. G. Ehrismann , V. 1619 - 1636, in Doberentz* Teilausgabe [Anm. 22], nach der ich zitiere, da sie auf einer größeren Zahl von Handschriften beruht, V. 316- 333): und bi den Cenopodes: daz ist ein wildes liut; daz hat einen fuoz , dar üf ez gät: der ist groz y unde also breit , 320 so sich an sinen rugge leit der man sor ungewiter siht y so enmac ez im geschaden niht y swenner den fuoz ob im hat, der im vil kleine iht schaden lät 325 ungewiters körnenden fluz und gerigens wazzers guz und da bi sunnen hitze. mit also frömder witze daz selbe liut im selben git 330 schirm und schatten zaller zit. dise selben Hute sint snel und draete alsam der wint y swennes in iemer not geschiht. Doberentz , S. 408 ff. leugnet einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem ,Lucidarius' und Rudolfs ,Weltchronik', vor allem wegen des Umstandes, „daß jene züge, welche sich im deutschen Lucidarius bei einer vergleichung mit seiner vorläge als eigentümliche zusätze seines Verfassers herausstellen, bei Rudolf nirgend vorkommen." (S. 409). Dies trifft auf den Zusatz, der über das ungewiter handelt, ganz eindeutig nicht zu. Da Doberentz bei der Behandlung von Rudolfs eigenen Zusätzen u. a. ,Flore and Blancheflure', V. 2071 ff. (doch vgl. F. Ohly y Hölzer, die nicht brennen, ZfdA 100 [1971] 63 -72, bes. S. 66) und sogar den H E als Quellen nennt (S. 435 f., 439), also volkssprachliche Literatur, so dürfte Rudolfs Skiapodenbeschreibung nicht unabhängig vom H E und vom ,Lucidarius' entstanden sein. — Christine Kratzert , Die illustrierten Handschriften der Weltchronik des Rudolf von Ems, Diss. phil. FU Berlin 1974 verzeichnet unter den von ihr untersuchten elf Handschriften keine Illustration zu den Wundern Indiens; s. die Tabelle der Bildthemen, S. 67 ff. — Die Bearbeitung der ,Weltchronik' durch Heinrich von München (s. I. V. Zingerle , Eine Geographie aus dem 13. Jahrhundert, WSB 50, 4, Wien 1865, S. 371 -448, V. 330-345) weist nur eine bedeutendere, inhaltliche Variante auf: V. 324-26 sind in einen Vers zusammengezogen: der im den regen niht schaden lät. — Bedeutender sind die Abweichungen in der unter dem Namen ,Historienbibel I I ' (hsg. v. J. F. L. Th. Merzdorf) laufenden Prosaauflösung, die auf deutlichen Mißverständnissen und nicht anderen Traditionen beruhen : ... und by den Enopotes [s. Anm. 139] das ist ein wildes tier [!], das hat einen fus daruff es stet und get der ist also breit und also gros wenn er sich an sine ruwe [s. Anm. 92] leit so decket er sich mit sine füsse und mag ime
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lehrten geistlichen Kreise verlegen, die am Weifenhof i n der Umgebung Heinrichs des Löwen an der Enzyklopädie arbeiteten; denn daß der ,Lucidarius' die direkte Quelle für den HE-Dichter gewesen sein sollte, läßt sich nicht schlüssig nachweisen. Daß aber zweimal die „südländische durch eine dem Norden verständlichere Vorstellung ersetzt" sein sollte, ohne daß ein Zusammenhang bestünde, ist kaum vorstellbar. Eine solche etwas gebrochene, vielleicht auf Mündlichkeit beruhende Beziehung zum JLucidarius' und der ,Imago mundi' w i r d durch einen zweiten Berührungspunkt noch wahrscheinlicher. Dabei sollte auch bedacht werden, daß die meisten der großen Enzyklopädien (Thomas, Bartholomäus, V i n zenz, Albertus z. B.) nach dem H E und dem ,Lucidarius' entstanden sind, entsprechend dem allgemeinen, sich z. B. besonders deutlich i n der Astrologie manifestierenden Neueinsatz der Naturwissenschaften, der seit dem 13. Jahrhundert sich auch i n Deutschland durchzusetzen beginnt. Die der Skiapodenbeschreibung unmittelbar vorausgehende Angabe des Honorius: kein ungewitter geschäden. Dasselbe volcke [!] git yme selber schirme schetten und sint gar snelle und drate also der wint.
und
Auch die Beschreibung in Friedrich Dedekinds Grobianus verdeutscht von Kaspar Scheidt [hsg. v. G. Milchsack] (Neudrucke dt. Lit.werke d. X V I . und X V I I . Jhs. 34 - 35), Halle/S. 1882, cap. I, 8, V. 2247 ff., geht z.T. auf den H E zurück, der V. 2257 Von Hertzog Emsts bewartem schiff ausdrücklich zitiert wird, und zwar vermutlich auf die Volksbuchfassung (so A. Hauffen, Caspar Scheidt. Der Lehrer Fischarts. Studien zur Geschichte der grobianischen Litteratur in Deutschland [Quellen u. Forsch. 66], Straßburg 1889, S. 59, Anm. 2). Zwischen der Beschreibung der Cynocephalen einerseits und der der Panoten und Acephalen andererseits heißt es: Der Daß Vnd Daß
hab ein fuß der sey so breit, er den regen jm abtreit 3 lauff doch so geschwind darmit jm kein thier entfliehe nit.
y
In Friedrich Dedekinds ,Grobianus' (ed. A. Boemer) fehlt diese Anspielung; es ist nur von Cynocephalen und Menschenfressern die Rede (V. I, 8, 87 f.). — Johann Fischart kennt nicht nur den H E G , wie Bartsch [Anm. 10], S. C X L I I I anmerkt, sondern auch eine andere Version, denn er nennt in der ,Geschichtsklitterung' (hsg. v. H. Sommerhaider, cap. 3, S. 55) neben Giganten und Einhohen Kranchshelden, womit nicht die „Kranichmenschen" gemeint sind, wie Ute Nyssen im Glossar (Düsseldorf 1964), S. 48 z. St. (S. 55,10) angibt, sondern die Pygmäen, auch einen Blatt fuß y den Fischart wohl nur aus dem HE genommen haben kann. Auch Pantagruel trifft im ,Teppichland' auf die monopes, neben Cynocephalen und Satyrn (V, 30). Dabei dürfte es sich doch wohl um die ,Einfüßler' handeln, und nicht um eine „Büffelart" wie die Kommentatoren z. St. (freundlicher Hinweis von Herrn Professor H.-J. Niederehe, Trier) es wollen. — Ob die Skiapodenbeschreibung in den sog. ,Rothschild Canticles' wirklich von dem deutschen ,Lucidarius' abhängt, wie Wisbey [Anm. 7], S. 191 vermutet, kann ich nicht nachprüfen, da die ebd. Anm. 38 genannte Ausgabe von M. R. James in Deutschland über die Fernleihe nicht zu bekommen ist. Vor allem wegen des Anm. 81 und 82 angesprochenen Problems, eines möglichen Einflusses der volkssprachlichen Enzyklopädie auf lateinische, könnte dieser Text von Bedeutung sein.
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ibi sunt et monoculi et Arimaspi et Cyclopes , die im ¿ucidarius* (hsg. v. Heidlauf, S. 12, 6 f.) ebenfalls etwas gestört ist und die Rudolf von Ems so übersetzt hat (hsg. v. Doberentz [Anm. 22], V. 314 f.), „dass man glauben muss, er halte alle drei für verschiedene Völker" (Bartsch [Anm. 10], S. C L X V I I ) , und die schließlich in der Prosaauflösung, der ,Historienbibel I I ' (hsg. v. Merzdorf, S. 615) erweitert und völlig verunstaltet ist: Ouch so sint gesessen nohe doby die wilden Etistamasti dem an der Stirnen ein Ciclopes hanget , diese Angabe des Honorius also hat der HEDichter dahingehend verstanden, daß er, wie schon Reitzenstein [Anm. 20] gesehen hat, „monoculi mit einsterne übersetzt hat, Arimaspi bei ihm das Land heisst und Cyclopes er für die lateinische Bezeichnung hielt" (S. 93). Daß es die Formulierung des Honorius war, die ein solches Verstehen provozierte, wird aus dem Vergleich mit der des Thomas von Cantimpre deutlich: Hominum alii sunt ibi monoculi , qui Arismaspi et Cyclopes nominantur , in media fronte unum oculum habentes ( I I I , 5, 13), die Konrad von Megenberg im ,Buch der Natur 4 ganz korrekt übersetzt hat: Ez sint auch da selben ainäug laut, die haizent arismaspi und cyclopedes und habent ain aug ze mittelst an der stirn (S. 490, 15 ff.). Daß die Erläuterung des ,Lucidarius': die hat nuwen ein ouge vor ander Stirnen (hsg. v. Heidlauf, S. 12, 6), die sich bei Honorius und dementsprechend auch bei Rudolf von Ems nicht findet und die auf Isidor, Etymol. X I , I I I , 16: ei dictos Cyclopes eo quod unum habere oculum in fronte media perhibentur zurückgehen wird, im H E B V. 4518 f. nahezu identisch auftritt: sie heten niht wan ein ouge vorne an dem hirne (s. Bartschs Anm. z. St.), unterstreicht die Zusammengehörigkeit beider Texte bei je spezifischen Beziehungen zur gemeinsamen Quelle. War es möglich, zwei der scheinbaren Singularitäten aus ihrer Isolierung zu lösen und in einem größeren Zusammenhang als „normal" zu erweisen, so will das bei der dritten, der Zweibeinigkeit, nicht recht gelingen, und man wird wohl doch mit einem Mißverständnis zu rechnen haben. Im jLucidarius' heißt es kurz vor der Skiapodenbeschreibung: da bi sint wib , die ze einem male funfzen
kint
gewinnend,
was ein „wunderlicher Übersetzungsfehler" von Honorius* Angabe: Sunt aliae , quae quinquennes pariunt 80 ist, der nicht ohne geistige Winkelzüge nachvollziehbar ist. Wenn den gelehrten Mitarbeitern oder dem Meister 79 ,Lucidarius' (hsg. v. Heidlauf ), S. 12,4 f., ebenso im Druck von 1479; vgl. im Druck von 1535 (hsg. v. Podleiszek, S. 110, 17) Ire weiber geperen inn funff jaren; weitere Belege bei Doberentz [Anm. 22], S. 410. 89 S. Doberentz [Anm. 22], S. 409.
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selbst beim ,Lucidarius f solche Versehen unterlaufen konnten, dann kann man dem HE-Dichter, ohne ihm Unrecht zu tun, auch einen solchen Lapsus unterstellen. Zwei Möglichkeiten, wie es zu diesem Mißverständnis gekommen sein könnte, will ich andeuten. Die eine geht von einem falsch verstandenen schriftlichen Text aus. O. Anm. 28 habe ich den ,Liber monstrorum' zitiert, in dem es heißt: Singula tantum in pedibus crura habent et eorum genua inflexibili compagine.
durescunt
Der Plural in pedibus (bzw. cruribus), der auch bei Augustin, Isidor, im ,Summarium Heinrich, bei Plinius, Solin, Gellius, Hraban und Vinzenz steht und jeweils das Volk als Gesamtheit meint, mag die falsche Vorstellung von den zwei Beinen hervorgerufen haben, die durch eine Formulierung wie im ,Liber monstrorum' besonders nahegelegt wird. Vergleichbar ist die Tatsache, daß gelegentlich von Psalterillustratoren, die den Plural unicornium (Ps. 77, 69), zu berücksichtigen suchen, Einhörner als zweihörnige Tiere dargestellt werden; vgl. J.W. Einhorn [Anm. 82], S. 107, aber auch S. 43, 49, 79. Denn daß eine rationalistische Überlegung des HE-Dichters hinter der Zweibeinigkeit stünde, wie sie der so aufgeklärte Albertus Magnus angestellt hat 81 , erscheint mir völlig unwahrscheinlich, weil von solcherlei rationalistischen Gedankengängen im H E sonst nichts zu spüren ist. "
Albertus Magnus, ,De animalibus libri X X V I ' (ed. H. Stadler), I, 87 und 88: Sed hoc observat natura, quod in omni animali pares constituit pedes y unum contra unum in utroque latere, ut aequaliter portetur pondus corporis. Uno autem pede nullum animal continue moveri potest, quia non ambularet nisi levato et posito pede: et cum levaretur pes, nichil portaret corpus, ed ideo tunc caderet: et ideo falsum esse convincitur, quod dicitur de monopedibus: et quod dicunt, quod vadunt saltando [vgl. o. Anm. 29], nichil est: quia talis motus non potest esse continuus propter suam inordinationem et difficultatem. Adhuc autem cum pes detur ad portandum corpus, opportet, ut pes fortis et levis respectu corporis: quia si gravaretur duplici onere y proprio videlicet et corporis, non continue sustineret portationem. Et per hanc rationem patet, quod est absurda falsitas, quod dicitur de magnipedibus, qui pede se cooperiant ab imbribus et sole, sicut scribitur in Mappa mundi.
Mit Mappa mundi ist vielleicht Honorius' ,Imago mundi' gemeint, die nach Doberentz [Anm. 22], S. 301, 422, 427, 429 ff. öfters diesen Titel bekommen hatte. Eine gereimte, deutsche ,Mappa mundi' weist Hauber [Anm. 103], S. 40 f. nach und gibt S. 41 Anm. 1 weiterführende Hinweise. Uber eine afrz. ,Mappemonde' s. L. Olschki, Die romanischen Literaturen des Mittelalters (Handbuch der Lit.wiss.schaft), Wildpark-Potsdam o. J. [1928], S. 164; doch s. auch R D K [Anm. 7], Sp. 800 den Hinweis auf eine Weltkarte. Auffällig ist, daß Albert die Angabe ab imbribus hat; vermutlich wird er sie aus einer Handschrift des oft von ihm getadelten (s. Rose [Anm. 76], S. 340 f.) Thomas, der hier ja seine Quelle war (so
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Nichts i m H E deutet darauf hin, daß der Dichter solch eine geradezu erboste Bemerkung überhaupt auch nur hätte tun wollen, wie sie sich am Schluß einer Handschrift der ,Epistola domini Iohannis presbiteri Y n d i a n i ad Emanuelem Romanorum imperatorem de mirabilibus Yndiae' findet: Immo die pocius de mendaeiis (s. Zarncke [ A n m . 13] S. 886, N r . 14). Der HE-Dichter steht in dieser Frage vielmehr auf einem Standpunkt (vgl. V . 4580 f.), den der Verfasser des ,niederrheinischen Berichtes über den Orient* [ A n m . 55, S. 13] kurz und bündig formuliert hat: ind diese lüde dunckent uns as seltzen as wir sy, bzw.: die dunckent, dat wir tzienvalt seltzenre sin, dan sy uns ummer dunckent (S. 64); den Peter Hades einem „verwundeten Krieger" i n den M u n d legt: „ I n ihrem Lande wirken sie nicht so albern" (,Das Volksbuch v o m Herzog Ernst', I I , 4). Der zweite Erklärungsversuch geht von einer bildlichen Darstellung aus. I m R D K ist angegeben, daß „ausnahmsweise liegende oder stehende Skiapoden m i t zwei Beinen dargestellt w e r d e n " 8 2 . Einer der wenigen Belege 83 Rose [Anm. 76], S. 335, Wittkower [Anm. 2], S. 171 Anm. 1, Henkel, S. 159 und Hünemörder [Anm. 19], S. 354, 356), haben, die nicht die ursprüngliche Version hatte (s. o. Anm. 19), sondern einer der u. Anm. 82 zitierten ähnliche. Und ebenso auffällig ist, daß er die traditionellen Namen meidet und dafür monopedes und magnipedes benützt; aber auch dieses Faktum dürfte durch seine Quelle bedingt sein, die ja keinen Namen bot (s. o. Anm. 19). Dadurch setzt er sich von den meisten anderen Autoren (doch s. o. Anm. 34) ab, die er aus Verachtung nicht nennt (s. Rose [Anm. 76], S. 334 f.), aber dennoch geradezu vehement bekämpft falsum essey nichil est, absurda falsitas (vgl. Kolb [Anm. 3], S. 607 f.) und ähnelt vielmehr den volkssprachlichen Namen platfüeze bzw. plathuove. Vgl. auch Wittkower [Anm. 2], S. 165 f. über „an enlightened interlude a mit ähnlichen, rationalistischen Überlegungen wie sie Albert anstellt. — Zum Problem, in welchem Ausmaß Geschichten dieser Art als naturkundliche Wahrheit geglaubt worden sind, vgl. N. HenkeU Studien zum Physiologus im Mittelalter (Hermaea 38), Tübingen 1976, S. 139 ff., Lauebert [Anm. 26], S. 103 f., Schmidtke [Anm. 26], S. 158 ff. 82 S. RDK [Anm. 7], Sp. 804 mit insgesamt vier späten Belegen. Bei Wittkower [Anm. 2] sind Skiapoden abgebildet auf Tafel 42 a (Solinhs.), b, c (Hrabanhss.), 44 a (Thomashs., mit Entenfuß), b (Megenbergdruck, mit Entenfuß), c (Bestiarium), 45 d (Livre de Merveilles), 46 a—h; unter diesen Skiapoden ist kein zweibeiniger. — Es seien noch einige Abbildungen von Skiapoden aufgeführt, die bei Wittkower und im RDK-Artikel nicht abgebildet oder bibliographisch nachgewiesen sind: auf einer Beatus-Weltkarte adj 1086, Abb. bei W. Neuss, Die Apokalypse des hl. Johannes in der altspanischen und altchristlichen Bibel-Illustration (Das Problem der Beatus-Handschriften) (Spanische Forsch, d. Görresgesellsch. 2,2 und 3), Münster/W. 1932, I I , Abb. 71, dazu I, S. 64. — Bl. 26r der Handschrift Deutsche Staatsbibliothek Berlin, Ms. Ham. 114 von Thomas von Cantimpré, ,De rerum natura* sind am rechten und linken Rand neben vielen anderen Monstra in der Art der Marginaldrolerien zwei sitzende Skiapoden dargestellt. — Aus einer anderen Thomas-Handschrift ist ein monopes (s. Anm. 81) abgebildet bei Eva-Maria Schenck, Das Bilderrätsel, Hildesheim/New York 1973, Abb. 193, dazu S. 84 f. Der Text dieser Handschrift (London Slg. A. Chester-Beatty. Ms. provençal, um 1420) sei, da er einigermaßen lesbar ist und eine für uns bemerkenswerte Variante hat, in extenso zitiert;
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Homines in India [über der Zeile] alij sunt qui vnum pedem tantum habentes velocissime currunt. pes autem est tante latitudine quod eins planta contra solis ardorem vmbram sibi facit spaciosam. Idem facit contra imbrem [Kürzel sind aufgelöst]. Vgl. o. Anm. 19 die Originalfassung des Thomas. Da der Lesartenband zu Thomas' ,de natura rerum' noch nicht erschienen ist, können aus dieser einen Lesart keine weiteren Schlüsse gezogen werden, so daß auch der Zusammenhang mit H E und dem ,Lucidarius' vorerst ungeklärt bleibt; vgl. Anhang II. Auch das Solinzitat (u. Anm. 139) führt sehr deutlich vor Augen, daß erst dann, wenn auch die códices recentiores und deteriores ausgewertet sind, wirklich verbindliche Aussagen über Abhängigkeiten gemacht werden können. Denn wenn eine Solinhandschrift im Wesentlichen Isidors Textfassung bietet und Thomas' Text mit Material aus dem jLucidarius 4 (?) angereichert ist, werden die Grenzen so fließend, daß eine genaue Abgrenzung sehr erschwert wird, zumal man ja wohl mit derartigen Kontaminationen (und Überraschungen) auch anderswo rechnen muß. Als charakteristisch sei eine Bemerkung W. Studemunds (ZfdA 18 [1875], S. 221 f.) über eine Solinhandschrift des 13. Jhs. zitiert: „die hs. ist für die kritik des Solinus wertlos; sie ist mannigfach im einzelnen interpoliert. [ . . . ] sie ist von einer weiteren gleichzeitigen hand in einzelheiten korrigiert". Interpolationen und Korrekturen könnten für Fragestellungen meiner Art von größerer Wichtigkeit sein als der Solintext. — Aus einer Handschrift von Gautiers von Metz ,Image du monde4 bei H . Suchier und A. Birch-Hirschfeld, Geschichte der Französischen Litteratur von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart, Leipzig/Wien 1905, S. 218, sowohl liegend als auch stehend und zweiäugig. Der Text dazu lautet in der ebd., S. 219 gegebenen Umschrift: 1 S'i resont Ii Chitoplien, Ki di corre passent le vent Et n'ont ke .i. seul pié seulement, Dont la plante est si longe et [tilge si] large, 5 Qu'il syen coeure con d'une targe, Et s'en aombre por le chaut y Quant desor lui le tient en haut. Der Name ist wohl eher eine Entstellung aus Cyclopes (s. o. Anm. 70) als aus Skiapodae, wie in der Anm. z. St. angegeben ist. Der Vergleich Z. 2 geht auf Honorius zurück (s. o. S. 26 und Anm. 34), der Z. 5 gleicht dem von Jans Enikel (s. Anm. 47) — Aus einer Mandeville-Handschrift bei P. E. James, A l l Possible Worlds. A History of Geographical Ideas. Maps by Eileen W. James y Indianapolis/New York 1972, Abb. 15. — Im Druck der Mandeville-Ubersetzung Ottos von Diemeringen (Strassburg 1499), in der Neubearbeitung von Th. Stemmler, Stuttgart 1966, S. 104. In allen Fällen handelt es sich um „Normalskiapoden". — Propyläen Kunstgeschichte Bd. 6: Das Mittelalter II. Das hohe Mittelalter, hsg. v. O. v. Simson y Berlin 1962, Abb. 88; Manerius—Bibel, Nordfrankreich, Ende 12. Jh., dazu S. 127, o. rechts Skiapode neben Centauren und Tritonen. — E. H . Gombrich, The Story of Art, London ^1975, Abb. 114: Hs. des frühen 13. Jhs. aus Siegmaringen, Skiapodin an einer R-Initiale. — Mode [Anm. 7], S. 254 (ohne nähere Angaben). J. W. Einhorn, Spiritalis Unicornis. Das Einhorn als Bedeutungsträger in Literatur und Kunst des Mittelalters (Münst. Ma.-Schriften 13), München 1976, weist S. 282 einen Monopoden nach, S. 119 einen zweiten aus einem ,Athos-Fresko c (vor 1744). 83 Gemeint ist die Prager Handschrift (Metr. Kap., Cod. L l l ) von Thomas von Cantimpré, 1404, fol. 32 v. Herr Christian Hünemörder, Hamburg, war so zuvorkommend, mich in eine Kopie der Handschrift Einsicht nehmen zu lassen, wofür ich mich auch hier bedanken möchte. R D K [Anm. 7] Abb. 43 ist ein zweibeiniger Skiapode von einer Gestühlwange in Dennington, Suffolk, 15. Jh., abgebildet (s. Wittkower [Anm. 2], S. 177 und Anm. 2); doch zeigen Schnitzereien 4 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 18. Bd.
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stellt aber keinen Skiapoden dar, sondern einen auf dem Rücken liegenden Antipoden 84 , der seine beiden Beine hochstreckt. Dadurch, daß die Füße verdreht sind, ähnelt er in seiner Haltung der eines liegenden, zweibeinigen Skiapoden. Eine Verwechslung liegt also durchaus im Bereich des Möglichen, zumal den Antipoden gelegentlich große Schnelligkeit zugesprochen wird 8 5 . Auf einigen ,Beatus'-Weltkarten sind die Antipoden auch in der Gestalt von Skiapoden dargestellt (s. Anm. 82). Am Rande sei hier nur vermerkt, daß Odo von Magdeburg bei der Skiapodenbeschreibung verschiedene ,Wunder des Ostens4 kontaminiert, darunter auch die Antipoden (Octono{s)pedibus digitos habet). Eine Bestätigung findet die These, daß es sich um ein Mißverständnis des HE-Dichters handele, in Michel Velsers Mandeville-Übersetzung 86. In dem auf Vincenz von Beauvais beruhenden Kapitel über Äthiopien werden neben verschiedenen anderen „Wundern des Ostens" — wenn auch ohne Namen (s. o. Anm. 19) — die Skiapoden beschrieben: Item ir sollent wissen daz man in Ethyopia mengerlay volck findt, die hond fuß, die sind süben fuß braitt; wenn sie ligent, so bededeent sie sich mit den füssen, und machent inen schatten, und gond als bald daz es ain wunder iii 87.
Diese Beschreibung ist im Konzept, in erster und zweiter Bearbeitung unbeanstandet und unverändert beibehalten worden. Hier haben die Skiapoden ebenso wie im H E zwei Beine, wobei noch die Schuhgröße ganz genau mitgeteilt wird. Sieht man sich Velsers Vorlage an, so wird deutlich, daß er wahrscheinlich den Text mißverstanden hat: nach weltlichen Themen an vergleichbaren Stellen, daß die Schnitzer die Vorlagen gelegentlich mißverstanden (vgl. ZfdPh 92 [1973], S. 365 f.). 84 Vgl. Isidor, etymol. X I , 3, 23: Antipodes in Libya plantas versas habent post crura et octonos digitos in plantis. So und ähnlich Plinius, nat. hist. V I I , 22; Solin 52, 26, S. 187, 14; Augustin, civ. dei X V I , 8; Thomas von Cantimpr£ 3,5, 8, 9; Bartholomäus Anglicus X V , 73, S. 662. S. Wittkower [Anm. 2], S. 182. 85 R D K [Anm. 7], Sp. 757. Plinius berichtet nat. hist. V I I , 11 von einem Volk, womit die Antipoden gemeint sind: Super alios autem Anthropophagos Scythas in quadam convalle magna Imavi montis regio est, quae vocatur Abarimon, in qua silvestres vivunt homines aversis post crura plantis, eximiae velocitatis, passim cum feris vagantes. 86 Sir John Mandevilles Reisebeschreibung in deutscher Übersetzung von Michel Velser. Nach der Stuttgarter Papierhandschrift Cod. HB V 86 hsg. v. E. J. Morrall (DTM 66), Berlin 1974; die im Folgenden verwendeten Siglen nach dieser Ausgabe. Herrn Morrall, Durham, bin ich für briefliche Auskunft über die in der Ausg. nicht verzeichneten Lesarten und Velsers Vorlage zu großem Dank verpflichtet. Auch der Nachweis des Übersetzungsfehlers von Velser wird ihm verdankt. 87 S. 101,7—10. An bemerkenswerten Varianten ist aus der Handschrift Sitten, Kantonsarchiv, Supersaxo 94 (s. S. C L X X X I X ) siben fuß] s. schü und aus M ligent an der sunnen zu notieren.
