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German Pages 616 Year 1973
JAHRBUCH F Ü R GESCHICHTE
DEUTSCHE AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN ZU B E R L I N ZENTRALINSTITUT F Ü R GESCHICHTE
JAHRBUCH FÜR GESCHICHTE H E R A U S G E G E B E N VON H O R S T B A R T E L , E R N S T E N G E L B E R G , HEINZ H E I T Z E R W A L T E R NIMTZ, H E I N R I C H S C H E E L
Redaktion: Wolfgang Schröder (Verantwortlicher Redakteur), Hans Schleier (Stellv. Redakteur), Rosemarie Rundfeldt
JAHRBUCH FÜR G E S C H I C H T E Die bürgerlich-demokratische Revolution von 1848/49 in Deutschland Studien zu ihrer Geschichte und Wirkung, Band 1
Herausgegeben von Horst Bartel, Helmut Bleiber, Rolf Dlubek, Ernst Engelberg, Heinrich Scheel, Walter Schmidt und Wolfgang Schröder
AKADEMIE-VERLAG . BERLIN 1972
Redaktionsschluß: 15. Februar 1972
Erschienen im Akademie-Verlag G m b H , 108 Berlin, Leipziger Straße 3—4 Copyright 1972 by Akademie-Verlag GmbH Lizenznummer: 2 0 2 • 100/302/72 Offsetdruck und buchbinderische Weiterverarbeitung: V E B Druckerei „ T h o m a s Müntzer", 5 8 2 Bad Langensalza/DDR Bestellnummer: 2130/7 • E S 14 E E D V 7 5 2 068 7 25,-
Inhalt Vorwort W A L T E R SCHMIDT
Zur internationalen Stellung der deutschen Revolution von 1848/49 WALTRAUD
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SEIDEL-HÖPPNER
Wilhelm Weitlings Vorstellungen von der kommunistischen Zukunft der Menschheit
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Johann Jacoby und die antifeudale Opposition in Preußen am Beginn der 40er Jahre des 19. Jh
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P E T E R SCHUPPAN
K A R L OBERMANN
Wirtschafts- und sozialpolitische Aspekte der Krise von 1845 —1847 in Deutschland, insbesondere in Preußen. . 141 H E L M U T ASMUS
Die preußische Verfassungstreue im Frühjahr 1847. Die ständische Gesetzgebung vom 3- Februar 1847 und die Vorbereitungen der großbürgerlichen Opposition zum Vereinigten Landtag 175 HARALD MÜLLER
Der Widerhall auf den Schweizer Sonderbundskrieg 1847 in den Staaten des Deutschen Bundes 211 H E R W I G F Ö R D E R / MARTIN H U N D T
Zur Vorgeschichte des Kommunistischen Manifests. Der Entwurf des „Kommunistischen Glaubensbekenntnisses" vom Juni 1847 243 MARTIN H U N D T
Zur Frühgeschichte der revolutionären Arbeiterbewegung in Stuttgart 277 W A L T E R SCHMIDT
Die englische Chartistenbewegung in der „Neuen Rheinischen Zeitung" 331 KLAUS BAUDIS
Zur Rolle des städtischen Proletariats in Mecklenburg während der Revolution von 1848/49. Der Charakter der ersten mecklenburgischen Arbeitervereine 371 HELMUT
BLEIBER
Die Haltung der Parteien gegenüber der Landbevölkerung in der Wahlbewegung im Frühjahr 1848 in Schlesien 407 KONRAD CANIS
Ideologie und politische Taktik der junkerlich-militaristischen Reaktion bei der Vorbereitung und Durchführung des Staatsstreiches in Preußen im Herbst 1848 459
GUNTHER HII.DKBRANDT
Die Stellung der Fraktion Donnersberg in der Frankfurter Nationalversammlung zur Reichsverfassungskampagne 1849 505 KOI.P D L U B E K
Ein deutscher Revolutionsgeneral. Johann Philipp Becker in der Reichsverfassungskampagne 557 Autorenverzeichnis
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Vorwort
Zum 125. Jahrestag der bürgerlich-demokratischen Revolution von 1848/49 und des E r scheinens des "Manifests der Kommunistischen Partei" legt das Zentralinstitut für Geschichte an der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin im Zusammenwirken mit dem Institut für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED und dem Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED zwei Studienbände zu Problemen der Revolution von 1848/49 vor. Im Mittelpunkt der einzelnen Arbeiten steht die Geschichte und Wirkung der Revolution von 1848/49 in Deutschland, also ein Teilaspekt der revolutionären Klassenkämpfe der Jahre 1848-1849. Als bedeutendstes Geschehen zwischen dem Bauernkrieg und der Novemberrevolution gehört die Revolution von 1848/49 - troiz ihrer Niederlage - zu den größten fortschrittlichen Ereignissen der deutschen Geschichte. Sie war die Zeit der größten Entfaltung der Kraft der Volksmassen im Kampf um die Durchsetzung des gesellschaftlichen Fortschritts in der Epoche der bürgerlichen Umwälzung und hatte bleibende progressive Wirkungen. In dieser bürgerlich-demokratischen Revolution erwies sich das junge Proletariat bereits als konsequenteste Kraft im Ringen um demokratische Verhältnisse. Das "Manifest der Kommunistischen Partei" und die Bildung des Bundes der Kommunisten, der ersten revolutionären proletarischen Partei in der Weltgeschichte, sowie das Wirken dieser Partei in der Revolution leiteten die Verbreitung des Marxismus in der Arbeiterbewegung und damit die Formierung der entschiedensten revolutionären Kraft in der internationalen und deutschen Geschichte ein. Die marxistisch-leninistische Historiographie hat der Erforschung der Revolution von 1848/49 seit jeher große Aufmerksamkeit gewidmet. Ohne auf Vollständigkeit Anspruch zu erheben, vermittelt vorliegender Band Ausschnitte aus der umfangreichen Forschung»-
Vorwort
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arbeit zur Geschichte der Revolution von 1848/49 und den in ihr agierenden Klassenkräften; e r gibt insofern in bestimmtem Maß Aufschluß Uber Stand und zugleich Aufgaben der marxistisch-leninistischen Geschichtswissenschaft der DDR auf diesem Gebiet. Das Bild von der bürgerlich-demokratischen Revolution, ihren Wirkungen und ihren Lehren, war zu keiner Zeit für keine Klasse bloße historische Reminiszenz, sondern stets eine fundamentale politisch-ideologische Aussage. Die Beiträge im Band 8 werden sich darauf konzentrieren, über ein Jahrhundert hinweg die Wirkung dieser Revolution unter dem Aspekt der Stellung der Klassen, insbesondere der Arbeiterklasse, zu verfolgen. Auch im Verhältnis zu den Traditionen von 1848/49 erweist sich die revolutionäre A r beiterklasse als der legitime Erbe alles Fortschrittlichen in der deutschen Geschichte, das in der Deutschen Demokratischen Republik staatliche Realität angenommen hat. Die Revolution von 1848/49 und das Kommunistische Manifest sind daher unverzichtbare Elemente in der revolutionären Traditionslinie der Sozialistischen Deutschen Demokratischen Republik. Die durch das Kommunistische Manifest eingeleitete "Parteibildung des Proletariats" (Marx) und die Revolution von 1848/49 gehören zu den Faktoren in der deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts, in denen der sozialistische deutsche Staat fest verwurzelt ist.
W A L T E R SCHMIDT
Zur internationalen Stellung der deutschen Revolution von 1848/49*
Die bürgerlich-demokratischen Revolutionen von 1848/49 in Europa stehen zeitlich etwa in der Mitte der welthistorischen Epoche des Sieges und der Festigung des Kapitalismus, die durch die Französische Revolution von 1789 bis 1794 eingeleitet wurde und bis zur Pariser Kommune von 1871, dem ersten Versuch einer proletarischen Revolution, reichte. Aber sie bilden auch historisch die entscheidende Periode im Ringen der revolutionären Volksmassen um die Durchsetzung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsordnung und deren demokratische Ausgestaltung in den verschiedenen Ländern Europas, Das Revolutionsjahr 1848/49 war der wichtigste der "'allgemeindemokratischen'
Vorstöße" 1 ,
die die Gesetzmäßigkeit des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus im 19. J h . endgültig zum Durchbruch brachten. Dreierlei hebt die bürgerlichen Revolutionen von 1848/49 von den vorangegangenen bürgerlichen Revolutionen vor allem ab: Erstens fanden sie zu einem Zeitpunkt statt, als die kapitalistische Entwicklung welthistorisch bereits in ihr zweites Stadium, das des Industriekapitalismus, getreten war. Im letzten Drittel des 18. J h . hatte die industrielle Revolution eingesetzt; um die Mitte des 19. J h . war sie im Mutterland des Kapitalismus, in England, bereits abgeschlossen und hatte Frankreich und Deutschland voll erfaßt. Damit waren bereits neue gesellschaftliche Widersprüche aufgebrochen, die Gegensätze zwischen Bourgeoisie und Proletariat, die wesentlichen Einfluß auf den Gang und die
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Die folgende Studie ist die bearbeitete Fassung eines 1965 im Sonderheft der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft zum XII. Internationalen Historikerkongreß "Evolution und Revolution in der Weltgeschichte" erschienenen Artikels. Lenin, W . I . , An I . I . Skworzow - Stepanow, in: Werke, Bd 34, Berlin 1962, S. 402.
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Walter Schmidt
Ergebnisse der bürgerlichen Revolution hatten. Nicht nur für die Revolution in Deutschland, sondern auch für die Revolutionen in den anderen europäischen Ländern traf die Feststellung des "Manifests der Kommunistischen Partei" zu, daß 1848/49 die "Umwälzung unter fortgeschrittneren Bedingungen der europäischen Zivilisation überhaupt und mit einem viel 2 weiter entwickelten Proletariat...als England im 17. und Frankreich im 18. Jahrhundert" vollbracht würde. 1848/49 griff zum erstenmal in der Weltgeschichte die Arbeiterklasse in bürgerliche Revolutionen ein und prägte ihren Verlauf bereits wesentlich. Zweitens aber war 1848/49 nicht nur ein Land von der Revolution erfaßt; es fanden vielmehr bürgerliche Revolutionen in mehreren europäischen Ländern gleichzeitig statt. 1850 schrieb Engels darüber: "Die Revolution von 1848 war keine deutsche3 Lokalangelegenheit, sie war ein einzelnes Stück eines großen europäischen Ereignisses." Auch das war ein Novum in der Weltgeschichte. Die Wechselwirkungen der Revolutionen in den einzelnen Ländern aufeinander wurden somit zu einer entscheidenden Frage für den Gang der Revolution in Europa im ganzen. Drittens schließlich war 1848/49 der Kampf um die bürgerliche Umgestaltung in der Mehrzahl der revolutionierten Länder zum erstenmal in solchem Ausmaß verknüpft mit nationalen Bewegungen. In allen Revolutionen des Jahres 1848 - ausgenommen Frankreich spielten nationale Forderungen eine zentrale Rolle, war die Erringung der Gleichberechtigung, der Unabhängigkeit oder der Einheit der einzelnen Länder eines der markantesten Ziele. Die nationalen Bewegungen erlangten 1848/49 zum ersten Mal im europäischen Maßstab wirklichen Massencharakter. 1848 war der Höhepunkt in der "Epoche der Herausbildung der bürgerlich-demokratischen Gesellschaft" in Europa, in der generell "die nationalen Bewegungen zum erstenmal zu Massenbewegungen" wurden, "und so oder anders- alle Klassen der Bevölkerung durch die Presse, durch die Teilnahme an den Ver4 tretungskörperschaften usw. in die Politik" hineingezogen wurden. Seit Marx und Engels beschäftigt die marxistische Historiographie sowohl die Frage nach der welthistorischen Stellung der 48er Revolutionen als auch nach der Stellung und der Rolle der einzelnen Länder im europäischen Revolutionsprozeß. Drei Länder vor allem standen im Vordergrund historischer Betrachtungen.
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Marx. Karl/Engels. Friedrich. Manifest der Kommunistischen Partei, in: Marx/Engels, Werke (im folgenden: MEW), Bd 4, Berlin 1959, S. 493. Engels. Friedrich. Der deutsche Bauernkrieg, in: MEW, Bd 7, Berlin 1960, S. 413. Lenin 1 _W i I., Über das Selbstbestimmungsrecht der Nationen, in: Werke, Bd 20, Berlin 1961, S. 403.
Zur internationalen Stellung der Revolution
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Frankreich erregte das Interesse vor allem wegen der Radikalität und Konsequenz, mit der in diesem Land die geschichtlichen Klassenkämpfe generell durchgefochten wurden.
Hier erreichten 1848/49 die revolutionären Klassenauseinandersetzungen zur vollen
Durchsetzung und zum Ausbau der bürgerlichen Gesellschaftsordnung den bis dahin höchsten Reifegrad. Die französische Revolution machte zum ersten Mal deutlich, welche hervorragende Rolle die Arbeiterklasse im Kampf um die Verwirklichung des demokratischen Fortschritts spielte, mehr noch, in welchem Maße jeder demokratische Fortschritt in Frankreich und In ganz Europa an Sieg oder Niederlage der Arbeiterklasse geknüpft war. Deutschland mußte deshalb die besondere Aufmerksamkeit gelten, weil es infolge seiner sozialökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklungsstufe und seines Platzes in der politischen Kräftekonstellation Europas Mitte des 19. Jh. innerhalb der gesamteuropäischen Revolutionsbewegung eine exponierte Stellung einnahm. Einer Revolution in Deutschland kam zentrale Bedeutung für die Durchsetzung der bürgerlichen Demokratie in ganz Europa zu. Marx und Engels waren selbst die eisten, die in den GrundzUgen bereits am Vorabend, im einzelnen dann während und nach der Revolution auf die spezifische Stellung der deutschen Revolution und ihre gesamteuropäischen Aufgaben aufmerksam machten. England war in der Mitte des 19. Jh. das Land mit den am weitesten entwickelten kapitalistischen Verhältnissen. Hier waren die Klassengegensätze zwischen Bourgeoisie und Proletariat am tiefsten ausgeprägt. England war aber auch das einzige Land in der Welt, in dem zu dieser Zeit bereits eine ausgeprägte Massenbewegung des Proletariats g bestand, die politischen Parteicharakter trug. Die Chartistenbewegung war zu einer
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Engels, Friedrich. Vorrede zur dritten Auflage von Karl Marx' Schrift "Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte", in: MEW, Bd 21, Berlin 1962, S. 248 f . Die speziellen Arbeiten von Marx und Engels zur Revolution von 1848/49 betreffen ausschließlich Frankreich und Deutschland, wobei sich Marx vornehmlich mit Frankreich, Engels mit Deutschland befaßte (Marx. Karl. Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850, in: MEW, Bd 7, S. 9 f f . ; derselbe, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in: MEW, Bd 8, Berlin 1960, S. 111 f f . ; Engels. Friedrich. Die deutsche Reichsverfassungskampagne, in: MEW, Bd 7, S. 109 f f . ; derselbe. Revolution und Konterrevolution in Deutschland, in: MEW, Bd 8, S. 3ff .). Insbesondere in den 80er Jahren wandte sich Engels erneut in verstärktem Maße den Problemen der Revolutionszeit 1848/49 zu, brachte zahlreiche Schriften der unmittelbar nachrevolutionären Periode neu heraus und verfaßte verschiedene Arbeiten, teils als Vorworte, teils als selbständige Darstellungen zur Revolutionsgeschichte. Lenin, W . I . . Die Dritte Internationale und ihr Platz in der Geschichte, in: Werke, Bd 29, Berlin 1961, S. 298: "Als England der Welt die erste breite, wirklich Massen erfassende, politisch klar ausgeprägte proletarisch-revolutionäre Bewegung, den Chartismus, g a b . . . "
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"konstituierten Proletariatspartei gegen die konstituierte Staatsgewalt der Bourgeoisie" geworden.7 Zugleich aber war 1848/49 durch eine Vielzahl national-revolutionärer Bewegungen in zahlreichen europäischen Ländern charakterisiert. Nationale Ziele nach Einheit und Unabhängigkeit prägten die Revolutionen in Deutschland und Italien. Für die Beseitigung der nationalen Unterdrückung und die Bildung von selbständigen bürgerlichen Nationalstaaten erhoben sich die revolutionären Volksmassen in Polen und Ungarn und in den tschechischen Ländern; die nationale Gleichberechtigung forderten die Slowaken und die südslawischen Völker. Alle diese revolutionären Bewegungen waren miteinander aufs engste verflochten und wirkten aufeinander ein. Für die Revolutionen von 1848/49 in Europa war eine dialektische Verflechtung im Wesen zwar gleichartiger (nämlich bürgerlich-demokratischer), in den sozialen Abstufungen - entsprechend dem jeweiligen Entwicklungsgrad der kapitalistischen Verhältnisse jedoch im einzelnen unterschiedlicher revolutionärer Bewegungen charakteristisch, die sich überdies auch noch durch die konkreten, vor allem nationalen Ziele voneinander abhoben. Während es in Frankreich im Ringen um die weitere Ausgestaltung der bürgerlichdemokratischen Ordnung (die die fortgeschrittene kapitalistische Entwicklung erforderte) bereits zu einer offenen Konfrontation zwischen Bourgeoisie und Proletariat kam, die in der Pariser Junischlacht 1848 ihren Höhepunkt hatte, also hier ein antibourgeoiser Zug bereits deutlich erkennbar wurde, blieb in allen anderen revolutionierten Ländern die antifeudale Stoßrichtung vorherrschend. Im fortgeschrittensten dieser Länder, in Deutschland, wo die bürgerliche Umwälzung bereits in vollem Gange war und sich das Proletariat zur Klasse zu formieren begann, spielten freilich die neuen Gegensätze der zur Herrschaft strebenden bürgerlichen Gesellschaft bereits eine große Rolle und begannen die Revolution zu modifizieren. Einen zentralen Platz nahm in der deutschen Revolution wie in den Revolutionen der anderen mittel-, süd- und südosteuropäischen Länder die nationale Frage ein, und zwar sowohl im Sinne der staatlichen Einheit als auch der nationalen Unabhängigkeit. Aber auch hier gab es Abstufungen. In Deutschland stand die Herstellung der nationalstaatlichen Einheit auf bürgerlicher Grundlage ganz im Mittelpunkt. Das galt auch für Italien. Hier verschob sich die Form des nationalen Kampfes jedoch gegenüber Deutschland, wo es lediglich darum ging, sich der Bevormundung durch den Zarismus zu entledigen, schon wesentlich in die Richtung einer Abschüttelung ausländischer Fremdherrschaft.
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Engels, Friedrich, Die "Kölnische Zeitung" und die englischen Verhältnisse, in: MEW, Bd 5, Beriin 1959, S. 285.
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Diese Problematik aber dominierte ganz bei den revolutionären Bewegungen und Kämpfen der Polen, Ungarn, Tschechen, Slowaken und der südslawischen Völker. Im folgenden soll versucht werden, dieses Verhältnis der verschiedenen "nationalen" Revolutionen von 1848/49 zueinander zu untersuchen. Dabei wird versucht, besonders der Frage nachzugehen, welchen Platz die deutsche Revolution in den europäischen Revolutionsbewegungen von 1848/49 einnimmt. Es wird das in der marxistischen Literatur wiederholt aufgeworfene Problem zu erörtern sein, inwieweit und in welchem Sinne Deutschland in der Mitte des 19. Jh. als Zentrum der revolutionären Bewegung in Europa anzusehen ist. Das verlangt vor allem einen Vergleich mit der Rolle der französischen Revolution in den Klassenkämpfen von 1848/49. Zugleich sollen die internationalen Wirkungen der deutschen Revolution und ihre historische Stellung kurz umrissen werden. Das besondere Anliegen der folgenden Untersuchungen besteht darin, Marx' und Engels' Stellungnahmen zu dieser gesamten Problematik zu erschließen und auf diese Weise einen Beitrag zur weiteren Diskussion um Platz und Rolle der europäischen Revolutionen von 1848/49 zu leisten. Es kann dabei an umfangreiche marxistisch-leninistische Forschungen angeknüpft werden. Vor allem die sowjetische Geschichtsschreibung befaBte sich umfassend mit diesen Fragen der 48er Revolution. Dazu legte sie neben zahlreichen Einzelarbeiten zu Grundfragen erstmals eine umfangreiche Gesamtdarstellung vor, die die g Revolutionsbewegung von 1848/49 als gesamteuropäische Erscheinung behandelte.
Wesent-
liche Anregungen flir das Thema bietet auch die spezielle Marx-Engels-Forschung, die sich vor allem mit der Strategie und 9Taktik der kommunistischen Vorhut vor und während der Revolution von 1848/49 befaßte. Wertvolle Anregungen vermittelte die Diskussion um 8 9
Revoljucii 1848-1849, Bd 1 und 2, Moskau 1952. Hier findet sich auch eine umfangreiche Bibliographie Uber die Revolutionsforschungen zu den einzelnen Ländern. Adoratski, V.. Einleitung zur Marx-Engels-Gesamtausgabe, I. Abt., Bd 7, Moskau 1935, S. DC f f . ; Konjuschaja, R . P . , Die Tätigkeit von Marx und Engels in der Revolution von 1848/49 und ihre Bedeutung für den Aufbau der proletarischen Partei, in: Aus der Geschichte des Kampfes von Marx und Engels für die proletarische Partei, Berlin 1961, S. 25 f f . ; Euserman, T . I . , Razvitije marksistskovo narbdnij revoljucii 1848 g . , Moskau 1955; Leviova, S.. Der Marxismus und seine erste historische Bewährung, in: Sowjetwissenschaft, Gesellschaftswissenschaftliche Beiträge, 1957, H. 9, S. 1054 f f . ; dieselbe, Karl Marks v germanskoj revoljucii 1848-1849 gg., Moskau 1970; Förder, Herwig, Marx und Engels am Vorabend der Revolution. Die Ausarbeitung der politischen Richtlinien für die deutschen Kommunisten (1846-1848), Berlin 1960; Becker, Gerhard, Karl Marx und Friedrich Engels in Köln 1848-1849, Berlin 1963; Strey. Joachim/Winkler, Gerhard. Marx und Engels 1848/49. Die Politik und Taktik der "Neuen Rheinischen Zeitung" während der bürgerlich-demokratischen Revolution in Deutschland, Berlin 1972; Strey. Joachim. Proletarischer Internationalismus in der bürgerlich-demokratischen Revolution. Zur gesamteuropäischen Revolutionskonzeption von Marx und Engels und zur Außenpolitik der "Neuen Rheinischen Zeitung" (Dezember 1848 bis Mai 1849), in: Jahrbuch für Geschichte, Bd 4, Berlin 1969, S. 109 ff.
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eine vergleichende Betrachtung der bürgerlichen Revolutionen beim Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus, die sich allerdings ausschließlich auf die Epoche vom beginnenden 16. Jh. bis zum Ende des 18. Jh. konzentrierte. Es dürfte sich als nützlich erweisen, in diese Diskussion auch die Epoche des Sieges und der Festigung des Kapitalismus von 1789 - 1871 einzubeziehen, in der die bürgerlichen Revolutionen unter in vieler Beziehung neuen Bedingungen sich vollzogen. 1 " Der vorliegende Artikel ist hierzu als ein Diskussionsbeitrag gedacht. 10
Vgl. das Sonderheft der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft (im folgenden; ZfG), 1965: "Evolution und Revolution in der Weltgeschichte".Für unsere Problematik sind hieraus von besonderem Interesse: Engelberg. Ernst, Fragen der Evolution und Revolution in der Weltgeschichte, in: Ebenda, S. 9 ff. ¡Töpfer. Bernhard. Die frühbürgerliche Revolution in den Niederlanden, in: Ebenda, S. 51 ff.; Schleier, Hans, Zur Diskussion des Revolutionsbegriffs in der deutschen bürgerlichen Geschichtsschreibung während der Weimarer Republik, in: Ebenda, S. 152 ff. Vgl. dazu auch den Bericht Uber die Diskussion zum Thema "Evolution und Revolution in der Weltgeschichte" auf dem Internationalen Historikerkongreß in Wien 1965, in: ZfG, 1965, H. 8, S. 1416 ff. Ferner die Diskussion auf dem IV. Historikerkongreß der DDR von 1968, der sich in einem speziellen Arbeitskreis mit den "Revolutionen beim Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit" beschäftigte: Schilfert, Gerhard, Revolutionen beim Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, in: ZfG, 1968, H. 9, S. 1212 ff.; derselbe. Die Revolutionen beim Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus, in: ZfG, 1969, H. 1/2, S. 171 ff.; Markov. Walter. Revolutionen beim Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus. Eine vergleichende revolutionsgeschichtliche Betrachtung, in: ZfG, 1969, H. 5, S. 592 f f . ; Vetter, Klaus, Bericht über die Tagung des Arbeitskreises "Revolutionen beim Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus", in: ZfG, 1969, H. 1/2, S. 233 ff. Die vergleichende revolutionsgeschichtliche Betrachtung steht auch im Mittelpunkt des Sammelbandes Studien über die Revolution, hg. von Manfred Kossok, Berlin 1969. Unser Thema berühren vor allem: Manfred, A. Z . . Die Große Französische Revolution des 18. Jahrhunderts und die Gegenwart, in: Ebenda, S. 157 f f . ; Kossok. Manfred. Der iberische Revolutionszyklus 1789-1830. Bemerkungen zu einem Thema der vergleichenden Revolutionsgeschichte, in: Ebenda, S. 209 ff.; Rud^, George, Why was there no Revolution in England in 1830 or 1848?, in: Ebenda, S. 231 ff. Zur Bedeutung der Revolutionen für die Periodisierung vgl. den auch für eine vergleichende Revolutionsgeschichte bemerkenswerten und anregenden Beitrag von Engelberg, Ernst. Zu methodologischen Problemen der Periodisierung, in: ZfG, 1971, H. 10, S. 1219 ff. Einen interessanten und in vieler Hinsicht weiterführenden Vergleich zwischen den bürgerlichen Revolutionen im Manifakturstadium des Kapitalismus, in der Periode des Kapitalismus der freien Konkurrenz und im Imperialismus bietet Porsnev, B . F . , W.I. Lenin o rannych burzuaznych revoljucijach, in: Novaja i novejsaja istorija, 1960, H. 2, S. 50 ff. Eine umfassende Einschätzung der Behandlung der deutschen Revolution 1948/49 in der deutschen bürgerlichen Historiographie gab Kan, S.B., Nemeckaja istoriografija revoljucii 1848-1849 gg. v. Germanii, Moskau 1962.
Zur internationalen Stellung der Revolution
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Eine gründliche Analyse der Marx-Engelsschen Stellungnahmen zur Revolution von 1848/49 als einem europäischen Ereignis und ihrer Auffassung über den Platz der deutschen Revolution in dieser Revolutionswelle erscheint um so dringlicher, als bürgerliche rechtssozialdemokratische Historiker in jüngster Zeit sich daran gemacht haben, die Positionen der Begründer des wissenschaftlichen Kommunismus in der nationalen Frage einer politischen Zwecken dienenden Umdeutung zu unterziehen. Einerseits wird versucht, Marx' und Engels'revolutionär-demokratisches Auftreten während der Revolution als angebliches Abgehen vom proletarischen Internationalismus und Einschwenken auf bürgerlich-nationalistische Positionen hinzustellen. Andererseits sind Bemühungen im Gange, die alte Legende neu zu beleben, daß Marx und Engels in ihrer Haltung zu den Deutschland benachbarten slawischen Nationen von deutschem Nationalismus nicht frei gewesen waren.
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Den eigentlichen Ausgangspunkt für sämtliche Überlegungen über Rolle und Platz der revolutionären Bewegungen in den verschiedenen europäischen Ländern bildet die Erkenntnis, daß es sich 1848/49 nicht um einzelne, auf die jeweiligen Länder beschränkte, isolierte Revolutionen, sondern um einen einheitlichen revolutionären Prozeß von europäischen Ausmaßen handelte. Diese Erkenntnis wurde von Marx und Engels bereits am Vorabend der Revolution gewonnen. Die Kommunisten erwarteten eine revolutionäre Welle, die ganz Europa erfassen würde. Darauf beruhte auch ihre gesamte politische Konzeption für die bevorstehenden revolutionären Kämpfe. Davon geleitet, hatten Marx und Engels im Programm der ersten marxistischen Partei, im Manifest der Kommunistischen Partei, für alle entscheidenden europäischen Länder die politische Position festgelegt, die bei Ausbruch revolutionärer Ereignisse von den Kommunisten eingenommen werden sollte. In gleicher Weise betrachteten Marx u.nd Engels während der Revolution die revolutionären
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Vgl. hierzu vor allem Conze, Werner, Die Arbeiterbewegung in der nationalen Bewegung, Stuttgart 1966; ferner derselbe. Einleitung in: Karl Marx, Manuskripte über die polnische Frage (1863-1864), hg. und eingeleitet von Werner Conze und Dieter Hertz-Eichenrode, 'S-Gravenhage 1961, S. 7 f f . ; Wehler, Hans-Ullrich, Sozialdemokratie und Nationalstaat. Die deutsche Sozialdemokratie und die Nationalitätenfrage in Deutschland von Karl Marx bis zum Ausbruch des ersten Weltkrieges, Würzburg 1962; Rosdolsky, Roman, Friedrich Engels und das Problem der "geschichtslosen" Völker. Die Nationalitätenfrage an der Revolution 1848-1849 im Lichte der "Neuen Rheinischen Zeitung", in: Archiv für Sozialgeschichte, Bd 4, Hannover 1964, S. 87 ff.
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Erhebungen und Auseinandersetzungen in den einzelnen Ländern als Teile einer einheitli12 chen "europäischen Revolution" . Diesen Standpunkt bekräftigten sie in all ihren Untersuchungen und Darstellungen nach der Revolution. Diese Auffassung war einer ihrer wichtigsten methodologischen Gesichtspunkte bei der Auswertung der Revolutionserfahrungen zu Beginn der fünfziger Jahre. Und auch in den Arbeiten der 80er und 90er Jahre begriffen Marx und Engels die revolutionären Bewegungen von 1848/49 unter dem Blickpunkt ihrer historischen Stellung und Wirkung, eher noch schärfer als vorher, als einheitliches Gan13 zes.
Dieses Herangehen war auch für Lenins historische Stellungnahmen zur 48er
Revolution charakteristisch. Es wurde zu einem unverzichtbaren Grundsatz der marxistischleninistischen Revolutionsgeschichtsschreibung. Was Inhalt und Ziel dieser revolutionären Ereignisse betraf, so betrachtet die marxistisch-leninistische Geschichtswissenschaft als deren wesentliche Grundlage den mit elementarer Gewalt sich vollziehenden Übergang von der alten feudalen zur modernen bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsordnung. Dieser historische Prozeß bestimmte den Charakter der europäischen Revolutionsbewegung Mitte des 19. J h . in ihrer Gesamt14 heit als bürgerlich.
Das schloß freilich die Vorstellung ein, daß entsprechend den unter-
schiedlichen Ausgangspositionen in den einzelnen Ländern der Grad der Durchsetzung der bürgerlichen Gesellschaft als Ergebnis einer siegreichen Revolution erhebliche Unter12
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Marx, Karl/Engels, Friedrich, Manifest der Kommunistischen Partei, in: MEW, Bd 4, S. 492 f. Vgl. Marx, Karl. Die Kontrerevolution in Berlin, Neue Rheinische Zeitung (im folgenden zit. als NRhZ), 12.11.1848, in: MEW, Bd 6, S. 9 f. Vgl. vor allem derselbe, Die revolutionäre Bewegung in Italien (NRhZ, 30.11.48), in: Ebenda, S. 77-80; derselbe, Die revolutionäre Bewegung (NRhZ, 1.1.49), in: Ebenda, S. 148-150. Neben den Vorworten zu den verschiedenen Ausgaben des Kommunistischen Manifests (vgl. MEW, Bd 4, S. 573 ff.) und anderen Schriften aus der Frühzeit vgl. vor allem Marx' und Engels' Schreiben an das Genfer Meeting zum 50. Jahrestag der polnischen Revolution von 1830, in: MEW, Bd 19, Berlin 1962, S. 239 ff., und Engels, Friedrich, Der Sozialismus in Deutschland, in: MEW, Bd 22, Berlin 1963, S. 248 ff. Aufschlußreich ist unter diesem Aspekt die Arbeit von Engels. Friedrich. Die Bewegungen von 1847, in: MEW, Bd4, S. 494-503. WirverweisengeradeaufdiesenArtikel, weil er einer Periode entstammt, in der Marx und Engels die Möglichkeit einer baldigen proletarischen Revolution in den fortgeschrittensten europäischen Ländern fest ins Auge faßten (ebenda, S. 502). Von Lenins zahlreichen Stellungnahmen vgl. vor allem: Lenin. W . I . , Unter fremder Flagge, in: Werke, Bd 21, Berlin 1960, S. 123 f f . ; derselbe, Die historischen Schicksale der Lehre von Karl Marx, in: Werke, Bd 18, Berlin 1962, S. 576 ff.; derselbe, Brief an J . J . Skworzow-Stepanow, in: Werke, Bd 16, Berlin 1963, S. 114 f .
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schiede aufweisen konnte. Ging es in Deutschland und Italien wie in anderen Ländern zunächst einmal überhaupt darum, die Bourgeoisie an die Macht zu bringen, so handelte es sich in Frankreich schon um wesentlich mehr, nämlich um den weiteren konsequenten Ausbau der schon fest verwurzelten bürgerlichen Ordnung im Sinne eines entschiedenen bürgerlichen 15 Demokratismus.
Lediglich für England wurde von Marx und Engels vor und während der
Revolution von 1848 eine proletarische Revolution für möglich gehalten. Aber auch hier konnte ein Versuch des Proletariats, die Macht zu erringen, 16 nur begonnen werden mit Kämpfen um den weiteren Ausbau der bürgerlichen Ordnung. Die Einschätzung der Möglichkeit einer revolutionären Entwicklung in England berührt einen zweiten Aspekt der Auffassungen von Marx und Engels über die Revolution von 1848/49, einen Aspekt, bei dem ihre Vorstellungen im Laufe der Jahrzehnte einem Wandel unterlagen. Es handelt sich um die Frage, ob im Prozeß einer europäischen Revolution in der Mitte des 19. J h . der Rahmen der bürgerlichen Ordnung 17bereits gesprengt und zu einer proletarischen Revolution übergegangen werden konnte. Marx' und Engels' Auffassung über Gang und mögliche Perspektiven der revolutionären Entwicklung in den einzelnen Ländern Europas war 1848 im wesentlichen von dieser Überlegung bestimmt. Sie ergab sich aus dem in verschiedenen Ländern im Vergleich zur Revolution von 1789 bereits relativ hohen Stand der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise und dem Auftreten einer revolutionären Arbeiterklasse. Marx und Engels haben als erste die sich aus diesen fortgeschritteneren Bedingungen ergebenden prinzipiellen Schlußfolgerungen für die Strategie und Taktik der revolutionären Kräfte gezogen und gleichzeitig die notwendigerweise auftretenden Modifikationen der bürgerlichen Revolution herausgearbeitet. Auch diese grundsätzlichen Erkenntnisse wurden durch den geschichtlichen Verlauf 18 bestätigt und von Marx und Engels selbst in den späteren Jahrzehnten weiter ausgebaut. 15 16 17 18
Engels. Friedrich. Die Bewegungen von 1847, in: MEW, B d 4 , S. 499-501. Derselbe, Grundsätze des Kommunismus, in: MEW, Bd 4, S. 372; Förder, Herwig, S. 283 f . , 304. Vgl. dazu die dieses Thema nahezu erschöpfende Untersuchung von Förder, Herwig. S. 278 ff. Engels. Friedrich. "Marx und die 'Neue Rheinische Zeitung' 1848/49", in: MEW, Bd 21, S. 17. Über die Vorstellungen von Marx und Engels vom Gang der revolutionären Entwicklung im letzten Dritteides 19. J h . vgl. Bartel. Horst, Marx und Engels im Kampf um ein revolutionäres deutsches Parteiorgan 1879-1890, Berlin 1961, S. 73 bis 110, Leider fehlt bis heute noch eine geschlossene historische Darstellung der Entwicklung der Revolutionskonzeption von Marx und Engels in den verschiedenen Etappen ihres Kampfes.
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Was jedoch die Realisierbarkeit der prinzipiell als richtig erkannten Möglichkeiten betraf, die bürgerlichen Grenzen der revolutionären Bewegung bereits zu diesem Zeitpunkt zu überschreiten, so erwiesen sich ihre Erwartungen als unrichtig. Engels hat die dahin gehenden Vorstellungen später selbst nachdrücklich korrigiert. Die Hoffnungen auf einen raschen Übergang von der bürgerlichen zur sozialistischen Revolution waren, wie er später feststellte, das Resultat unzureichender ökonomischer Kenntnisse und vor allem einer Unterschätzung der im Rahmen der kapitalistischen Ordnung noch vorhandenen Möglichkeiten 19 einer ungehinderten Entwicklung der Produktivkräfte. Diese Korrektur war für die Bestimmung des objektiven Gehalts der Bewegungen von 1848/49 in Europa von Bedeutung. Marx' und vor allem Engels' Arbeiten aus den 80er und 90er Jahren treffen nüchternere und tiefergehende Urteile. Sie schließen jede Möglichkeit einer unmittelbar sozialistischen Entwicklung für die Zeit um 1848/49 aus, wie sie in den Arbeiten der 40er Jahre in Betracht gezogen worden war 20 , und betonen die durch die Unreife der kapitalistischen Entwicklung objektiv gesetzten bürgerlichen Grenzen der gesamten europäischen Revolutionsbewegung von 1848/49.
21
Das gilt in noch höherem Maße für Lenins Einschätzungen, die von der
Warte der neuen Epoche des Imperialismus und der proletarischen Revolution getroffen 22 wurden. Als historische Aufgabe der europäischen Revolutionen von 1848/49 definiert die marxistisch-leninistische Geschichtsschreibung die Durchsetzung und Sicherung der bürgerlichen DemoKratie in ganz Europa bis an die Grenzen des zaristischen Rußlands und die gleichzeitige Konstituierung moderner bürgerlicher Nationalstaaten in Mittel- und Osteuropa. Dennoch wertete Engels den Anteil der Arbeiterklasse an den revolutionären Kämpfen von 1848 um keinen Deut geringer. Im Gegenteil, schärfer noch als früher bezeichnete er die Revolution von 1848/49 als "Werk der Arbeiterklasse", 23 die freilich nur der Bourgeoisie und der bürgerlichen Entwicklung den Wegebnen konnte. In die gleiche Richtung laufen 19 20 21
22 23
Engels. Friedrich, Einleitung zu Karl Marx' "Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850", in: MEW, Bd 22, S. 510, 515. Am klarsten ausgesprochen nach der Revolution in der "Ansprache der Zentralbehörde an den Bund" und in Marx, Karl, Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850, in: MEW, Bd 7, S. 244 f f . , 79. Vgl. Engels. Friedrich, Die Rolle der Gewalt in der Geschichte, in: MEW, Bd 21, S. 407 f . ; konzeptionell am klarsten formuliert in derselbe. An den italienischen Leser, in: MEW, Bd 22, S. 365 f. Für die Bedingungen in England vgl. derselbe, England 1845 und 1885, in: MEW, Bd 21, S. 191 ff. Lenin, W . I . . Über die Juniusbroschüre, in: Werke, Bd.22, Berlin 1960, S. 321. Neben dem erwähnten Vorwort zur italienischen Ausgabe des Kommunistischen Manifests von 1893 vgl. Engels, Friedrich, Vorwort zu "Karl Marx vor den Kölner Geschworenen", in: MEW, Bd 21, S. 198; derselbe, Die Abdankung der Bourgeoisie, in: MEW, Bd 21, S. 383.
Zur internationalen Stellang der Revolution
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Lenins Urteile über den objektiven Gehalt des Kampfes der Arbeiterklasse in der Revolution 24 von 1848/49. Die Auffassung von einer einheitlichen europäischen Revolutionsbewegung ist theoretischer Ausdruck einer neuen Erscheinung in der geschichtlichen Entwicklung. Ein zeitliches Zusammenfallen bürgerlicher Revolutionen 25 in den meisten Ländern des europäischen Kontinents war in diesem Ausmaß erstmalig. Die früheren bürgerlichen Revolutionen, ob in den Niederlanden, in England oder Frankreich, waren, so sehr sie auch in ihrer Bedeutung und Wirkung internationalen Charakter trugen, doch im wesentlichen nationale Revolutionen gewesen - national in dem Sinne, daß sie auf jeweils ein Land beschränkt blieben. Gleichzeitige Revolutionen auch in anderen Ländern bildeten die Ausnahme. Die Ursachen dafür sind wohl in erster Linie darin zu sehen, daß bis gegen Ende des 18. J h . , in der Manufakturperiode der kapitalistischen Entwicklung, noch nicht die Bedingungen für eine bürgerliche Revolution in mehreren Ländern zugleich vorhanden waren. Solche Bedingungen waren voll ausgereift jeweils nur in einem Land, das für ein Ausreifen der kapitalistischen Produktionsweise besonders günstige Voraussetzungen besaß. Das waren in den allerersten Anfängen der kapitalistischen Entwicklung die Niederlande, dann England und schließlich Frankreich. Der revolutionäre Aufschwung von 1830 zeigte jedoch schon ein anderes Bild. Die französische Julirevolution wurde von Revolutionen in Belgien und Polen beantwortet; sie rief revolutionäre Bewegungen in Deutschland und Italien sowie scharfe Wahlrechtskämpfe in England hervor. Aber erst 1848/49 setzte sich diese Tendenz vollständig durch: In allen Ländern des europäischen Kontinents mit Ausnahme Rußlands brachen fast gleichzeitig bürgerlich-demokratische Revolutionen aus. Die in Palermo im Januar 1848 aufzuckende revolutionäre Flamme, durch die Pariser Februarrevolution zu europäischer Bedeutung gelangt, erfaßte kurz nacheinander Deutschland, Italien, Ungarn, Böhmen und Polen. Damit hatte die Revolution internationale Ausmaße angenommen. "Obwohl die sozialistischen Strömungen dieser Epoche im Blutbad der Junitage ertränkt wurden", schrieb Engels dreißig Jahre später, auf die Tatsache gleichzeitiger bürgerlich-demokratischer Revolutionen hinweisend, "hat die Revolution von 1848 dennoch für einen Augenblick Europa - dies darf man nicht ver26 gessen - zu einer Gemeinde gemacht, indem sie es mit ihrer Flamme fast ganz erfaßte."
24
Lenin. W . I . . Die soziale Bedeutung der serbisch-bulgarischen Siege, in: Werke, Bd 18, S. 390. 25 Vgl. MEW, Bd 16, Berlin 1962, S. 200 f . ; Bd 19, S. 35. 26 Marx, Karl/Engels, Friedrich, An das Meeting in Genf, einberufen zur Erinnerung an den 50. Jahrestag der polnischen Revolution von 1830, in: MEW, Bd 19, S. 240.
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Wie der Beginn, so ist auch der Gang der Revolution von 1848/49 nur unter Berücksichtigung des gesamteuropäischen Charakters der Bewegung richtig zu verstehen. Verlauf und Ergebnisse der Revolutionen in den einzelnen Ländern beeinflußten sich gegenseitig. Wenn dies auch in unterschiedlichem Maße geschah, so doch insgesamt in bisher unerreichter, direkter Weise. Entscheidungsschlachten in dem einen Lande hatten meist unmittelbare Wirkungen auf die Entwicklung des Kräfteverhältnisses und die politischen Aktionen der Klassen und Parteien in anderen Ländern. Unübersehbar waren die Folgen der Juniniederlage des französischen Proletariats für den Verlauf der Revolutionen in sämtlichen übrigen europäischen Ländern. Die Junischlacht wurde zum Wendepunkt der Revolutionen in ganz Europa. Der Kampf zwischen Revolution und Konterrevolution und sein schließlicher Ausgang ist also nicht nur aus den inneren Bedingungen eines Landes heraus zu erklären. 27 Er war auch wesentlich bestimmt durch das internationale Kräfteverhältnis. Gerade durch eine solche Betrachtungsweise zeichnete sich die "Neue Rheinische Zeitung" aus. Sie betrachtete in allen ihren Artikeln die Auseinandersetzungen zwischen Revolution und Konterrevolution unter gesamteuropäischem Aspekt und widmete eine Reihe grundlegender Artikel speziell den Problemen des Verlaufs der "europäischen Revolution". "Die europäische Revolution beschreibt einen Kreislauf", schrieb Marx rückblickend im November 1848. "In Italien begann sie, in Paris nahm sie europäischen Charakter an, in Wien war der erste Widerschlag der Februarrevolution, in Berlin der Widerschlag der Wiener Revolution. In Italien, zu Neapel, führte die europäische Kontrerevolution ihren ersten Schlag; in Paris - die Junitage - nahm sie einen europäischen Charakter an, in Wien war der erste Widerschlag der Juni-Kontrerevolution, in Berlin vollendet sie sich und 28
kompromittiert sie sich." Die Gleichzeitigkeit revolutionärer Bewegungen auf dem europäischen Kontinent Mitte des 19. Jh. hatte vor allem zwei Ursachen. Begünstigt wurde diese Entwicklung zunächst durch die komplizierte internationale politische Kräftekonstellation in Mittel- und Osteuropa. Indem die bürgerliche Revolution von Westeuropa, wo sie sich im wesentlichen bereits durchgesetzt hatte, jetzt auf Mitteleuropa übergriff, stieß sie mitten hinein in den trotz aller Schwächung im Ergebnis der französischen Julirevolution von 1830 immer noch mächtigen reaktionären Mächteblock der "Heiligen Allianz", beschwor sie die Gefahr einer Sprengung des seit 1815 bestehenden und immer noch relativ festgefügten internationalen Staatensystems herauf und rollte damit gleichzeitig die außerordentlich verwickelten 27 Engels, Friedrich, Vermittlung und Intervention. Radetzky und Cavaignac (NRhZ, 1.9.1848), in: MEW, Bd 5, Berlin 1959, S. 377. 28 Marx, Karl, Die Kontrerevolution in Berlin (NRhZ, 12.11.1848), in: MEW, Bd 6, S. 9 f.
Zur internationalen Stellung der Revolution
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Beziehungen innerhalb jener reaktionären Staatsgebilde - Preußen und Österreich - auf, die als Vielvölkerstaaten eine oder mehrere Nationen brutal unterdrückten und an einer selbständigen nationalen Staatsbildung hinderten. So mußte ein Aufschwung der revolutionären Bewegung in Deutschland, der sich notwendigerweise in erster Linie gegen Preußen und Österreich richtete, gleichzeitig die Entfaltung der nationalrevolutionären Befreiungsbewegungen in Polen, Böhmen, Ungarn und Italien fördern. Wir kommen hierauf später noch zurück. Die tiefere Ursache dafür, daß die Revolution sofort europäische Ausmaße annahm, ist zweifellos in der seit 1789 wesentlich fortgeschritteneren Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise auf dem gesamten europäischen Kontinent, mit Ausnahme Rußlands, zu suchen. Die kapitalistische Entwicklung war nicht mehr auf ein einziges Land beschränkt; sie hatte direkt oder indirekt ganz Europa erfaßt. Bei allen Unterschieden im sozialökonomischen Entwicklungsstand zwischen den einzelnen revolutionierten Ländern Mittel- und Osteuropas war allen gemeinsam, daß sie bereits in die Entwicklung des Kapitalismus einbezogen waren. Der Niveauunterschied zwischen diesen Ländern war bedeutend geringer als ein halbes Jahrhundert zuvor zwischen dem revolutionären Frankreich und dem übrigen europäischen Kontinent. E r war bei allen Übergängen und Abstufungen kein qualitativer Unterschied mehr. Dieser Zustand war das Ergebnis zweier großer historischer Entwicklungsprozesse: der im Gefolge der Französischen Revolution von 1789 in den meisten europäischen Ländern begonnenen und schrittweise erfolgenden Beseitigung feudaler Hemmnisse einerseits und der industriellen Revolution andererseits. Die teils auf revolutionäre^, meist aber auf reformerischem Wege eingeleiteten bürgerlichen Umgestaltungen hatten der kapitalistischen Entwicklung vor allem in den italienischen und deutschen Staaten, wenn auch sehr unterschiedlich, günstige Bedingungen geschaffen und den Weg geebnet. Der Kapitalismus hatte sich ziemlich gleichmäßig über Zentral- und zum Teil über Südost- und Osteuropa ausgebreitet. Dieser relativ gleichmäßige Entwicklungsstand des Kapitalismus war die eigentliche Grundlage für das gleichzeitige Aufbrechen des revolutionären Konflikts zwischen der modernen kapitalistischen Produktionsweise und den verrotteten und historisch überholten feudalabsolutistischen Verhältnissen in der Mehrzahl der Länder Europas. Doch ist die relativ gleichmäßige Einbeziehung all dieser Länder in die kapitalistische Entwicklung nicht zu begreifen, wenn man nicht die gleichzeitige industrielle Umwälzung und ihre Wirkungen berücksichtigt. Ende des 18. Jh. in England begonnen, griff sie um die Jahrhundertwende auf Frankreich über und setzte Mitte der 30er Jahre des 19. Jh. in
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Deutschland voll ein.
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Damit begann das Maschinenzeitalter des Kapitalismus, der eigent-
liche Industriekapitalismus, der den Hintergrund für die volle Durchsetzung und den endgültigen Sieg der bürgerlichen Gesellschaftsordnung bildete. War schon von wesentlicher Bedeutung, daß die industrielle Umwälzung bereits in Mitteleuropa selbst begonnen hatte, so dürfen gerade für die Anfangszeit der industriellen Revolution ihre "Fernwirkungen" über die Konkurrenz durch die maschinelle Produktion der fortgeschrittensten Länder, vor 30 allem Englands, nicht übersehen werden. Es ist immerhin bezeichnend, daß die revolutionäre Bewegung im deutschen Proletariat und speziell die Erhebung der schlesischen Weber, die wesentlich zur Verschärfung der revolutionären Situation im Vormärzdeutschland beitrugen, u . a . mit der scharfen Konkurrenz des englischen Industriekapitalismus zus ammenhingen. Die relativ bedeutenden Fortschritte der kapitalistischen Entwicklung in den noch unter feudalabsolutistischen Herrschaftsverhältnissen stehenden Ländern des europäischen Kontinents seit 1789 machten ein halbes Jahrhundert später den Sturz dieser Herrschaft und die volle Beseitigung der feudalen Verhältnisse unaufschiebbar. Vor dieser Frage standen nun aber bis auf Rußland alle übrigen europäischen Staaten. Das hatte Engels im Auge, als er 1850 die bürgerliche Revolution von 1848/49 mit der ersten, der frühbürgerlichen Revolution 1517 - 1525 in Deutschland verglich und dabei nachdrücklich die grundverschiedenen sozialökonomischen Voraussetzungen im europäischen Maßstab hervorhob, die zu Beginn des 16. Jh. nur eine isolierte Bewegung in Deutschland, 1848/49 jedoch eine gesamteuropäische Revolution hervorbrachten. "Die Revolution von 1525 war eine deutsche Lokalangelegenheit. Engländer, Franzosen, Böhmen, Ungarn hatten ihre Bauernkriege schon durchgemacht, als die Deutschen den ihrigen machten. War schon Deutschland zersplittert, so war Europa es noch weit mehr. Die Revolution von 1848 war keine deutsche Lokalangelegenheit, sie war ein einzelnes Stück eines großen europäischen Ereignisses. Ihre treibenden Ursachen, während ihres ganzen Verlaufs, sind nicht auf den engen Raum eines einzelnen Landes, nicht einmal auf den eines Weltteils zusammengedrängt. Ja, die Länder, die der Schauplatz dieser Revolutionen waren, sind gerade am wenigsten bei ihrer Erzeugung beteiligt. Sie sind mehr oder weniger bewußt- und willenlose Rohstoffe, die 29
Zur Problematik der industriellen Revolution in Europa und speziell in Deutschland vgl. Mottek, Hans, Zum Verlauf und zu einigen Hauptproblemen der industriellen Revolution in Deutschland, in: Mottek/Blumberg/Wutzmer/Becker, Studien zur Geschichte der industriellen Revolution in Deutschland, Berlin 1960, S. 11 ff. 30 Bereits in der "Deutschen Ideologie" machten Marx und Engels auf diesen Umstand aufmerksam (vgl. MEW, Bd3, Berlin 1958, S. 61).
Zur internationalen Stellung der Revolution
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umgemodelt werden im Verlauf einer Bewegung, die uns unter den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen allerdings nur als eine fremde Macht erscheinen kann, obwohl sie 31 schließlich nur unsre eigne Bewegung ist." In diesem Zusammenhang verdient eine besondere Erscheinung Beachtung, die bei den bürgerlichen Revolutionen von 1848/49 erstmals auftauchte und sowohl das fortgeschrittene Stadium der Entwicklung des Kapitalismus im Weltmaßstab als auch die bereits weitgehend erfolgte Einbeziehung der revolutionierten Länder in die kapitalistische Entwicklung widerspiegelte. War der Widerspruch zwischen der aufstrebenden kapitalistischen Gesellschaft und den überholten feudalen Verlmitnissen die Grundlage für die bürgerlichen Revolutionen, so wurde der Ausbruch, und vor allem der Zeitpunkt des Ausbruchs, erstmalig wesentlich bestimmt durch das Aufbrechen eines Widerspruchs innerhalb der gerade erst zur Alleinherrschaft drängenden kapitalistischen Ordnung: durch die internationale zyklische Wirtschaftskrise von 1847. Ihr Auftreten und ihr Verlauf war, wie Marx und Engels später feststellten, von großer Bedeutung für Beginn, Verlauf und Ausgang der bürgerlichen Revolution 32 von 1848/49.
Es zeigte sich, "daß die Welthandelskrise von 1847 die eigentliche Mutter
der Februar- und Märzrevolutionen gewesen und daß die seit Mitte 1848 allmählich wieder eingetretene, 1849 und 1850 zur vollen Blüte gekommene industrielle Prosperität die bele33 bende Kraft der neuerstarkten europäischen Reaktion war". An dieser Tatsache wurde besonders deutlich, welch starken Einfluß 1848/49 bereits die inneren Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus auf den Verlauf der bürgerlichen Revolution hatten, die erst den endgültigen Sturz des Feudalismus und damit die Bedingungen für eine ungehinderte Entfaltung der neuen Gesellschaft bringen sollte. Das Schicksal der Revolution hing deshalb auch in hohem Maße vom Gang der Ereignisse in den am weitesten entwickelten Ländern Europas, von England und Frankreich ab. England war damals das fortgeschrittenste kapitalistische Land. Es hatte eine Monopolstellung auf dem kapitalistischen Weltmarkt. Diese Position verlieh England ein bedeutendes Gewicht in den Auseinandersetzungen zwischen Revolution und Konterrevolution. 31 Engels, Friedrich, Der deutsche Bauernkrieg, in: MEW, Bd 7, S. 413. 32 Schon 1850 erwähnte Marx die stimulierende Wirkung der Krise für den Ausbruch der französischen Februarrevolution (ebenda, S. 16). 33 Engels, Friedrich, Einleitung zu Karl Marx' "Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850", in: MEW, Bd 22, S. 512. Engels bezieht sich hier auf den Nachweis des Zusammenhangs zwischen Wirtschaftskrise von 1847 und Revolution von 1848/49 in der "Revue, Mai bis Oktober 1850" (vgl. MEW, Bd 7, S. 428-440; vgl. auch Friedrich Engels an Eduard Bernstein, 25.-31.1.1882, in: MEW, Bd 35, Berlin 1967, S. 268). Lenin, W.I., Die russische Revolution und die Aufgaben des Proletariats, in: Werke, Bd 10, Berlin 1959, S. 131.