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Et y a de celle gent qui nont que vn pie; et si vont si tost que cest merueilles, et si est ce pie si large que il en font vmbre a tout le corps deuls encontre le soleil , quant il se couche du trauers 88. Indem Michel Velser den Satz qui nont que vn pie m i t die bond fuß, die sind súben fuß braitt übersetzt, verstand er vn als eine Z a h l vii %9. Als Folge dieses naheliegenden Mißverständnisses mußte er sich die Stelle irgendwie zusammenreimen und verfiel darauf, die Z a h l auf die Größe der Füße anzuwenden. Derartige exakte Zahl- u n d Maßangaben sind an solchen Stellen, w o es nicht weiter darauf ankommt, aber den Schein v o n zuverlässiger Genauigkeit vorspiegelt, besonders beliebt 9 0 . Die einzige illustrierte Handschrift der Velserschen Ubersetzung ( N ) zeigt einen liegenden M a n n m i t zwei Beinen, die seinen Körper und sein Gesicht nicht vedecken, obwohl der W o r t l a u t v o n dem der übrigen H a n d schriften abweicht und die Skiapoden wieder einfüßig macht 9 1 . Texttradition und ikonographische Uberlieferung müssen also nicht immer dekkungsgleich verlaufen. Die beiden Frühdrucke a ( A n t o n Sorg) und b (Johann Schönsperger) haben eine Version, die dem W o r t l a u t des N-Textes entspricht 92 , illustrieren aber den Text m i t einem auf dem Rücken liegenden 88
Paris, Bibl. Nat. nouv. acq. franc. 4515, in: M. Letts , Mandeville's Travels: Text and Translations, 2 Bde., London 1953, Bd. I I , S. 318. Unverändert steht der Text auch in der Handschrift Modena, Biblioteca Estense, fonds francese No. 33, Bl. 43 v und in der Handschrift London, Brit. Mus., Harley 4383, in: G. F. Warner, The Buke of Johne Maundeuill, being the Travels of Sir John Mandeville, Knight, 1322—1356, Westminter 1889, S. 78. 89 S. 114,13 macht Velser den selben Fehler noch einmal: sechtzig minuten machent súben gradus (vn degre). 90 In: The Bodley Version of Mandeville's Travels. From Bodleian Ms. E. Musaeo 116 with Parallel Extracts from the Latin Text of the British Museum Ms. Royal 13 E I X , ed. by M. C. Seymour (Early Engl. Text Society 253), Oxford/ New York/Toronto 1963, heißt die entsprechende Passage S. 85, 18 ff.: In that lond are folk of dyuerse shappies. There are folk that han but on fot [Lesart der Hs. R: on foote and that is three or foure foot brode ], and they wele renne so faste on that on fot that it is wondyr to sen. And that foot is so mechil that it is wondyr to se [Lesart R: telle]; it wele keuere al his body ayen the hete of the sonne. 91
Handschrift N , fol. 89 r: Man vindt auch in Ehiopia [!] mangerley leut Wan etlich haben eine füß der ist siben fuß prait vnd legen sich an den rücken vnd bedecken sich mit dem braitten füß der geit in schatten vnd lauffen pelder den ander menschen.
92 Die einzig wichtige Variante ist: . . . vnd wen sy wSlle ruen so lege sy sia'? . . . I n Maerlants ,Naturen Bloeme' (dat si rusten [Anm. 19]) oder in der ,Historienbibel I I ' (wenn er sich an sine ruwe leit [Anm. 78], hier allerdings aus rugge entstellt) ist von ,Ruhen' die Rede, andeutungsweise in dem Lehrgedicht ,De monstris indie' (qui fessa membra [Anm. 34]); expressis verbis dagegen noch in einer anderen Mandeville-Übersetzung (Mandeville's Travels, ed. by M. C. Seymour , Oxford 1967, S. 115):
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Skiapoden, dessen einziger Fuß sein Gesicht z. T. verdeckt (s. Wittkower [Anm. 2], Tafel 46 e). So ist Michel Velsers Mißverständnis in Wort und Bild von Anton Sorg, der ja als Brief- und Kartenmaler tätig gewesen ist und eine Vorliebe für illustrierte Drucke hatte (wie aus dem umfänglichen und wenig erhellenden Artikel DVjS 48 (1974), S. 274 hervorgeht), wieder in die der Tradition entsprechende Ordnung gebracht, ohne daß jedoch die Maßangabe als Relikt der Fehlübersetzung Velsers verschwände, da sie, als solche nicht mehr erkennbar, vielmehr das Vertrauen in die Beschreibung des Ganzen zu festigen vermag. Zwar ist der Anlaß, aus dem die Skiapoden im H E und bei Velser zu Zweibeinern werden, verschieden, das Ergebnis des Mißverständnisses ist in diesem Punkt jedoch identisch, so daß Velsers Fehler hilft, den Text des H E ebenfalls als mißverstanden zu deuten — nur ist der Grund nicht so eindeutig zu fassen. Nachdem der HE-Dichter nun aber einmal seine Geschöpfe zu Zweibeinern gemacht hatte, ließ er es dabei nicht bewenden, sondern ebenso wie ich es oben anläßlich der Schwanenfüße geschildert habe und vergleichbar dem Vorgehen Michel Velsers verfuhr er auch hier und schmückte die Zweibeinigkeit 4 noch weiter aus: Den andern er zw im strakcht Das er nicht scholt werden nas Ain selczams do das was So im der selbig mud war den andern fuez habt er dar (b 16 - 20).
So wie der HE-Dichter auf den Panoten93 eine sonst nirgends von diesem Volk berichtete Eigenschaft überträgt: In that contree [ Ethiope ] ben folk that han but o foot , and thei gon so blyue that it is meruaylle , and the foot is so large that it schadeweth alle the body ayen the sonne whanne the wole lye and reste hem, Auch hier liegt ein Zusatz vor, der an einer inhaltlichen Leerstelle" eingefügt wird (s. o. S. 27), um das Bild plastischer und lebendiger, aber auch vertrauenswürdiger zu gestalten. Man sieht, wie es nur ganz bestimmte Stellen sind, die für solche den Inhalt nicht verändernden Ausweitungen offen sind, und daher diese Zusätze sich leicht gleichen können, ohne daß immer an direkte Abhängigkeit gedacht werden müßte. — Vgl. hierzu Wittkower [Anm. 2], S. 194, wo er eindrucksvoll vorführt, wie Monstervölker zu „Individualmonstern" gemacht werden, mit genauen Angaben darüber, wann, wo und von wem sie gefangen genommen worden sind. «3 S. R D K [Anm. 7], Sp. 794—796. Da auch in den anderen HE-Fassungen diese Angabe fehlt, meinte Bartsch [Anm. 10], in der Anm. zu V. 5982, S. 186, der ganze Vers sei „ein Zusatz des Bearbeiters [von B], um den Reim zu glätten." Anschließend bietet er eine der bekannten Radikallösungen an, in der der inkriminierte Vers gänzlich fehlt. Da aber, wie ich hoffe, gezeigt haben zu können, traditionswidrige Details bei kürzenden Bearbeitungen ganz besonders anfällig sind, ist Bartschs vorwiegend auf seiner Theorie der Reimentwicklung beruhende Vorstellung vom Wortlaut des HE A nicht recht überzeugend.
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... und dem diu oren warn so lanc und der selbe vil [gar a b / wol sanc (V. 5988 f.) — der schöne Gesang ist das Hauptcharakteristikum der Sirenen — , so hat sich der Dichter bei diesem Detail der Skiapodenbeschreibung, wie ich meine, von einem anderen Tier die Anregung geholt und sich hierbei nicht sozusagen von eigener Erfahrung leiten lassen, daß das Liegen m i t einem hochgestreckten Fuß ermüde. I n dem auf das Kapitel de monstris
( X I I ) folgenden de bestiis
(XIII)
von Honorius' ,Imago mundi' werden das Eale und Stiere beschrieben: Ibi est alia bestia Eale y cujus corpus equi maxilla apri, cauda elephantis s cubitalia cornua habens, quorum unum post tergum reflectit, cum alio pugnat. Illo obtusoy aliud ad certamen vibrat. Nigro colore horret. In aqua et in terra aequaliter valet. Ibi sunt fulvi tauriy versis setis horridi, grande caput, oris rictus ab aure ad aurem patet. Hi etiam cornua vicissim ad pugnam producunt, vel deponunt. Omne missile duro tergo respuunt. Qui si fuerint capti nulla possunt arte domari 94. Im ,Lucidarius* (hsg. v. Heidlauf den Stellen:
y
S. 13, 13 ff.) heißen die hier interessieren-
so ez abir vehtin wil, so leit ez eins hin unde vihtet mit dem anderen; so ez mit deme müde wirt, so leit ez aber daz hin unde vihtet mit dem anderen ... die stiere vehtent och mit dem hörne als daz vorder tier und in zum Vergleich noch mitgeteilten Versen aus Rudolfs ,Weltchronik' (hsg. v. Ehrismanny
V . 1693 ff., hsg. v . Doberentz
[ A n m . 2 2 ] , V . 390 f f . ) :
(402) ... 50 der zorn daz tier begrifet, sä zehant tuot ez werlichen strit erkant und recket in werlicber kür gein wer daz eine horn hin für; daz ander lit im hinder sich, als ez slac ode der stich gemachet müede, ez biutet dar daz ander horn werliche gar .. . (426) gein wer üf grimmeclichen stoz wehselt ez ouch beidiu horny swennez begrifet rehter zorn. Da ich ja oben dem HE-Dichter und dem ,Lucidarius'-mmier ein Mißverständnis anlasten mußte, sei hier noch darauf hingewiesen, daß nigro colore horret von beiden Übersetzern „umgedeutet" worden ist: Im ,Lucidarius' (S. 13, 15): daz tier vSrhtet nith wen die swarzen pfawen ist, wenn nicht nur eine Verderbnis vorliegt — andere Handschriften haben varwe — colore mit pavone verwechselt. Rudolf (V. 418): daz tier ist groz und swarz gevar hat horret umgedeutet, u.U. nach Solin, nach dem es einen schwarzen Pferdekörper hat; s. R D K [Anm. 7], Sp. 775 und Florence McCulloch, Mediaeval Latin and French Bestiaries (University of North Carolina. Studies in the Romance Languages and Literatures 33), Chapel H i l l 1960, S. 190—192 (Yale), 98 f. (Bull).
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Die Ähnlichkeit zwischen dem durch Müdigkeit bewirkten Einziehen und Ausstrecken der Fußschirme und dem durch Stumpf- oder Müdewerden verursachten Ein- und Ausklappen der Hörner ist so augenfällig, daß ich mir eine Unabhängigkeit beider Beschreibungen nur schwer vorstellen kann, zumal das leichte Ermüden des Beines in einem gewissen Gegensatz zu der Tatsache steht, daß die Skiapoden mit ihren Beinen fuorten grozen gewalt über hart und über brouch. Behält man die gelehrten Interessen des geistlich gelehrten HE-Dichters im Auge, der an einem literarisch und wissenschaftlich aufgeschlossenen Hofe 95 zu dem naturkundlichen Schrifttum seiner Zeit leicht Zugang haben konnte, so gewinnt eine solche Übertragung von Eigenschaften viel an Wahrscheinlichkeit, zumal solche Verschmelzungen verschiedenster Eigenschaften im Bereich der Monster- und Tierdarstellungen auch sonst sehr verbreitet waren 96 , zu was für absonderlichen „Monstrositäten" sie auch immer führen mochten. So sind auch im Jüngeren Titurel' das Seeräubervolk der Galiotten oder z. B. die bestia de funde und der Vogel gamaniol, auf die jeweils zahlreiche, ihnen nicht ursprünglich zugehörige aus verschiedenen Bereichen stammende Eigenschaften gehäuft werden, als Ausdruck von Albrechts souverän über das Wissen seiner Zeit verfügenden Gelehrsamkeit zu verstehen, die im Dienst seiner Exegese steht. Aber selbst wenn man eine solche Verbindung zu der Eale- und Stierbeschreibung nicht zugeben will, wird durch den Vergleich zumindest einsichtig, daß der HE-Dichter mit seiner Skiapodenbeschreibung auch in diesem Detail im Rahmen wissenschaftlicher Naturkunde bleibt, deren autoritätengebundene und traditionsgeheiligte Lehren der eigenen Erfahrung nur engsten Raum ließen; man lernte die Wunder der Schöpfung und deren «5 Vgl. McDonald/Goebel [Anm. 51], S. 92—94. ®« Vgl. die Beispiele bei Chr. Gerhardt, Die Kriegslist des Pelikans, ZfdA 103 (1974) 115—118, bes. S. 117 und Anm. 10; R. W. Ledtie, Jr., Bestia de funde: Natural Science and the Jüngerer Titurel', ZfdA 96 (1967) 263—277; ders., »Gamaniol, der Vogel': Natural Science and the Jüngerer Titurel' I I , ZfdA 98 (1969) 133—144; H.-H. Rausch, Methoden und Bedeutung naturkundlicher Rezeption und Kompilation im Jüngeren Titurel' (Mikrokosmos 2), Bern/Frankfurt 1977; H . Reinitzer, Alfurt. Zu ,Moriz von Craün' V. 1147, ZfdPh 95 (1976) 103—109. Die einzelnen Völkerbeschreibungen in dem RDK-Artikel [Anm. 7] liefern ebenfalls zahlreiche Beispiele. Um ein meist übersehenes Beispiel zu einem der Wundervölker des H E zu geben: Nicht nur im ,Beowulf', sondern auch nach ,Hiob' 26, 5 leben Riesen als Wassermenschen: ecce gigantes gemunt sub aquis et qui habitant cum eis, wozu aus der ,Epistola Alexandri ad Aristotelem' (ed. Boer), S. 32,5 ff. zu vergleichen wäre; ihre Größe wird hier mit pedum altum novem (Varianten: octo, VII) angegeben, eine Angabe, die sich z. B. auch im Apoll, (hsg. v. S. Singer), V. 2958 für Riesen findet. — Über zusammengesetzte Mischwesen in weiterem Rahmen s. W. Stammler, Allegorische Studien, DVjS 17 (1939) 1—25, bes. S. 9—23.
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Wirklichkeit noch aus Büchern, nicht aber aus der Schöpfung. Aristoteles und seine Ausleger, nicht aber die Dinge selbst waren Gegenstand wissenschaftlicher Bemühungen. Zuletzt sei noch auf die Bewaffnung der Skiapoden eingegangen. I m Gegensatz z u den Panoten, die truogen scbarphe gère ( H E , V . 4834) 9 7 , sind sie, ähnlich wie die Schnabelkrägen 98 , die fuorten bogen hürnin ( H E , V . 3722, vgl. 3656, 3788) m i t geschôz freislich ( H E , V . 4693) ausgerüstet, bzw. sie fuorten ir scharpb geschütze ( H E , V . 4717), w o m i t Pfeil und Bogen gemeint sind 9 9 . D a der Handlungszusammenhang kampfstarke Gegner erforderte, lag es für den HE-Dichter am nächsten, zwei seiner Wundervölker zu Bogenschützen zu machen 1 0 0 , da Pfeil und Bogen eine typische Heidenwzih ist101. 97 Wenig erhellend ist J. Schwieterings Bemerkung z. St., s. Zur Geschichte von Speer und Schwert im 12. Jahrhundert, in: Kl. Schriften, München 1969, S. 97. 9 & Vgl. R D K [Anm. 7], Sp. 798 f. s.v. »Schnabelkrägen1 und Abb. 38 (HEDruck, wo sie im Gegensatz zum Text als Schwertkämpfer dargestellt sind). Daß die beiden ebd. angeführten Belege für dieses Volk vom H E abhängen und die Quellen hierfür nicht „im Orient zu suchen sind" (RDK, Sp. 799), daß aber auch nicht Hartmann Schedel allein von den ,Gesta Romanorum' abhängig sein muß (so Wittkower [Anm. 2], S. 193), darauf weisen die Ländernamen. In den ,Gesta Romanorum' (ed. Oesterley, S. 576,12) leben sie in Europa, bzw. (ed. Dick, S. 56) in Eripia, in Hartmann Schedels ,Weltchronik' [Anm. 28], X I I r in Eripia, dazu kommt noch der hier von Schedel abhängige ,Lucidarius'-Druck von 1535 (hsg. v. Podleiszek, S. 110,14) in Eripa. Alle drei Formen sind mehr oder wenigerstarke Entstellungen von Grippia, dem Lande der ,Schnabelkrägen' im H E (B, V. 2177, 2206, 2902 usw.), wovon ja Schedel eine eigenhändige Absdirift besessen hat (HE C), s. R. Stauber, Die Schedeische Bibliothek. Ein Beitrag zur Geschichte der Ausbreitung der italienischen Renaissance, des deutschen Humanismus und der medizinischen Literatur, nach dem Tode des Verfassers hsg. v. O. Hartig (Stud. und Darstellungen aus d. Gebiete der Geschichte V I , 2/3), Freiburg 1908, Nachdruck Nieuwkoop 1969, S. 58 f., 116. Allerdings hat der H E C die gelehrt umgedeutete Form Agrippa (ed. Haupt [Anm. 10], S. 217, 18, 24, 220, 14, 27 usw.); weitere Entstellungen des Namens bei Bartsdo [Anm. 10], S. C X L I V . Eine Deutung des „rätselhaften" Namens versucht Szklenar [Anm. 11], S. 153 Anm. 2. — Zur Deutung des ,Kranichhalses' nach dem sensus moralis in den ,Gesta Romanorum' s. Reinmar von Zweter (hsg. v. G. Roetbe) 99,5 und 100,3, sowie S. 233 und die ebd. Nr. 302 a und b gedruckte Fassung Bruns von Schönebeck (s. S. 390 f.), dazu Gabriele v. Malsen-Tilborch, Repräsentation und Reduktion. Strukturen späthöfischen Erzählens bei Berthold von Holle (MTU 44), München 1973, S. 42 Anm. 65, Stammler [Anm. 96], S. 9 ff. — Es ist bedauerlich und bezeichnend, daß der sonst so informative RDK-Artikel den H E nach der Volksbuchausgabe von G. O. Marbach (1842) zitiert, den ,Lucidarius f oder Doberentz' Aufsatzfolge überhaupt nicht zur Kenntnis genommen hat. So ist der Verfasserin z. B. Bartschs Einleitung mit den umfangreichen einschlägigen Sammlungen entgangen. 99 S. BMZ I I , 2, 175b und 177a. Vgl. z.B. Wolfr. Wh. 431,8 f. si liezen gère fliegen mit anderem ir geschôze. Sowinskis [Anm. 10] Ubersetzungen »Schußwaffen' und ,Sdiießzeug' aktualisieren unnötig und treffen nicht das Richtige. 100 Die Bewaffnung der Giganten mit ir Stangen freislich (HEB, V. 5207) war dem Dichter vorgegeben; hier ließ die Tradition ihm keine Auswahlmöglichkeit offen, s, E. H . Ahrendt, Der Riese in der mittelhochdeutschen Epik, Diss. phil. Rostock, Güstrow 1923, § 138: „Von Beginn der mhd. Epik ab ist die typische Riesenwaffe die Stahlstange" (S. 108) oder G. A. Beckmann, Roman. Jb. 22 (1971),
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Doch ist auch daran zu erinnern, daß einzelne Völkerstämme aus den „Wundern des Ostens" gelegentlich mit Pfeil und Bogen bewaffnet werden, so z. B. die Acephalen und Cynocephalen102, oder auch das fabelhafte Mischwesen in Kastelaz bei Tramin, das auf einem Fischschwanz steht, federartig gespreizte Haare hat und auf zwei andere Fabelwesen zielt, die links neben ihm sich bekämpfen. Insbesondere aber ist an den Sagittarius zu erinnern, der meist als Kentauer mit gespanntem Bogen und eingelegtem Pfeil dargestellt wird 1 0 3 , und an die „neutralen Engel", die Sanct Brandan (hrsg. v. C. Schröder, V. 1249 ff.) nachlaufen: ir houbte waren als der swin , ir hende berin und vüze hundin, cranches helse, menschliche brüst ... ir ieglicher hete ein hornin bogen in der hende. Die Schnabelkrägen und Skiapoden als Bogenschützen fügen sich also nicht nur in den Zusammenhang der Heidenvölker gut ein, sondern auch in den der Wundervölker passen sie ganz zwangslos, aus denen abschließend eines noch vorgeführt werden soll, das mit den Skiapoden einige Gemeinsamkeiten hat. Der Franziskaner Johannes de Piano Carpine, deutscher Provinzial, berichtet in seiner Geschichte der Mongolen 104 von einem mongolischen General und seinem Heer, daß diese, „als sie durch die Wüste marschierten, wie uns als gewiß versichert wurde, auch einige sonderbare Geschöpfe antrafen, welche zwar Menschengestalt, aber nur einen Arm mit einer Hand mitten S. 56 f. Erwähnt sei, daß auch in der ,Historia de preliis' (ed. A. Hilka), cap 103, S. 201 die gigantes cum contis longis kämpfen (nicht in ed. Steffens, S. 148), und daß die hürnenen Leute, die nur bellen können, mit stählinen kolben streiten (Wolfr. Wh. 35, 13 ff.; 395,19 ff.; vgl. ,Reinfried von Braunschweig4, V. 19636 ff., j. Tit. [hsg. v. W. Wolf], Str. 3370). 101 Vgl. Szklenar [Anm. 11], S. 175. Das gilt z.B. auch für Wolfr. Wh. (18,20. 84,15. 172,30 usw.), das ,Rolandslied4 oder ,Iunioris Philosophi descriptio totius orbis' (ed. G. H . Bode, Scriptores rerum mythicarum latini tres Romae nuper reperti, I I vol., Celle 1834, Nachdruck Hildesheim 1968, I I , S. X , 15) His sociatur Saracenorum gens, a r c u et rapinis vitam suam transigens (vgl. Anm. 143); vgl. A. Schultz, Das höfische Leben zur Zeit der Minnesinger, Leipzig 1889, 2 II, S. 199 f. und W. Boeheim, Handbuch der Waffenkunde, Leipzig 1890, Nachdruck Graz 1966, S. 393 ff. über orientalische Bogen. 102 S. R D K [Anm. 7], Sp. 752; 771. Vgl. ,Gauriel von Muntabel' (hsg. v. F. Khull ), V. 4077 ff. und besonders die Lesarten der Donaueschinger Handschrift, S. 156 f. lös Vgl. fürs Mittelalter — da hier von der Antike abgesehen werden kann — A. Hauber, Planetenkinderbilder und Sternbilder. Zur Geschichte des menschlichen Glaubens und Irrens (Stud. z. dt. Kunstgesch. 194), Straßburg 1916, S. 176 ff.; für Darstellungen außerhalb des engeren astrologischen Bereichs, für die die einschlägigen Handschriftenkataloge der astronomischen Codices von F. Saxl, E. linner, F. Saxl-H. Meier, P. McGurc reiches Material bieten, s. z. B. Sauer [Anm. 16], S. 440, W. Molsdorf , Christliche Symbolik der mittelalterlichen Kunst, Leipzig 21926, Nachdruck Graz 1968, Nr. 846 oder W. Haug, DVjS 49 (1975), S. 601 mit Anm. 58; F. Ronig, Die Buchmalerei des 11. und 12. Jahrhunderts in Verdun, Aachener Kunstblätter 38 (1969), S. 126 mit Anm. 470. 104 [Anm. 26], S. 155 f.
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auf der Brust und nur einen Fuß hatten; immer zwei von ihnen waren i m Stand, m i t einem Bogen zu schießen, und sie liefen so schnell, daß kein Pferd ihren Spuren folgen konnte. I h r Laufen bestand nämlich darin, daß sie auf diesem einen Bein hüpften und wenn sie durch diese Gangart ermüdet waren, so liefen sie auf H a n d und Fuß, indem sie gewissermaßen ein Rad schlugen; Isidor nannte sie deshalb Cyclopoden (Radfüßler). U n d wenn sie müde waren, liefen sie wiederum i n der früheren Weise (auf einem B e i n ) " 1 0 3 . A n anderer Stelle hatte ich gemeint, daß man bei der Skiapodenbeschreibung des H E die Quellenfrage neu stellen müsse, wolle man nicht m i t M i ß verständnis oder Erfindung des Dichters rechnen 106 . I d i hoffe, gezeigt zu haben, daß die so gestellte Alternative nicht richtig ist. Vielmehr spielen alle drei Gesichtspunkte eine Rolle für das Zustandekommen des Wundervolkes, das die ihm angestammten Namen monocoli oder sciapodae gar nicht mehr verdient: denn weder haben sie e i n Bein, noch werfen sie sich m i t ihrem Fuß Schatten. Wenn trotzdem allgemein von den Skiapoden i m H E geredet w i r d — und der Deutlichkeit wegen audi ich das tue — so rücken w i r das wieder zurecht, was der Dichter, indem er das V o l k platfüeze 107 nannte, vermieden hat. Ich halte es für ziemlich unwahrscheinlich, 105 S. Rischs [Anm. 26] Anm. 4. Eine genaue Parallele zu diesem Wundervolk scheint es nicht zu geben; vgl. o. Anm. 14, 29. Möglicherweise liegt hier eine auf einer „neuen" Etymologie begründete Erfindung vor. So wie die mono-cöli zu monoculi auf Grund falscher Silbentrennung wurden (s. o. Anm. 70), so könnte der Autor cycl-opes „Rundäugige" zu cyclo-pes „Rundfüßler" umgedeutet haben, da ihm die eigentliche Bedeutung nicht mehr zugänglich war. Zu dem so verstandenen Namen wurde dann die dazu passende Fortbewegungsweise kreiert. Ob der bei H. Steger, David Rex et Propheta. König David als vorbildliche Verkörperung des Herrschers und Dichters im Mittelalter, nach Bilddarstellungen des achten bis zwölften Jahrhunderts (Erlanger Beitr. z. Sprach- und Kunstwiss. 6), Nürnberg 1961, S. 77 mit Abb. 14 erwähnte Tanz hiermit in Verbindung zu bringen ist: Histrio fit Dauid svb causa relligionis. Ipsemet ad cantum saltabat mor e c ic l o p u m f (Sperrung von mir, bei Steger mehrere, z. T. sinnentstellende Transskriptionsfehler). So floß die Legende der Christusträgerschaft des hl. Christopherus im 12./13. Jahrhundert allein aus dem Namen auf Grund einer realistischen Worterklärung, s. H . Günter, Legendenstudien, Köln 1906, S. 24 f. Anm. 7, Gertrud Benker [Anm. 10 a], S. 47 f. 166 [Anm. 74], S. 78 Anm. 26. Reitzenstein [Anm. 20] rechnet S. 94 seiner Dissertation ebenfalls damit, daß der HE-Dichter den Abschnitt de monstris seiner Vorlage nicht ganz verstanden habe, die Quelle „frei benützt und viel aus eigener Phantasie hinzugetan" habe. 107 Lehmann [Anm. 10] schreibt S. 48: „Auch der deutsche Name blatefuoz ist wohl nicht erst in der Herzog Ernst-Sage geprägt worden." Dagegen ist anzuführen, daß der HE-Dichter B, V. 4520 sowohl Cyclopes mit einsterne und V. 5016 f. Gigande (s. Bartsdos Anm. z. St. S. 177 und insbesondere die Lesarten zu V. 5039, 5045, 5057, 5164/8, 5176, 5201, 5488, vgl. Ahrendt [Anm. 100], S. 4 f.) mit risen übersetzt, als auch später von den Oren (B, V. 4853) und nicht von den Panotiern redet. Dazu kommt, daß die lateinische Entsprechung magnipes, palmipes ist (s. o. Anm. 57) und nicht so ohne weiteres Sciapodae. Da die Skiapodengestalt im H E
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daß der HE-Dichter sich ganz bewußt und in voller Absicht aus der Tradition lösen wollte und sich selbst als ein Neuerer verstand. Gibt man aber die Skiapodenepisode so wieder wie E. Erb: „Die Freunde gelangen... zu den Sciopoden, den Platthuflern oder Schattenfüßlern, deren Füße so breit sind, daß sie über Moor und Sumpf laufen und sie gegen die Sonnenhitze als Schirm benutzen können" 108 , so ist das der Dichtung doch etwas zu viel Gewalt angetan. Daß aber Erb, indem er den platfuoz des H E B so gewaltsam in Reih und Glied der Skiapodentradition einweist, seinerseits in einer langen Traditionsreihe steht, soll in einem zweiten Teil an den verschiedenen Fassungen des H E vorgeführt werden.
II Bei der Behandlung des Textes von H E B habe ich darauf aufmerksam gemacht, daß zwischen beiden Handschriften a und b dieser Fassung einige Unterschiede bestehen, die teils durch mechanische Abschreibfehler entstanden sind, teils durch sprachgeschichtlich bedingte Umformulierungen und davon abhängige Zusätze 109 . Die die Neuerungen bewirkenden Ursachen können gelegentlich auch außerhalb der Tradition der Skiapodenbeschreibungen liegen. Die Bearbeiter des H E hatten bei der Skiapodenbeschreibung verschiedene Möglichkeiten des Vorgehens. Sie konnten sich ihrer Vorlage anvertrauen oder sie konnten die Vorlage ihrem Wissen vom Wesen dieses Volkes entsprechend korrigieren. In keiner dieser beiden extremen Rezeptionsformen ist eine Bearbeitung der Skiapodenbeschreibung vorgenommen worden, vielmehr haben sich die verschiedenen Bearbeiter und Übersetzer teils mehr, teils weniger korrigierend bzw. modifizierend betätigt. Daß die — von der Tradition her gesehen — „Mißgeburt", die dem HE-Dichter in einem Akt individueller Konstruktion gewissermaßen unter den Händen entstanden ist, in dieser Auseinandersetzung mit dem traditionellen „Normalskiapoden" so von der Norm abweicht und dem HE-Dichter Interesse an Verdeutschungen nachgewiesen ist, so ist es am naheliegendsten, die Anwendung des Substantivs platfuoz als Name für einen Skiapoden dem HE-Dichter zuzuschreiben. Vgl. o. Anm. 20 und Reitzenstein [Anm. 20], S. 92 ff., der z.T. ähnlich argumentiert. * 0 8 E. Erb, Gesch. d. dt. Lit. von den Anfängen bis 1160, Berlin 1964, S. 778. Auch die Wiedergabe „über Moor und Sumpf" ist nicht korrekt, da Erb nicht den H E D (V. 3829 Die lieffen uff bruch vnd uff mos) paraphrasiert; vgl. o. Anm. 48. Es ist außerdem nicht ganz richtig, von den „Platthuflern" des H E zu reden, wie es u. a. auch Szklenar [Anm. 11], S. 167, Fisher [Anm. 11 a], S. 69, Meves [Anm. 11], S. 157, 168 oder Jäger [Anm. 160a], S. 210, 226 tun; s.o. Anm. 20. 109 Auf diesem Gesichtspunkt legt mit Recht großen Wert H . Becker> Das Epos in der deutschen Renaissance, PBB 54 (1930) 201 - 268, bes. 212 ff., 233 ff., ein Aufsatz, der zu Unrecht in Vergessenheit geraten ist.
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einen schweren Stand haben würde, ist klar, und so verwundert es weniger, daß 2; B. der gelehrte und der HE-Dichtung viel unabhängiger gegenüberstehende Dichter des ,Reinfried von Braunschweig' die Sonderheiten der HE-Version nicht vollzählig aufweist, sondern mehr, daß z. B. der Autor des ,niederrheinischen Berichtes über den Orient 4 oder Kaspar Scheidt den H E ganz oder teilweise zur Grundlage ihrer Darstellung gewählt haben. In der Ulrich von Etzenbach vielleicht nicht zu Recht zugeschriebenen Bearbeitung umfaß der H E D nur 5560 Verse. Um wieviel er dabei gekürzt wurde, ist nicht ganz klar, da über den Umfang seiner Vorlage Unsicherheit besteht110. Die Skiapodenbeschreibung jedenfalls ist etwa auf ein Drittel der Länge von B geschrumpft: Dem konige was nahen gesessen Ein volg, mit strite vormessen , Vngestalt vnd vnsusse, Die hiessen Blatefusse; Die lieffen uff bruch vnd uff mos, Dar komen mochte man noch ros; Wenn es wil vnweter werden, So recken die vnwerden Die fusse uff, das ist ir sete, Vnd schirmten yn vor dem weter damete. Sie hetten offte mit yrem here Vnd mit yrer schutzlichen were Gesuchet den konig von Arimaspi nl.
Einschließlich des Namens Blatefusse basiert diese Darstellung ganz auf der der Fassung B. Es fehlen allerdings zwei der Neuerungen, nämlich die Schwanenfüsse 112 und das Auswechseln der ermüdeten Fußschirme. Dadurdi wird das Bild der Skiapoden der Norm ein ganzes Stück näher gebracht. Ob diese Annäherung an die Norm auf Absicht eines gelehrten und belesenen Dichters beruht und damit die Ursache der Auslassungen war, oder 110 S. dazu vor allem H.-F. Rosenfeld, Herzog Ernst D und Ulrich von Eschenbach (Palaestra 164), Leipzig 1929, S. 4 - 4 6 und neuerdings Meves [Anm. 11], S. 188 - 194, der davon ausgeht, daß der H E D nicht von Ulrich von Etzenbach stammt und sich dafür auf H.-J. Behr, Literatur und Politik am Böhmerhof: Ulrich von Etzenbach, ,Herzog Ernst D 4 und der sogenannte ,Anhang4 zum ,Alexander 4, ZfdPh 96 (1977), S. 410- 429, zum H E S. 422-427, beruft. Idi kann in Behrs ziemlich vagen Ausführungen keine Beweise gegen die Zuweisung des H E D an Ulrich entnehmen, allerdings auch keine, die für eine solche sprächen. Daß Behr den H E auf e i n e „Tendenz44 (S. 425) festnagelt, nimmt seinen Überlegungen, denen sich Meves erstaunlicherweise anschließt (S. 193), weitgehend die Überzeugungskraft. 111 H E D [Anm. 10], V. 3825 - 3837. V. 3853 f.: das si nicht, wenn geschutze trugen, Nicht stechen, nach enslugen. 112 Möglicherweise ist vngestalt (V. 3827) ein Relikt von und aUo den swanen gestalt (B, V. 4675).
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ob diese Eigenschaften einer Kürzungstendenz zum Opfer gefallen sind 113 , kann ich nicht entscheiden; für wahrscheinlicher halte ich das letztere eben der erwiesenen Kürzungsabsieht wegen: die Episodenfolge bei den Arimaspen ist im H E D 700 Verse lang (vgl. o. Anm. 43) und damit weit überdurchschnittlich gekürzt. Sollte Ulrich der Verfasser nicht sein, so würde diese Deutung zusätzlich an Wahrscheinlichkeit gewinnen. Hinzugekommen sind die reimliefernden epitheta ornantia vnsusse und vnwerden, vergleichbar dem in Anm. 34 zitierten Lehrgedicht. Durch das Reimwort stulti ist dort den Skiapoden eine sonst nirgend genannte Eigenschaft angehängt worden 114 . So wie die Handschrift b das urspüngliche vbir hart vnd bruch einseitig zu festem Boden gemacht hat (Vber veld vnd haid), so macht Ulrich (?) ebenso einseitig mit uff bruch vnd uff mos einen morastigen Boden daraus. Und durch das neue Reimwort mos „Sumpf, Moor" 115 kommt ähnlich wie in b chlaid der einzig neue Gedanke in die Passage: Dar komen mochte man noch ros. Die Betonung der Unzugänglichkeit des Wohngebietes der Skiapoden für Krieger und Reiter ist für die folgende Schlacht ein totes Motiv, da diese auf Emsts Anraten gerade im Land der Skiapoden uff eyner beiden breit (V. 3871) stattfindet und dadurch dieser taktische Vorteil gar nicht zum Tragen kommen darf. Die aus Reimzwang geborene Erfindung erweist sich bei genauem Zusehen als keine besonders geglückte Neuerung, da sie sich dem Kontext nicht reibungslos einfügen will. In der Darstellung Ulrichs (?) ist wohl durch „werkimmanente" Kürzungen das Bild der Skiapoden um einige der ursprünglichen Details beschnitten worden, ein Einfluß des traditionellen Bildes dieses Wundervolkes ist aber nicht zu erkennen, da immerhin noch zwei Füße als -Regenschirme verwendet werden. Durch diese Reduzierung ähnelt zwar das Aussehen der Skiapoden dem Üblichen etwas mehr als im H E B, aber eine absichtliche AusSonneborn [Anm. 21], S. 16 spricht von einer „wesentlichen Kürzung der alten Erzählung". 114 Vgl. im H E B V. 4818, wo es von den Oren heißt, sie seien gen tumpheit vermezzen. Uber tump und vermezzen als stereotype Epitheta für Heiden s. H . Richter , Kommentar zum Rolandslied des Pfaffen Konrad — Teil I (Kanadische Stud. z. dt. Sprache u. Lit. 6) Bern/Frankfurt 1972, Anm. z. V. 285 und 294. 115 Der selbe Reim mos : ros noch in Ulrichs ,Alexandreis 4, V. 19649; vgl. auch H E D, V. 3901 f. Das volg da grossen schaden kos Beide , uf bruch vnd uff mos. Weitere Belege für die Reimbindung sind z. B. ,Rolandslied4, V. 2689 f. ( = Strickers ,Karl 4 , V. 3167 f.), Ulrich v. Türheim, ,Rennewart 4, V. 30259 f., Johann v. Würzburg, ,Wilh. v. Österreich 4, V. 11774f., Rudolf v. Ems, ,Weltchronik 4, V. 32375 f., Ulrich v. Zatzikhoven, Lanz., V. 3811 f., 7043 f., 7085 f., Wolfram, Parz., V. 224, 19 f., Heinrich Kaufringer (hsg. v. P. Sappler ), I I I , 589 f., kleinere mhd. Erzählungen, Fabeln und Lehrgedichte (hsg. v. G. Rosenhagen), Nr. 186, 239 f. Diese Belege dürften deutlich machen, daß Ulrich (?) in der Wahl des Reimwortes zu mos und damit auch in der Füllung des Verses nicht frei und ungebunden schreiben konnte.
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einandersetzung zwischen der individuellen Schöpfung und der durch die Tradition festgelegten Norm ist hier noch nicht sichtbar. In der Fassung C des HE, diesem „rhetorischen prachtstück gelehrter geschmacklosigkeit"116, ist diese Auseinandersetzung fast völlig zu Gunsten der Tradition entschieden: ad hoc rex ynon possunt* inquit ,hi hostes domari, quia hi homines Aethiopiae sciopedesy magnitudine pedum se tegentes et super mare tamquam arenam terrae currentes, nullius cursu possunt praeoccupar?. ... dux igitur cum suis in equis velocissimis per occulta viarum compendia illos a mari intercepit et pene omnes ... interfecit 117.
Für diese Skiapodenbeschreibung scheint mir Haupts Hinweis auf Isidor nicht ganz unberechtigt zu sein 118 , da sowohl homines Aethiopiae sciopedes dort seine Entsprechung findet, als auch nullius cursu possunt praeoccupari eine der von dem Autor sehr beliebten „gesuchten Periphrasen" 119 für mirabili celeritate ist. Daß aber es nicht Isidor sein muß, sondern auch einer seiner „Abkömmlinge" (s. o. Anm. 32), z. B. Hraban, sein kann, dürfte aus dem oben Gesagten deutlich geworden sein; auf jeden Fall handelt es sich um eine ganz gängige und naheliegende Korrekturvorlage, nach der der Autor wohl kaum hat lange suchen müssen. Von zwei Beinen mit Schwanenfüßen und Ungewitter ist hier natürlich keine Rede mehr. Im Gegensatz zu seiner Vorlage hat sich der Verfasser des H E C mit Erfolg bemüht, „die einzelnen früher zu weilen nur lose aneinander gereihten Abenteuer enger zu verknüpfen; wenigstens durch Umstellungen 116 So Haupts [Anm. 10] unermüdlich nachgesprochene Formulierung, S. 290; vgl. auch Sonneborn [Anm. 21], S. 26 ff., der aber etwas differenziert: „Wie in E [Odos Bearbeitung] so zeigt auch in C die Sage starken geistlichen und gelehrten Einfluß, und zwar überwiegt, im Gegensatz zu E, hier der geistliche, während die gelehrten Elemente nicht in solcher Stärke auftreten" (S. 28). Der Hsg. K. Steffens der ,Historia de preliis Alexandri Magni, Rezension J 3 < (Beitr. z. Klass. Philolog. 73), Meisenheim 1975, tradiert S. I X über die zwischen 1185 und 1236 verfaßte Prosa ein ähnliches, überkommenes Urteil (s. Buntz [Anm. 74], S. 14): „Es handelt sich um eine völlige Umgestaltung des Wortlautes: J 3 ist schwülstiger und phrasenhafter. Weiterhin werden kürzere und längere Sätze, hin und wieder auch größere Passagen moralisierenden Inhalts eingeschoben." Doch s. E. Norden, Die antike Kunstprosa vom V I . Jahrhundert v. Chr. bis in die Zeit der Renaissance, Leipzig/Berlin 41924, Bd. I I S. 753 - 763 mit dem Bemühen um eine gerechtere Wertung dieses „modernen" Stiltyps, worunter auch die Mischung von Prosa und Vers sowie die rhythmische Prosa fallen, was beides im HE C reichlich Verwendung gefunden hat. Ed. Haupt [Anm. 10], S. 229,27-35. Bartsch [Anm. 10], S. X L schlägt vor, aream statt arenam zu lesen. iis Haupt [Anm. 10], S. 279, vgl. S. 293 f. Vgl. auch Ehrismann [Anm. 22], S. 54, der nach Haupts Vorgang (S. 288) auf weitere Entlehnungen aus Isidors etymol. verweist. Sonneborn [Anm. 21], S. 27.
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und geschickte Übergänge, wie 229, 21 ff., wo uns der Verfasser mit dramatischer Lebendigkeit in medias res führt, indem er sehr anschaulich berichtet, wie H. E. persönlich den Einfall der Sciopeden in das Reich seines arimaspischen Freundes mit erlebt, indem er nämlich eines Tages plötzlich eine ungeheuere Feuersbrunst (ingentes flammarum glomerationes) 120 auflodern sieht" 121 . Außerdem hat er die Beschreibung der Skiapoden dem König als direkte Rede in den Mund gelegt, wodurch sie an Unmittelbarkeit gewinnt. Bartsch fügt noch hinzu, daß C „in der Schilderung des Kampfes ... kurz ist und dadurch den geistlichen Verfasser verräth" 122 . Haupt war zwar aufgefallen, „dass sie über das meer wie über den sand laufen können steht nur M " 1 2 3 , es scheint aber allen entgangen zu sein, daß hier die einzige Reminiszenz an die deutsche Vorlage vorliegt. Aus die f Horten grozen gewalt über hart und über bruoch macht der Autor: et super mare tamquam arenam terrae currentes, wobei aus dem „sowohl als auch" ein „gleich wie" und das Gegensatzpaar hart und bruoch zu mare und arena schärfer gefaßt wird; vgl. o. die Beschreibung des Eale (S. 53). Daß die Skiapoden im H E C auf dem Meere laufen können, mag u. U. noch mit den Schwanenfüßen der Vorlage in Verbindung stehen, kann aber auch eine Reminiszenz des geistlichen Autors, dessen gute Bibelkenntnisse unbestritten sind, an Mt. 14, 15 f. sein, wo Jesus ambulans super mare von den Jüngern gesehen wird. Auch im H E C schimmert durch die neue Fassade etwas von dem alten Mauerwerk hindurch. Besonders beachtlich ist aber, daß der erfahrene Schriftsteller diese, wenn auch durch eine etwas gezwungene Umdeutung der Vorlage gewonnene, neue Eigenschaft in die Handlung integriert, daß er dem Motiv, das im H E B und D tot geblieben ist, eine epische Funktion schafft. Er läßt Ernst, vielleicht durch den Kampf mit den Giganten oder das entsprechende Vorgehen der Kranichmenschen ( H E B , V. 3731 ff., H E C, S. 220, cap. 22) angeregt, nicht ohne solche vorbereitende taktische Überlegungen den Kriegszug beginnen, wie sie auch Alexander der Große mehrfach und erfolgreich vor Kämpfen mit Monstern oder während der Schlacht selbst anstellt, und die jeweils auf genauer Kenntnis einer spezifischen proprietas des Gegners beruhen. Um die Voraussetzung für einen Sieg über die Skiapoden zu schaffen, schneidet er ihnen die Fluchtwege auf das Meer ab, wohin ihnen niemand zu folgen vermag, und weiterhin läßt der Dichter Ernst, eingedenk 120 Vgl. im H E B V. 4698 f. mit roube und mit brande wolden sie den künic hern. 12 1 Sonneborn [Anm. 21], S. 29. 122 Bartsch [ Anm. IQ], S. L I L Vgl. Meves [Anm. 11], S. 186 - 188. Von den Waffen der Skiapoden ist im H E C keine Rede mehr. 123 Haupt [Anm. 10], S. 279.
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der Schnelligkeit seiner Feinde, sich für diese Unternehmung mit equis velocissimis versehen, so daß der Verfasser auch an diesem taktischen Zug zeigt, wie sorgfältig und mit geübtem Blick er jede Gelegenheit nutzt, die einzelnen Motive zu einem dichten Motivnetz zu verknüpfen. Abschließend sei noch vermerkt, daß im H E C ein Hinweis darauf fehlt, wogegen magnitudine pedum se tegentes. Ob der Autor diese Angabe vergessen hat, oder ob ein gemeinsamer Überlieferungsfehler, der in den drei, nach Bartsch „auf eine gemeinsame Urhandschrift" weisenden Handschriften (S. X L I V ) vorliegt, ist schwer zu sagen. Für die zweite Möglichkeit könnte die deutsche Übersetzung H E F sprechen (s.u. S. 64). Aber so lange nicht genauere Analysen des Handschriftenverhältnisses der drei lateinischen Handschriften vorliegen und die Übersetzungspraxis und -leistung des H E F nicht bis ins Einzelne gehend untersucht worden ist, kann eine definitive Entscheidung nicht getroffen werden. Neben den erzähltechnischen Verbesserungen, die bislang wegen Haupts Verdikt zu wenig gewürdigt werden konnten, ist es für unsere Fragestellung besonders aufschlußreich, sehen zu können, wie selbst ein gelehrter Autor, der einen ihm falsch erscheinenden Punkt seiner Vorlage nach einer „richtigen" Quelle korrigiert, sich dieser „falschen" Version nicht vollständig entziehen kann. Indem er aber aus diesem „falschen" Bild ein Stück beibehält, fortentwickelt und dem Handlungsgefüge einverleibt, trägt er seinen, nicht geringen Teil dazu bei, daß die Tradition der Skiapoden in lebendiger Wandlung bleibt und nicht in Erstarrung verharrt. Dieser Prozeß läßt sich an der deutschen Übersetzung des H E C, dem H E F und dessen Überarbeitung, mit wünschenswerter Deutlichkeit weiterverfolgen. Die Übersetzung 124 stammt vermutlich von einem „gelehrten Geistlichen, der zu Anfang des 15. Jahrhunderts die lateinische Prosa ins Deutsche übertragen hat, vielleicht im St. Ulrichskloster zu Augsburg" 125 . Zur Beurteilung unserer Textpartie ist noch von Wichtigkeit zu wissen, „dass der Übersetzer neben seiner Vorlage noch andere Quellen gelegentlich 124 S. Bartsch [Anm. 10], S. L X X I I ff., L X X V I , L X X V I I I , wo er zeigt, „daß A [die Handschrift b, die S. X X X V I I beschrieben ist, und die auch den lateinischen Text enthält] nicht Originalhandschrift, sondern Copie des Originals ist". Wichtig ist Bartschs Einschränkung: „Gleichwohl w i l l ich die Möglichkeit nicht in Abrede stellen, daß F nicht nach b, sondern nach der Originalhandschrift von b gearbeitet ist." Denn dann müßte immer gefragt werden, ob z. B. Zusätze in F auf das Konto des Übersetzers von F gehen oder nur Lüdten in der Abschrift b sind. Anhand der zwei von Meves in die Diskussion neu eingeführten Handschriften des H E F sind die Uberlieferungsfragen dringend einer neuen Behandlung bedürftig. 125 Sonneborn [Anm. 21], S. 35, 37 ff.; vgl. Bartsch [Anm. 10], S. L X X V und Meves [Anm. 11], S. 202 - 208.
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hinzuzog" 126 , und besonders bei den Bibelstellen jeweils die Stellenangaben beifügt 127 , also in gewissem Ausmaß philologisches Bemühen um Richtigstellung und Vervollständigung seiner Vorlage an den Tag legt. do sprach der könig zuo im ,dise veind mügent nit überwunden werden , dann es sind soliche lüte von Mornlanden 1**, die man zuo latin nennet Sciopedes , das ist das sie allain ain fuoß habent, mit dem sie sich ganz bedeckent vor der sonnen glaste, und lauffent so balde das sie niemant erlauffen mag; und sunder wenn si koment auf das mere, so lauffent sie mit truckem fuoß so behend als gehindern mag'. uf dem grieß oder herten ertrich, dar an si kain fürlauffen ... da ritt der herzog auf reschen pferden ettlich haimlich Straßen und wege und fürkomnden veinden den weg zuo dem mere und ergraif und ertötet sie alle .. .12®.
Falls nicht im lateinischen Text eine Lücke vorliegt (s. u. S. 63), ist vor der sonnen glaste vom Ubersetzer hinzugesetzt worden. Da im H E C es nur se tegentes hieß und nicht z. B. umbra se protegant (Plinius, Augustin), umbram sibi faciunt (Honorius, Thomas) oder adumbrentur (Isidor, Solin), ist das, wogegen sich das Volk bedeckt, nicht aus dem Verb allein abzuleiten. Der Ubersetzer müßte also gewußt haben, daß sich das Volk der Skiapoden contra solis fervorem (Thomas) oder ab ardore solis (,Liber de monstrorum') schützt. Der Übersetzer hätte die auf dem Hintergrund der traditionellen Skiapodenbeschreibung unvollständig erscheinende Vorlage, aus der Tradition schöpfend, ergänzt und damit vervollkommnet. Die magnitudo pedum hat der Übersetzer nicht wörtlich übersetzt, sie ist aber aus dem Text ohne weiteres abzuleiten. Denn wenn ein Fuß jemanden g a n z bedeckt, so muß er von gewaltiger Größe sein. Die knappe Angabe et super mare tamquam arenam terrae currentes hat der Übersetzer zu einem selbständigen Satz gemacht und dabei das Bild weiter ausgesponnen und um allerlei Einzelzüge bereichert. Was einmal eine Folgeerscheinung und gewissermaßen Nutzanwendung der Schwanenfüße war, ist nun zum beherrschenden Punkt der ganzen Beschreibung und zu dem die Taktik des Aufmarsches bestimmenden Moment geworden. Und das nicht nur durch die Umständlichkeit 180 , mit der nullius cursu possunt 126
Bartsch [Anm. 10], S. L X X V ; er schränkt die Behauptung allerdings ein, daß dies „wenigstens im Eingange deutlich hervortritt". * 27 Sonneborn [Anm. 21], S. 37. 128 Mornlande ist eine geläufige Übersetzung für Aethiopia, s. L. Diefenbach, Glossarium Latino-Germanicum Mediae et Infimae Aetatis, S. 211b, s.v. und Lexer I, 2203. S. auch H E B, V. 5339, 5344, 5370 etc. Morlant, womit Aethiopien gemeint ist, s. Szklenar [Anm. 11], S. 155. 129 Hsg. v. Bartsch [Anm. 10], S. 274,32 - 275,6. 130 Vgl. Sonneborn [Anm. 21], S. 38 f. Audi Bartsch [Anm. 10] rechnet S. L X X V I I I mit Mißverständnissen des Übersetzers, die nicht auf Fehler der Vorlage zurückgeführt werden können.
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praeoccupari in zwei „Anläufen" umschrieben wird: und lauffent so balde das sie niemant erlauffen lsl mag und dar an si kain fürlauffen gehindern mag. Die zweite Angabe ist sachlich nicht recht passend, da ja im Folgenden die Taktik Emsts gerade darin besteht, den Skiapoden die Möglichkeit, aufs sie daran hindert, auf Meer zu fliehen, abzuschneiden, also sein fürlauffen dem Meer trockenen Fußes zu entlaufen. Wie es Ulrich (?) schon nicht gelungen war, seine Neuerung, die Betonung der Unzugänglichkeit des Skiapodenlandes, der Handlung widerspruchsfrei einzupassen, ebenso wenig gelingt das dem Ubersetzer des H E C, der bei der so gelungenen Ausmalung der behend über das Meer eilenden Skiapoden ein bißchen die Ubersicht über das Satzgefüge und den Kontext verloren zu haben scheint. Die kürzere Prosafassung des H E F, die von Bartsch nicht berücksichtigt worden ist, aber die Grundlage des späteren „Volksbuches" bis hin zu den nhd. Bearbeitungen von Simrock, Marbach, Schwab und Rüttgers geworden ist (zu deren „Ausgaben" Meves [Anm. 11], S. 215 - 221 zu vergleichen ist) und damit für die größte Verbreitung des H E überhaupt gesorgt hat, verkürzt den Umfang insgesamt „um ein Drittel", wobei insbesondere „die ritterlich-höfischen Schilderungen von Kämpfen und Festen, die klassischen und gelehrten Beigaben wegfielen" 132 . Dies Urteil bestätigt die Skiapodenbeschreibung nicht in vollem Umfang: Da sprach der König zu jm / diese Feind mögen nit vberwunden werden / denn es seindt Leut / die da kommen auß Morenland / die nenet man zu latein Sciopedes / das heisset auff Deutsch / das sie nicht mehr denn einen Fuß haben / damit bedecken sie sich wenn die Sonne heiß scheinet / vnnd lauffen so geschwind / das sie niemant erlauffen kan / zumal wenn sie an das Meer kommen / so lauffen sie viel geschwinder / weder auff truckne landt 133.
Abgesehen davon, daß der Ersatz von von durch die da kommen auß nicht gerade klärend ist, da ein „Herstammen" ebenso igemeint sein kann wie ein aktuelles, immer erneutes „Herankommen", das aber sachlich unrichtig wäre, hat die Kürzungstendenz des Redaktors ein dem H E D in mancher Hinsicht vergleichbares Ergebnis gezeitigt. Ebenso wie im H E D werden markante Details der Vorlage gekürzt und damit das ausgezierte Skiapodenbild eingeebnet, hier aber im Gegensatz zum H E D nur teilweise 131 Die Drucke haben hier fürlauffen, was p r ae occupari näher kommt. Statt fürlauffen haben sie fürlauf f. 32 1 Ehrismann [Anm. 22], S. 55. Vgl. auch Meves [Anm. 11], S. 208 f. 133 Da die seit langem angekündigte Ausgabe dieser Fassung durch K. C. King immer noch nicht erschienen ist, hat mir John L. Flood, London, der sie nach Kings Tod betreut, die Textpartie nach dem ersten Druck des Weigand Han, Frankfurt/M. o. J. [doch um 1560 erschienen], Bl. H 2 V mitgeteilt. Ich möchte ihm für die Bereitwilligkeit auch hier danken, mit der er mir Auskunft erteilte.
5 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 18. Bd.