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Eben diese Monopolstellung war aber auch die Ursache dafür, daß England von der Welle 34 der Revolution nicht ergriffen und 1848/49 zur konterrevolutionären Kraft wurde , die freilich nicht feudalen, sondern bürgerlichen Charakters war. Das reaktionäre England richtete sich nicht so sehr gegen die Durchsetzung bürgerlicher Verhältnisse auf dem Kontinent schlechthin, als vielmehr gegen das im Ringen um den vollen Sieg und den Ausbau der bürgerlichen Ordnung mit dem Auftreten des Proletariats innerhalb der bürgerlichen Revolutionen temporär starke antibourgeoise Element. Auch spielten kapitalistische Konkurrenzgründe zweifellos schon eine große Rolle in der revolutionsfeindlichen Politik der englischen Bourgeoisregierung. Englands konterrevolutionäre Stellung von 1848/49 als Staat war nur der konzentrierteste Ausdruck der konterrevolutionären Haltung der gesamten, um den Bestand ihrer politischen Herrschaft bangenden europäischen Bourgeoisie gegenüber den entschieden demokratischen Kräften der bürgerlichen Revolution und insbesondere gegenüber dem Proletariat. In diesem Sinne begriffen Marx und Engels die antirevolutionäre 35 Rolle Englands im Jahre 1848/49. Die Gleichzeitigkeit bürgerlicher Revolutionen in einer Vielzahl europäischer Länder in der Mitte des 19. Jh. wirft zwangsläufig die Frage auf, welchen Platz die einzelnen revolutionären Völker in dem einheitlichen revolutionären Prozeß einnahmen, welchen Beitrag jedes einzelne Land bei der Verwirklichung des bürgerlichen Fortschritts in ganz Europa zu leisten hatte und leistete. Insbesondere ist von Interesse, welchem der Länder, in denen ein revolutionärer Ausbruch stattfand, eine zentrale Rolle bei der Bewältigung der historischen Aufgaben in ganz Europa zukam. Für eine solche Rolle kamen vor allem die drei fortgeschrittensten Länder Europas in Frage: England, Frankreich und Deutschland. Ihr Verhältnis zueinander in den zu erwartenden revolutionären Verwicklungen in Europa bildete das Kernstück der auf Gesamteuropa ausgerichteten politischen Konzeption von Marx und Engels am Vorabend der Revolution. 36 Wie Herwig Förder nachwies , erwarteten Marx und Engels zunächst einen Ausbruch der Revolution in Deutschland, die hier ausgesprochen bürgerlichen Charakter annehmen würde. Ihr Fortgang bis zur endgültigen Sicherung bürgerlich-demokratischer Verhältnisse im 34
Marx. Karl, Die revolutionäre Bewegung in Italien (NRhZ, 30.11.1848), in: MEW, Bd 6, S. 77 ff.; vgl. aber vor allem Marx/Engels, Revue, Mai bis Oktober 1850, in: MEW, Bd 7, S. 440. 35 Vgl. Engels. Friedrich, Die Polendebatte in Frankfurt (NRhZ, 7.9.1848), in: MEW, Bd 5, S. 359-363; Marx, Karl. Die revolutionäre Bewegung in Italien, in: MEW, Bd 6, S. 77 ff.; derselbe. Die revolutionäre Bewegung (NRhZ, 1.1.1849), in: Ebenda, S. 149. Vgl. auch Engels' spätere Einschätzung: England 1845 und 1885, in: MEW, Bd 21, S. 191. 36 Förder, Herwig, S. 278 ff.
Zur internationalen Stellung der Revolution
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Lande und zu einer von ihnen damals f ü r möglich gehaltenen Wetterführung über den Rahmen einer bürgerlich-demokratischen Revolution hinaus hing nach i h r e r Meinung jedoch vom Ausbruch von Revolutionen in England und Frankreich ab. Revolutionen in diesen beiden Ländern konnten, so meinten Marx und Engels, schon eine höhere Stufe erreichen und in Frankreich zu einer Diktatur der revolutionär-demokratischen Volksmassen unter führender Anteilnahme der Arbeiterklasse, in England sogar zur politischen Herrschaft der A r beiterklasse führen. So wenig sich die hochgespannten Erwartungen von der Überleitung der bürgerlichdemokratischen Revolutionen in sozialistische damals erfüllen konnten, sosehr haben Marx und Engels mit i h r e r Konzeption vom Gang einer europäischen Revolutionsbewegung in der Grundlinie doch recht behalten. Die Revolutionen von 1848/49 bestätigten - wenn auch mit negativem Vorzeichen r ihre richtige Wertung revolutionärer Bewegungen in England und Frankreich f ü r den Verlauf der Revolution in Deutschland und in Mitteleuropa. England wurde nicht - wie Marx und Engels erwartet hatten - in die Revolution einbe37 zogen; es entpuppte sich statt dessen als stabiler "kontrerevolutionärer Fels im M e e r " . Der englischen Chartistenpartei, die 1848 mit der zweiten großen Petitionsbewegung f ü r die Volkscharter zu einem Waffengang mit der Bourgeoisie antrat, gelang es nicht, eine Revolution auszulösen. Ihre vorgesehene Massendemonstration vom 10. April 1848, die der Petition Nachdruck verleihen sollte und Ausgangspunkt revolutionärer Kämpfe werden konnte, endete infolge des Versagens der opportunistischen F ü h r e r der Chartisten mit einem Fiasko. "In London, den 10. April, wurde nicht nur die revolutionäre Macht der Chartisten, es wurde auch zuerst die revolutionäre Propaganda des Februarsiegs gebro, „38 chen." Das hatte nachhaltige negative Folgen für den Gesamtverlauf der europäischen Revolution. Das Ausbleiben einer Revolution in England trug wesentlich dazu bei, die revolutionären Energien auf dem Kontinent zu lähmen. Das englische Proletariat, die entwickeltste Arbeiterklasse j e n e r Zeit, vermochte seine revolutionäre Kampfkraft im Ringen zwischen Revolution und Konterrevolution in Europa nicht in die Waagschale zu werfen. Marx und Engels haben während der Revolution nachdrücklich darauf aufmerksam gemacht, England 37
38
Engels. Friedrich, Die Polendebatte in Frankfurt, in: MEW, Bd 5, S. 359. Die Frage, weshalb England nicht in die revolutionäre Entwicklung einbezogen wurde, untersucht hauptsächlich f ü r die beginnenden dreißiger J a h r e , gleichwohl aber mit prinzipiellen Schlußfolgerungen auch f ü r 1848 Rud£, George, Why was there no Revolution in England in 1830 or 1848?, in: Studien über die Revolution, hg. von Manfred Kossok, Berlin 1969, S. 231 f f . , insbesondere S. 243 f . Marx, Karl, Die revolutionäre Bewegung in Italien, in: MEW, Bd 6, S. 77; Kunina, V . E . , Karl Marks i anglijskoe rabocee dvizenie, Moskau 1968.
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im Interesse der revolutionären Bewegung zum Sturz des Absolutismus auf dem Kontinent zu revolutionieren, und zielstrebig darauf hingearbeitet. Als Hauptmittel erschien ihnen unter den damaligen Bedingungen, England in einen militärischen Konflikt von europäischen 39 Ausmaßen zu verwickeln , der durch Ausweitung lokaler militärischer Ause inander setzun40 gen wie etwa des deutsch-dänischen Kriegs ausgelöst werden könnte oder im Gefolge 41 einer erneuten französischen Revolution entstehen würde. Auch in Frankreich verlief die Entwicklung etwas anders, als zunächst von Marx und Engels angenommen wurde. Zwar brach hier - wie erwartet - eine ihrem Charakter nach bürgerlich-demokratische Revolution aus. Auch schien diese dank dem machtvollen selbständigen Auftreten der Arbeiterklasse anfangs bestimmte Möglichkeiten für die E r richtung einer revolutionär-demokratischen Diktatur des Volkes und eine Weiterführung über den engen bürgerlichen Rahmen hinaus in sich zu bergen. 42 Zumindest beschwor sie, wie Marx und Engels sofort während und nach der Revolution und selbst in späteren Jahrzehnten immer wieder betonten, temporär gewisse Gefahren für den Bestand der 43 bürgerlichen Klassenherrschaft herauf. Aber die französische Revolution begann nicht - wie angenommen - im Gefolge einer bürgerlichen deutschen Revolution, sondern sie eröffnete selbst den Reigen der europäischen Revolutionen. Diese Tatsache hatte erheblichen Einfluß auf den Gang der europäischen und insbesondere der deutschen Revolution. Die französische Februarrevolution beschleunigte zweifellos die revolutionäre Erhebung in den übrigen europäischen Ländern. Doch hatte sie auch, vor allem in bezug auf Deutschland, hemmende Wirkungen. Sie überstürzte die ganze Entwicklung, modifizierte aber auch den Charakter der revolutionären Bewe39 Vgl. Marx. Karl, Die revolutionäre Bewegung (NRhZ, 1.1.1849), in: MEW, Bd 6, S. 150; der gleiche Gedanke auch in derselbe, Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850, in: MEW, Bd 7, S. 19. 40 Vgl. Engels, Friedrich, Der dänisch-preußische Waffenstillstand (NRhZ, 10.9.1848), in: MEW, Bd 5, S. 397. 41 Vgl. Marx, Karl, Die revolutionäre Bewegung, in: MEW, Bd 6, S. 149 f. 42 Vgl. derselbe, Die Junirevolution (NRhZ, 29.6.1848), in: MEW, Bd 5, S. 135. Vgl. ferner derselbe, Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 185'0, in: MEW, Bd 7, S. 16-34; derselbe, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in: MEW, Bd 8, S. 120 ff. 43 Engels, Friedrich, Die Rolle der Gewalt in der Geschichte, in: MEW, Bd 21, S. 424; derselbe, Einleitung zu Karl Marx' "Bürgerkrieg in Frankreich", in: MEW, Bd 22, S. 189; derselbe, Einleitung zur englischen Ausgabe der "Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft", in: Ebenda, S. 306.
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44 gung.
Die deutsche Bourgeoisie kam nicht aus eigener Kraft an die Macht, sondern
gleichsam im Gefolge einer Revolution außerhalb Deutschlands, in der die Arbeiter schon eine hervorragende Rolle spielten. Mehr noch: Auch die revolutionäre Bewegung in Deutschland selbst, der sie natürlich in erster Linie ihre politischen Machtpositionen verdankte, hatte unter dem Einfluß der Pariser Februarrevolution sofort zu Beginn eine wesentlich entschiedenere demokratische Entwicklungsstufe erreicht, als von der Bourgeoisie angestrebt und erwartet. Beides, vor allem aber der Umstand, daß sich die Februarrevolution, wie Engels es ausdrückte, als eine Revolution der Arbeiterklasse gegen die Bourgeoisie 45 ankündigte
, verstärkte die ohnehin antirevolutionären Tendenzen der nach der Macht
strebenden Bourgeoisieklasse, ja leitete teilweise bereits deren Entwicklung zu einer direkt konterrevolutionären Kraft ein. Es bedarf keiner näheren Erörterung, daß das frühzeitige Abschwenken der Bourgeoisie, jener Klasse, der historisch die Führung in den bürgerlichen Revolutionen zukam, die revolutionäre Entwicklung hemmen, ja ihren erfolgreichen Fortgang gefährden mußte. Noch bedeutender für den Gang 46 der europäischen Revolution aber waren die Pariser Juniereignisse des Jahres 1848. Hier brach sich die revolutionäre Energie der demokratischen Kraft der Gesellschaft, der Arbeiterklasse, an der Übermacht der um ihre Herrschaft bangenden, durch und durch konterrevolutionären französischen Bourgeoisie. Durch diesen massiven konterrevolutionären Rückschlag wurden nicht nur in Frankreich alle zunächst real erscheinenden Möglichkeiten einer fortschrittlichen, aufsteigenden revolu47 tionär-demokratischen Entwicklung im Interesse der Volksmassen radikal ausgelöscht , sondern darüber hinaus der Widerschlag der Konterrevolution in ganz Europa eingeleitet. Der revolutionären Entwicklung in Frankreich hat die marxistisch-leninistische Geschichtsschreibung von Anfang an entscheidende Bedeutung für ganz Europa beigemessen. 44
Diese Einschätzung treffen Marx und Engels im Verlaufe der Revolution. Zum ersten Mal in Marx, Karl, Die Bourgeoisie und die Kontrerevolution (NRhZ, 10. und 15.12.1848), in: MEW, Bd 6, S. 105-108; zusammengefaßt in Engels, Friedrich, Revolution und Konterrevolution in Deutschland, in: MEW, Bd 8, S. 23, 39 f. Von der hier entwickelten Konzeption über die spezifischen Folgen der Februarrevolution sind Marx und Engels auch später nie abgegangen (vgl. dazu derselbe, Marx und die "Neue Rheinische Zeitung", in: MEW, Bd 21, S. 17 f . ) . 45 Vgl. derselbe, Revolution und Konterrevolution in Deutschland, in: MEW, Bd 8, S. 39. 46 Vgl. Winkler. Gerhard. Die Erfahrungen der Pariser Juniinsurrektion 1848 im Spiegel der "Neuen Rheinischen Zeitung", in: ZfG, 1970, H. 10, S. 1325 ff. 47 Vgl. Lenin, W.I«, Über die zwei Linien in der Revolution, in: Werke, Bd 21, S. 422 f . ; derselbe. Woher kamen und "kommen", klassenmäßig gesehen, die Cavaignac?, in: Werke, Bd 25, Berlin 1960, S. 83 f.
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Frankreich war das Land, von dem unter den damaligen Bedingungen allein der Anstoß für einen weiteren Aufschwung der Revolution wie für einen Vormarsch der Konterrevolution in Europa kommen konnte; "solange England an dem revolutionären Ringen nicht teilnahm und Deutschland zersplittert blieb", schrieb Engels 1852, "war Frankreich dank seiner nationalen Unabhängigkeit, seiner Zivilisation und Zentralisierung das einzige Land, 48 das den Ländern ringsum den Anstoß zu einer gewaltigen Erschütterung geben konnte". Hatte schon die Wirkung der Februarrevolution dafür gewisse Anhaltspunkte gegeben, so trat die exponierte Stellung Frankreichs in der europäischen Revolutionsbewegung mit der Juniinsurrektion
vollends zutage. Marx und Engels gebührt das Verdienst, den historischen
Platz und die einschneidenden Wirkungen der Junischlacht in Paris und ihrer Niederlage als erste klar bestimmt zu haben. Sie definierten bereits während der Revolution die Junierhebung der Pariser Arbeiter als das 4 9 " Z e n t r u m . . . , worum sich die europäische Revolution und Kontrerevolution dreht". In Paris fiel in gewisser Weise die Entscheidung über den Gang der europäischen Revolution. Die Juniinsurrektion wurde zu ihrem eigent50 liehen Wendepunkt.
"In den 40 000 Arbeitern hatten Cavaignacs Dreihunderttausend nicht
nur die 40 000 Arbeiter, sie hatten, ohne es zu wissen, die europäische Revolution besiegt." In ihrer gesamten Publizistik in der "Neuen Rheinischen Zeitung" konzentrierten sich Marx und Engels nach der Pariser Junischlacht darauf, "nachzuweisen, daß mit der Unterjochung der Arbeiterklasse, welche Februar und März gemacht hatte, gleichzeitig ihre Gegner besiegt wurden - die Bourgeoisrepublikaner in Frankreich, die den feudalen Absolutismus bekämpfenden Bürger- und Bauernklassen auf dem gesamten europäischen Kontinent; daß der Sieg der 'honetten Republik' in Frankreich gleichzeitig der Fall der Nationen war, die auf die Februarrevolution mit heroischen Unabhängigkeitskriegen geantwortet hatten; daß endlich Europa mit der Besiegung der revolutionären Arbeiter in 52 seine alte Doppelsklaverei zurückfiel, in die englisch-russische Sklaverei". Ohne e r neute Erhebung des französischen Proletariats und gleichzeitige Unterdrückung der konterrevolutionären französischen Bourgeoisie sahen Marx 53und Engels wenig Chancen für einen Der tiefgreifende Einfluß der pro-
Sieg der demokratischen Kräfte im übrigen Europa.
letarischen Juniinsurrektion in Paris auf den Gang der gesamten europäischen Revolution 48 Engels, Friedrich, Revolution und Konterrevolution in Deutschland, in: MEW, Bd 8, S. 57 f. 49 Marx, Karl. Cavaignac und die Junirevolution (NRhZ, 14.11.1848), in: MEW, Bd 6, S. 19. 50 Diese Einschätzung der Junirevolution durch Marx und Engels bleibt bis zu ihrem Lebensende unverändert. 51 Derselbe, Die revolutionäre Bewegung in Italien, in: Ebenda, S. 79.
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war ein weiterer Ausdruck dafür, welch große Bedeutung die Widersprüche und Konflikte innerhalb der noch aufstrebenden kapitalistischen Gesellschaftsordnung bereits f ü r das Schicksal der bürgerlichen Revolution besaßen. Zum ersten Mal zeigte sich hier die direkte Abhängigkeit sämtlicher fortschrittlicher Bewegungen und Bestrebungen vom selbständigen Kampf der Arbeiterklasse. Nach all dem kann kein Zweifel bestehen, daß Frankreich zu dieser Zeit das europäische Land war, von dem entscheidende revolutionäre Impulse für die ganze europäische Revolutionsbewegung ausgingen. Dessen revolutionäre Auseinandersetzungen besaßen, weil schon auf höherer Stufe stehend und sich als Kampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie offenbarend, größten Einfluß auf den Verlauf der europäischen Revolution. Aber das, was in Frankreich vor sich ging, eilte schon wesentlich dem voraus, was es in der Mehrzahl der revolutionierten Länder Europas zunächst zu bewältigen galt: die Installierung der Bourgeoisherrschaft und die Schaffung bürgerlicher Verhältnisse im gesellschaftlichen und politischen Leben. Dieser Gesichtspunkt muß gleichzeitig beachtet werden, wenn man den spezifischen Platz Frankreichs bei der Durchsetzung der bürgerlichen Demokratie in ganz Europa präzis erfassen will. Von den Aufgaben der Epoche des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus her gesehen stand Frankreich 1848/49 nicht mehr wie in den Jahrzehnten vorher im Mittelpunkt der geschichtlichen Bewegung. In Frankreich wie auch in England war die eigentliche Aufgabe der bürgerlichen Revolution längst gelöst. In beiden Ländern war der Feudalismus mit Stumpf und Stiel ausgerottet, die Bourgeoisie an der Macht, die kapitalistischen Produktionsverhältnisse waren zu den herrschenden geworden. Revolutionäre Erschütterungen in diesen Ländern, verursacht durch die tiefen Widersprüche zwischen dem Streben der herrschenden Bourgeoisklasse, die bürgerlich-demokratischen Rechte und Freiheiten soweit als möglich einzuschränken, sie nur so weit zu gewähren, wie sie der Ausbeuterklasse dienten, und dem Drang der Volksmassen und insbesondere der Arbeiter nach weitgehender Demokratisierung des politischen und gesellschaftlichen Lebens, ausgelöst meist durch Konflikte zwischen den verschiedenen Fraktionen der bürgerlichen Klasse, konnten hier objektiv nur einen weiteren Ausbau der bürgerlich-kapitalistischen Ordnung, eine Beseitigung bestimmter, durch die Bourgeoisie verschuldeter Hemmnisse für die freie Entfaltung der Produktivkräfte zum Ziele haben. In dieses Ringen griff bereits das Proletariat entscheidend ein, ja es prägte den Charakter der demokratischen Bewegung. Eine weiter-
52 53
Derselbe. Lohnarbeit und Kapital (NRhZ, 5.4.1849), in: Ebenda, S. 397. Vgl. Engels. Friedrich. Vermittlung und Intervention. Radetzky und Cavaignac (NRhZ, 1.9.1848), in: MEW, Bd 5, S. 377.
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gehende revolutionäre Perspektive aber lag noch außerhalb des Bereichs objektiver und subjektiver Möglichkeiten. Die Lösung des Widerspruchs zwischen Kapital und Arbeit, die Beseitigung der kapitalistischen Ausbeutungsverhältnisse stand trotz aller F o r t g e schrittenheit der Verhältnisse in England und Frankreich 1848/49 noch nicht auf der 54 Tagesordnung. Darauf hat Engels in den 90er Jahren wiederholt aufmerksam gemacht. 1848/49 hatte Frankreich seine Rolle als Schwerpunkt der Bewegung des Bürgertums verloren. Spricht man von einer zentralen Stellung der französischen Revolution innerhalb der europäischen revolutionären Bewegung, so muß man im Auge behalten, daß diese vor allem auf einer welthistorisch neuen Bewegung, auf dem Kampf des P r o l e t a r i a t s gegen die Bourgeoisie beruhte, der in diesem Lande damals seine höchste Stufe e r r e i c h t e . Insofern Sieg oder Niederlage dieser Kämpfe bereits das Schicksal der bürgerlichen Revolution mitbestimmten, ist es berechtigt, Frankreich als ein Zentrum der revolutionären Bewegung in Europa zu bezeichnen. Marx und Engels faßten die Stellung Frankreichs 1848/49 gerade in diesem Sinne. Dabei spielten in den 40er und- teilweise noch zu Beginn der 50er J a h r e stark Überlegungen hinein, daß die europäische Revolutionsbewegung rasch in sozialistische Bahnen übergehen würde. In diesen Vorstellungen nahm die fortgeschrittenere französisch J Revolution einen außerordentlich gewichtigen Platz ein. Die T a t sache aber, daß die neu i geschichtliche Bewegung des Proletariats zu diesem Zeitpunkt objektiv noch nicht zum Siege kommen konnte, darf bei der Einschätzung der objektiven Rolle Frankreichs in der europäischen Revolutionsbewegung nicht außer acht bleiben. Sie läßt doch erhebliche Einwände dagegen aufkommen, Frankreich als das alleinige Zentrum der revolutionären Bewegung zu betrachten.
Es scheint außer Zweifel, daß von Frankreich aus die historischen Aufgaben der Übergangsepoche in Europa nicht zu bewältigen waren. Der Gleichklang der politischen und gesellschaftlichen Interessen, der nach 1789 zwischen Frankreich und den übrigen Ländern des europäischen Kontinents bestanden hatte, nämlich den Feudalabsolutismus zu zerschlagen, war 1848/49 nicht mehr vorhanden. Endgültig entschieden werden mußte 54
Vgl. derselbe, Einleitung zu Karl Marx' "Bürgerkrieg in Frankreich", in: MEW, Bd 22, S. 189 f . ; derselbe. Vorwort zur italienischen Ausgabe des "Manifestes der Kommunistischen P a r t e i " , in: Ebenda, S. 365; derselbe, Einleitung zu Karl Marx' "Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850", in: Ebenda, S. 515. In die gleiche Richtung laufen Lenins Urteile. Vgl. vor allem: Lenin, W . I . , Das Agrarprogramm der Sozialdemokratie in der ersten russischen Revolution von 1905 bis 1907, in: Werke, Bd 13, S. 401.
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31 55
der Sieg der bürgerlichen Demokratie in Europa außerhalb Frankreichs
, und zwar in
einem Land, in dem die Aufgaben der bürgerlichen Revolution noch zu lösen waren, deren Lösung im Innern dann aber zugleich unmittelbar auf die Durchsetzung der bürgerlichen Ordnung in den übrigen Ländern Europas einwirkte. Ein solches Land war in erster Linie Deutschland. In Deutschland war die historische Aufgabe jener Zeit, die Vernichtung des Feudalabsolutismus und die Durchsetzung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsordnung, noch nicht gelöst. Deutschland befand sich damit in der gleichen Lage wie die meisten Länder des europäischen Kontinents, in denen der bürgerliche Fortschritt noch nicht gesiegt hatte. Diese grundsätzliche Übereinstimmung zwischen den Aufgaben der deutschen und der europäischen Revolution ist der Springpunkt für das Verständnis der spezifischen Rolle Deutschlands in der Mitte des 19. Jh. als eines Zentrums der geschichtlichen Bewegung, die die Überwindung der feudalen Verhältnisse und den Aufstieg der bürgerlichen Demokratie in ganz Europa zum Inhalt hatte. Als Marx und Engels im "Kommunistischen Manifest" am 'Vorabend der Revolution ihre Auffassung über die Stellung Deutschlands in der bevorstehenden Revolution in Europa 56 fixierten
, taten sie das gewiß mit dem Blick auf die erwartete sozialistische Perspektive
einer gesamteuropäischen revolutionären Entwicklung, die sich wesentlich an Frankreich und England orientierte. Davon zeugt der Hinweis, daß die deutsche bürgerliche 57 Revolution als unmittelbares Vorspiel einer proletarischen Revolution angesehen wurde. Aber es wäre verfehlt, mit der Bemerkung, daß diese letzte Annahme sich als irrig erwies, die Einschätzung von Marx und Engels überhaupt fallen zu lassen. Im Kern bleibt die hier getroffene Wertung dennoch zutreffend. Zunächst muß darauf verwiesen werden, daß Marx und Engels nachdrücklich den ausgesprochen bürgerlichen Charakter der bevorstehenden Revolution in Deutschland hervorhoben, also gerade auf das aufmerksam machten, was Deutschland von England und Frankreich wesentlich unterschied, mit den übrigen Ländern des europäischen Kontinents jedoch gemeinsam hatte. Hinzu kommt der besondere Hinweis, daß in Deutschland die Bedingungen für eine bürgerliche Revolution ausgereift, ihr Ausbruch in greifbare Nähe 55
In ganz anderem Zusammenhang unterschied Engels nachdrücklich zwischen Initiative und Erzwingen der Entscheidung (vgl. Engels. Friedrich, Vorwort zur zweiten durchgesehenen Auf läge " Zur Wohnungsfrage", in: MEW, Bd 21, S. 333). 56 Marx. Karl/Engels, Friedrich, Manifest der Kommunistischen Partei, in: MEW, Bd 4, S. 493. 57 Förder. Herwig. S. 278 f f . , 296, hat, vereinfachende und verabsolutierende Vorstellungen korrigierend, erläutert, in welch weitem europäischen Rahmen diese Feststellung von Marx und Engels über den "Vorabend der proletarischen Revolution" verstanden werden muß.
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gerückt waren.
Von besonderem Interesse aber sind die Bemerkungen über die Situation,
in der die deutsche Revolution sich vollziehen würde. Marx und Engels skizzierten diese Situation durch einen Vergleich mit den Bedingungen, unter denen die englische und die französische Revolution stattfanden. Dieser Vergleich verdient um so mehr unsere Aufmerksamkeit, als e r auch präzis die spezifische Stellung Deutschlands gegenüber den anderen noch unter feudalabsolutistischer Herrschaft stehenden Ländern Europas umreißt. Indem Marx und Engels die fortgeschrittenen Verhältnisse in Deutschland gegenüber denen in Frankreich und England zum Zeitpunkt der bürgerlichen Revolution in diesen Ländern herausarbeiteten, wiesen sie auch auf wesentliche objektive Faktoren hin, die Deutschland gegenüber den übrigen europäischen Ländern, in denen die bürgerliche Revolution noch bevorstand, in eine Sonderstellung brachten. In keinem anderen der noch nicht vom Bürgertum beherrschten europäischen Länder waren die "fortgeschritteneren Bedingungen der europäischen Zivilisation" - die höhere Stufe der kapitalistischen Entwicklung im Weltmaßstab, die durch den Siegeszug der industriellen Revolution gekennzeichnet war - so wirksam geworden wie in Deutschland. Hier wuchs bereits eine Arbeiterklasse heran und war eine selbständige proletarische Bewegung entstanden. Die neuen Widersprüche, die die kapitalistische Ordnung zerrissen, waren unter diesen Ländern allein in Deutschland schon offen aufgebrochen. Es existierte bereits der Gegensatz zwischen Bourgeoisie und Proletariat, und erwar in der ersten Arbeitererhebung von 1844 auch als offener Konflikt zutage getreten. Die alten Widersprüche zwischen Feudalordnung und kapitalistischer Gesellschaft als Ganzem wurden bereits überlagert und verschärft durch die neuen Konflikte innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft. Deutschland nahm gleichsam eine Zwischenstellung zwischen den fortgeschrittenen Ländern Westeuropas und den wirtschaftlich und politisch zurückgebliebenen Ländern des übrigen Kontinents ein. Es gehörte trotz aller Rückständigkeit in der Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise und dem ökonomischen Entwicklungsgrad in der Mitte des 19. Jh. immerhin zu den entwickelten Ländern Europas. Und wenn auch in ungleich geringerem Maße als in England und Frankreich, so hatte doch in Deutschland auch der Klassenkampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie begonnen. Im Unterschied zu England und Frankreich aber stand Deutschland immer noch unter der politischen Herrschaft der 59 adlig-junkerlichen Reaktion , besaß die kapitalistische Produktion noch keine freien 58 Vgl. dazu ebenfalls Förder, Herwig. S. 286 f. 59 Zur Spezifik der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse in Deutschland am Vorabend der Revolution von 1848/49 vgl. Geschichte der-deutschen Arbeiterbewegung, Bd 1, Berlin 1966, S. 85 ff.; ferner Bleiber, Helmut, Zwischen Reform und Revolution, Berlin 1966, S. 201-221.
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Bedingungen für ihre rasche Entfaltung. In dieser Beziehung stand Deutschland prinzipiell auf einer Stufe mit der Masse der mittel- und osteuropäischen Länder, bei denen die kapitalistische Entwicklung noch kaum einen solchen Grad erreicht hatte, daß ihre inneren Widersprüche bereits offen aufbrechen konnten. Zweifellos nahm Deutschland schon auf Grund des fortgeschrittenen Standes seiner ökonomischen und sozialen Entwicklung unter den Ländern, die in der Mitte des 19. Jh. noch ihre bürgerliche Bevolution durchzuführen hatten, eine zentrale Stellung ein, fiel der deutschen Révolution deshalb im Kampf um die Durchsetzung der bürgerlichen Demokratie in Europa auch eine größere Verantwortung zu. +
Um Platz und Rolle der deutschen Revolution im Rahmen der Bewegung von 1848/49 vollständig zu erfassen, muß noch eine weitere wesentliche Seite im Verhältnis Deutschlands zu den anderen einer bürgerlichen Revolution entgegengehenden europäischen Ländern beachtet werden: seine Stellung in der politischen Mächtekonstellation in Mittel- und Osteuropa. Die politisch-staatliche Kräftekonstellation in Europa wurde Mitte des 19. Jh. wesentlich bestimmt durch das reaktionäre Bündnis der stärksten feudalabsolutistischen Staaten Europas, das seit 1815 bestand. Zwar war deren Vormachtstellung in Westeuropa 1830 endgültig gebrochen worden, aber für Mittel- und Osteuropa erwies es sich nach wie vor als das eigentliche Bollwerk der europäischen Feudalreaktion gegen fortschrittliche Bewegung in den einzelnen Ländern. In diesem internationalen Mächteblock, dessen Rückgrat das Bündnis zwischen Österreich, Preußen und Rußland war, sahen Marx und Engels das größte Hemmnis für die Durchsetzung der bürgerlichen Demokratie in Europa. "Worauf stützt sich zunächst die Macht der Reaktion in Europa seit 1815, ja, teilweise seit der ersten französischen Revolution? Auf die russisch-preußisch-österreichische 60
Heilige Allianz", schrieb Engels 1848. Seine eigentliche Stütze besaß dieser europäische Reaktionsblock im zaristischen Rußland, das im Unterschied zu Preußen und Österreich, die beide mit einer bürgerlichen Revolution schwanger gingen, von der kapitalistischen Entwicklung kaum erfaßt und für 61 revolutionäre bürgerliche Umwälzungen noch nicht reif war. Diese Rückständigkeit 60 Engels, Friedrich, Die Polendebatte in Frankfurt, in: MEW, Bd 5, S. 332. 61 Vgl. Lenin, W. I., Die Ergebnisse der Diskussion über die Selbstbestimmung, in: Werke, Bd 22, S. 347 f . ; derselbe, Die sozialistische Revolution und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen, in: Ebenda, S. 152.
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in der sozialökonomischen Entwicklung war der Hauptgrund, weshalb das russische Reich nicht nur 1848/49, sondern noch lange Zeit danach, wie Engels später schrieb, den "letzten 62
großen Rückhalt aller westeuropäischen Reaktion"
bildete. Wollten die bürgerlich-demo-
kratischen Kräfte auf dem europäischen Kontinent ein entscheidendes Übergewicht erlangen und sollte die bürgerlich-kapitalistische Ordnung in den Ländern Mittel-, Süd- und Südosteuropas voll durchgesetzt und gesichert werden, dann mußte die Heilige Allianz fallen, dann mußte vor allem die Vormachtstellung des Zarismus, des eigentlichen Rückgrats der Heiligen Allianz, zerschlagen oder zumindest der zaristische Einfluß auf Europa entschieden zurückgedrängt werden. Das war die conditio sine qua non für einen Sieg der bürgerlichen Revolution in den einzelnen Ländern des europäischen Kontinents. Preußen und Österreich waren die Hauptmächte der Heiligen Allianz in Mitteleuropa und, selbst in Abhängigkeit vom Zarismus, zugleich dessen wichtigste mitteleuropäische Vorposten. Über sie und mit ihrer Hilfe vermochte der Zarismus seinen reaktionären 63 Einfluß auf ganz Europa geltend zu machen. Das Bündnis mit dem Zarismus war andererseits für die feudalabsolutistischen Kräfte in Preußen und Österreich die sicherste Garantie für die Aufrechterhaltung ihrer Herrschaft in Deutschland. Gelang es, diese beiden Verbündeten des Zarismus in Mitteleuropa zu vernichten, so zerfiel die Heilige Allianz, zerbrach die Vormachtstellung des Zarismus, war dessen Gendarmenrolle gegenüber der europäischen bürgerlichen Bewegung ausgespielt, sein Einfluß zurückgedrängt, und der bürgerliche Fortschritt erhielt in ganz Europa freie Bahn. Nun war die Zerschlagung Preußens und Österreichs die erste und ureigenste Aufgabe der deutschen Revolution. Der demokratische deutsche Nationalstaat konnte nur auf den 64 Trümmern dieser beiden Staatengebilde errichtet werden , er mußte aber auch gegen 65 den erbitterten Widerstand äußerer Mächte, vor allem Rußlands, erkämpft werden. Schon wegen dieser Verflechtungen bestand zwischen der Revolution in Deutschland und 62
Engels, Friedrich, Vorbemerkungen zu der Broschüre "Soziales aus Rußland", in: MEW, Bd 18, Berlin 1962, S. 585. 63 Marx und Engels bezeichneten die Heilige Allianz "als Tarnung der Hegemonie des Zaren über alle Regierungen Europas" (vgl. Marx/Engels, An das Meeting in Genf, einberufen zur Erinnerung an den 50. Jahrestag der polnischen Revolution von 1830, in: MEW, Bd 19, S. 239 f . ) . 64 Diese Linie verfolgten Marx und Engels 1848/49. Drohung der Gervinus-Zeitung (NRhZ, 25.6.1848), in: MEW, Bd 5, S. 105; ferner Engels. Friedrich, Die "ZeitungsHalle" über die Rheinprovinz (NRhZ, 27 . 8.1848), in: Ebenda, S. 375; vgl. derselbe, Marx und die "Neue Rheinische Zeitung", in: MEW, Bd 21, S. 20. 65 Vgl. dazu noch derselbe, Die Polendebatte in Frankfurt, in: MEW, Bd 5, S. 334; vgl. auch: Die russische Note, in: Ebenda, S. 298.
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den revolutionären Bewegungen in den übrigen Ländern Mitteleuropas ein enger und wechselseitiger Zusammenhang. Die Zerstörung des internationalen Reaktionsblocks der Heiligen Allianz war eine Grundbedingung für den Aufstieg der bürgerlichen Demokratie in allen Ländern Europas, in denen die bürgerliche Revolution auf der Tagesordnung stand. Weil aber die deutsche Revolution es mit zwei der bedeutendsten und gefährlichsten Großmächte der Heiligen Allianz direkt zu tun hatte, mit deren Niederringung zugleich die ganze Allianz der Reaktion sprengen und dem Zarismus seine Einflußmöglichkeiten auf Europa entziehen mußte, kam dem Gang der Revolution in Deutschland eine besondere, im wahrsten Sinne des Wortes europäische Bedeutung zu. Löste die Revolution im Innern Deutschlands ihre Aufgaben mit demokratischer Konsequenz, zerschlug sie Österreich und Preußen, so schuf sie nicht nur die Voraussetzungen für einen einheitlichen und starken demokratischen deutschen Nationalstaat im Herzen Europas, sondern zerstörte gleichzeitig die Festen der europäischen Reaktion und legte den Weg frei für den Sieg der Demokratie in den übrigen europäischen Ländern. Da Deutschland, um sich demokratisch einigen zu können, sich von äußerer reaktionärer Bevormun66
dung - in erster Linie von der Abhängigkeit vom Zarismus - radikal frei machen mußte
,
war die deutsche Revolution, wollte sie erfolgreich sein, zu einer revolutionären Auseinandersetzung mit der Kernmacht der Heiligen Allianz, zu einem revolutionären Volkskrieg gegen den russischen Zarismus, gezwungen. Eine solche militärische Auseinandersetzung mit dem auswärtigen Gegner der demokratischen Einigung hätte radikalisierende Wirkungen auf die innere Entwicklung der Revolution gehabt und den Sturz Preußens und Österreichs 67 beschleunigt. Die deutsche Revolution war mit den revolutionären Bewegungen in den übrigen europäischen Ländern auch noch durch andere Fäden verknüpft. Preußen und vor allem Österreich, die beiden stärksten konterrevolutionären Gewalten im Innern Deutschlands, waren zugleich Unterdrücker zahlreicher aufstrebender Nationen, der Polen, Tschechen, Slowaken, Ungarn, Italiener und SUdslawen. Beim Ausbruch der Revolution erhoben die unterdrückten Nationen, wie Engels 1852 schrieb, "sofort den Anspruch auf selbständige Existenz und auf 68 das Recht . . . , ihre eigenen Angelegenheiten selbst zu regeln".
Der Sturz Österreichs
und Preußens mußte diesen Völkern ihre nationale Freiheit bringen. Ihre gegen diese 66 67 68
Vgl. derselbe. Die Rolle der Gewalt in der Geschichte, in: MEW, Bd 21, S. 411 f. Vgl. derselbe, Marx und die "Neue Rheinische Zeitung", in: Ebenda, S. 22. Derselbe, Revolution und Konterrevolution in Deutschland, in: MEW, Bd 8, S. 50 f.
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beiden Mächte gerichteten national-revolutionären Energien waren ein enormer Kräftezuwachs für die deutsche Revolution. Die Aufgaben der Revolution in Deutschland und der nationalrevolutionären Bestrebungen in weiten Teilen Europas stimmten objektiv überein. Die deutsche Revolution hatte in den um ihre nationale Befreiung ringenden Völkern echte Bündnispartner sowohl im Ringen mit Preußen und Österreich als auch in einem militärischen Konflikt mit dem zaristischen Rußland, ohne dessen Niederringung auch die Freiheit und Selbständigkeit der Polen, Tschechen, Ungarn, ja selbst der Italiener unerfüllt bleiben mußte. Aus der einheitlichen Frontstellung sämtlicher europäischen Völker, die um die volle Durchsetzung der bürgerlichen Ordnung rangen, gegen die gleichen Feinde, den internationalen Reaktionsbund und seine einzelnen Hauptmächte, ergaben sich objektiv bestimmte Möglichkeiten für ein revolutionäres Kampfbündnis dieser Völker. Ohne Revolution in Deutschland blieben derartige Bemühungen jedoch illusorisch;.umgekehrt trug die deutsche Revolution eine große Verantwortung für den Zusammenschluß aller revolutionären Bewegungen in Europa, wobei ihre Stellung zu den Selbständigkeitsbestrebungen der von Preußen und Österreich unterdrückten Nachbarvölker ausschlaggebend war. Diesem Zwecke galt vor allem Marx' und Engels' Forderung an das revolutionierte Deutschland, einen Revolutionskrieg gegen das Bollwerk der internationalen Reaktion, den Zarismus, zu führen. Einen solchen Krieg hielten sie nicht nur und nicht in erster Linie für einen Sieg der Revolution 69 in Deutschland, sondern "im Interesse der Bewegung auf dem Kontinent" für notwendig. Marx und Engels haben am Vorabend der Revolution diese gegenseitige Abhängigkeit und wechselseitige Durchdringung revolutionärer Prozesse in den drei fortgeschrittensten Ländern Europas - England, Frankreich und Deutschland - erkannt. Ihre Revolutionskonzeption berücksichtigte, wenn auch nicht in gleicher Ausführlichkeit, ebenfalls die Probleme, die sich aus den verwickelten politischen Beziehungen in Mitteleuropa ergaben; sie schloß ganz Europa ein. Die Grundgedanken zum Verhältnis zwischen Deutschland70und den übrigen noch unter "der Herrschaft des patriarchalisch-feudalen Absolutismus" stehenden Ländern Europas in einer europäischen Revolution formulierten Marx und Engels zum ersten Mal bei den Untersuchungen zur polnischen Frage in ihren71Reden anläßlich der polnischen Revolutionsfeiern im November 1847 und Februar 1848. Was sie hier am Beispiel der Beziehungen 69 Ebenda, S. 51. 70 So die Engelssche Definition in derselbe, Die Polendebatte in Frankfurt, in: MEW, Bd 5, S. 360. 71 Vgl. Derselbe, Zum Jahrestag der polnischen Revolution von 1830, in: MEW, Bd 4, S. 413-415; Marx. Karl/Engels, Friedrich, Reden auf der Gedenkfeier in. Brüssel zum 2. Jahrestag des Krakauer Aufstands von 1846 am 22.2.1848, in: Ebenda, S. 519-525.
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zwischen polnischer und deutscher Demokratie als Aufgabe konstatierten, hatte prinzipielle Bedeutung. Es galt in den Grundziigen auch f ü r die Beziehungen eines revolutionären 72 Deutschland zu seinen anderen Nachbarn. Am Beispiel Polens entwickelten Marx und Engels ihre Auffassung, daß eine'ausbrechende deutsche Revolution sofort die von Österreich und Preußen unterjochten Nationen freisetzen müsse. Das sei eine unerläßliche Bedingung für einen Erfolg der Revolution im Innern Deutschlands, denn "eine 73 Nation kann nicht f r e i werden und zugleich fortfahren, andere Nationen zu unterdrücken". Das sich gegen seine nationale Unterdrückung erhebende Polen habe überdies mit einem revolutionären Deutschland gemeinsame Interessen, sie verbinde der Kampf gegen die gleichen Feinde, die in der Heiligen Allianz zusammengeschlossenen Mächte der Reaktion in Europa, gegen Preußen, Österreich und insbesondere gegen Rußland. Die Auseinandersetzung mit der international verbündeten Reaktion 74 erfordere den Zusammenschluß der demokratischen Kräfte der revolutionierten Länder. +
Daß Marx und Engels ihre Konzeption einer gemeinsamen Kampffront der diemokratir sehen Kräfte in der bevorstehenden Revolution gerade am Beispiel Polens entwickelten, rührt daher, daß Polen von vornherein ihr besonderes Interesse galt, weil diesem Land wegen seiner spezifischen Stellung in den zu erwartenden revolutionären Kämpfen in 75 Europa die Rolle eines Vortrupps der gesamteuropäischen Demokratie zufiel. Polen war das einzige Land in Europa, in dem sich jede Bewegung nach nationaler Unabhängigkeit und selbständiger staatlicher Existenz sofort gegen alle drei Hauptmächte der Heiligen Allianz richten mußte. An seiner Teilung und nationalen Unterdrückung waren Preußen,
72
Zum Verhältnis zwischen Deutschland und Italien erschienen schon vor der Revolution in der Deutschen Brüsseler Zeitung einige Artikel, die von Marx und Engels zumindest beeinflußt waren (vgl. Das römische Volk und das "christlich-germanische", in: Ebenda, 8.8.1847; Die Italiener und die Österreicher, inr Ebenda, 8.8.1847; Die Italiener und die Österreicher, in: Ebenda, 26. 9.1847; Papst Pius I. im Kampf mit Metternich und Konsorten, in: Ebenda, 12.11.1847). 73 Engels über Polen am 29.11.1847, in: MEW, Bd 4, S. 417. 74 Vgl. Rede von Friedrich Engels auf der Gedenkfeier in Bitissel am 22.2.1848, in: Ebenda, S. 524. 75 Vgl. dazu Jablonski, Henryk, Die internationale Bedeutung der nationalen Befreiungskämpfe im 18. und 19. Jahrhundert in Polen, in: ZfG, 1956, Beiheft 3, S. 63 f . ; Bobinska. Celina. Marx und Engels über polnische Probleme, Berlin 1958.
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Österreich und das zaristische Rußland beteiligt. Auf ihr beruhte das internationale 76 Reaktionsbtindnis dieser Mächte, es war das Band, das sie zusammenhielt. Eine polnische Revolution mußte hineinstoßen ins Herz der Heiligen Allianz. Als einzige der europäischen Revolutionen sah sie sich der stabilsten Macht der Reaktion, dem russischen Zarismus, unmittelbar gegenübergestellt und mußte diese Macht, ergriff die Revolution alle Landesteile, in die europäische Revolution hineinreißen. Ein Erfolg war mehr noch als in anderen Ländern an eine Alisweitung des Konflikts mit dem zaristischen Rußland von einer rein polnischen zu einer europäischen Angelegenheit geknüpft. Die Losung von der Befreiung Polens besaß daher 1848/49 starke revolutionäre Sprengkraft. Sie war die klarste Kampfansage an die Heilige Allianz, schloß einen offenen Kampf gegen den Zarismus unvermeidlich ein und erschien als das beste Panier, unter dem sich die revolutionären Kräfte der verschiedenen Nationen in ihrem gemeinsamen Ringen 77 mit der gesamteuropäischen Reaktion und ihrer Kernmacht einen konnten. War Polen insurgiert, waren seine nationalen Forderungen durchgesetzt, 'dann hatte die europäische Revolution gesiegt. Polens Wiederherstellung war gleichbedeutend mit dem Ende der Heiligen Allianz und der Beseitigung der Herrschaft des Zarismus übet Europa. "In Sachen der Revolution" betrachteten Marx und Engels Polen deshalb als den "Schlußstein des europäischen Gebäudes; wer von beiden, Revolution oder Reaktion, sich in Polen zu halten 78 vermag, der wird schließlich in ganz Europa herrschen". Die nationale Wiedergeburt Polens war deshalb 1848/49 die zentrale Forderung aller entschieden demokratischen Kräfte in Europa, insbesondere der Vertreter der Arbeiterklasse der fortgeschrittensten Länder, allen voran der Männer der "Neuen Rheinischen Zeitung".
76 Vgl. Engels. Friedrich, Die Polendebatte in Frankfurt, in: MEW, Bd 5, S. 332. Diese Wertung haben Marx und Engels auch in den folgenden Jahrzehnten aufrechterhalten (vgl. MEW, Bd 18, S. 574). 77 Entsprechend erläuterte Engels 1852 die Politik der "Neuen Rheinischen Zeitung" auf diesem Gebiet (vgl. Engels. Friedrich. Revolution und Konterrevolution in Deutschland, in: MEW, Bd 8, S. 51). Diese Linie haben Marx und Engels später wiederholt erklärt (vgl. Marx, Karl/Engels. Friedrich, An das Genfer Komitee zum 50. Jahrestag der polnischen Revolution von 1830 , in: MEW, Bd 19, S. 240; vgl. auch Engels. Friedrich. Marx und die "Neue Rheinische Zeitung", in: MEW, Bd 21, S. 19). 78 Engels. Friedrich. Rede auf der Versammlung zum Jahrestag des polnischen Aufstands 1863, in: MEW, Bd. 19, S. 36.
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Die richtige Gestaltung der auswärtigen Beziehungen der deutschen Revolution war in weit höherem Maße ausschlaggebend für den Verlauf der Revolution im Innern und außerhalb Deutschlands, als dies bei den bürgerlichen Revolutionen in Frankreich oder England der Fall gewesen war. Marx und Engels hatten bereits vor 1848 bei der Skizzierung der Grundlinien internationaler Politik in der zu erwartenden europäischen Revolution am Beispiel der Stellung zu Polen auf das besondere Interesse und die Verantwortung eines revolutionären Deutschlands gegenüber den nationalrevolutionären Befreiungsbewegungen seiner Nachbarvölker aufmerksam gemacht. Während der Revolution entwickelten sie, nun klar auf alle von den beiden großen deutschen Staaten unterjochten 80 Nationalitäten bezogen, ein vollständiges politisches Programm der deutschen Revolution. 81
Als erstes außenpolitisches Postulat
betrachteten Marx und Engels den vollständigen
Bruch mit der bisherigen Unterdrückungspolitik der herrschenden Klassen, wobei sie die große Verantwortung des deutschen Volkes gegenüber seinen Nachbarn auch in der Zeit 82 der Reaktionsherrschaft hervorhoben.
Die Verpflichtung, eine solche Politik nicht
weiter zuzulassen, sei nun, nachdem die Allmacht der Reaktion gebrochen, sofort zu realisieren, die Befreiung der unterdrückten Nationen erstes Gebot der Revolution: "Das revolutionierte Deutschland mußte sich, namentlich in Beziehung auf die Nachbarvölker, von seiner ganzen Vergangenheit lossagen. Es mußte zugleich mit seiner83eigenen Freiheit die Freiheit der Völker proklamieren, die es bisher unterdrückt hatte." Nur so konnten die großen revolutionären Potenzen, die die nationalrevolutionären Bewegungen der Polen, Ungarn und Italiener und zunächst auch noch der Tschechen in sich bargen, im Interesse eines erfolgreichen Fortgangs der deutschen und europäischen Revolution wirksam werden. Für Marx und Engels war das Schicksal der europäischen Revolution der entscheiden84 de Gesichtspunkt.
Die Revolution in Europa konnte nur durch Niederringung der europäi-
schen Reaktionsbastion, der Heiligen Allianz, und ihres RUckgrats, des russischen Zarismus, positiv entschieden werden. Diese Auseinandersetzung, die unter den damaligen Be79 Vgl. derselbe. Auswärtige deutsche Politik (NRhZ, 3.7.1848), in: MEW, Bd 5, S. 154 f . ; derselbe, Marx und die "Neue Rheinische Zeitung", in: MEW, Bd 21, S. 22. 80 Vgl. derselbe, Revolution und Konterrevolution in Deutschland, in: MEW, Bd 8, S. 49. 81 1884 faßte Friedrich Engels die Außenpolitik der "Neuen-Rheinischen Zeitung" in zwei Hauptpunkte (vgl. derselbe. Marx und die "Neue Rheinische Zeitung", in: MEW, Bd 21). 82 Vgl. derselbe, Auswärtige deutsche Politik, in: MEW, Bd 5, S. 154 f . ; derselbe, Der Prager Aufstand, in: Ebenda, S. 80 ff. 83 Ebenda, S. 81. 84 Ganz klar ausgesprochen in: Derselbe. Der demokratische Panslawismus, in: MEW, Bd 6, S. 280 ff., 286, und derselbe. Die revolutionäre Erhebung in der Pfalz und in Baden, in: Ebenda, S. 525 f.
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dingungen nur in Form eines revolutionären Volkskrieges erfolgen konnte, erforderte die Vereinigung der revolutionären und nationalrevolutionären Kräfte aller revolutionierten Länder. Auf dieses schon am Vorabend der Revolution bestimmte Ziel haben Marx und Engels während der ganzen Revolution hingearbeitet. Von dieser Warte aus bestimmten sie den möglichen oder effektiven Beitrag, das Verdienst oder Versagen der einzelnen revolutionären Bewegungen in den verschiedenen nationalen Grenzen, der deutschen wie 85
der tschechischen, der ungarischen wie der polnischen Revolution.
Die Sympathie und Unterstützung der Kommunisten galt - wie die Artikel der Neuen 86
Rheinischen Zeitung ausweisen
- zunächst allen nationalen Befreiungsbewegungen, die
sich anfangs auch uneingeschränkt gegen reaktionäre Herrschaftssysteme in Europa richteten und vor allem auf den Sturz Habsburgs und Hohenzollerns hinarbeiteten. "Trotz des patriotischen Geheuls und Getrommeis fast der ganzen deutschen Presse hat die ' Neue Rheinische Zeitung' vom ersten Augenblick an in Posen für 87die Polen, in Italien für die Italiener, in Böhmen für die Tschechen Partei ergriffen." Erst in dem Maße, wie sich im Verlauf der Revolution die nationalen Bewegungen zunehmend differenzierten und ein Teil von ihnen objektiv zu Stützen der Konterrevolution, insbesondere der Habsburger Monarchie, wurden, änderte sich auch die Haltung der Kommunisten diesen ins Fahrwasser der Konterrevolution geratenen 88 nationalen Bewegungen gegenüber. Es betraf vor allem die Bewegungen der Tschechen und der südslawischen Völker, in denen liberale oder
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adlige Kräfte die Führung erlangt hatten, die nun die "Nationalität . . . vor der Revolution" rangieren ließen. Dieser Haltungswandel der "Neuen Rheinischen Zeitung" wird im Grunde erst nach der Niederschlagung des Wiener Oktoberaufstands von 1848 offenkundig. Hier hatte sich nämlich in der Praxis zum erstenmal die konterrevolutionäre Rolle dieser Nationalbewegungen voll erwiesen. Zu den national-revolutionären Aktionen der 85 Vgl. Engels, Friedrich, Der Prager Aufstand; derselbe. Die Polendebatte in Frankfurt; derselbe, Der magyarische Kampf (NRhZ, 13.1.1849); derselbe, Ungarn (NRhZ, 19.5.1849), in: MEW, Bd 5, S. 80 f f . , 319 ff.; Bd 6, S. 165 f f . , 270 f f . , 507 ff. 86 Vgl. insbesondere die Artikel zur tschechischen, italienischen und ungarischen Bewegung, in: MEW, Bd 5, S. 8 f . , 80 f f . , 98 f . , 108 f . , 154 f f . , 202 f f . , 293 f f . , 363 f f . , 369 f f . , 376 ff.; Bd 6, S. 77 f f . , 165 f f . , 270 f f . , 303 f f . , 308, 381 f f . , 507 ff. 87 Die auswärtige deutsche Politik und die letzten Ereignisse zu Prag, in: MEW, Bd 5, S. 202. 88 Udalzow. I . I . , Aufzeichnungen Uber die Geschichte der nationalen und politischen Kämpfe in Böhmen im Jahre 1848, Berlin 1953, insbesondere S. 175 ff. 89 Engels, Friedrich. Der demokratische Panslawismus, in: MEW, Bd 6, S. 285.