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der Norm näher gebracht. So kann die Kürzungsabsicht von Bearbeitern zu ähnlichen Ergebnissen führen, und man sollte, ehe der Einfluß von gelehrten, poetologisehen oder ästhetischen Absichten behauptet werden kann, diesen Kürzungswillen, der hier mit dem Übergang vom Foliodruck zum Oktavheftchen Hand in Hand geht, ernst nehmen und die Auswirkungen zunächst allein auf diese Ursache zurückführen. Denn gerade die Ausgestaltung des Ubersetzers von et super mare tamquam arenam terrae currentes ist von dem Redaktor wieder rückgängig gemacht worden, und zwar ohne Rücksicht auf die lateinische Vorlage durch „immanente" Streichungen. Dadurch daß der Redaktor noch auf das mere durch an das Meer rationalistisch umgedeutet und den verbleibenden Rest zusammengestrichen hat, scheint der Teil der Skiapodenbeschreibung, den der Übersetzer so dominierend in den Vordergrund gerückt hatte, nämlich der trockenen Fußes über das Wasser rasende Skiapode, wieder verschwunden, und er zum „Strandläufer" reduziert worden zu sein. Aber das ist nicht ganz eindeutig; der Nachsatz weder auff truckne landt läßt die Deutung auch zu, daß mit an das Meer ein auf das mere mitgemeint sein solle. Auf jeden Fall hat der Redaktor durch seine stilistischen Korrekturen den Text verunklärt. Das gilt in ähnlicher Weise für eine weitere Reduktion des Skiapodenbildes, die darin besteht, daß die im H E F nur erschließbare Größe der Füße nun gar nicht mehr genannt wird, denn ganz vor bedecken ist gestrichen worden. Auch hier hat ein scheinbar stilistischer Eingriff sachliche Veränderungen im Gefolge, die der Redaktor ganz offensichtlich gar nicht bemerkt hat. Der Redaktor tradiert zwar noch das Skiapodenbild, aber eine Kenntnis der dahinterstehenden Tradition, die bei allen anderen Bearbeitern des H E mehr oder weniger sicher vorausgesetzt werden konnte, ist bei ihm nicht mehr wahrzunehmen. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts scheint man für die traditionellen „Wunder des Ostens" offenbar nur noch ein begrenztes und eher antiquarisches Interesse zu haben. Die Mißgeburten im eigenen Land, über die man in Chroniken, Flugblättern und Gedichten schnell und gründlich unterrichtet wurde, fesselten die Aufmerksamkeit der Zeitgenossen mehr 134 . Und es ist bezeichnend, daß in der 134 Vgl. z. B. in Hartmann Schedels ,Weltchronik' [Anm. 28] die zahlreichen Erwähnungen von Mißgeburten, z.B. Bl. 151 r, 182 v, 198 r, 217 r, v, wozu jeweils Illustrationen vorhanden sind; oder Hans Burgkmairs Holzschnitt ,Das mißgeborne Kind von Tettnang' (s. Hans Burgkmair, Das graphische Werk, Städtische Kunstsammlung, Augsburg 1973, Katalognr. 95, Abb. 103); oder Sebastian Brants Gedicht (hsg. v. F. Zarncke, S. 162 f.), wozu D. Wuttke, Sebastian Brants Verhältnis zu Wunderdeutung und Astrologie, in: Fs. f. Hugo Moser z. 65. Geburtst., Berlin 1974, S. 272-286, bes. S. 281 ff. zu vergleichen ist; H. Kunze, Geschichte der Buchillustration in Deutschland. Das 15. Jahrhundert, Leipzig 1975, Textband
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Holzschnittfolge des ,Triumphzuges' von M a x i m i l i a n I., der 1526 i m Druck erschien, keine „Wunder des Ostens" mehr mitziehen, sondern
wirk-
l i c h e Leute aus K a l k u t t a 1 8 4 * 1 . Es ist seit langem bekannt, daß sich „das Werk des O d o i n seiner ganzen Anlage, seiner prunkhaften stilistischen Gewandung aufs schärfste von der schmucklosen, schlichten A r t der älteren deutschen Fassungen unterscheid e t " 1 8 5 . Nicht nur seiner „absichtlichen Schaustellung gelehrten Wissens" wegen 1 8 6 hat das Werk kaum zur Beschäftigung gereizt; auch die miserable Textgestalt hat ihr Teil dazu beigetragen. Bei der Skiapodenbeschreibung stellt O d o seine breite Kenntnis der einschlägigen „Wunder des Ostens" unter Beweis 1 3 7 , ja er sucht seine Vorlage zu übertrumpfen, indem er das eine V o l k der Vorlage i n Scenopedae u n d Monopedae aufteilt. Letztere werden i n engster Anlehnung an die Version des Honorius (s. o. S. 26 f.) von einem senex (S. 363a) beschrieben, der Herzog Ernst von den Monopedae und Lempniae erzählt, u m seine einschlägigen Kenntnisse unter Beweis zu stellen und damit der darauf folgenden S. 95-97, 386 f.; vor allem aber Wittkower [Anm. 2], S. 182 ff. „Monsters as Portents. Humanist HistoriographyS. auch Schorbach [Anm. 52], S. 144 mit einem instruktiven Beispiel aus dem Lübecker »Lucidarius'-Druck von 1520. i34a s. The Triumph of Maximilian I. 137 Woodcuts by Hans Burgkmair and Others, with a Translation of Descriptive Texts, Introduction and Notes by St. Appelbaum, New York 1964, Abb. 129 ff. und Einl. S. 18 f. mit Anm. 71. Vgl. auch den Anm. 49 zitierten Kollektivband, S. 257 f. 135 A. Fuckel, Der Ernestus des Odo von Magdeburg und sein Verhältnis zu den übrigen älteren Bearbeitungen der Sage vom Herzog Ernst, Diss. phil. Marburg 1895, S. 4. Vgl. auch Meves [Anm. 11], S. 182- 184. Es verdient hervorgehoben zu werden, daß die Dissertationen von Fuckel, Sonneborn und Reitzenstein als Referenten jeweils Edward Schröder hatten, also wohl von diesem angeregt waren. 136 Fuckel [Anm. 135], S. 6. S. 5 erklärt Fuckel diesen Zug mit Odos Absicht, sich bei seinem Gönner „noch mehr zu insinuieren und sich als einen Würdigen zu erweisen". 137 S. Sonneborn [Anm. 21], S. 25 f. „Nur einzelne Züge, die ihn besonders interessieren, führt er etwas weiter aus; so [ . . . ] vor allem die Schilderung der wundersamen Völker des Orients, die er mit echt mittelalterlicher Gelahrtheit anschwellt: sodiePanothi 361 b ff.; ferner 362 e: Pygmaeorum femina foeta secundum Post annum parit, octennis gens tota senescit . . . Gleich B 4898 (Prechami) bezeichnet Odo die Pygmaei auch als Bricami (362 e); bei diesen wächst, wie uns Odo durch einen Augenzeugen (quidam maximus aevo) verraten läßt, auch der weiße Pfeffer . . . ganz merkwürdige Wesen sind die Lempniae (362 d ff.); sie sind mit Bockshaaren bedeckt und haben weder Kopf noch Gesicht; ihre Augen funkeln zwischen den Schultern und statt der Nase haben sie eine Öffnung auf der Brust; sie leben von rohen Würstchen und Meer wasser." Ausgelassen habe ich die Scenopodae und Monopedae. Da behaarte Acephalen bzw. Blemmyer auch anderswo nachgewiesen werden können (s. R D K [Anm. 7], Sp. 752), muß hier keine Kontamination vorliegen. S. H . Christensen, Das Alexanderlied Walters von Chatillon, Halle/S. 1905, Nachdruck Hildesheim 1969, S. 178: „Den Bericht über die Wohnungen und das Leben der Langohren, über die Odo in seiner Vorlage nur ganz allgemeine Angaben fand, hat er gleichfalls aus der Schilderung, die W [alter] von den Skythen entwirft, herübergenommen." 5*
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Pygmäenbeschreibung den nötigen Nachdruck und die erwünschte Glaubwürdigkeit zu verleihen (S. 362d, e); die Lempniae
kommen u. a. auch i m
,Alexanderroman' vor, doch nur in der Rezension J 2 (ed. Hilka ,
S. 236):
Sunt homines uno tantum fulti pede cursu Auram vincentes, qui recto nomine dicti Monopedae y faciunt umbram sibi tegmine plantae 138. Des falschen Namens wegen w i r d die Vorlage gerügt, dabei beachtet aber Odo nicht genügend, daß nun das Schattenwerfen m i t dem einen Fuß ohne Beziehung zu dem Namen geworden ist. Veranlaßt haben mag diese Trennung die w o h l aus Honorius' ,Imago mundi* leicht modifiziert übernommene Namensform Scinopodae 139, die den Bezug zur Etymologie, wie sie Isidor und andere anbieten, nicht mehr ohne weiteres z u erkennen gibt. Monopedae steht auch bei Albertus Magnus (s. A n m . 81) und w i r d das mißverständliche monocoli ersetzen. W i r d bei den anderen Völkern nur besseres u n d mehr Wissen dargeboten, so häuft O d o auf die Skiapoden eine ganze Reihe von Zügen, die sonst von anderen Wundern überliefert werden, von denen aber keines i m ,Alexanderroman' auftaucht, dem doch Odo sonst so viel verdankt. Ohne daß etwas von der so gekonnten Einbettung der Skiapoden138 Ernestus [Anm. 10], Sp. 362 D. tegmine plantae , das bei Honorius fehlt, erinnert an tegmina plantis des Lehrgedichtes ,De monstris indie' [Anm. 34]. Haupt [Anm. 10] bezeichnete diese Namensform als „Schreibfehler oder irrthum des dichters" (S. 279). Da sie aber mehrfach vorkommt (s. die Anm. 28, 34 und 47 zitierten Texte, wo Haupt einmal auch sicherlich zu Unrecht mit einer Konjektur bessern zu müssen geglaubt hat) und offenbar in dieser entstellten Form weiter verbreitet ist, wird man Odo von einem Irrtum freisprechen müssen; er hat vielmehr aus dem entstellten Namen die vollen Konsequenzen gezogen, indem er dem Träger dieses neuen Namens auch neue Eigenschaften zuschrieb, und sollte dafür nicht getadelt werden. Die Abb. 2 im R D K [Anm. 7] findet sich besser bei H . Swarzenskiy Monuments of Romanesque Art. The Art of Church Treasures in North-Western Europe, London 21967, Abb. 431, so daß der Text gelesen werden kann. Es handelt sich um eine Solinhandschriftillustration aus der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts. Auch hier werden sie Scinopides genannt. Der Text ist dem Isidorschen Wortlaut stark angeglichen und hat mit dem Solins fast nichts mehr gemein (s.o. Anm. 82); daher möge er hier folgen: In ethiopia Scinopides. Hi singulis contenti cruribus. mirabili celeritate per estalem in terra supini iacentes. magnitudine pedum suorum se obumbrantur. Bei der Entzifferung hat mir Manfred Lossau, Trier, geholfen, wofür ich mich auch hier bedanken möchte. — Wir haben eben leider keine Ausgabe einer ,SolinVulgata' des 12. Jahrhunderts. In Rudolfs von Ems ,Weltchronik 4 (Doberentz [Anm. 22], S. 176) heißen sie: Cenopodes , Cinopedes y Cenopedes , und in der ,Historienbibel IP (hsg. v. Merzdorf ) Enopotes ist die Korrumpierung des Namens noch weitergegangen, bezeichnenderweise zu Beginn des Wortes. In vielen Isidorschriften werden die cynodontes als scinodontas y scenodontas u. ä. bezeichnet, s. ed. Lindsay y X I , I I I , 7 Lesarten zu Z. 24. Vielleicht haben irgendwelche Angleichungen zu der entstellten Form des ersten Namensteils sci(e)no- geführt auf einem hier angedeuteten Weg.
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episode, wie sie im H E C vorliegt, zu erkennen wäre, heißt es kurz nach Beginn des V I I I . Buches: 1 Gens fuit adjuncto reptans in littore, hello Aspera, Scenopedas veteres dixere seniles. Non veritos mactare patres, crudaque vorare Impietate pios, horum mirahile monstrum 5 Octono(s) pedihus digitos habet, et venientem Expellens auram, plantis sua membra supernis Involvit, nullaque pedes vestitur aluta. Haec ut saepe prius feralia concitat arma Cyclopum in regem, sanie calidoque veneno 10 Tela nimis medicare sciens, interque paludes Desertae regionis iens, saevis Arimaspes Ignibus, et vastis tendit spoliare rapinisM 0
Einiges dieser Beschreibung läßt die Vorlage, den HE, noch deutlich erkennen. So ist nullaque pedes vestitur aluta (Z. 7) deutlich die Wiedergabe von sie truogen keiner slahte schuoch (B, V. 4678), und die Beziehung von interque paludes desertae regionis iens (Z. 10/11) zu die fuorten grozen gewalt über hart und über bruoch (B, V. 4676 f.) ist ebenso offensichtlich. Auch mit roube und mit brande (B, V. 4698) ist in ignibus und rapinis (Z. 12) leicht wieder zu erkennen. Weiterhin scheint die Zweibeinigkeit erhalten geblieben zu sein, denn die Plurale pedibus (Z. 5), plantis (Z. 6), pedes (Z. 7) gehören zu im Singular stehenden Verben, die also das je einzelne mirabile monstrum meinen. Eine Skiapodenbeschreibung, die der in B vorliegenden sehr ähnlich gewesen sein muß, ist also die Grundlage für Odo gewesen. Die Schwanenfüße und das abwechselnde Aus- und EinStrecken je eines Beines fehlen jedoch wie auch im H E D. Der gelehrte Odo wußte es besser und ließ Einiges, was der Tradition deutlich nicht angehörte, was individuelle Erfindung — und somit Fehler — seiner Vorlage zu sein schien, bei Seite und füllte die ihm so entstandene Lücke mit anderen Details auf, die nun alle durch die Tradition verbürgt sind, wenn auch nur jeweils als Details und nicht in ihrer Gesamtheit; diese Zusammenstellung ist Odos Leistung. Und gerade in dieser etwas gewaltsamen Klitterung der disparatesten Einzelteile zeigt sich Odo dem älteren HE-Dichter am kongenialsten. Die in der Vorlage angelegten Möglichkeiten, gewissermaßen das Konstruktionspinzip, hat Odo am deutlichsten gesehen und am gründlichsten genützt. Das sollte man trotz des Zerrbildes eines Skiapoden, das, ähnlich wie sein Vorbild, Odo wie einen Hexentrank aus verschiedenen Ingredienzien zusammengebraut hat, als Leistung nicht über140 S. 360 B/C. Die Zählung habe ich, um bequemer zitieren zu können, hinzugefügt.
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sehen. Außerdem ist auf Seiten des Publikums nicht zu vergessen das Vergnügen an stilistischem Prunk, die Bewunderung von Raritäten jeglicher Art und das Vermögen, das Bizarre als Schönheit zu genießen. Was in den Literaturgeschichten als „aufgetragener Zierrat" (Ehrismann [Anm. 22], S. 53) mißbilligt wird, wurde vielleicht als gekonnter Gebrauch des ornatus difficilis bewundert, der zu Odos Zeit ja, von manchen Poetiken gelehrt, hoch in Kurs stand. Mit reptans und seniles (Z.l/2) nimmt Odo, wie schon von der Hagen erkannt hat 1 4 1 , Bezug auf die Himanto- oder Scimantopodes , die Schlappfüßler 142 . Die große Ähnlichkeit zwischen den Namen Scenopodae und Scimantopodes mag Odo, wie schon Adam von Bremen, die Übertragung besonders leicht gemacht haben. Wie aber ein altersschwaches, schlappfüßiges Volk, das sich mehr kriechend als gehend bewegt, ein solch gefährlicher Gegner sein kann, den der König der Arimaspen nicht zu besiegen in der Lage ist und dafür erst Herzog Emsts Hilfe braucht, und dieser den Sieg ohne jegliche Kriegslist — wie im H E C — erringt, bleibt ein Widerspruch. Dieser wird auch nicht durch Odos zusätzliche Angabe ausreichend gemildert, daß die Skiapoden nach heidnischer Gewohnheit sanie calidoque veneno tela medicare (Z. 9 f.) 1 4 3 , wodurch ihre Gefährlichkeit natürlich erhöht wird. Mit der Kombination der Scenopedae und der Himantopoden stellt Odo zwar seine ausgedehnten Kenntnisse unter Beweis; er arbeitet aber zu punktuell und übersieht daher nicht die Folgen, die diese Neuerung im weiteren Verlauf der Handlung zeitigt. Die Skiapodenbeschreibung verselbständigt sich und verliert dadurch etwas den Zusammenhang mit dem Kontext. Die nächste Angabe, die Odo über die Skiapoden macht, überträgt er von einem Volk, das Honorius so beschreibt: Sunt alii , qui parentes jam senio confectos mactant, et eorum carnes ad epulandum parant , isque impius judicatur, qui hoc facere abnegat 144. i4ii [Anm. 10], S. X I V Anm. 56. i « S. o. Anm. 29. 143 2u eiter in der Bedeutung venenum s. M. Heyne , Fünf Bücher deutscher Hausaltertümer, 3. Bd.: Körperpflege und Kleidung bei den Deutschen von den ältesten geschichtlichen Zeiten bis zum 16. Jahrhundert, Leipzig 1903, S. 133 Anm. 89, Martin , z. Parz. 481,11. Zu vergifteten Pfeilen s. E. Wiessners Kommentar zu Heinrich Wittenwilers ,Ring', V. 8710 oder Wolfr. Wh. 324,4 f. ja sint der Sarrazine geschoz gelüppet sam diu nätern biz, ,Historia de preliis' (ed. Hilka ), cap. 115, S. 228 . . . sagittis hostium veneno illitis ... 144 ,Imago mundi', I, 11. Da Odo sowohl bei dem Namen Scenopedae als auch in der Beschreibung der Monopedae in deutlicher Beziehung zu Honorius steht, kann ich mich auf ihn beschränken. Rudolf von Ems fügt noch hinzu (hsg. v. Doberentz [Anm. 22], V. 254 ff., hsg. v. Ehrismann, V. 1557 ff.): der site dunket sie so sieht daz sie die für vermeinde hdnt,
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Was aber diesem Volk als pietas gilt und ihre spezifische Besonderheit ausmacht, muß Odo des Kontextes wegen ins Gegenteil verkehren und als cruda impietate (Z. 3/4) verurteilen; er macht so die Skiapoden zu einer ganz besonders gemeinen Sorte von Menschenfressern 145. Setzte sich Odo, als er Eigenschaften der Himantopoden auf die Skiapoden übertrug, in einen gewissen Widerspruch zur Handlung, so muß er bei dieser Übertragung die traditionelle Beurteilung der Eigenschaft, um deretwillen das Volk überhaupt nur erwähnenswert ist, umändern, um Widersprüchlichkeit zu vermeiden. Den Tadel, den er bei der Nennung der Monopedae ausspricht, müßte er sich seinerseits gefallen lassen, nämlich den, die Vorlage non recte wiedergegeben zu haben. Die „absichtliche Schaustellung gelehrten Wissens" ist für Odo kein Problem. Dieses aber in die Handlung korrekt und bruchlos zu integrieren, bewältigt Odo nicht so ganz. Daß jedes einzelne mirabile monstrum octono(s) pedibus digitos habet (Z. 4 f.), stammt aus der Beschreibung der Antipoden 146 , qui aversas habent plantas et octonos, simul sedecim, in pedibus digitosm.
Das Bekanntere an diesem viel umstrittenen Volk, die plantas aversas, muß Odo weglassen, da es nicht mit den großen Füßen vereinbart ist. Im Gegensatz zu den beiden ersten Kombinationen paßt sich diese ohne Widerspruch und gewaltsame Uminterpretation in die Skiapodenbeschreibung ein, bleibt aber, wie die anderen auch, für die Handlung selbst totes Motiv. Bei der Aufzählung dessen, was Odo aus seiner deutschen Vorlage beibehalten hat, habe ich Z. 5 - 7 et venientem expellens auram, plantis stia membra supernis involvit ausgespart, weil die Formulierung Odos einer Erläuterung bedarf. Da mlat. aura in der Bedeutung ,Unwetter, Sturm' die vater und muoter leben länt biz daz sie selbe ersterbent von alter und verderbent. Außerhalb des engeren, ethnographisch-naturkundlichen Bereiches findet sich eine Beschreibung dieses Volkes im Prosa-,Lanzelot' (hsg. v. R. Kluge), Bd. I I I S. 127, 5—12, das als gar ubelmessig bewertet wird. Das Volk dient als Folie, vor der Parzivals Glaubensstärke schärfere Konturen gewinnt; und in Johanns von Soest ,Die Kinder von Limburg' (hsg. v. M. Klett), V I I I , 2651 ff., 2735 ff., wo diese Völker im Aufgebot der Heidenschaft mit von der Partie sind. Noch in ,den Gesängen des Maldoror' Lautr^amonts wird auf dieses Volk angespielt (II, 9). 145 Auch die Cynocephalen werden gelegentlich als Kannibalen geschildert (s. R D K [Anm. 7], Sp. 769), aber nicht als die eigenen Eltern verspeisendes Volk. Bei Adam von Bremen folgen unmittelbar auf die Ymantopodes: Uli, qui humanis carnibus delectantur pro cibo (ed. Schmeidler, S. 257,4). 14 « S. o. Anm. 84. l4n Honorius, ,Imago mundi', 1,12.
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gut belegt ist 1 4 8 , so ist der Bezug auf ungewitter (HE B, V. 4679) gesichert. Mit involvit wird ,darüber ausbreiten' gemeint sein, wodurch eine Verbindung zu do mit er sich pedacht (b 15) hergestellt wäre 149 . Hinter plantis supernis steht dann so hebet er einen fuoz über sich (HE B, V. 4681) und gemeint wäre die Unterseite des Fußes, die Fußsohle, die nach oben weist. Es wäre also die typische und insbesondere in bildlichen Darstellungen verbreitete Haltung des auf dem Rücken liegenden Skiapoden in einer ausgefallenen Formulierung. Von der anschaulichen Skiapodenbeschreibung seiner Vorlage hat Odo zwar eine beträchtliche Zahl der von der Norm abweichenden Details übernommen. Für das Ganze der descriptio gilt aber das Gleiche, was F. P. Knapp jüngst über Odos Schildbeschreibung festgestellt hat: „Odo beraubt sich von vornherein jeder Möglichkeit, das Beschriebene anschaulich werden zu lassen, durch die auf Schlagworte reduzierte Kürze seiner Darstellung, legt aber auch nicht den geringsten Wert darauf, die Imagination einer Beschreibung aufrechtzuerhalten, sondern fügt enzyklopädisches Stichwort an Stichwort, ohne erkennbare sinnvolle Reihung. Dabei scheint sein Ehrgeiz darin zu bestehen, Walther [von Chätillon] noch an Gelehrsamkeit zu übertreffen." 150 Odos Skiapodenbeschreibung ist von allen sicher die gelehrteste, an Neuerungen reichste. Sie hat aber mit dem traditionellen Bild des Skiapoden wohl nicht zufällig nicht einmal mehr den Namen gemeinsam151; denn mit 148 S. mlat. Wb. I, s. v. Sp. 1242,35 und DuCange, Glossarium mediae et infimae Latinitatis I, S. 484 a. 149 Diese Verbindung stützt meine o. S. 29 f. begründete Annahme, daß die Z. b 15 der Fassung B angehört hat und in a ausgefallen ist. 150 F. P. Knapp , Bemerkungen zu Herzog Emsts Schild bei Odo von Magdeburg, Beitr. (Tüb.) 94 (1972) 335—347, Zitat S. 346. Auch Knapp beschränkt sich auf einen kleinen, sachlidi abgeschlossenen Textausschnitt von 24 Versen für seinen Aufsatz. Vgl. auch dens., Similitudo. Stil- und Erzählfunktion von Vergleich und Exempel in der lateinischen, französischen und deutschen Großepik des Hochmittelalters, I. Bd. Einleitung, Vorstudien, 1. Hauptteil: Lateinische Epik (Philologica Germanica 2), Wien/Stuttgart 1975, S. 268—296, 408 ff. 151 Daß die mirabilis celeritas der Skiapoden in Odos Beschreibung fehlt, ist leicht erklärlich, er mußte sie dem Himantopoden opfern. Da der Zusammenhang mit den Skiapoden aber schon verlorengegangen war, dürfte Odo dies Opfer nicht schwer gefallen sein. Das Fehlen dieser proprietas kommt sonst nur noch in stark reduzierten Texten vor, so in der auf eine Zeile zusammengezogenen Beschreibung des Ps.-Ovid [Anm. 47] und in der durch Zitieren aus dem Gedächtnis defekten descriptio Ulrichs von Etzenbach in seiner ,Alexandreis', s. o. Anm. 12. Am weitesten reduziert, so daß nur noch der Kontext eine Identifikation zuläßt, ist der Text in: Ein deutsches Adambuch. Nach einer ungedruckten Handschrift der Hamburger Stadtbibliothek aus dem 15. Jahrhundert, hsg. v. H . Vollmer , Programm Hamburg 1908, S. 27, einer Prosafassung aus dem Komplex der pseudorudolfinischen Weltchronik: etlichs het nwer ainen fues.
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dem Namen ändert sich auch das Wesen eines Dinges und Dinge ähnlichen Namens sind auch von verwandtem Wesen: wart ieslich dinc sin nam tuot melt (Frauenlob [hsg. v. L. Ettmüller], 59, 6) bzw.: so hellen name und werc in ein (Brun von Schonebeck [hsg. v. A. Fischer], V. 6622). Daß Odo von der „Skiapodenmißgestalt" des HE-Dichters auf einen falschen Weg gelockt worden ist, und — wie die Einführung der Monopedae zeigt — sich wohl gar nicht mehr darüber im Klaren sein konnte, es mit Skiapoden zu tun zu haben, scheint mir sicher zu sein. Er ging bei der Übernahme der platfüeze nur noch über seine Vorlage hinaus, indem er ein ganz neues „Wunder des Ostens" zusammenballte, das in dieser einzigartigen Gestalt ihm allein gehört. Der letzte, an die ursprüngliche Gestalt erinnernde Rest, der im H E B noch expressis verbis genannt worden ist (den warn die füeze vil breit, V. 4674), ist bei Odo nur noch — ähnlich wie im H E F — zu erschließen. Auch daran erweist sich, daß Odo sich des Urbildes eines Skiapoden nicht mehr bewußt war. Nur die Funktion im Handlungsgefüge des Romans ist die gleiche geblieben. Durch den Sieg über den grauenerregenden Feind wird Emsts Heldentum erst recht dem König (und Leser) vor Augen geführt. Obwohl die Skiapodenbeschreibung nur wenige Verse umfaßt, scheint sie für das ganze Werk doch repräsentativ zu sein, da sie mit aus höherer Warte oder anderem Blickwinkel gefällten Urteilen gut harmoniert. Zum Abschluß soll die Skiapodenschilderung der ,Gesta Ernesti ducis' behandelt werden, da in der Bearbeitung, die in den Klagenfurter Bruchstücken erhalten ist, unsere Partie nicht überliefert ist. Ea tempestate, sicut India pre ómnibus terris monstrorum ferax est, erat regno Arimaspie gens monstruosa contigua . Hic dicebantur sciopodes, qui wlgo bladebuvi vocantur. Hos refert Solinus monoculos nasci et singulis cruribus singularique velocitate persistere. Qui ubi defendere se volunt a calore vel tempestate supinati plantarum suarum magnitudine inumbrantur. Unde et vocabulum traxerunt 152; scios enim umbra y poda pes dicitur. Nam pedes habent pandos et latissimos ut anseres. Calcéis non utuntur et armatura sunt eis tela et cúspides . Inter eos et Ciclopes vasta solitudo habebatur y quam cursu pernici transmeantes terram illorum vastare pro libitu solebantw. Und ebenso in dem von J. Siebert, Meistergesänge astronomischen Inhalts (I), ZfdA 83 (1952), S. 200—235 hsg. ,Hort der Astronomie', Str. 8,4 f.: so ist einz kurz y daz ander lanc y snebleht y kröpfet, uf einem b e in
ist
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ganc.
Diese Völker werden hier als Repräsentanten der Einwohner Indiens genannt; daher sind Sieberts Überlegungen (S. 228 f., Anm. 20) wohl nicht ganz zutreffend. 152 Zu der Formel für die Wortableitung s. Roswitha Klinck y Die lateinische Etymologie des Mittelalters (Medium Aevum 17), München 1970, S. 41 f. 153 ed. Lehmann [Anm. 10], S. 30,9—16. Vgl. auch Meves [Anm. 11], S. 184 bis 186.
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Bevor der Verfasser der ,Gesta' die Skiapodenepisode übersetzte, informierte er sich offenbar erst einmal darüber, was es mit dem Wundervolk für eine Bewandtnis hatte. Dabei zeugt von seinen guten Kenntnissen der einschlägigen Literatur 154 , daß er den Weg von den bladehuvi zu den scio podes gefunden hat, die doch vom Namen her gesehen miteinander fast nichts mehr zu tun hatten; das gilt für den Verfasser des H E C ebenso, für Odo jedoch nicht. Vor die aus der Vorlage übersetzte Schilderung schiebt der Autor die Ergebnisse seiner Nachforschungen ein und gibt so seiner Schilderung eine wissenschaftlich abgesicherte Grundlage; war es doch auch eine der Forderungen der artes praedicandi — expressis verbis zumindest seit Alanus' ,Summa de arte praedicatoria —, daß möglichst jede Aussage des Predigers durch Zitate von Autoritäten belegt werde; vgl. hierzu Schmidtke [Anm. 26], S. 160 ff. mit trefflichen Beobachtungen und Einschätzungen. Der zu den Schulautoren zählende Solinus ist ein vertrauenswürdiger Gewährsmann, den z. B. auch Konrad von Mure für sein Schulbuch ,Fabularius' (1273), Konrad von Megenberg oder Hugo von Trimberg (besonders instruktiv ,Renner', V. 20283 ff.) oft und gern zitieren, von dem es metrische Bearbeitungen gibt und dem z. B. Alexander Neckam in seinem „Handbuch" ,De naturis rerum' über weite Strecken gefolgt ist. Die von Mommsen nicht benützte, aus Fleury stammende Solin-Handschrift der Bodleian Library Oxford (Ms. Auct. T. 2.28) gibt mit ihren vielfältigen Gebrauchsspuren einen guten Eindruck davon, wie Solin über Jahrhunderte im Schulunter154 Davon zeugt auch ein Fehler, der dem Autor bei der Identifizierung der Prechami (HE B, V. 4898, pergamey Hs. b.) bzw. der von Perkameren lant (HE B, V. 5324, fehlt Hs. b, s. Reitzenstein [Anm. 20], S. 43 f., der die Entstellung aus Verlesungen und Entstellungen erklärt) mit den Bragmanna (S. 31,13) unterlaufen ist. In diesem Zusammenhang möchte ich noch auf die Trogoditen (Rudolfs ,Weltchronik 1, hsg. v. Doberentz [Anm. 22], V. 1380) verweisen, die in der Prosaauflösung, der ,Historienbibel I I ' (hsg. v. Merzdorf) Fragotien heißen und in einigen Handschriften zu Pragmey bzw. Pracbmei geworden sind; auch in diesem Fall dürfte es wohl kein Versehen sein, sondern eine auf besserem, wenn auch nicht richtigem, Wissen beruhende Substitution. Lehmanns [Anm. 10] Erklärung, S. 45 befriedigt nicht restlos und ebenso wenig die Menhardts [Anm. 10], S. 208 f.; denn man sollte nicht in zu großem Umfang mit mechanischen Buchstabenverwechselungen rechnen, s. dazu die gründlichen Ausführungen von A. Leitzmann , Die Ambraser Erec-Überlieferung, PBB 59 (1935), S. 190 ff. Vgl. dagegen die von mir vorgeschlagene Deutung [Anm. 74], S. 78 Anm. 26, die von einer gelehrten Verwechselung ausgeht, welche durch eine — in den Augen des gelehrten Autors — korrumpierte Namensform wie pergamey oder prechami veranlaßt worden ist, die er anschließend ja auch gleich berichtigt: In partibus Ulis hii sunt nani quos Greci pigmeoSy id est cubitales a eubitis appellant (31, 14). Zu der seltenen Bezeichnung nanus für die Pygmäen s. A. Lütjens, Der Zwerg in der deutschen Heldendichtung des Mittelalters (German. Abhandlgn. 38), Breslau 1911, S. 26. Pygmäenillustrationen sind bei E.-M. Schenck [Anm. 82], S. 129 Anm. 274 nachgewiesen.
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rieht verwendet wurde. Außerdem ist er „alt", wodurch der Wahrheitsgehalt des von ihm vermittelten Wissens größere Autorität gewann. Die Angabe, daß Indien ein besonders reich von Monstern bevölkertes Land ist, findet sich bei Plinius, der mit dieser Feststellung die Beschreibung der Wundervölker eröffnet, oder im ,Liber monstrorum' in ähnlicher Form 155 . Das Solinzitat (s. o. Anm. 25) ist fast wörtlich der angegebenen Vorlage entnommen156 und nur durch vel tempestate erweitert. Hier zeigt sich schon das Bemühen des Autors, alle die Züge seiner volkssprachlichen Vorlage 157 mit seinen gelehrten Vorlagen zu kombinieren, soweit sie miteinander in Einklang zu bringen waren. Denn auch der Vergleich ut unseres ist von den Neuerungen des HE-Dichters beibehalten worden, während die Zweibeinigkeit und das damit verbundene Ein- und Ausziehen der Beine — wie bei den anderen Bearbeitungen auch schon — ausgemerzt worden ist; das stand in zu krassem Widerspruch zu der vorher gegebenen Definition und Etymologie. Letztere stammt zwar ; nicht wörtlich aus Isidors ,Etymologien', war aber aus dessen Formulierung quos unde axiörcodag Graeci vocant ohne allzugroße Schwierigkeiten abzuleiten 158 . In recht ähnlicher Form hat z. B. Konrad von Megenberg mit griechischen Wörtern etymologisiert, ohne — wie Kolb [Anm. 31], S. 434 -438 gezeigt hat — selbst Griechisch zu können; ein weiteres Beispiel für eine Etymologie mit griechischen Wörtern Beitr. 89 (1967), S. 274 Anm. 14, vgl. auch Bischoff [Anm. 57], S. 51 f. Nachdem die Angaben, auf die er bei seinen Nachforschungen gestoßen war, untergebracht waren, schloß er sich wieder der Hauptvorlage an, ordnete aber etwas anders die verschiedenen Angaben an. Dem Stichwort bladehuvi wird gleich die Definition beigegeben. Dabei 155 Die Zitate bei Wisbey [Anm. 7], S. 205; s. Wittkowcr [Anm. 2], S. 167 oder Bartholomäus Anglicus [Anm. 13], X V , 73, S. 661 Indta, inquit, in longo protractu versus Aethiopiam in miraculis abundat, dazu Gerhardt [Anm. 74], S. 84 Anm. 54. 1 5 6 Der Ersatz von pernicitate durch velocitate ist wohl kaum bedeutsam, obwohl Thomas velocissime und die ,Gesta Romanorum' velocitatis bzw. tarn veloces haben, zumal das Adjektiv pernix in dem Textstück noch vorkommt. 1 5 7 Daran ist mit E. Schröder, AdfA 46 (1927) 107—112 [Rezension von Lehmanns Ausg.], S. 108 festzuhalten. Ob wegen dieser vernichtenden Kritik die Abhandlung in Lehmanns kleine Schriften nicht aufgenommen worden ist? 158 Auch Lehmann [Anm. 10], S. 48 und E. Schröder [Anm. 157], S. 109 verweisen auf Isidor. Zu beachten sind hierbei auch S. 29,20 ff. die Etymologien von CiclopeSy S. 30, 7 ff., von Panothii, S. 31,13 ff., von Pigmei bzw. Bragmanna, die aus Isidor XI,3,16; 19 und 26 stammen (s. Lehmanns [Anm. 10] Anm. z. St.). Vgl. auch S. 10,17, wo es von Ernst heißt, daß er datus ad literas Latinam et Francigenam, quin et Eolicam id est Grecam lingwam und dazu E. Schröder, S. 11. — Über die Vielfalt, Möglichkeiten und Verbreitung mittelalterlicher Etymologie, Namensexegese u. ä., auch in der Volkssprache, informieren die Aufsätze von K. Grubmüller, W. Haubrichsy Gudrun Schleusener-Eichholz y U. Ruberg und W. Sanders, in: Verbum et Signum, Fs. f. F. Ohly z. 60. Geburtst., München 1975, Bd. I, S. 209—340 unter jeweils verschiedenen Aspekten.
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bringt der Autor an der passenden Stelle zwei Angaben aus dem H E mit unter (vel tempestate und ut unseres ), und an die Metapher ut unseres schließt er folgerichtig und konsequent an: Calceis non utuntur. Danach erst wird die Bewaffnung der Skiapoden genannt, wobei der Autor, wie es scheint, die Verse und taten im schaden in sin lant und brähten in dicke in arbeit (HE B, V. 4672 f.), mit truogen geschoz freislich bzw. fuorten ir scharph geschütze (HE B, V. 4693, 4717) kombiniert bzw. konkretisiert. Dieser Schritt zeugt davon, daß der Autor sich vor dem Ubersetzen einen Überblick über die gesamte Episode verschafft haben muß. Daß ihm dabei ein kleines Versehen unterlaufen ist, indem er geschoz und geschütze als verschiedene Waffen aufgefaßt hat und die Skiapoden neben den tela auch mit den Panoten zugehörigen cuspides (vgl. S. 62, 70) ausgestattet hat 1 5 9 , fällt gegenüber der sonst gezeigten Gründlichkeit und dem für straffe, geordnete Darstellung sorgenden Uberblick nicht so sehr ins Gewicht. Nachdem der Verfasser über Namen, Gestalt und Waffen der Skiapoden gesprochen hat, fehlt aus der Vorlage nur noch das Verspaar die fuorten grozen gewalt über hart und über bruoch (HE B, V. 4676 f.). Der Autor nimmt die Eingangs gemachte Angabe erat regno Arimaspie gens monstruosa contigua (vgl. H E B, V. 4669 f.) wieder auf und verknüpft sie mit den genannten Versen: inter eos et Ciclopes vasta solitudo habebatur, quam cursu pernici transmeantes. Er verändert aber insofern die Vorlage, als er hart und bruoch , womit der HE-Dichter und auch Odo (inter paludes desertae regionis iens) das Wohngebiet der Skiapoden meinen, zu einer vasta solitudo (locis desertis 30, 20, terram desertam et inviam 30, 26) macht, die zwischen den beiden Ländern liegt. Da diese Veränderung für den folgenden Kriegszug nur indirekt Folgen hat, ist nicht zu entscheiden, ob sie auf einer ungenauen Wiedergabe der Vorlage beruht oder auf absichtlichem Eingriff. Dieser könnte auf einer Überlegung des Autors beruhen, daß die Unzugänglichkeit des Landes einen auf bloßer Tapferkeit Herzog Emsts beruhenden Sieg eigentlich gar nicht zulassen sollte, sofern die Skiapoden ihren Vorteil wahren. Der Autor hätte auf den in der Vorlage angelegten Widerspruch reagiert und ihn auf elegante Weise ausgelöst. Der Verfasser des H E C hatte sich zum gleichen Zweck die taktischen Überlegungen des Heeresführers gewählt. Da über die literarische Stellung der ,Gesta' bislang von keiner Seite etwas vorgelegt worden ist und sporadische Erwähnungen von keiner intensiveren Kenntnis des Textes zeugen, ist eine Ausweitung der von dieser Stelle her gewonnenen Beurteilung noch nicht möglich. Die Skiapodenbeschreibung weist jedenfalls auf einen gewissenhaften und sorgfältigen i5t> S. o. S. 55 f. und Anm. 99.
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Verfasser, der sich um wissenschaftliche Fundierung und um möglichst klare und straffe Disposition des ihm vorgegebenen Stoffes bemüht. Es ist daher vielleicht nicht nur Zufall, daß der Magister Dietrich Engelhus aus Einbeck gerade aus dieser Fassung des H E Stücke in seine lateinische Weltchronik übernommen hat 1 6 0 .
An der Behandlung der Skiapoden haben sich charakteristische Unterschiede in den einzelnen Fassungen (ein von Hoffmann [Anm. 49, S. 59] mißbilligter Terminus) bzw. Handschriften oder Redaktionen erweisen lassen, die die jeweiligen, aus allgemeinerer Sicht gefällten Urteile mehr oder weniger bestärkt haben. Vor allem für den Verfasser des H E C scheinen mir die Versuche Sonneborns (S. 29), zu einem gerechteren, positiveren Urteil vorzudringen, zu wenig Beachtung gefunden zu haben; bei Ehrismann z. B. (S. 54), der sich wenigstens noch um die Charakterisierung jeder einzelnen HE-Fassung bemüht, ist davon nichts geblieben. C ist die einzige Fassung, in der es dem Autor gelungen ist, die Skiapodenepisode ohne den harten, für einen die Szenen bloß reihenden Reiseroman durchaus typischen, und daher nicht ganz zu Recht so herb getadelten Übergang 1602, in die Handlung einzubetten und die Episode noch mehr auf die zentrale Heldengestalt hin zu organisieren, und damit die Erzählung zu größerer Geschlossenheit zu führen. Darin zeigt sich „der an klassischen Vorbildern geschulte Verfasser" 161 allen anderen Bearbeitern gegenüber als der geübtere und geschicktere Erzähler. Am weitesten und radikalsten ist in dieser Richtung der Umformung der Dichter des strophischen Liedes (HE G) gegangen, der 160 S. Lehmann [Anm. 10], S. 6 ff., doch vgl. noch O. Höfler, DVjS 29 (1955), S. 189 Anm. 86. K. Langosch, in: Geschichte der Textüberlieferung der antiken und mittelalterlichen Literatur, Bd. I I Uberlieferungsgeschichte der mittelalterlichen Literatur, Zürich 1964, S. 12 (Die mlat. Literatur: Unterhaltungsprosa) weiß von den ,Gesta' nur zu berichten, daß sie „im Inhalt und Stil einen ,gespreizt gelehrten' Mann verraten". leoa Vgl, dagegen Szklenar [Anm. 11], S. 123 und S. Jäger, Studien zur Komposition der Crescentia der Kaiserchronik, des Vorauer und des Strassburger Alexander und des Herzog Ernst B, Diss. phil. Bonn 1968; S. 209, 220, 226 ff., 237 findet sich eine angemessenere Beurteilung. Viel zu selten beachtet ist in diesem Zusammenhang die ,Navigatio Sancti Brendani', in der die verschiedenen Episoden auf mehrere Weisen strukturiert und verknüpft werden, und die ,Reise St. Brandans', in der die übergreifenden Gliederungsversuche zu Gunsten der lockeren Episodenreihung verschwunden sind. Trotz ihres riesigen Erfolges hat sich die individuelle kompositorische Leistung gegenüber dem traditionellen Schema des Reiseromans gerade in der Volkssprache nicht durchsetzen können; vgl. W. Hang, Vom Imran zur Aventiure-Fahrt. Zur Frage nach der Vorgeschichte der hochhöfischen Epenstruktur, in: Wolfram-Studien [ I ] , Berlin 1970, S. 264—298, bes. S. 268, 271 f., 285 ff. 161 Sonnehorn [Anm. 21], S. 29. Das zeigen auch die zahlreichen Zitate (s. Haupt [Anm. 10], S. 268), selbst wenn sie nur aus den gängigsten Schulautoren stammen.
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aus dem die Episoden reihenden Schema des Reiseromans in das zielgerichtete Schema des Brauterwerbungsromans übergewechselt ist und dabei die Kämpfe mit den Wundervölkern überhaupt auf den zentralen Kampf mit den Kranichmenschen konzentrieren und einschränken konnte und mußte, da die übrigen Kämpfe nach der Gewinnung der Braut funktionslos geworden waren 161a . In allen Fassungen des H E hatten sich die Bearbeiter mit dem Skiapodenbild der ersten Gestaltung auseinanderzusetzen. Da dieser erste „HE-Skiapode" durch verschiedene Umstände mit dem „Normalskiapoden" fast nichts mehr gemein hatte, zeigen insbesondere die drei lateinischen Dichtungen deutlich das Bestreben ihrer Verfasser, ihre Vorlage mit den wissenschaftlichen Autoritäten 162 und der durch sie festgelegten und repräsentierten Tradition in Einklang zu bringen. Dabei ist es dennoch keinem Autor gelungen, sich von der Suggestion der Vorlage völlig frei zu machen, sei es in Mißverständnissen, sei es in übernommenen proprietates, obwohl diese von der Norm abweichen. Es ist aber auch deutlich geworden, daß jeder Verfasser seinen eigenen Weg gegangen ist und es ist bei keiner Version zu erkennen, daß neben der HE-Hauptvorlage und der wissenschaftlichen Nebenvorlage noch eine weitere HE-Fassung herangezogen worden wäre. Dieses Ergebnis sollte einerseits davor warnen, zu schnell, von allzu isoliertem Vergleich einzelner Stellen ausgehend und ohne genaue Prüfung des Gesamttextes mit Kontaminationen der Fassungen zu rechnen 163, andererseits sollte es Ansporn geben, die verschiedenen HE-Fassungen auch als literaturgeschichtliche Individuen zu würdigen und den spezifischen Eigenarten jedes einzelnen Autors mehr Aufmerksamkeit zu widmen, als es bisher geschehen und wie es ansatzweise von Meves versucht worden ist. Am rigorosesten, und in der Darstellung am kürzesten, löst s>ich der Verfasser des H E C von der Vorlage und lehnt sich dafür eng an Isidor an. Die Angabe jedoch, die Skiapoden könnten auf dem Meer laufen, ist ohne die entsprechenden Verse der Vorlage nicht erklärbar. Im Gegensatz zu dem Verfasser der ,Gesta', der — wie der ,Lucidarius' auch — die Angaben des H E und Solins zu a calore vel tempestate kombiniert, unterläßt er überhaupt jede nähere Auskunft darüber, wovor der große Fuß schützen soll. Falls kein Uberlieferungsfehler vorliegt (s. o. S. 63 f.), hätte er vielleicht leia Vgl. N. Thomas, Handlungsstruktur und dominante Motivik im deutschen Prosaroman des 15. und frühen 16. Jahrhunderts (Erlanger Beitr. z. Sprach- und Kunstwiss. 37) Nürnberg 1971, S. 33—42. 162 Auf die „Wissenschaftlichkeit" der Quellen des Orientteils legt mit Recht z. B. auch Szklenar [Anm. 11] mehrfach Wert, s. S. 170, 182. Die Bezeichnung „völkerkundliche Kuriositäten" (so Rosenfeld [Anm. 22]), Sp. 392) ist daher für die Völker Indiens von mittelalterlichem Standpukt aus gesehen unpassend. 163 Vgl. z. B. Menhardt [Anm. 10], S. 201 ff.
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auf diese Weise das Problem der unterschiedlichen Angaben seiner beiden Quellen gelöst. Der Verfasser der ,Gestac ist vor allem bestrebt, so viel gesicherte Information wie möglich über das Wundervolk seinem Publikum zu bieten. Er verarbeitet dabei seine wissenschaftliche Quelle und den H E zu einem widerspruchsfreien Gesamtbild, das man cum grano salis als concordantia Sciapodarum bezeichnen könnte. Odo dagegen ist es nicht gelungen, seine Vorlage des H E mit seinem Wissen von den „Wundern des Ostens" zu einer Einheit zu verbinden, im Gegensatz z. B. zum ,Alexanderlied 4 Walters von Chätillon, aus dem er — nach Christensens Darlegungen [Anm. 137, S. 174 - 182] — Wendungen, Gedanken und Schilderungen für sein Epos im Allgemeinen geschickter verwertet hat. Sein „antiquarisches Wissen" 164 hat ihm sogar den Blick so verstellt, daß er in den platfüezen der Vorlage die Skiapoden gar nicht wiedererkennen konnte. Mit Honorius benützte er die modernste Fachliteratur, wie er sich ja mit Walter von Chätillon ein auch sonst viel nachgeahmtes, aktuelles Vorbild gewählt hat. Odo ist der stilistisch und sachlich aufwendigste Erzähler, ist dabei aber nicht immer glücklich. Er steht jedoch darin seiner Vorlage am nächsten, daß er aus verschiedenartigsten Völkern stammende Beschaffenheiten zu einer Figur verarbeitet; aber eben mit der für den heutigen Geschmack zu übertriebenen Anhäufung erstickt Odo ein mögliches Leben dieser Kunstfigur, was seinem Skiapoden einzuhauchen dem HE-Dichter geglückt war. Am unergiebigsten und geradezu langweilig erweist sich Ulrich von Etzenbach (oder wer auch immer der Autor sein mag). Zwar kürzt er seine Vorlage um eine Reihe normwidriger Einzelzüge, doch ist nicht auszumachen, ob er das aus den selben Gründen tat, die im H E C und in den ,Gesta' ganz offenkundig sind. Das Urteil de Boors, daß für Ulrichs Stil „oft ein wenig blasser Anstand des Ausdrucks... entscheidend" sei 165 , könnte im Hinblick auf die Skiapodenschilderung getroffen worden sein, aus dem die ganze Bizarrheit der Vorlage geschwunden ist. An den aufgeführten Stellen aus den ,Lucidariusc-Fassungen kann schon in nuce gesehen werden, was sich bei den HE-Bearbeitungen noch viel deutlicher abzeichnet166. Der Zusatz unde schirment sich da mite so ungewiter cumety der nicht von Autoritäten gedeckt war, fehlt in dem Druck von 1479, 164 Sonneborn [Anm. 21], S. 18. 165 de Boory Gesch. d. dt. L i t . I I I , 1, S. 108.
166 S.o. S. 39 ff. und Anm. 71.
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der allerdings auch sonst kürzt; der falsche Name Ciclopes verschwindet mit dem Drude von 1535 167 im Zuge einer Erneuerung von Grund auf. Die gleiche Entwicklung läßt sich an der Velserschen Mandeville-Ubersetzung ablesen. Auch hier steht ein Skiapodenbild am Anfang, das erheblich von dem traditionellen abweicht, und das in mehrfachen Etappen wieder in Ordnung gebracht wird 1 6 8 . Andererseits zeigen uns die verschiedenen anderen Mandeville-Übertragungen 169, daß ein mit der Tradition in Obereinstimmung befindliches Skiapodenbild unverändert sich in den verschiedensprachigen Ubersetzungen und den jeweiligen Uberlieferungen halten kann; es besteht kein Anlaß, bessernd eingreifen zu müssen. Und an der ,Historienbibel I T schließlich haben wir ein Beispiel dafür, zu welch traurigem Ergebnis die Verständnis- und kenntnislose, dazu noch durch typische Schreiberfehler verschiedener Art entstellte Arbeit dieses Prosaisten geführt hat, die sicher repräsentativ für so manche Schreibstubenprodukte ist, die ohne Kontakt zum gelehrten naturwissenschaftlichen Schrifttum entstanden sind. Auf diesem Hintergrund wird erst recht deutlich, daß es der zweibeinige, schwanenfüßige, sich vor Unwetter durch abwechselndes Hochhalten eines Fußes beschützende Skiapode des ersten HE^Dichters gewesen ist, der alle anderen Bearbeiter zum produktiven Eingreifen geradezu herausgefordert hat. Das Normwidrige, Unkonventionelle wird zur Konvention zurückgeführt, wobei jeder Bearbeiter die Norm und Kovention auf seine je eigene Art und Weise zur Geltung bringt, es aber keinem gelungen ist, den „Idealtyp" eines Skiapoden zu verwirklichen, das Normwidrige gänzlich lß 7 Diese Entwicklungslinie würde vermutlich zu korrigieren sein, wären mehr Fassungen in modernen Drucken zugänglich. Die Sache selbst, die Veränderungen, bleiben aber bestehen. Vgl. Anhang I I I . i« 8 S. o. S. 50 ff. 169 Zum weiteren Vergleich sei noch eine lateinische Version (ed. Seymour [Anm. 90], S. 84,17 ff.) zitiert:
In Etiopia sunt gentes diversarum formarum. Et ibi gens vnius tantum pedis t et currunt ita leviter cum Mo vno pede quod mirum est. Pes ipse tarn largus est quod vmbra eins cooperit totum corpus contra solem und die Übersetzung Ottos von Diemeringen, aus der von der Hagen im Mus. f. altdt. Lit. und Kunst 1,1 (1809), S. 306 gerade die hier interessierende Stelle ausgehoben hat: vnd ist vil Wunders in dem lande (Aetkiopien), vnnd vnder andern wundern vindet man leute, dy haben nicht wann eynen füß , vnnd sind doch s(n)eller y wenn ander leute , vnnd ist der füß ah gros vnnd alzo breit , das her schaten gibt dem liebe mit eynander , alz sy vff dem rucken legin vnnd den füß gegen der sonnen halden (in Stemmlers Neubearbeitung [Anm. 82], S. 104); vgl. Anhang IV.
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zu tilgen 170 . Die Macht der Tradition, die ja nicht gleich zur „philologischen Metaphysik der Tradition" 1 7 1 stilisiert werden muß, ist innerhalb der HEUberlieferung zwar gebrochen, aber überall präsent und spürbar. Die Tradition, die von Plinius, Augustin, Isidor, Honorius und vielen anderen begründet, aufgenommen und weitergereicht worden ist, und deren Kontinuität und Stabilität durch den Vermittlungszusammenhang dieser Autoren gewährleistet ist, und die Tradition, die ihren Ursprung im ersten HEEpos hat, liegen im Wettstreit miteinander und modifizieren sich wechselseitig, wie vor Allem die Texte zeigen, die nicht im engeren Sinne der HETradition angehören: Rudolfs von Ems und Hartmann Schedels ,Weltchroniken', Ulrichs von Etzenbach ,Alexandreis', der ,Niederrheinische Bericht über den Orient' oder Kaspar Scheidts ,Grobianus' sowie der ,Reinfried von Braunschweig'. Offenbar ist aber ein solches Gegeneinander auch notwendig, um die Zwangsjacke der Tradition zu lockern und so den einzelnen Autoren den Spielraum zu geben, den sie brauchen, damit sie ihre individuellen Fähigkeiten zur Geltung bringen können, und damit sie für ihre eigene Phantasie Platz haben1713-. Die beiden volkssprachlichen Ubersetzer von Thomas' ,De natura rerum' haben dafür keinen Spielraum gehabt und auch die Mandevillo-Überlieferung hat den einzelnen Bearbeitern für solche Freiheiten keinen Raum gelassen; nur Michel Velsers auf einem Mißverständnis der Vorlage beruhende Ubersetzung hat Bewegung in das ansonsten fast erstarrte und nur in wenigen Formulierungen variierende Skiapodenbild gebracht. Alle HE-Bearbeiter haben die ihnen von dem ersten HE-Dichter eröffnete Chance genutzt, und jeder hat sein eigenes, mehr oder weniger gelungenes Skiapodenbild zu Stande gebracht. Tradition und individuelle Erfindung schließen sich auch in mittelalterlicher Unterhaltungsliteratur nicht aus, und nicht immer erstickt die Macht der Tradition die Individualität auch des schlichten und anspruchslosen Erzählers. Man muß aber jene erst genau kennenlernen, um diese erkennen und dann auch würdigen zu können 172 . 170 Vgl. j . V t Stackelberg, Literarische Rezeptionsformen — Ubersetzung, Supplement, Parodie (Schwerpunkte Romanistik 1), Frankfurt 1972, besonders das ,Supplement-Kap/. 171 So etwas verständnislos H . R. Jauss, Geschichte der Kunst und Historie, in: Geschichte — Ereignis und Erzählung, hsg. v. R. Koselleck und W.-D. Stempel (Poetik und Hermeneutik 5), München 1973, S. 193. 171i * So muß Ohly [Anm. 31], S. 84 über die Tradition von Diamant und Bocksblut konstatieren: „Seine unerschütterliche Konstanz ist ein — bedrückend oder beruhigend — mit Erstaunen wahrzunehmendes Zeugnis menschlicher Beharrlichkeit. Ihm haben wir uns ungescheut zu stellen, indem wir hier die Belege reihen . . k a n n aber über Jean de Mandeville und dessen ,Steinbuch' sagen, daß „er Angelesenes mit einer Phantasie durchsetzt, die es vermochte, neue Traditionen zu begründen" (S. 110). 6 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 18. Bd.