Zur internationalen Stellung der Revolution 90 Polen
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91 , Ungarn
und Italiener standen Marx und Engels demgegenüber vom ersten bis
zum letzten Tage der Revolution. Deren Kämpfe waren stets gegen die konterrevolutionären Hauptmächte in Mitteleuropa gerichtet und förderten entscheidend den Fortgang der e u r o päischen Revolutionsbewegung. Zeitweise ruhte die ganze Hoffnung fUr ein erneutes Aufflammen des Revolutionsfeuers auf den92revolutionären Bewegungen dieser Völker, insbesondere der Italiener und der Ungarn. Marx' und Engels' Stellung zu den nationalen Bewegungen ergab sich nicht aus allgemeinen moralischen Gerechtigkeitsvorstellungen, sondern aus dem Charakter und der Rolle dieser Bewegungen in der großen Auseinandersetzung um den Sieg der bürgerlichen Demokratie in Europa. Die bürgerliche und sozialdemokratische "Kritik" an Marx' und Engels' Nationalitätenpolitik geht an diesem f ü r den gesellschaftlichen Fortschritt im internationalen 93 Maßstab entscheidenden Kriterium vorbei. Sie begreift nicht oder ignoriert bewußt, daß Marx und Engels von der jeweiligen historischen Gesamtsituation ausgingen und daher nicht von vornherein und bedingungslos f ü r das nationale Selbstbestimmungsrecht sein konnten. Entscheidend war f ü r sie nicht die Nationalität an sich, sondern der jeweilige Klasseninhalt der nationalen Bestrebungen. Wenn diese von reaktionären Kräften geprägt wurden oder der Konterrevolution dienten, dann lag es im Interesse der Revolution, solche Nationalbewegungen energisch zu bekämpfen. In einem offenen militärischen Konflikt der revolutionierten europäischen Völker mit den "Großmächten der Konterrevolution" - dem Zarismus und dem den Zarismus stützenden England - sei es möglich, so meinten Marx und Engels, die den Fortgang der europäischen Revolution hemmenden nationalen Gegensätze zwischen den verschiedenen Völkern zumindest zeitweilig zu überwinden 94 , die revolutionären Nationen zusammenzuschließen und iirner90
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92
93 94
Vgl. Bobinska, Celina, Marx und Engels über polnische Probleme, Berlin 1958, S. 92 f f . ; Schmidt, Walter, Der Kampf der "Neuen Rheinischen Zeitung" um ein festes Kampfbündnis zwischen der polnischen und der deutschen Demokratie, in: Jahrbuch f ü r Geschichte der UdSSR und der volksdemokratischen Länder Europas (im folgenden: Jahrbuch UdSSR), Bd 5, Berlin 1961, S. 111 f f . Nitschke, Willy, Der Kampf der "Neuen Rheinischen Zeitung" f ü r die nationale Befreiung der Völker in der Revolutionsperiode von 1848/49, phil. D i s s . , Leipzig 1955; Averbuch, R . A . , Revoljucija i nacional'no-osvoboditel'naja borba v Vengrii 1848-1849, Moskau 1965. » Eine gründliche Analyse des gesamteuropäischen Revolutionskonzeptes von Marx und Engels, unter besonderer Berücksichtigung i h r e r Stellung zur französischen, italienischen und ungarischen Revolution, legte vor Strey, Joachim, P r o l e t a r i s c h e r Internationalismus in der bürgerlich-demokratischen Revolution..., a . a . O . , S. 109 f f . So vor allem Rosdolsky, Roman, Friedrich Engels und das Problem der "geschichtslosen" Völker, a . a . O . Vgl. Engels, Friedrich, Revolution und Konterrevolution in Deutschland, in: MEW, Bd 8, S. 51.
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halb der einzelnen Nationen die demokratische Entwicklung zu beschleunigen. Für Marx und Engels stand außer Zweifel, daß ein derartiger Konflikt, durch die Forderung nach bzw. die Einleitung von direkten Aktionen zur Befreiung Polens provoziert, nur unter Einschluß Deutschlands europäische Wirkungen zeitigen würde, daß Deutschland einen solchen 95 Konflikt wesentlich tragen und in ihm vorangehen müsse. Die Losung eines revolutionären Volkskrieges stellten Marx und Engels als zweite außenpolitische Forderung der deutschen Revolution. In diesem Programmpunkt fand die gesamteuropäische Verantwortung der deutschen Revolution ihren Ausdruck. Marx und Engels gingen bei ihrer Forderung nach einem antizaristischen Revolutionskrieg von den Erfahrungen der Französischen Revolution von 1789 - 1794 aus. Die militärische Verteidigung des revolutionierten Frankreich gegen die Invasion der vereinigten europäischen Feudalreaktion hatte den Gang der Französischen Revolution seit 1792 wesentlich beeinflußt und die entschieden demokratischen Kräfte mehr und mehr in den Vordergrund gedrängt. Ein Volkskrieg gegen das reaktionäre Rußland konnte 1848/49 für die deutsche und europäische Revolution die gleiche Wirkung haben. Ein derartiger Konflikt hätte 96 der zersplitterten Bewegung ein einheitliches Ziel gegeben , die Massen stärker in den 97 Kampf einbezogen und die radikalsten Elemente an die Spitze gebracht. Im Kampf gegen die äußere Konterrevolution wären die inneren konterrevolutionären Mächte in Deutschland, Preußen und Österreich, zugrunde gegangen. Schließlich hätte dieser Krieg die revolutionäre Bewegung des Proletariats in England und Frankreich zum Sturz der Bourgeoisie geför98 ^ dert. In diesem Sinne schrieb Engels im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen um den preußisch-dänischen Waffenstillstand im September 1848: "Der Krieg, der möglicherweise jetzt aus den Beschlüssen in Frankfurt entstehen kann, würde ein Krieg Deutschlands gegen Preußen, England und Rußland sein. Und gerade solch ein Krieg tut der einschlummernden deutschen Bewegung not - ein Krieg gegen die drei Großmächte der Kontrerevolution, ein Krieg, der Preußen in Deutschland wirklich aufgehn, der die Allianz mit Polen zum unumgänglichsten Bedürfnis macht, der die Freilassung Italiens sofort herbeiführt, der gerade gegen die alten konterrevolutionären Alliierten Deutschlands von 1792 bis 1815 95 Vgl. Die auswärtige deutsche Politik und die letzten Ereignisse in Prag (NRhZ, 12.7.1848), in: MEW, Bd 5, S. 202. 96 Vgl. Die Vereinbarerversammlung vom 15. Juni (NRhZ, 18.6.1848), in: Ebenda, S. 79. 97 Marx. Karl, Die Krisis und die Kontrerevolution (NRhZ, 14.9.1848), in: Ebenda, S. 403. 98 Engels. Friedrich, Die Polendebatte in Frankfurt, in: MEW, Bd 5, S. 362. Vgl. auch Strey. Joachim/Winkler. Gerhard. Die Politik und Taktik der "Neuen Rheinischen Zeitung" in der Septemberkrise 1848, in: ZfG, 1968, H. 8, S. 999 ff.
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Zur internationalen Stellung der Revolution
gerichtet ist, ein Krieg, der 'das Vaterland in Gefahr' bringt und gerade dadurch rettet, 99 indem er den Sieg Deutschlands vom Siege der Demokratie abhängig macht." Diese ganz Europa umspannende militärische Auseinandersetzung zwischen Revolution und Konterrevolution konnte natürlich nicht von den bestehenden Regierungen 100 , sondern nur von den revolutionär-demokratischen Kräften des Volkes geführt werden. Die Forderung nach einem Revolutionskrieg gegen den Zarismus war also 1848/49 progressiv. Während feudal-konterrevolutionäre wie bürgerlich-reaktionäre Politiker im Interesse der Aufrechterhaltung ihrer Herrschaft nichts so fürchteten wie den von Marx und Engels geforderten revolutionären Krieg gegen den Zarismus, hat die apologetische bürgerliche Geschichtsschreibung seit der Sozialistischen Oktoberrevolution großes Interesse für die angeblich "rußlandfeindliche Einstellung" von Marx und Engels bekundet. Seit das russische Proletariat den Zarismus und das ganze Ausbeutersystem stürzte und das ehemals rückständige Rußland sich an die Spitze des Kampfes um den gesellschaftlichen Fortschritt in unserem Jahrhundert setzte, versucht die reaktionäre Geschichtsschreibung aller Schattierungen, die antizaristische Stoßrichtung der Marxschen außenpolitischen Konzeption während der Revolution von 1848/49 für eine allzu durchsichtige antisowjetische Hetze zu nutzen. 1 0 1 Bewußt wird verschwiegen, daß Marx und Engels von Anfang an zwisehen dem reaktionären Zarismus und dem russischen Volk unterschieden. Aufmerksam verfolgten beide bereits 1848 alle Anzeichen einer sich anbahnenden revolutionären Entwicklung in Rußland selbst, die sich in Bauernunruhen äußerten. Die "Neue Rheinische Zeitung" knüpfte daran "gewichtige Folgerungen" und betrachtete diese Unruhen, in denen sich die revolutionären Kräfte Rußlands regten, mit großer Genugtuung "als die ersten Symptome einer möglichen Erhebung der Leibeigenen". 102 +
99 Engels. Friedrich, Der dänisch-preußische Waffenstillstand, in: MEW, Bd 18, S. 397. 100 Vgl. derselbe, Die Polendebatte in Frankfurt, in: MEW, Bd 5, S. 359 ff. 101 Eine der letzten Veröffentlichungen dieser Art war die von Doerig. I.A.. veranstaltete Ausgabe der Korrespondenzen Marx' für die New York Daily Tribüne unter dem Titel: Marx contra Rußland. Der russische Expansionsdrang und die Politik der Westmächte, Stuttgart 1960. 102 NRhZ. 9.1.1849; vgl. ferner: Die russische Note (NRhZ, 3.8.1848), in: MEW, Bd 5, S. 298. -Zur Stellung von Marx und Engels zu Rußland vgl. Dohm. Bernhard, Marx und Engels und ihre Beziehungen zu Rußland, Berlin 1955; Kotow. W.. Karl Marx und Friedrich Engels Uber Rußland und das russische Volk, Berlin 1953; vgl. auch die Bibliographie Marx und Rußland, zusammengestellt von G. Mühlpfordt, in: Jahrbuch UdSSR, Bd 3, Berlin 1959, S. 489 ff.
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Walter Schmidt Die deutsche Revolution ist ihrer gesamteuropäischen Verantwortung nicht gerecht
geworden: Sie hat ihre außenpolitischen Aufgaben nicht gelöst. Sie besaß nicht die Kraft, die Freisetzung der unterdrückten Nachbarvölker zu erzwingen und die nationalrevolutionären Bewegungen an sich heranzuziehen. "Und was hat das revolutionierte Deutschland getan? Es hat die alte Unterdrückung Italiens, Polens und nun auch Böhmens durch die deutsche 103 Soldateska vollständig ratifiziert", schrieb die "Neue Rheinische Zeitung" im Juni 1848. Die deutsche Revolution erwies sich auch als zu schwach, um den Angriff auf die Zitadelle der Reaktion, den Zarismus, einzuleiten, der eine Vereinigung der revolutionären Kräfte in ganz Europa erfordert und erzwungen und zur Vernichtung der Vormachtstellung des Zarismus mit allen positiven Folgen für die bürgerliche Demokratie in Europa geführt hätte. Beides war entscheidend für den negativen Ausgang der europäischen Revolutionsbewegung von 1848/49. Die Reaktionsmächte, so angeschlagen und geschwächt bzw. verwirrt sie zeitweise auch waren, blieben im ganzen stabil, formierten binnen kurzer Zeit ihre konterrevolutionären Machtinstrumente und warfen die Revolution in ganz Europa nieder. Marx und Engels gehörten zu den ersten, die mit schonungsloser Härte die Schwache der deutschen Revolution konstatierten. Sie deckten die Gründe für diese folgenschweren Versäumnisse auf. Die Schuld traf die deutsche Bourgeoisie, die, zur Führung der Revolution in Deutschland berufen, sich aus Furcht vor den nachdrängenden demokratischen Kräften, insbesondere der Arbeiterklasse, mit der junkerlich-absolutistischen Reaktion verbündete. Die deutsche Bourgeoisie stemmte sich von Anfang an gegen die Revolution und gab der feudalen Konterrevolution jede Möglichkeit, sich zu sammeln und ihre Kräfte auf die Niederschlagung der Revolution vorzubereiten. Damit vergab sie die reale Chance, die bürgerliche Ordnung in Deutschland rasch zum Siege zu führen und ihre eigene politische Herrschaft fest zu begründen. Die Siege der Konterrevolution seit Herbst 1848 waren gleichbedeutend mit der Vertreibung der Bourgeoisie aus den Machtpositionen, die sie im März durch revolutionäre Massenaktionen erhalten hatte. Gerade auf außenpolitischem Gebiet war die antidemokratische, konterrevolutionäre Rolle der deutschen Großbourgeoisie schon früh zutage getreten. Anstatt die Lostrennung und selbständige freie Entwicklung der Deutschland benachbarten Nationen zu proklamieren, verweigerten die Bourgeoisvertreter in den Märzregierungen und in den Parlamenten in 104 Frankfurt und Berlin diesen Völkern ihr Recht auf staatliche Selbständigkeit. Sie ließen 103 Engels, Friedrich, Der Prager Aufstand, in: MEW, Bd 5, S. 81. 104 Henseke, Hans. Die Stellung der deutschen Bourgeoisie zum Kampf des polnischen Volkes um nationale Unabhängigkeit im Großherzogtum Posen in der Revolution von 1848/49, pädag. Diss., Potsdam 1957; Kreibich, Karl, Die Deutschen und-die böhmische Revolution 1848, Berlin 1952.
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die nationalrevolutionären Bewegungen, die zu Beginn der Revolution ohne Ausnahme den Absolutismus mit der Waffe in der Hand bekämpft und sich als die eigentlichen außenpolitischen Bundesgenossen der deutschen Revolution erwiesen hatten, schmählich im Stich und 105 Damit gelang es,
spielten einen bornierten sogenannten "nationalen Egoismus" hoch.
selbst revolutionäre Kräfte zu verwirren; "unter dem Scheine, Deutschlands Ehre und 106 Nationalität zu retten" , lenkte die Bourgeoisie einen Teil der revolutionären Energien 107 von der Lösung der entscheidenden inneren Aufgaben nach außen ab. Mit ihrer Hilfe gelang es der Konterrevolution, ihre alte "machiavellistische Politik" fortzuführen, "welche, im Innern Deutschlands in den Grundfesten erschwankend, die demokratische Energie zu lähmen, die Aufmerksamkeit von sich abzulenken, der revolutionären Glutlava einen Abzugskanal zu graben, die Waffe der innern Unterdrückung zu schmieden suchte, indem sie einen engherzigen, dem kosmopolitischen Charakter des Deutschen widerstrebenden Stammhaß heraufbeschwor und in Stammkriegen von unerhörtem Greuel, von namenloser Barbarei 108 eine Soldateska heranbildet, wie der Dreißigjährige Krieg sie kaum aufzuweisen hat". Auf außenpolitischem Gebiet erwies sich die deutsche Bourgeoisie zuerst als Hand109 langer der feudalen Konterrevolution. Sie gestattete den alten Gewalten in Osterreich und Preußen, durch militärisches Eingreifen die Revolutionen in Polen, Böhmen und Italien brutal niederzuwerfen. Dabei konnte sie ihr wichtigstes Machtinstrument, die Armee, die durch die Märzniederlagen erheblich angeschlagen war, wieder schlagkräftig machen. Die ersten bedeutenden Siege über die Revolution erfocht die preußische und österreichische Soldateska außerhalb Deutschlands im Kampf gegen die nationalrevolutionären Erhebungen der Polen, Tschechen und I t a l i e n e r . M i t diesen Siegen erhob die deutsche und europäische Konterrevolution wieder ihr Haupt, begann "die Erneuerung der Heiligen Allianz auf 105 Vgl. Engels, Friedrich. Revolution und Konterrevolution in Deutschland, in: MEW, Bd 8, S. 56. 106 Derselbe, Die Polendebatte in Frankfurt, in: MEW, Bd 5, S. 335. 107 Der bürgerliche Nationalismus gewann auch Einfluß auf Teile des demokratischen Kleinbürgertums. Vgl. dazu vor allem Weber. Rolf. Die Revolution in Sachsen 1848/49, Berlin 1970, S. 133 ff. Zur im ganzen gleichwohl positiven Haltung der kleinbürgerlichen Demokratie gegenüber den nationalrevolutionären Befreiungsbewegungen vgl. Obermann. Karl. Die internationale Solidarität in der Revolution von 1848/49, in: ZfG, 1965, H. 5, S. 826 ff.; derselbe. Die ungarische Revolution von 1848/49 und die demokratische Bewegung in Deutschland, Budapest 1971; Schmidt, Siegfried, Robert Blum. Vom Leipziger Liberalen zum Märtyrer der deutschen Demokratie, Weimar 1971, S. 193 ff. 108 MEW, Bd 5, S. 202. 109 Vgl. Marx, Karl. Die Bourgeoisie und die Kontrerevolution, in: MEW, Bd 6, S. 103. 110 Vgl. Engels. Friedrich. Revolution und Kontrerevolution in Deutschland, in: MEW, Bd 8, S. 52, 56.
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breitester Grundlage unter dem Patronat von England und Rußland". 1 "^ Der Krieg in Po sei, war für Marx der "erste entscheidende Triumph, den der russische Zar über die euroiii 10 ' päische Revolution erfocht
, und mit dem Fall Mailands im August 1848 datierte die
"Neue Rheinische Zeitung" "das Wiedererstehen des Schwerpunkts der europäischen Kontrerevolution, das Wiedererstehen Österreichs": ^ "erst jetzt kam die 113große Allianz der Kontrerevolution mit den österreichischen Slawen vollends zustande"
, jene Allianz,
die später den Siegeslauf der ungarischen Revolution aufhielt und den Fortbestand der Habsburgermonarchie ermöglichte. Der Verrat der deutschen Bourgeoisie gegenüber den nationalen Bewegungen an Deutschlands Grenzen stärkte die Konterrevolution noch auf andere Weise. 114 E r drängte - wie Marx und Engels am Beispiel der tschechischen Bewegung nachwiesen - einen Teil dieser Bewegungen von der europäischen Revolution, an der sie zunächst aktiv teilgenommen und einen beachtlichen Beitrag geleistet hatten, ins Lager der Habsburger Konterrevolution, die vorgab, die nationalen Belange erfüllen zu wollen. Außer der tschechischen entfremdeten sich die südslawischen nationalen Bewegungen der Revolution. Eine ähnliche Gefahr115 bestand nach Meinung von Marx und Engels zeitweise auch für die polnische Bewegung. Der konterrevolutionären Haltung gegenüber den nationalen Befreiungsrevolutionen entsprach die feige, jeder wirklichen Auseinandersetzung ausweichende Politik der deutschen Bourgeoisie gegenüber dem Zarismus. Die Bourgeoisie fürchtete einen ernsten Konflikt mit dem Bollwerk der europäischen Konterrevolution wegen seiner möglichen innenpolitischen Folgen. Sie wußte, daß eine solche Auseinandersetzung zu einem Aufschwung der revolutionären Bewegung, zum Sieg der demokratischen Revolution 116 führen und international "das ganze europäische Gleichgewicht in Frage stellen" konnte. In diesem Punkt ging die deutsche Bourgeoisie konform mit der konterrevolutionären Bourgeoisie Englands und Frankreichs, die gleichermaßen interessiert war, jegliche revolutionäre Erschütterung zu vermeiden, um ihre politische Macht nicht in Gefahr zu bringen. 117 Die schüchternen 111 112 113 114
Derselbe, Der demokratische Panslawismus, in: MEW, Bd 6, S. 270. Marx, Karl. Die Bourgeoisie und die Kontrerevolution, in: MEW, Bd 6, S. 103. Derselbe. Die revolutionäre Bewegung in Italien, in: Ebenda, S. 79. Vgl. Engels. Friedrich. Der Prager Aufstand, in: MEW, Bd 5, S. 81 f . ; Udalzow, I . I . . Aufzeichnungen über die Geschichte des nationalen und politiischen Kampfes in Böhmen im Jahre 1848, Berlin 1953, S. 171 ff. 115 Vgl. Engels, Friedrich. Neue Politik in Posen (NRhZ, 21.6.1848), in: MEW, Bd 5, S. 94 f . ; Schmidt. Walter. Der Kampf der "Neuen Rheinischen Zeitung" um ein festes Kampfbündnis zwischen der polnischen und der deutschen Demokratie, in: Jahrbuch UdSSR Bd 5, Berlin 1961, S. 131 ff. 116 Engels. Friedrich. Die Polendebatte in Frankfurt, in: MEW, Bd 6, S. 334; vgl. ferner derselbe. Revolution und Konterrevolution in Deutschland, in: MEW, Bd 8, S, 51. 117 Vgl. derselbe. Die Polendebatte in Frankfurt, in: MEW, Bd 6, S. 359 f f . , insbesondere S. 362.
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Versuche, die der liberale preußische Außenminister v. Arnim in der zweiten Märzhälfte 1848 unternommen hatte, um eine Allianz Preußens und Frankreichs gegen Rußland zur 118 Befreiung Polens zustande zu bringen, wurden rasch aufgegeben und machten einer Politik Platz, die Marx und Engels als "wenigstens Friede mit Rußland um jeden Preis" 119 kennzeichneten. Die europäischen Bourgeois waren um so weniger daran interessiert, sich in einen Kampf mit Rußland einzulassen, als sie in seinen Armeen, wie Engels später 120
schrieb, selbst "mit Recht ihren letzten Schutzwall gegen die Revolution sahen". "Während der Revolution von 1848/49 fanden nicht nur die europäischen Fürsten, auch die europäischen Bourgeois in der russischen Einmischung die einzige Rettung vor 121 dem eben erst erwachenden Proletariat."
Engels machte damit auf ein bedeutsames
Spezifikum der Revolution von 1848/49 überhaupt aufmerksam. Aus Furcht, das Gesetz des Handelns im Verlauf der Revolution vollends an die demokratischen Klassen der bürgerlichen Gesellschaft abgeben zu müssen, in Sorge, dabei eventuell den Bestand ihrer eigenen politischen Herrschaft zeitweilig aufs Spiel setzen zu müssen, wurde die historisch noch progressive, im Rahmen der bürgerlichen Revolution zur Führung berufene Bourgeoisklasse nicht nur in einem Land, sondern im europäischen Maßstab derart konterrevolutionär, daß sie im Hort der feudalen Reaktion, im Zarismus, ihren Bundesgenossen suchte, statt ihn anzugreifen und zu vernichten. Infolge dieser Politik konnte der Zarismus, der sich im Frühjahr 1848 ungerüstet einer gesamteuropäischen Revolution gegenübersah und rasch hätte niedergerungen werden können, in Ruhe seine Truppen mobilisieren und zur 122 Intervention gegen die Revolution an den Westgrenzen konzentrieren. Als im Sommer 1849 die ungarische Revolution der Habsburger Monarchie über den Kopf zu wachsen schien 123 und das ganze osteuropäische Staatensystem in den Grundfesten erschütterte , interve118 Vgl. Hallgarten, Wolfgang. Studien zur Polenfreundschaft in der Periode der Märzrevolution, München/Berlin 1928, S. .32 ff.; vgl. Valentin. Veit. Geschichte der Deutschen Revolution 1848-1849, Berlin 1930, Bd 1, S. 538 f . 119 Engels. Friedrich. Die Polendebatte in Frankfurt, in: MEW, Bd 6, S. 327. 120 Derselbe. Rede auf der Versammlung zum Jahrestag des polnischen Aufstands 1863, in: MEW, Bd 19, S. 36. 121 Derselbe. Vorrede zur zweiten russischen Ausgabe des "Manifestes der Kommunistischen Partei", in: Ebenda, S. 296; vgl. auch derselbe. Vorwort zur vierten deutschen Ausgabe des "Manifestes der Kommunistischen Partei", in: MEW, Bd 22, S. 55. 122 Vgl. derselbe. Die Russen (NRhZ, 22.4.1849), in: MEW, Bd 6, S. 431; vgl. dazu Nifontow, A . S . . Rußland im Jahre 1848, Berlin 1954, und die Untersuchung über die Beziehungen zwischen der preußischen Reaktion und dem Zarismus von Obermann, Karl. Die Rolle der zaristischen Hilfs- und Interventionspläne gegen die Revolution in der ersten Hälfte des Jahres 1848, in: Jahrbuch UdSSR, Bd 8, Berlin 1964, S. 179 ff. 123 Vgl. dazu Engels. Friedrich. Ungarn, in: MEW, Bd 6, S. 507 ff. Ferner Strey, Joachim. Die politische Konzeption der "Neuen Rheinischen Zeitung" in der Reichsverfassungskompagne, in: ZfG, 1969, H. 5, S. 573 ff.
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nierten zaristische Truppen und halfen der österreichischen Konterrevolution, die Revo124 lution in Ungarn zu überwältigen. Von der Politik der Bourgeoisie in der deutschen Revolution und ihrem außenpolitischen Versagen leiteten Marx und Engels den Grundsatz ab, daß die Außenpolitik eines Landes von den innenpolitischen Verhältnissen abhängt. Eine Klasse kann keine demokratische Außenpolitik durchführen, wenn sie selbst antidemokratisch auftritt und im Innern die Demokratie unterdrückt. Demokratische Außenpolitik hat die Herstellung demokratischer Verhält125 nisse im Innern zur Voraussetzung. Um zu einem wirklichen Bruch mit der bisherigen Unterdrückungspolitik Deutschlands nach außen zu kommen, forderten Marx und Engels von den revolutionären Kräften des Volkes, den Widerstand der alten feudalen Gewalten und der mit ihnen verbündeten Großbourgeoisie zu brechen und eine demokratische Macht im Innern zu errichten. +
Die Revolution erlitt in Deutschland wie in ganz Europa eine Niederlage. Sie löste keine der vor ihr stehenden Aufgaben. An ihrem Ende stand nicht der Sieg der bürgerlichen Demokratie auf dem europäischen Kontinent, sondern die Wiedererrichtung der Macht der aus dem Feudalismus überkommenen reaktionären Junkerklasse. Das hatte verhängnisvolle Folgen für den weiteren Gang der geschichtlichen Entwicklung in Europa. Der Aufstieg des Kapitalismus und die Durchsetzung der bürgerlichen Ordnung waren zwar nicht zu verhindern, aber die sich der kapitalistischen Entwicklung anpassenden alten Feudalkräfte konnten die Gestaltung der bürgerlichen Ordnung in ihrem, also in reaktionärem Sinne, negativ beeinflussen. Feudalreaktionäre Elemente wurden konserviert und belasteten das gesamte Leben der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft in einer Reihe europäischer Staaten. Die Konstituierung des bürgerlichen deutschen Nationalstaates als Ergebnis einer "Revolution von oben" unter Hegemonie preußischer Junker verdeutlicht diese Folgen am klarsten. Marx und Engels haben die negativen Auswirkungen der verlorenen Revolution von 1848/49 in den folgenden Jahrzehnten mit Nachdruck betont, nicht zuletzt, um der Arbeiterklasse bewußt zu machen, welche noch ungelösten Aufgaben der bürgerlichen
124 Vgl. Marx. Karl. Rede auf dem Polenmeeting in London am 22. Januar 1867, in: MEW, Bd 16, S. 201. Ferner Engels. Friedrich, Vorbemerkungen zu der Broschüre "Soziales aus Rußland", in: MEW, Bd 18, S. 585. 125 Vgl. derselbe. Auswärtige deutsche Politik, in: MEW, Bd 5, S. 156. 126 Vgl. ebenda, S. 155 f .
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Revolution sie erst bewältigen muß, um zu ihrer eigenen, der sozialistischen Revo127 lution weiterzuschreiten. Trotz der Niederlage zählten Marx und Engels die Revolution von 1848/49 zu den größten fortschrittlichen Ereignissen der deutschen Geschichte. Sie erwies sich als eine machtvolle Triebkraft der geschichtlichen Entwicklung. Ihren positiven Wirkungen konnte sich in der Folgezeit keine Klasse, auch nicht die Junkerkaste und die Monarchie, entziehen. Neben dem unaufhaltsamen Aufstieg der kapitalistischen Produktionsweise waren die Kämpfe und Bestrebungen der Volksmassen während der Revolution von 1848/49, ungeachtet ihres damaligen Mißerfolgs, ein entscheidender Hebel fiir den vollen Sieg der kapitalistischen Gesellschaftsordnung auf dem europäischen Kontinent. Auf diese positive Rolle der Revolution haben Marx, Engels und Lenin wiederholt aufmerksam gemacht: Marx zum ersten Mal im Jahre 1859, als die Kräfte, die in Deutschland die Revolution niedergeschlagen hatten, sich nun selbst gezwungen sahen, einige bedeutendere Forderungen der Revolution aufzugreifen und zu verwirklichen. 128 Engels 129 dann vor allem in seinen Schriften seit der Mitte der achtziger Jahre. Und auch Lenin stellte die konterrevolutionäre Zuendeführung der bürgerlichen Umwälzung in Deutschland und einer Reihe anderer europäischer Länder stets in einen direkten Zusammenhang mit 130 der Revolution von 1848/49. Marx, Engels und Lenin betrachteten die Bildung des einheitlichen bürgerlichen Nationalstaats in Deutschland, die Herstellung der Einheit Italiens und die bürgerlichen Reformen von 1867 in131 Österreich-Ungarn in ihrem positiven Gehalt als ein Ergebnis der Revolution von 1848/49. Die Revolution von 1848 hat unmittelbar 127 Vgl. dazu insbesondere derselbe. Die Abdankung der Bourgeoisie, in: MEW, Bd 21, S. 383. 128 Vgl. Marx. Karl. Die Erfurterei im Jahre 1859, in: MEW, Bd 13, Berlin 1961, S. 414. 129 Vgl. Engels. Friedrich. Vorwort zur italienischen Ausgabe des "Manifestes der Kommunistischen Partei", in: MEW, Bd22, S. 365. 130 Lenin. W.I.. Ein neuer Staatsstreich in Sicht, in: Werke, Bd 11, Berlin 1958, S. 196; derselbe. Auf den geraden Weg, in: Werke, Bd 15, Berlin 1962, S. 7; derselbe, Die "Linksschwenkung" der Bourgeoisie, in: Ebenda, S. 401; derselbe. Brief an J . J . Skorzow-Stepanow, in: Werke, Bd 16, Berlin 1962, S. 114 f . ; derselbe. Notizen eines Publizisten, in: Ebenda, S. 200 f.; derselbe. Strittige Fragen, in: Werke, Bd 19, Berlin 1962, S. 153; derselbe. Aufschlußreiche Reden, In: Ebenda, S. 244 f.; derselbe. Über den Nationalstolz der Großrussen, in: Werke, Bd 21, S. 94; derselbe, Die russischen Slidekums, in: Ebenda, S. 107; derselbe, Eine Wendung in der Weltpolitik, in: Ebenda, S. 280. 131 Vgl. Engels. Friedrich. England 1845 und 1885, in: MEW, Bd 21, S. 193. Von Engels wieder aufgenommen in das Vorwort der englischen und der zweiten deutschen Auflage der "Lage der arbeitenden Klasse in England", in: MEW, Bd 22, S. 273, 324; vgl. ferner derselbe, Vorwort zu "Karl Marx vor den Kölner Geschworenen", in: MEW, Bd 21, S. 201 f . ; zusammenhängend diese Konzeption in derselbe, Einleitung zu "Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850", in: MEW, Bd 22, S. 516.
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beigetragen, die nach 1849 erfolgende rasche Ausbreitung des Kapitalismus zu fördern. Sie zwang die Reaktion sofort zu einigen, wenn auch nur geringfügigen Zugeständnissen, die die weitere Durchsetzung des Kapitalismus in den europäischen Staaten erleichterten, die industrielle Revolution beschleunigten und damit die Herausbildung eines modernen Industrieproletariats bewirkten. In diesem Sinne formulierte Engels 1893 als wichtiges Ergebnis von 1848: "Wenn also die Revolution von 1848 keine sozialistische Revolution war, so ebnete sie dieser doch den Weg, bereitete für sie den Boden vor. Mit der Entwicklung der großen Industrie in allen Ländern hat das Bourgeoisregime . . . allenthalben ein zahlreiches, festgefügtes und starkes Proletariat hervorgebracht, hat es, um einen Ausdruck 132 des 'Manifests' zu gebrauchen, seine eignen Totengräber produziert." Marx, Engels und Lenin hoben noch weitere positive Ergebnisse der Revolution von 1848/49 flir den beginnenden Aufstieg der Arbeiterklasse als selbständiger Klassenkraft hervor. Trotz aller Bescheidenheit und Geringfügigkeit wertete Engels die politischen Konzessionen, die die Arbeiter auf den Barrikaden erkämpft hatten und die in Spuren erhalten geblieben waren, als einen wichtigen Ansatzpunkt flir die neu entstehende Arbeiterbe133 wegung der sechziger Jahre. Besonders große Bedeutung maß e r jedoch der Tatsache bei, daß 1848/49 zum ersten Mal Arbeiter verschiedener Länder - wenn auch noch nicht für ihre eigenen Ziele, sondern flir den bürgerlich-demokratischen Fortschritt - gleichzeitig im revolutionären Kampf gestanden hatten. Das war, wie Engels hervorhob, von hohem Wert für den späteren internationalen Zusammenschluß der aufkommenden proletarischen Massenbewegung in den fortgeschrittenen europäischen Ländern. Der gemeinsame Kampf der Arbeiter in der Revolution gehört in die Vorgeschichte der I. Internationale. Die Revolution von 1848/49 tat das ihre, den Boden fUr die Internationale Arbeiterassoziation vorzubereiten. Lenin arbeitete vor allem die Stellung der Revolution von 1848/49 im Prozeß der Durchsetzung des Marxismus in der internationalen Arbeiterbewegung heraus. Insbesondere die Klassenkämpfe in Frankreich bestätigten in der Praxis Marx' Erkenntnis, daß nur das Proletariat seinem Wesen nach sozialistisch ist. Die nichtproletarischen sozialistischen 132 Vorwort zur italienischen Ausgabe des "Manifestes der Kommunistischen Partei", in: Ebenda, S. 366; vgl. dazu auch Friedrich Engels an August Bebel, 16.12.1879, in: MEW, Bd 34, Berlin 1966, S. 429. 133 Vgl. Engels. Friedrich. Der Sozialismus des Herrn Bismarck, in: MEW, Bd 19, S. 168. 134 Vgl. Marx. Karl/Engels. Friedrich. An das Meeting in Genf, einberufen zur Erinnerung an den 50. Jahrestag der polnischen Revolution von 1830, In: Ebenda, S. 240.
Zur internationalen Stellung der Revolution
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Theorien wurden 1848/49 widerlegt. "Die Revolution von 1848 versetzt allen diesen lärmenden, buntscheckigen, marktschreierischen Formen des vormarxschen Sozialismus den I O C
Todesstoß." Als das wichtigste Ereignis der Revolution für die weitere Entwicklung der Arbeiterbewegung betrachtete Lenin die Junischlacht des Pariser Proletariats von 1848, den "erste[n] große[n] Bürgerkrieg zwischen Proletariat und Bourgeoisie". Dieser Aufstand habe - wie die anderen Klassenkämpfe des französischen Proletariats - "In weltgeschichtlichem 136 Sinne außergewöhnlich viel gegeben". Vor allem aber war die Revolution von 1848/49 in Lenins Sicht die erste große Bewährungsprobe des Marxismus. Marx' und Engels' Wirken in der Revolution, das erstmalige Eingreifen einer kommunistischen Partei in eine bürgerliche Revolution war f ü r ihn von allergrößter Bedeutung f ü r den weiteren Aufstieg der Arbeiterklasse zu einer selbständigen gesellschaftlich-politischen Kraft. Denn die Revolution bestätigte nicht nur die marxistische Theorie, sondern brachte sie selbst wesentlich voran. Die Revolutionserfahrungen führten zu einer Weiterentwicklung der marxistischen Lehre. Lenin hat sich daher immer wieder mit Marx' und Engels' Auftreten in der Revolution, insbesondere mit ihrer Politik und Taktik be137 Schäftigt.
Über den Platz der Revolution in der Entwicklung des Marxismus und in
Marx' und Engels' politischem Kampf schrieb Lenin: "In der Tätigkeit von Marx und Engels selbst tritt die Periode ihrer Beteiligung am revolutionären Massenkampf 1848/1849 als zentraler Punkt hervor. Von diesem Punkte gehen sie aus bei der Beurteilung der Geschicke der Arbeiterbewegung und der Demokratie der verschiedenen Länder. Zu diesem Punkt kehren sie stets zurück, um das innere Wesen der verschiedenen Klassen und ihrer Tendenzen in klarster und reinster Form zu bestimmen. Vom Standpunkt der damaligen, revolutionären Epoche beurteilen sie stets die späteren, weniger bedeutenden 138 politischen Gebilde, Organisationen, politischen Aufgaben und politischen Konflikte." Das revolutionäre Proletariat, die Klasse, die 1848/49 als einzige bis zuletzt konsequent ihren Mann gegen die Reaktion gestanden und sich zum ersten Mal voll bewährt hatte, jene Klasse, die die Tradition dieses Revolutionsjahres bewahrte, sie betrachteten Marx und Engels als den wirklichen Erben der europäischen Revolution von 1848/49. "Die Toten135 Lenin. W . I . . Die historischen Schicksale der Lehre von Karl Marx, in: Werke, Bd 18, S. 577; vgl. auch derselbe. August Bebel, in: Werke, Bd 19, S. 285 f. 136 Derselbe, Die Dritte Internationale und ihr Platz in der Geschichte, in: Werke, Bd 29, S. 298. 137 Vgl. Schmidt. Walter. Lenin Uber die deutsche Arbeiterbewegung von den Anfängen bis 1871, in: BzG, 1970, Sonderheft zum 100. Geburtstag W.I. Lenins, S. 43 ff. 138 Lenin. W . I . . Gegen den Boykott, in: Werke, Bd 13, S. 24.
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Walter Schmidt
gräber der Revolution von 1848 waren ihre Testamentsvollstrecker geworden. Und neben ihnen erhob sich schon drohend der Erbe von 1848, das Proletariat, in der Internationale," Das Proletariat erst löste das Erbe von 1848/49 wirklich ein. Unmittelbar nach dem Sieg der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution, als das russische Proletariat die Macht e r kämpft hatte und Marx' und Engels' Theorie in die Praxis umzusetzen begann, erinnerte Lenin in seiner berühmten Rede über'den Frieden am 8. November 1917 an die großen Leistungen der revolutionären Arbeiterklasse Englands, Frankreichs und Deutschlands im 19. Jh. und zählte hierzu das Auftreten des Proletariats, insbesondere der französischen Arbeiter, in den Revolutionen dieser Epoche. "Die Arbeiter dieser Länder haben der Sache des Fortschritts und des Sozialismus die größten Dienste erwiesen - in den großen Vorbildern der Chartistenbewegung in England, in den Revolutionen von weltgeschichtlicher Bedeutung, die das französische Proletariat vollbracht hat, und schließlich im heroischen Kampf gegen das Sozialistengesetz sowie in der für die Arbeiter der ganzen Welt mustergültigen langwierigen und beharrlichen disziplinierten Arbeit zur Schaffung proletarischer 140 Massenorganisationen in Deutschland." 139 Engels. Friedrich. Einleitung zu "Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850", in: MEW, Bd 22, S. 516. 140 Lenin, W . I . . Rede über den Frieden, in: Werke, Bd 26, Berlin 1961, S. 241 f.
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WALTRAUD
SEIDEL-HÖPPNER
Wilhelm Weitlings Vorstellungen von der kommunistischen Zukunft der Menschheit
Das erste, noch utopisch-kommunistische Zukunftsmodell aus ihren Kindertagen verdankt die deutsche Arbeiterklasse dem Magdeburger Schneidergesellen Wilhelm Weitling. Als führendes Mitglied und ideologischer Kopf des Bundes der Gerechten gibt er dieser ersten politischen Organisation der deutschen Frühproletarier ihr revolutionäres Programm.* In seinen Schriften sprechen sich Kühnheit und Kraft, freilich auch Unvermögen und Schwäche der ersten Gehversuche seiner Klasse aus. Sie spiegeln weltanschaulich, ökonomisch und politisch ziemlich getreu Stimmungen, Hoffnungen und Schwierigkeiten der proletarisierten Handwerker, die, in Gegensatz zu allen Eigentümerklassen getrieben, sich ihrer Stellung bewußt zu werden beginnen, zunächst aber noch mit vielen Fäden - auch durch den mit ihren Meistern gemeinsamen Gegensatz zur Anarchie des Marktes, zu den Wolfsgesetzen der Konkurrenz und zu den Praktiken des großen BanK- und Verlagskapitals - der kleinen Warenproduktion verhaftet bleiben. In diesen kleinbürgerlichen Verhältnissen werden wir die entscheidende Ursache dafür suchen müssen, daß alle ihre Unterfangen, aus der bürgerlichen Gesellschaft herauszukommen, im Utopischen verhaftet bleiben, auch wenn sie in ihren kommunistischen ZukunftsvorsteHungen weit über ihre sozialen Verhältnisse hinauswachsen. Bei allen Schranken, die die Verhältnisse seinem Erkenntnisradius setzen, führen uns Gesellschaftskritik und Kommunismusforderung Weitlings zu jener ideologischen Quelle des Marxismus, die aus proletarischem Boden hervorbricht. Unbändig und über1
Über Weitlings Leben und Wirken siehe Seidel-Höppner, Waltraud. Wilhelm Weitling, der erste deutsche Theoretiker und Agitator des Kommunismus, Berlin 1961. Zur Geschichte des Bundes der Gerechten siehe Kowalski, Werner, Vorgeschichte und Entstehung des Bundes der Gerechten, Berlin 1962.
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Waltraud Seidel-Höppner
schäumend arbeitet sich aus dem Geröll bürgerlicher Vorurteile die Klassenideologie des erwachenden Proletariats heraus, bahnt sich furchtlos ihren Weg durch das muffige, halbfeudale Deutschland, dem wissenschaftlichen Sozialismus den Weg ebnend und in ihn mUndend. Karl Marx' hohe Wertschätzung von Weitlings Hauptwerk ist bekannt: "Vergleicht man die nüchterne, kleinlaute Mittelmäßigkeit der deutschen politischen Literatur mit diesem maßlosen und brillanten literarischen Debüt der deutschen Arbeiter; vergleicht man diese riesenhaften Kinderschuhe des Proletariats mit der Zwerghaftigkeit der ausgetretenen politischen Schuhe der deutschen Bourgeoisie, so muß man dem deutschen Aschenbrödel eine 2 Athletengestalt prophezeien." Was die Arbeiter von einer künftigen Ordnung der Dinge erwarten - ein von Fron und Entmündigung freies Dasein - , das verkündet Weitling einer aufhorchenden Welt. Wie sie dahin gelangen können, das begründen ihnen hernach Karl Marx und Friedrich Engels. Weitling bringt in utopische Form, was Marx und Engels zur Wissenschaft entwickeln. Fürs erste aber zeigt sich Weitlings Entwurf ganz gut imstande, das Selbstbewußtsein der Arbeiter aufzurütteln und ihnen zu beweisen, daß die von Katheder und Kanzel als irreal, inhuman und widernatürlich verschriene kommunistische Welt nicht nur erstrebenswert, sondern auch lebensfähig ist. Im einzelnen dürfte der Weg von der Utopie zur Wissenschaft für viele Arbeiter zu dieser Zeit nicht viel anders aussehen, als ihn uns Friedrich Leßner aus eigener Erinnerung beschreibt: "Als ich, ein junger Schneidergeselle, im Jahre 1846 zum erstenmal in Hamburg eine kommunistische Rede hörte und darauf Weitlings ' Garantien der Harmonie und Freiheit' gelesen hatte, glaubte ich, der Kommunismus würde in einigen Jahren verwirklicht sein. Hätte mir damals einer gesagt, wir würden noch nach fünfzig Jahren unter der Herrschaft des Kapitalismus leben, ich würde ihn als einen Narren betrachtet haben. Das erste Aufblitzen des kommunistischen Gedankens hatte mich geblendet. . . Als ich aber Karl Marx im Jahre 1847 gehört und das 'Kommunistische Manifest' gelesen und verstanden hatte, wurde es mir klar, daß Enthusiasmus und guter Wille einzelner Personen nicht genügten, eine Umgestaltung der menschlichen Gesellschaft herbeizuführen. In dem Momente, wo ich gelernt hatte, die wirtschaftliche Entwicklung als einen entscheidenden Faktor in der Menschheitsgeschichte zu würdigen, wurde ich nüchtern und klar blickend. Und was ich an Enthusiasmus und Phantasie verlor, gewann ich an Zielbe3
wußtheit und Wissen." 2 3
Marx, Karl, Kritische Randglossen zu dem Artikel "Der König von Preußen und die Sozialreform. Von einem Preußen", in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke (im folgenden: MEW), Bd 1, Berlin 1961, S. 405. Leßner, Friedrich, Vor 1848 und nachher. Erinnerungen eines alten Kommunisten, in: Deutsche Worte. Monatshefte, hsg. von Engelberg Pernersdörfer, Bd XVIII (1898), S. 98.
Weitlings Vorstellungen von der Zukunft
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Wie bei seinen französischen Vorgängern und Zeitgenossen finden wir in Weitlings Gedankenwelt naturgemäß allenthalben Muttermale der unreifen Verhältnisse. Wie sie kommt auch e r ohne den Ballast utopischer Hilfskonstruktionen nicht aus. Dennoch greift e r ihre kritischen und konstruktiven Ideen bemerkenswert wohldurchdacht auf, verarbeitet sie originell und systematisiert sie mit aller ihm zu Gebote stehenden Logik. Nicht in der der Gesellschaft immanenten Bewegung sucht e r den Schlüssel zu ihren Entwicklungsgesetzen. Die proletarisch verstandenen Maximen von der menschlichen "Natur", "Vernunft" und "Gerechtigkeit" dienen ihm als Kriterien für die Beurteilung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Mit ihrem Maßstab mißt und verurteilt er kühn und respektlos die 4 "künstliche, betrügerische, sogenannte bürgerliche Ordnung". Vom Kopf auf die Füße stellen will er diese "verkehrte Welt", wie er sie gleich Charles Fourier charakterisiert. Eine vernünftigere und gerechtere Organisation, wie sie den proletarischen Begriffen von der menschlichen Natur entspricht, setzt er ihr entgegen, "Zeigen wir der Gesellschaft, wie sie ist in einer schlechten Organisation und was sie in einer bessern sein könnte.. , " 5 "Natur", "Vernunft" und "Gerechtigkeit" sind der bürgerlichen Aufklärung entliehene Prinzipien. Ungeniert zwingt Weitling die Bourgeois des 19. Jahrhunderts, gegen Waffen anzutreten, die sie selbst im 18. Jahrhundert im Kampf gegen Adel und Klerus geschmiedet haben. Wie seine kommunistischen Zeitgenossen in Frankreich und vorher schon Gracchus Babeuf sucht er diese Waffen den proletarischen Interessen dienstbar zu machen. Wie sie erfährt e r ihren begrenzten Wirkungsradius. Das überlieferte Instrumentarium erlaubt zwar, die alte Gesellschaft scharfsinnig und leidenschaftlich zu kritisieren, aber es reicht nicht aus, um sie bis zum Grund zu durchschauen. Weitling begreift zwar, daß das Proletariat sich selbst befreien kann und muß, aber er gelangt zu keiner brauchbaren Strategie und Taktik, die die Arbeiterklasse in den Stand setzt, die alte Gesellschaft zu überwinden. Auch die Probleme der neuen Gesellschaft - noch unausgegoren - erscheinen teils vereinfacht, teils in Phantasterei verstrickt. Er selber scheitert schließlich an seinem Unvermögen, sich von seiner Doktrin zu trennen und sich dem theoretischen und praktischen Werk von Marx und Engels zuzugesellen.
4 5
WeitUng, Wilhelm, Die Menschheit wie sie ist und wie sie sein sollte, 1839; Neuabdruck bei Kowalski. Werner. Vorgeschichte und Entstehung des Bundes der Gerechten, Berlin 1962 (im folgenden: Menschheit), S. 213. Weitling, Wilhelm, Garantien der Harmonie und Freiheit, Vivis 1842; Neuauflage, im Anhang mit Weitlings Zusätzen und Änderungen zur 3. Auflage von 1849, von Bernhard Kaufhold, Berlin 1955 (im folgenden: Garantien), S. 3.
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Waltraud Seidel-Höppner Aber halten wir es wie Engels, freuen wir uns " d e r genialen Gedankenkeime und Geg
danken, die unter der phantastischen Hülle überall hervorbrechen"
und die uns keineswegs
nur historisch interessieren. Denn wahrhaftig, wir haben uns dieser ersten Kämpen unser e r Klasse nicht zu schämen! Ihr Wirken hat dafür gesorgt und ihr Scheitern hat es nicht verhindert, daß die Forderung des arbeitenden Volkes nach tatsächlicher Herrschaft über jie von ihm geschaffenen Reichtümer nie verstummte. Wie viel von dem haben sie gedanklich geweckt und unter unsäglichen Mühen gehegt, was unter den Händen i h r e r Enkel, Nachfahren und Urenkel in der Deutschen Demokratischen Republik längst praktischer Alltag geworden ist, bereits Gestalt annimmt oder zum weiteren Programm gehört. In der e r s t e n sozialistischen Gesellschaftsordnung auf deutschem Boden, die sich auf das von Marx, Engels und Lenin geschaffene wissenschaftliche Fundament gründet, leben die besten T r a ditionen all jener bekannten oder kaum bekannten Streiter der vor- und frühproletarischen Bewegung in Deutschland, die mit Thomas Müntzer einen ersten Höhepunkt e r r e i c h t und in Wilhelm Weitling ihre letzte bedeutende Persönlichkeit hervorgebracht hat. Weitling legt seine Grundsätze e r s t m a l s in seiner 1838 f ü r den Bund der Gerechten 7 verfaßten Programmschrift "Die Menschheit wie sie ist und wie sie sein sollte" nieder, Einzelne Seiten entwickelt e r in den von ihm 1841 bis 1843 in der Schweiz herausgegebenen g Zeitschriften "Der Hülferuf der deutschen Jugend" und "Die junge Generation" weiter. Auf dem Gipfel seines Wirkens, 1842, bringt e r in seinem Hauptwerk "Garantien der H a r g monie und Freiheit"
seine Auffassungen in ein geschlossenes System. Weitere Gedanken
finden sich in seinen späteren Schriften, in denen e r sich jedoch nicht mehr auf der Höhe der Zeit und seiner eigenen bisherigen Laufbahn bewegt.
Im folgenden sind Weitlings
Auffassungen systematisch dargelegt; auf die historische Entwicklung wird nur bei wesentlichen Änderungen oder Erweiterungen eingegangen. Dabei werden Äußerungen nach 1843, die im ganzen bereits nicht mehr den gewachsenen Anforderungen des proletarischen Klassenkampfes entsprechen, nur gelegentlich zur Vervollständigung einzelner Ausführungen herangezogen. 6 7 8
9 10
Engels, Friedrich, Herrn Eugen Dührings Umwälzungder Wissenschaft,in: MEW, Bd20, S. 241. Menschheit, S. 213. Neuabdruck der wichtigsten Aufsätze in: Vom kleinbürgerlichen Demokratismus zum Kommunismus. Zeitschriften aus der Frühzeit der deutschen Arbeiterbewegung (1834-1847), hsg. von Werner Kowalski, Berlin 1967. Inzwischen erfolgte ein vollständiger Nachdruck im Zentralantiquariat der DDR, Leipzig 1972. Garantien, S. 3. Etwa im "Evangelium des armen Sünders", 1844 (Neuausgabe von Waltraud SeidelHöppner, Reclams Universal-Bibliothek Bd 345, Leipzig 1967); in der Schrift "Gerechtigkeit - ein Studium in 500 Tagen", 1845 (Erstausgabe von Ernst Barnikol, Kiel 1929); in der Flugschrift "Ein Nothruf an die Männer der Arbeit und Sorge", 1847; in Weitlings 184 8 in Berlin herausgegebener Zeitschrift "Der Urwähler"; schließlich in seiner 1850-1854 in New York von ihm redigierten Zeitschrift "Die Republik der A r b e i t e r " .
Weitlings Vorstellungen von der Zukunft I.
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Die "natürliche" Begründung des Kommunismus
Anders als manche seiner sozialistischen und kommunistischen Zeitgenossen gibt Weitling kein eigentliches Bild der kommunistischen Menschheitszukunft, weder eine bis ins einzelne gehende Konstruktion nach Art der Fourieristen noch eine romanhafte Darstellung wie Etienne Cabets "Reise nach Ikarien". Er hält - zumindest in der Theorie - nichts von starren Systemen. Das Auftauchen verschiedenartiger Pläne gilt ihm nur als weiteres "Beweismittel der Möglichkeit und Notwendigkeit" der Gütergemeinschaft. 1 1 Auch für sich beansprucht er keine Ausnahme. 1 ^ Dennoch weiß Weitling wohl, wie dringlich die von den herrschenden Klassen geduckten und mit Minderwertigkeitskomplexen belasteten Arbeiter ein greifbares, lohnenswertes Kampfziel brauchen. Ihnen und der ganzen Welt sucht e r zu zeigen, daß allein das Proletariat von jener Vernunft, Kraft, Opferfähigkeit und Menschlichkeit beseelt ist, ohne die eine wahrhaft humane Welt ein Traum bleibt. Selbstlos und unentwegt erarbeitet er sich unter unsagbar elenden Bedingungen in karger Freizeit die unverzichtbaren theoretischen Kenntnisse, um den lauten Forderungen und unausgesprochenen Erwartungen seiner Klassenbrüder mit einem Entwurf zur Neuordnung der Gesellschaft gerecht zu werden. Ähnlich dem hervorragenden französischen Arbeiterkommunisten Théodore Dézamy beschränkt e r sich darauf, die allgemeinen Prinzipien dieser Gesellschaft zu begründen. Wie dieser und zuvor schon Fourier, dem er viele konstruktive Gedanken entlehnt und vom proletarischen Blickwinkel her weiterführt, entwirft Weitling ein gedankliches System der klassenlosen Gesellschaft und verdeutlicht sein Funktionieren. Zwar kann Weitling den Charakter dieser Gesellschaft nicht auf die in ihrem Wesen noch unerforschte historische Gesetzmäßigkeit gründen, doch sucht e r nach einer allgemeinen Gesetzmäßigkeit der gesellschaftlichen Beziehungen, um hieraus das Regulativ der sozialen Neuordnung abzuleiten. Gegen die irrationalistischen und agnostizistischen Gesellschaftslehren gewandt, stützt er sein System auf "natürliche", durch die Vernunft erfaßbare und beherrschbare Gesetze. Aus den proletarisch verstandenen "natürlichen Bedürfnissen" und "natürlichen Fähigkeiten" des Menschen leitet er historische Überlebtheit der bürgerlichen und Notwendigkeit einer kommunistischen Ordnung der Dinge ab. Alles menschliche Tun wird nach Weitling vom Selbsterhaltungstrieb in Bewegung gesetzt, der sich als "Trieb zur Tätigkeit" und zugleich als "Trieb zur Geselligkeit und Vereinigung" äußert. Demgemäß strebt der Mensch "von Natur aus" nach Entfaltung und 11 Menschheit, S. 223. 12 Garantien, S. 124/125.
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Waltraud Seidel-Höppner
Bewährung seiner schöpferischen Wesenskräfte in der Gesellschaft. Der unablässig vorwärtsdrängende Selbsterhaltungstrieb weckt die "Begierden" - so nennt Weitling die Bedürfnisse - und entwickelt die Fähigkeiten, sie zu befriedigen. Unter drei Gattungen von Begierden subsumiert Weitling die Gesamtheit menschlichen Strebens: erstens die "Begierden des Wissens" (das Bedürfnis nachtechnischen, natur- und gesellschaftswissenschaftlichen Erkenntnissen), zweitens die "Begierden des Erwerbens" (das Bedürfnis nach Teilhabe an der gesellschaftlichen Produktion) und schließlich die "Begierden des Genießens" (das Bedürf13 nis im engeren Sinne der Konsumtion). Im Zusammen- und Wechselspiel der Triebe untereinander und besonders der Triebe und der Bedürfnisse bewegt und entwickelt sich die Gesellschaft. Die Klassengesellschaft hat diese natürliche Dialektik deformiert, denn sie bUrdet die Produktion der Mehrheit auf und macht die Konsumtion zum Privileg einer Minderheit. Die Gesellschaft in ihr natürliches Gefüge zurückzubringen, ist Aufgabe des Jahrhunderts. FUr Weitling wie für viele Kommunisten seiner. Zeit steht von vornherein "die Gesamtsumme der Fähigkeiten jeder Generation auch immer mit der Gesamtsumme ihrer Bedürfnisse im Einklang. Diesen Einklang mit den ungleichen Graden der Fähigkeiten und Begierden der 14 einzelnen in Harmonie zu bringen, dies muß die Aufgabe der Gesellschaft sein." Und da die Ausbeuterordnung mit ihrer Dazwischenkunft des Privateigentums diese Harmonie aus dem Gefüge gebracht hat, ist ihre Widernatürlichkeit im Grunde hinlänglich bewiesen. Im Weitlingschen Geschichtsdenken widerstreiten bereits - ihm selber unbemerkt - die Keime der im Saint-Simonismus und Fourierismus beheimateten dialektischen Entwicklungstheorie der überlieferten, ins Proletarische übersetzten Naturrechtsauffassung. Denn im allgemeinen räumt Weitling ein, daß alle Einrichtungen zur Zeit ihrer Entstehung einmal fortschrittlich waren; im einzelnen aber läßt er das wieder außer acht und übersieht die historische Daseinsberechtigung der Klassengesellschaften, in denen sich - auf Grund des niedrigen Entwicklungsstandes der Produktivkräfte - der kulturelle Fortschritt auf Kosten einer von ihm ausgeschlossenen Mehrheit durchsetzte. Dennoch lenkt er den Blick auf die Hauptaufgabe: zu einer Gesellschaftsordnung zu kommen, die allen gleichermaßen die Be15 friedigung ihrer Bedürfnisse und Entwicklung ihrer Fähigkeiten ermöglicht. Auch wenn Weitlings Dialektik von Trieben und Begierden uns heute aus der Kenntnis der enthüllten historischen Gesetzmäßigkeit der Gesellschaft heraus naiv und unhistorisch anmutet, damals rüttelte sie an elementaren Seiten des ökonomischen und gesellschaftlichen 13 Ebenda, S. 132, passim. 14 Ebenda, S. 11. 15 Ebenda, S. 10.
Weitlings Vorstellungen von der Zukunft
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Lebens. Denn wenn alle menschlichen Fähigkeiten und Bedürfnisse dem ursprünglich positiven Selbsterhaltungstrieb entspringen, dann rührt jede Störung und Perversion nicht von einer angeborenen Schlechtigkeit und Unvollkommenheit des Menschen, sondern von den Lebensumständen hér. Gewiß läßt dieses Konzept die spezifischen Gesetze der verschiedenen Gesellschaftsformationen im Dunkeln; es kennt nur eine durch das Privateigentum hineingekommene Deformierung des natürlich Gegebenen; aber es gibt fürs erste den rationalen weltanschaulichen Boden her, von dem aus die Notwendigkeit der gesellschaftlichen Umwälzung "vernünftig" begründet werden kann. Gilt das natürlicherweise harmonische Verhältnis von Produktion und Konsumtion als Bedingung des gesellschaftlichen Fortschritts schlechthin, muß man das Profitstreben beiseite räumen, das sich der ungehinderten technischen, wissenschaftlichen und kulturellen Entwicklung zugunsten aller entgegenstemmt. Hebt der Tätigkeitstrieb die produktive Arbeit in den Rang einer elementaren Lebensäußerung, auf der Reichtum, ja Existenz der Menschheit beruhen, so darf die Arbeit nicht wie in der "Umsonstfresser"-Ordnung Mittel der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen bleiben, sondern muß aus einer dem einen Teil aufgebürdeten Last wieder zum vornehmsten Lebensbedürfnis für alle werden. Erscheint das gesellschaftliche Zusammenwirken aller als natürliches Bedürfnis des Menschen, dann sind diese Beziehungen von jeder Unterdrückung zu befreien und so zu organisieren, daß Fähigkeit und Tätigkeit eines jeden die Fähigkeiten und Tätigkeiten aller anderen harmonisch ergänzen. Die Trennung von Arbeit und Genuß, die Disharmonie der Triebe in der Klassengesellschaft, die Knechtung des Wissens durch das Interesse der Minderheit und die Privilegierung und Entartung des Genießens haben einer natürlichen Harmonie zu weichen, und zwar in der ganzen Gesellschaft wie beim einzelnen. Die Garantie dafür bietet das gesellschaftliche Eigentum an den Produktionsmitteln und natürlichen Reichtümern, die Gütergemeinschaft.
n.
Die Gemeinschaft der Arbeiten und Genüsse
Weitling und seine Genossen wissen, daß der Reichtum der herrschenden Klassen und ihre Macht auf der Ausbeutung der arbeitenden Mehrheit durch die besitzende Minderheit beruhen. 16 Sie', die sich als "die nützlichsten Menschen des Erdbodens" begreifen , erkennen in allen Schätzen der Welt Produkte ihrer Arbeit. Wie die Ausbeutung zustande kommt, e r fassen sie freilich nur in ihren Erscheinungsformen. Denn dem Mehrwertgesetz kommen sie nicht auf den Grund. Sie meinen, der Unternehmer bestehle seine Arbeiter im Lohn, 16
Menschheit, S. 215.
Waltraud Seidel-Höppner
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und zwar um so schlimmer, je härter das Heer der Arbeitslosen die Arbeiter zur Annahme jeder Bedingung zwingt. Durchaus aber begreifen sie die Ausbeutung als Aneignung fremder 17 unbezahlter Arbeit.
Weitlings Kritik des Eigentums trifft den Lebensnerv der Ausbeuter-
gesellschaft. Die Genesis des Eigentums vermag er nicht aufzuhellen. Aber er weist schlüssig nach, daß im Eigentumsprivileg alle Übel und Gebrechen der Gesellschaft wurzeln: Hunger und Elend, soziale Degradierung, politische Entrechtung und Bildungsarmut der Besitzlosen, die Spaltung der Gesellschaft in einander feindliche Interessen und die damit einhergehende Demoralisierung, Egoismus, Neid und Habsucht, Laster und Verbrechen, Völkerfeindschaft und Krieg. Die Aufhebung des Klassenmonopols am Eigentum schält sich daher als Kernfrage der gesamten gesellschaftlichen Umgestaltung heraus. Es ist das proletarische Element, das sich in Weitling und seinen Genossen regt und das ihnen, die selbst nicht dem Industrieproletariat entstammen, sondern "nur ein im Übergang ins moderne Proletariat begriffener Anhang des Kleinbürgertums" sind, "ihre 18
künftige Entwicklung instinktiv zu antizipieren" erlaubt.
Weitling denkt nicht an eine,
Rückkehr zum persönlichen Eigentum des Kleinproduzenten. E r erstrebt auch keine bloß genossenschaftliche Ordnung, in der die spontanen Gesetze der Konkurrenz, der kapitalistischen Geldbeziehungen nach wie vor - nur unter sozialistischem Mäntelchen - ihr anarchisches Unwesen treiben und den einzelnen dem Zufall ausliefern. E r hat eine höhere Form des gesellschaftlichen Eigentums, eine nationale Gütergemeinschaft im Sinn, die ihre Verwandtschaft mit dem Babeuf sehen Muster keinen Augenblick verleugnet. E r will eine entwickelte kommunistische Gesellschaft mit gesamtnationaler Planung von Produktion und Konsumtion, in der jeder seinen Fähigkeiten und Neigungen gemäß arbeitet und genießt. Die Forderung 19 nach Gütergemeinschaft
, in der sich bei den Kommunisten seiner Zeit das Verlangen nach
gesellschaftlichem Eigentum an den Produktionsmitteln und natürlichen Reichtümern der Gesellschaft ausspricht, hebt Weitling sogleich aus der Masse der kleinbürgerlichen Sozialisten heraus, macht ihn zum erklärten Feind des liberalen Gesellschaftsideals und zum entschiedenen Wortführer des deutschen Proletariats. Eine bloße Umverteilung des Eigentums mit Hilfe bürgerlicher oder kleinbürgerlicher Reformen, wie sie von vielen Demokraten und Sozialisten seiner Zeit gefordert wird, kommt für Weitling nicht in Frage. Philanthropische Steuerreformen und Armenunterstützungen verwirft er mit kaltem Hohn. Auch das - wie er es glossiert - saint-simonistische "Originalbeglückungssystem" eines nationalen Kreditinstituts zur Beschaffung von Produktionsmitteln für die Arbeiter oder 17 18 19
Garantien, S. 117, 23. Vgl. Engels. Friedrich, Zur Geschichte des Bundes der Kommunisten, in: MEW, Bd 21, S. 211. Menschheit, S. 238.
Weitlings Vorstellungen von der Zukunft
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Louis Blancs ergänzendes Projekt der Nationalwerkstätten finden keine Gnade. Denn "die ganze Nationalbank-Philisterschaft" wird dem Arbeiter lediglich die Arbeitsmittel sichern, nicht aber die Arbeit selbst, und die Lösung dieser Seite des Problems durch Errichtung von Nationalwerkstätten läßt die Absatzfrage offen. Die Nationalwerkstätten müßten, um sich im Konkurrenzkampf durchzusetzen, die Preise senken und die Löhne kürzen. Das würde notgedrungen den Konkurrenzkampf in der ganzen Arbeiterklasse verschärfen. Weitling erklärt den Arbeitern, von denen sich noch viele nach einer eigenen Werkstatt sehnen: Der Krebsschaden liegt im Privateigentum als solchem. "Wenn wir die großen Geldhaufen kleiner machen, so haben wir in moralischer Beziehung mehr geschadet als genützt; denn wir haben dann einige Tausend mehr vom Wuchergeist angesteckt, dem un20 sere Generation nicht leicht widerstehen kann." Weitling identifiziert die Eigentumsfrage nicht einfach mit der Frage dinglichen Besitzes; er faßt das Eigentum bereits als Inbegriff gesellschaftlicher Beziehungen. Eindeutig definiert er die auf dem Privateigentum beruhende Gesellschaftsordnung als "Ordnung . des Individualismus", in der "die Arbeit des Menschen dem Zufall in die Hände gegeben" 21 ist.
Erst das gesellschaftliche Eigentum ermöglicht eine Organisation, in der die Men-
schen Herren ihrer Verhältnisse sind. Im gesellschaftlichen Eigentum erblickt er die 22 Basis neuer menschlicher Beziehungen und die Voraussetzung menschlichen Glücks für alle. Die kommunistische Gütergemeinschaft allein ist imstande, dem einzelnen alle berechtigten Wünsche zu erfüllen; sie verkörpert "das gemeinschaftliche Recht der Gesellschaft, unbesorgt in Wohlstand leben zu können . . . Wer 23 sich dereinst zu ihren Fahnen geseilt, derdauerndem kann die Welt als sein Eigentum betrachten." Der "Erwerbsfcrieb" aber wird auf die Aneignung der Kulturschätze der Menschheit gelenkt: "Bereichert euch mit Künsten 24 und Wissenschaften, den wahren Gütern der fortschreitenden Menschheit . . . " Stellt man sich Weitlings Zukunftsgesellschaft in Funktion vor, so darf man keinen Augenblick außer acht lassen, daß er immer den ausgebildeten Kommunismus im Blickfeld hat. Zwar sieht er wie alle Babouvisten eine Übergangsperiode von der Ausbeutergesellschaft zum Kommunismus vor, weil auch e r fühlt, daß man nicht einfach in den Kommunismus hineinspringen kann. Doch ist dies der Fragenbereich, in dem er sich am unsichersten vortastet und bisweilen zu recht abenteuerlichen Lösungen kommt. Wohl denkt er an Komplikationen, die sich dem Sieg des Kommunismus in einem Lande angesichts einer Welt 20 21 22 23 24
Ebenda, S. 218. Garantien, S. 28, 44. Ebenda, S. 12. Menschheit, S. 216. Ebenda, S. 217.
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von Feinden auftun werden, und zieht etwaige bewaffnete Auseinandersetzungen mit den alten Mächten in Betracht. Auch stellt e r die Schwierigkeiten in Rechnung, die sich vor einer kommunistischen Ordnung in Gestalt zäher Vorurteile und langlebiger spießerhafter Gewohnhelten vor allem bei den Kleineigentümer^ auftürmen. Aber e r weiß keinen andern Rat, als gleich in den ersten Tagen der Revolution das Unterste zuoberst 2u kehren und alles derart durcheinanderzuwürfeln, daß niemand mehr das Seine wiederfinden käme und 25 der Bankrott der alten Welt irreparabel würde. Niemals aber kommt ihm die Idee, daß es, um den Aufbau des Kommunismus an allen Fronten planmäßig zu sichern und voranzubringen, eines bewußten, organisierten politischen Vortrupps des arbeitenden Volkes in Gestalt einer proletarischen Partei bedarf. An den Sozialismus als erste Entwicklungsstufe des Kommunismus denkt zu seiner Zeit noch niemand. Weitling malt jene Triebkräfte, die sich erst im Sozialismus entwickeln können, bereits in üppiger Blüte. "Die Arbeit wird keine 26 Last mehr sein, die Kürze und die Abwechselung werden sie zum Vergnügen umschaffen." Denn es arbeiten alle gleichermaßen unter freundlichen Bedingungen und allen erdenklichen Erleichterungen. Sodann werden erstmals alle des von ihnen geschaffenen Reichtums froh. Sie wissen sich als Besitzer der von ihnen produzierten Güter; denn "wir arbeiten nicht mehr flir verschwenderische Faulenzer, 27 sondem für uns, nicht bloß für unsere Notdurft, sondern auch ftir unseren Uberfluß." 25 Gegen Ende 1852 kommt e r nochmals darauf zurück und schreibt: Eine kommunistische Revolution "würde wohl keine Personen massakrieren, aber über Nacht im ganzen Land mit allem aufräumen, was geeignet wäre, den Begriff des Eigentums zu versinnlichen. . . . alle Grenzen, Hecken, Mauern und Güter niederreißen, die Ackermarken wegreißen und das ganze Land durch Pflügen ebnen. . . . alle Waren in einem großen Magazin aufhäufen mit Vertilgung der Marken jedes H a u s e s . . . in 24 Stunden so alles bewegliche Eigentum mischen... nicht das Eigentum der Reichen, sondern das schlechte der Armen zu zerstören, um ihm umso mehr Grund zu geben, seine Berechtigung am Gemeingut festzuhalten. . . . Sobald infolge von Revolution und Krieg keiner mehr im eignen Neste sitzt, ist es fast unmöglich, das Eigentum wiederherzustellen. In einem einzigen Tage können auf diese Weise die Schöpfung und die Gewalt der Vorurteile, Sitten und Gewohnheiten von Jahrtausenden zerstört werden." Als Garantie gegen Mißbrauch der diktatorischen Gewalt empfiehlt Weitling während der Übergangsperiode die Bewaffnung der Arbeiter, und zwar nur der Arbeiter! (Republik der Arbeiter. 27.11.1852, S. 384.) 26 Menschheit, S. 216. 27 Ebenda, S. 217. Anfang der 50er Jahre geht Weitling nochmals auf die Überlegungen Fouriers, Owens, Cabets und die seinigen zur Arbeitsorganisation und zu den Arbeitsstimuli ein. Siehe Fortsetzungsartikel "Die Sozialreform in sieben Fragen, beantwortet von Sozialreformern 11 , in: Republik der Arbeiter, Zweiter J g . , New York 1851, 27.9., 7.10., 11.10., 18.10., 25.10., 1.11., 8.11.
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Die Wertschätzung des Menschen richtet sich nicht mehr nach der Art seiner Tätigkeit; die Verachtung der körperlichen Arbeit, die Geringschätzung unangenehmer Arbeiten hört 28
auf.
Jeder schafft aus freien Stücken seinen Kräften gemäß. Entscheidend hierfür ist die Brechung des Bildungsprivilegs, die den im Volke schlum-
mernden Talenten alle Schleusen zu höchster Entwicklung ihrer individuellen Fähigkeiten öffnet. Jeder Mensch erfährt die Arbeit als Betätigung und Entfaltung seiner persönlichen Fähigkeiten, als gesellschaftlich anerkanntes Erfolgserlebnis des eigenen Könnens. Die Arbeitszeit wird sich erheblich verkürzen. Kein Profitinteresse beschneidet dem technischen Fortschritt die Flügel. Schon in seiner Erstlingsschrift betont Weitltng mit kritischem Seitenblick auf den kurzsichtigen Haß der Kleingewerbetreibenden und der proletarischen Maschinenstürmer, daß die Maschinen "ein Glück für die Menschheit sein werden, wenn sie einst wie eine große Fami.Ue in Gütergemeinschaft lebt". Freilich dienen im Zustand der sozialen Ungleichheit Erfindung und Vervollkommnung der Maschinen dem Arbeiter nur dazu, "sein Elend zu vermehren, ohne seine Arbeit zu erleichtern", während unter den Bedingungen sozialer Gleichheit die 29 durch sie erzielte Einsparung an Zeit und Kraftaufwand dem Arbeiter zugute kommt. Zugleich hofft Weitling, durch Ausschaltung unnützer Berufszweige zusätzliche Arbeitskräfte zu gewinnen. Wie Fourier und D^zamy will auch er Müßiggänger und unproduktiv Beschäftigte, so die Reichen, deren Bediente, Beamten und "Bajonetthöere", ferner die 30 vielen überflüssigen Zwischenhändler, produktiver Arbeit zuführen. Mit der Aufhebung der Anarchie der Produktion nimmt schließlich auch die Vergeudung solcher Produkte ein Ende, die keinen Absatz finden. Weitling ist sicher, bei gleichzeitiger Erhöhung der gesellschaftlichen Produktion und des Wohlstandes die tägliche Pflichtarbeitszeit schon in wenigen Jahren auf sechs Stunden verringern zu können, sofern nicht die feindliche Umwelt das kommunistische Land mit Krieg überzieht. Ja e r meint, "daß nach bestandener, in Frieden verlebter 20jähriger Gütergemeinschaft die für die Wohlfahrt und den Lebensgenuß aller notwendige Arbeitszeit von täglichen sechs Stunden leicht auf drei 31 heruntergebracht werden kann". 28 Weitling weist Fourier scharfsinnig nach, daß seine Behauptung von der freien Wahl der Tätigkeit in der Phalange durch ökonomischen Zwang eingeengt wird, weil unter den Bedingungen der Vermögensungleichheit und höheren Bezahlung unangenehmer Arbeiten alle widrigen Verrichtungen zwangsläufig zur Domäne der Minderbemittelten werden müssen (Republik der Arbeiter, 27.12.1851, 13.3.1852). 29 Menschheit, S. 214. 30 Ebenda, S. 212. 31 Ebenda, S. 229.
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Waltraud Seidel-Höppner Auf diesen Voraussetzungen beruhen Weitlings Überlegungen zur kommunistischen
Organisation der Arbeit. "Die gesamten Fähigkeiten, welche alle anwenden, um die Be32 gierden zu befriedigen, nennt man Produktion" , definiert e r in seinem Hauptwerk. Die Produktion teilt e r in drei Sphären: die des Notwendigen, die des Nützlichen und die des Angenehmen. Die Produktion des Notwendigen schafft die f ü r die Existenz der Gesellschaft unentbehrlichen GUter. Dazu rechnet Weitling nicht nur die f ü r Nahrung, Kleidung, Wohnung und Erholung sowie für den erforderlichen Austausch nötigen Arbeiten, sondern auch alle Arbeiten für das Gedeihen und den Fortschritt der nützlichen Wissenschaften, für die Unterhaltung und Vervollkommnung der Heilanstalten und ftir die allgemeine Erziehung der Jugend. Die Produktion des Nützlichen umfaßt alle jene Arbeiten, die die Herstellung der GUter der ersten Kategorie erleichtern oder verbessern. Weitling erwähnt hier: Verbesserung der Arbeitswerkzeuge, Maschinen- und Straßenbau, Anlage von Eisenbahnen und Kanälen. Die Produktion des Angenehmen umfaßt den Bereich der Kultur im weitesten Sinne. Weitling denkt hier an speziell ästhetische Bedürfnisse, an kulturelle Werte und Einrichtungen aller bildenden und interpretierenden Kunstgattungen sowie des Kunsthandwerks, aber auch an Cafés und Restaurants, an Putz und Mode und an Genußmittel wie Tabak und Alkohol. Diese fast allen Kommunisten seiner Zeit geläufige, wenn auch nicht überall so konkret ausgeführte Dreiteilung ist nicht ohne weiteres in den Kategorien der produktiven und der unproduktiven Arbeit oder in denen der Produktion von Produktionsmitteln und der von Konsumtionsmitteln unterzubringen, obwohl sich Aspekte beider Unterscheidungen dahinter verbergen. Anders als Henri de Saint-Slmon geht Weitling nicht erstrangig von der Produktion aus; wie bei allen Babouvisten steht bei ihm die Konsumtion im Vordergrund aller ökonomischen Erwägungen. Indes spielt die Klassifizierung in notwendige, nützliche und angenehme Arbeiten eine entscheidende Rolle in seiner gesamten Ökonomie des Kommunismus. Sie bestimmt die Rangfolge f ü r die Investition der produktiven Mittel, insbesondere der Arbeitskräfte, für die Art und Weise ihres Einsatzes und für die Verteilung der Produkte. Zur Produktion des Notwendigen und des Nützlichen besteht allgemeine Arbeitspflicht; 33 "denn wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen". Entgegen der klerikalen Deutung der Arbeit als Attribut der Erbsünde entbehrt Weitlings Forderung nach allgemeiner Arbeitspflicht allen bitteren Beigeschmacks. Unmißverständliche Kampfansage gegen alle Ausbeu34 ter und Schmarotzer sowie ihre Handlanger , erfüllt sie dem arbeitenden Volk die F o r 32 Garantien, S. 135. 33 Menschheit, S. 212. 34 Garantien, S. 41.
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derung nach Schutz vor Arbeitslosigkeit, nach Recht auf Arbeit, für das sich bereits die Lyoner Arbeiter unter dem düsteren Motto "Arbeitend leben oder kämpfend sterben" erhoben hatten. In Weitlings Produktionsorganismus des Notwendigen und Nützlichen erfolgt die Vertei35 lung nicht nach der Leistung, sondern nach der Arbeitszeit. Jedes arbeitsfähige Mitglied der Gesellschaft hat ein gleiches Soll an Arbeitsstunden zu leisten, dessen allgemeine Höhe von den zuständigen Verwaltungsorganen nach gesellschaftlichem Bedarf festgesetzt wird. Für diese Arbeitspflicht ist ihm sein Anteil an allem Lebensnotwendigen seinen Bedürfnissen gemäß gesichert. Lediglich die Schwer- und Schwerstarbeiter erhalten eine Zulage an Produkten des Angenehmen (über die noch zu sprechen sein wird), aber augenscheinlich nur deshalb, weil sie eine größere Erholungszeit brauchen und sonst benachteiligt wären. Weitling unterscheidet im Bereich der materiellen Produktion überhaupt nicht zwischen verschiedener Qualität der Arbeit. Einen gewissen Unterschied macht e r lediglich zwischen körperlicher und geistiger Arbeit. Solche Geistesschaffende, die sich bereits durch Leistungen ausgewiesen haben, große Denker und Meister ihres Fachs, Professoren, Lehrer und Ärzte und die mit diesem Personenkreis identischen Mitglieder der leitenden Organe der Gesellschaft dürfen über ihre Arbeitszeit frei verfügen, da "das Genie dieser Personen der Menschheit oft in einem Jahre wichtigere Dienste leistet als Millionen Handarbeiter 36 während ihrer ganzen Lebenszeit". Im übrigen kann jeder die Art seiner Tätigkeit seiner Neigung entsprechend wählen, Sufern er sich dazu die nötigen Vorkenntnisse erworben hat, und kann sie, wenn er möchte, alle zwei Stunden wechseln. Die weniger anstrengenden Arbeiten bleiben älteren Leuten, Schwerbeschädigten und Menschen mit schwacher Gesundheit vorbehalten. Mag der Vorschlag eines zweistündigen Wechsels der Arbeitstätigkeit auch den Anforderungen moderner Technik und Technologie schwer standhalten, so bleiben Weitlings Pläne zur allgemeinen polytechnischen Erziehung und Ausbildung in mehreren Berufen wie die zur Verbesserung der hygienischen und ästhetischen Arbeitsbedingungen fruchtbare Anregungen, der Arbeit ihren einseitigen, abstumpfenden Charakter zu nehmen. Wie alle Kommunisten seiner Zeit fordert Weitling in der neuen Gesellschaft gleiche Möglichkeiten für jedermann, seine Fähigkeiten zu entfalten und seine Bedürfnisse zu befriedigen. Theoretisch ist die Gleichheitsforderung den Verheißungen der bürgerlichen Revolution entlehnt. Für Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit habben die Plebejer der P a r i s e r Vorstädte in der französischen bürgerlichen Revolution von 1789 ihre Haut zu 35
Zehn Jahre später verteidigt Weitling nochmals in ausführlichen Erörterungen die geleistete Arbeitszeit als einzig praktikablen Maßstab der Verteilung (Republik der Arbeiter, 24., 31. 1. und 7.2.1852). — 36 Garantien, S. 160.
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Markte getragen. Aber schon damals hatten sie andere Vorstellungen davon als die Bourgeoisie, die die Früchte des Kampfes einheimste. 40 Jahre später führen die Arbeiterkommunisten in Frankreich und Deutschland diese Forderungen zu einem eigenen proletarischen Programm fort. Spätestens in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre stellen sie der bürgerlichen Losung der politischen Gleichheit die Arbeiterlosung der sozialen und kulturellen Gleichstellung entgegen. "Entstanden aus der Reaktion gegen die bürgerliche Gleichheitsforderung, zieht sie mehr oder weniger richtige, weitergehende Forderungen aus dieser, dient als Agitationsmittel, um die Arbeiter mit den eignen Behauptungen der Kapitalisten gegen die Kapitalisten aufzuregen", und bringt auf diese Weise die Forderung nach Abschaffung der 37 Klassen zum Ausdruck; darin liegen Sinn und Grenzen. Die Forderung nach sozialer Gleichheit, die die Arbeiterkommunisten der dreißiger Jahre auf ihr Panier schreiben, will gleichermaßen jedem Mitglied der Gesellschaft, bei gleicher Entwicklungsmöglichkeit und gleicher Arbeitspflicht, für seinen Beitrag zur Produktion des Nationaleinkommens einen seinen Bedürfnissen gemäßen Anteil 3sichern. 8 "Allen gleiche Verteilung der Arbeit und gleichen Genuß der Lebensgüter." Wie alle Arbeiterkommunisten jener Jahre ist Weitling erklärter Feind des saintsimonistischen Leistungsprinzips. Um dies zu verstehen, muß man wissen, daß die Problematik des Leistungsprinzips für die Arbeiter zu dieser Zeit eine gänzlich andere ist als in unserer Epoche. Saint-Simon hatte seinen Grundsatz "Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Leistung" als Kampfruf aller nützlich Tätigen (einschließlich der Bank- und Industriekapitäne) gegen blaublütiges Schmarotzertum vertreten. Die Arbeiter der vierziger Jahre können in dieser Losung nichts anderes als liberale Apologie wittern. Allzu unverfroren wird ihnen Tag um Tag der Reichtum einer Profit einstreichenden Minderheit als "Frucht beruflicher Tüchtigkeit", als Äquivalent für Fähigkeit und Leistung vor Augen geführt. Durch demagogischen Mißbrauch dieser Forderimg gewitzigt - denn die kapitalistische Praxis ist weit davon entfernt, tatsächliche Leistungen mit entsprechendem Anteil am gesellschaftlichen Reichtum zu honorieren - , finden die Kommunisten dieser Jahre für den Begabteren öffentliche Anerkennung durch Betrauung mit 39 •• höheren gesellschaftlichen Funktionen als Leistungsstimulus hinreichend. Überdies
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Engels, Friedrich, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft, in: MEW, Bd 20, S. 99. 38 Menschheit, S. 221. 39 Ebenda, S. 218. Noch 1852 fordert Weitling kategorisch, daß der Jahresvorschuß für Künstler und Akademiker den Maximaljahreslohn eines Arbeiters nicht übersteigen dürfe und mit dem Kommerzbuch verfallen müsse (Republik der Arbeiter. 13.3.1852, S. 86).
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läßt die Machtfunktion des Geldes unter kapitalistischen Bedingungen sie fürchten, eine 40 erneute ungleiche Vermögensbildung möchte eine neue Hierarchie gebären. Im Kampf gegen den kleinbürgerlichen Sozialismus verteidigen auch Marx und Engels den Weitlingschen Verteilungsmodus als ein Prinzip, wodurch sich der Kommunismus "von jedem reaktionären 41 Sozialismus unterscheidet". Die Notwendigkeit des Leistungsprinzips im Sozialismus b e gründet Marx e r s t in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts. Übrigens meint Weitlings kommunistisches Verteilungsprinzip keine mechanische Gleichschaltung der Bedürfnisse. Und Weitling ist unter seinen kommunistischen Zeitgenossen keineswegs der einzige Gegner simpler Gleichmacherei. Gründlicher aber als alle sinnt e r nach Mitteln, alle Einförmigkeit und Unterdrückung der mannigfaltigen Fähigkeiten und Bedürfnisse zu vermeiden. Der ungehinderten Entfaltung der vielfältigen Bedürfnisse und Fähigkeiten der Individuen sucht e r in der Sphäre des Angenehmen den erforderlichen Spielraum zu sichern. Ihre Produktion beansprucht in seiner Ökonomie eine Sonderstellung. Gleich den meisten seiner kommunistischen Zeitgenossen teilt Weitlings Version nicht die asketischen Züge f r ü h e r e r kommunistischer Theorien, die - angesichts einer weit niederen Produktivitätsstufe - die Luxusproduktion ablehnten. Die Kommunisten der dreißiger J a h r e haben nichts gegen den Luxus; sie verneinen ihn lediglich als Privileg einer Minderheit. Sie befürworten alle Annehmlichkeiten des Daseins bis zum Kunstgenuß - aber eben f ü r alle. Vom Kommunismus versprechen sie sich endlich die allseitige Entfaltung aller Fähigkeiten, die Befriedigung aller Bedürfnisse, der materiellen wie der intellektuellen und ästhetischen. Nur solange, "als es noch Menschen gibt, die entbehren, sind alle Arbeiten, die nicht f ü r die Existenz und die Wohlfahrt aller notwendig sind, unnütze Arbei42 ten"
. Im Kommunismus, wenn alle im Besitz des Notwendigen sind, werden auch die
Genüsse des Angenehmen f ü r jeden da sein. Schon Weitling hat den Kommunismus gegen die reaktionäre Version vom "Kasernenhofdasein" zu verteidigen. Nicht minder muß e r mit der individualistischen Grundhaltung rechnen, die die bürgerliche Gesellschaft täglich aufs neue gebiert. So sucht e r nicht nur ständig zu beweisen, daß die kommunistische Gesellschaft jedem einzelnen die Befriedigung der persönlichen Bedürfnisse in weit höherem Maße sichert als je eine Gesellschaftsordnung zuvor, sondern baut auch in sein Modell ein funktionierendes System f ü r die ungehinderte Betätigung und Befriedigung der individuellen Neigungen ein. Das Notwendige haben alle gleichermaßen entsprechend der allgemeinen Arbeitszeit. Dagegen steht es ganz im Belieben eines jeden, welche und wieviele Annehmlichkeiten e r 40 41
Menschheit, S. 219. Marx, Karl/Engels. Friedrich, Die deutsche Ideologie, in: MEW, Bd 3, S. 528.
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sich darüber hinaus zu verschaffen wünscht. Dafür leistet e r entsprechende zusätzliche Arbeitsstunden, sogenannte "Kommerzstunden", d . h . Stunden, die f ü r den "Kommerz", den Austausch gegen Produkte des Angenehmen dienen. Sie werden in das "Kommerzbuch" eingetragen, das ein j e d e r besitzt, und bei Empfang des Gewünschten abgebucht, geleistete 43 "Arbeitsstunden" gegen empfangene "Genußstunden". Diese Kommerzstunden sind f r e i willig. Sie beziehen das verpönte Leistungsprinzip insofern ein, als sich der A r b e i t s f r e u dige mehr Annehmlichkeiten verschaffen kann als der Bequeme. Kommerzstunden und Kommerzbuch sind eine originelle Erfindung Weitlings. Dem Kommerzbuch zumal spricht e r noch weitere Funktionen zu. E s soll als spezifisches Austauschmittel der kommunistischen Gesellschaft gelten. Denn Weitlings kommunistische Gesellschaft kennt kein Geld. Im einmütigen Haß aller Kommunisten dieser J a h r e auf das Geld spiegelt sich nicht nur die Dominanz des Geldund Handelskapitals an der Schwelle der industriellen Revolution. Das Geld erscheint allen Kommunisten d i e s e r Zeit als vordergründig wahrnehmbare Verkörperung des Kapitals schlechthin. Der Bankier, der Wucherer und Börsenspekulant sind die bestgehaßten Vert r e t e r i h r e r K l a s s e . Im Geld erblicken alle Kommunisten das Mittel, die ungleiche V e r teilung von Arbeit und Reichtum zu verewigen; "solange es noch Geld gibt nach der jetzigen 44 Bedeutung des Worts, wird niemals die Welt f r e i werden" . An die Beibehaltung des Geldes in seiner überkommenen Funktion knüpft Weitimg die Befürchtung der Wiedergeburt sozialer Ungleichheit und Ungerechtigkeit und der Konservierung aller mit Egoismus und 45 Habsucht einhergehenden niederen Instinkte und L a s t e r . Dies ist kritische Distanz zu den saint-simonistischen, fourieristischen und blancschen Reformprojekten und kategorischer Imperativ f ü r den Kommunismus gleichermaßen. Schon vor Weitling gab es Bestrebungen, an Stelle des Metall- und Papiergeldes eine auf der Arbeitszeit beruhende Währung einzuführen. Wie alle Theoretiker des Arbeitszeitgeldes meint auch Weitling: Wenn das Geld als Ausdruck der notwendigen Arbeitszeit den Produktenaustausch ermöglichen soll, "warum ließ man dann nicht einen bestimmten Wert auf dasselbe prägen, als: Wert von einem Pfund Brot, einem Pfund Fleisch, Wert 46 von einer Stunde Arbeit in der Ernte, Wert von einer Stunde Arbeit mit der Nadel". Weitlings eigener Vorschlag ist weitergehend und differenzierter zugleich. In seinem ökonomischen System werden die Produkte des Notwendigen und Nützlichen ohne jedes 42 43 44 45 46
Menschheit, S. 212. Ebenda, S. 229/230. Ebenda, S. 215. Ebenda, S. 218. Garantien, S. 57.
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Austauschmittel direkt verteilt. Damit schaltet e r weitgehend den Handel aus, den er mit 47 gleicher Leidenschaft wie Fourier bekämpft. Jene verhaßten, wucherischen "Krämerheere", die Produktion und Konsumtion gleichermaßen belagern und unter dem Vorwand, sie zu erleichtern, bestehlen, haben im Kommunismus keine Daseinsberechtigung mehr. Eine direkte Verteilung der Güter des Notwendigen und Nützlichen nach dem Bedürfnis scheint Weitling ohne weiteres möglich, da sich der Bedarf leicht überblicken lasse und niemand von diesen Dingen mehr verlangen werde, als e r braucht. Anders steht es mit der Verteilung der Güter des Angenehmen, mit ihrem Austausch gegen die dafür zu leistenden Kommerzstunden. Hierfür findet Weitling eine dem Projekt des Arbeitszeitgeldes ähnliche, aber in vieler Hinsicht nicht nur einfachere, sondern auch ökonomisch vorteilhaftere Lösung in seinen Kommerzbüchern, die jedes erwachsene Mitglied der Gesellschaft erhält. Weitling erfaßt sehr scharf, daß mit einem Arbeitszeitgeld noch immer Spekulationen möglich sind; man kann es stehlen oder verschenken, verspielen oder vererben, verleihen oder darauf leihen, folglich anhäufen; man kann es zur Bestechung oder zum Erkaufen von Diensten mißbrauchen; es schließt Schatzbildung und Verschuldung nicht aus, und es 48 kann benutzt werden, um die Freiheit eines anderen zu beeinträchtigen. Alles dies fällt beim Kommerzbuch weg, denn es bleibt an die Person seines Besitzers gebunden; in ihm finden siph die vom Inhaber selbst geleisteten Kommerzstunden eingetragen und mit den von ihm selbst empfangenen Annehmlichkeiten verrechnet, und zwar in Arbeitsstunden als Rechnungseinheit. Da die Verrechnung innerhalb des laufenden Planjahres erfolgt, können Kommerzstunden nicht akkumuliert werden und auch keine Versorgungsstörungen hervorrufen. Weitling schildert sehr anschaulich die praktische Benutzbarkeit eines Kommerzbuches; e r berücksichtigt auch die Alten und Invaliden, denen Kommerzstunden als Rente gutgeschrieben, oder die Wissenschaftler mit langfristigen Forschungsaufträgen, denen Kommerzstunden vorgeschossen werden. Dabei besteht e r keineswegs auf seinem Kommerzstundensystem, sondern räumt ein, daß sich künftige, in Gütergemeinschaft lebende Generationen neue, vollkommenere Gesetze geben werden. "Kommerzstunden oder keine!
47 48
Menschheit, S. 213. 1852 betont Weitling nochmals eindringlich, daß auch Austauschkarten Übertragbarkeit und somit Schenkungen, Bestechungen, Betrug, Hasardspiele und Diebstahl nicht ausschlössen (Republik der Arbeiter, 14.2.1852).
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Das alles sind Nebensachen; die Hauptsache ist: alles für alle zu wollen, und nicht: etwas 49 für die einen, wenig für die andern, und nichts für die übrigen." ' In der Sorgfalt und Liebe, die Weitimg seiner Kommerzbuch-Idee widmet, spiegelt sich sein Bemühen, im Kommunismus gesellschaftliche und individuelle Interessen miteinander zu verflechten. Das Kommerzbuch wird zu einer Dokumentation der kommunistischen Persönlichkeit in allen ihren gesellschaftlichen Beziehungen. Es gilt als Personalausweis und Reisepaß, Arbeitsbuch und Sozialversicherungsausweis, Kaderakte und schließlich Geldbörse. "Die Kommerzbücher sind überhaupt alles in allem, was jeder zur Regelung der Harmonie des Ganzen Schriftliches gebraucht . . . Sie sind zugleich Tauf-, Heimatsund Freischein, Tage-, Stamm-und Rechnungsbuch, Schulzeugnis, Lehrbrief, Eintrittskarte, Empfehlungsschreiben, Reisepaß, Wechsel, Quittung, Kollekte, Geldbörse, Kalender. Sie sind der Spiegel aller geistigen und psychischen Bedürfnisse des Individuums, sein Porträt,
seine Biographie, 50 kurz, das ganze bildliche Ich des Individuums, wie es noch nie dargestellt wurde." Sicher haben bei der Kommerzbuch-Idee das Wanderbuch der Handwerksgesellen und die leidigen Erfahrungen mit der halbfeudalen Bürokratie im zerrissenen Deutschland Pate gestanden.' Aber wie dem auch sei, der Entwurf liefert den zu seiner Zeit kühnen Versuch, Problenje der kommunistischen Gesellschaft auf originelle Art zu lösen, einen Versuch, 51 der ähnliche Überlegungen seiner Zeitgenossen vor Marx in den Schatten stellt. Weitling teilt den Zorn aller Sozialisten und Kommunisten auf die vom Privateigentum herrührende Anarchie, die es mit sich bringt, daß hier Produzenten darben und dort lebensnotwendige Güter umkommen. Wie die meisten von ihnen fordert er, die Produktion zu planen, um den allen Mitgliedern der Gesellschaft zustehenden Anteil am Nationalein49
Garantien, S. 191. Dennoch hält Weitling noch 1851 bei Erörterung des besten Tauschsystems im Kommunismus seine Kommerzbuchlösung für die beste und stellt sie ausführlich den Versionen Fouriers, Owens und Cabets gegenüber. Er behandelt diesen Themenkomplex in 14 Nummern seines Fortsetzungsartikels "Die Sozialreform . . . " und widmet ihm dort mit Abstand den breitesten Raum (Republik der Arbeiter, 20., 27. 12. 1851, 3., 10., 17., 24., 31. 1. 1852, 7., 14., 21., 28. 2 . , 6 . , 13. und 19. 3. 1852). Am Verteilungsmodus Fouriers bemängelt Weitling die Möglichkeit arbeitslosen Einkommens durch Beibehaltung der Erbschaft und durch Möglichkeit der Kapitalverzinsung und überhaupt die Aufrechterhaltung dreier Klassen mit sozial gestaffeltem Lebensstandard. 50 Garantien (3. Auflage von 1849), S. 338. 51 Noch in den siebziger Jahren reibt Engels die Kommerzbuchidee Weitlings der Dühringschen verbohrtheit in die Metallgeldlösung unter die Nase (Engels, Friedrich. Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft, in: MEW, Bd 20, S. 282).
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kommen nicht durch Vergeudung zu schmälern. Natürlich wäre es unangebracht, Weitlings Plansystem abzuverlangen, sich mit den komplizierten Fragen der gesellschaftlichen Reproduktion zu befassen oder gar mit den Problemen, die sich aus der Komplexität und Verflechtung der Volkswirtschaft ergeben. Das alles sind Dinge, die dem Frühproletariat noch keine Sorge machen. Übrigens verfügt Weitling wie fast alle deutschen und französi52 sehen Arbeiterkommunisten über auffällig wenig ökonomisches Wissen. Deshalb mutet uns sein Planungsschema ein wenig simpel an. Zu unkompliziert erscheint der Organismus der Volkswirtschaft. Das Problem einer qualitativ höheren materiell-technischen Basis - die jenen materiellen Überfluß erst hergibt, der kommunistische Verteilung nach Bedürfnissen erlaubt - beschäftigt ihn überhaupt nicht. Er meint: "Da nun aber unser Mangel nicht von der zu geringen Erzeugung der Bedürfnisse (im Sinne von Bedarfsgütern - W.S.-H.), sondern von der ungleichen Verteilung derselben herrührt, so wird uns nach Einführung der Gütergemeinschaft eine dreifache Produktenvermehrung einen ungeheuren Überfluß gewähren." 5 ^ Soweit Weitling Planungsmethoden entwickelt, geht e r von der Konsumtionssphäre aus. Hier erfolgt jährlich eine Bedarfsermittlung durch Anmeldung des voraussehbaren Verbrauchs der Konsumenten für das kommende Planjahr und eine entsprechende Berechnung der Produktionsziffern für die einzelnen Produktionszweige und Werkstätten. Den Einsatz der dafür nötigen Mittel plant Weitling lediglich in bezug auf die Arbeitskräfte. Die Planung der Produktion des Angenehmen erfolgt in gleicher Weise wie die des Notwendigen und Nützlichen. Der einzelne gibt an, welche und wieviel Annehmlichkeiten e r im kommenden Planjahr in Anspruch nehmen will. Ihre Produktion wird dann eingeplant, sofern das E r wünschte nicht der Sitte oder den Gesundheitsvorschriften widerspricht. Wirkt sich der Materialverbrauch auf dem Sektor des Angenehmen nachteilig aus, so kann die Zahl der für den Erwerb dieser Güter abzuleistenden Kommerzstunden erhöht werden. Andererseits kann auch die Herstellung von Erzeugnissen des Angenehmen in den Produktionssektor des Notwendigen übernommen werden, wenn der Bedarf allgemein wird und die dafür nötigen Kommerzstunden zur Verfügung stehen. Im allgemeinen scheint Weitling von einem natürlichen Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Produktionsbereichen auszugehen, denn er meint ja, in der Gesellschaft sei die Summe aller Fähigkeiten der einzelnen Mitglieder der Summe aller Bedürfnisse quantitativ wie auch qualitativ gleich. Doch sieht e r sowohl eine ständige wie eine prognosti52 Vgl. Engels, Friedrich. Zur Geschichte des Bundes der Kommunisten, in: MEW, Bd 21, S. 211. Weitling besitzt allerdings das Hauptwerk von Adam Smith. 53 Menschheit, S. 236.
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sehe Arbeitskräftelenkung vor, um Disproportionen in der Wirtschaft zu vermeiden. Hauptregulator der gesamten volkswirtschaftlichen Planung sind die Kommerzstunden. "Wenn ein Geschäft mit Arbeitern überfüllt ist, so wird es gesperrt, d.h. es werden in 54 diesem Geschäfte keine freiwilligen Arbeits- oder Kommerzstunden gemacht." Die über die allgemeine Arbeitspflicht hinaus möglichen freiwilligen Arbeitsstunden zur Erlangung der Produkte des Angenehmen dürfen also dann nur noch dort geleistet werden, wo Arbeitskräfte fehlen; nur Mütter mit Kleinkindern und Schwerbeschädigte sind davon ausgenommen. Diese Maßnahme kann bis zu einer "allgemeinen Geschäftssperre" gehen, die nur noch einen Produktionszweig für Kommerzstunden offenläßt, um die Arbeitskräfte in unzureichend besetzte Betriebe zu lenken oder um alle Kräfte zur Bergung der Ernte einzusetzen. Die allgemeine Geschäftssperre stellt insbesondere das Gleichgewicht zwischen der Produktion des Notwendigen und Nützlichen und der des Angenehmen her und dämmt den Andrang zu Betrieben ein, in denen angenehme Arbeiten verrichtet werden. Notfalls wird auch die freie Wahl der Arbeitstätigkeit bei der Ableistung der Pflichtarbeit soweit eingeschränkt, 55 daß in überfüllten Berufen nicht mehr als zwei Stunden gearbeitet werden darf. Die gleiche Methode sieht Weitimg auch für die Berufsausbildung vor. Zwar erlauben polytechnische Erziehung und das Erlernen mehrerer Berufe eine relativ große Elastizität im künftigen Arbeitseinsatz, dennoch will Weitling den Zulauf zu Modeberufen dadurch begrenzen, daß bei einem zu großen Andrang die Prüfungen erschwert werden. Auch dies kann sich auf die Mehrzahl aller Berufe erstrecken, so daß Mangelberufen das nötige Reservoir an Facharbeitern gesichert ist. Diese mehr abdämmende Regulierung als zielstrebige Organisation kommt fraglos nicht an das heran, was wir unter planmäßiger Arbeitskräftelenkung und Prognostik der Berufsausbildung verstehen. Sie bleibt an der Konzeption der "natürlichen Triebe" hängen, deren spontane Harmonie es lediglich wiederherzustellen und zu sichern gelte. Theoretisch bewegt sich Weitling an der Grenze jener Einsichten, die ihm die damals in Deutschland, Frankreich und der Schweiz noch wenig entwickelte Industrie erlaubt. Dessen unbeschadet setzt e r dem liberalen Ideal der freien Marktwirtschaft das Modell einer zentral und 54 Ebenda, S. 230. 55 Über die Rolle der Geschäftssperre erläutert Weitling in den 50er Jahren nochmals, daß sie - außer Verhinderung von Mangel an Arbeitskräften bei unangenehmen Arbeiten, Sicherung der Produktion des Notwendigen, Verhinderung der Zügellosigkeit und Habgier einiger - sowohl das Gleichgewicht zwischen den Begierden und Fähigkeiten des einzelnen und dten Interessen und Fähigkeiten der ganzen Gesellschaft sichert als auch die freie Wahl zwischen angenehmen und unangenehmen Arbeiten wirklich jedem gleichermaßen offenhält (Republik der Arbeiter. 27.12.1851 und 13.3.1852).
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planmäßig gelenkten Volkswirtschaft entgegen, das eine Bedürfnisermittlung versucht und die Überlegenheit einer im Interesse des arbeitenden Volkes funktionierenden Planung der Produktion augenfällig macht. Den Arbeitern seiner Zeit, die im anarchischen Getriebe der kapitalistischen Wolfgesetze hungern, weil sie zuviel produzieren, die ihre Arbeit verlieren, weil sie deren Technik verbessert haben, die Tag und Nacht um ihren Arbeitsplatz bangen, bietet sein einfaches Planungssystem eine sinnfällige Synthese der freien Betätigung der individuellen Kräfte und der Bedürfnisse der ganzen Gesellschaft. III. Die Verfassung des großen Familienbundes der Menschheit
Auch im politischen F a h r w a s s e r türmen die unreifen objektiven Bedingungen der proletarischen Emanzipation vor den praktischen Anstrengungen und theoretischen Erwägungen - gemessen an den himmelsstürmenden Zukunftserwartungen - unüberwindliche Klippen auf. Das moderne Fabrikproletariat wird soeben e r s t von der industriellen Revolution gezeugt. Die Manufakturarbeiter sind, verglichen mit den im liberalen Klima Westeuropas gereiften proletarisierten Handwerksgesellen, politische ABC-Schützen. Obgleich die Lebensaufgabe Weitlings und seiner Genossen darin gipfelt, die Arbeiter politisch und o r ganisatorisch von den herrschenden Ausbeuterklassen zu emanzipieren, und sie praktisch und theoretisch in dieser Hinsicht Beachtliches vollbringen, handelt es sich f ü r sie immer um das arbeitende Volk als Ganzes, ungeachtet seiner Heterogenität. Wir werden daher im politischen Gefüge des Weitlingschen Kommunismusmodells vergeblich etwas von jener Kardinalfrage des wissenschaftlichen Kommunismus suchen, die e r s t Marx und Engels herausschälen werden: der führenden Rolle des modernen Industrieproletariats gegenüber rückständigen, mit überlebten Gewohnheiten und Auffassungen noch belasteten Klassen und Schichten. Damit hängt es zusammen, daß bei Weitling, so oft e r an eine Diktatur in der Übergangsperiode denkt, diese Überlegung nichts lnit dem zu tun hat, was wir heute unter Diktatur des Proletariats verstehen. Auch in der politischen Sphäre finden wir bei ihm vielerorts Fragen des entwickelten Kommunismus mit Problemen vermengt, die - wie wir heute wissen - vorher, im Sozialismus gelöst werden müssen, mit den Hebeln der Arbeite r-und-Bauern-Macht und einer tief im Volke verwurzelten revolutionären A r b e i t e r p a r t e i . Aber der politische Vortrupp des Frühproletariats kränkelt praktisch und theoretisch an der sozialen Struktur der Klasse, deren Repräsentanten e r vereinigt. Die politische Organisation leidet unter der Zersplitterung der in der kleinen Warenproduktion beschäf-
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tigten, wandernden Handwerksgesellen. Die kleine Warenproduktion gibt den Boden für eine straff organisierte, diszipliniert, konzentriert und schlagkräftig gegen das Kapital antretende Arbeiterarmee nicht her. Ohne eine solche Armee aber müssen sowohl die e r wogenen Mittel zur Überwindung der alten Gesellschaft als auch die Vorstellungen von der politischen Gestaltung der kommunistischen Ordnung utopisch bleiben. Wohl gehört Weitling zu den Geburtshelfern und zum Führungsgremium der ersten politisch selbständigen Vereinigung des deutschen Frühproletariats. In der Organisation erblickt er wie Auguste Blanqui und viele Babouvisten seiner Zeit die bewußte Avantgarde zur Eroberung der Macht, offenbar auch die politische Vorhut seiner Klasse und den ideologischen Führungsstab der Massen. Im Grunde aber erschöpft sich bei ihm die Aufgabe des Vortrupps in der ideologischen Vorbereitung der Arbeiterklasse auf die Revolu56 tion , sie endet im Augenblick des Sieges. Zwar nimmt er als sicher an, daß die Bundesmitglieder als die entschlossensten Vorkämpfer der Revolution in die führenden Positionen 57 gelangen werden.
Die politische Organisation selber aber scheint sich im Pulverqualm
der revolutionären Kämpfe aufzulösen. Jedenfalls stellt e r ihr keine weiteren Aufgaben. Für den Verlauf der Revolution beschränkt Weitling die Funktion des Vortrupps darauf, sich sogleich an die Spitze der spontanen Massenbewegung zu stellen und dafür zu sorgen, daß die Früchte des Zorns dem Volke endlich einmal selber in den Schoß fallen. Kenntnis des Ziels, der Aufgaben und der Form der künftigen Leitung der Gesellschaft bei den in Bewegung geratenen Massen scheint ihm Gewähr genug, daß die Arbeiter nicht Noch bei jenem Weitling, der soeben die Erfahrungen der Revolution von 1848/49 verarbeitet, fungiert die politische Vereinigung des Proletariats vorrangig als Propagandainstrument, mit dem am Ende Revolutionen "machbar" sind: "Wir können also nichts Wichtigeres tun, als uns für die Verbreitung solcher Grundsätze auf alle Weise zu vereinigen. Wir mUssen das Volk, das den Grund seiner Leiden nicht genau kennt, von Vorurteilen und Unwissenheit, von Gleichgültigkeit und Knechtsinn zu befreien und gegen Betrug, Täuschung und Sophistik zu wappnen suchen. Wir müssen es so lange über seine wahren Interessen aufklären, bis die Macht der Überzeugung eine Begeisterung hervorruft, die sich in einer Reihe von Revolutionen Luft macht und endlich zur vollständigen Befreiung führt. Die Verwirklichung des demokratisch-kommunistischen Familienbundes ist also der Endzweck. Die Vereinigung für diesen Endzweck oder der Befreiungsbund ist das Propagandamittel für diesen Zweck." Garantien, S. 357. 57 Gegen Ende 1852 empfiehlt er für eine Übergangsperiode zum Kommunismus: Um gute fähige Leiter zu haben, mache man den mutigsten Leiter der Revolution zum Diktator und überlasse ihm die Besetzung der wichtigsten Stellen (Republik der Arbeiter, 6.11.1852, S. 364).