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Uns heute muten diese Wundervölker nur noch kurios an, und ich glaube, daß nur die Kürze der Skiapodenepisode dieser in unseren Augen „grotesken" 178 Gestalt jenen Erfolg verwehrt hat, den die Kranichmenschen auch in diesem Jahrhundert noch gefunden haben1783-. So hat am 12. V. 1917 Hans Arp in einer geschlossenen Soirée ,Alte und neue Kunst' seine DadaFreunde dadurch unterhalten, daß er ihnen aus dem HE-Druck von 1480 vorgelesen hat, „wie er [sc. Herzog Ernst] in einer Insel mit gar großen Vögeln stritt und die auch überwandt" 174 und über die gleichen Schnäbler " 2 Dies betont Wisbey [Anm. 9] nachdrücklich: „Indem man einen Text im Strukturellen wie im einzelnen Schritt für Schritt mit den Uberlieferungen vergleicht, aus denen er hervorgegangen ist, entwickelt man ein durch kein anderes Mittel zu erwerbendes Feingefühl für seine schöpferische Eigenständigkeit" (S. 9). 173 Ich habe das Adjektiv „grotesk" bisher absichtlich vermieden. W. Blank y Zur Entstehung des Grotesken, in: Deutsche Literatur des späten Mittelalters. Hamburger Colloquiuml973, Berlin 1975, S. 35—46 verwendet diesen modernen Begriff ganz ahistorisch und ohne Verständnis für die Eigenarten mittelalterlicher Allegorese und Didaxe: Von Werken wie dem ,Rationarium Evangelistorum' bis hin zu Bellinis Gemälde ,Summa virtus' oder Tizians ,Allegorie der Klugheit' sollte man dies falsche Assoziationen weckende Epitheton fern halten. Sehr viel angemessener urteilt D. Scbmidtke, Lastervögelserien. Ein Beitrag zur spätmittelalterlichen Tiersymbolik, Archiv 212 (1975) 241—264, z. B. S. 254. — Ich halte aus diesen Gründen auch J. Schwieterings Ansicht, Die dt. Dichtung d. Mittelalters (Handbuch der Lit.wiss.s chaft), Potsdam o. J. [1941], S. 111 f. für verfehlt: „Das Motiv der Wundermenschen ist nicht ohne beabsichtigte komische Wirkung durchgeführt, es gibt der im übrigen sehr ernst gehaltenen Erzählung . . . im zweiten Teil etwas von der Heiterkeit der Rotherdichtung"; nicht weniger das Bemühen Schröders [Anm. 22], S. 49, die Begriffe „das Komische, Burleske, Possenhafte" auf die Ereignisse des zweiten Teils anzuwenden. 173a Auf ein Beispiel aus der Literatur des 19. Jahrhunderts war Rupert Schulz, Trier, so freundlich, mich aufmerksam zu machen: s. J. Seznec, Saint Antoine et les monstres. Essai sur les sources et la signification du fantastique de Flaubert, PMLA 58 (1943) 195—222. Was alles an ausgedehnter Lektüre hinter dieser „Monstersammlung" steckt, ist von Seznec aufgeschlüsselt, S. 204 die Skiapoden betreffend. 174 S. H . Ball, Die Flucht aus der Zeit, Luzern 1946, S. 158 f. Vermutlich wird Arp aus ,Historie eines edlen Fürsten. Herzog Ernst von Bayern und Oesterreich', Textrevision und Nachwort v. S. Rüttgers (Insel Bücherei 71), Leipzig o. J. [1913] vorgelesen haben, die auch mit den 31 Holzschnitten des alten Druckes ausgestattet war. Gerade diese bibliophil aufgemachten Insel-Bändchen waren in diesen Kreisen beliebt. Man erinnere sich, welch bedeutsame Rolle Vogelmenschen und andere Tiermenschen z. B. bei dem Hans Arp freundschaftlich verbundenen Max Ernst spielen, besonders in seinen Collagen, z. B. ,Une semaine de bonté' (1934) oder ,Das Karmelienmädchen. Ein Traum' (1930). S. auch das cap. Monstrosität und Gesuchtheit bei G. R. Hocke, Die Welt als Labyrinth. Manier und Manie in der europäischen Kunst von 1520 bis 1650 und in der Gegenwart (rde 50—52), Hamburg 1957, S. 74 ff., wo u. a. auch ein Kranichmensch mit Paul Klees ,senilem Phönix', Joan Mir6s »Person, mit einem Stein nach einem Vogel werfend' mit einem Skiapoden (s. S. 36, Abb. 33 f.) verglichen wird. Ebd., S. 88 ff. über Monster und Max Ernst: „Monster sind in der Kunst wieder erschienen — sie sind nicht mit Zerrbildern zu verwechseln, sondern sind grauenhaft existent, im Gegensatz zu dem archetypen Charakter der mythologischen Monster". Hocke nennt mit den HerodotIllustrationen (darunter auch ein Skiapode) von Aldrovandi (1628) einen der Ver-
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können sich i n einer 1972 hsg. Anthologie über Werwölfe und andere Tiermenschen 176 unsere Zeitgenossen belustigen oder nach Belieben auch staunen; ähnlich dem Herzog Ernst der jüngsten Neubearbeitung, der dem K ö n i g der Arimasper auf dessen Einwurf, die letzten Vertreter der besiegten Wundervölker seien keine Diener für ihn, anwortet: „Sicherlich keine Diener. Ich bedarf keiner Diener, weder solcher noch anderer. N e h m t es als eine Laune. Daß der Sciopode mir Schatten gebe wider die Sonne m i t dem Fuße — er lacht — oder zur Belustigung, oder daß sie mich meinen Gott zu preisen mahnen. Denn wahrhaftig, ich habe Euch geholfen i n einem Kriege gegen Wesen, über deren Niedrigkeit w i r erstaunen." 1 7 6
Anhang I (zu Anm. 71) Um den beklagten Mangel einer kritischen »Lucidarius'-Ausgabe ein Wenig abzumildern, habe ich aus einigen ,Lucidarius'-Handschriften die Arimaspi-Ciclopes-Passage kollationiert. Die Auswahl der Handschriften (Augsburg, München, Trier; bei Schorbach [Anm. 52] Nr. 49 6, 17—20, 23, 26, 31, 33, sowie zwei weitere aus der UB München, die ich mit I und I I bezeichne) ist willkürlich und allein dadurch bedingt, daß ich zufällig an den Bibliotheksorten war. Ich führe die betreffenden Zeilen jeweils vollständig an, da sich bis auf Nr. 17 und 18 keine Gruppenbildung deutlich abzeichnet und die entscheidenden Varianten, würden alle vollständig in ein Lesartenverzeichnis zusammengepfercht, das u. U. nicht einmal repräsentativ sein mag, nicht deutlich hervorträten. Die Zitate sind jeweils buchstabengetreu wiedergegeben und entsprechen bei Heidlauf S. 12, 5-10. mittlungswege (S. 76). Aldrovandis Sammlung der bekanntgewordenen MenschTier-Monstren ist z. B. für die Geschichte der Karikatur nicht ohne Bedeutung gewesen, s. O. Baur, Bestiarium Humanum. Mensch-Tier-Vergleich in Kunst und Karikatur, München 1974, S. 146 Anm. 89. 176 Von Werwölfen und anderen Tiermenschen. Dichtungen und Dokumente, hsg. v. K. Völker (Bibliotheca Dracula), München 1972, S. 27—33 [aus dem Volksbuch, nach Simrocks Bearbeitung, Frankfurt 1846]. 17« Peter Hacks, Das Volksbuch vom Herzog Ernst oder: der Held und sein Gefolge, in: Fünf Stücke, Frankfurt 1965, 11,4, S. 48; das Motto dieser Arbeit steht S. 63, 65. Ohne hier auf tief ergehende Fragen der Interpretation eingehen zu können (vgl. Meves [Anm. 11], S. 223—225), sei nur angemerkt, daß die Exoten im dramatischen Aufbau und Sinnzusammenhang des Stückes eine Rolle spielen, die mit der in den mittelalterlichen Epen kaum etwas gemein hat. Dadurch könnten die beiden zitierten Stücke leicht als nur komisch mißverstanden werden; doch davor warnt schon der Untertitel des Stückes. Für verschiedene Auskünfte, Anregungen und Hinweise, die an Ort und Stelle namhaft zu machen nicht immer möglich war, bin ich zu vielfachem Dank verpflichtet: K. Alpers, Lüneburg, J. L. Flood, London, C. Hünemörder, Hamburg, U. Meves, Trier, E. J. Morrall, Durham, H . Reinitzer, Hamburg, F. Ronig, G. Schaub, R. Schulz, alle Trier. Dem Germanischen National-Museum, Nürnberg und der ÖNB, Wien danke ich für die Anfertigung von Mikrofilmen der Handschriften a und b des HE B und für die Erlaubnis, daraus zitieren zu dürfen. 6*
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Schorbach Nr. 4: UB München, cod. ms. 731, fol. 142 ra (alte Zählung: xx ra): § Da bi sint lute die heizzent armaspi. vn manoculi die hant i nit wärt ein auge § Da bi sint lute die heizzent ciclopes die hant niht / wän eine fuz. vn laufent drater denne ein vogel gefliegen mac. vn swëne sie sitzent / so schatwent sie in selbe mit dem füzze Hier und im Folgenden habe ich rot gestrichelte Buchstaben halbfett (D) und Paragraphenzeichen mit § wiedergegeben. Schorbach Nr. 6: Cgm 252, fol. 63 v : Do pei sint leute dl baissent Ciclopes dt habent nicht mer denne eine füzze dl laüffent drater danne ein vogel gefligen mag vn wenne si siezen wSllent so denckent si sich mit dem füze daz kein regen ans si nicht mag [ . . . 5 Zeilen mit anderen Völkerschaften] Do pei sint leut e dl habent nicht mer den ein aug dl heizzent monoculi Das zweite Do ist mit Initiale geschrieben. Schorbach Nr. 17: Cgm 246, fol. 139 va, b (alte Zählung, 138 va, b neue Zählung): Da pey sint leut die habnt nur ainët | fuss die lauffn alz pald alz die vogel so sy siezn so schaidln sy in selb$ mit den fussen [Arimaspi/Monoculi fehlen] Schorbach Nr. 18: Cgm 762, fol. 61 a: Da bey seint lute Die baissent Colopes Die hant nit dann ain fus Vnd läffent als palde als ain fogel fluget Vnd wanne su siezent so bedeckent su sich selber mit dem fusse [Arimaspi/Monoculi fehlen] Schorbach Nr. 19: Cgm 404, fol. 104 v—105 r: So sind auch annder lewt in ainer andern gegent die hayssent Arsmapi vnd Monetuli die sind gros vnd lannckh vnd starckh vnd habent da menschen gestalt vnd habent nur ain awg vor an dem hirn. darvnder ain lang naz die vechten mit den leon vnd mit den pern Es sind auch ainer slâcht lawt nahent dabey | die baissent Colopes die habent nur ainen fuez der ist prait vnd wenn sy wellen so gebn sy jn schaden mit dem fues vor der Sunnen vnd wenn es redent So bedekhen sy sich auch mit dem fuez. vnd lauff en pelder mit dem aine fuez dann der vogel flewgt Schorbach Nr. 20: Clm 9711, fol. 318 ra: D o pey sind lawt d y baissent armaspi / vnd monoculi dy habnt nur ain aug / D o pey sind lewt dy haissnt ciclapes dy habent nur ain fuß / vnd lauffent sneller / dann ein vogl flewgt / vnd wann sy rastent so dekhent si sich mit irem fueß / Schorbach Nr. 26: Staats- und Stadtbibliothek Augsburg, cod. 2° 156, fol. 9 r: § Da by in ainem ander land da sint lut die hond ain ouge an der stirnë da by in ainer ander gegin sint lût die baissent cyclopes die hond ain füs Der ist sinbel vnd lofft als schnell als ain vogel ge fliegen wan die selben lût siezen so mâchent sie ain schatten vber sich mit dem selben fuß Schorbach Nr. 31: Stadtbibliothek Trier, ~ ~ ( s . Anhang IV), fol. 25 ra: Da by synt lüde die heissiet arim aspy die en hant nyt dan eynen voys die lauffent gerader dan der voigel vleuget so sye dan syczenet so schadent sy en
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seinen myt dem voysse Da by synt lüde die heisset Ciclopes vnd monoculy die enhant nycht dan eyn äuge vnde synt wunderlichen gedayn Schorbach Nr. 33: Cgm 1141, fol. 260 r: do bey seind leutt dy hayssen arckmaspy vnd Monoculi vnd habn nit mer dan ain aug do bey seind leutt dy hayssen Ciclopes dy habn nit mer dan aine fuß Vnd lauffen troter dan ain vogl gefliegn mag Wan sy siezen so beschattend sy sich selber mit den fuessen UB München, 2° cod. ms. 688, fol. 268 va,b. Fehlt bei Schorbach, idi benenne es hier mit: I. Voran geht: Buch der Könige alter und niuwer e, Historienbibel, Brandan, es folgen: Gesta Romanorum, Thomas Lirer. daby sind lüt die haissent Ammaspi monoculi Vnd die hand nit wenn ain oug an der Stirnen wf [?] Daby sind lüt Die haissent I ziclopes die hand In nit / Wann aine füß Die louffend beider dan \ dann die fogel fliegend Wenn sy hitzen sitze so schatten sei sich sy sich mit den füßen In, hitzen, sei sich sind in der Hs. unterpungiert, d. h. getilgt. UB München, 4° cod. ms. 808, fol. 88 r. Fehlt bei Schorbach, ich benenne es hier mit: II. Voran geht: Thomas von Cantimpr£, de naturis rerum, s. Anhang II. Da pey sind lawt haissent aramaspi vnd monoculi vnd die habent wann ain aug Da pey sind lawt die haissent cy [Zeilenende] Cyclopes Die habent nicht wann einenn fusß vnd lauffent pelder Dann a'tn vogl mag gefliegen D wenn st dann siezent so gebent si in dann schat Auf einige Punkte möchte ich kurz hinweisen, die im Rahmen meiner Fragestellungen zur Sprache gekommen sind. Der für meine These so bedeutsame Zusatz unde schirment sich da mite so ungewiter cumet taucht nur in Nr. 6 und 19 auf. Aber daß er sich in der Uberlieferung überhaupt erhalten hat, dazu durchaus in modifizierter Form, scheint mir bedeutsamer zu sein, als daß er nur zweimal beibehalten wurde. Außerdem scheinen diese beiden Handschriften, von denen Nr. 6 erhebliche Varianten zu Heidlaufs Text hat, und Nr. 19 völlig neugestaltet ist, stemmatisch nicht verwandt zu sein — jedenfalls, was diese Partie anbelangt. So ist dieser ersten Auslassung entsprechend auch die Angabe bei den Arimaspi: vor ander Stirnen nur noch in Nr. 26 und I I erhalten, wobei Nr. 26 mit hirne die selbe Variante hat wie der H E (s. o. S. 46). Die Variante in Nr. 17, 33 und I, die die Drucke dann auch bieten, so beschattend sy sich selber mit den fuessen, scheint mir zu zeigen, daß die Einbeinigkeit den Schreibern nicht mehr ganz deutlich vor Augen stand, und in eine Richtung des Mißverstehens zu weisen, die ich o. S. 47 ff. für den H E selbst vorgeschlagen habe. Die Variante (be)decken für schetuwen in Nr. 6, 18, 19 und 20 ist insofern bedeutsam, als damit die etymologische Beziehung zu dem ursprünglichen Namen sciapoda gänzlich aus dem Text geschwunden ist, die ja schon durch den Namenstausch, der in Nr. 31 zwar einerseits richtig gestellt, andererseits aber noch weiter fortgeschritten ist, im Wesentlichen verdunkelt worden war, und nur noch in der Sache des „sich Schatten werfen" bestand; denn wovor oder warum sich diese Leute mit dem Fuß „bedecken", ist nun nicht mehr gesagt. Vgl. o. S. 29, 63, 64. O. S. 27 und 52 hatte ich von den inhaltlichen „Leerstellen" gesprochen, die zur weiteren Ausschmückung einlüden. Dafür gibt Nr. 19 ein gutes Bekpiel, da der Schreiber — darin dem HE-Dichter durchaus vergleichbar — von der Möglichkeit zur Ausgestaltung seiner Vorlage ungewöhnlich extensiven Gebrauch macht, sei es, daß er Nebenquellen gebraucht, sei es, daß er seinem Erzähltalent freien Lauf läßt.
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Nr. 26 bietet immerhin zwei Beispiele; eines davon soll ausführlicher besprochen werden. Der Indienbericht ist in dieser Handschrift sehr stark gekürzt, eine Reihe von Völkerschaften ausgelassen, und vom Wortlaut des Heidlau/sehen Textes hat sich der Schreiber, der Chorherr Konrad von Göppingen (s. W. Schmidt, Die vierundzwanzig Alten Ottos von Passau [Palaestra 212], Leipzig 1938, S. 106 - 108, 387), stark gelöst. Daher ist vielleicht der Vergleich die hond ain füs Der ist sinbel als Interpretation von cyclopes zu verstehen in der Art, die o. Anm. 105 erläutert worden ist. Latein dürfte der Chorherr ja gekonnt haben, so daß ihm eine solche etymologische Erläuterung zuzutrauen wäre.
Anhang I I (zu Anm. 82) Da in der Anhang I schon zitierten Handschrift der UB München 4° cod. ms. 808 neben dem »Lucidarius* auch Thomas* von Cantimpr£ ,De naturis rerum* enthalten ist, sei die Skiapodenbeschreibung (fol. 49 r) hier mitgeteilt. Das Werk ist in der Handschrift Albertus zugeschrieben (vgl. o. Anm. 81; vgl. Schmidtke [Anm. 26], S. 539 Anm. 555 und Henkel [Anm. 81], S. 157 Anm. 27): süit ibi hoies qui vno tm fulti pede aurä cursu vineüt 7 in t yra positi vmbrä contra estü 7 ptectem [protectionemj 9tra pluuiä pläta pedis faeiüt I n diesem Albertus zugewiesenen Thomastext stammt der Anfang wörtlich aus Honorius (s. o. S. 6), der Schluß nicht aus Thomas (s. o. Anm. 19). Die Namenlosigkeit scheint neben dem Wort contra (estum) das Einzige geblieben zu sein, was auf Thomas zurückgeht. Dieser Passus macht das Ausmaß der Kontaminationen in diesem Bereich der Literatur in bedauerlich offenkundiger Weise deutlich und läßt insbesondere im späteren Mittelalter Zuweisungen auf bestimmte Quellen als ziemlich aussichtslos erscheinen. Was sich z. B. in den mehr als neunhundertfünfzig Handschriften von Isidors Etymologien* alles gewandelt hat, wage ich mir gar nicht erst auszumalen. Anhang I I I (zu Anm. 167) Um auch, was den Wortlaut der ,Lucidarius'-Drucke anbelangt, etwas präzisieren zu können, habe ich einige der Drucke kollationiert. Es handelt sich um Exemplare der Scborbacbsdien Nrr. 1 (Staatsbibliothek München. Sign.: Rar. 97), 4 (Stadtbibliothek Trier, Sign.: Inc. 2231), 8 (Staats- und Stadtbibliothek Augsburg, Sign.: 2° Ink. 472), 9 (Staatsbibliothek München, Sign.: 2° Inc. c. a. 1230), 16 (Staatsbibliothek München, Sign.: 2° Inc. c. a. 2070), 17 (Staatsbibliothek München, Sign.: 2° Inc. c. a. 2587), 22 (Staatsbibliothek München, Sign.: 4° Inc. c. a. 1290h), 44 (Stadtbibliothek Trier, Sign.: C 8° 1508), 59 (Stadtbibliothek Trier, Sign.: D 8° 1062). Der Text von Nr. 2 ist o. Anm. 71 zitiert, ebenso der von Nr. 30. Zur Auswahl der Drucke vgl. das Anhang I Bemerkte. Ich gebe im Folgenden den Text nach dem Wortlaut des Druckes Nr. 1, die Varianten der übrigen von mir kollationierten Drucke in Klammern nach dem betreffenden Wort mit der Nr. des Druckes als Sigle. Auf die Anführung von orthographischen, die Flexionsformen und Interpunktion betreffenden Varianten habe ich verzichtet, ausgenommen die Namen. Do (Da 22,44) bey seind lewt (Auch sind leüt da 16) die heissen Arckmaspy vnnd Monoculi (Manoculi 17, 22, 44) vnnd habent nit (doch nit 22,44) mer dann (den 22) ain oug. Do (Da 22,44) bey seind lewt (Auch sind leüt da 16) die heissent (haissene 22) Ciclopes die habent nicht mer (nur ein 16) dann (den 22) eynnen fuß vnnd lauffendt tratter (tratten 8, behender 16, pelder 17,22,44) denn ein vogel geftigen (gefliehen 8, fliegen 16,22,44) mag wann (so 16) sy sitzend so beschatten sy sich selber mit den füssen.
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Zu den Varianten sei nur Weniges bemerkt, tratter ist auch in den Handschriften N r . 4, 6, 31, 33 bezeugt und so schnell (Druck N r . 30, 59) findet in sneller (Hss. N r . 20, 26) seine Parallele. Schorbachs Hinweis: „der Bämlersche Druck berührt sich am nächsten mit dem Text in Cgm 1141 (Verzeichnis No. 33): beide stammen vielleicht aus derselben Vorlage" (S. 142) wird an dieser Stelle deutlich durch die Varianten tratter (s. o.), das Fehlen v o n vor ander Stirnen u n d unde schirment ...
cumet (s. o. Anhang I ) ,
ein v. (Hss. N r . 4, 6, 18, 20, 26, 33, I I ) , gefliegen mag (4, 6, 33, I I ) , /Assen (17, 33, I) und durch die Namensform arckmaspy bestätigt. Zu dem o. Anm. 71 zitierten Text aus dem Druck N r . 30 gibt es aus N r . 59 nur eine Variante: Gegen Nidergang in Ethiopia. Der Wortlaut der Drucke erweist sich also insgesamt offenbar als wesentlich konstanter und stabiler als der der Handschriften, so daß der Anm. 167 gemachte Vorbehalt der Substanz nach entfallen dürfte. Anhang I V (zu Anm. 169) 1935 I n der Handschrift der Stadtbibliothek Trier (s. Anhang I) ist auf fol. 160 ra die Skiapodenbeschreibung aus der Mandeville-Übersetzung Otto von der margen's, d. i. Otto von Diemeringen, überliefert. Die Handschrift ist im Verf.lex. I I I , Sp. 677 - 679 von E. Brodführer nicht genannt. Ach ist ey groiß wnder da man vyndet jn JLtlichen bergen lüde die hant nyt me dan eynen fuyß vnd synt doch vil sneler dan ander lyude vnd yst der fuß also groyß vnd also breyt daz er eme eynen scheyden gyfft ober alle synen lyff so er yn an der sunnen lyt uff dem rucken vnd den fuß gegen der sunnen keret Die von Brodführer im Verf.lex. I , Sp. 172 einem Ulmer Bürger Hans Bart zugesprochene Mandeville-Übersetzung stammt nach K . Hannemann, Verf.lex. V , Sp. 72 ebenfalls von Otto von Diemeringen; Bart war nur Schreiber der Handschrift Cgm 593. Die Skiapodenbeschreibung steht fol. 72 ra,b (alte Zählung, fol. 74 ra,b nach der neuen). Vnd sunder ist ein groz wunder da wan man vindt Inne etlichem gebirg lut die nit me dan ein fuß hand Von luten wil ich sagen, die nit mer wan ein fuß | hand vnd sich dar mit d e ck ent [rot geschriebene Kapitelüberschrift] Es [E als Initiale] sint auch lut }n ethiopian die nit mer dan ein fuß hand vnd sint dach vast snell zelauffent Vnd ist jn der fuß als groz wen er sich an den rucken lait vnd den f&ß gen der sunnen hept so gipt er jm vber allen seine Up schatten Item etliche nement die selbn ethiopian ensis. Die Unterschiede im Wortlaut sind zwar so beträchtlich, daß man eher von Redaktoren als von Schreibern reden sollte, doch in der Sache ergeben sich ebenso wie auch in den anderen Mandeville-Übersetzungen (s. o. S. 50 ff., Anm. 87 ff.) keinerlei Abweichungen, die die Tradition aufbrächen. Die Form der vier Anhänge habe ich nicht nur deshalb gewählt, weil ich das Material dazu erst nach Fertigstellung des Manuskripts gesammelt habe, sondern auch deshalb, um die Vorläufigkeit und Unvollständigkeit des in den Anhängen mitgeteilten Materials zu betonen und nicht mehr Sicherheit vorzutäuschen als vorhanden ist.
.WENN (DER KUNSTRICHTER) . . . SCHREIBT,
SO SCHREIBT ER VORTREFFLICH. * 1
Anmerkungen zum „aristokratisch-diktatorischen Ton" 2 der poetologischen Prosaschriften Klopstocks und zu seiner poetologischen Odendichtung Von Wilhelm Große
Unverständnis und Desinteresse kennzeichnen die gegenwärtige Klopstockforschung, wenn es um Klopstock als den Prosa-Schriftsteller geht, obwohl Klopstock ein nicht unbeträchtliches Prosaoeuvre hinterlassen hat. Anders dagegen war es im 18. Jahrhundert; zu dieser Zeit schätzte man durchaus den Prosaisten, wenn auch Klopstock vornehmlich als Messias- und OdenDichter seine Popularität innerhalb des literarischen Lebens gewann. Dafür ist die 1771 von F.D. Schubart veranstaltete Ausgabe der prosaischen Schriften Klopstocks ein frühes Zeugnis. Zu der Zeit, da Poeten, Schriftsteller und Poetiker gemeinsam nach Vorbildern und Exempeln einer „originellen" deutschen Prosa3 suchen, wird zwar Klopstocks „Prose" nicht der eindeutige Vorrang vor seiner „Poesie" eingeräumt; aber es läßt sich zumindest als Tendenz konstatieren, daß man wie Schubart beiden Textarten die gleiche Beachtung schenkt. Dieser verteidigt sein Unternehmen, die bis dahin erschienenen Prosaschriften Klopstocks gesammelt herauszugeben, mit folgenden Worten: „Klopstock ist in seiner Prose fast eben so originell, als in seiner Poesie. Kurz, präcis, gedrängt von Gedanken und voll ächter deutscher Kernausdrücke." 4 In exemplarischer Weise dokumentiert die von Schubart herausgegebene Textsammlung ein Interesse des Lesepublikums, 1 Klopstocks Werke werden zitiert nach: Klopstocks sämmtliche Werke, Bd. 1 - 1 2 , Leipzig 1823; ergänzt durch: Klopstocks sämmtliche sprachwissenschaftliche und ästhetische Schriften, hrsg. v. A. L. Back und A. R. Spindler, Bd. 13-18, Leipzig 1830 (im folgenden: Kl., Band- und Seitenzahl). Kl., 17, S. 143. 2 J. O. Tbieß, F. G. Klopstock. Wie er seit einem halben Jahrhundert als Dichter auf die Nazion und als Schriftsteller auf die Literatur gewirkt hat, Altona 1805, S. 161. 3 S. hierzu H. Küntzel, Essay und Aufklärung. Zum Ursprung einer originellen deutschen Prosa im 18. Jahrhundert, München 1969, S. 47-53 u. 160- 168; E. A. Blackally Die Entwicklung des Deutschen zur Literatursprache 1700- 1775. Mit einem Bericht über neue Forschungsergebnisse 1955 - 1964 von Dieter Kimpel, Stuttgart 1966, S. 266-292. 4 Ch. Fr. D. Schubart, Klopstock, Kleine poetische und prosaische Werke, Leipzig 1771, Vorbericht zu den prosaischen Werken, o. S.