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wieder einer neuen Fraktion der herrschenden Klasse in den Sattel helfen.
58
Deshalb auch
verwendet er soviel Scharfsinn und Liebe auf eine plastische Darstellung der "Konstitution 59 des großen Familienbundes der Menschheit". Zwei Prinzipien beherrschen Weitlings Vorstellungen von einer solchen Organisation und Leitung im kommunistischen Gemeinwesen. Erstens soll mit der jakobinischen Forderung nach Volkssouveränität Ernst gemacht werden. Sein zweiter Grundsatz führt die saintsimonistische Version weiter, wonach eine wissenschaftliche Lenkung der gesellschaftlichen Prozesse die bisherige Regierung - als Herrschaft von Müßiggängern über die Produzenten - abzulösen habe. Saint-Simon betonte den Aspekt des technischen Fortschritts gegen die verknöcherte feudale Verwaltungspraxis und vertrat vorrangig die Belange des jungen Unternehmertums. Weitling rückt das proletarische Interesse ins Blickfeld: das Abstreifen aller politischen Fesseln, in denen die herrschenden Klassen das arbeitende Volk niederhalten, das Abschütteln aller ihm fremden Gewalt, die selbstbewußte Leitung und Lenkung der ökonomischen und politischen Prozesse, die Selbstherrschaft des arbeitenden Volkes. In seinem Leitungsmechanismus modelliert er das Skelett einer funktionierenden Volksdemokratie, die sich als sachkundige Verwaltung aller ökonomischen und kulturellen Prozesse verwirklicht. Als selbstbewußte Handhabung seiner eigenen Angelegenheiten durch das arbeitende Volk versteht Weitling die Losung: "Eine vollkommene 60
Gesellschaft hat keine Regierung, sondern eine Verwaltung..."
, und führt derart die
jakobinische wie die saint-simonistische Auffassung zu proletarischen Konsequenzen. Nicht anders auch verstehen ihn prominente Zeitgenossen. Engels streicht die Entschiedenheit heraus, mit der Weitling es für den Kommunismus erstrebt, "jede auf Gewalt und Vorrang beruhende Herrschaft abzuschaffen und an ihrer Stelle eine bloße Verwaltung 61 einzusetzen, die die verschiedenen Arbeitszweigeorganisiert und deren Produkte verteilt" Wie dieses Ziel indessen zu verwirklichen sei, darüber wandeln sich Weitlings Ansichten in kurzer Zeit beträchtlich. Weitling entwirft seine erste Verfassung der kommunistischen Gesellschaft in der Programm schritt von 1838/39 "Die Menschheit wie sie ist und wie sie sein sollte". Aus58
59 60 61
Menschheit, S. 238. Und elf Jahre später nicht viel anders: "Die Begründung dieses Familienbundes ist aber ohne Revolution, und die Revolution dafür ist ganz gewiß ohne vorherige, wenigstens teilweise Aufklärung und ohne Verbreitung allgemeiner, leicht faßlicher, vollkommener, praktischer und unwiderlegbarer Grundsätze nicht möglich..." Garantien, S. 356 f. Menschheit, S. 224. Garantien, S. 30. Engels. Friedrich, Die "Times" über den deutschen Kommunismus, in: MEW, Ergänzungsband 2, S. 320.
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gehend von der Auffassung, daß Arbeit und Genuß, also Produktion und Konsumtion, die beiden wesentlichen Sphären des gesellschaftlichen und persönlichen Lebens sind, teilt e r die Verwaltung in zwei strukturell ähnliche Zweige. F ü r den Bereich der Produktion gilt die "Geschäftsordnung", f ü r die Bereiche außerhalb der Produktion die "Familienordnung" . 62
In der Familienordnung ist die kleinste Einheit die "Familie".
Je tausend solcher
Familien organisieren sich zu einem "Familienverein" mit einer aus ihrem Schöße gewählten "Vereinsbehörde" an der Spitze; zehn Familienvereine konstituieren einen " F a m i l i e n kreis" mit einer gewählten "Kreisbehörde". Die Kreisbehörden wiederum entsenden je einen Abgeordneten in den "Kongreß des großen Familienbundes", und dieser schließlich wählt einen "Senat" als höchstes gesetzgebendes Organ. Eine direkte Wahl der V e r t r e tungskörperschaften läßt Weitling höchstens bis zur Kreisebene zu. Offenbar will e r den Wählerkreis jeweils auf solche Personen begrenzen, die den Kandidaten unmittelbar aus seiner Tätigkeit beurteilen können. Die höheren Leitungen werden daher von den Leitungskollektiven ihres Bereichs gewählt. Die Geschäftsordnung gliedert die Werktätigen in drei Hauptberufsgruppen: den "Bauernstand", den "Werkstand", zu dem alle gehören, die im Handwerk, im künstlerischen Gewerbe, an Maschinen und in Fabriken tätig sind, und den "Lehrstand", der Wissenschaftler, Lehrer und E r z i e h e r einschließt, außerdem noch die "industrielle A r m e e " , von der später zu sprechen sein wird. Im streng demokratisch durchgeführten Wahlrhythmus von unten nach oben durchpulst die Forderung nach Volksherrschaft die produktive Daseinssphäre der Arbeiterklasse, den Bereich der Produktion. Die unteren Funktionäre vom Brigadier bis zum Meister werden direkt gewählt. Die höheren Organe kommen ähnlich zustande wie in der Familienordnung. "Landwirtschaftsrat", "Gewerbsausschuß" und "Gelehrtenausschuß" sind die zentralen Leitungs'gremien. An der Wahl des Gewerbsausschusses sind die "Meisterkompagnien" beteiligt, die (jeweils eine auf etwa 100 000 Arbeiter) alle jene Arbeiter vereinigen, die die Produktion durch eine nützliche Erfindung oder Verbesserung vorangebracht haben. Auf diese Weise finden wir bereits in Weitlings System der Produktionsleitung den Neuerern auf höherer Ebene Sitz und Stimme eingeräumt. Ihre direkte Teilnahme an der Bildung des obersten Leitungsorgans der Industrie soll offenbar sichern, daß dort alle bewährten Spezialisten der verschiedenen Produktionszweige vertreten sind. 62
Es wird nicht ganz deutlich, ob Weitling an die Familie im landläufigen Sinne oder mehr an die ihm aus dem Handwerkermilieu vertraute Haus- und Wohngemeinschaft denkt, die Gesellen und Lehrlinge einbezieht. Erschließen läßt sich, daß diese Familie im Durchschnitt zehn Köpfe umfaßt.
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Zentrales Vollzugsorgan ist das "Ministerium", dem die Sorge f ü r die Produktion im zentralen Maßstab obliegt. Hier finden wir die Vorsitzenden der verschiedenen Produktionszweige, also die erfahrenen Spezialisten aus der P r a x i s , und die führenden F o r s c h e r der Universitäten. In der Zusammensetzung des Ministeriums kommt der Gedanke, daß die Gesellschaft von Sachkundigen geleitet werden muß, am deutlichsten zum Ausdruck. Es ist ein Ministerium von Fachleuten, Plankommission und Forschungsrat zugleich. Über allem thront als höchstes gesetzgebendes Organ der aus der Familienordnung hervorgegangene Senat, in dem sich beide Verwaltungszweige wieder verklammern. Ihm obliegen Registratur, Planung und Verteilung der Konsumgüter der ganzen Gesellschaft und die Lenkung der dazu nötigen Arbeiten. E r beruft aus dem Gelehrtenausschuß die P r o fessoren und verantwortlichen Leiter der Unterrichtsanstalten. " E r sorgt f ü r die zur Wohlfahrt aller nötigen Gegenstände, als Nahrung, Wohnung, Kleidung, Kunst und Wissenschaft, Bequemlichkeit und Vergnügen, und f ü r alle auf gleiche W e i s e . " 6 3 Zu seiner Unterstützung holt e r sich aus dem Landwirtschaftsrat und dem Gewerbsausschuß "Direktoren" , die im Bezirk von jeweils zehn Familienkreisen (das sind etwa eine Million Menschen) f ü r Bedarfsermittlung und Verteilung der angelieferten Produkte verantwortlich sind. Die Direktoren ermitteln die Kennziffern der f ü r die Konsumtion erforderlichen Produktion, die der Senat dann den einzelnen Fachministern im Ministerium als Planauflage zustellt. Diese Planziffern werden durch die Präsidenten und in w e i t e r e r Folge durch die mittleren und unteren Organe jeweils weiter aufgeschlüsselt. Weitling ordnet auch verwaltungsmäßig die Produktion der Konsumtion unter. Gewiß vereinfacht e r dadurch zwangsläufig viele E r f o r d e r n i s s e eines kommunistischen Leitungss y s t e m s . Doch entspricht diese Verkehrung, die wir bei vielen Kommunisten jener J a h r e beobachten, der Forderung der werktätigen Massen, die Produktion endlich und e r s t m a l s vom Bedürfnis der arbeitenden Menschen her zu regeln. Nach Weitlings Vorstellungen nimmt die Planung ihren Ausgang von den Bedarfsmeldungen der kommunalen Einheiten und i h r e r einzelnen Mitglieder; sie wird zentral koordiniert und kehrt dann als Planauflage wieder zu den gleichen Kollektiven zurück, diesmal als Planauflage f ü r sie in i h r e r Eigenschaft als Produzenten. Dabei bemüht sich Weitling um eine enge Verflechtung von Produktion und Konsumtion. Der Senat, der über das Ministerium und die Bezirksdirektoren als ausübende Organe verfügt, zieht in ihren Gremien die Spezialisten der Produktion f ü r die Betreuung und Beaufsichtigung von Konsumtion und Verteilung heran. Auch auf unterer Ebene sucht Weitling diesen unmittelbaren Kontakt. So stellt zwar das Ministerium aus den zentral verwalteten Fonds das Material 63
Menschheit, S. 227.
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für Kleidung und Möbel bereit, über modischen Schnitt und innenarchitektonische Gestaltung aber bestimmen die Behörden der Familienvereine, die für tausend Familien sorgen, gemeinsam mit den zuständigen "Werksvorständen", die jeweils tausend Arbeiter vertreten. Weitling führt den Arbeitern eine von ihnen selbst geleitete Verwaltung vor, ohne Kapitalisten, Bürokraten und Manager, und zwar zu einer Zeit, in der die herrschende Klasse und ihre Gelehrtenzunft das Proletariat zur Leitung von Staat und Wirtschaft außerstande erklären und die Bildungsarmut und geistige Abhängigkeit des Frühproletariats und der Landbevölkerung dies zu bestätigen scheinen. Wenn wir den konstruierten Aufbau mit seiner dezimalen Staffelung - die auch Robert Owen bevorzugt - und die handwerklich-zünftlerische Färbung und Terminologie beiseite schieben, so finden wir, daß Weitimg das Grundproblem der sozialistischen und kommunistischen Verwaltung erfaßt und zu lösen versucht: optimale Verbindung der demokratischen Mitbestimmung mit zentraler wissenschaftlicher Leitung. Alle Verwaltungsorgane werden von unten nach oben gewählt, und zwar unmittelbar vom Volk nur insoweit, als sie noch direkt dessen sachkundiger Auswahl und Kontrolle unterworfen werden können. Wo dies nicht mehr gewährleistet ist, zieht Weitling die Wahl durch die jeweils niederen Vertretungskörperschaften vor und hält in bestimmten Fällen die Berufung durch das übergeordnete Organ aus dem dafür legitimierten Kandidatenkreis für zweckmäßig. Weitlings Organisationsprinzip sieht die Einzelverantwortlichkeit des jeweiligen Leiters vor, ordnet sie jedoch in die kollektive Entscheidung ein und unterwirft beide der doppelten Kontrolle von unten wie von oben. Sein Versuch, demokratische Mitbestimmung von unten mit zentraler Leitung zu verschmelzen, schließt die Wiedergeburt einer sich selbst verantwortlichen Beamtenhierarchie aus. Wie die bürgerlichen Republikaner legt Weitimg in seinem ersten Modell augenscheinlich großes Gewicht auf demokratische Formen, insbesondere auf den Wahlmodus. Er sieht ein allgemeines, gleiches, wenn auch nicht durchgängig direktes Wahlrecht vor. Jeder hat eine Stimme in der Familienordnung und eine Stimme in der Geschäftsordnung; ja es scheint, als billige Weitling auch in der Geschäftsordnung dem einzelnen mehrere Stimmen zu, sofern er in mehreren Hauptberufsgruppen zugleich arbeitet. Das wäre nur eine Konsequenz des Prinzips, daß das Recht mitzuplanen und mitzuregieren auf der Mitarbeit am gemeinsamen Werk beruht. Die Frau genießt ebenfalls in jeder Arbeitsklasse, in der sie arbeitet, aktives und passives Wahlrecht. Die Wahlperiode beträgt je nach der Größe des Bundesgebiets ein bis drei Jahre. Dabei wird der Senat jedesmal zu einem Drittel erneuert, um einen steten Zustrom neuer Kräfte bei Kontinuität der Geschäftsführimg zu gewährleisten. Das Vertrauensvotum erneuter oder gar mehrfacher Wiederwahl läßt
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Weitling für Fachleute im Ministerium gelten. Auch die Beschlüsse werden nach den Regeln parlamentarischer Demokratie, nach dem Mehrheitsprinzip, gefaßt. Allgemein gilt, und Weitling betont dies als einen der zehn Grundsätze für das wahre Glück der Menschheit: "Hervorgehung der leitenden Behörden aus den allgemeinen Wahlen, 64 Verantwortlichkeit und Absetzbarkeit derselben." Die Errichtung und Funktion der neuen Verwaltung verläuft der Form nach im wesentlichen in den überkommenen Bahnen bürgerlicher Demokratie. Als Weitling "Die Menschheit wie sie ist und wie sie sein sollte" schreibt, mag er vornehmlich das halbfeudale Deutschland und Österreich vor Augen haben, wo die absolute Monarchie mit ihrer Beamtenaristokratie regiert, "als wenn die Weisheit 65 ein Zuchthengst wäre, der seine Eigenschaften auf eine und dieselbe Race verpflanzt" , wie e r später glossiert. Im Kampf gegen den gemeinsamen Feind unterstützen die Arbeiter die Forderung der kleinbürgerlichen Republikaner nach allgemeinem Wahlrecht; sie selber meinen anfangs, eine Republik werde es ihnen gestatten, durch ihr zahlenmäßiges Übergewicht in der Waagschale des allgemeinen Stimmrechts ihre eigenen Forderungen auf demokratische Weise durchzubringen. Auch Weitling ist anfänglich nicht frei von solchen kleinbürgerlichen Illusionen, wenngleich e r bereits in seinem Erstlingswerk düster zu bedenken gibt: "Das beste Werk darüber (über die gesellschaftliche Reform - W.S.-H.) werden wir aber 66
wohl mit unserm Blute schreiben müssen." Als er vier Jahre später, 1842, seinen Klassengenossen in den "Garantien der Harmonie und Freiheit" einen neuen Verfassungsentwurf vorlegt, hat er mit dem allgemeinen Wahlrecht nicht mehr viel im Sinn. Der Vergleich beider Projekte verdeutlicht, wie rasch sich die proletarische Emanzipationsbewegung Ende der dreißiger, Anfang der vierziger Jahre aus dem kleinbürgerlichen Republikanismus mausert und nach neuen, höheren Formen der Demokratie sucht. Weitimg verfügt inzwischen über eigene Erfahrungen mit bürgerlichen "Wahlkomödien" in Frankreich und in der Schweiz. Er kennt und versteht nun die Kritik der französische:* und englischen Kommunisten an der vermeintlichen "Volksherrschaft" bürgerlich-republikanischen Musters, und gleich ihnen neigt er dazu, sie in Bausch und Bogen zu verwerfen. Fortan müht er sich, die Köpfe der Arbeiter von republikanischen Illusionen zu befreien. Der Form nach nicht so ätzend wie Dézamy, der 67 die Wahlurne kurzweg als "Gefäß der Prostitution" abtut , der Sache nach aber nicht minder treffend, durchleuchtet e r den bürgerlichen Wahlbetrieb: die Rolle des Geldes und 64 Ebenda, S. 221. 65 Garantien, S. 144. 66 Menschheit, S. 223. 67 Dézamy. Théodore. Code de la communauté, Paris 1842, S. 253.
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der persönlichen Beziehungen, der Korruption und Erpressung, der Manipulierung der öffentlichen Meinung und der Methoden psychologischer Massenbeeinflussung. Er demonstriert an den Resultaten, wieviele Nichtswürdige, Hohlköpfe und Charakterlose mit Ämtern und Ehren, Titeln und Würden behängt werden. Und e r kommt zu dem Ergebnis, "daß das, was man in bezug auf die Wahlen Volksherrschaft nennt, nichts ist als eine angenehme Täuschung, ein Begriff, der, genau kritisiert, viel verspricht und wenig 68
hält".
Wohl gesteht er dem allgemeinen Stimmrecht seine Vorzüge gegenüber feudal-
bürokratischer Verfassung zu, echte Volkssouveränität und Herrschaft des Wissens aber garantiere es nicht. Deshalb verneint Weitling - im Gegensatz zu Cabet - nunmehr eine bürgerlich-demokratische Verfassung mit allgemeinem Wahlrecht sowohl für den Übergang zum Kommunismus wie für die entwickelte kommunistische Gesellschaft. Im Grunde spiegelt sich in Weitlings krampfhaftem Ringen um die geeignete F o r m und überhaupt in seiner Betonung der Formfrage die richtige Erkenntnis, daß eine umfassende kommunistische Demokratie auch höherer Formen bedarf. Aber es spiegelt sich in dieser Überbetonung der Formfrage auch das Unvermögen, zum W e s e n der neuen sozialistischen Demokratie, zu ihrem Klassengehalt, vorzustoßen. Wieder sind es die kleinbürgerlichen Verhältnisse der Schweiz und Deutschlands, die ihm verwehren, im modernen Industrieproletariat den Klassenträger der künftigen Macht auch nur zu ahnen. Darum neigt e r dazu - wie übrigens auch alle Kleinbürger - , die gesamte Problematik der sozialistischen Demokratie vorwiegend von der Form her bewältigen zu wollen. Für die Übergangsperiode scheint Weitling nunmehr - da e r bürgerliche Formen end69 gültig verworfen hat - die Diktatur eines Volkstribunen noch als das sicherste. Was die neue Gesellschaft betrifft, räumt e r zwar - Blanquis Überlegungen teilend - später ein, das Prinzip der demokratischen Wahlreform sei "dann erst segenbringend..., wenn die alten Zustände gefallen sind und auf deren Basis die Unwissenden nicht mehr in ihren Ab70 71 Vor Stimmungen betrogen werden können" ; doch hat e r genügend Gründe dagegen. allem sichere das allgemeine Stimmrecht in keiner Weise, daß nicht persönliche und Grup68 Garantien, S. 146. 69 Allerdings schlägt Weitling im Jahre 1849 unter dem Druck der revolutionären Volksmassen in den "Demokratischen Grundsätzen" seines Befreiungsbundes als Übergangsform zur "wahren Demokratie" die Einführung eines "provisorischen revolutionären Wahlrechts" vor, nach dem nur Werktätige stimmberechtigt, alle "Kapitalisten, Kaufleute, Wucherer, Juristen, Pfaffen, Bedienten und dergleichen den sozialen Zweck störende Erwerbsleute" vom Stimmrecht ausgeschlossen sind. Garantien (3. Auflage von 1849), S. 358. 70 Ebenda, S. 318. 71 Garantien, S. 144/145.
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peninteressen durch Schönrednerei über das Gesamtinteresse und die nötige Sachkenntnis triumphieren; es garantiere nicht, daß tatsächlich "die hellsten und talentvollsten Köpfe . . . immer an die Spitze der Geschäfte dringen können und jede Regierung des persönlichen 72 Interesses und der Intrigen" unmöglich wird. In diesen Überlegungen führt Weitling die Grundhaltung des alten Babouvismus, der alles durch und für das Volk wollte, mit der der Saint-Simonisten, denen ausschließlich Sachkenntnis galt und die nach Verwissenschaftlichung der gesellschaftlichen Leitung strebten, auf höherer Stufe zu einer Synthese. Weitlings Ideal kommunistischer Leitungstätigkeit vereinigt maximale Sachkenntnis - möglichst in mehreren Berufen - mit politischer Gesamtsicht und dem Vermögen, alle Entscheidungen vom Standpunkt der Gesamtheit der Interessen des arbeitenden Volkes zu treffen. Großartig bleibt die Substanz seiner Kritik, weitblickend und scharfsinnig seine Fragestellung; in seiner Lösung freilich treten die Mangelkrankheiten der damaligen Arbeiterbewegung überdeutlich hervor; in der rigorosen Ablehnung allgemeiner Wahlen schwingt die Sorge um den rückständigen politischen und intellektuellen Reifegrad des arbeitenden Volkes mit; die Version der persönlichen Diktatur eines Volkstribunen sucht den Mangel einer revolutionären Massenpartei zu kompensieren, freilich auch das Fehlen starker Gewerkschaftsorganisationen, in denen sich die Besten der Klasse das Rüstzeug zur Leitung der künftigen Gesellschaft verschaffen könnten. Seine "Lösungen" vermögen diese Mängel zwar nicht auszugleichen. Dennoch öffnet Weitling den Arbeitern die Augen über die bürgerliche Demokratie und weist zugleich auf die Notwendigkeit neuer demokratischer Formen der Machtausübung im Sozialismus hin. In seinem Konzept, das er 1842 in seinem Hauptwerk vorlegt, sucht Weitling in erster Linie nach Sicherungen, die dem Wissen den ersten Rang im Leitungssystem garantieren 73 und die das persönliche Interesse ausschalten. Um echte Verwissenschaftlichung der Verwaltung geht es ihm; die talentvollsten und ideenreichsten um das Wohl des Ganzen 74 "Der Handlanger bei einem 75 Bau kann da wohl seinen Werkführer wählen, aber nicht den Architekten..." , der einen
besorgten Köpfe müssein das Ruder in die Hand bekommen.
ganzen Komplex zu Uberblicken hat. Um über einen solch großen Bereich sachkundig zu urteilen, muß man sich vorher die nötigen Kenntnisse erwerben. Dazu hat im Kommunismus jeder die Möglichkeit. 72 73 74 75
Ebenda, S. 225. Ebenda, S. 143/144. Ebenda, S. 148, 157. Garantien (3. Auflage von 1849), S. 321.
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Möglichkeit und Mittel zu allseitiger Bildung forderte Weitimg schon 1838; nunmehr setzt er sie in unmittelbare Beziehung zur Errichtung der Selbstherrschaft des arbeitenden Volkes. Weitling will keine Herrschaft einer intellektuellen Elite wie die Saint-Simonisten. Er widersetzt sich auch dem Leitungssystem in Fouriers Phalange, in dem die Leiter der Arbeitsgruppen als die Geschicktesten ihres Faches lediglich n e b e n greisen Patriarchen, finanztüchtigen Aktionären und Magnaten (Fürsten, Grafen und dergleichen, die Titel und Rang in der neuen Gesellschaft behalten) bestimmen sollen. Desgleichen findet Owens Vorschlag, die Leitungsfunktionen des Innern den Dreißig- bis Vierzigjährigen, die des Xußern den Vierzig- bis Sechzigjährigen zu übertragen; in Weitlings Augen keine Gnade. Weitling will die Fähigsten aus dem Volke sowie bewährte Wissenschaftler, die allesamt dem Kommunismus wahrhaft ergeben sind, mit der Leitung betrauen. Nur so meint er, das persönliche Interesse ausschalten zu können, und hofft, es werde "der Kampf des alten 76 mit dem neuen . . . lustigem Vorwärtsschreiten" Platz machen. "Eine solche Einrichtung kann man nun wohl auch eine Volksherrschaft nennen; ich aber nenne sie eine Herrschaft 77 des Wissens." Durch sein neues Wahlprinzip, das er der Besetzung aller entscheidenden Leitungsfunktionen zugrunde legt, hofft er dies zu bewerkstelligen. Die "Meisterkompagnien", d.h. die Neuerergremien, die "Zentralmeisterkompagnien", die auf zentraler Ebene neu hinzukommen, und die Akademien stellen öffentlich Aufgaben und Probleme ihres Bereichs als Preisfragen, "Konkursfragen", die zum Wohle der Gesellschaft gelöst werden sollen. Jeder, der sich befähigt meint, kann seinen Vorschlag in geeigneter Form, als Abhandlung, Zeichnung, Modell usw. einsenden. Die Prüfung erfolgt durch das zuständige Fachgremium, das'die besten Vorschläge annimmt, sie zugleich in die Produktion überführt und den Urheber mit der vakanten Funktion betraut. Die Auswahl der Bewerbungen vollzieht sich unter der Kontrolle der Öffentlichkeit. Kommt die Prüfungskommission zu keinem einmütigen Ergebnis, so wandern Arbeit und Gutachten wieder zu den Werkvorständen, und hier wird mit Stimmenmehrheit entschieden. Zuletzt stehen sämtliche eingereichten "Wahlproben" zusammen mit den zustimmenden 76
Republik der Arbeiter, 29.11.1851, S. 258 f. In Seinem Fortsetzungsartikel "Die Sozialreform in sieben Fragen, beantwortet von Sozialreformern" in seiner New Yorker "Republik der Arbeiter" befaßt sich Weitling auch mit der Art und Weise der Leitung der künftigen Gesellschaft. Zwei Aspekte des Fragenkomplexes rückt er in den Blickpunkt: Wie sollen die Arbeiter geleitet werden und durch wen? Und wiederum stellt e r seine Lösung den Vorschlägen Fouriers, Owens und Cabets gegenüber. (Republik der Arbeiter, 1 5 . 1 1 . , 2 2 . 1 1 . , 2 9 . 1 1 . , 6 . 1 2 . und 13.12.1851.) 77 Garantien (3. Auflage von 1849), S. 324.
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oder ablehnenden Gutachten in Ausstellungssälen der ganzen Bevölkerung zur Einsichtnahme f r e i . Gegen eine ihr unbegründet erscheinende Ablehnung hat die Öffentlichkeit ein originelles, konstruktives Vetorecht. Finden sich nämlich eine Menge von Interessenten fiir eine abgelehnte Wahlprobe und verpflichten sich, dafür Kommerzstunden zu leisten, so wird die Ablehnung hinfällig; der Erfinder gilt als gewählt, und für sein Projekt wird eine Werkstatt eingerichtet. Da Entdeckungen und Erfindungen zwar angeregt werden, aber durchaus unerwartet gelingen können, gibt es keine festen Legislaturperioden mehr, und die Amtszeit des ein78 zelnen ist unbestimmt. "Wenn viel gedacht und erfunden wird, so wird auch viel gewählt." Auf diese Weise stehen nach Weitlings Meinung immer die Besten und Tüchtigsten an der Spitze des Gemeinwesens, und der Tüchtige räumt dem Besseren freiwillig den Platz. Um dies zu sichern, baut der Mißtrauische noch einen weiteren Riegel gegen mögliche Vetternwirtschaft ein. Die Prüfungskommission erfährt den Namen des Bewerbers erst nach Abgabe ihres Gutachtens; sie prüft also die Leistung ohne Kenntnis der Person. Die Anregung, Talente aus dem Volk durch aufgeworfene Preisfragen zu ermitteln, entlehnt Weitling wahrscheinlich dem radikalen bürgerlichen Republikanismus. Jedenfalls versuchte bereits Francois-Vinzent Raspail - gegen die grassierende Korruption des Julikönigtums gewandt - , diese bis dahin in der französischen Akademie gebräuchliche Praxis auf das politische Leben auszudehnen. Raspail dachte schon 1832, wenn auch nicht so weitgehend und so detailliert und frei von kommunistischer Zielsetzung, an Preisaus79 schreiben für'alle bürgerlichen, wissenschaftlichen und militärischen Amter. Aber auch die fortschrittlichsten Zeitgenossen der vierziger Jahre finden weder die Idee solcher Fähigkeitswahlen noch ihre unpersönliche Durchführung abwegig. Kein Geringerer als Friedrich Engels verteidigt publizistisch Weitlings Prinzip, "alle Beamten dieser Verwaltung und in jedem einzelnen Zweig nicht durch eine Mehrheit der Gemeinschaft zu ernennen (wie dies Cabet vorschwebt - W.S.-H.), sondern nur durch diejenigen, die die besondere Art der Arbeit kennen, die der künftige Beamte zu verrichten hat". Und Engels bejaht auch die Anonymität des Weitlingschen Prüfungsverfahrens: "Auf diese Weise wird jedes persönliche Motiv ausgeschlossen, das auf den Entschluß der Mitglieder 80 der Prüfungskommission einwirken könnte." 78 Garantien, S. 155. ZU den Fähigkeitswahlen siehe ebenda, S. 148-150, 152-156. 79 Tschernoff, J . , Le Parti republicain sous la Monarchie de Juillet, Paris 1901, S. 255. 80 Engels. Friedrich, Die "Times" Uber den deutschen Kommunismus, in: MEW, Ergänzungsband 2, S. 320.
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Weitling braucht ein solches oder ähnliches allgemeines Verfahren für die Gewinnung eines leistungsfähigen, dem Volkswohl ergebenen Leitungsapparats im Kommunismus, weil er sich über die sozialistische Stufe der kommunistischen Ordnung hinwegsetzt, in der das Volk über so weit verästelte Kanäle wie Partei und Massenorganisationen die Verwaltung kontrollieren lernt und sich in diesem Prozesse selber das nötige fachliche, politisch-moralische und organisatorische Rüstzeug verschafft, mit dem es sich zur sachkundigen Leitung der Gesellschaft befähigt. In der Folge wird Weitling die überlieferte Abstimmungswahl als Instrumentarium fast gleichgültig. E r erwägt sie nur mehr für untere Funktionen und stellt sie auch dort 81
dem Belieben der Wähler anheim.
Für alle Leiter über einen Bereich von tausend
Arbeitern und mehr, bis hinauf zum obersten Leitungskollektiv, soll nunmehr das System der Konkursfragen und Bewerbungen durch Wahlproben gelten. Auch wenn Weitlings Prinzip der Fähigkeitswahlen schwerlich zu halten vermag, was er und seine Zeitgenossen sich davon erhoffen, erfaßt es dennoch jenes Element sozialistischer Demokratie, für die nicht der formale, von subjektiven Komponenten niemals gänzlich freie Wahlvorgang, sondern sachliche Leistungskriterien entscheidend sind, damit den besten Söhnen des Volkes die Leitung des Gemeinwesens anvertraut wird. Das erfordert neue Fofmen. Zu ihnen gehört, daß sich der Kandidat mit kopkreten und überprüfbaren Leistungen für das allgemeine Wohl vorstellt. Hohe Anforderungen stellt Weitling an den Funktionär der kommunistischen Gesellschaft, denn er soll nicht herrschen, sondern leiten. "Herrschen ist nun aber viel leichter 82
als etwas zum Wohle aller leiten . . . " Ergebenheit für die Sache des Volkes und moralische Integrität sind Grundbedingung. In beiden Entwürfen einer kommunistischen Ordnung sucht Weitling Karrierismus und Korruption, Protektion, 83 Intrigen und anderen Sumpfblüten bürgerlicher Bürokratie den Nährboden zu entziehen. Unabdingbar sind dem Leiter umfassende Kenntnisse der gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten, wie Weitling sie versteht. Denn er hat die gesellschaftlichen Beziehungen 84 Dazu gehören ein
nach dem "Naturgesetz" im Gleichgewicht zu halten und zu regeln.
weiter geistiger Horizont und Überblick über das ganze Gesellschaftssystem, prognostisches Denken und Aufgeschlossenheit für alles Neue, Fortschrittliche. 81 82 83 84
Garantien, S. 155. Garantien (3. Auflage von 1849), S. 320. Garantien, S. 74; vgl. Menschheit, S. 222 f. Garantien, S. 137/138.
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Wer leitet, muß zugleich hervorragende Sachkenntnis in mehreren Berufen aufweisen. Die Funktionäre sollen speziell den Bereich der Arbeiten, den sie leiten,vollkommen beherrschen, sis sollen selber "Erfinder, Entdecker, Vervollkommner, Verbesserer, mit 85 einem Worte: Genie, Verstand, Talent und Geist" sein. Weitlings Prinzip der Verwissenschaftlichung der Leitung schlägt sich auch in der 1842 von ihm neu entworfenen Verfassungsstruktur nieder. In der neuen Geschäftsordnung erhalten die Verwaltungsinstanzen der Produktion und Wissenschaft durchgängig mehr Machtbefugnisse. Den Meisterkompagnien, den Neuerergremien wird die alleinige Verwaltungsbefugnis zugesprochen und als zentrales Wirtschaftsorgan dementsprechend die Zentralmeisterkompagnie geschaffen. An der Spitze der ganzen Gesellschaft fungiert jetzt an Stelle des früheren, innerhalb der Familienordnung gewählten Senats das "Trio", eine Art dreiköpfiger Staatsrat, gewählt von der Zentralmeisterkompagnie. Dieser Dreimännerrat besteht aus den jeweils tüchtig86
sten Repräsentanten der drei Hauptbereiche von Wissenschaft und Technik.
Das Trio,
bei dem der große weise Regent der bürgerlichen Aufklärung Pate gestanden haben mag und das die allenthalben fehlende Führungsrolle der Partei ersetzen muß, hat alle leitenden Fäden,des großen Familienbundes in Händen. Die Familienordnung besteht noch neben der Geschäftsordnung, tritt aber in den Hintergrund. Bis in die Spitze der Verwaltung triumphiert das Produktionsprinzip. Auch das Zentralisationsprinzip wird straffer gehandhabt. Um Lokalegoismus und anarchische Tendenzen zu unterbinden, finden wir die mittleren Leitungsgremien der Produktion in bezug auf allgemeine Angelegenheiten dem Trio 87 untergeordnet. Untersteht die Produktionsverwaltung des Notwendigen und des Nützlichen den Meisterund Zentralmeisterkompagnien, so liegt die Verwaltung der A rbeiten des Schönen und Angenehmen in der Hand der Akademien der Künste und Wissenschaften. Die gesamte Verwaltungstätigkeit läuft schließlich unter der Kontrolle von Gesundheitskommissionen, die gleichfalls dem T rio unterstehen und ihm bei allen wichtigen Angelegenheiten helfen. Auffällig an der neuen Struktur ist die scharf hervortretende Rolle der Spezialisten der Produktion - freilich keiner Nur s p e z i a l i s t e n
- als eigentlicher Seele des Ver-
waltungsmechanismus und die ausgeprägte Orientierung auf die Produktion. Weitling kann 85 86 87
Ebenda, S. 149 und' (3. Auflage von 1849) S. 320. Garantien, S. 151, 160-165. Ende 1851 kommt Weitling nochmals auf seine Verwaltungsstruktur zu sprechen und empfiehlt allen Ernstes, auch die Mitglieder des Trios ihr Leben lang so gut wie möglich inkognito zu halten (Republik der Arbeiter. 6.12.1851, S. 266 f . ) .
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das Ganze noch nicht an der Kenntnis ökonomischer Gesetze orientieren. Aber im Unterschied von allem, was die Geschichte an politischen Verwaltungsstrukturen aufzeichnet, entwirft er ein Modell, das die gesamte Verwaltung der kommunistischen Gesellschaft von oben bis unten als Leitungssystem ökonomischer Prozesse begreift, das sich unablässig auf die Fortschritte der Wissenschaft stützt. IV. Das kulturelle Antlitz der kommunistischen Gesellschaft Weitling führt das Vernunftprinzip der bürgerlichen Aufklärung zu proletarischen Konsequenzen. Auch ihm gilt der Wissensdrang als ursprünglicher Naturtrieb des Menschen. Doch sucht er in theoretischer und praktischer Hinsicht einen viel engeren Zusammenhang zwischen der Wissenschaft und der Produktionsweise der Gesellschaft. Er will auf der Grundlage des gesellschaftlichen Eigentums die durch das Privateigentum erschütterte Harmonie zwischen Wissen, Produktion und Konsumtion wiederherstellen, um dem gemeinsamen Fortschritt aller drei freien Lauf zu sichern. Denn brechen sich auch letzten Endes zu allen Zeiten Vernunft und Wissen Bahn, so bleibt doch die Ausbeuterordnung ihrem Fortschritt feindlich. Das Klasseneigentum hat eine rationelle und den Bedürfnissen entsprechende Kultivierung der Landwirtschaft nachgerade verhindert, es hat die Erfindung der Buchdruckerkunst zur Verbreitung der Lüge mißbraucht, und die Konstruktion der Maschinen brachte den Arbeitern noch ärgere Schinderei. Der Fortschritt konnte sich nur durch jene List der Vernunft durchsetzen, die der Habsucht Erfindungen und Entdeckungen in den Rachen warf und auf diesem Umweg das Denken voranbrachte, damit zugleich die Grundpfeiler der alten Organisation unterminierend.
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Deutlich erfaßt Weitling die Kluft zwischen dem hohen Stand der Naturwissenschaften 89 und dem Fehlen entsprechender Einsichten in den gesellschaftlichen Organismus. Nicht allein, daß man sich mit dem Studium des gesellschaftlichen Lebens erst kurze Zeit befaßt; 90 es wird unterdrückt und verboten. Gegen die Hymnen liberaler Epigonen der bürgerlichen Aufklärung auf das vermeintliche Zeitalter der Vernunft und des kulturellen Fortschritts vermerkt Weitling, daß eine höhere Bildungsstufe der Gesellschaft nichts zum 91 Gluck der Menschheit beiträgt, wenn die Bildung nicht dem ganzen Volk zugute kommt. 88 89 90 91
Garantien, S. 134. Ebenda, S. 19. Menschheit, S. 222. Garantien, S. 20.
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Die Hebung des allgemeinen Bildungsniveaus bleibt deshalb - wie bei Blanqui - Weitlings Hauptauftrag f ü r die kommunistische Gesellschaft. Erst das Gemeineigentum verbürgt allen gleiche Erziehung und ungehinderte Möglichkeit, die im Volke schlummernden vielfältigen Fähigkeiten auszubilden und allen die Schätze der Weltkultur zugänglich zu machen. Wenn erst das Volk sich der Wissenschaft bemächtigt, wird "darin Riesenhaftes 92 geleistet werden". Die kommunistische Gesellschaft braucht allseitig gebildete Menschen und bringt sie hervor. Erstmals erfahren sich alle als Nutznießer der Wissenschaft, gewinnen ein neues Verhältnis zu ihr und ergreifen von ihr Besitz. Die Wissenschaft wird allgemeines Bedürfnis. Produktion und Wissenschaft, Lehre und Forschung, Wissenschaft und Leitung verflechten sich. Dabei wirken die Fähigkeitswahlen mit öffentlicher Anerkennung der Erfindungen als mächtiges Stimulans zur Verwissenschaftlichung der Praxis. Im Kommunismus beweist die Wissenschaft erstmals, was sie für die Menschheit zu leisten vermag: "In diesem Prinzip ist die Ausführung jeder großartigen Idee möglich. Die Ausrottung verheerender Krankheiten, schädlicher Insekten, die Veredlung, Kräftigung und Verschönerung des menschlichen Körpers, die Verhütung von Mangel, Überschwemmung und einer Menge 93 anderer Übel ist nur allein in der Gemeinschaft möglich." Im Dienste der Gemeinschaft verliert die Wissenschaft jene feindseligen Züge, die ihr das Privateigentum anheftete.
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"Der Menschenschlag wird wieder kräftiger, schöner, geistiger und lebendiger werden." Nicht nur die Praxis, auch die wissenschaftliche Arbeit selbst nimmt neue Charakterzüge an. "Wenn man lehren, schwatzen und schreiben muß, um seine Existenz zu sichern, 95 kann unmöglich alles gut sein." Im Kommunismus kennt der Wissenschaftler diese Sorge nicht; er erfährt jede Förderung seiner Arbeit im Dienst der Gemeinschaft. Für seine Foi schlingen wird er von körperlicher Arbeit freigestellt und verfügt über seine Arbeitszeit nach eigenem Ermessen; seine Kommerzstunden leistet er möglichst in der Lehrtätigkeit (mindestens zu einem Drittel) und kann sie sogar als Vorschuß eingetragen erhalten. 96 Weitling nennt diese Sonderstellung "Erfindungs-Privilegium" , und dieser Vertrauensbeweis ist das einzige Privileg, das seine Gesellschaft kennt. Die Gelehrten sind keine vom Volk getrennte Kaste mehr; sie müssen ihre Fähigkeiten stets aufs neue zum Nutzen des Gemeinwohls beweisen. Weitling denkt an die Aufhebung des Gegensatzes von körperlicher und geistiger Arbeit. In der dritten Generation hält Weitling sie für erreicht: 92 93 94 95 96
Menschheit, S. 219. Garantien, S. 95. Ebenda, S. 222. Ebenda, S. 140. Menschheit, S. 232.
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"Der Handwerker und der Bauer werden zugleich Gelehrte und der Gelehrte Handwerker 97 und Bauer sein." Weitling versucht, die Wissenschaften selbst in ein vom praktischen Leben der Gesellschaft diktiertes System zu bringen. Alle unnützen oder gar schädlichen Wissenschaften verlieren ihre Daseinsberechtigung: nicht nur Wahrsagerei und Goldmacherkunst, sondern und Fähigkeiten der Gesellschaft auch die Rechtswissenschaft, die "nach den Bedürfnissen98 vor 100 und vor 1000 Jahren die unsrigen abwägen" will. Nur solche Wissenschaften soll es geben, deren Forschungsziele notwendige, nützliche oder angenehme Bedürfnisse befriedigen. Weitling faßt sie in drei Sektionen zusammen. Die erste Sektion umfaßt die "philosophische Heilkunde". "Die Philosophie muß r e 99 gieren."
Sie kann das, weil sie keine separate Lehre neben den Wissenschaften ist, son-
dern die "Konzentrierung der Ideen aller übrigen Wissenschaften"; sie verallgemeinert und systematisiert die Ergebnisse der Einzelwissenschaften, macht sie der Harmonie des Ganzen fruchtbar und durchdringt sie ihrerseits. 1 0 0 " Als "Heilkunde" ist die Philosophie zugleich auf die Praxis bezogen und darum die " n ö t i g s t e und w i c h t i g s t e
Wissen-
schaft der künftigen Generationen; ihr Studium begreift die ganze physische und geistige Natur des Menschen, seine körperlichen und geistigen Schwächen und Krankheiten und die Kenntnis der Vertilgung und Ausrottung derselben". 1 0 1 Zu ihr gehört auch die Psychologie und das, was bisher Theologie und Rechtswissenschaft entwickelt haben, nämlich die Ethik und die Lehre von den Normen des menschlichen Zusammenlebens. Als zweite Sektion gilt Weitling die Physik, begriffen als Wissenschaft von den Naturkräften und ihrer Anwendung. Er versteht darunter Chemie und chemische Industrie, Nahrungsmittelchemie, Biologie und Agrarwissenschaft, Mineralogie, Hüttenwesen und dergleichen. In der dritten Sektion schließlich finden wir die Mechanik, Sie leitet die Technik, die sich zu Weitlings Zeit im wesentlichen auf mechanische Antriebs- und Werkzeugmaschinen beschränkt. Weitlings Systematisierung ist veraltet. Überdauert aber hat seinen Schöpfer das Prinzip der Einheit von Natur- und Gesellschaftswissenschaften, die Forderung nach ihrer Koordinierung und ihrem Zusammenschluß mit den praktischen Wirkensbereichen der Gesellschaft, 97 98 99 100 101
Ebenda, S. 237; Garantien, S. 141. Garantien, S. 140. Ebenda, S. 147. Ebenda, S. 141. Ebenda, S. 142.
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Das erste utopisch-kommunistische Manifest des deutschen FrUhproletariats proklamiert die volle Gleichberechtigung der Frau als unabdingbare Voraussetzung für menschliche Freiheit und wahres Familienglück. "Gleiche Erziehung sowie gleiche Rechte und 102
Pflichten beider Geschlechter" gelten als Grundsatzforderung.
Alle Bereiche des gesell-
schaftlichen Lebens stehen der Frau als vollwertigem Mitglied offen. Weitlings Gleichberechtigungsforderung vermeidet alles Formale und Deklarative. Sie sucht die natürliche Benachteiligung durch gesellschaftliche Vorrechte auszugleichen. Bei der Wahl der Arbeitsart gehört Frauen und Müttern der Vorrang. Bei den zeitweiligen Geschäftssperren dürfen Mütter mit Kleinkindern Ausnahmerechte beanspruchen. Bei gleicher Leistung steht 103 der Frau nichts im Wege, zu den höchsten Funktionen aufzusteigen. Die Ehe kann sich nicht mehr auf "Geldspekulationen, worin Mitgift, Erbschaft, 104 Hoffnung auf Amter und frühen Todesfall die Hauptrolle spielen" , gründen noch an der Sorge ums tägliche Brot scheitern. Die kommunistische Gesellschaft garantiert jeder Familie ein sorgenfreies Dasein. "Die Sorge um die Existenz des Individuums und seiner Familie wird aufhören sowie die daraus hervorgehenden Uneinigkeiten in der Ehe. Die Ehen werden ein Werk der Liebe und Freundschaft sein, nicht aber ein Mittel, den Lebens105 unterhalt zu sichern."
Das demoralisierende Hinterhofdasein der Arbeiterfamilien nimmt
ein Ende. Weitlings kommunistische Städte finden wir nach Plänen konstruiert, die den Ansprüchen an "Bequemlichkeit, Schönheit und Ökonomie" gleichermaßen 106 genügen; jede Familie lebt in einer geräumigen, komplett eingerichteten Wohnung. Weitling denkt auch an öffentliche Dienstleistungsbetriebe, die die Frau von der unrationellen Hausarbeit, insbesondere von der Küchenarbeit, entlasten. Dank des allgemeinen Überflusses verfügt jeder Familienverein über Speisegaststätten, die von den kreiseigenen Magazinen und Obstplantagen oder aus den Vorräten der Bezirks- und Landesbehörden mit allem versorgt werden, was der Geschmack der Bevölkerung verlangt. Gegen das katholische Dogma von der Unauflösbarkeit der Ehe vertritt Weitling die Freiheit der Eheschließung und das Recht auf Scheidung. Nur die Ehe, die auf der gegenseitigen Zuneigung der Partner beruht, wird ihrer Bestimmung gerecht. "Wenn das Band
102 103 104 105 106
Menschheit, S. 221. Garantien, S. 222. Ebenda, S. 62. Ebenda, S. 221. Menschheit, S. 228.
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der Ehe durch das Bedürfnis der Achtung, Freundschaft und Liebe nicht zusammengehal107 ten werden kann . . . so löst es doch ums Himmelswillen!" Besondere Aufmerksamkeit schenkt Weitling der Erziehung der Jugend. E r weiß um die Macht der Gewohnheiten, die Trägheitskraft überkommener Sitten und den Einfluß eingetrichterter Vorurteile. Hierin hat er keine Illusionen: die erste Generation der in Gütergemeinschaft lebenden Menschen wird noch mit Muttermalen der alten Welt behaftet sein. Eine Revolution im Erziehungswesen fordert er, um die künftigen Generationen zu erziehen. Schon 1838 verlangt er in den Grundsätzen des Bundes der Gerechten: "Gleiche Erziehung . . . Allen Freiheit und Mittel der Ausübung und Vervollkommnung ihrer geistigen 108
und physischen Anlagen."
In seinem Hauptwerk führt er sowohl die Prinzipien als auch
seine konkreten Pläne zur Jugenderziehung weiter aus. Weitling sieht für beide Geschlechter, wenn auch getrennt, die gleiche Ausbildung vor. Die gesellschaftliche Erziehung beginnt mit drei oder sechs Jahren (Weitling denkt möglicherweise an vorschulische Erziehungseinrichtungen). Einführung und Bildungsplan der "Schularmee" bezwecken, "die Jugend an die Organisation der mündigen Gesellschaft 109 zu gewöhnen".
Die Jungen und Mädchen sollen nützliche Glieder der Gemeinschaft
werden, nicht Egoisten oder Weichlinge. Weitlings Erziehungssystem entbehrt aller asketischen Züge. Zu bitter hat er in seinem eigenen proletarischen Dasein erfahren, wie erbärmlich die arbeitenden Klassen in den Ausbeuterordnungen alle Schätze der Weltkultur
107 Garantien, S. 201. Im Abschnitt "Über Weiberemanzipation" in seinem Artikel "Die Sozialreform..." geht Weitling nochmals auf das Für und Wider der Gleichberechtigung der Geschlechter ein, erklärt sich weiterhin uneingeschränkt dafür, fordert, daß die Kinder den Namen der Mutter tragen, um die Eheverhältnisse auch juristisch von der Rücksicht auf die Kinder zu entlasten, zumal die Kinder vom Staat versorgt werden. Dies und das Recht auf Scheidung erscheint ihm als das beste Prophylaktikum gegen Ehebruch. E r wirft Heinzen in der Frage der vveiberemanzipation Einseitigkeit vor und kritisiert die Einrichtung eines Vestalats bei Fourier als Inkonsequenz. "Das hieße, Mädchen die Keuschheit vorschreiben und bei Männern die Hurerei dulden", meint e r . Und Weitling kann es sich nicht versagen, Cabets puritanische Haltung in Liebessachen ironisch herauszustreichen, der für den Kommunismus freiwilliges Zölibat als verdächtigen Zustand und uneheliche Geschlechtsbeziehungen gar und Ehebruch als Verbrechen - einem Morde gleich - geahndet haben möchte. (Republik der Arbeiter, 2 8 . 8 . , 7 . 9 . , 30.10.1852.) 108 Menschheit, S. 221. Auch über Erziehungsfragen der Jugend im Kommunismus bietet Weitling dem deutschen Arbeiter in den USA in einem besonderen Abschnitt seines Aufsatzes "Die Sozialreform..." einen kurzen Abriß der Vorschläge Fouriers, Owens und Cabets zum Vergleich mit den seinen (Republik der Arbeiter, 1 9 . 3 . , 1 7 . 4 . , 2 9 . 5 . , 3 . 6 . , 12., 19. und 2 6 . 6 . , 3 . , 10., 1 7 . , 27. und 3 1 . 7 . , 7 . , 14., 21. und 2 8 . 8 . , 7 . , 11., 18., 2 5 . 9 . , 2 . , 9 . , 16. und 23.10.1852). 109 Garantien, S. 203,
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entbehren müssen. Auf diesen Reichtum will er den individuellen Erwerbstrieb lenken. In seinem Schulsystem finden Pflege der Kultur, musische Erziehung, Ausbildung der künstlerischen Genuß- und Erlebnisfähigkeit ihre Heimstätte. Weitling verlangt polytechnische Erziehung. Die Schüler werden "in allen Wissenschaften und Künsten unterrichtet und an alle Arbeiten gewöhnt", insbesondere an die widrigs t e n . * ^ Dabei erstrebt e r außer der Erziehung und Wissensvermittlung noch einen materiellen Nutzen für die Gesellschaft. Als Lehrer arbeiten Mitglieder der Meisterkompagnien und Akademiemitglieder. Nach der Grundausbildung, die eine abgeschlossene Berufsausbildung einbegreift, steht allen Schülern und Schülerinnen der Besuch einer Universität frei; eine Anrechnung der Studienzeit auf die allgemeine Arbeitspflicht bekommen jedoch nur hervorragende Schüler und Mitglieder der schulischen Meisterkompagnien. Die Universitäten, die durch ihre unmittelbare Verbindung mit der Praxis ein völlig neues Gesicht erhalten, das nicht mehr von einer exklusiven Intelligenz geprägt wird, öffnen sich allen Mitgliedern der Gesellschaft und wenden sich vornehmlich der ständigen weiteren Qualifizierung der im praktischen Leben stehenden Begabten zu. Weitling akzeptiert das Fouriersche Prinzip der "freiwilligen Erziehung", die jeden seiner Neigung folgen und ihm die Teilnahme an allen Lehrveranstaltungen offen läßt. Dies um alle volkswirtschaftlichen Rücksichten unbekümmerte Prinzip mag dem Verlangen der proletarischen Handwerksgesellen - die auf Gedeih oder Verderb zu einer öden Tätigkeit in die Manufakturbetriebe gepreßt werden - nach uneingeschränkter Befriedigung ihres Bildungshungers entspringen. Ähnlich rührt die Forderung nach polytechnischer Erziehung weniger von der Einsicht in die Bedürfnisse moderner Produktion her als vom Protest gegen die vereinseitigende und abstumpfende Tätigkeit des Arbeiters im kapitalistischen Produktionsprozeß. Doch scheint Weitling schon zu erwägen, daß man die Spezialisierung nicht schadlos sich selbst überlassen kann. Denn schon in der Schularmee will e r die Ausbildung auf die jeweiligen Produktionsschwerpunkte gelenkt wissen. Bei erhöhtem Bedarf an bestimmten Facharbeitern sollen zudem die Abschlußprüfungen für überlaufene Berufe erschwert werden. Bei den Erwachsenen kanalisiert dann die Geschäftssperre für Kommerzstunden den Kaderfluß. In Weitlings Erstlingswerk fällt zudem Fouriers Idee einer "industriellen Armee" auf fruchtbaren Boden. Freilich begründet er Fouriers Dienstverpflichtung der Jugend nicht so leidenschaftlich und allseitig wie Dözamy, der ihre körperlich, geistig und
110 Ebenda, S. 202 f .
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moralisch veredelnde Funktion nicht genug zu rühmen weiß, die ebenso zur Arbeitsdisziplin und zum Kollektivgeist erzieht, wie sie dem Erlebnisdrang und der Abenteuerlust der Jugend entgegenkommt, ihren Horizont weitet und die Völker verbindet. Bei Weitling führt die industrielle Armee, der jeder gesunde Jugendliche im Alter von 15 bis 18 Jahren angehört, die größeren Vorhaben des gesamten Familienbundes aus: Bau von Eisenbahnen, Straßen, Brücken und Kanälen, Bergbau und größere Forstarbeiten, Trockenlegung von Sümpfen und Urbarmachung unfruchtbarer Gebiete in den eigenen wie in schwachentwickelten Ländern. Außer solchen Großbauobjekten obliegen der Jugend andere gemeinnützige Arbeiten wie Gütertransport und Reinigung der Straßen und Häfen. Der ganzen Gesellschaft von Nutzen, findet die Jugend in dieser Einrichtung einen Gesundbrunnen für Körper, Geist und Charakter. Weitling gilt es wie allen Kommunisten als sicher, daß die kommunistischen Lebensverhältnisse auch das moralische Antlitz des Menschen neu formen. Aber e r weiß ebensogut, daß die überkommenen Sitten und eingewurzelten Gewohnheiten dem Kampf um die Neuordnung der Verhältnisse mächtige Dämme entgegensetzen. Darum widmet e r der Untersuchung der Moral, insbesondere des ethischen Gehalts im Christentum, der sozialen Grundlagen und der Klassenfunktion der Sittenlehre breiten Raum und kommt immer wieder darauf zurück. "Unsere eingefleischten alten Sitten sind doch also die festeste Stütze des heutigen Systems der Ungleichheit, der Tyrannei und Unterdrückung. Um diese Sitten zu verbessern, müssen wir sie zerstören", schreibt e r g r i m m i g . ^ ^ Zwar wähnt e r , daß dann " d e r ganze morsche Bau der heutigen gesellschaftlichen Ordnung ganz von selbst zusammenstürzen" werde, doch überläßt er die Sittenveränderung nicht allein propagandistischer Beeinflussung, sondern stößt sehr rasch zum sozialen Kern vor, aus dem alles moralische Unkraut sc. ließt. Gegen die klerikale Lehre von der angeborenen Sündhaftigkeit des Menschen greift Weitling den humanistischen Gedanken der materialistischen Aufklärung auf und betont, "daß der Mensch nicht schlecht geboren ist, wie einige behaupten".
112
Wie Fourier redet e r 113 einem "natürlichen Lauf' aller Triebe das Wort, soweit sie dem Ganzen nicht schaden. E r s t das Privateigentum einer Minderheit hat die Menschen verdorben, ihre Triebe pervertiert und zu einer Zweigleisigkeit moralischer Maßstäbe geführt. In der Ausbeuterordnung begann man den freiwilligen Verzicht zum Vorteil anderer Tugend zu nennen und jede Empörung gegen derartige Zumutung als L a s t e r zu brandmarken. Weitling lüftet den doppelten Boden der bürgerlichen Klassenmoral: "Alles, was ihr Verbrechen nennt 111 Ebenda, S. 121. 112 Ebenda, S . 31. 113 Ebenda, S. 118.
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und als solche bestraft, erlaubt ihr euch auf der andern Seite unter einem andern Namen." Weitling erfaßt sehr wohl, in welchem Ausmaß die kapitalistischen Verhältnisse die Beziehungen der Menschen vergiften und entmenschlichen. Das Geld bringt die Menschen dahin, sich gegenseitig nur als Mittel eigenen Vorteils zu betrachten und zu werten, und zwar keineswegs immer bewußt, sondern einfach aus Gewohnheit und Erziehung. Und e r fragt: "Würde man sich wohl des persönlichen Interesses wegen zanken, schlagen, v e r leumden, verschwärzen, anfeinden, belügen, betrügen, überlisten, verraten u s w . , wenn 115 alle die gleichen Interessen hätten?" Die soziale Ungleichheit entwürdigt den Menschen. "Dieser empörende Unterschied der Klassen in der Gesellschaft" gebiert das "widrige Bitten, Verweigern, Befehlen, Gehorchen, dieses gehässige Heucheln und Schmeicheln, Verleumden und Verraten"; denn "jeder verdorbene Mensch, jede feige und furchtsame Kreatur sucht durch diese erlaubten und begünstigten Laster irgendein Interesse zu erreichen . . . " "Warum diese Ehrenbezeugungen gegen den eingebildeten Dummkopf im schönen Gewände, diese Verachtung des gebildeten Mannes in der ärmlichen Kleidung? - Dem Unterschied des Standes, dem Mangel 116 und Überfluß des Geldes wegen." Aber Weitling mißt jede Klasse mit dem ihr zukommenden Maß. E r weiß, daß der Arbeiter um seines und des Lebens seiner Kinder willen zu Kriecherei, Gewalt und List Zuflucht nimmt. Der Kommunismus wird mit der Aufhebung aller sozialen, politischen und kulturellen Privilegien auch die Vereinzelung und Verfeindung der Menschen untereinander aufheben und wahrhaft brüderliche Beziehungen zwischen allen Menschen hervorbringen. In einer Zeit ohne soziale Gegensätze können "die gefurchte Sorge und der giftige Brotneid . . . in 117 den Herzen der Menschen keine Nahrung mehr finden" ; "die gleiche Lebenslage aller 118 bewirkt Sorglosigkeit und Freundschaft". Es wird der Mensch "den alten Menschen 119 ausgezogen haben und die Gesellschaft wie von neuem geboren sein". Weitling findet sich mit allen Kommunisten seiner Zeit darin einig, daß die meisten Delikte, die das Strafgesetz als Verbrechen ahndet, mit der Ausbeutung und den sozialen Gegensätzen verschwinden werden. "Wollt ihr also die Verbrechen verschwinden machen, 114 115 116 117 118 119
Ebenda, S. 205/206. Ebenda, S. 211. Ebenda, S. 55/56. Menschheit, S. 236. Ebenda, S. 211. Garantien, S. 66.
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so räumt die Ursachen weg, durch welche sie entstanden sind."
Da Weitling asoziales
Verhalten nicht aus christlicher Erbsünde oder tiefenpsychologischer Neurotik, sondern aus sozialen Umständen ableitet, erblickt e r im Verbrechen eine Form von Umweltschädigung, eine Art Krankheit des Charakters. "Sonach gibt es in einer guten Organisation der Gesellschaft weder Laster noch Verbrechen, weder Gesetze noch Strafen, sondern Regeln und Heilmittel." 121 Auch in dieser Beziehung sieht e r in der Gütergemeinschaft "das Erlösungsmittel der Menschheit . . . Die verabscheuten Worte Raub, Mord, Geiz, Diebstahl, 122 Bettelei und viele ihresgleichen werden in den Sprachen der Nationen veralten . . . " In der Gütergemeinschaft gründen sich alle Gesetze und Normen auf das "Naturgesetz" 123 und funktionieren daher als "Gesundheitsregeln".
Die für den "Dawiderhandelnden"
zuständige Disziplin kann nur die philosophische Heilkunde sein; er braucht keine Richter, sondern Ärzte. Freilich rechnet Weitling - nach seinem gesamten Konzept zu urteilen zumindest in der Übergangsperiode noch mit vielen "Seelen- und Begierdenkranken", zum Beispiel mit "Freßsucht und Alkoholismus", und zieht deshalb auch hierfür Maßnahmen in Betracht. Für wichtiger noch als Heilung hält e r vorbeugende Verhütung. "Keine Armen! und folglich auch keine Bettler . . . Keine Verbrechen! und folglich auch keine Strafen . . . Keine Müßiggänger! und folglich auch keine Taugenichtse . . . Keine Verschwender! und folglich auch keinen Mangel . . . " - das sind die moralischen Trümpfe der kommunistischen 124 Gesellschaft. Nicht nur jeder Mensch für sich, die ganze Menschheit erfährt eine Wiedergeburt. "Die Welt wird sich in einen Garten und die Menschheit in eine Familie verwandeln", verheißt Weitling den Arbeitern im Schlußwort ersten utopisch-kommunistischen ro125 ; und des gramms der deutschen Arbeiterklasse in Punkt zwei der Grundsatzerklärung Plesen wir: "Allgemeine Vereinigung der ganzen Menschheit in einem großen Familienbunde und 126 Wegräumung aller engherzigen Begriffe von Nationalität und Sektenwesen." Aber e r s t in seinem Hauptwerk und in seinen beiden ersten Zeitschriften schält sich - nachdem e r sich jahrelang mit der Deutschtümelei der Jungdeutschen in der Schweiz herumzuschlagen hat - die internationalistische Natur seines Arbeiterkommunismus heraus. Weitling erstrebt einen von nationalem Egoismus und nationaler Überheblichkeit freien Familienbund der Menschheit. E r spürt - und das gehört zu seinen Verdiensten - den 120 121 122 123 124 125 126
Ebenda, S . 212. Ebenda, S . 136. Menschheit, S . 238. Garantien, S. 215. Ebenda, S, 219. Menschheit. S. 241. Ebenda, S . 221.
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sozialen Kern in den nationalen Fragestellungen seiner Zeit auf und macht seinen Klassengenossen begreiflich, daß den arbeitenden Menschen die eigenen "Blutegel" viel f r e m d e r 127 sind "als der Kosak und der F r a n z o s e " . Die inneren Feinde reden von der Verteidigung des Vaterlandes und meinen die Verteidigung ihres eigenen Wohlstands und des Elends der Arbeiter, enthüllt e r seinen Genossen. Treffend geißelt e r den inhumanen Kern allen nationalistischen Dünkels, der es darauf anlegt, jedem Volk "seinen Teil 128 Vaterlandsliebe gegen einen dafür zu erstickenden Teil Menschheitsliebe anzuweisen". Schon f ü r ihn steht der Hauptfeind im eigenen Land. Weitling denkt nicht daran, in der kommunistischen Völkerfamilie alle nationalen Besonderheiten Uber einen Leisten zu schlagen. Nur soll nicht 129 fernerhin "das Glück der Menschheit unter den Krallen des Nationalhasses bluten". In den verschiedenen Nationalcharakteren erblickt e r das Werk der Geschichte, der Gewohnheit und Sitten. Sie sind nicht unverträglich, wie bürgerliche Politiker behaupten; "das ist die Zwiebel, die sie sich in die Augen reiben, wenn sie ihren Magen und Beutel auf Unkosten des Vaterlandes v e r 130 dient machen wollen".
In der kommunistischen Menschheitsfamilie werden sich die v e r -
schiedenen Eigentümlichkeiten aller Erdbewohner harmonisch verbinden und gerade durch ihre Vielfalt die Harmonie des Ganzen f ö r d e r n . Zur Beschleunigung dessen befürwortet Weitling wie Blanqui, P i e r r e Joseph Proudhon und viele seiner sozialkritischen Zeitgenos131 sen als völkerverbindendes Mittel die Einführung einer Weltsprache. Mit den nationalen Vorurteilen werden auch die Kriege der Vergangenheit angehören. Man wird die Völker nicht mehr wie Herden von Sklaven im Interesse der Großen, Reichen und Mächtigen gegeneinander schicken und sich zu Hunderttausenden abwürgen lassen. Der Krieg, als eine Ausgeburt des Eigentums, ist kein unvermeidliches Übel und schon gar nicht ein Mittel gegen eine vermeintliche Übervölkerung. Nur eine verderbte V e r nunft und Moral mag es f ü r notwendig halten, "ganze Armeen Kinder aufzuziehen, ihren Verstand, den sie in der Geburt noch nicht hatten, zu entwickeln, um sie dann, wenn sie herangewachsen sind und der Gesellschaft die mit ihnen ausgestandenen 132 Mühen vergelten und ihr wieder nützen können, sich einander abwürgen zu lassen!" Sollte wirklich einmal eine Übervölkerung drohen, so ist allein die kommunistische Gesellschaft imstande, Maßnahmen zu ergreifen, die mit der Würde des Menschen vereinbar sind. Diese Maßnahmen, 127 Garantien, S. 87. 128 Ebenda, S. 82. 129 Der Hülferuf der deutschen Jugend; (s. Anm. 8), Nr. 2, S. 26. 130 Garantien, S. 98. 131 Ebenda, S. 95. 132 Ebenda, S. 39.
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über die sich Weitling noch nicht den Kopf zerbricht, werden der physischen wie der intellektuellen und moralischen Veredlung des Menschengeschlechts dienen. So zeichnete Wilhelm Weitling dem proletarischen Aschenbrödel seine künftige Riesengestalt als Schöpfer der einzigen wahrhaft menschlichen Welt, des Kommunismus. Sein eigenes proletarisches Leben unter unreifen gesellschaftlichen Verhältnissen verwehrte es ihm, seine kühnen Ideen auf die wissenschaftliche "Einsicht in die Natur, die Bedingungen und die daraus sich ergebenden allgemeinen Ziele des vom Proletariat geführten Kampfs" 133 zu gründen, die erst Marx und Engels dem Proletariat erarbeiteten. Sie erst wiesen der Arbeiterklasse den allein gangbaren Weg in die sozialistische Gegenwart und die kommunistische Zukunft, in der unverlierbar aufgehoben ist, was Wilhelm Weitling im Namen seiner frühproletarischen Genossen mit heißem Herzen auf die rote Fahne der Arbeiterklasse schrieb. 133 Engels, Friedrich, Zur Geschichte des Bundes der Kommunisten, in: MEW, Bd 21, S. 212.
P E T E R SCHUPPAN
Johann Jacoby und die antifeudale Opposition in Preußen am Beginn der 40er Jahre des 19. Jh.
Im Februar 1841 erschien mit Jacobys "Vier Fragen, beantwortet von einem Ostpreußen" jene Flugschrift, die die politischen Forderungen der preußischen Bourgeoisie zum ersten Mal programmatisch und unüberhörbar aussprach und weitreichende Auswirkungen für den Aufschwung der gesamten antifeudalen Opposition haben sollte. Drei Ursachen haben bei der Entstehung und Wirksamkeit dieser Flugschrift eine Rolle gespielt: Die allgemeine Entwicklungsstufe der bürgerlichen Opposition in Deutschland und namentlich im Königreich Preußen, die besonderen sozialen und politischen Gegensätze in der Provinz Preußen und letzten Endes die Persönlichkeit des Verfassers, der diese objektiven Verhältnisse verarbeitete und ihnen öffentlich Ausdruck verlieh.^ Nach den revolutionären Erhebungen Anfang der 30er Jahre, die sich im wesentlichen auf eine Reihe südwest- und mitteldeutscher Kleinstaaten beschränkt hatten, war, wie Friedrich Engels feststellte, wieder "1840 . . . die Reaktion in voller Blüte. Überall Sieg der reaktionären Partei, überall vollständige Auflösung und Zersprengung aller Fortschrittsparteien. Die Sperrung der geschichtlichen Bewegung, das schien das endliche Resultat der gewaltigen Kämpfe von 1830 zu sein." Jedoch "von 1840 an begannen die gegen den bestehenden Zustand gerichteten Bewegungen aufs neue. Oft geschlagen, gewannen sie auf die Dauer mehr und mehr T e r r a i n . . . In Deutschland und namentlich in Preußen wurden 2 die Forderungen der Liberalen mit jedem Jahr heftiger." 1
2
Zur Entstehung, Wirksamkeit und Analyse der politischen Positionen der "Vier Fragen" vgl. im einzelnen: Schuppan, Peter. Johann Jacoby und seine politische Wirksamkeit innerhalb der bürgerlich-demokratischen Bewegung des Vormärz, phil. Diss., Berlin 1963, S. 44-153; Silberner. Edmund. Zur Jugendbiographie von Johann Jacoby, in: Archiv für Sozialgeschichte, Bd 9, Hannover 1969, S. 69 ff. Engels. Friedrich. Die Bewegungen von 1847, in: Marx/Engels, Werke (im folgenden: MEW), Bd 4, Berlin 1959, S. 494 f.
P e t e r Schuppan
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Der Anfang der 40er J a h r e einsetzende erneute Aufschwung der antifeudalen Oppositionsbewegung, der schließlich in die Revolution von 1848 einmünden sollte, vollzog sich auf einer neuen und höheren Stufe. Der ökonomische und soziale Wachstumsprozeß der deutschen und namentlich der preußischen Bourgeoisie hatte sich nach der Gründung des Deutschen Zollvereins außerordentlich beschleunigt und stand im Zeichen der industriellen Revolution. Die Bourgeoisie hatte jenes Entwicklungsstadium e r r e i c h t , "wo sie sich in der Entfaltung ihrer wichtigsten Interessen durch die politische Verfassung des Landes gehemmt s a h " . Sie trat daher jetzt in " i h r e r ganzen Masse ins Lager der liberalen Opposition" über und begann, den Kampf um die politische Macht im Staate zu führen. "Die deutsche Einheit war eine wirtschaftliche Notwendigkeit geworden." Mit dem allgemeinen Übergang der Bourgeoisie ins Lager der Opposition 3um 1840 "ist der Beginn der wirklich revolutionären Bewegung in Deutschland zu datieren" . Der Zollverein, der wachsende innere Warenaustausch, die starke Konkurrenz mit dem Ausland auf dem Weltmarkt hatten nun auch zu einer Annäherung und zu einem gewissen Ausgleich der materiellen Interessen der Bourgeoisie in den verschiedenen deutschen Staaten und Provinzen geführt. "Die deutschen Bürger begannen, namentlich seit 1840, auf die Sicherstellung dieser gemeinsamen Interessen zu denken; sie wurden national und liberal 4 und verlangten Schutzzölle und Konstitutionen." Die als nationale Klasse konsolidierte Bourgeoisie verlieh jetzt der antifeudalen Opposition einen umfassenden, gesamtdeutschen Charakter. In ihr übernahm die preußische als die stärkste und ökonomisch fortgeschrittenste Fraktion der deutschen Bourgeoisie die Führung. Das Zentrum der Opposition v e r l a g e r te sich nach Norddeutschland, von den südwest- und mitteldeutschen Kleinstaaten in den Junkerstaat Preußen. Im Gegensatz zu den Kleinstaaten stand hier dem Bürgertum ein Gegner von anderem, bedeutenderem Format gegenüber. Seiner räumlichen Lage und Größe, seiner staatlichen Organisation und seinen historischen Traditionen nach war Preußen jener deutsche Großstaat, in dem die halbfeudale, bürokratisch-absolutistische Reaktion ihre mächtigste V e r körperung fand. Das ostelbische Junkertum stellte die zahlenmäßig größte, in ihren sozialen und politischen Herrschaftsformen geschlossenste Fraktion des halbfeudalen Adels in Deutschland dar, und der preußische Absolutismus bildete die eigentliche Hochburg der an feudalen Überresten festhaltenden Klassenkräfte in Deutschland. Indessen hatte dieser 3
4
Derselbe, Revolution und Konterrevolution in Deutschland, in: MEW, Bd 8, Berlin 1960, S. 8 f . , 16 f . ; derselbe, Die Rolle der Gewalt in d e r Geschichte, in: MEW, Bd 21, Berlin 1962, S. 410 f . Marx, Karl/Engels, F r i e d r i c h , Die deutsche Ideologie, in: MEW, Bd 3, Berlin 1958, S. 179; - vgl. f e r n e r : MEW, Bd 8, S. 9.
Jacoby und die antifeudale Opposition
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Staat aber auch gezeigt, daß e r nicht völlig interesselos der kapitalistischen Entwicklung gegenüberstand. Konzessionen wie die Gründung des Deutschen Zollvereins veranlaßten Teile der deutschen Bourgeoisie, in ihrem Streben nach nationaler Einheit ihre Erwartungen, Wünsche und Hoffnungen eher an die Politik und die Entwicklung des preußischen Staates zu g knüpfen als an den habsburgischen Vielvölkerstaat. Um gegen einen solchen Staat etwas auszurichten, mußte, wie Mehring sagte, "die bürgerliche Opposition sehr geschlossen, sehr klar, sehr mächtig sein " . D i e s e s Niveau g besaß sie jedoch keineswegs.
Noch war am Ende der 30er Jahre die Anteilnahme des preußi-
schen Bürgertums an den politischen Kämpfen relativ schwach. Politische Parteien gab es noch nicht, die Oppositionskräfte in den einzelnen preußischen Provinzen besaßen kaum Verbindung untereinander. Die politischen Gegensätze hatten noch nicht jenen Reifegrad, jene Klarheit der Frontenstellung e r r e i c h t , daß die Hauptfrage des politischen Kampfes, die Eroberung der Macht im Staate, f ü r die Bourgeoisie auch im Mittelpunkt öffentlicher Forderungen gestanden hätte. Dieser Mangel an politisch-praktischer Tatbereitschaft spiegelte sich in der junghegelianischen Opposition wider, die den politischen Kampf noch fast ausschließlich 7 in philosophisch-religiöser Verkleidung führte. Der Thronwechsel im Juni 1840 bildete den äußeren Anlaß, daß die Bourgeoisie in Preußen sich s t ä r k e r oppositionell zu regen begann. "Man war sich auf allen Seiten darüber einig, daß das alte System überlebt und bankrott sei, daß es aufgegeben werden müsse, und was man unter dem alten König schweigend e r t r a g e n , wurde jetzt laut als unerträglich g proklamiert." Die Regierung schätzte die Lage ähnlich ein. Sie glaubte, die politische Unzufriedenheit werde sich zuerst und vornehmlich im Rheinland äußern, wo die Bourgeoisie am stärksten entwickelt w a r . Schon am Todestage Friedrich Wilhelms III., am 7. Juni, sandte der Innenminister v. Rochow an den rheinischen Oberpräsidenten eine Verfügung, in der diesem eingeschärft wurde, daß "genaue, aufmerksame Überwachung der öffentlichen Stimmung in der nächsten Zeit" höchste Pflicht der Regierung sei, um herauszufinden, " . . . nach welcher 5 6 7 8
Engels, Friedrich, Die Rolle der Gewalt in der Geschichte, in: MEW, Bd 21, S. 421 f. Mehring, Franz, Geschichte der deutschen Sozialdemokratie, in: Gesammelte Schriften, Bd 1, Berlin 1960, S. 111. Engels, Friedrich, Revolution und Konterrevolution, in: MEW, Bd 8, S. 16, 19; Cornu, Auguste, K. Marx und F . Engels. Leben und Werk, Bd 1, Berlin 1954, S. 125 f . , 130. Engels, Friedrich, in: MEW, Bd 8, S. 17; Prutz, Robert, Zehn J a h r e Geschichte der neuesten Zeit 1840-1850, Bd 1, Leipzig 1850, S. 194 f . ; Obermann, Karl, Deutschland 1815-1849, in: Lehrbuch der deutschen Geschichte, Bd 6, Berlin 1961, S. 130.
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P e t e r Schuppan g
Seite hin die Opposition und die Böswilligen ihre Richtung zu nehmen gedenken . . . " Die Regierung i r r t e sich jedoch. In dem politischen Lagebericht, den der Oberpräsident der Rheinprovinz am 13. Juli 1840 nach Berlin sandte, stellte e r f e s t , daß "das Verlangen nach einer eigentlichen Reichskonstitution entweder gar nicht oder doch nicht in einem solchen Grade vorhanden [ s e i ] , daß darauf zielende Anträge von dem nächsten ProvinzialLandtage zu erwarten wären " . Zwar werde von den meisten Bürgern, auch den wohlgesinnten, eine Verfassung dem jetzigen Zustand vorgezogen, aber die Mehrzahl schrecke vor praktischen Forderungen noch zurück.* 0 Das zwar weitverbreitete, aber noch unbestimmte und laue Verlangen nach einer politischen Kursänderung sollte in der Tat nicht im Rheinland, sondern in einer der ökonomisch rückständigsten Provinzen der preußischen Monarchie, in der Provinz Preußen, seinen e r s t e n öffentlichen Ausdruck finden: in dem vom ostpreußischen Huldigungslandtag im September 1840 ausgesprochenen Antrag auf Schaffung einer gesamtpreußischen Repräsentation. Auf die besondere Rolle, die diese östlichste Provinz der preußischen Monarchie mit i h r e r Hauptstadt Königsberg innerhalb der vormärzlichen Bewegung spielte, wies schon Mehring hin, als e r feststellte, daß "in dem ostelbischen Teil des preußischen Staates . . . die P r o vinz Preußen in e r s t e r Reihe die bürgerliche Opposition" v e r t r a t . 1 1 Von hier ging au^n 1840 der Anstoß f ü r den neuen Aufschwung der antifeudalen Bewegung aus. Diese Tatsache e r k l ä r t sich aus den besonderen, eigentümlichen politischen und ökonomischen Verhältnissen dieser Provinz. Sie bildeten auch den Hintergrund, Nährboden und unmittelbaren Anlaß f ü r das Entstehen von Jacobys Flugschrift. Besonders in Ostpreußen waren seit langem eigenständige liberale Traditionen lebendig, die in der Wirtschaft und Geschichte dieses Landesteiles wurzelten. Die Existenz eines "ostpreußischen Liberalismus" konstatierte schon Marx und beschrieb dessen "Elemente: Die Erinnerung an die Kriege gegen Napoleon und die damaligen Hoffnungen der gebildeteren Patrioten; einige allgemeine Ideen, die Königsberg, als das Zentrum der Kantschen Philosophie, fast als sein lokales Eigentum betrachtet; die Interesseneinheit der Adligen, die Getreide produzieren, und der Bewohner der Küstenstädte, die es ausführen; Freihandels9 10 11
Deutsches Zentralarchiv Merseburg (im folgenden: DZAM), Rep. 77, T i t . 500, Nr 1, vol. 1, fol. 217 f . Hansen, J . , Rheinische Briefe und A^kten zur Geschichte der politischen Bewegung 1830-1850, Bd 1, Essen 1919, S. 50 f . , 189 f . , 269 ff. Mehring, Franz, Geschichte der deutschen Sozialdemokratie, Bd 1, S. 112; vgl. f e r n e r : Mayer, Gustav, Die Anfänge des politischen Radikalismus im vormärzlichen Preußen, in: Zeitschrift f ü r Politik, Bd 6, 1913, S. 2 2 f . : D r o z , Jacques, Les Révolutions Allemandes de 1848, P a r i s 1957, S. 54.
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Jacoby und die antifeudale Opposition
lehren verschiedener Gestalt, denn die Provinz Preußen ist kein Industriegebiet, sondern 12
lebt hauptsächlich vom Verkauf ihrer landwirtschaftlichen Produkte nach England." Auf der Grundlage des Agrarexports hatte sich seit dem Ende des 18. Jh. eine sich immer mehr verbreiternde Schicht von adligen und bürgerlichen Gutsbesitzern herausgebildet, die kapitalistisch wirtschafteten und daher an der bürgerlichen Umwälzung der landwirtschaftlichen Produktionsverhältnisse auf dem preußischen Weg, die unter Stein und Hardenberg eingeleitet worden war, interessiert waren. Die Provinz Preußen wurde 13 so im Vormärz zum Zentrum eines spezifischen Junkerliberalismus. Sein führender Kopf und bedeutendster Vertreter war Theodor v. Schön (1772-1856), seit 1823 Oberpräsident der Provinz. Schön, dessen Ausbildungsweg noch Kant entworfen hatte, hatte in Königsberg bei Christian Jacob Kraus studiert, der als konsequenter Gegner der Leibeigenschaft, des junkerlich-militaristischen ancien régime und als Anhänger der Lehren Adam Smith* s schon vor 1806 zum Lehrmeister und geistigen Erzieher der bürgerlichen Intelligenz und des gebildeteren Teils des Adels der Provinz geworden war. Schön fand, wie Mehring sagte, "in Kant und Adam Smith . . . die Leitsterne seines Wirkens". In den landwirtschaftlichen und politischen Verhältnissen Englands, in der sozialen Stellung der Gentry sah er auch für Preußen vorbildliche und erstrebenswerte Zustände. Er besaß "eine gründliche philosophische und das Maß der politisch-ökonomischen Bildung, 14 das zu seiner Zeit überhaupt erreichbar war" . Schön verabscheute den bürokratischen Absolutismus in Preußen und unterschied sich grundlegend von dem Durchschnitt des preußischen Verwaltungsbeamten, der in einer bevormundenden Tätigkeit von "Untertanen" den Gipfel aller Verwaltungskunst erblickte. In der Reformzeit war er einer der engsten Mitarbeiter Steins gewesen und wurde, im Gegensatz zu diesem, auch später seinen liberalen Anschauungen niemals untreu. Die Reformzeit erschien ihm als der Höhepunkt der preußischen Geschichte. Er blieb jedoch immer ein überzeugter Anhänger der monarchischen Staatsform und eines betonten Preußentums. In seinen ökonomischen Auffassungen war er Freihändler und Gegner eines Schutzzollsystems, wie auch die gesamte ostpreußische Junkerschaft und die Handelsbourgeoisie. Um die Gestalt Schöns gruppierte sich in der Vormärzzeit eine Reihe von junkerlichen Politikern, die in der preußischen Reformzeit und im Befreiungskrieg von 1813 ihr ent12 13
14
Marx, Karl, Das neue Ministerium (1858), in: MEW, Bd 12, Berlin 1961, S. 638. Zum Junkerliberalismus vgl. Schuppan, Peter, Johann Jacoby, S. 53 ff.; Adam, R . . Wesen und Entwicklung des ostpreußischen Liberalismus im 19. Jahrhundert, in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Ost- und Westpreußens, Bd 8, 1934, S. 54 ff. Mehring, Franz, Gesammelte Schriften und Aufsätze, Bd 4, Berlin 1930, S. 34, 120 ff.
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scheidendes politisches Grunderlebnis empfangen hatten; sie alle zeichneten sich als v e r sierte Landwirte aus und gehörten zu dem neuen Stamm der junkerlichen Agrarkapitalisten.
15
Das politische Programm dieser Liberalen entsprach den Bedürfnissen des an der Zuendeführung der bürgerlich-kapitalistischen Umgestaltung der Agrarverhältnisse interessierten T e i l s der Junker und zeigte die sehr engen Grenzen politischer Fortschrittlichkeit einer an der staatlichen Macht beteiligten K l a s s e . Sie traten für die Beseitigung der P a t r i monialgerichtsbarkeit und des eximierten Gerichtsstandes des Adels, für die Einführung einer Landgemeindeordnung und einer gesamtpreußischen Repräsentation ein. Das Programm knüpfte an die Reformzeit an; im Geist der Reformgesetzgebung wollten diese Liberalen die Regierung veranlassen, weiterzugehen und kamen so in Konflikte mit der den Kurs bestimmenden reaktionären Regierungspartei. Die Junkerliberalen waren prinzipiell gegen eine Revolution. Die Furcht vor einer bürgerlichen Umwälzung von unten und das Bestreben, durch Weiterführung der 1819 unterbrochenen Reformpolitik die preußische Monarchie zu stärken und einen Klassenkompromiß zwischen Junkertum und Bourgeoisie zusammenzukitten - dies waren und blieben die Kernpunkte des junkerlich-liberalen Programms. Dieser äußerst gemäßigten Programmatik entsprach auch die Taktik der Junkerliberalen. Ihre Vertreter standen in mehr oder weniger enger Beziehung zum Monarchen und waren der Dynastie innerlich tief verbunden. Im brieflichen Verkehr oder in direkter Aussprache versuchten sie, den König von der Richtigkeit ihrer Forderungen zu überzeugen und ihn von seinem reaktionären Kurs abzubringen. An das Volk haben sie sich nie gewandt, im Gegenteil, sie fürchteten Volksbewegungen und nahmen stets gegen diese oder gegen radikale politische Bewegungen Stellung. Zumal gegen Demokraten und Republikaner hegten sie eine erbitterte und prinzipielle Feindschaft. Trotz seiner engen politischen Schranken darf man die Bedeutung des ostpreußischen Junkerliberalismus nicht unterschätzen. Sein Vorhandensein schuf zeitweise im Vormärz für die Entfaltung der bürgerlichen Opposition ein relativ günstiges Klima. Hinter den liberalen Junkern, die in der antifeudalen Bewegung den rechten Flügel bildeten, stand auch in Ostpreußen das Bürgertum, das durch erheblich schwerere und tiefere Gegensätze in die Opposition gedrängt wurde. Auch in dieser Beziehung wies die Provinz Besonderheiten auf. Die Bourgeoisie gehörte hier in e r s t e r Linie zur Handelsbourgeoisie. Ihre Hauptprofitquellen beruhten seit dem 18. Jahrhundert auf dem Agrarexport des preußischen Hinterlandes und auf dem umfangreichen Zwischenhandel der Hafenstädte,
15
Dazu gehörten u . a . der Oberburggraf Magnus v. Brünneck, Ernst v. Saucken-Tarputschen, Rudolf v. Auerswald, 1838-1842 Oberbürgermeister von Königsberg und 1848 preußischer Ministerpräsident, dessen Bruder Alfred v . Auerswald, Kurt v. Bardeleben, F . H . J . v. Farenheid.
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Jacoby und die antifeudale Opposition
ein Handel, der einen großen Teil des Warenaustausches zwischen Polen, einem Teil Rußlands und den baltischen Gebieten einerseits sowie Westeuropa, vor allem England, andererseits vermittelte. Diese Profitquellen gingen nach 1815 weitgehend verloren. Unter der Herrschaft der Cornlaws hörte der Getreideexport nach England in den 20er Jahren fast völlig auf und nahm seit den 30er Jahren einen sehr risikohaften, unsicheren und spekulativen Charakter an. Der Umfang erreichte in der Vormärzzeit nie wieder die Höhe der Zeit vor 1806. Das zaristische Rußland schloß sich mit einem Prohibitivzollsystem vom Westen ab, integrierte nach 1831 die polnische Wirtschaft immer stärker in den russischen Markt und betrieb die Umleitung des polnischen Warenverkehrs über die russisch-baltischen Häfen. Für diese Verdrängung von ihren alten, traditionellen Märkten fand die Bourgeoisie andererseits keinen Ersatz und Ausgleich indem seit 1818 sich he rausbildenden gesamtpreußischen Markt und seit 1834 entstehenden Zollvereinsmarkt. Es fehlten die für den Austausch von Massenartikeln nötigen Verkehrsverbindungen zum Zollvereinsmarkt - Eisenbahnen und ein leistungsfähiges Straßennetz; hinzu kam, daß die Überseeverbindung infolge des dänischen Sundzolls unrentabel geworden war. Außerdem konnte Deutschland das Hauptausfuhrprodukt der Provinz nicht abnehmen, da der Getreidebedarf fast überall noch lokal gedeckt wurde. In den 40er Jahren hatte der früher sehr umfangreiche Handelsverkehr einen relativ provinziellen Zuschnitt bekommen, er war auf die geringen Bedürfnisse des Warenverkehrs der Provinz reduziert worden. Die sich nach 1815 herausbildenden ungünstigen Marktverhältnisse brachten auch für die Industrialisierung äußerst nachteilige Bedingungen mit sich. Der Niedergang des Handels hemmte die bürgerliche Kapitalakkumulation. Zur Abschließung von den traditionellen ausländischen Märkten und dem Zollvereinsmarkt kam die Stagnation des provinziellen Binnenmarktes infolge des preußischen Weges der Durchsetzung des Kapitalismus in der Landwirtschaft, der eine starke Verelendung der Bauernschaft und der Arbeiterklasse mit sich brachte und damit die Kaufkraft der werktätigen Massen im Hinblick auf gewerbliche Erzeug16
nisse fast auf dem Nullpunkt hielt.
Ein Hemmungsfaktor ersten Ranges wurde auch die
Tatsache, daß die größeren Städte der Provinz - Königsberg, Danzig und Elbing - aus der Zeit der napoleonischen Fremdherrschaft, in der sie in erster Linie die Kriegskontributionen aufbringen mußten, mit einer enormen Verschuldung belastet waren. Der preußische Junker16
So heißt es im Begleitbericht zur statistischen Tabelle für das Jahr 1835 der Königsberger Regierung an den Oberpräsidenten vom 30.4.1836: Wenn die Getreide preise tief liegen, habe der Landmann keine Einnahmen und die Gewerbe stockten "in den Städten gänzlich". "Mangel an Kapitalien zeigt sich in den meisten Städten und an Entwicklung von Fabriken ist unter den obwaltenden traurigen Umständen noch gar nicht zu denken." Staatliches Archivlager Göttingen (ehem. Staatsarchiv Königsberg), Rep. 2, Tit. 36, Nr 11, vol. 3.
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Staat, der durch Millionen T a l e r dem Großgrundbesitz half, die Kriegsverluste und später die Agrarkrise zu überwinden, griff den Städten gar nicht oder so wenig finanziell unter die A r m e , daß Danzig erst 1860, Königsberg und Elbing sogar erst Anfang des 20. Jahrhunderts ihre Schuldenlast aus der Zeit nach 1807 tilgen konnten. Dadurch waren die Städte mit außerordentlich hohen Kommunalsteuern belastet, die wie ein lähmender Druck auf ihrem wirtschaftlichen Hochkommen lagen. Erst nach Abflauen der Agrarkrise begann v e r spätet und gehemmt Ende der zwanziger Jahre ein gewisser Industrieaufbau. Im ganzen gesehen verlor die Provinz jedoch den Anschluß an die Industrieentwicklung im übrigen Preußen. Um die Mitte des Jahrhunderts gehörte sie zu den industriell am weitesten zurück17 gebliebenen Provinzen der Monarchie. Die außerordentlich ungünstigen Bedingungen für den Aufstieg von Handel und Gewerbe wurden zu einer starken Triebkraft der bürgerlichen Oppositionsbewegung. Die antifeudale Bewegung gewann durch diese Verhältnisse eine im Vergleich zu anderen ostelbischen P r o vinzen relativ bedeutende Kraft und Hartnäckigkeit. Im Laufe der 30er Jahre überzeugte sich die Bourgeoisie, daß mit Petitionen, Denkschriften, Eingaben und Beschwerden zumeist über die Provinziallandtage bei der Regierung nichts zu erreichen w a r . Sie begann daher eine Verfassung zu fordern, d.h. Anteil an der politischen Macht im Staat, um ihre materiellen Interessen durchzusetzen. So forderte der 7. Provinziallandtag im März 1841 auf Antrag der Danziger Kaufmannschaft von der Regierung die Gründung eines Handelsund Gewerbeministeriums. "Man kann es in hiesiger Provinz wenigstens einen fast allgemein empfundenen Eindruck nennen, daß sowohl die Industrie als auch und zwar besonders der Handel, sofern solcher von den Staatsbehörden abhängig ist, nicht die kräftige Förderung und wünschenswerte Aufmerksamkeit erfahren, welche beide glauben in Anspruch nehmen zu können..." Der Landtag müsse feststellen, daß "die mit der Leitung und Förderung der produktiven Gewerbe und des Handels beauftragten Staatsbehörden in ihrer gegenwärtigen Organisation nicht das vollkommene und wünschenswerte Vertrauen der hiesigen 18 Provinz besitzen".
Diese in scharfen Worten abgefaßte Beschwerde kam einem offenen
Mißtrauensvotum der Bourgeoisie gegenüber dem bürokratischen Absolutismus gleich. Die Alternative konnte für die Bourgeoisie nur heißen: Verfassung, Beteiligung an der politischen Macht im Staat.
17
18
In der Provinz Preußen kamen (1852) 88Einwohner auf einen Fabrikarbeiter, in ganz Preußen 25 Einwohner; auf 5770 Einwohner entfiel in der Provinz Preußen 1 PS (Dampfmaschinen), inganz Preußen auf 550 Einwohner. Vgl. Schuppan, Peter, Johann Jacoby, S. 380. DZAM, Rep. 77, T i t . 523a, Nr 27, vol. I, f o l . 70 f . ; Allgemeine Politische Zeitunp für die Provinz Preußen. N r . 67 v. 20.3.1841.
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In den 30er Jahren existierte die politische Opposition des Bürgertums unter dem Druck der Reaktion in Gestalt kleiner Zirkel vor allem in den größeren Städten, Diskussionszirkel, in denen politisch interessierte Kaufleute und bürgerliche Intellektuelle zusammentrafen. Die Opposition war noch nicht organisiert. In Königsberg bildete ein Café den T r e f f punkt, wo auch die wichtigsten Zeitungen auslagen. Aus diesen Zusammenkünften entstand hier etwa 1838/39 ein locker organisierter politischer Zirkel, dem auch Jacoby angehörte. Welche Rolle Jacoby innerhalb der lokalen Opposition Ende der 30er J a h r e spielte, geht aus der Tatsache hervor, daß e r 1837/38 der Organisator der Solidaritätsaktion in Königsberg zugunsten der im Zusammenhang mit dem Staatsstreich in Hannover entlassenen Göttinger Sieben war, und daß e r an der Spitze eitios Lesezirkels stand, der verbotene politi19 sehe Literatur in der Provinz verbreitete.
Die sich wiederbelebende Opposition ermutigte
ihn. Über Jacobys Kampfstimmung Ende der 30er Jahre gibt ein Brief Auskunft, den e r am 5. Februar 1839 an einen Freund schrieb: "Gerade jetzt, da es nach langem Warten losgehen soll, läßt Du den Kopf hängen und sprichst verächtlich von unseren schönen Jugendträumen. . . Wenngleich unsere Rüstung morsch und unser Körper gebrechlich, wir wollen dennoch hoffen und kämpfen, bis jene erblichen Revolutionäre gegen die Majestät des Volkes, 20 bis die gekrönten Barbiergesellen elend zu Boden liegen!" Am 5. September 1840 traten die Provinzialstände in Königsberg zusammen, um nach alter Tradition als erste dem neuen König zu huldigen. Auf die Frage des Königs, um die Bestätigung welcher Privilegien die Stände bitten wollten, beschloß der Landtag mit großer Mehrheit, den König zu ersuchen, "die verheißene Bildung einer Versammlung ven Landesrepräsentanten Ihrem getreuen Volke Allergnädigst z u z u s i c h e r n . . . "
In seinem Antrag
berief sich der Landtag auf das Verfassungsversprechen Friedrich Wilhelms III. vom 22. Mai 1815. Dieser Schritt war das Ergebnis des Vorwärtsdrängens der bürgerlichen Opposition. Dem Beschluß des Landtags lag ein entsprechender Antrag des Königsberger Deputierten, des Kaufmanns Heinrich, zugrunde, der ein führendes Mitglied des politischen Zirkels in Königsberg war. Sein Antrag auf Verfassung war schon Wochen vor dem Zusammentritt des Huldigungslandtages im Kreis der Königsberger Oppositionellen beraten wor21 den.
Aber auch die führenden Vertreter des Junkerliberalismus stimmten einem solchen
Antrag zu und setzten ihn auf dem Landtag durch. Sie glaubten, daß der neue König einer 19
20 21
Über die bürgerliche Opposition in Königsberg Ende der 30er Jahre und Jacobys Stellung in ihr vgl. Schuppan, Peter. Johann Jacoby, S. 37 f f . ; Silberner, Edmund, Zur Jugendbiographie von Johann Jacoby, S. 56 ff. Zit. bei Adam, Reinhold, Johann Jacobys politischer Werdegang 1805-1840, in: Historische Zeitschrift, Bd 143, 1931, S. 74. DZAM, Rep. 92, Nachlaß Rochow, A l l , Nr 3, fol. 69 f . Agentenbericht der Rochow'sehen Geheimpolizei v. 1 9 . 8 . 1 8 4 0 .
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Weiterentwicklung der Verfassungs Verhältnisse positiv gegenüberstünde, und wollten dem Aufbrechen politischer Gegensätze durch einen gemäßigten Antrag entgegenwirken. Sowohl in der Form wie im Inhalt war denn auch der Schritt des Huldigungslardtages sehr gemäßigt. Bat man doch nicht um eine Volksvertretung, sondern um eine Repräsentation auf der Basis des ständischen V e r t r e tungsprinzips.
22
Der Landtagsabschied fiel ebenso gnädig wie unklar-ablehnend aus. Der König sagte den Ständen zwar, daß die 1815 versprochene Landesrepräsentation durch die Einrichtung der provinzialständischen Verfassung ihre E rfüllung gefunden habe, versicherte aber zugleich, daß e r "dieses edle Werk immer treu zu pflegen, einer für das geliebte Vaterland und für jeden Landesteil immer ersprießlicheren Entwicklung entgegenzuführen... entschlossen" sei. Die Stände waren mit diesem Bescheid denn auch vollkommen zufriedengestellt, der in vagen Worten die Weiterbildung der provinzialständischen Verfassung versprach. Sie legten den Landtagsabschied als verklausulierte Zustimmung des Königs zu ihrem Antrag aus. Trotz der Zaghaftigkeit seines politischen Vorgehens darf man die Bedeutung des Antrags des preußischen Huldigungslandtages nicht unterschätzen. Die Repräsentationsforderung wurde jetzt zum Gegenstand der öffentlichen Diskussion und Auseinandersetzung, die politischen Fronten wurden aufgerissen. Wie J . Waldeck aus Berlin am 16. Oktober 1840 an seinen Vetter Jacoby schrieb, hatten die Vorgänge in Königsberg "das ganze Land elekt r i s i e r t . . . Soviel ist gewiß, jener Aufschwung und jene Begeisterung, einmal erzeugt, 23 werden so leicht nicht schwinden..." Die politischen Gegensätze verschärften sich, als der König, nach Berlin zurückgekehrt, am 4. Oktober 1840 die Veröffentlichung der Dokumente des Königsberger Huldigungslandtages befahl, " . . . um jeder irrigen Ansicht entgegenzutreten, als ob der König durch den Landtagsabschied... seine Zustimmung zu dem in der Denkschrift enthaltenen Antrage auf Entwicklung der Landesverfassung, im Sinne der Verordnung vom 22. Mai 1815, aus24 gesprochen hätte"
. Dies war eine Ablehnung aller Repräsentations- und Verfassungs-
forderungen, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließ. Die Wirkung dieser Ablehnung war, daß in den folgenden Monaten in ganz Preußen, voran aber in Ostpreußen, die 25 politische Anteilnahme und oppositionelle Stimmung im Bürgertum rapide zunahm. In der Provinz Preußen konzentrierte sich die Opposition darauf, durch eine breite Petitionsbewegungden f ü r Ende Februar 1841 zusammenberufenen 22 Vgl, zum Huldigungslandtag im einzelnen Schuppan. Peter. Johann Jacobv. S. 66 ff. 23 Jacoby, Johann, Briefe der Frühzeit, hrsg. von Gustav Mayer, in: Deutsche Revue Jg. 47, 1922, Bd 3, S. 227 f . 24 Vossische Zeitung. Nr. 234 v. 6.10.1840. 25 Prutz, Robert, Zehn Jahre, Bd 1, S. 273 f f . , 318 f f . , 327 f f . , 338 f . ; Obermann Karl Deutschland 1815-1849, S. 131 ff. '
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Provinziallandtag zu veranlassen, den Repräsentationsantrag zu erneuern - gegen den Willen des Königs. Ende November 1840 schon berichtete einer der Vertrauensmänner des preußischen Innenministers in Ostpreußen, daß sich hier eine "bedrohliche politische Stimmung" bemerkbar mache. Es bräche sich "eine beispiellos schnelle und scharfe Scheidung der politischen Meinung in allen Volksklassen Bahn... Auf der einen Seite stehen die Freunde der herkömmlichen Verfassung , . . , auf der anderen Seite aber die Verfechter der modernen konstitutionellen Richtung... Dieser letzteren Richtung gehört der höchste Staatsbeamte der Provinz a n . . . Es ist nicht zu leugnen, daß auf dieser Seite sich auch die Majorität der intelligentesten und vermögendsten Gutsbesitzer befindet und daß der Energie derselben auf der anderen Seite von ihren Gegnern nicht derselbe Grad von Entschlossenheit und Intelligenz entgegengesetzt wird. Die konstitutionelle Partei ist entschlossen, auf dem nächsten Landtag den Verfassungsantrag zu erneuern, und es ist nicht zu verkennen, daß sie mit großer Tätigkeit die öffentliche Meinung in diesem Sinne schon jetzt b e a r b e i t e t . . A l s Zentren der Opposition nennt der Bericht das Café Siegel in Königsberg, wo der Stadtverordnete Heinrich der Mittelpunkt sei, die Stadt Elbing und mehrere Landkreise, in denen liberale Landräte Anhänger werben. "Überall hört man ein unreifes politisches Raisonement, das den Zustand der Provinz als einen be26
klagenswerten darzustellen v e r s u c h t . . . "
Ein anderer Bericht, der sich speziell mit den
politischen Diskussionen des "berüchtigten Clubs" im Café Siegel in Königsberg beschäftigte, machte sogar von einer mitangehörten Rede Mitteilung, in der das Königstum als eine "Absurdität" bezeichnet und gefordert wurde, daß das Volk herrschen und der König zu einem "Popanz" wie in England und Frankreich werden müsse. Das Königtum werde nur durch Bajonette gehalten, habe der Redner ausgeführt; dies werde jedoch dem preußischen König nicht helfen, auch ihm werde eine Konstitution abgezwungen werden. Nur ein Zu27 hörer habe den Ausführungen widersprochen. Im Januar 1841 ging die Opposition in Königsberg zu offenen Demonstrationen über, als die Studenten beschlossen, dem Oberpräsidenten von Schön einen Fackelzug zu bringen. Die Kaufleute und die "angesehensten und einflußreichsten Bürger der Stadt" schlössen sich an. Eine Sympathieadresse für Schön, die in der Stadt zirkulierte, hatte bereits 400 Unterschriften erhalten. Der Königsberger Polizeipräsident berichtete zu den Vorgängen, daß "viele und bei weitem die meisten Teilnehmer" dieser Demonstration ihrem Wunsche Ausdruck geben wollten, "daß Allerhöchsten Ortes auf die Anträge des letzten Huldigungslandtages eingegangen werde" und daß sie in Schön den Repräsentanten der Liberalen und den entscheidenden Gegenspieler des reaktionären Innenministers v. Rochow sähen. Wie stark die politische Anteilnahme der Bürger 26 27
DZAM, Rep. 77, Tit. 343a, Nr 32a, fol. l l f . Bericht des Landrats v. Hakev. 23.11.1840. Ebenda, Rep. 92, NachlaßRochow, A IV, Nr 25, fol. 3 ff. Bericht ans Innenministerium v. 10.12.1840.
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s e i , das gehe hervor "aus der Schnelligkeit, mit welcher sich die . . . Gerüchte bis in die Kreise der kleinsten Bürger verbreiten und aus dem E i f e r , mit welchem solche Gerüchte daselbst wie in allen übrigen Kreisen der Gesellschaft fortwährend besprochen werden". Die Bürgerschaft sähe "mit großer Spannung den Ergebnissen des nächsten Provinziallandtages" entgegen, und es verlaute, "daß die verschiedenen Deputierten vielfach mit einer großen Menge Unterschriften versehene Adressen an den Landtag erhalten werden" mit 28 der Bitte um Erneuerung des Antrags des Huldigungslandtages. Alle die hier angeführten Quellen legen Zeugnis ab von dem rapiden Wachstum der antifeudalen Opposition in der Provinz Preußen seit dem Herbst 1840. Zugleich begann sich die antifeudale Bewegung aber auch zu differenzieren in einen gemäßigten Flügel der liberalen Junker und in einen energischen und mit weiter gehenden Zielen auftretenden bürgerlichliberalen Flügel.
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Die junkerlich-liberale Gruppe versuchte zunächst auch weiterhin, den König zu einer liberalen Kursänderung voranzudrängen; sie war der Meinung, der nächste Landtag müsse die Bitte um Reichsstände erneuern. Während die liberalen Junker in diesem Sinne unter ihren Standesgenossen warben, griff Schön die reaktionäre Regierung direkt an. E r v e r faßte eine Denkschrift unter dem Titel "Woher und Wohin?", die e r dem König am 27. Dezember 1840 übersandte. In einem Begleitbrief schilderte e r die politische Mißstimmung in der Provinz und kündigte an, daß der nächste Landtag aller Wahrscheinlichkeit nach einen Antrag um Reichsstände wiederholen werde. Diese Aussicht und seine Differenzen mit der Regierung brächten ihn als höchsten Regierungsbeamten der Provinz und Landtagskommissar in die Lage, daß e r um seine Entlassung aus dem Staatsdienst bitten müs30 se.
In der Denkschrift "Woher und Wohin?", die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt war
und nur an den König und einige hohe Regierungsbeamte und politische Freunde versandt wurde, begründete und rechtfertigte Schön den Repräsentationsantrag des Huldigungslandtages. Es wäre die Pflicht des Landtages gewesen, den König auf die politischen Gegensätze zwischen Volk und Regierung aufmerksam zu machen. Die Deputierten, die dies ta'e'i, seien keine zur Anarchie oder Illoyalität geneigten " P r o l e t a r i e r " , sie wären "Männer von Urteil und gereifter Erfahrung", deren Antrag nicht gerichtet war "gegen den Souverän, wohl aber gegen die Werkzeuge des Gouvernements, welche die Culturentwicklung im Volke hemmen, das Volk in Unmündigkeit festhalten wollen und sich allein nur . . . als 28
Ebenda, Rep. 77, T i t . 2, Lit. F , Nr 21, vol. I, fol. 103 f f . ; Rep. 77, T i t . 343a, Nr 32a, fol. 56 f . , 74 f . Berichte des Polizeipräsidenten vom 14, u. 3 1 . 1 . und 4 . 2 . 1 8 4 1
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VS 1 - Schuppan, Peter, Johann Jacoby, S. 74 f f . ; Silberner, Edmund, Zur Jugendbiographie von Johann Jacoby, S. 67 f . Aus den Papieren Theodor v. Schöns, Bd 3, Berlin 1876, S . 240 ff.
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Jacoby und die antifeudale Opposition Vollmündige betrachten".
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Die Denkschrift schließt mit der Mahnung: "Die Zeit der soge-
nannten väterlichen oder P a t r i m o n i a l r e g i e r u n g . . . läßt sich nicht zurückführen. Wenn man die Zeit nicht nimmt, wie sie ist, das Gute daraus e r g r e i f t und in seiner Entwicklung f ö r 31 dert, dann straft die Z e i t . " Die Denkschrift ist in i h r e r politischen Zielsetzung s e h r gemäßigt. Dies kommt vor allem darin zum Ausdruck, daß Schön alle Reformen nur vom Willen des Königs abhängig machen wollte. Die Junkerliberalen waren nicht bereit, f ü r ihre Ziele zu kämpfen,und sie wollten sich schon gar nicht an das Volk wenden. Als der König Schöns Forderungen ablehnte und mit aller Deutlichkeit sein Festhalten an einer patrimonialen, also absolutistischen Regierungsform betonte, zugleich aber Schön beschwor, als Landtagskommissar eine Wiederholung des Antrags auf Repräsentation durch die Provinzialstände zu verhin32 dern
, antwortete ihm der liberale Oberpräsident: "Meiner Uberzeugung nach können
und sollen ständische Angelegenheiten nur vom Souverän ausgehen . . . Liegt es im Plane E . K. Majestät, das ständische Wesen weiter- und durchzuführen, so ist dies die einzige Basis, auf der es zustande kommen kann. Liegt es aber nicht im Plane E . K. Majestät, so ist die Wiederholung des nur vor fünf Monaten vorgetragenen Wunsches . . 33 . nicht angem e s s e n . In diesem Geiste würde ich auf dem Landtage zu wirken s u c h e n . . . " Die bürgerliche Opposition begann dagegen einen anderen, den einzig Erfolg v e r s p r e chenden Weg einzuschlagen: f ü r ihre politischen Ziele zu kämpfen, sich an die Öffentlichkeit, an das Volk zu wenden. In Königsberg versuchte sie nicht nur, der Petitionsbewegung f ü r eine Erneuerung des Repräsentationsantrages eine möglichst breite Basis zu verschaffen. Im Dezember 1840 und Januar 1841 schrieb Johann Jacoby seine -berühmte Flugschrift "Vier Fragen, beantwortet von einem Ostpreußen" und formulierte damit das politische P r o g r a m m der Bourgeoisie, die Ziele der antifeudalen 34 Oppositionsbewegung, in der e r selbst aktiv und führend mitwirkte und mitkämpfte. Johann Jacoby war 35 J a h r e alt, als e r jene Flugschrift verfaßte, die seinen Namen in ganz Deutschland bekannt machen sollte. Alle Äußerungen von Zeitgenossen bekunden, daß e r damals als "einer der geachtetsten Ärzte in Königsberg" galt. Die ärztliche P r a x i s 31 32
33 34
Schön, Theodor v . , Woher und Wohin? Mit einem Nachwort von G. Fein, Straßburg 1842. Friedrich Wilhelm IV. an Th. v. Schön, 26.12.1840 und 1.1.1841, in: Rothfels. Hans, Th. v. Schön, Friedrich Wilhelm IV. und die deutsche Revolution von 1848, Halle 1937, S. 125 ff. Th. v. Schön an F r i e d r i c h Wilhelm IV., 3.1.1841, in: Aus den Papieren Theodor v. Schöns, Bd 3, S. 250. Die Flugschrift ist datiert: "Königsberg, am Krönungstage 1841" (das ist der 18. Januar); Jacoby, Johann, Gesammelte Schriften und Reden, Bd 1, Hamburg 1877, S. 147.