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das von den inhaltlichen Momenten der Schriften abstrahiert und seine Aufmerksamkeit dem Stilkünstler Klopstock zuwendet. Dem entsprechend ordnet Schubart i n seiner Sammlung den poetologischen Abhandlungen Klopstocks die moralphilosophischen und religiös-erbaulichen Schriften zu, da i h m vorwiegend daran gelegen ist, auf diese Weise „die guten Prosascribenten nebeneinander aufstellen zu können". Den „Gelehrten und Künstlern von Profession, wie den bloßen Dilettanten" soll „ z u m Unterricht, als zum Vergnügen" eine Sammlung von Klopstockschen Prosaschriften an die H a n d gegeben werden, die es erlaubt, seinen Individualstil der „Prose" genauer zu konturieren, u m Klopstock den i h m gebührenden Platz i n der Galerie der „vollkommensten deutschen Prosascribenten" 6 einzuräumen; denn er ist — so meint Schubart — i n seiner Prosa ebenso unnachahmlich wie Winckelmann i n seiner stilistischen „Simplicität u n d K l a r h e i t " , Herder i n seiner „hamannisierenden" Schreibart und Spalding, Zimmermann, Mendelssohn wie Abbt, Lessing und K l o t z i n ihrem je eigenen „klassischen* Ton®. Die Wertschätzung der prosaischen Schriften Klopstocks gründet bei Lessing 7 , Herder 8 , Schubart, A . W . Schlegel9, Jean P a u l 1 0 u n d i n neuerer Zeit « Ebd. « Ebd. 7 Lessing bekennt im 18. Literaturbrief, daß ihm die Prosa Klopstocks „ungemein wohl" gefalle (G. E. Lessing, Sämtliche Schriften, hrsg. v. K. Lachmann u. F. Muncker, Bd. 8, S. 45). Im 51. Literaturbrief heißt es von dem 26. Stück im »Nordischen Aufseher* (Klopstocks Abhandlung ,Von der Sprache der Poesie'): „Es ist sehr wohl geschrieben, und enthält vortreffliche Anmerkungen" (ebd., S. 143). Ebenso beteuert Lessing in einem Brief an Fr. Nicolai, daß ihm Klopstocks prosaische Schreibart „allezeit sehr wohl gefallen" hat, denn sie erscheint ihm „männlich, nicht gemein, und entfernt sich unendlich von dem pedantischen Tone, den so viele unter uns annehmen" (ebd., Bd. 17, S. 111). Nicolai bemängelt jedoch in seinem Antwortschreiben, daß Klopstocks „Vortrag weder sehr ordentlich noch sehr angenehm" sei: „Ich meyne noch mehr den Vortrag oder die Ordnung der Gedanken selbst, als den eigentlichen Ausdruck" (ebd., Bd. 19, S. 99). 8 Herder meint, Klopstock sei „bei seinen wenigen Prosaischen Aufsätzen selbst ein Muster nachdrücklicher Prose geworden" (J. G. Herder, Sämtliche Werke, hrsg. v. B. Suphan, Bd. 2, S. 42). 9 A. W. Schlegel spricht sich ebenfalls lobend über Klopstocks Prosastil aus: „Klopstock ist — und der Mangel der Anerkennung macht midi an diesem Urtheil nicht irre — einer von unsern wenigen Meistern im prosaischen Stil. [ . . . ] [Seine Prosa] ist dagegen gediegen, klar, nachdrücklich, und frei von allen fremden Zierrathen, welche die neuere Rhetorik der Poesie nur allzu gern abzuborgen pflegt. Sie ist auch mannichfaltig: der Kenner unserer Sprache wußte ihre Idiotismen zu eigentümlichen Wendungen und feineren Bestimmungen des Ausdrucks sehr bedeutsam zu benutzen." Der Wettstreit der Sprachen. Ein Gespräch über Klopstocks grammatische Gespräche [1798], in: A. W. Schlegel, Kritische Schriften, 1. Theil, Berlin 1828, S. 245. 10 Zwei Zitate aus Jean Pauls »Vorschule der Ästhetik* mögen die Faszination und Verstörung, die Klopstocks Prosastil auf die Zeitgenossen ausübte, belegen: „Klopstocks Prose, dem Schlegel zu viel Grammatik nicht ganz unrichtig vorwarf,
„Wenn (der Kunstrichter)... schreibt, so schreibt er v o r t r e f f l i h " 9 1 bei A r n o Schmidt 1 1 auf der Entdeckung oder Wiederentdedtung stilistischer Eigentümlichkeiten der Klopstockschen Prosa. W i r wollen i m folgenden an einem Beispiel, den poetologischen Prosaschriften Klopstocks, herausarbeiten, welche Intention Klopstock i n diesen Schriften m i t der W a h l eines bestimmten Stilprinzips verfolgt. Der räumlichen, zeitlichen und thematischen Zerstreutheit des Klopstockschen Textoeuvres zur Poetik entspricht eine stilistische Variationsbreite, die jedoch auch als Ausfaltung eines einheitlichen Stilprinzips beschrieben werden kann, wobei die stilistische Mannigfaltigkeit nur aus den medialen Bedingungen resultiert, denen sich der Autorstil funktional anzupassen hat. So fordert die Abschiedsrede als epideiktische Rede einen pathetischen S t i l 1 2 . D i e Beiträge zum ,Nordischen Aufseher* passen sich als Abhandlunzeigt häufig eine fast stoff-arme Sprech-Schärfe, was eben Sprachlehrern wie Logikern eigen ist, welche am meisten gewiß, aber am wenigsten viel wissen. [ . . . ] überhaupt bei der Einschränkung auf einen engen Stoff w i l l sich der denkende Kopf durch die Anstrengungen zur Sprechkürze Genüsse bereiten. Neue Welt-Ansichten wie die genannten vorigen Dichter (Wieland, Herder, Jacobi, Goethe u. a.) gab er wenig. Daher kommen die nackten Winteräste in seiner Prose — die Menge der zirkumskripten Sätze — die Wiederkehr der nämlichen, nur scharf umschnittenen Bilder, z. B. der Auferstehung als eines Ährenfeldes. Gleichwohl wird dadurch nicht Klopstocks tonlose Prose, welche der scharfe, aber tonvolle Prosaiker Lessing lobte, der Ruhm der hellsten Bestimmtheit und Darstellung verkleinert." — »Klopstock [ . . . ] steht mitten in der harten, knochigen, athletisch magern Prose seiner Gelehrtenrepublik und seiner andern grammatischen Abhandlungen oft vor einer gewöhnlichen Metapher-Blume still und zieht ihre Blätter und Staubfäden zu einer Allegorie auseinander und bestreut mit deren Blumenstaube die nächsten Perioden." J. Paul, Werke, hrsg. v. N . Miller, Bd. 5, München 1963, S. 277 f. u. 191. 11 In Arno Schmidts Dialogessay ,Klopstock, oder Verkenne Dich Selbst!4 findet sich folgende Dialogpartie: „ A : [ . . . ] Wäre es nicht positiver gewesen, Redlicher* — Sie entschuldigen, mir fällt im Augenblick kein diskreteres Wort ein! —: wenn Sie dann heute Abend mit der Besprechung der ,Gelehrtenrepublik' begonen hätten?! B: Auch das nicht! Es wäre insofern ,unredlich' gewesen, als es einen falschen Klopstock proklamiert hätte. Im Bewußtsein unserer Gebildeten ist ,Klopstocks = Messias' ein solches versteinert-untrennbares Begriffspaar geworden, wie etwa »Darwin?: Dermitdem Affen'. Diese verruchte Gleichung seines Namens mit dem des »Messias' galt es zunächst aufzulösen [ . . . ] ! Vergleichen Sie doch selbst das bodenlose Gewäsche des Messias- und die erratischen Blöcke der Gelehrtenrepublik, scharfkantige Riesentrümmer, von denen jeder einzelne eine Landmarke ist!" A. S., Nachrichten von Büchern und Menschen, Bd. 1, Zur Literatur des 18. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1971, S. 80. 12 „Nach alter Sitte hatte der Schüler, der aus der Anstalt entlassen wurde, als eine Probe dessen, was er gelernt hatte, eine Abschiedsrede in Prosa oder in Versen, meist in lateinischer, bisweilen auch in griechischer Sprache, vor den versammelten Lehrern und Zöglingen zu halten. Daran schloß sich die vierfache Danksagung gegen Gott, den Landesherrn, die Lehrer und Mitschüler. [ . . . ] Wahrscheinlich durfte Klopstock das Thema [seiner Rede] sich selbst wählen", wie er es schon bei der Karfreitagsrede in Alexandrinern getan hatte. S. F. Mancher, Klopstock, Stuttgart 1888, S. 38 und: K. Ch. G. Schmidt u. F. K. Kraft, Die Landesschule Pforte ihrer gegenwärtigen und ehemaligen Verfassung nach, Schleusingen 1814, S. 17 und 142 f.
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gen i n einer moralischen Wochenschrift weitgehend dem Stil und den Gattungstypen dieser Zeitschriftenform an, wenn auch die Aufrechterhaltung eines eigenen und eigenwilligen Stilkonzepts i n den Beiträgen Klopstocks i m Kontext der übrigen Abhandlungen nicht zu verkennen ist 1 3 . Die Einleitungen (,Von der heiligen Poesie', ,Geistliche Lieder 4 ) und die metrische A b handlung ,Von der Nachahmung des griechischen Sylbenmaßes i m Deutschen* müssen wiederum als Verteidigungsschriften gelesen werden, die sich i n einen poetologischen Diskurs einordnen und sich diesem auch stilistisch anzugleichen haben. Wenn die ,Gelehrtenrepublik' und die ,Grammatischen Gespräche* die Klopstocksche Prosa-Stilintention am reinsten verfolgen, so läßt sich dies — berücksichtigt man den „medialen O r t " 1 4 — auch darauf zurückführen, daß es sich hier um abgeschlossene, autoreigene Werke han-
13 Der ,Nordische Aufseher* wurde in Kopenhagen von J. A. Cramer während der Jahre 1758 - 61 herausgegeben. Die einzelnen Nummern waren von verschiedenem Umfang, so daß die Schwächsten einen halben und die stärksten dreieinhalb Bogen stark waren. (Es sollte darum bei dem geringen Umfang der Beiträge Klopstocks zum N A nicht vergessen werden, daß er sich an die übliche Länge der ,Stücke* zu halten hatte.) Der N A war eine der letzten Moralischen Wochenschriften. Er bildete das Publikationsorgan des deutschen »Nordischen Kreises', der in ihm seine Stimme in der literarischen Welt geltend machen wollte, da es ihm unmöglich war, sich irgendeiner der drei großen Parteien der Züricher, Leipziger oder Berliner anzuschließen. Vgl. L. M. Luehrs, Der Nordische Aufseher. Ein Beitrag zur Geschichte der moralischen Wochenschriften, Diss. Heidelberg 1909, S. 16. Zu seinen Mitarbeitern zählten neben Cramer und Klopstock noch Klopstocks Frau Margareta, Basedow, Funke und Barisien. Abnehmer der Wochenschrift waren vorwiegend die gebildeten Kreise der dänischen Hauptstadt (s. Luehrs, S. 123). Wie in fast allen anderen Wochenschriften gehörte auch im N A die Dichtung zu einem der Hauptthemenkreise. Neben die Bekanntmachung und Besprechung literarischer Neuerscheinungen traten kanonmäßige Lektüreempfehlungen und allgemeinere ästhetische Betrachtungen. — Cramer schreibt im 1. Stück des »Aufsehers*: „So müssen die Kenntnisse des Wahren, des Nützlichen, und des Schönen immer weiter ausgebreitet werden. Es ist ein Glück für unsre Zeiten, daß die ernsthaften und die schönen Wissenschaften nicht mehr in die Hörsäle und Studierzimmer der Gelehrten verschlossen sind. Sie haben angefangen, das Vergnügen eines größern Theils der menschlichen Gesellschaft zu seyn." Der nordische Aufseher, hrsg. v. J. A. Cramer, 1. Bd., Kopenhagen und Leipzig 1758, 1. St. S. 11. Deshalb gehört es zu den Aufgaben des »Nordischen Aufsehers', „zuweilen Betrachtungen über die Regeln, wie sie [die Werke der Beredsamkeit, des Witzes und der Einbildungskraft] gelesen, empfunden und beurtheilet werden müssen" (ebd., S. 14), anzustellen. — Auch der N A bediente sich wie viele andere Moralische Wochenschriften der fiktiven Verfasserschaft (Ich = Arthur Ironside, der Nordische Aufseher), die aber in der Analyse der Klopstockschen Abhandlungen vernachlässigt werden kann. Die Allegorisierung, deren sich Klopstock in dem Beitrag ,Vom Range der schönen Künste und der schönen Wissenschaften' bedient, gehört mit zum Formenfundus der Moralischen Wochenschriften. Vgl. W. Martens, Die Botschaft der Tugend. Die Aufklärung im Spiegel der deutschen moralischen Wochenschriften, Stuttgart 1968, bes. S. 22 ff. u. 441 ff. 14 P. Schmidt, Statischer Textbegriff und Textprozeß, in: D. Breuer u. a. (Hrsg.): Literaturwissenschaft, Frankfurt 1973, S. 112 ff.
„Wenn (der Kunstrichter)... schreibt, so schreibt er v o r t r e f f l i h " 9 3 delt, die sich als solche ausschließlich an den „kleinen K r e i s " 1 5 der Eingeweihten „ i m aristokratischen oder diktatorischen T o n " 1 6 wenden wollen. Trotz aller Konzessionen an den jeweiligen medialen O r t kristallisiert sich ein einheitliches Stilprinzip aus der stilistischen Mannigfaltigkeit heraus, zu dessen Charakterisierung zunächst Klopstocks eigene Maximen zur Prosa i n wissenschaftlichen Abhandlungen herangezogen werden können. Abgesehen von der Abschiedsrede zu Schulpforta, festliche K r ö n u n g der schulischen Rhetorikübungen, die ganz i m pathetisch, feiernd-überhöhenden Stil der epideiktischen Deklamation bleibt, genügen die darauffolgenden Beiträge Klopstocks zum ,Nordischen Aufseher, die ,Einleitungen* wie auch einige Schriften der 70er Jahre — insbesondere die metrischen Abhandlungen — weitgehend der Klopstockschen Forderung nach „kalter Prosa" 1 7 . Der kalte, „trockene T o n " 1 8 ist kein Zeichen eines nur geringen Engagements für die abzuhandelnde Sache ( „ M a n ist nicht immer kalt, wenn man es zu sein scheint."). Die Intention, „ w a h r von der Sache zu sprechen", verlangt vielmehr die kalte Prosa, weil nur i n der bilderlosen Schreibweise die Gefahr vermieden w i r d , den „Wechselbälgen bildlicher Redensarten" aufzusitzen, „ w o es auf Untersuchung a n k o m m t " 1 9 . 15 J. G. Herder, Sämtliche Werke, a.a.O., Bd. 5, S. 208. i« J. O. Thieß, Klopstock, a.a.O., S. 161, s. Anm. 2. 17 Kl., 14, S. 276. Mehrfach legt Klopstock Wert auf die „wesentliche Verschiedenheit der poetischen und prosaischen Sprache" (Kl., 16, S. 17). Nur diese Scheidung garantiert die Vortrefflichkeit in Poesie und Prosa: „Soviel ist unterdeß gewiß, daß keine Nazion weder in der Prosa noch in der Poesie vortrefflich geworden ist, die ihre poetische Sprache nicht sehr merklich von der prosaischen unterschieden." (KL, 16, S. 15). (S. auch KL, 12, S. 200 f.). — Trotz dieser strikten Grenzziehung zwischen Poesie und Prosa billigt er jedoch in Ausnahmefällen die Grenzverwischung zu, jedoch nur, wenn es die Situation oder die Materie verlangt: „Wenn man alle Stufen des prosaischen Ausdrucks hinaufgestiegen ist; so kömmt man an die unterste des poetischen. Die höchste prosaische und die letzte poetische scheinen sich ineinander zu verlieren. Es ist dem Redner, wenn er in seinem stärksten Feuer ist, nicht allein erlaubt; sondern er muß sich auch einige Schritte höher erheben, als er gewöhnlich soll. Auch der Poet darf, nachdem ihm die Personen, die er aufführt, oder die Sachen, die er vorstellt, dazu Gelegenheit geben, sich ein wenig weiter herunterlassen, als es ihm überhaupt zu thun erlaubt ist. Allein niemals dürfen sie auf beyden Seiten zu weit gehen." (KL, 16, S. 18). — Bei den Griechen und Römern glaubt Klopstock, diese strikte Unterscheidung finden zu können. Weniger deutlich ausgeprägt ist sie seiner Ansicht nach in der italienischen, französischen und englischen Literatur. In Deutschland hat man zu lange versäumt, diesen Unterschied zu bemerken, obwohl bereits „Luther die Deutschen durch die Art, auf welche er die poetischen Schriften der Bibel übersetzt hat, von dem Unterschiede der prosaischen und poetischen Sprache hätte überzeugen können." (KL, 16, S. 18). Ebenfalls erinnerten Opitz und Haller an die notwendige Eigengesetzlichkeit der Poesie und Prosa, blieben jedoch ungehört. 18 KL, 12, S. 148. n> KL, 16, S. 4; an Herder schreibt er noch am 5. 5. 1773: „Ob Sie nicht bisweilen die Bilder, in welche Sie Ihre weitsehenden Gedanken hüllen, ein wenig vom wirklich Wahren wegtäuschen, das werden wir schon mit der Zeit untereinander
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Dies heißt nicht, daß die Abhandlungen gänzlich auf die „Töne von der Darstellung" verzichten; vielmehr nehmen sie als Konzession an den Leser „bisweilen einige Töne von der Darstellung", vermeiden aber auch dann, durch Verwischen der Grenzen zwischen den „nicht wenig von einander unterschiedenen" Klopstockschen Texttypen Abhandlung und Darstellung „Zwitterwerk" 2 0 zu werden. Auf diesen Unterschied stets achtend, bedient sich Klopstock u. a. der Verschachtelung mehrerer Textsorten (,Gelehrtenrepublik'), narrativer, allegorisierender oder dialogisierender Momente, um nicht „allzu kaltblütig" zu erscheinen, denn: „Es ist überhaupt dem, der lehren will, eben nicht nachtheilig, wenn er seine Gegenstände auch [ . . . ] ein wenig belebt, und er sieht nicht sonderlich weit, wenn er in der Richtigkeit der theoretischen Bestimmung Alles sieht. Er lehrt wohl; aber man mag von ihm nicht lernen." 21 Soweit es nicht auf Kosten der theoretischen Bestimmung geht, billigt er sich Stilzüge in seinen Abhandlungen zu, die nicht nur das Urteil, sondern auch Einbildungskraft und Empfindung des Rezipienten ansprechen, ohne daß dies einen Verstoß gegen sein entschiedenes Plädoyer für die vorwiegend „kalte Prosa" in wissenschaftlichen Abhandlungen bedeutete. Die Abhandlungen sind bewußt kurz gehalten, ihr Prinzip ist es, „Überflüssiges weglassend"22, sich auf das „Wesentliche"23 zu beschränken. Klopstock neigt dazu, „Vollständigkeit und Kürze zu verbinden", so daß er „etwan hier und da sehr naheliegende Erläuterungen nicht gegeben, oder Folgerungen dem Leser überlassen [hat] . . . , in der Hoffnung, daß er sie machen würde" 24 . Vollständigkeit bedeutet keineswegs Weitläufigkeit: „Wo diese noch mit einander verwechselt werden, da ist man noch ein halbes Jahrhundert von der Reife entfernt. Lasset euch die Weitläufigkeit nicht irre machen, die sich mit Blumen putzt, sie ist Weitläufigkeit." 25 Nur wenn ausmachen. Glauben Sie aber gleichwohl nicht, daß ich ein Bildstürmer sei, weil ich Ihnen so etwas Bilderdienst Schuld gebe; auch dann nicht, wenn ich Ihnen sage, daß mir bei der Untersuchung das dürrste Wort das liebste ist." Briefe von und an Klopstock, hrsg. v. J. M. Lappenberg, Braunschweig 1867, S. 249 f. 20 Kl., 12, S. 11 f. 21 KL, 13, S. 10 f.; s. auch die Dialogpartie zwischen Einbildungskraft und Empfindung in den ,Grammatischen Gesprächen': „Einbildungskraft: ,Ja, diese unaussprechliche Trockenheit verbitte ich mir/ Empfindung: ,Auch ich mag gern, daß man mit einer gewissen Lebhaftigkeit rede/" (Kl., 13, S. 9). Der Inhalt, so heißt es in der ,Gelehrtenrepublik', muß „Gestalt gewonnen"haben, damit er nicht so unlieblich anzuschaun (ist), als ein Mensch, der nur in Haut und Knochen hängt." Kl., 12, S. 139. 22 KL, 16, S. 3. 23 ebd.
24 KL, 15, S. 89; ebenso: „Vollständigkeit, und Kürze sind zwey Dinge, die ich gern vereiniget sehe." KL, 13, S. 12. 25 KL, 12, S. 145; auch Weitläufigkeit, die aus Gründen der Vollständigkeit „Wiederholtes wiederholt", verfällt dem stilistischen Verdickt Klopstocks: »Wer,
„Wenn (der Kunstrichter)... schreibt, so schreibt er vortrefflih"
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Klopstock von vornherein annehmen muß, daß „man die Sache zu wenig kennt" 26 , oder wenn er sich durch die Resonanz, die eine Schrift gefunden hat, in der Hoffnung getäuscht sieht, daß dem Leser die „Folgerungen" selbst überlassen werden könnten, weicht er von seinem Stilprinzip der „Kürze" ab und wird in seinen Ausführungen detaillierter. Die ins Detail gehenden, den gedanklichen Sprung vermeidenden Abhandlungen sind ihm allerdings auch dann nur ein zeitweiliges Zugeständnis an das Lesepublikum: „Ich schreibe sie [meine Abhandlung] freilich lieber auf vier Bogen, als daß sie nun wohl zwanzig haben wird; aber alle meine hiesigen Freunde wollen, daß ich so ausführlich seyn soll, weil die Sache noch zu wenig bekannt sey. Wenn, sie dieß mehrern seyn wird, so kommt denn einer, der sehr recht darin hat, und macht vier Bogen daraus." 27 Während in der „schönen Schwatzhaftigkeit", die „nie etwas vom Kerne weiß", nur „Schalen und wieder Schalen dem Zuhörer ins Gesicht geworfen" 2 8 werden, wird in der vollständigen, aber dennoch kurzen Schreibweise ein theoretischer Kern geliefert, aus dem sich die Leser, „wie es ihnen gefällt, den Baum aufwachsen lassen"29 mögen. Wie Ekhard in der ,Gelehrtenrepublik' meidet auch Klopstock die „ganze lange Redseligkeit"80, die ihm das charakteristische, anzufeindende Stilideal der Zeit ist. Er bevorzugt dagegen den körnigten, nachdrücklichen Stil, weil ihn „Männer, die Kern und Reife in der Seele haben, [ . . . ] nach seinem Werthe" 81 schätzen. Die Abhandlungen rechnen also mit einem in poetologischen Fragen bewanderten Publikum, das selbst in der Lage ist, die Texte dort zu komplettieren, wo der Autor auf detaillierte Ausführungen verzichtete. Da für einen Kreis von Lesern geschrieben wird, der es noch nicht bis zur Oberfeinerung gebracht hat, so daß ihm der Kern genügt und alles andere nur überflüssiges Beiwerk ist, kann Klopstock sich damit begnügen, seine Theorie „in einigen Sätzen, und in kurzen Erweisen und Erläuterungen aufzuschreiben" 82. Sein Bestreben, ohne stilistische Oberfeinerung direkt den inhaltlichen Kern seiner Theorie offenzulegen, beruht auf dem Konzept, stilpurgierende, „barunter dem Vorwande der Vollständigkeit, das Wiederholte wiederholt, ist auf Jahr und Tag zu Belohnungen unfähig." Kl., 12, S. 42. In der ,Gelehrtenrepublik 4 spricht Klopstock davon, daß die Deutschen vor der Alternative stünden, ihre „ersten oft tiefen und weitsehenden Gedanken entweder nackt hin [zu] werfen oder sie durch weitläufigen Vortrag, wie in einer Vermummung,beynah [zu] ersticken." KL, 12, 26 Briefe von und an Klopstock, hrsg. v. J. M. Lappenberg, a.a.O., S. 164 f. S. 2430. 7 KL, 18, S. 250 f. 28 KL, 12, S. 168. KL, 12, S. 26. 80 KL, 12, S. 149. KL, 12, S. 114. 32 KL, 15, S. 234.
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barische" Züge, zurückzugewinnen, um sie bewußt einem überfeinert-gefälligen „Ton der Mittelmäßigkeit, der in unserm Jarhunderte der herrschende ist" 3 3 , entgegenzusetzen. Stilcharakteristika wie unsystematische Darstellung, „trockener Ton", lakonisch-rigorose Kürze, die dennoch Vollständigkeit nicht ausschließt, und die individuelle Terminologie schaffen ein Prosagebilde von eigenwilliger Lebhaftigkeit und Nachdrücklichkeit. Dunkelheiten des Textes werden nicht gescheut, sondern geradezu provokatorisch evoziert, um im Stilgestus durch die Kritik an der zeitgenössischen, verflachend-mittelmäßigen Prosa gleichzeitig Kritik an der Zeit zu leisten. Das Stilprinzip, dem die meisten frühen Schriften und selbst noch die ,Fragmente* verpflichtet sind, wird am treffendsten von Cramer charakteri siert: „Die verschiednen Gattungen übrigens bei Seite gesetzt, und blos vom Stile der Klopstockischen Abhandlung [gemeint ist ,Von der heiligen Poesie*] geredt, wil ich mir doch mit wenig Worten dies Algemeine erlauben: Daß seine Eigentümlichkeit hauptsächlich zu bestehn scheint, in Kürze, oft beinah aphoristisch; Has langathmigter Perioden; Bestimtheit der Gedanken; Parenthesenliebe; Hinwerfen abstrahierter Bemerkungen, wozu er die Data und Prämissen verschweigt; ganz freier, leistenloser Anordnung seiner Materie; Uberhüpfung der Mittelideen, über die ein Anderer weitläufig geworden wär; Einschaltung zufälliger Nebenbemerkungen, welche der gewöhnliche Schriftsteller notenweise anbringt, in den Text; Bildlichkeit und Versinlichung; Energie und Pathos; Wiz keuscher und höherer Gattung; Würde und lehrendem Orakelstolz; [ . . . ] Durch alle diese Eigenschaften und Eigenheiten zusammengenommen, entstehn die Minen und Züge, diese Pathognomie und Physiognomie seines prosaischen Stils, die den Prosaisten in ihm fast mehr noch, als den Dichter von allen Alten und Neuern sondern, und in seiner Manier ihn einzig machen."34 K U 12, S. 168; o. auch das Epigramm: Bitte an Apollo. Ist es uns angebohren? ist es erlernet? Wir Deutschen Sind weitläuftig, und ach selber die Denkenden sind's! Wenn es erlernet ist, so sey, Apoll, noch Einmal Barbar, und Wie den Marsyas einst, kleide die Lehrenden aus. KL, 12, S. 47. 34 C. F. Cramer, Klopstock. Er; und über ihn, Bd. 1—5, Hamburg 1780 ff.; Bd. 4, S. 17 f.; s. ebd., Anm. 2, S. 21 ff. — Schubart charakterisiert Klopstocks „Prose" folgendermaßen: „Klopstock ist in seiner Prose fast ebenso originell, als in seiner Poesie. [ . . . ] Nur wird ihm, wie mich dünkt, mit Recht vorgeworfen, daß seine Prose zuweilen zu tacitisch, zu gedrechselt und öfters gar ein bischen preciös seye. Nicht selten ist er dunkel: er wirft einen großen Gedanken ohne Vorbereitung hin, der dem Leser zwar Erstaunen, aber nicht Überzeugung abnöthiget. Man findet meistens Resultate einer großen Seele, ohne Prämissen; lauter Schlüsse ohne Vordersätze. [ . . . ] Niemand wage es also, diesem Herkules seine Keule aus der Hand zu winden, und seine Prose nachzuahmen." C. F. Schubart, Klopstock, a.a.O., Vorbericht, o. S.
„Wenn (der Kunstrichter)... schreibt, so schreibt er v o r t r e f f l i h " 9 7
Auch die Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre verfaßten poetologischen Schriften Klopstocks weisen keine direkten stilistischen Neuerungen auf, sieht man einmal von dem durch die Anlage der ,Gelehrtenrepublik' bedingten archaisierenden Sprachduktus als Besonderheit dieses Werkes ab. Der schon die Frühschriften kennzeichnende Stil wird nur in aller Konsequenz weitergetrieben. Das „kalte Sprechen" 35 macht einem noch bewußteren, hermetisch-esoterisch gehaltenen Stil in den ,Grammatischen Gesprächen* und der ,Gelehrtenrepublik' Platz. „Würde" und „lehrender Orakelstolz" formen die Sprechhaltung: „Er [Klopstock] steht immer oben, und zieht die Laiter nach sich, daß der Leser, der nicht nachklettern kann, vom beständigen Emporschauen ermüdet." 36 In der „verhältnismäßig schlechten Lesbarkeit" und der „Unverständlichkeit" der Texte eine Wertbeeinträchtigung zu sehen bedeutet eine Verkennung des Habitus, der diesen Stil trägt. Es ist nicht zutreffend, wenn man — wie es in der Forschungsliteratur zum Gemeinplatz geworden ist — von den späteren metrischen Abhandlungen Klopstocks sagt, sie litten unter einer „unangenehmen Weitläufigkeit" und die ,Grammatischen Gespräche' seien „harmloses Plaudern über sprachliche und ästhetische Gegenstände"37. Hier werden Weitläufigkeit und Detailliertheit verwechselt. Was weitläufig zu sein scheint, ist in Wirklichkeit nur das Bemühen, die „letzten Nebenzüge der schönen Wissenschaften" für den „Kenner der höhern Schönheiten" aufzuweisen. Die Sorgfalt, die Klopstock „bey Untersuchungen dieser Kleinigkeiten" walten läßt, begründet er damit, daß „diese Kleinigkeiten [ . . . ] so gleichgültig nicht" 38 sind; und andernorts bekennt er: „So wenig halte ich auch die letzten Nebenzüge der schönen Wissenschaften für Kleinigkeiten, besonders, wenn es Kenner der höhern Schönheiten sind, für die man sie aufdeckt." 39 35 K l , 16, S. 4. 36 C. F. Schubart, Klopstock, a.a.O., Vorbericht, o. S.; s. auch Lessing: „Nur muß man selbst über die alten Sylbenmaaße nachgedacht haben, wenn man alle die feinen Anmerkungen verstehen will, die Herr Klopstock mehr im Vorbeygehen, als mit Vorsatz zu machen scheint. Und so geht es, wenn ein Genie von seiner Materie voll ist, und die tiefsten Geheimnisse derselben kennet; wenn er davon reden muß, wird er selten wissen, wo er anfangen soll; und wenn er denn anfängt, so wird er so vieles voraussetzen, daß ihn gemeine Leser dunkel und Leser von etwas besserer Gattung superficiell schelten werden." G. E. Lessing, Sämtliche Schriften, Bd. 8, S. 44. 37 K. A. Schleiden, Klopstocks Dichtungstheorie, Saarbrücken 1954, S. 22. 38 Kl., 15, S. 232. 39 KL, 15, S. 3 f.; auch: „Warum ich mir ehmals mit diesen Nebensachen [deutscher Hexameter] zu schaffen gemacht habe, und mich jetzt sogar auf ihre umständlichere Entwicklung einlasse? Gut Nebensachen; aber nur in Vergleichung mit der Hauptsache, dem Denken: sonst gehört der Ausdruck des Gedachten, und zwar in allen seinen Zweigen, zarten und starken, so wenig zu den Nebensachen, daß dagegen sehr viele Dinge, die für wichtig und groß gehalten werden, zu den wahrsten Nebensächelchen einschrumpfen." KL, 15, S. 89. 7 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 18. Bd.