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scheint jedoch nur einen Teil seiner Arbeitskraft, und mit Sicherheit nicht den größten, absorbiert zu haben. Er betrieb vielseitige Studien auf philosophischem, historischem, naturwissenschaftlichem und auch juristischem Gebiet. Der Philosophie, Geschichte und 35 dem Staatsrecht galt sein Hauptinteresse. Als Arzt beschäftigte er sich vor allem mit der Nervenphysiologie und arbeitete hier an einem umfangreichen Werk, in dem e r für 36 eine materialistische Erklärung psychischer Erscheinungen eintrat. Bezeichnend für Jacobys vielseitige Interessen ist auch die Tatsache, daß e r , bevor Daguerres Entdeckung in Deutschland durch eingehende Berichte bekannt geworden war, einen fotografischen 37 Apparat konstruierte und die ersten Lichtbilder in Ostpreußen herstellte. "Unablässig arbeitete er an seiner geistigen Ausbildung", berichtet einer von Jacobys Freunden; "Sein Wissensdrang war ein unersättlicher",und geistige Arbeit bedeute für ihn höchsten Genuß, sagt ein anderer. 3 ** Seine vielseitige Arbeit zwang Jacoby, in der Regel die Nacht zum Tage zu machen Die Folge war eine schon in den 40er Jahren untergrabene Gesundheit. Sein Tagesablauf beruhte auf strenger Zeiteinteilung,und meist kürzte e r im Interesse der Arbeit seine Teilnahme an Geselligkeiten ab. Alle mit ihm bekannten Personen überliefern jedoch, daß e r ein gewandter, offenherziger und sehr toleranter, mit Geist und Witz begabter Gesellschafter unter vertrauten Freunden war, während e r in der Öffentlichkeit meist wortkarg, zurückhaltend und sehr ernst erschien. Willensstärke und Selbstdisziplin scheinen zu den hervorstechendsten Charaktereigenschaften Jacobys gehört zu haben neben einem sehr nüchternen Tatsachensinn, Feindschaft gegen jede Art von Mystik und uferlose, unsachliche Spekulation. 39 "Jedes Pathos lag ihm fern", schreibt einer seiner Freunde. Ein anderer Königsberger Schriftsteller schildert den Verfasser der "Vier Fragen": "Er ist überhaupt ein Mann der strengsten Nüchternheit und Präcision, ein Feind des Sprechens, um zu sprechen, 40 kaum noch ein Freund des Reflektierens, sondern nur des Ereignisses, der T a t s a c h e . . . " 35 Johann Jacoby, in: Vorwärts!, Volkstaschenbuch für das Jahr 1843, hrsg. v. Robert Blum und Friedrich Steger, Leipzig 1843, S. 150 f . ; Johann Jacoby, in: Conversationslexikon der neuesten Literatur-, Völker-und Staatengeschichte, Bd 2, Leipzig 1845, S. 120; Falkson, Ferdinand. Die liberale Bewegung in Königsberg 1840-48. Memoirenblätter, Breslau 1888, S. 52 f . 36 Falkson, Ferdinand, Liberale Bewegung, S. 54 f. 37 Conversationslexikon der neusten Literatur-, Völker- und Staatengeschichte, Bd 2, S. 120; Die Fortschrittsmänner der Gegenwart, hrsg. von Robert Blum, Leipzig 1847, S. 95. 38 Friedländer, Ludwig, Erinnerungen, Bd 1, Straßburg 1905, S. 81; Falkson, Ferdinand. Liberale Bewegung, S. 52 f. 39 Falkson. Ferdinand, Liberale Bewegung, S. 51 f. 40 Jung. Alexander. Königsberg und die Königsberger, Leipzig 1846, S. 373.
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III
Jacoby lebte damals im Haushalt seiner Schwestern, unverheiratet. In einem Polizeibericht vom 27. Februar 1841 heißt es über ihn: "Er ist durch und durch ehrlich in seiner Gesinnung . . . , e r meint es mit seiner Sache ernst und hat unter den dortigen Nobilitäten . . . viele Freunde . . . und ist überhaupt unter Juden und Christen sehr geachtet . . . Im Äußern wohlgestaltet, sehr gewandt, wohlunterrichtet, in der ganzen Stadt bekannt als guter Arzt und Menschenfreund, energisch, unverheiratet, ist er die Seele der dortigen konstitutionellen Kreise."41 Fragen wir zunächst nach den politischen Zielen, für die Jacoby in seiner Flugschrift eintrat. Er wollte erstens die Forderung des Bürgertums auf Umwandlung des halbfeudalen absolutistischen Staatswesens in einen bürgerlich-konstituionellen Staat - mit Volksvertretung und verfassungsmäßig garantierter Mitbestimmung - unmißverständlich aussprechen und die historische und politische Berechtigung dieser Forderung nachweisen. Damit stand in unauflöslichem Zusammenhang die Schlußfolgerung, daß das Volk berechtigt sei, die herrschende Staatsgewalt zur Durchsetzung dieser Forderung unter Umständen auch zu zwingen. Damit formulierte Jacoby programmatisch die politische Hauptforderung des fortgeschrittensten, energischsten Teils des preußischen Bürgertums. Zweitens hatte seine Flugschrift ein ganz unmittelbar-praktisches Ziel, sie war als Anleitung zum Handeln gedacht. Sie sollte als Unterlage für eine Massenpetition der Bürger an den ostpreußischen Landtag dienen und forderte zugleich alle preußischen Provinzial-Landtage auf, dem König eine Konstitution abzutrotzen, nachdem dieser sich gegen eine solche ausgesprochen hatte. Jacoby tat damit genau den Schritt, den die politische Situation verlangte. Er stellte die Forderungen der bürgerlichen Opposition als unabweisbare Rechte des Volkes dar, die es durchzusetzen galt. Zugleich rief er zu einer Aktion in diesem Sinne auf. Dieses Verhalten mußte alle Parteien, den König, die Landtage, jeden Bürger zwingen, praktischpolitisch Stellung zu beziehen. Dieser Schritt bedeutete natürlich auch einen vollen Einsatz der eigenen Person, denn die Stellungnahme der Staatsgewalt mußte sich mit Sicherheit gegen den Autor richten. Aus der Zielsetzung ergab sich, daß die Flugschrift sich an zwei Instanzen wandte: an das Volk und an die Provinzialstände. Die den ostpreußischen Provinzialständen gewidmete Flugschrift beginnt mit den Worten: "Die Sprache der Ereignisse - gleich vernehmlich für Jeden - ist nicht immer und jedem verständlich. Aus derselben eindringlich und sinngetreu in die Sprache des Volkes 41 DZAM, Rep. 77, Tit. 2, Lit. F,
Nr 21, vol. I, fol. 60.
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zu übersetzen, ist die Aufgabe des Publizisten. Wir werden in diesen Blättern die politische Tat des ostpreußischen Huldigungslandtages dergestalt zu übertragen versuchen. Was wünschten die Stände? Was berechtigte sie? Welcher Bescheid ward ihnen? Was bleibt ihnen zu 42 tun übrig? Jeder Preuße lese und prüfe unsere Antwort." Im ersten Abschnitt wird von Jacoby dargelegt, daß der preußische Bürger keine verfassungsmäßig garantierten Rechte besitze, daß seine Reife und politische Mündigkeit ihn aber berechtige, Mitbestimmung und Teilnahme an der Regierung zu verlangen. "Was wünschten die Stände?
Gesetzmäßige Teilnahme der selbständigen Bürger an den Angelegenhei43
ten des Staates."
Unter "gesetzmäßiger" Anteilnahme verstand Jacoby eine verfassungs-
mäßig garantierte und rechtlich festgelegte Mitbestimmung. Mit dem Terminus "selbständiger Bürger" war keine bestimmte soziale Schicht, etwa das Besitzbürgertum gemeint, sondern jeder Bürger im Gegensatz zum Beamten, der in einem direkten Abhängigkeitsver44 hältnis zum Staate steht.
Nachdem Jacoby dargelegt hat, daß der preußische Bürger
"an sittlicher und geistiger Bildung... keinem Lande Europas nachstehe", stellt er fest: "In zwiefacher Form kann die Teilnahme des Volkes an den öffentlichen, d.h. seinen Angelegenheiten sich kund und geltend machen, durch die Presse und durch Vertretung. Die 45 schlimmsten Feinde beider: Censur und Scheinvertretung walten in Preußen." Schonungslos und scharf geißelt Jacoby dann die preußischen Zensurverhältnisse, die Abhängigkeit der Justiz vom reaktionären Regime, die herrschende Polizeiwillkür und die Allgewalt der Beamten. Die Provinzialstände Uberschüttet er mit wahrem Hohn: über ihre "völlige Nichtigkeit... in bezug auf die allgemeine Wohlfahrt" könne es kaum Zweifel geben; eine Versammlung, die nicht einmal öffentlich tagt, mit "vornehmlich auf Grundbesitz gestütztem Wahlprinzip, . . . der verhältnismäßig geringen Berücksichtigung der Land- und Stadtgemeinden . . . , kann 46 man wohl für alles eher als für. ein adäquates Zusammenfassend stellt er fest: "Das ist das Ge-
Organ der Volksbedürfnisse" halten.
brechen des teuren Vaterlandes: Beamtenallgewalt und politische Nichtigkeit seiner selbständigen Bürger. Wie über die Krankheit, so ist auch über däs Heilmittel bei den Vaterlandsfreunden kein Zweifel: Öffentlichkeit heißt es und wahre Vertretung." Und eben dies,
42 43 44 45 46
Jacoby, Johann. Vier Fragen, beantwortet von einem Ostpreußen, Mannheim bei H. Hoff, 1841; im folgenden zit. nach: Derselbe, Gesammelte Schriften und Reden, Bd 1, S. 116-147. Ebenda, S. 116. Derselbe. Rechtfertigung meiner Schrift'"Preußen im Jahre 1845", Bergen 1846, S. 65 f. Derselbe. Vier Fragen, S. 117 f. Ebenda, S. 124.
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unterstellt Jacoby, wollte auch der Huldigungslandtag.
Er interpretierte damit den Vor-
stoß des Huldigungslandtages vom Standpunkt der konsequenten bürgerlich-liberalen Opposition. Erörterte der erste Abschnitt die aus der politischen Mündigkeit des Volkes sich e r gebende Berechtigung zu einer "wahren Vertretung", so der zweite Abschnitt die historische. Jacoby zeigt anhand der Ursachen des Zusammenbruchs des preußischen Feudalstaates 1806/07, der Reformzeit unter Stein und Hardenberg und der Rettung Preußens durch das Volk 1813, wie der Staat "auf die Bahn konstitutioneller Entwicklung gedrängt" wurde - eine Entwicklung, die ihren gesetzlichen Ausdruck in der Verordnung vom 22. Mai 1815 über die Bildung einer Volksrepräsentation und in anderen folgenden Gesetzen fand. Dann aber kam ein politischer Umschwung. Statt der Ausführung des Gesetzes "erfolgten polizeiliche Verhaftungen, Inquisitionen wegen demagogischer 'Umtriebe' und - die Karlsbader Beschlüsse; Censur-Edikte unterdrückten die öffentliche Stimme, und das freie Wort verhallte in Gefängnissen"^ 8 . Zusammenfassend stellt e r fest: "Seit drei Jahrzehnten deuten Preußens Geschichte und Preußens Gesetzgebung gleich unabweisbar auf die Notwendigkeit einer Volksvertretung hin; nur durch sie kann der Beamtenwillkür Einhalt geschehen, nur durch sie kann des Volkes Stimme zum Throne gelangen und zwischen Regierung und Regierten das Vertrauen wieder hergestellt werden, welches allein bei künftigen politischen Stürmen (und schon ziehen die Wolken dicht zusammen) das Land vor dem Schicksale des Jahres 49 1807 zu schützen vermag." Im dritten Abschnitt unter der Überschrift "Welcher Bescheid ward den Ständen?" geht Jacoby auf die Ablehnung des Antrags des Huldigungslandtages durch den König kritisch ein und nimmt den Monarchen selbst ins Gericht. Friedrich Wilhelm IV. hatte seine Ablehnung u . a . damit begründet, daß die 1815 versprochene gesamt-preußische Repräsentation durch die Einführung der Provinzialstände ihre Erfüllung gefunden habe. Jacoby lehnte diesen Ersatz als nicht den Bedürfnissen des Volkes entsprechend und das ständische Vertretungsprinzip überhaupt als historisch überholt ab. "Die früheren deutschen Landtage", schreibt er, " . . . hatten die Aufgabe, besondere Rechte und Privilegien geschlossener Stände zu verteidigen . . . Daß aber jene Stände für ein allgemeines Volksinteresse, für die heilige Unantastbarkeit des Vaterlandes und eine glorreiche Einheit desselben aufgetreten, davon sind die Beispiele zu zählen... Will man nun einmal nicht anders als mit rückwärts gewendetem Blick voranschreiten, so vergesse 47 48 49
Ebenda, S. 130 f. Ebenda, S. 136 f . , 138. Ebenda, S. 139.
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man doch nicht, daß in Deutschland das Prinzip allgemeiner Volksvertretung bei weitem 50 älter und volkstümlicher ist als das der Landstandschaft." "Zu der Weisheit des neuen Regenten herrscht gewiß das unbedingteste Zutrauen", heißt es weiter mit einer spöttischen Verbeugung, "aber es liegt nicht in der Macht eines Einzelnen, Institutionen, die sich bereits überlebt haben, ihre zukünftige Entwicklung vorzuschreiben . . . Jede einseitige Ausbildung der Provinzial-Verfassung ohne Reichsstände wäre . . . eine Gefahr für die Zukunft; statt eines organisch gegliederten Staates würden .wir nach wie vor ein Aggregat von Provinzen ausmachen, deren jede nur ihr Sonderinteresse im Auge hätte; an unserem teuren Vaterlande würde sich im Kleinen wiederholen, was wir im Großen an Deutschland erfahren: Untergang der Einheit, mit ihr Verlust der bürgerlichen Freiheit und ausländische Unterjochung. Wir für unseren Teil kennen nur eine ersprießliche und volkstümliche Entwicklung der zeitigen Provinzialstände, - die durch Königswort und Gesetz verbürgte Entwick51 lung zu Reichsständen." Nachdem Jacoby noch nachgewiesen hat, daß das Gesetz vom 22. Mai 1815 auch nach der Ablehnung einer Repräsentation durch den König nach wie vor gesetzliche Geltung besitze, kommt e r zu der Schlußfolgerung, daß es "die Pflicht der Stände" sei, auf der Vollziehung des Gesetzes zu beharren. Der vierte und letzte Abschnitt der Flugschrift hat nur fünf Zeilen. Lakonisch und lapidar heißt es: "Was bleibt der Ständeversammlung zu tun übrig? Das, was sie bisher als Gunst erbeten, nunmehr als erwiesenes Recht in Anspruch zu nehmen. - Der Stamm, welcher Erbe hat an dem Haus I s a i ' s , hat zuerst gesprochen, - und nicht werden die übrigen sich zu ihren Hütten heben." Überblickt man die inhaltliche Forderung der Flugschrift, so wird deutlich, daß sie sich in den gemäßigten Grenzen des bürgerlich-liberalen Kontitutionalismus bewegt. Hier ging Jacoby nicht über den Entwicklungsstand der antifeudalen Oppositionsbewegung in Preußen Anfang 1841 hinaus. Noch waren die breiten Volksmassen nicht in Bewegung geraten und mit eigenen Forderungen hervorgetreten. Eine demokratisch-revolutionäre Oppositionsbewegung hatte sich als selbständige politische Kraft in Preußen noch nicht formiert. Die bürgerlich-liberale Opposition, noch unorganisiert, schwächlich auftretend und vielfach mit der Illusion behaftet, daß der neue König liberal sei, mußte zunächst einmal auf breiter Basis zu der Einsicht gelangen, daß es unvermeidlich und notwendig war, den König zur Anerkennung der politischen Forderungen der Bourgeoisie zu zwingen. Die politischen Gegensätze mußten, deutlich für jeden, aufgerissen werden. Das tat Jacoby, 50 Ebenda, S. 142 f. 51 Ebenda, S. 143 f.
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indem e r das Recht des Volkes auf Verfassung und Repräsentation aus der politischen Mündigkeit des Volkes und der historischen Entwicklung Preußens ableitete und zur Inanspruchnahme dieses Rechtes, gegen den Willen des Königs, aufforderte. In der Tatsache, daß Jacoby jede ständische Vertretung ablehnte, eine Volksvertretung forderte und jedem Bürger das Recht zur Repräsentation zusprach, zeigt sich jedoch ein konsequenter, zur Demokratie hin offener Standpunkt. In der Tat lehnte Jacoby schon in den 30er Jahren das liberale 52 Juste-Milieu in Frankreich ab. Gemäßigt erscheint dagegen wieder seine Berufung auf das königliche Repräsentationsversprechen von 1815, das Beharren auf dem Boden der Legalität. Hier schwamm Jacoby in der Tat ganz im Fahrwasser bürgerlich-liberaler Rechtsanschauungen und teilte die klassenbedingten Voturteile vieler damaliger bürgerlicher Oppositioneller, die die klassenmäßige Verwurzelung des Rechts nie erkannt hatten, sondern das Recht als eine über den Klassen schwebende, ewige gesellschaftliche Kategorie betrachteten, in der sich die demokratische Gleichheit aller Mitglieder der Gesellschaft verwirkliche. Dieses auf der Forderung nach Rechtsgleichheit beruhende starrköpfige Pochen auf die Gesetze hatte jedoch auch, solange die Bourgeoisie noch nicht an der Macht war, einen durchaus fortschrittlichen Charakter. Es richtete sich gegen die noch vorhandenen Reste feudal-ständischer Privilegien und gegen die für die Spätzeit des Absolutismus charakteristische, aus dem verzweifelten Abwehrkampf der Reaktion gegen die immer mächtigere antifeudale Opposition herrührende Rechtsunsicherheit und Polizeiwillkür. Als politisch-gemäßigt und die Legalität nicht verlassend muß auch die Tatsache gewertet werden, daß Jacoby sich mit seiner Aufforderung, die Rechte des Volkes in Anspruch zu nehmen, in erster Linie an die Provinzialstände wandte. Er verlangte von dem zu Ende Februar einberufenen ostpreußischen Landtag, den Antrag des Huldigungslandtages zu wiederholen,und forderte im Schlußsatz seiner Flugschrift alle anderen Provinziallandtage auf, dem Beispiel des ostpreußischen zu folgen. Überließ e r den Ständen den ersten Angriff, so bestellte er jedoch gleichzeitig, in dem er sich an die breite Öffentlichkeit wandte, letztendlich das Volk zum Richter und Vollstrecker des bevorstehenden Kampfes und bahnte einer Lösung der politischen Gegensätze durch das Volk den Weg. Der bei aller liberalen Gemäßigtheit doch konsequente, radikale und immanent demokratische Zug der Flugschrift zeigt sich auch hier. Die "Vier Fragen" begründeten und nötigten jedem Leser die Schlußfolgerung auf, das letzten Endes das Volk berechtigt sei und genötigt sein werde, für die Durchsetzung seiner politischen Forderungen selbst zu kämpfen. Objektiv mußte
52 Schuppan, Peter, Johann Jacoby, S. 43.
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die Flugschrift die Radikalisierang der Opposition und damit die Herausbildung und Formierung revolutionär-demokratischer Kräfte vorantreiben. Sowohl ihr Inhalt wie auch die Sprache und Form verliehen Jacobys Flugschrift den Charakter eines politischen Programms der Opposition. Die "Vier Fragen" enthielten und begründeten alle wichtigen Forderungen der damaligen antifeudalen Opposition: Verfassung, Volksvertretung, unabhängige Justiz, Pressefreiheit, kommunale Selbstverwaltung usw. Die Konzentration auf die Sprache der Fakten, die ohne jedes gelehrte und theoretisierende Beiwerk mit der Jacoby eignen scharfen Logik zu Schlußfolgerungen von zwingender Beweiskraft verbunden wurden, gab den Behauptungen und Thesen der Schrift eine Entschiedenheit und Sicherheit, die außerordentlich stark auf die Zeitgenossen wirkte. Durch sein Streben nach größtmöglicher Klarheit, Prägnanz und Kürze im Ausdruck gelangte Jacoby an einigen Stellen zu so einprägsamen, beinahe klassischen Formulierungen, daß diese 53 nachweisbar zu stehenden Redewendungen im Volk wurden. Dazu kam eine nichts beschönigende Offenheit der Sprache, die der damaligen Öffentlichkeit, die an einen durch die Zensurverhältnisse bedingten Stil versteckter Anspielungen gewöhnt war, außerordentlich kühn erschien. In dieser Offenheit dokumentierte sich ein beinahe herausfordernder Bürgerstolz. Schon gleich nach ihrem Erscheinen zwang sich Zeitgenossen, so Arnold Rüge, der Vergleich mit Abbé Sieyès' berühmter Programmschrift "Qu'est-ce que le 54 T i e r s - É t a t ? " auf, die kurz vor Ausbruch der Französischen Revolution erschienen war. Dieser Vergleich mag übertrieben erscheinen, in einer wichtigen Beziehung traf er jedoch zu. "Klar und allgemeinverständlich wurden die Wünsche des Volkes" in Jacobys Flugschrift zum Ausdruck gebracht, stellte ein Königsberger Zeitgenosse später rückblickend fest. Sie gab "dem bis dahin nicht bestimmten Bewußtsein des Volkes den rechten'Ausdruck; was als vage Idee der Masse vorgeschwebt hatte, das fand sich hier in gedrängter 55 Kürze, in schlagender Beweisführung unumwunden als Recht des Volkes dargestellt" . Varnhageti von Ense sagte von den "Vier Fragen", daß sie "in aller Kürze eine Instruktion und ein 56 Zeughaus für die konstitutionelle Opposition" seien. In einer anderen zeitgenössischen 53 54 55 56
Lewald, Fanny, Meine Lebensgeschichte, 3. A b t . , B d l , Berlin 1862, S. 38 f . , berichtet, daß der Schlußpassus der "Vier Fragen" in Königsberg eine so gängige Redewendung wurde, daß sie sogar von den Kindern bei ihren Spielen benutzt wurde. Rüge, Arnold, Briefwechsel und Tagebuchblätter, hrsg. von Paul Nerrlich, Bd 1, Berlin 1886, S. 219 f. Dinter, Die Bürgergesellschaft in Königsberg, in: Neue preußische Provinzial-Blätter, 3. F . , Bd 4, 1859, S. 62. Varnhagen von Ense. K . A . , Tagebücher, B d l , Leipzig 1861, S. 277 f. (2.3.1841).
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Äußerung heißt es: "Die Flugschrift . . . ist ohne Zweifel die vorzüglichste und ergreifendste, die wir in der ganzen neueren Literatur besitzen . . . Diese Schrift ist die Wahrheit 57 selbst..." Ganz sicher muß man auch heute noch Jacobys "Vier Fragen" zu den bedeutendsten Werken der progressiven deutschen politischen Publizistik zählen. Mitte Januar 1841 hatte Jacoby, wie schon erwähnt, seine Flugschrift fertiggestellt. Sie mußte eilig gedruckt werden, um ihre Wirkung vor dem Zusammentritt der Provinziallandtage Ende Februar zu tun. In Preußen die Druckerlaubnis erlangen zu wollen, war völlig aussichtslos. Jacoby übersandte sein Manuskript daher dem Leipziger Verleger Otto Wigand, dem Verleger der Hallischen Jahrbücher, der führenden oppositionellen Zeitschrift jener Jahre. Wigand - ein "Erzrepublikaner", wie im Sommer ein Freund Jacoby schrieb, der mit Wigand zusammen w a r 5 8 - rechtfertigte voll das in ihn gesetzte Vertrauen. E r ließ das Manuskript noch in der Nacht nach dem Empfang setzen, erwarb "nach vielen Demonstrationen" bei einem Zensor das Imprimatur, als am 26. Januar die Leipziger Kreisdirektion Verbot und Beschlagnahme der Broschüre befahl. Die sächsischen Behörden hatte offensichtlich die Angst gepackt. "Ich beklage es tief und schmerzlich, daß solche Sprache nicht gehört werden darf; armes Deutschland . . . Ich bin so tief empört . . . 59 daß mein Blut k o c h t . . . " , schrieb Wigand an Jacoby. Der Verleger Wigand unternahm nun Folgendes: er ließ den Druck nicht, wie er später der Polizei angab, vernichten, sondern bei einem anderen Leipziger Drucker sogar noch weitere 2 500 Exemplare herstellen. Dann versah er die Broschüre mit dem Impressum der Verlagsfirma H. Hoff in Mannheim, eines ebenfalls fortschrittlichen Verlegers, dessen Leipziger Kommissär sein Bruder, der Verleger Georg Wigand war. Mitte Februar 1841 begann er mit der Auslieferung an die preußischen Buchhandlungen. Anfang März waren bereits 2 000 Exemplare verteilt, in den folgenden Tagen wurde der Rest ausgeliefert. 60 Die Verteilung war so organisiert, daß der Verkauf in den wichtigsten Zentren der östlichen Provinzen etwa gleichzeitig und dann erst in Berlin begann, so daß der von der Regierung am 22. Februar ausgehende Runderlaß zur Beschlagnahme der Flugschrift zu spät kommen mußte. 57 58 59 60 61
61
Wigand rechnete sehr richtig mit dem umständlichen preußischen
Ergänzungskonversationslexikon. Ergänzungsblätter zu allen Konversationslexiken, hrsg. von Friedrich Steger, Bd 1, Leipzig 1846, S. 191. Dinter an Jacoby, 24.6.1841, in: Jacoby, Johann, Briefe der Frühzeit, Deutsche Revue, J g . 47, 1922, Bd 4, S. 55. O. Wigand an einen Freund Jacobys, 26.1.1841, in: Ebenda, Bd 3, S. 228 f. O. Wigand an Jacoby, 3 . 3 . und 31.3.1841, in: Ebenda, S. 232 f . , Bd 4, S. 53 f . ; vgl. auch Silberner, Edmund, Zur Jugendbiographie von Johann Jacoby, S. 72. DZAM, Rep. 77, Tit. 2, Lit. F , Nr 21, vol. I, fol. 27. Runderlaß des Innenministers v. 22.2.1841 mit Vermerk "citissime".
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Verwaltuiigsapparat: als das Verbot des Innenministers die unteren Instanzen erreichte, war die Flugschrift, die den Buchhändlern förmlich aus den Händen gerissen wurde, in der Regel bereits verkauft. Sogar im Rheinland und in Westfalen, wo der Verkauf erst am 4. März begann, konnte die Polizei erst zugreifen, als kaum noch Exemplare im Handel 62
waren. Aber nicht nur durch den Buchhandel vollzog sich die Verteilung. Als der ostpreußische Landtag am 28. Februar zu seiner ersten Sitzung.zusammentrat, fand fast jeder Deputierte ein Exemplar auf seinem Platz. Dies war von Jacoby in Verbindung mit dem Königsberger Landtagsabgeordneten, dem Kaufmann Heinrich organisiert worden. 63 In Schlesien wurde die Broschüre an viele Landtagsdeputierte durch die Post versandt, in der Provinz Sachsen organisierten Rüge, Prutz und andere Liberale die Verteilung der Bro64 schüre. Die mit Jacoby aDgesprochene Verteilung klappte vorzüglich dank der Hilfe, die Wigand nicht nur durch Rüge und dessen Hallenser Kreis, sondern auch durch Leipziger 65 Liberale erhielt.
So kann man mit einem gewissen Recht sagen, daß die Verteilung der
"Vier Fragen" ein Werk der spontanen Zusammenarbeit vieler Vertreter der bürgerlichen Opposition gewesen ist. Wieviele Exemplare in den Handel gelangten, ist heute nicht mehr exakt festzustellen, da Wigand nur den zweiten Druck von 2 500 Exemplaren zugab und über den ersten der Polizei erfolgreich Sand in die Augen zu streuen verstand. Die Auflage war, für jene Zeit, immerhin sehr groß. Dazu kommt, daß die Broschüre von Hand zu Hand ging und in Ab66
Schriften zirkulierte.
Auch tauchte in Königsberg noch vor dem Verkauf eine lithografiertf
Ausgabe auf, deren Herkunft nicht ermittelt wurde, da Jacoby die Bestellung leugnete und sich weigerte, den Drucker anzugeben. 67 Die preußischen Behörden setzten alle Mittel ein, um den Verleger Und Drucker zur Verantwortung zu ziehen. Nachdem der Verleger Hoff in Mannheim seine Unschuld nachgewiesen hatte, begann die Untersuchung in Leipzig. Sie wurde, wie Wigand Jacoby .berichtete, "mit solcher Wichtigkeit betrieben, das Aufsehen ist so ungeheuer, daß die Messe 62 63 64 65 66 67
Ebenda, vol. I, fol. 68, 216 f . , vol. II, fol. 75, 142 ff., 176 ff. Heinrich an Jacoby, 1.3.1841, in: Jacoby. Johann. Briefe der Frühzeit, Deutsche Revue, Bd 3, S. 231. DZAM, Rep. 77, Tit. 2, Lit. F, Nr 21, vol. I, fol. 169; Rüge, Arnold, Aus früherer Zeit, Bd' 4, Berlin 1867, S. 513. O. Wigand an Jacoby, 3.3.1841, in: Jacoby, Johann, Briefe der Frühzeit, Deutsche Revue, Bd 3, S. 232; vgl. ferner Glossy, Karl, Literarische Geheimberichte aus dem Vormärz, in: Jahrbuch der Grillparzer-Gesellschaft, J g . 22, 1912, S. 199. Die Fortschrittsmänner der Gegenwart, hrsg. von Robert Blum, Leipzig 1847, S. 77; Silberner, Edmund, Zur Jugendbiographie von Johann Jacoby, S. 71 f. DZAM, Rep. 77, Tit. 2, Lit. F, Nr 21, vol. I, fol. 30, vol. II, fol. 78, 93.
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in der Tat meint, man hätte Revolution in Berlin machen wollen . . . Friedrich Wilhelm IV. hat es der Mühe wert gehalten, eigenhändig an unseren König zu schreiben, und das war genug . . . , das Äußerste zu tun. Somit ist es gelungen, uns zu zwingen, jede Buchhandlung 68
anzugeben, welche auch nur ein Exemplar erhalten hat."
Wigand konnte dies mit gutem
Gewissen tun, denn die Flugschrift war inzwischen vergriffen. Da e r seine Verlagsbuchhandlung vor allem wegen der Hallischen Jahrbücher nicht gefährden lassen durfte, hatte e r inzwischen die Zeit benutzt, um mit Jacoby zu vereinbaren, daß dieser nicht 69 ihn, sondern seinen Bruder Georg Wigand mit dem Druck der Broschüre beauftragt habe. Da der Vertrieb nicht in Sachsen erfolgt war, erhielten Georg Wigand und ein Leipziger Drucker nur 70 6 Wochen Gefängnis.
Völlig klar ist indes den preußischen Behörden, wie aus den Akten
hervorgeht, die Art und Weise der Verteilung nie geworden. Vor allem gelang es nicht, die Beteiligung Jacobys nachzuweisen, da Georg Wigand, 71 der die Schuld auf sich nahm, bestritt, irgendwelche Briefe von Jacoby zu besitzen. Die "Vier Fragen" rwurden anfangs nur in Preußen verbreitet. Die preußische Regierung schätzte die Flugschrift jedoch 72 so hoch ein, daß sie sie vorsichtshalber auch im gesamten Bundesgebiet verbieten ließ. Sie wurde aber auch im außerpreußischen Gebiet weithin bekannt. 73 Schon im Spätherbst 1841 wurde eine zweite Auflage der "Vier Fragen" in Straßburg herausgegeben, die die Flugschrift vor allem in Westdeutschland erneut verbreitete. 74 Die Bedeutung, die man auch im Ausland Jacobys Schrift beimaß, wird durch eine in Paris Sommer 1842 erschienene französische Übersetzung unterstrichen. Auch 75 sie wurde, trotz Verbot, in Preußen "überall verbreitet". Heute ist es kaum noch recht vorstellbar und anschaulich zu machen, welche enorme Wirkung von Jacobys Flugschrift ausging. Sie bestritt monatelang den politischen Gesprächs68 O. Wigand an Jacoby, 31.3.1841, in: Jacoby, Johann, Briefe der Frühzeit, Deutsche Revue, Bd 4, S. 53 f. 69 O. Wigand an Jacoby, 3.3.1841, in: Ebenda, Bd 3, S. 232 f. 70 Silberner, Edmund, Zur Jugendbiographie von Johann Jacoby, S. 73. 71 DZAM, Rep. 77, Tit. 2, Lit. F, Nr 21, vol. I, fol. 212 f f . , vol. II, fol. 203 f. 72 Ebenda, vol. I, fol. 70f. - D a s Verbot durch den Bundestag erfolgte am 13.3.1841. 73 Augsburger Allgemeine Zeitung,Nr. 63, 65, 77, 78, 85, 87, 90 vom 4 . , 5 . , 18., 19., 27., 28., 31.3.1841; vgl. ferner Glossy, Karl, Literarische Geheimberichte, S. 205 (Frankfurt, 28.4.1841). 74 Vier Fragen, beantwortet von einem Ostpreußen, 2. Aufl., Straßburg, Druck von G.L. Schuler, 1841. Sie wurde von dem Emigranten Georg Fein herausgegeben; vgl. Oppermann, P . , G. Fein, in: Quellen und Darstellungen zur Geschichte der Burschenschaft, Bd 1, 1910, S. 253. 75 Quatre Questions résolues par un habitant de la Prusse orientale (le docteur Jacoby), Paris, Raymont - Bocquet, 1841; DZAM, Rep. 77, Tit. 2, Lit. F, Nr 21, vol. II. fol. 257, 279, 281.
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Peter Schuppan
Stoff vor allem in Preußen, förderte allenthalben die Diskussion über die Ziele und nötigen Aktionen der antifeudalen Opposition und wirkte als ein Motor der Meinungsbildung. Am 27. Februar meldete Jacobys Vetter J . Waldeck aus Berlin, daß ihm ein Polizeirat mitgeteilt habe, "daß selten etwas eine solche Sensation erregt [habe] als jene Vier Fragen". Sogar im Innenministerium werde Jacobys Broschüre als ungemein tüchtig anerkannt, "wodurch natürlich das Verbot noch geschärft w i r d . . . Die Ministerialräte suchten sich 76 noch schnell Exemplare zu beschaffen..." Eine Woche später schrieb er an Jacoby: " . . . obgleich ich täglich viel herumkomme, Stehely und die Lesekabinette besuche, so hört man außer der Sensation, die Deine Broschüre macht, nichts Neues, jene aber ist wahrhaft groß und allgemein..." Die "klare und würdige Haltung" der Flugschrift mache in Berlin 77 "manchen Proselyten".
Wie zur Tat aufrüttelnd die Flugschrift bei vielen wirkte, zeigt
z . B . die Tagebucheintragung des schlesischen Liberalen Heinrich Simon, der damals in Berlin lebte: "Heute las ich in einem Kreise von Freunden die Vier F r a g e n . . . vor. Das sind gediegene Worte eines reifen . . . Mannes, die allgemein zu verbreiten heilige Pflicht ist. So liebe ich den Publizisten! Warum7 8habe ich diese Broschüre nicht geschrieben! - und überhaupt warum ist man so t r ä g e . . . !" Der Berliner Junghegelianer Edgar Bauer erzählt, wie einer seiner Freunde aufgeregt mit der Flugschrift ins Zimmer stürzte und anfing vorzulesen: "Ich mochte nun wollen oder nicht, ich mußte zuhören." Er habe damals zu den wenigen gehört, die mit der Argumentation der Flugschrift nicht ganz einverstanden waren. Jedoch sei es unmöglich gewesen, "ein vernünftiges Wort an den Mann zu bringen; wollte man an der Broschüre etwas tadeln, so wurde man von der Seite angesehen, und Ausstellungen, die man vielleicht 79machte, wurden durch den lauten Schrei der Bewunderung und des Enthusiasmus übertönt" . Varnhagen notierte am 22. Februar im Zusammenhang mit dem Erscheinen der "Vier Fragen": "Die große Frage ruht nicht und wird nicht ruhen; die aristokratischen Beamten zittern bei dem Gedanken, der König möchte solchen Anforderungen nachgeben..." Am 11. März schrieb er: "Die Politik bricht wie eine 80Überschwemmung e i n . . . und ich muß immerfort auf politische Erörterungen eingehen..." Der russische Botschafter, v. Meyendorff, sah in Jacobys Flugschrift das Programm der liberalen Opposition und schickte sie sofort nach Petersburg: "Vous recevez ci-joint une brochure importante", schrieb er an Staatskanzler Neëselrode. " C ' e s t le manifeste du parti libéral, 76 77 78 79 80
Jacoby, Johann, Briefe der Frühzeit, in: Deutsche Revue, B d 3 , S. 229. J . Waldeck an Jacoby, 4.3.1841, in: Ebenda, Bd 4, S. 48 f. Jacoby, Johann, Heinrich Simon, Bd 1, Berlin 1965, S. 150 (3. März 1841). Bauer, Edgar, Die liberalen Bestrebungen in Deutschland, H. 1, Zürich 1843, S. 1 f. Varnhagen v. Ense, K . A . , Tagebücher, Bd 1, S. 275, 281.
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Jacoby und die antifeudale Opposition
énumérant tous les motifs qui doivent engager les états provinciaux à réelamer comme une 81
droit cette constitution représentative, qui leur a été promise." Aus Königsberg berichtete der Polizeipräsident an Rochow: "Das Aufsehen, welches diese Schrift hier macht, ist ganz ungewöhnlich und allgemein wird dieselbe mit einem 82 ganz besonderen Interesse gelesen und besprochen." Die Flugschrift erregte "einen ganz unbeschreiblichen Eindruck", schrieb rückblickend ein Königsberger Liberaler; sie schuf 83 "blitzschnell eine täglich wachsende öffentliche Meinung". Jacoby selbst berichtete über den Erfolg seiner Flugschrift: "Hier hat dieselbe über meine Erwartung gewirkt; sie ist mit einer von den angesehensten Bürgern Königsbergs unterschriebenen Petition dem Landtag übergeben worden; gleiche Petitionen erfolgten von den umliegenden Städten und Landgemeinden . . . Bis in die untern Klassen ist hier ein politisches Leben rege geworden, wie wir es lange nicht gekannt, und dieses Leben wird durch die Bürokratie nicht so leicht wieder zu ertöten sein." 8 ^ Ähnlich wie in Berlin und Königsberg wirkte sie in den anderen Teilen Preußens. Für das Rheinland belegt dies ein Zeitgenosse, der in seinen Erinnerungen berichtet: "Diese Broschüre, welche rasch eine leicht erklärliche Verbreitung und ungemeinen Anklang fand, machte ein kolossales Aufsehen, weil eine so offene mänliche Sprache bis dahin in Preußen unerhört war. Dies war namentlich bei uns im Rheinland der Fall, wo man trotz allem F r e i m u t s . . . dennoch einen solchen Ton anzuschlagen bisher nicht gewagt hatte. Die Vier Fragen bildeten monatelang die stete Unterhaltung in allen K r e i s e n . " 8 5 Aus Halle schrieb Rüge an Jacoby am 5. März: "Ihre Schrift ist eine große Tat . . . Das Vaterland ist ihnen zu ewigem Dank verpflichtet. Auch hier macht die Schrift einen gewaltigen Effekt. 86 Petitionen entstehen auch hier. Man fühlt sich erhoben durch das Beispiel Königsberg..." 87 Auch in die politische Dichtung des Vormärz fand Jacobys mutige Tat Eingang.
81 82 83 84 85 86 87
H Oetzsch, Otto, Peter v. Meyendorff. Politischer und privater Briefwechsel 1826-1863, Bd 1, Berlin 1923, S. 158. Polizeipräsident Abegg an den Innenminister, 25.2.1841, in: DZAM, Rep. 77, Tit. 2, Lit. F, Nr 21, vol. I, fol. 66. Falkson, Ferdinand, Die liberale Bewegung in Königsberg, S. 43. Jacoby an J . Waldeck, 25.2.1841, zit. nach: Silberner, Edmund, Zur Jugendbiographie von Joh. Jacoby, S. 75 f. Schorn, Karl, Lebenserinnerungen. Ein Beitrag zur Geschichte des Rheinlands im 19. J h . , Bd 1, Bonn 1898, S. 145 f. A. Rüge an Jacoby, 5.3.1841, in: Jacoby, Johann, Briefe der Frühzeit, Deutsche Revue, Bd 4, S. 51. Vgl. u.a. das Gedicht von Franz Dingelstedt über die Vier Fragen, in: Lieder eines kosmopolitischen Nachtwächters, T . 1, Hamburg 1842, S. 124 f.
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P e t e r Schuppan Über die unmittelbare Wirkung hinaus trugen noch eine Reihe von Gegen-Flugschriften
dazu bei, daß die "Vier Fragen" weiterhin im Mittelpunkt politischer Diskussionen und Auseinandersetzungen blieben. Im ganzen erschienen sieben solcher Flugschriften, davon sechs anonym. So wurde in Breslau von einem Grafen Hoverden "Eine fünfte F r a g e . Als Nachtrag zu den Vier Fragen" veröffentlicht. In Berlin erschienen vier Antiflugschriften: die "Erörterungen zu den Vier Fragen von einem Nichtostpreußen", deren V e r f a s s e r ein höherer preußischer Beamter war, die von einem Königsberger Offizier verfaßten " B e 88
trachtungen über die Vier Fragen eines Ostpreußen"
, die Schrift "Preußens Verfassung,
Antwort auf die Flugschrift Vier Fragen" und die Broschüre "Ein Blick in die inneren Zustände des preußischen Staates nebst einer Analyse der Vier F r a g e n . . . " In Münster wurde das "Schreiben eines Westphalen an seine Freunde in Ostpreußen, von D r . W . A . S . " v e r öffentlicht,und in Marienwerder publizierte einer der Hauptagenten der Rochowschen Geheimpolizei in der Provinz, der Landrat v. Hake, eine besonders gehässig geschriebeneanonyme Flugschrift unter dem Titel "Stimme t r e u e r Untertanen 89 S r . Majestät des Königs von Preußen, veranlaßt durch die Flugschrift Vier Fragen". Alle diese Gegenschriften lehnten vom Standpunkt des herrschenden Regimes Jacobys Flugschrift ab, in der sie die Forderung nach einer das ständische Repräsentationsprinzip negierenden Volksvertretung erhoben sahen. So heißt es in der Breslauer Flugschrift, eine Repräsentation aller Staatsbürger sei gefährlich, denn "wer das Volk zusammenruft, Empört e s " . Wenn das Volk "als eine vom Fürsten unabhängige Macht anerkannt" werde, dann werde der Staat in der "Anarchie" enden. Keine dieser Flugschriften erreichte das Niveau und die Überzeugungskraft der "Vier Fragen". Ihre Wirkung bestand vornehmlich darin, das Interesse f ü r 90 Jacobys Flugschrift wachzuhalten und diese noch mehr zu popularisieren. Jacoby fand es mit Recht nicht der Mühe wert, auf diese Machwerke einzugehen. Mit seiner Flugschrift stellte sich Jacoby nicht nur die Aufgabe, das politische P r o gramm der Bourgeoisie öffentlich zu verkünden und meinungsbildend zu wirken, sondern, wie schon dargelegt, eine konkrete politische Aktion zu initiieren. Die "Vier Fragen" sollten das Bürgertum zu Massenpetitionen an die Provinzialstände veranlassen, und die Provinziallandtage, besonders der ostpreußische, wurden aufgefordert, Anträge auf Reprä88 89
90
Vgl. DZAM, Rep. 77, T i t . 2, Lit. F , Nr 21, vol. I . , fol. 180 f . , vol. II, fol. 214. "Sie werden vielfach gelesen, aber nicht eben mit Beifall aufgenommen", berichtete der Königsberger Polizeipräsident an den Innenminister am 2.4.1841; DZAM, ebenda, vol. I, fol. 236 f. Vgl. Varnhagen v. Ense, K . A . , Tagebücher, Bd 1, S. 285. Zu den Gegenschriften vgl. im einzelnen:Silberner, Edmund, Zur Jugendbiographie von Johann Jacoby, S. 78 f f .
Jacoby und die antifeudale Opposition
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sentation und Verfassung zu beschließen. Welche Wirkung übte die Flugschrift in dieser Hinsicht aus? In der Provinz Preußen kam es vor allem in den größeren Städten zu einer AdressenBewegung für die Einführung einer Verfassung. In Königsberg wurde nicht nur in der Deutschen Ressource, dem geselligen Mittelpunkt des bemittelten Bürgertums, Jacobys Flugschrift verlesen und anschließend Unterschriften gesammelt, sondern der Kreis um Jacoby schickte sie allen Älterleuten der Gewerke zum Zwecke der Unterschriftensammlung unter 91 Daß Jacoby im Mittelpunkt dieser Aktion stand, wird durch die
den Handwerkern zu.
Tatsache belegt, daß er die mit mehreren Hundert Unterschriften versehene Adresse dem 92 Landtags-Deputierten für Königsberg übersandte. Sie bezog sich ausdrücklich auf die 93 "Vier Fragen". Eine ähnliche Adresse entstand in Elbing. In Danzig, der dritten größeren Stadt der Provinz, wurden von einem Fabrikanten unter Vorlage der Flugschrift gleichfalls Unterschriften für eine Adresse gesammelt, jedoch vereitelte die Polizei hier die Zuende94 führung der Aktion.
Neben diesen städtischen Adressen entstanden weitere auf dem platten
Land, die vorwiegend von Gutsbesitzern unterzeichnet waren und nicht an Jacobys Flugschrift anknüpften. Diese traten ebenfalls für eine Erneuerung des Antrags auf 95 Verfassung ein, doch der Ausdruck "Volksrepräsentation" findet sich nirgends in ihnen. Jacobys Flugschrift wurde also tatsächlich in den größeren Städten der Provinz Preußen zum Aktionsprogramm einer Verfassungsbewegung, die vorwiegend von der Bourgeoisie und einem Teil des Kleinbürgertums getragen wurde. Sie zwang jetzt den preußischen Provinziallandtag, der im März 1841 in Danzig tagte, zur Stellungnahme in der Verfassungsfrage. Von den 95 Deputierten - 45 aus der Ritterschaft, 28 Stadt-, 22 Landgemeinde-Vertreter - bekannte sich die Mehrheit zum gemäßigten Junkerliberalismus des Kreises um Theodor v. Schön. Die konservative Gruppe bestand aus 7 bis 8 aktiven und ca. 20 "untätigen Gleichgesinnten",und nur 11 bis 12 Städtevertreter und 3 bis 4 aus der Junkerschaft bekannten sich, wie es in einem Agentenbericht heißt, zum "ultraliberalen Geist" der "Vier Fragen". 96 Die führenden Köpfe der Junkerliberalen zeigten sich nicht bereit, der bürger91 DZ AM, Rep. 77, Tit. 2, Lit. F, Nr 21, vol. I, fol. 29 f. (23.2.1841), vol. II, fol. 97 ff. (6.5.1841). 92 Heinrich an Jacoby, 1.3.1841, in: Jacoby, Johann, Briefe der Frühzeit, Deutsche Revue, Bd 3, S. 231; Abdruck der Adresse in: Augsburger Allgemeine Zeitung, Nr. 65 v. 6.3.1841. 93 Augsburger Allgemeine Zeitung, ebenda; DZAM, Rep. 92, Nachlaß Wedeke, Nr 4, fol. 79 f. 94 DZAM, Rep. 77, Tit. 2, Lit. F, Nr 21, vol. I, fol. 32 f . , 93 f. (24. u. 27.2.1841). 95 Ebenda, vol. II, fol. 109 f.; Rep. 77, Tit. 523a, Nr 25, foi. 183 f. 96 Ebenda, Rep. 92, Nachlaß Rochow, A IV, Nr 25, fol. 63 ff. (23 . 3.1841).
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liehen Verfassungsbewegimg zu entsprechen und den Antrag des Huldigungslandtages gegen den Willen des Königs zu wiederholen. Sie waren mit solchen von der Regierung vorgeschlagenen Scheinzugeständnissen wie der Bildung vereinigter Landtagsausschüsse und der E r laubnis, die Landtagsverhandlungen in beschränktem Umfang zu veröffentlichen, völlig 97 zufriedengestellt und wiesen die Petitionen für eine Volksvertretung zurück. Die Junkerliberalen folgten damit jener Vereinbarung, die 98 zwischen Schön und dem König schon vor Beginn des Landtages geschlossen worden war. Sie traten der antifeudalen Bewegung des Bürgertums nun bremsend entgegen. Jacobys Flugschrift bewirkte so die politisch notwendige Abgrenzung der konsequenten bürgerlich-liberalen Kräfte vom gemäßigten Junkerliberalismus, sie untergrub dessen politischen Einfluß in der Provinz und förderte das Bewußtsein, daß die Opposition auf eine Institution wie die Provinzialstände nicht bauen könne. In den anderen preußischen Provinzen kam es zu Aktionen für eine Volksvertretung in Breslau, wo auf Antrag des Maurermeisters Tschocke die Stadtverordnetenversammlung beschloß, eine Petition auf Volksvertretung an den Provinziallandtag zu richten. Die "Vier Fragen" spielten insoweit eine Rolle, als sie zur Unterstützung des Antrags an viele Landtagsdeputierte versandt wurden. Die schlesischen Stände wiesen jedoch auch hier die 99 Forderung der Breslauer Deputierten zurück. In Halle setzten Arnold Rüge und sein Kreis eine Verfassungspetition in Umlauf, die sich auf die "Vier Fragen" berief und etliche 70 Unterschriften erhielt. In der Hallenser Stadtverordnetenversammlung versuchte Rüge ohne Erfolg, sie zum Beschluß zu erheben. Auch der sächsische Provinziallandtag wies die Petition zurück. Noch "steckt unendlich viel Servilismus in den Menschen", konstatierte Rüge.''''"' In Berlin wirkte
eine Reihe Liberaler, vor allem Universitätslehrer, für das
Zustandekommen einer Verfassungspetition, doch da die Bourgeoisie sich passiv verhielt, fiel die Aktion ins W a s s e r . 1 0 * Der brandenburgische Provinziallandtag, der vom König belobigt wurde, weil er "an der Spitze . . . guter Gesinnung" stünde, trat am reaktionärsten auf, indem er sogar Bedenken gegen die vorgeschlagenen vereinigten Landtagsausschüsse 97
Landtagsbeschluß vom 23.3.1841, in: Allgemeine Politische Zeitung für die Provinz Preußen, Nr. 72 v. 26.3.1841; vgl. ferner Aus den Papieren Th. v. Schöns, Bd 3, S. 278 ff. 98 Vgl. oben S. 109; zum Landtag insgesamt: Schuppan, Peter, Johann Jacoby, S. 121 ff. 99 Wendt', H., Breslau im Streit um die preußische Verfassungsfrage 1841, in: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens, Bd 42, 1908, S. 252 f . ; Mitteilungen aus dem Stadtarchiv und der Stadtbibliothek zu Breslau 1909, H. 10, S. 469 ff. 100 Rüge an K. Rosenkranz, 25.2.1841, in: Rüge, Arnold, Briefwechsel und Tagebuchblätter, Bd 1, S. 222 f . ; derselbe, Aus früherer Zeit, Bd 4, Berlin 1867, S. 514 ff. 101 J . Waldeck an Jacoby, 4 . 3 . und 11.3.1841, in: Jacoby, Johann, Briefe der Frühzeit, Deutsche Revue, Bd 4, S. 48, 52.
Jacoby und die antifeudale Opposition
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äußerte. Auch von Seiten des pommerschen und westfälischen Landtags wurden keine Repräsentations- oder Verfassungswünsche erhoben. Aber auch die rheinische Bourgeoisie verhielt sich passiv und unentschlossen. Weder auf dem Landtag noch außerhalb desselben raffte sich die bürgerliche Opposition zu einem Eintreten für eine Volksvertretung auf, was um so auffallender ist, als der rheinische Landtag durchaus mit anderen liberalen For102 derungen wie der nach einem Pressegesetz hervortrat. Bei der Mehrheit des liberalen rheinischen Bürgertums überwog noch jene Defensivhaltung gegenüber dem reaktionären junkerlich-absolutistischen Staat, die in der Wahrung der bürgerlichen Rechtsverhältnisse der Provinz ihr Hauptziel sah und ein Übergewicht der 103 ostelbischen Provinzen innerhalb einer gesamt-preußischen Repräsentation fürchtete. Erst im Laufe des Jahres 1841/42 sollte sich diese Haltung ändern. Überblickt man das Ergebnis, das Jacobys Aufforderung zur Inanspruchnahme des Rechts auf Verfassung in Preußen zeitigte, so muß man der Feststellung Mehrings zustimmen, daß die Bourgeoisie in ihrer Mehrheit noch "nicht den nötigen Mut" aufbrachte, 104 ihre politischen Ziele mit dem erforderlichen und nötigen Nachdruck zu vertreten. Die servile und enttäuschende Haltung der Provinzialstände hatte dagegen positive Folgen. "Das Volk fing an zu begreifen, daß es Torheit gewesen, von den Provinzialständßn, in ihrer gegenwärtigen Zusammensetzung, überhaupt jemals etwas Bedeutendes, wirklich Nützliches zu erwarten; es stiegen ihm Zweifel auf, ob jene Fortentwicklung der ständischen Institutionen, auf welche der König hingedeutet..., mit diesen Einrichtungen und diesen 105 Leuten überhaupt würde möglich sein." Die konsequente bürgerliche Opposition mußte eigene Wege finden und sich vor allem selbständig organisieren, um ihre Ziele durchzusetzen. Zwei Entwicklungstendenzen wurden in dieser Hinsicht einem so aufmerksamen Beobachter wie Varnhagen im Laufe des Jahres 1841 deutlich. " E s verlautet jetzt häufiger", notierte er am 2.4.1841, "die konstitutionelle Gesinnung in Preußen müsse sich organisieren, Formen der Vereinigung, der Beratung und des Handelns finden, welche die zerstreuten Kräfte zu gemeinsamer Wirkung sammelten." Die zweite Tendenz bestand darin, daß der Opposition die vorrangige Bedeutung der Pressefreiheit immer klarer wurde. In ihr lag der vorerst wichtigste Hebel, um die Öffentlichkeit in größerem Ausmaß politisch zu aktivieren, die Bewegung zu stärken und voranzutreiben. 1 0 6 Im Rheinland einigte sich die 102 Prutz, Robert, Zehn Jahre, Bd 1, S. 404 f f . , 409 f f . , 443 ff. 103 Hansen, J . , Preußen und das Rheinland von 1815-1915, Bonn 1918, S. 78 f . ; Faber, Karl-Georg, Die Rheinlande zwischen Restauration und Revolution, Wiesbaden 1966, S. 332 ff. 104 Mehring. Franz, Gesammelte Schriften und Aufsätze, Bd 5, Berlin 1931, S. 155 f. 105 Prutz, Robert, Zehn Jahre, Bd 1, S. 495. 106 Varnhagen v. Ense. K . A . , Tagebücher, Bd 1, S. 286 . 300 (14.5.1841).