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Klopstock weiß, daß durch das Stilprinzip der Kürze in seinen Prosaschriften die Verständlichkeit der Texte für einen ¡breiten Rezipientenkreis eingebüßt wird; aber er glaubt sich dazu berechtigt, da es seiner Meinung nach nur in diesem Stil gelingt, das „Geschwätz" zu meiden und „runden, gediegnen Sinn" statt der „schlackichten und vieleckichten Gedancken" zu vermitteln, die „nichts in sich" haben, das nur „etlichermaßen des Merkens werth sey" 40 . Indem er der Gediegenheit des Sinns den Vorzug vor der allgemeinen Mitteilbarkeit der Prosaschriften gibt, gewinnen die Texte den eigentümlich-esoterischen Charakter, finden ihr Lesepublikum nur unter den „Kennern". Der Schriftsteller bekümmert sich nicht um den, dessen „Art des Verständnisses, so ihm etwa worden ist", sich nicht der gewählten Schreibart „öffnet"; er wendet sich vielmehr ausschließlich an die schon „Eingeweihten": „Aber was soll's der Demuth, dich mit ihm [dem Unverständigen] zu schaffen machen? Sorge du für die, denen du, bey aller deiner Karglautigkeit, viel eher ein Wörtlein zu viel, denn eins zu wenig setzten könntest" 41 . Indem Klopstock „nur mit Räthselsprüchen wie aus dunkler Wolke blitzt" 4 2 , entbirgt er dem Kenner bislang noch verdeckte höhere Schönheiten, verbirgt sie aber zugleich wieder durch den bewußt enigmatischen Stil seiner Schriften, was ihm die zeitgenössische Kritik eintrug, daß „einem Originalkopf wie Klopstock niemand folgen [kann], der nicht ebenso original, als er ist. Zuletzt richten unsere Autoren bloß für die Köche, und gar nicht für die Gäste an" 4 3 . Was die Abhandlungen demnach einerseits an Mitteilbarkeit verlieren, gewinnen sie andrerseits an „gediegnem Sinn" für den Kreis der Informierten und an der Profilierung Klopstockscher Schreibart. Das trotz aller Kritik hartnäckige Festhalten Klopstocks an der einmal eingeschlagenen stilistischen „Eigentümlichkeit" und der Versuch, die Eigenschaften seines Stils selbst bis zur Maniriertheit kenntlich zu machen, sind — zumindest läßt sich das für die Prosaschriften feststellen — nicht zu erklären als seniler Zug; vielmehr ist darin das Bemühen aufzudecken, in einer literatursprachlichen Phase des Experimentierens mit verschiedenen Prosastilen einen Stil zu finden, der „einzig" macht und die eigene stilistische „Pathognomie" und „Physiognomie" unverwechselbar von den andern Prosaisten (Winckelmann, Lessing, Hamann, Lavater usw.) sondert, nicht zuletzt, um auch auf diese Weise das eigene Publikum zu finden, das den gewählten Stil goutie40 KL, 12, S. 46. 41 KL, 12, S. 151. 42 A. W. Schlegel, Kritische Schriften, a.a.O., S. 246. 43 Fr. Nicolai an J. G. Herder, 24. 8.1772 (zit. nach: M. Sommerfeld , Friedrich Nicolai und der Sturm und Drang. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Aufklärung, Halle 1921, S. 80).
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ren kann. Dabei zeigt sich Klopstock darum unbekümmert, „ob bei dem allgemeinen Gange aller unserer großen Köpfe, neue Wege zu suchen, um Original zu werden, es nicht endlich mit unserer allgemeinen Lectur und selbst mit dem Ruhme unserer Originalgenies mißlich aussehen werde" 44 . Auf Kosten seiner Leserschaft ist ihm mehr daran gelegen, konsequent die von ihm selbst aufgestellten Postulate einzulösen, stets Neues, „Wissenswürdiges" 45 zu entdecken und gleichzeitig eine originelle Form der Darstellung („neue Arten der Darstellung" 46 ) zu erfinden. Die Empfehlungen, nicht „mittelmäßig" 47 zu werden, Neues „mit Schnelligkeit, mit Feuer, mit Ungestüm zu entwerfen" 48 , gibt Klopstock sowohl den zeitgenössischen Schriftstellern, als er auch selbst versucht, ihnen in seinen poetologischen Abhandlungen nachzukommen. Es ist folglich nicht möglich, in den Prosaschriften Klopstocks einen eindeutigen oder auch nur gleitenden Stilwandel festzustellen; die stilistischen Differenzierungen lassen sich nur als konsequente, jeweilig medienadäquate Ausarbeitung eines einmal intendierten Stilprinzips erklären. Die Wahl des individuell abgetönten, niederen Stilgenus („kalte Prosa") bedeutet dabei nicht, daß Klopstock auf allgemeinverständliche Weise poetologische Elementarkenntnisse hätte popularisieren wollen. Der fiktive Adressat der Abhandlungen ist nicht so sehr der Leser, der erst grundlegende Kenntnisse im Bereich der Poesie erwerben will, vielmehr der feinsinnige Liebhaber der Poesie, der in einer ästhetischen Kultur bereits aufgewachsen ist und dem daran gelegen ist, auf weitere Feinheiten der Poesie aufmerksam gemacht zu werden. Selbst die Beiträge in der ,Moralischen Wochenschrift' sind „kurz" gehalten; sie sperren sich gegen eine widerstandslose Lektüre und wenden sich an die interessierten Kenner der Poesie oder die „Meisten von ihren Liebhabern" 49 , die nach differenzierteren Studien über ihr Interessenobjekt verlangen und denen so die Widerständigkeit der Abhandlungen genehmer sein muß, da sie ihnen die leichte, unaufmerksame Rezeption verweigert. Während für den ,Messias' und die Oden als Novum konstatiert werden kann, daß insbesondere Frauen, Jugendliche und Ungebildete einen beträchtlichen Teil ihres Publikumskreises ausmachen, gilt diese Beobachtung nicht für die poetologischen Schriften. Ihre Rezipienten mußten schon „selbst gedacht"50 haben, wohingegen die Klopstocksche Poesie neue Publi44
ebd.
« Kl., 46 Kl., 4-7 Kl., 48 Kl., 49 Kl., 50 Kl., 7*
12, 12, 12, 12, 16, 16,
S. 10. S. 13. S. 151. S. 152. S. 35. S. 88.
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kumskreise mobilisieren konnte, da das Verstehen dieser Dichtung nicht unbedingt einen Akt intellektueller Aneignung miteinbeziehen mußte, sondern auf einen Vorgang seelischer Angleichung an diese Dichtung reduziert werden konnte. Auf Grund dieser Feststellungen ist man berechtigt, bei Klopstock von einer Liebhaber- oder Kenner-Poetik zu sprechen, die neben der Ausarbeitung eines eigenen poetologischen Konzepts für eine neue Form von Poesie danach trachtet, den „verwöhnten" Leser für poetische Feinheiten zu sensibilisieren, damit sich dessen Lesegenuß poetischer Werke erhöht; denn was Klopstock von seiner Poesie sagt, gilt in gleicher Weise von seinen poetologischen Schriften: „Es ist bisweilen so übel nicht vornämlich für die Verwöhnten zu schreiben, oder gar, wenn man kann, sie noch mehr zu verwöhnen." 51 Vor die Alternative gestellt, für den „Übersehenden" oder die „anderen" 52 zu schreiben, entscheidet er sich fast immer für die erste Gruppe, eine Arkan-Öffentlichkeit 53 . Dies auch im Stil der Abhandlungen zu ostendieren 54 ist die Leistung ihres „aristokratischen oder diktatorischen Tons". Während im 18. Jahrhundert dem Prosa-Schriftsteller Klopstock noch Interesse und Verständnis entgegengebracht wurden, fand man damals, wie die gegenwärtige Klopstock-Forschung, keinen Zugang zur poetologischen Oden-Dichtung; gemeint sind Oden wie: ,Ästhetiker', ,Wink c , ,Spondac, ,An die Dichter meiner Zeit', usw. Bereits Bürger kritisierte die poetologischen Gedichte Klopstocks anhand der Ode ,Spondac von 1764: „ . . . , du kannst Klopstocks Sponda das Bürgerrecht im Reiche der Dichtung nicht erfechten. Sie, wie alle ihresgleichen ist A b h a n d l u n g , durch Darstellung aufgestutzt. Dies Verfahren hat er selbst für Zwitterwerk erklärt. Ich strafe dich und ihn mit seinen eigenen Worten." 55 Von der literaturwissen51 KL, 15, S. 228. KL, 13, S. 12. 53 K. Eibl y Prodesse et delectare: Lyrik des 18. Jahrhunderts vor der Schwelle zur Autonomieästhetik, in: Historizität in Sprach- und Literaturwissenschaft. Vorträge und Berichte der Stuttgarter Germanistentagung 1972, hrsg. v. W. Müller-Seidel München 1974, S. 293. 54 K. EibU Kritisch-rationale Literaturwissenschaft. Grundlagen zur erklärenden Literaturgeschichte, München 1976, S. 82 ff. 55 G. A. Bürger, Von der Popularität der Poesie, in: G. A. B., Sämtliche Werke, hrsg. v. W. v. Wurzbach y Leipzig o. J., Bd. 3, S. 17 f. — In den ,Tübingischen gelehrten Anzeigen* (1799) findet sich ausnahmsweise ein Lob über die poetologische Odendichtung: „So sind dem Inhalte nach wissenschaftliche und belehrende Gedichte unter seinen Händen echt lyrische Stücke geworden (z. B. die Sprache, der Traum, Ästhetiker . . . ) . In diesen Gedichten hat Klopstock, dieser erfahrene und eingeborene Künstler die Resultate seiner tiefsinnigsten Nachforschungen über die poetische Kunst und ihren Stoff, die Sprache über die ältere und neuere Kunst, über Nachahmung und Originalität niedergelegt als manchen köstlichen Fund zur 52
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schaftlichen Seite aus ist dieses zeitgenössische Urteil mitgeschleppt und bis heute nicht revidiert worden. Im Gegenteil, man hat es vielmehr ungerechtfertigterweise erhärtet. Charakteristisch ist dafür Munckers Diktum: „Nicht sowohl die Wiederholung derselben Gedanken, die wir schon aus der ,Gelehrtenrepublik' und den »Fragmenten* kennen, oder die etwaigen Fehler in Klopstocks Anschauungen sind es, was auch uns von diesen Oden abstößt, sondern ihr durchaus unpoetischer Gehalt, für den vollends die Form der Ode, wenn er ja in Verse gebracht werden sollte, am allerwenigsten paßte." 56 Möglicherweise verliert jedoch die poetologische Oden-Dichtung an Fremdheit, wenn man — wie bei dem von Klopstock in den poetologischen Prosaschriften verfolgten Stilprinzip — nach der Intention fragt, die ihn bei der Produktion dieser Werke leitete. Zunächst gilt es, Klopstocks Kritik an der Lehrdichtung genauer zu fassen 57 und den Widerspruch zwischen dieser Kritik und der eigenen poetischen Gestaltung dieses Genres durch den Hinweis aufzulösen, daß die zeitgenössische Theorie zwischen ,Lehrlied' und ,Lehrode' unterscheidet 58. Klopstock führt zum erstenmal in der deutschen Literatur der Ode Themen des Lehrgedichts zu, und seine Kritik trifft offensichtlich nur die erste Art von Lehrdichtung; seine eigene Produktion unterliegt nicht seinem Verdikt, weil sie charakteristische Momente der ,Lehrode' aufzuweisen hat. Seine Lehroden poetologischen Inhalts sind seiner Dichtungstheorie durchaus konform, denn sie erfüllen die in den gattungspoetologischen Aussagen namhaft gemachten Kriterien der Ode, da sie ihre Gegenstände subjektivieren und die Didaxe folglich „lyrisieren" 59 . Es läßt sich zeigen, daß Klopstock zum einen mit seinen Lehroden poetologischen Inhalts die Tradition der „eigentlichen Lehrgedichte" durchbricht, Lehre und Warnung. So bilden diese Oden ein würdiges Gegenstück zu seinen ästhetischen Abhandlungen über ähnliche Gegenstände in seinen prosaischen Schriften, hauptsächlich in der beinahe vergessenen Gelehrtenrepublik. Sie sind deswegen für den Theoristen wie für den Künstler gleich anziehend, da der Dichter beides, Lehre und Regel, durch die Tat gibt; denn die dem Scheine nach vom Gebiete der Poesie entlegensten Gegenstände sind alle hier mit poetischem Sinn und Geist aufgefaßt und dargestellt, so daß nicht leicht ein Dichter in diesem Maße ein solches Versinnlichungstalent wird aufweisen können." Zit. nach I. Tiemann, Klopstock in Schwaben, Greifswald 1937, S. 200 f. 56 F. Muncker, Klopstock, a.a.O., S. 503; s. auch K. Kindt, Klopstock, Berlin 1941, S. 451 ff. 57 „Wenn nun selbst das Lehrgedicht kein eigentliches Gedicht wäre, und also auch keine Dichtart ausmachen könnte?" KL, 12, S. 314. 58 s. J. A. Schlegel, Einschränkung der schönen Künste auf Einen einzigen Grundsatz, aus dem Französischen übersetzt und mit einem Anhang eigener Abhandlungen versehen, 21759, S. 337; über die Lehrode s. auch J. G. Herder, Sämtliche Werke, Bd. 23, S. 245. 59 s. H.-W. Jäger, Zur Poetik der Lehrdichtung in Deutschland, in: DVjs 44 (1970) S. 545 ff.
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die „praktisch von Gegenständen der Natur oder Kunst" 6 0 handeln, und daß er zum anderen gegen die Regel verstößt, als „lehrender Dichter" von seinem Gegenstand nicht so ganz hingerissen zu sein wie der „lyrische Dichter". Er nimmt nicht nur zeitweilig „den hohen lyrischen Ton an", um dann „aber bald wieder auf seinen Inhalt [zu] kommen", sondern er hält diesen Ton bei der Darstellung von d e n poetologischen ,Wahrheiten' durch, die n u r „auf eine sinnliche, der anschauenden Erkenntniß einleuchtende Weise können gesagt werden" 61 . Eine Analyse des entsprechenden Textmaterials muß darauf eingehen, wie Klopstodt in seiner Lehrdichtung die prosaische Fixierung seiner Dichtungstheorie wieder zugunsten einer durch Begeisterung getragenen, weniger scharf konturierten poetischen Aussageform aufbricht, in der den theoretischen, „allerabgesondertsten Begriffen" durch die poetische Umsetzung „Lebhaftigkeit" und „Nadidrücklichkeit" zurückgewonnen werden, um so „schöne Erkenntniß" 62 zu erzielen, während der prosaisch-poetologische Text auf rein intellektuelle, semantisch eindeutige Erkenntnis als Rezeptionsform zielt. Es sei auch erwähnt, daß eine der leitenden Fragestellungen bei der Behandlung der in „Poesie" vorgetragenen Poetik Klopstocks sein muß, ob nicht Klopstock jeweils dort den poetischen Texttypus wählt, wo er Teilaspekte seiner Poetik für „im Stoffe poetisch"63 hält, so daß sie ausschließlich im Gebilde des Gedichts als Ausdruck dichterischer Begeisterung darstellbar und verstehbar sind. Die Wahrheit einiger poetologischer Aussagen entzieht sich der prosaischen Darbietung und bedarf zu ihrer Vermittlung der Formung in der ,Lehrodec, die in einem solchen Falle nicht mehr nur ausschließlich die Funktion übernimmt, für „ein empfindliches Ergötzen" 64 theoretische Wahrheiten philosophischer, moralischer, religiöser und poetologischer Art lediglich in eine „verzuckernde" poetische Einkleidung zu bringen. Da Klopstock zwischen „Gedanken und Empfindungen" scheidet, „die allein in der Poesie, und andre, die nur in Prosa gebraucht werden müssen" 65 , wechselt er für die Kodifizierung seiner Poetik dementsprechend die Textform. Die „vielseitigeren, schöneren und erhabeneren Gedanken" 66 be00 J. G. Lindner, Kurzer Inbegriff der Ästhetik, Königsberg u. Leipzig 1771 bis 1772, Theil I I , S. 380 f. s. J. G. Sulzer, Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Leipzig 21786—1787, Art. Lehrgedicht, Bd. 3, S. 153 ff. 62 s. F. Nicolai (Hrsg.), Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste, I I , 2, 1762, S. 265. «3 G. A. Bürger (Hrsg.), Akademie der schönen Redekünste, 1790, S. 133, zit. nach H.-W. Jäger, Zur Poetik der Lehrdichtung, a.a.O., S. 573. 64 D. J. Faber, Anfangsgründe der Schönen Wissenschaften, 1767, S. 456. «5 Kl., 16, S. 19. 06 KL, 16, S. 20.
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hält er der poetischen ,Lehrode' vor. Diese Form der Poesie steht dem Poeten als Poetiker dann als Mitteilungsmedium zur Verfügung, wenn er mehr als der „prosaische Skribent" 67 ausdrücken will und nach einer Form der Materialisation sucht, die größere Dauerhaftigkeit und Beständigkeit als der „ungebundene" Prosatext verspricht. Wie Solon das griechische Bürgergesetz in elegischen Distichen auf den Tafeln niederschrieb, sollen auch die Gesetze der Kunst durch ihre lyrische Fixierung an Unvergänglichkeit und Zeitenthobenheit hinzugewinnen: Der Grieche sang in lyrischem Ton Bürgergesetz. Verwandter sind die Gesetze der Kunst dem lyrischen Ton; So dürfen wir ja auch wohl ein ernsteres Wort In die Tafel graben. 68
Während einem rein „abhandelnden Werk" beschieden ist unterzugehen, „sobald ein besseres über eben diesen Inhalt erscheint", bewahrt ein „Werk der Darstellung", wie es die Ode poetologischen Inhalts ist, „auch nach Erscheinung eines bessern über eben den Inhalt" seinen Wert; denn eine Abhandlung, die „gewöhnlich nur Theorie" ist, beschäftigt ausschließlich das Urteil des Rezipienten, verliert also seine Gültigkeit und Wirkung bei Modifizierung der Theorie durch eine bessere, wohingegen ein Werk der Darstellung nur wenig von seiner Wirkung verliert, wenn sich die Theorie, die auch ein darstellendes Werk hat, ändert, da es die „ganze Seele" und nicht nur das Urteil beschäftigt 69. Die „kalte Prosa" hat demnach dort zu weichen, wo die „ganze Seele" getroffen werden soll.
®7 ebd. «8 Kl., 2, S. 18. 6 « KL,12, S. 11 f.
TANTALUS ABSCONDITUS I N GOETHES I P H I G E N I E ' 1 Von Ernst Loeb Goethe selbst hat mit dem Wort von der „ganz verteufelt" humanen ,Iphigenie'2, deren „reine Menschlichkeit" nach einer späteren Äußerung „alle menschlichen Gebrechen" sühnen soll 3 , die Gegensatzpole der Rezeption seines Dramas bezeichnet und damit, scheint es, zumindest doch eines verdeutlicht: daß nämlich eine Festlegung auf die eine oder andere Ausschließlichkeit einer unerlaubten Vereinseitigung gleichkäme. Seltsame Nachwirkung dieser angeblich doch so tempelstillen Heilsbotschaft der vollendeten Klassik, daß das Entweder-Oder der Stimmungen, die das Drama auslöst, den Hörer oder Leser immer wieder vor Entscheidungen stellt und nur den Unkritischen die Ruhe ungestörter Hochgefühle genießen läßt. Oder sollte das — man denke nur an den ,Tasso'-Schluß und die offengelassene Frage nach „Heilung" oder Untergang des Dichters — gar Absicht sein? Herausforderung also und gerade nicht jene Beruhigung, wie sie gläubiger Fortschrittsoptimismus aller JGewissensqual bereitzuhalten pflegt? Wird so nicht verständlich, was Goethe in einem Brief an Knebel meint, wenn er ausgerechnet mit seiner »Iphigenie' „einige Hände Salz in's Publikum" werfen will 4 ? Wenn man sich heute also bei der Frage nach der „Rezeption" von Kriterien der sog. „Realitätsferne" oder Maßstäben der „Handlungsrelevanz" leiten läßt 5 , ist damit — sieht man von der Selbstgewißheit dieser neuen Orthodoxie ab — nur die alte Frage gestellt. Wohl wahr: während das Drama als „helles Urbild humaner Menschlichkeit"6 den trüben und ernüchternden Erfahrungen unseres Jahrhunderts ins Mär1 Der vorliegende Aufsatz ist die überarbeitete Fassung eines Vortrages, der am 23. April 1976 anläßlich der Pacific Northwest Conference on Foreign Languages in Seattle, Washington (USA), gehalten wurde. 2 An Schiller, 19. Januar 1802, in Hans Gerhard Graf, Goethe über seine Dichtungen. Zweiter Teil: Die dramatischen Dichtungen, Frankfurt a. M. 1906, Bd. I I I , S. 202. 3 Widmungsgedicht an Schauspieler Krüger, 31. März 1827. Graf I I I , S. 245. 4 14. März 1779. Graf I I I , S. 163. 5 Erika Fischer-Lichte, Goethes Iphigenie: Reflexion auf die Grundwidersprüche der bürgerlichen Gesellschaft, in: Diskussion Deutsch V I (1975), S. 3. 6 Käte Hamburger, Das Opfer der delphischen Iphigenie, in: Wirkendes Wort I V (1954), S. 231.
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chenhafte zu entgleiten droht, will andererseits auch das Wort von der „verteufelt humanen" Iphigenie 4 nicht weiterhelfen, so gerne man sich hier unaufrichtigerweise auf Goethe beruft, wo er nämlich der Entwertung des eigenen Werkes das Wort zu reden scheint. Wie man vielmehr über dem positiven Pol Iphigenie den negativen des Orest nicht vergessen dürfe, beide vielmehr als gegensätzliche Ausprägungen menschlicher Möglichkeiten eine Einheit bilden, hat Oskar Seidlin in einer Arbeit gezeigt, die das Drama den Hymnikern ungebrochener Fortschrittsgläubigkeit ebenso entwinden will, wie denen, „die, aufgerüttelt durch die nackte Enthüllung menschlicher Brutalität in unseren Tagen, das Goethesche Menschenbild als Trug empfinden" 7, als unerlaubte Abschirmung gegen die so unverkennbaren Dunkelseiten unserer Erfahrung. Wenn demgegenüber aber mit Recht betont werden kann, daß ein Abgrund Goethes ,Iphigenie' „von dem leichtherzigen Optimismus des achtzehnten Jahrhunderts" trennt, ein Abgrund auch „von der Philosophie der Verzweiflung, der so viele zeitgenössische Denker und Dichter verfallen sind" 8 , dann zeigt sich, daß sich bei näherem Zusehen zusätzliche Gründe dafür anbieten, diesen alten und verhärteten Vorwurf neu und kritisch zu überdenken. Im Ubereifer der Harmonisierungstendenz wußte man denn auch mit der „ungeheuren Opposition" des Hintergrundes, von der Goethe in ,Dichtung und Wahrheit* spricht, wenig mehr anzufangen, als diesen Hintergrund zur wirkungsvollen Kulisse zu stilisieren, von der sich die Überhelle der geläuterten Handlung um so wirkungsvoller abheben konnte. Wesensbestimmend aber für die Titaniden, besonders „die Kühneren jenes Geschlechts", die wie Tantalus, Ixion, Sisyphus, seine „Heiligen" waren 9, ist doch wohl ihre unterschwellige Bedrohung der heiter-geordneten Oberflächenwelt, das Un- und Übermaß einer elementaren Widermacht, das ihnen den Zorn der Götter, der Hüter des Gestalteten, zugezogen hat. Und wer, wenn nicht der Dichter, wüßte mehr von dieser Haßliebe der Götter zu den Urvätern alles Schöpferischen zu sagen, den Frühgeliebten des Stürmers und Drängers, deren bewunderter Frevel es ist, das Unmögliche zu begehren? Gerade in die Zeit des „Zweiten römischen Aufenthalts", als eben die Iphigenie' ihre endgültige Form erhalten hatte 10 , fallen aber jene Worte lebensnotwendiger Entsagung, des Abschieds von dem, was »von Jugend 7 Oskar Seidlin , Goethes Iphigenie — ,verteufelt human'?, in: Von Goethe zu Thomas Mann, Göttingen 1963, S. 10. 8 Seidlin, S. 22. 9 Dichtung und Wahrheit, Bd. I I I , 15. Graf I I I , S. 212. 10 Am 29. Dezember 1786 teilt er Herder mit, daß das Drama abgeschlossen ist, am 13. Januar 1787 schickt er ihm das Manuskript.
Tantalus absconditus in Goethes,Iphigenie'
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auf [ . . . ] mein Trieb und meine Plage" war. „Jetzt, da das Alter kommt", heißt es weiter in dem Brief vom 27. Juni 1787, „ w i l l ich wenigstens das Erreichbare erreichen und das Tunliche tun, da ich so lange verdient und unverdient das Schicksal des Sisyphus und Tantalus erduldet habe" (HA, Bd. X I , S. 352—53). Wenn er also, wie es aus später Rückschau heißt, jenen Mächten „einen Teil der Wirkung schuldig" sein will, „welche dieses Stück hervorzubringen das Glück hatte" 11 , und noch elf Jahre später den Reichtum seines inneren Lebens der Fülle „der wirksamsten Mittel" zuschreibt, „die aus den mannigfaltigsten Greueln hervorwachsen, die dem Stück zu Grunde liegen" 12 , fragt es sich, ob man der Allgegenwart dieser Wirkungszusammenhänge durch die üblichen Hinweise auf Iphigeniens Ahnengeschichte und Orests Verfolgungswahn gerecht wird. Diese Tatsachen sind zu offensichtlich und zu oft besprochen, um hier noch Gegenstand der Erörterung zu sein. Anders schon die Beobachtung, daß auch Iphigenie, keineswegs von Anbeginn die Reine und Geläuterte, jenes dunkle Erbe der Väterwelt von sich abzustreifen hat, um schließlich in der „unerhörten Tat" (1892) 13 ihrer Wahrheitsentscheidung denselben Beweis der lebensmäßigen Bewährung zu liefern, der auch von Orest gefordert wird. Iphigenie, die der Göttin, ihrer Retterin, „mit stillem Widerwillen" (36) dient, von „dem zweiten Tode" (53) dieses aufgezwungenen Dienstes erlöst sein möchte und von dem ehrenhaft-aufrichtigen Arkas zur Selbstverständlichkeit der Dankespflicht aufgerufen werden muß, macht hier so wenig eine gute Figur wie gegenüber der gradlinigen Unmittelbarkeit des Königs, der sie nur mit Ausflüchten begegnet, obgleich sie weiß und schließlich ja au