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Bourgeoisie auf die Gründung eines großen Presseorgans der Opposition auf Aktienbasis, der Rheinischen Zeitung. Seit dem Sommer 1841 liefen in Köln entsprechende Verhandlungen, wobei die Bourgeoisie sich sogar zu einem Bündnis mit dem radikalen Junghegelianismus 107 entschloß.
Aber auch in den anderen Provinzen erlebte die bürgerliche Opposition einen
weiteren Aufschwung. Zu den wichtigsten Ereignissen, die die antifeudale Bewegung 1841 vorantrieben, gehörte dabei der Hochverratsprozeß, den die preußische Reaktion gegen den Verfasser der "Vier Fragen" anstrengte. 108 Am 23. Februar 1841 übersandte Jacoby seine Flugschrift dem König und bekannte sich als ihr Verfasser. E r habe in ihr "offen und w a h r . . . die Gesinnungen und Wünsche ausgesprochen, die der Verfasser als die unter seinen Mitbürgern allgemein vorwaltenden e r kannt hat", schrieb er dem König. Gleichzeitig erklärte er, daß er seine Flugschrift "gegen jeden Eingriff willkürlicher Deutung" unter den Schutz des Monarchen stelle und 109 daß er bereit sei, sich der "gesetzlichen Verantwortung zu unterziehen". Der König schwankte zuerst, ob er den Verfasser der "Vier Fragen" vor Gericht stellen lassen sollte. Er schätzte die Flugschrift als "revolutionär" ein; doch die Eröffnung eines Prozesses mußte seinen noch weit verbreiteten Nimbus eines "liberalen" Königs in der Öffentlichkeit zerstören und die politischen Gegensätze verschärfen. Auch vermutete er zuerst, daß der Oberpräsident v. Schön irgendwie hinter-der anonymen Flugschrift stünde.^^^ Es war vor allem der Innen- und Polizeiminister v. Rochow, Repräsentant einer scharfen Unterdrückungspolitik aller oppositionellen Regungen und unrühmlich bekannt durch seinen Ausspruch vom "beschränkten Untertanenverstand", der ein Exempel statuieren wollte und den König zur Anerkennung der politischen Konsequenzen veranlaßte. In einem Immediatbericht vom 27. Februar machte er dem König deutlich, daß die Flugschrift "überall das größte Aufsehen erregt" habe und der Beschluß über die Strafverfolgung des Verfassers "von entscheidender Rückwirkung auf die Stimmung" der Bevölkerung sein werde. Würde Jacoby nicht angeklagt, dann würden allerorten die "Schlechtgesinnten dem 107 Engels, Friedrich, Revolution und Konterrevolution, in: MEW, Bd 8, S. 19; Hansen, J . , Gustav von Mevissen, Bd 1, Berlin 1906, S. 245 ff. 108 Zum Prozeß im einzelnen vgl. Schuppan, Peter, Johann Jacoby, S. 117 f f . , 127 f f . , 137-153; Silberner, Edmund, Zur Jugendbiographie von Johann Jacoby, S. 80-97. 109 Jacoby an Friedrich Wilhelm IV., 23.2.1841, in: Jacoby, Johann, Gesammelte Schriften und Reden, Bd 1, S. 148. 110 Friedrich Wilhelm IV. an Th. v. Schön, 23.2.1841, in: Rothfels, Hans,. Th. v. Schön, Friedrich Wilhelm IV. und die Revolution von 1848, S. 221; Varnhagen v. Ense, K . A . , Tagebücher, Bd 1, S. 277 f. (2.3.1841).
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Ruf des V e r f a s s e r s folgen". Im übrigen gäbe es "kein Gericht in der Monarchie", das Jacoby nicht verurteilen werde. 1 1 ''' Durch Kabinettsordre befahl der König schließlich am 2. März die Eröffnung des Gerichtsverfahrens, ordnete aber zugleich an, daß der Ange112 klagte nicht verhaftet werde. Man muß es dem Innenminister lassen, daß e r bis zu seiner Entlassung im Sommer 1842 die Verurteilung Jacobys mit e i s e r n e r Konsequenz betrieb und dabei keine Mittel, selbst ungesetzliche, scheute. E r schadete höchstens insofern seinen Absichten, als e r mit einer so unklugen und vehementen Verbissenheit zu Werke ging, daß e r sogar die J u s t i z behörden immer wieder v e r ä r g e r t e . In diesem Sinne begann schon der Prozeß. Unter Verletzung der geltenden Prozeßordnung, die die Herausfindung der Anklagepunkte dem Gericht übertrug, ließ Rochow in seinem Ministerium ein wuchtiges Anklagelaborat verfertigen, das e r dem Justizminister mit der Bitte aufdrängte, es möge "die Stelle der Accusation vertreten". Dieses Schriftstück wurde tatsächlich der gerichtlichen Untersuchung zugrunde gelegt. In ihm hieß es, der vom V e r f a s s e r verfolgte Zweck sei "Wirkung auf das Volk und auf die Stände, welche zu verfassungswidrigen Schritten aufgefordert werden, damit die Verfassung des Landes geändert und etwas von dem Landesherren als Recht ertrotzt werde, daß Seinem vor wenigen Monaten ausdrücklich ausgesprochenen Willen zuwider ist". Die angewandten Mittel seien "Herabwürdigung der Landesverfassung und des Landesherrn". Auch die freiwillige Aufgabe der Anonymität dürfe man nicht als Offenheit einschätzen, sondern als besondere " F r e c h h e i t " . Das 32 Seiten lange Exposé mündete in den Antrag, die Untersuchung zu e r öffnen wegen versuchten Hochverrats, Majestätsbeleidigung und frechen, unehrerbietigen Tadels der Landesgesetze durch Verbreitung von Unzufriedenheit und Mißvergnügen. Auch auf die Verbreitung der Flugschrift sollte die Untersuchung gerichtet und zugleich Jacobys 113 "Gehülfen" ausfindig gemacht werden. Rochow war also bestrebt, dem Prozeß einen möglichst großen Umfang zu geben. Am 12. März eröffnete das Königsberger Oberlandesgericht die Untersuchung, wies aber zugleich darauf hin, daß es nicht befugt sei, über den Anklagepunkt "Hochverrat" 114 zu richten.
In der Tat war im Jahre 1835, als die Demagogenprozesse nach dem F r a n k -
f u r t e r Wachensturm ins Uferlose stiegen, das Berliner Kammergericht zum alleinigen und Sondergerichtshof f ü r Landes- und Hochverrat bestellt worden. Diese Sachlage war 111 112 113 114
DZAM, Rep. Ebenda,Rep. Ebenda, fol. Ebenda, fol.
89c, T i t . 12, Nr 94, fol. 2 f . 77, T i t . 2, Lit. F, Nr 21, vol. I, fol. 71. 72-87. 98, 164.
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dem Innenminister sehr unbequem. E r war vollkommen sicher, daß Jacoby in Königsberg verurteilt werden würde, denn der dortige Chefpräsident des OL-Gerichtes, ein Herr von Zander, gehörte zu den geheimen politischen Berichterstattern Rochows, war dessen eifriger 115 Parteigänger und beeinflußbar durch die Regierung. Das Berliner Kammergericht dagegen stand seit Ende der 30er Jahre unter der Leitung Wilhelm Heinrich von Grolmans, dessen politische Überzeugungen durch seine aktive Teilnahme am Befreiungskrieg geprägt und dessen richterliche Unabhängigkeit und Charakterfestigkeit zu bekannt war, als116 daß Rochow nicht Zweifel an einer Verurteilung zumindest wegen Hochverrat hegen mußte. Daher stellte Rochow beim Justizminister den Antrag auf eine Ausnahmeverfügung dahingehend, daß das Königsberger Gericht ermächtigt werde, auch wegen Hochverrat das Urteil zu fällen. Diese Zumutung war nun aber selbst dem Justizminister zu viel. E r beschied den Innenminister, daß die Untersuchung in Königsberg geführt werde, das Urteil 117 aber, sofern sich Hochverrat herausstellen sollte, das Kammergericht zu fällen habe. Die Eröffnung eines Kriminalprozesses gegen.den Verfasser der "Vier Fragen" gewann sehr schnell eine politische Wirksamkeit, die die Regierung kaum mit Befriedigung erfüllt haben dürfte. In der ganzen Provinz und vor allem in Königsberg bemächtigte sich der Bürger eine große Erregung. Man nahm ebenso leidenschaftlich Partei für Jacoby wie gegen die Regierung und die Justizorgane. Noch Mitte April schrieb Schön: "Das Tagesgespräch ist hier die übergroße Ängstlichkeit des hiesigen Criminalgerichts in der Jacoby' sehen Sache... Das Criminalgericht scheint alle Haltung verloren zu haben. Das regt nun wieder 118
gewaltig und übel auf. So wird das Publikum gewaltsam getrieben . . . "
In der Bevölke-
rung fand Jacoby daher natürlich auch alle nur denkbare Hilfe. Als das Gericht am 13. März eine Haussuchung vornahm, war Jacoby bereits gewarnt worden. Man konnte nichts Belastendes mehr finden. 119 Auch über den Verlauf der Untersuchung war die Bürgerschaft gut 115 Über Zanders Beziehungen zu Rochow und seine Berichte vgl. ebenda, Rep. 92, Nachlaß Rochow, A IV, Nr 25, fol. 1 f . ; Rep. 77, Tit. 343a, Nr 32a, fol. 3 f . ; Rep. 77, Tit. 2, Lit. F, Nr 21, vol. I, fol. 57 f. 116 Über Grolman (1781-1856) vgl.: Holtze, Friedrich. Geschichte des Kammergerichts in Brandenburg-Preußen, Bd 4, Berlin 1904^ S. 116 f . , 153; Allgemeine Deutsche Biographie, Bd 9, 1879, S. 716 f. 117 DZAM, Rep. 77, Tit. 2, Lit. F , Nr 21, vol. I, fol. 165 f f . , 188. Rochow an Justizminister Mühler, 23.3.1841; dessen Antwort v. 24.3.1841. 118 Schön an Brünneck, 20.4.1841, in: Aus den Papieren Th. v. Schöns, Bd 3, S. 339 f»; vgl. auch ebenda, S. 308, 309, 312, 314. 119 DZAM, Rep. 77, Tit. 2, Lit. F , Nr 21, vol. I, fol. 189 ff. Bericht des Königsberger OL-Gerichts, 22.3.1841. Auch Jacobys Vetter J . Waldeck warnte ihn von Berlin aus am 2 7 . 2 . und 4.3.1841; vgl. Jacoby, Johann, Briefe der Frühzeit, Deutsche Revue, Bd 3, S. 229, Bd 4, S. 48.
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unterrichtet. Jacoby mußte vom 15. März bis 26. April fast jeden zweiten Tag zum Verhör, wo ihm das der Untersuchung zugrunde gelegte Exposé Rochows stückweise zur Beantwortung vorgelegt wurde. Dabei "soll sich der Jacoby", wie der Polizeipräsident berichtete, "seiner bisherigen Denk- und Handlungsweise entsprechend, freimütig, unbefangen und der Wahrheit unbedingt getreu... also ausgelassen haben, daß es keinem Zweifel unterliegt, daß er die ihm gelassene persönliche Freiheit sehr emsig zur Beschaffung der Belegstücke für die in seiner Schrift aufgestellten Behauptungen genutzt hat". Nur die feste Überzeugung, daß es nicht gelingen werde, Jacoby zu verurteilen, habe beim Publikum "die schon hin und wieder laut gewordenen Vorsätze, dem Jacoby ein Vivat zu bringen, Dinés zu geben 120
und dergl. mehr . . . bis jetzt noch nicht zur Ausführung kommen lassen" Der Prozeß gegen Jacoby schlug in seinem weiteren Verlauf immer größere Wellen und wirkte in steigendem Maße als Herd wachsender Erbitterung und Empörung gegen die Regierung. E r wurde zu einem Symbol des Kampfes der bürgerlichen Opposition, Jacoby zum "Repräsentant der konstitutionellen Partei, einer Partei, von der bis dahin in Preußen kaum vereinzelt Anfänge existiert hatten, die aber jetzt, an diesem Prozesse selbst, sich heranbildete . . .
Die ganze Hoffnung der Zukunft, die ganze 121 Sehnsucht aller eifrigen und Was dem Prozeß seine
aufgeklärten Patrioten stand mit Herrn Jacoby vor Gericht."
gravierende Wirkung verschaffte, war, daß es sich hier um einen Hochverratsprozeß handelte, für den das preußische Recht nur eine Strafe kannte: die Todesstrafe. Hinzu kam die große Ausdehnung, die er durch den Eifer der Reaktion gewann. In Leipzig, Mannheim, Breslau und anderen Teilen Preußens fanden Verhöre und Untersuchungen statt. In vielen ostpreußischen Städten wurden Personen vernommen, die der Verbreitung der Schrift verdächtigt wurden; in Königsberg allein fast 100 Menschen, darunter Dienstboten und Schul122 kinder.
Durch Sympathiekundgebungen für den Verfasser der "Vier Fragen" knüpfte
sich außerdem an den eigentlichen Prozeß eine wachsende Zahl von Disziplinaruntersuchungen, Rügen, Verurteilungen etc. der verschiedensten Personen. So wurde ein zum Geburtstag Jacobys von Gesinnungsfreunden in Königsberg in Umlauf gesetztes Gedicht der wäre, Anlaß einer umfangreichen Untersuchung, die, wenn es nach dem Innenminister gegangen 123 zu einem neuen Prozeß geführt hätte. Ein zustimmender Artikel zu den "Vier Fragen"
120 Polizeipräsident Abegg an Schön, 19.3.1841, in: Staatliches Archivlager Göttingen (ehem. Kbg. Staatsarchiv), Rep. 2, Tit. 39, Nr 44, fol. 19. 121 Prutz, Robert, Zehn Jahre, Bd 1, S. 518. 122 Jacoby, Johann, Gesammelte Schriften und Reden, Bd 1, S. 205. 123 DZAM, Rep. 89 C, Tit. 12, Nr 98.
Peter Schuppan
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in der Königsberger Hartungschen Zeitung im April 1841 kostete dem Königsberger Polizeipräsidenten sein Amt als Zensor dieser Zeitung und fast auch seinen Posten als Polizei124 chef.
Und dergleichen mehr.
Im Juni schloß das Königsberger OL-Gericht die Voruntersuchung. In seinem Bericht an den Justizminister heißt es, daß Jacoby seine Autorschaft nicht leugne und daß er seine Flugschrift in den Verhören zu rechtfertigen versucht habe. Daß er sie allein geschrieben habe, darüber könne kein Zweifel bestehen. Die Untersuchung über die Verbreitung der Flugschrift sei dagegen noch nicht abgeschlossen; diese sei jedoch mit Sicherheit durch die Mithilfe vieler anderer Personen erfolgt. Das Königsberger Gericht kam schließlich zu dem Ergebnis, daß Jacoby auch wegen Hochverrats belangt werden müsse,und erklärte 125 sich deshalb zur Urteilsfällung inkompetent. Der Innenminister machte daraufhin einen weiteren Versuch, dem Königsberger Gericht die Urteilsfällung zu überlassen. Dem Ausfall des Urteils sehe die Öffentlichkeit "mit großer Spannung" entgegen, schrieb er an den Justizminister,und da "eine von diesem Gericht ausgesprochene Verurteilung... zur Berichtigung der vielfach irregeleiteten öffentlichen Meinung über den verbrecherischen Charakter des Buches wesentlich beitragen werde, so ist es ein wichtiger politischer Grund, der mich bestimmt, die geneigte Mitwirkung Euer Exz. dafür . . . in Anspruch zu nehmen, daß . . . dem Oberlandesgericht zu Königsberg die Fortsetzung der Untersuchung und die Entscheidung übertragen werde". Außerdem schlug Rochow126 vor, gegen alle Mithelfer bei der Verbreitung der Schrift die Untersuchung zu eröffnen. Diese Art der Prozeßführung erschien dem Justizminister jedoch ziemlich bedenklich. Er überwies die Urteilsfällung 127 dem Berliner Kammergericht. Die Haltung des Kammergerichts brachte für Rochow und seine Partei eine unangenehme Überraschung. Ohne ein Urteil zu fällen, äußerte es sich schon am 8. Juni 1841 gutachtlich, daß Hochverrat nicht vorliege und daß daher das Königsberger Gericht den Prozeß ohne Anklage auf Hochverrat weiterführen möge. Über die Ausdehnung des Prozesses auf andere Personen heißt es mit deutlicher Ironie, "daß, wenn die Schrift den Tatbestand des Hochverrats involviert, auch deren Verbreiter und, wollte man die Sache auf die Spitze stellen, sogar . . . deren Leser, z . B . wenn sie dieselbe . . . anderweitig aus der Hand geben, wegen Hochverrats zur Untersuchung gezogen werden könnten, was derselben einen großen Umfang 124 Ebenda, Rep. 77, Tit. 982, Nr 5, vol. I, fol. 75 f f . , 103 ff.; vgl. ferner J . Waldeck an Jacoby, 15.10.1841, in: Jacoby, Johann, Briefe der Frühzeit, Deutsche Revue, Bd 4, S. 172. 125 DZAM, Rep. 77, Tit. 2, Lit. F , Nr 21, vol. II, fol. 92 ff. (6.5.1841). 126 Ebenda, vol. II, fol. 102 ff. Rochow an den Justizminister, 22.5.1841. 127 Ebenda, fol. 135 ff. Justizminister an Rochow, 29.5.1841.
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und in den Augen des Publikums eine schwerlich wohltätig wirkende Bedeutsamkeit geben 128 dürfte"
. Da Rochow aber seine Ansicht, es liege Hochverrat vor, nicht aufgab, wandten
der Innen- und Justizminister sich an den König zur Entscheidung. Durch Kabinettsorder vom 30. August 1841 bestimmte der König, 129daß die Zuendeführung und Urteilsfällung das Königsberger Gericht übernehmen solle. Nach einer Unterbrechung von 5 Monaten erfolgte im November 1841 die Wiederaufnahme der gerichtlichen Untersuchung. Jacoby hatte inzwischen eine vierteljährige schwere Krankheit, veranlaßt auch durch die Strapazen und Aufregungen des Prozesses, durchgemacht. Wie e r in einem Brief vom 20. November 1841 schrieb, fühlte er sich aber wieder vollkommen genesen. Dem Ausgang des Prozesses blickte er optimistisch entgegen. Sobald die Voruntersuchung abgeschlossen sei, gedenke er, seine schriftliche Verteidigung anzufertigen. "Zum Behufe derselben habe ich bereits ein Dutzend Kabinettsorders, Ministerialreskripte, Landtagsaussprüche usw. gesammelt, die . . . die mir von Rochow als frecher Tadel ausgelegte Behauptung auft. glänzende rechtfertigen." Gegen die Kabinettsorder vom 30. August, die dem Königsberger Gericht 130 die Zuendeführung des Prozesses übertrug, habe er beim König Protest eingelegt. Jacoby war durch seine Freunde davon unterrichtet, daß, wenn e r überhaupt die Chance eines Freispruchs besaß, diese beim Kammerge131 rieht lag. Seinen Optimismus über den Ausgang des Prozesses teilten übrigens nicht alle seine Gesinnungsfreunde. 132 Auf Jacobys Eingabe stellte der König aber schließlich am 11. Dezember 1841 unter Aufhebung der früheren Kabinettsorder dem Angeklagten die Wahl des Gerichts f r e i . 133 Jacoby wählte natürlich das Berliner Kammergericht. Damit hatte e r einen wichtigen Teilsieg errungen: e r war dem von Rochow beeinflußten Königsberger 134 Gericht entgangen, das ihn, wie Schön meinte, "zum höllischen Feuer verurteilt" hätte. Durch die "Vier Fragen" und seinen Hochverratsprozeß wurde Jacoby in Deutschland und namentlich in Preußen eine bekannte Persönlichkeit und zu einem Repräsentanten der bürgerlichen Opposition. Andere oppositionelle Gruppen und Persönlichkeiten begannen, Verbindung mit ihm aufzunehmen. So wandte sich aus Leipzig Friedrich Steger, der mit 128 Ebenda, fol. 153 ff. 129 Ebenda, fol. 162, 164 f . , 192, 194 f. 130 Jacoby an Eduard Flottwell, 20./22.11.1841, in: Jacoby, Johann, Briefe der Deutsche Revue, Bd 4, S. 176 f. 131 O. v. Keudell an Jacoby, 28.10.1841, in: Ebenda, S. 173. 132 "Wir sehen jetzt mit Spannung dem Urteil entgegen, was leider wohl nicht so wird, wie Jacoby noch immer hofft." R. Jachmann an A. Rüge, Königsberg, in: Zentrales Parteiarchiv des Instituts für Marxismus-Leninismus Moskau, 172, Nr 154/9. 133 DZAM, Rep. 89 C, Tit. 12, Nr 94 (11.12.1841). 134 Th. v. Schön an Brünneck, 24.12.1841, in: Aus den Papieren Th. v. Schöns,
Frühzeit, ausfallen 10.9.1841, Fonds Bd 3, S. 461.
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Blum zusammen die Herausgabe des Volkstaschenbuches "Vorwärts" vorbereitete, an ihn 135 mit der Bitte um Mitarbeit. Aber auch Jacoby seinerseits versuchte, solche Verbindungen herzustellen. So nahm er brieflichen Verkehr mit Arnold Rüge in Halle auf, und an seinenKönigsberger Freund Dinter, der im Sommer nach Sachsen, dem Rheinland und Süddeut! land reiste, schrieb Jacoby am 2. Juli 1841: "In Köln suche doch den Dr. Heß, Verfasser der europäischen 'Triarchie' auf; nach diesem Buch zu urteilen, muß es ein tüchtiger Mann sein und in unserer Zeit tut es not, daß die Guten sich eng aneinanderschließen. Kein Mann 136 der Freiheit sei dem anderen fremd!" Verbindungen zu den Kreisen der rheinischen Opposition bahnten sich vor allem Uber die Junghegelianer in Berlin an. In Berlin waren es sein Vetter, der Arzt Julius Waldeck, und seit dem Herbst 1841 Eduard Flottwell, der älteste Sohn des Oberpräsidenten Flottwell, die ihm über die politischen Vorgänge in der Hauptstadt und am Hofe berichteten. Besonders Flottwell war durch seinen Vater über die Bestrebungen und Maßnahmen der Regierung gut unterrichtet. Beide, Waldeck wie Flottwell, gehörten zum Kreis der "Freien" und beteiligten sich an deren politischen Demonstrationen. Über Flottwell vernahm Jacoby von den Bestrebungen zur Gründung der Rheinischen Zeitung: Hauptredakteur und "die Seele des Ganzen" sei Dr. Heß, die Sache befinde sich "in entschieden liberalen Händen" und verdiene daher, daß "gerade wir Leute östlich von der Spree unser Schärflein13mit 7 dazu beitragen und uns bemühen, einen oder den anderen Aktionär aufzutreiben..." In der politischen Kleinarbeit des Tages, durch Austausch von Informationen, gegenseitige Abstimmung von politischen Aktionen und Hilfeleistung untereinander bei der Lancierung von Nachrichten in die Presse, begann sich 1841 über zunächst briefliche und persönliche Kontakte der organisatorische Zusammenschluß der aktiven und radikalen Gruppen der bürgerlichen Opposition.anzubahnen. "Gäbe nur Gott den Freunden oder Feinden der Freiheit mehr Entschiedenheit, dann würden wir nicht solange darauf zu harren haben!", schrieb Jacoby im Juli 1841 in einem Brief und kennzeichnete damit zugleich die Maxime 138 seines politischen Wirkens. Tatsächlich verschärften sich die politischen Gegensätze in Preußen unter dem wachsenden Druck der Opposition, die politischen Fronten zeichneten sich immer klarer ab. Nichts ist dafür vielleicht so kennzeichnend wie die Tatsache, daß ein so gemäßigt-liberaler und königstreuer Beamter wie Theodor v. Schön für den preußischen Staat jetzt untragbar 135 Jacoby, Johann, Briefe der Frühzeit, in: Deutsche Revue, Bd 4, S. 50 f . , 58 f . ; vgl. auch Schmidt, Siegfried, Robert Blum, Weimar 1971, S. 73. 136 Jacoby, Johann, Briefe der Frühzeit, a . a . O . , S. 56 f. 137 E . Flottwell an Jacoby, 9.9.1841, in: Ebenda, S. 170. 138 Jacoby an Dinter, 2.7.1841, in: Ebenda, S. 57.
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wurde und der König seit dem Herbst 1841 seine Entlassung betrieb; daß a n d e r e r s e i t s der Monarch aber auch nicht mehr wagen durfte, Schön zu entlassen, ohne gleichzeitig seinen Gegenspieler Rochow zu entfernen, die Verkörperung der absolutistischen Reaktion in den 139 Augen der Öffentlichkeit.
Der gemäßigte Junkerliberalismus, der noch am Anfang des
J a h r e s die Opposition in die Provinz Preußen geführt und weitgehend bestimmt hatte, wurde allmählich zwischen den verschärften politischen Fronten zerrieben. Ein Mann wie Schön, der, seiner gemäßigt-liberalen Gesinnung entsprechend, sich der radikal-liberalen b ü r g e r lichen Bewegung nicht anzuschließen vermochte, aber auch den im Kern reaktionären Regierungskurs des neuen Königs nicht mitmachen wollte, sah keinen anderen Ausweg, als 140 i m m e r wieder um seine Entlassung zu ersuchen. Schließlich erzwang noch Ende des J a h r e s der Druck der angestauten politischen Gegensätze ein gewisses Einlenken des Königs in der Zensurfrage. Durch eine Instruktion vom 24. Dezember 1841 wurde den Zensoren in der preußischen Monarchie befohlen, die Zensur etwas weniger streng zu handhaben. Alle diese Tatsachen und Entwicklungstendenzen machten im Grunde den Kraftzuwachs deutlich, den die antifeudale Bewegung im J a h r e 1841 gewonnen hatte. Jacobys Einsatz wie überhaupt die bürgerliche Opposition in Ostpreußen hatten hierbei eine bedeutende Rolle gespielt. In zwei Richtungen vollzog sich im J a h r e 1842 Jacobys aktive Mitwirkung an der Ausbreitung, dem Fortschritt und Zusammenschluß der bürgerlichen Opposition. Seine leitende Mitwirkung an der Königsberger Hartungschen Zeitung ließ diese nach der Rheinischen Zeitung zu dem bedeutendsten und wichtigsten P r e s s e o r g a n der bürgerlichen Opposition in 141 Preußen werden.
Daneben wurde die Art und Weise, wie e r seinen Prozeß führte, zu
einem außerordentlich wirksamen Beitrag f ü r die Stärkung der Oppositionsbewegung. Dieser Prozeß sollte ihn und die Öffentlichkeit noch das ganze J a h r 1842 über beschäftigen. Werfen wir zum Schluß einen kurzen Blick auf den f ü r die preußische Reaktion so unrühmlichen Ausgang dieses P r o z e s s e s . Jacoby war sich der politischen Bedeutung seines P r o z e s s e s voll bewußt. E r durfte und wollte keine der Forderungen der antifeudalen Opposition zurücknehmen. Sein Ziel 139 Oberpräsident Flottwell an Brünneck, Berlin, 12.5.1841, in: Rothfels, Hans, Th. v. Schön, Friedrich Wilhelm IV. und die Revolution von 1848, S. 232; Ed. Flottwell an Jacoby, 1 0 . / 1 3 . 1 1 . und 23^11.1841, in: Jacoby, Johann, Briefe der Frühzeit, Deutsche Revue, Bd 4, S. 173 f f . , 177 f . 140 Aus den Papieren Th. v. Schöns, Bd 3, S. 321 f f . ; vgl. auch ebenda, S. 307, 316, 3 2 8 , 483. 141 Zu den Hauptentwicklungstendenzen der Opposition im J a h r e 1842 und Jacobys Beitrag vgl. Schuppan, P e t e r , Johann Jacoby, S. 154 f f .
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war aber auch, durch einen Freispruch der Opposition so viel legalen Spielraum zu erobern, daß sie ihre Forderungen und Ansichten öffentlich verkünden und verbreiten konnte. Zugleich ging sein Streben dahin, die Schranken des in Preußen herrschenden nicht-öffentlichen Gerichtsverfahrens zu durchbrechen und seinen Prozeß vor das Forum der breiten Öffentlichkeit zu bringen. Daher übernahm er, obwohl er kein Jurist war, die Verteidigung in seinem Prozeß selbst und veröffentlichte 1842 seine zwei gerichtlichen Verteidigungen als Flugschriften. In ihnen scheute er sich nicht, jene Äußerungen öffentlich zu wiederholen und zu rechtfertigen, die ihn auf die Anklagebank gebracht hatten. In ihrer schlagenden Beweisführung und mitreißenden Argumentation nicht weniger glänzend geschrieben als die "Vier Fragen", wurden sie zu wichtigen Faktoren der politischen Meinungsbildung. Ende November 1841 war die gerichtliche Untersuchung beendet. Im Dezember verfaßte Jacoby seine Verteidigung und schickte sie dem Kammergericht ein. Da Otto Wigand nicht wagte, sie zu veröffentlichen, mußte Jacoby sie in der Schweiz beim Literarischen 142 Comptoir, dem bedeutendsten Emigrationsverlag jener Jahre, publizieren. Sie erschien hier im Juni 1842 und wurde in Preußen sofort verboten. Trotzdem gelangte sie in viele 143 Hände und war "überall verbreitet". In seiner Verteidigungs-Flugschrift übte Jacoby scharfe Kritik an den bestehenden Rechtsverhältnissen in Preußen und forderte ihre Änderung im Interesse des Bürgertums. Für die bürgerliche Opposition formulierte er ihre moralischen Grundsätze. "Ohne politische Bildung bleibt die geistige und sittliche Erziehung wie des einzelnen Menschen so auch des Volkes unvollendet; sie ist wie der Schlußstein an einem Gewölbe: die Stärke des Ganzen beruht darauf. Es gibt keinen anderen Weg zur politischen Bildung als - Beteiligung an dem Staatsleben", schrieb e r hier. "Die Wahrheit dieser beiden Sätze erkennt jedes Volk, sobald es zu freierem Bewußtsein erwacht; das Bedürfnis nach bürgerlicher Selbsttätigkeit gibt sich dann mehr oder minder entschieden, aber rastlos kund, bis es in entsprechenden 144 Institutionen Befriedigung findet." Zur Anklage des Hochverrats stellte e r fest: "Einen den Ansichten des Königs widersprechenden Zweck verfolgen, ist keine straffällige Handlung. Den Gesetzen muß der Untertan Gehorsam leisten; des Königs Ansichten oder Absichten aber unbedingt adoptieren, 142 Silberner, Edmund. Zur Jugendbiographie von Johann Jacoby, S. 89. 143 Jacoby, Johann. Meine Rechtfertigung wider die gegen mich erhobene Anschuldigung des Hochverrats, der Majestätsbeleidigung und des frechen, unehrerbietigen Tadels der Landesgesetze, Zürich-Winterthur 1842, in: Gesammelte Schriften und Reden, Bd 1, S. 149-208; DZ AM, Rep. 77, Tit. 2, Lit. F, Nr 21, vol. II, fol. 281 (16.7.1842). 144 Jacoby, Johann, Gesammelte Schriften und Reden, Bd 1, S. 149 f.
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sie allein als richtig gelten lassen, mag Höflingstugend sein, sicherlich aber nicht Bürgertugend. Es besteht keine Zwangspflicht, die mir befiehlt, der politischen Meinung zu huldigen, zu welcher sich der König und seine Räte bekennen; die entgegengesetzte zu verteidi145 gen kann daher . . . weder Hochverrat noch überhaupt ein Unrecht sein." Einen großen Teil seiner Verteidigungsschrift nimmt die Widerlegung der Anklage wegen frechen, unehrerbietigen Tadels der Landesgesetze ein, eines Gummiparagraphen des Allgemeinen Landrechts, der Tadel oder Verspottung der Landesgesetze und Erregung von Unzufriedenheit gegen die Regierung unter Strafe stellte und von der preußischen Justiz zur Unterdrückung jeder freien Meinungsäußerung weidlich ausgenutzt wurde. Jacoby lehnte dieses Gesetz als veraltet und historisch überholt gänzlich ab. "Als das obige Gesetz des Allgemeinen Landrechts abgefaßt wurde - es geschah dies in den Jahren 1780/84 - , bestand noch zwischen Regierung und Regierten eine so große Kluft, daß man von unten her sich um die Staatsangelegenheiten wenig kümmerte, von oben blinder und stummer Gehorsam für die höchste Tugend eines guten Bürgers gehalten wurde... Wie-sehr aber hat sich seit jener Zeit der gesellschaftliche Zustand und vor allem die Ansicht über das sittliche Verhältnis der Regierung zu den Bürgern verändert! Vereinzelte Anachronismen sind es, wenn hie und da noch jemand in der Staatsverwaltung militärische Begriffe geltend zu machen, die Bürger wie Soldaten zu kommandieren versucht. Nicht leidenden Gehorsam verlangt die Gegenwart, sondern Selbsturteil und tätigen Gemeinsinn..." Die Regierung täte besser, endlich 146 Daß e r Unzufriedenheit "jenes Kriegsgesetz des vorigen Jahrhunderts aufzuheben..." und Mißvergnügen gegen die Politik der Regierung wecken wollte, leugnete Jacoby nicht; aber e r habe dies nicht durch "frechen, unehrerbietigen Tadel" unternommen und könne daher für die der Regierung "nachteiligen Folgen seiner Kritik" nicht einstehen. Außerdem habe e r Unzufriedenheit gegen die Regierung gar nicht erst hervorrufen müssen; diese147 sei schon vorher vorhanden gewesen,und er habe ihr nur öffentlich Ausdruck gegeben. Am Schluß der Rechtfertigungsschrift bekannte sich Jacoby noch einmal ausdrücklich zu den in seiner Flugschrift ausgesprochenen Ansichten und Forderungen: "Ohne Scheu würde ich auch jetzt noch öffentlich aussprechen: daß Beamtenallgewalt und politische Nichtigkeit der selbständigen Bürger das Gebrechen des Vaterlandes, Öffentlichkeit und wahre Vertretung die Heilmittel dieses Gebrechens; daß das preußische Volk durch geistige Bildung zu einer größeren Teilnahme an Gesetzgebung und Verwaltung des Staates ebenso befähigt, wie durch Geschichte und Gesetz dazu berechtigt; daß ein innigeres Band der 145 Ebenda, S. 153. 146 Ebenda, S. 181 f . 147 Ebenda, S. 197.
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verschiedenen Landesteile . . . zum Wohle des Ganzen erforderlich ist; daß nur eine solche Einigung dem Volke die politische Bildung und die sitt iche Kraft geben kann, durch welche allein es den Kampf mit nahenden Stürmen - wenn nicht glücklich - mindestens würdig zu bestehen vermag. Dies sind die Grundzüge einer Schrift, die . . . ich selbst jetzt nicht bereue."148 Als die Verteidigungsschrift in den Buchhandel gelangte, hatte der Kriminalsenat des Kammergerichts das Urteil bereits gefällt. Am 5. April 1842 war Jacoby wegen Majestäts beleidigung und frechen unehrerbietigen Tadels der Landesgesetze zu 2 1/2 Jahren Festung und Verlust der Nationalkokarde verurteilt, wegen Hochverrats dagegen freigesprochen 149 worden.
Gegen das Urteil legte Jacoby sofort Revision ein. Das Urteil zweiter und
letzter Instanz hatte nun der Oberappellationssenat des Kammergerichts, der höchste Gerichtshof der preußischen Monarchie, zu fällen. Gleichzeitig schrieb Jacoby eine weitere Rechtfertigungsschrift gegen das Urteil erster Instanz und veröffentlichte sie ebenfalls als Flugschrift. Sie erschien Anfang Oktober 1842 unter dem Titel "Meine weitere Verteidigung wider die gegen mich erhobene Anklage der Majestätsbeleidigung und des frechen, unehrerbietigen Tadels der Landes-Gesetze" gleichfalls im Literarischen Comptoir Zürich 150 und Winterthur. Die zweite Verteidigung reiht sich in Hinsicht auf ihre politischen Tendenzen und Positionen an die erste an. Sie widerlegt Punkt für Punkt das Urteil und weist nach, daß der Richter seine reaktionären politischen Anschauungen zum Strafgesetz erhoben und welche reaktionäre Rolle die preußische Justiz im Staate übernommen hatte. Das schlagkräftigste Verteidigungsmittel, das Jacoby jetzt ins Treffen führen konnte, war jedoch die seit der Zensurinstruktion vom 24. Dezember 1841 erkämpfte Erweiterung der publizistischen Freiheit auf politischem Gebiet. Mit Recht konnte er das Gericht darauf hinweisen, daß er für Äußerungen unter Anklage stand, die jetzt in der Presse keine Seltenheit mehr waren und von seiten der Zensur erlaubt wurden. Eine Verurteilung würde daher bedeuten, die Zensurerleichterung praktisch wieder aufzuheben und jeden "nicht mit Zucker umhüllten Tadel" erneut unmöglich zu machen. 1 ^ 1 Am Schluß der Flugschrift stellt Jacoby im Zusammenhang mit dem im Urteil ausgesprochenen Vorwurf, der Verfasser der 148 Ebenda, S. 207 f. 149 Derselbe. Urteil des Oberappellationssenats in der wider den Dr. Jacoby geführten Untersuchung wegen Hochverrats, Majestätsbeleidigung und frechen, unehrerbietigen Tadels der Landesgesetze, in: Deutsch-französische Jahrbücher, hrsg. von Karl Marx und Arnold Rüge, Paris 1844, S. 54. 150 Derselbe. Gesammelte Schriften und Reden, Bd 1, S. 209-285. 151 Ebenda, S. 216 f . , 224, 276 f.
Jacoby und die antifeudale Opposition
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"Vier Fragen" besäße weder den Beruf noch die Fähigkeiten zur Kritik des Königs und der Regierung, kategorisch f e s t : "Ich habe in m i r den Beruf gefühlt, öffentlich auszusprechen, was ich f ü r Wahrheit und Recht halte; ob dieses Gefühl ein richtiges war, darüber steht nicht dem einzelnen Richter, sondern allein der Stimme des Volkes die Entscheidung „152 zu." Jacobys Verteidigungsschriften übten eine große Wirkung in der politischen Öffentlichkeit a u s . Die oppositionelle P r e s s e kommentierte sie ausführlich. "Ganz Deutschland nimmt den lebendigsten Anteil an dem Prozeß des Dr. J a c o b y . . . und selbst das Ausland verfolgt 153 ihn mit Aufmerksamkeit", äußerte sich die Leipziger Allgemeine Zeitung. Das umfangreiche Tatsachenmaterial, das Jacoby zum Beweis der Richtigkeit der von ihm verfochtenen Anschauungen und Forderungen anführte, vor allem aber auch seine Kritik und seine Angriffe gegen die Strafjustiz in Preußen machten seine Flugschriften zu einem politischen Bildungsfaktor e r s t e n Ranges. "Unzählige haben durch sie zuerst Klarheit der politischen Begriffe sowie Achtung vor der Kraft eines männlichen und selbständigen Charakters gewonnen; Unzählige sind durch sie und ihre klare, knappe, kurze und dabei so entschiedene Sprache aus i h r e r politischen Unschuld aufgestört und f ü r die Sache der Freiheit gewonnen worden", schreibt ein Zeitgenosse. "Sie wurden damals viel gelesen und viel studiert, 154 diese Jacobyschen S c h r i f t e n . . . " Auch Friedrich Engels hat f ü r einen Artikel in der Rheinischen Zeitung (Nr. 195 v. 14.7.1842), der sich mit der "Kritik der Preußischen Preßgesetze" befaßte, die von Jacoby in seinen Verteidigungsschriften angeführten Argumente benutzt, um die Abschaffung 155 des Gesetzes wegen frechen, unehrerbietigen Tadels der Landesgesetze zu f o r d e r n . Die demonstrative Sympathie des Bürgertums f ü r Jacoby äußerte sich aber auch darin, daß auf Initiative Königsberger Gesinnungsfreunde seit Oktober 1842 in verschiedenen 156 Städten Preußens eine Sammlung zur Stiftung einer Bürgerkrone für Jacoby begann.
152 Ebenda, S. 284 f . 153 Vgl. die Artikelserie zur e r s t e n Verteidigungsschrift in Nr. 209 bis 211 v. 28., 29. und 30.7.1842; zur zweiten Verteidigungsschrift in Nr. 282-284 v. 9 . , 10. und 11.10.1842; der V e r f a s s e r der Artikelserien war Max Stirner, vgl. Mayer, Gustav, Die Anfänge des Radikalismus im vormärzlichen Preußen, in: Zeitschrift für Politik, Bd 6, 1913, S. 45. 154 P r u t z . Robert. Zehn J a h r e , Bd 2, S. 373 f . 155 Engels, Friedrich, Zur Kritik der preußischen Preßgesetze, in: MEW, Ergbd 2, Berlin 1967, S. 271 ff. Engels waren das Urteil e r s t e r Instanz und die Verteidigungsschriften Jacobys vor i h r e r Veröffentlichung bekannt, da sie handschriftlich in Berlin zirkulierten; vgl. Silberner, Edmund, Zur Jugendbiographie von Johann Jacoby, S. 92; Mannheimer Abendzeitung. Nr. 165 v. 16.7.1842 (Berliner Korrespondenz). 156 Vgl. Schuppan. P e t e r , Johann Jacoby, S. 148 f .
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Die umfangreichen, vom König selbst vorangetriebenen Maßnahmen der Justiz und Polizei gegen die Veranstalter und Teilnehmer dieser Demonstration wurden jedoch überflüssig, als am 19. Januar 1843 der Oberappellationssenat des Kammergerichts, der höchste Gerichtshof in Preußen, Jacoby aller gegen ihn erhobenen Anklagen freisprach. Dieses Urteil schlug wie eine Bombe ein. Noch im Dezember 1842 hatte der Oberpräsident der Provinz Preußen den Justizminister "dringend gebeten, doch bald das Urteil herbeizuführen; es ist 157 wahrlich nötig"
. Und nun ein Freispruch! Der König, dem schon das Urteil der ersten
Instanz zu milde erschienen war, war aufs äußerste erbittert. Für ihn wie für die Mehrzahl der Minister war dieser Freispruch eine schwere politische Niederlage. Er war im Grunde dem ChefPräsidenten des Kammergerichts, v. Grolman, zu verdanken, "einem der sehr spärlich gesäten Richter, die an ihrem Teile den legendenhaften Ruhm der preußischen Justiz rechtfertigten", wie Mehring bemerkte. Gegen ihn richtete sich auch vornehmlich die Empörung des Königs: Grolman wurde aus seinem Amt geekelt. 1 5 8 Mit dem Freispruch fand Jacobys Prozeß nach fast zwei Jahren sein Ende. Überblickt man die Ursachen für diesen Ausgang, so ist an erster Stelle der Machtzuwachs der antifeudalen Opposition in diesem Zeitraum zu nennen. Dazu kam die rastlose Initiative Jacobys, der mit außerordentlichem Geschick den Kampf für seine Freisprechung geführt, durch seine fortwährenden Appelle an die Öffentlichkeit und durch seine politische Argumentation den Richtern alle nur möglichen Hindernisse in den Weg geworfen hatte, ihn zu verurteilen. Trotzdem darf man nicht übersehen, daß sein Freispruch in gewisser Hinsicht auch ein Glücksfall gewesen ist: daß sein Prozeß nämlich vor einen Gerichtshof kam, bei dem die genannten Momente auf Grund besonders gelagerter Verhältnisse wirksam werden konnten. Es hätte in Preußen kaum einen zweiten Gerichtshof gegeben, der Jacoby straffrei hätte davonkommen lassen. Jacoby hatte seine Absicht erreicht. Der Ausgang des Prozesses bedeutete die Eroberung eines durch Gerichtsbeschluß beglaubigten legalen Spielraumes für die Opposition. Er hatte zudem für die Verbreitung von weiterer Unzufriedenheit und Mißstimmung gegen die bestehende Ordnung alles nur Mögliche getan, indem e r seinen Prozeß in die breite Öffentlichkeit trug. Und doch - wie wenig hatte e r andererseits durch sein Vorgehen praktisch erreicht! Die Sprache der politischen Ereignisse widerlegte seine auf die Erkämpfung legaler Rechte abzielende Taktik, sie bewies, daß e r die Rolle des Rechts im politischen Kampf falsch ein157 DZAM, Rep. 92, Nachlaß Thile, B 11, Preußen, Bd 3, fol. 31 (13.12.1842). 158 Mehring. Franz, Geschichte der deutschen Sozialdemokratie, in: Gesammelte Schriften, Bd 1, Berlin 1960, S. 115; Holtze, F . , Geschichte des Kammergerichts in BrandenburgPreußen, Bd 4, Berlin 1904, S. 150 f . , 156; Varnhagen v. Ense, K.A., Tagebücher, Bd 2, Leipzig 1861, S. 151.
Jacoby und die antifeudale Opposition
139
geschätzt, weil überschätzt hatte. Die seit Anfang 1843 einsetzende verschärfte Reaktion, die alle Zugeständnisse des Jahres 1842 an die Opposition, vor allem in bezug auf die Zensurerleichterungen, zurücknahm, sie setzte sich auch ohne Bedenken Uber die Rechtsprechung der eigenen Justiz hinweg. Es war gewiß ein Eingeständnis ihrer Schwäche, wenn die Reaktion jetzt ihr scheinliberales Kokettieren aufgab und zu ihrer alten Unterdrückungspolitik, zu terroristischen Methoden zurückkehrte, um ihre Macht aufrechtzuerhalten. Sie demonstrierte der bürgerlichen Opposition aber auch, daß deren bisherige Taktik unzulänglich und zu begrenzt war. Speziell Jacoby mußte klar werden, daß auf gesetzlichem Wege, allein durch legale Mittel,der halbfeudale, bürokratische Absolutismus nicht zu stürzen war. Seine weitere politische Entwicklung zum Demokraten und Revolutionär im Vormärz und in der Revolution von 1848 beweist, daß er sich schrittweise dieser Einsicht öffnete und die politischen Konsequenzen zog.
159 Vgl. Schuppan, Peter, Johann Jacoby, S. 193 f f . ; derselbe, Johann Jacoby, in: Männer der Revolution von 1848, Berlin 1970, S. 239-275; Silberner. Edmund, Johann Jacoby 1843-1846, in: International Review of Social History, Bd 14, 1969, S. 353-411.
KARL OBERMANN
Wirtschafts- und sozialpolitische Aspekte der Krise von 1845—1847 in Deutschland, insbesondere in Preußen
Im Frühjahr 1850, als Karl Marx in London wieder seine ökonomischen Studien aufnehmen konnte, konzentrierte er sich zunächst auf die ökonomische Geschichte der letzten zehn Jahre. Beim Studium der Vorgänge am Vorabend der Revolution von 184 8 "wurde ihm aus den Tatsachen selbst vollständig klar, was er bisher aus lückenhaftem Material halb aprioristisch gefolgert hatte: daß die Welthandelskrise von 1847 die eigentliche Mutter der Februar- und Märzrevolution gewesen . . . war" 1 . In der "Revue, Mai bis Oktober 1850", die Marx und Engels gemeinsam für Heft 5/6 der "Neuen Rheinischen Zeitung, Politisch-ökonomische Revue" ausarbeiteten, untersuchten sie am Beispiel Englands die wichtigsten Symptome dieser Krise. Diese Untersuchung geht davon aus, daß Kartoffelkrankheit und Mißernten 1845/46 als ein "ökonomisches Weltereignis" betrachtet werden müssen, das Verlauf und Auswirkungen der Krise wesentlich mitbestimmte. Marx und Engels bezeichneten die Kartoffelkrankheit, die sich im Sommer 1845 "nicht nur in England und Irland, sondern auch auf dem Kontinent zeigte", als "das erste Symptom, daß die Wurzel der bestehenden Gesellschaft faul war". Weiter sagten Marx und Engels: "Gleichzeitig trafen Berichte ein, die über den schon erwarteten großen Ausfall auch in der Kornernte keinen Zweifel mehr ließen. Die Kornpreise stiegen infolge dieser beiden Umstände auf allen europäischen Märkten bedeutend . . . Der Mißernte im Jahre 1845 entsprach eine noch schlechtere im Jahr 1846, und auch die Kartoffelkrankheit erschien wieder, wenn auch in engerem Maß. So war der Getreidespekulation eine vollständige reale 2 Grundlage gegeben..."
Die Getreidespekulation, die in dieser Krise-eine große Rolle spiel-
te, hat wesentlich zur Verschlechterung der Lage der breiten Masse der Bevölkerung beigetragen. In Deutschland, das sich am Vorabend der Revolution in der ersten Phase der industriellen Revolution befand, also gegenüber England noch weit in der industriellen Entwicklung 1
2
Engels, Friedrich, Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850 von Karl Marx, Ausg. 1895, Einleitung, in: Marx/Engels, Werke (im folgenden:MEW), Bd 7, Berlin 1960, S. 512. Marx, Karl/Engels, Friedrich, Revue, Mai bis Oktober 1850, in: Ebenda, S. 423.
142
Karl Obermann
zurücklag, machten sich bereits 1843 infolge Rückgangs der E r n t e e r t r ä g e Krisenerscheinungen mit ernsthaften sozialen und wirtschaftlichen Folgen b e m e r k b a r . Seit den dreißiger Jahren war eine erhebliche Zunahme der Bevölkerung zu verzeichnen, jedoch erhöhten sich die Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten nicht in gleichem Maße. Die landwirtschaftliche Produktion entsprach nicht mehr dem Bedarf der ständig zunehmenden Bevölkerung; geringere Ernteerträge verteuerten seit 1843 die Lebensmittel und steigerten in zunehmendem Maße die Not der arbeitenden Klasse. Die Kaufkraft der Bevölkerung ging zurück, die Zahl der Armen nahm zu. Preußen, der wirtschaftlich stärkste und größte Staat im Deutschen Bund, zählte im J a h r e 1816 insgesamt 10 402 631 Einwohner, 1834 bereits 13 566 000, 1843 ergab die Volkszählung 15 536 053, 1846 schon 16 181 185, bis 1849 war 3 die Zahl der Einwohner weiter auf 16 331 187 angestiegen.
Als Folge der Lebensmittel-
verknappung gingen die Geburten 1847 und 1848 zurück. Der Geburtenüberschuß von 153 275 im J a h r e 1846 sank auf 71 112 im J a h r e4 1847 und auf 35 195 im J a h r e 1848, um im Jahre 1849 wieder auf 192 700 anzusteigen. Die Monatsberichte der preußischen Regierungspräsidenten an das königliche Zivilkabinett in Berlin enthalten aufschlußreiche Bemerkungen über die Lage. Die Regierung zu E r f u r t wies in ihrem Bericht vom Januar 1843 bereits auf die Tatsache hin, daß mit der Zunahme der Bevölkerung vor allem die Zahl der Armen gestiegen und "das Elend der Armen . . . größer und empfindlicher als f r ü h e r " s e i .
Aus Berichten verschiedener Regie-
rungsbezirke vom März bis Sommer 1843 geht deutlich hervor, wie s e h r sich der Rückgang der E r n t e e r t r ä g e und die höheren P r e i s e auf die gesamte gewerbliche Tätigkeit a u s wirkten. So berichtete das Regierungspräsidium zu Merseburg im März 1843: "Die ungünstigen Folgen der vorjährigen Mißernten treten jetzt immer sichtbarer hervor. Höchst drückend sind die allzu hohen P r e i s e der unentbehrlichsten Lebensbedürfnisse, wozu sich noch die Klagen fast aller g Gewerbetreibenden über Mangel an Arbeit und Gelegenheit zum Broterwerb gesellen."
Als e r s t e Folge der schlechten Ernte nannte der Mai/Juni-Bericht
1843 der gleichen Behörde die geringeren Einnahmen der Bauern, so daß "die Besitzer 7 kleiner Feldwirtschaften fast durchgängig haben Schulden machen müssen" . Die Regierung zu Köln machte in ihrem Bericht vom April 1843 darauf aufmerksam: "Die hohen F r u c h t -
3 4 5 6 7
Dieterici, C . F . W . , Handbuch der Statistik des preußischen Staats, Berlin 1861, S. 154. Zeitschrift des Königlich-Preußischen Statistischen Bureaus, redigiert von dessen Direktor D r . Ernst Engel, 1. J g . , Berlin 1861, S. 340 f . Deutsches Zentralarchiv Merseburg (im folgenden: DZAM), 2 . 2 . 1 . Nr 16 377, fol. 2 / 3 . Ebenda, 2 . 2 . 1 . Nr 16 447, fol. 75/76. Ebenda, fol. 118.
W i r t s c h a f t s - und sozialpolitische Aspekte
143
preise fördern zwar den Wohlstand der größeren Grundbesitzer, versetzen dagegen die kleineren, sowie die Arbeiterklasse, namentlich in den von Köln entfernten Kreisen, in g große Bedrängnis." Die etwas besseren Erträge der Ernten 1843 und 1844 brachten nur geringe Erleichterungen. Wie in England, bedeutete aber schließlich das Auftreten der Kartoffelkrankheit im Sommer 1845 auch in Deutschland den Beginn einer Katastrophe, denn hier bildete die Kartoffel ebenfalls das Hauptnahrungsmittel f ü r die Masse der armen Arbeiter. Die billige Kartoffel als Hauptnahrungsmittel erleichterte die Ausbeutung der Tagelöhner und Arbeit e r in Stadt und Land, vor allem auch der Spinner und Weber. Die bestehende Gesellschaft sah daher in der Kartoffel eine wichtige Stütze. Sie diente ihr als ein gutes Mittel, sich die Arbeitskraft der Masse der armen Arbeiter zu erhalten. Soweit sich an Hand der noch v o r handenen Quellen feststellen läßt, gehörte die Handelskammer des rheinischen Kreises Lennep zu den e r s t e n , die die preußische Regierung auf die Folgen der Kartoffelmißernte aufmerksam machten, und die "zur möglichsten Abwendung der hereindringenden Not den Allerhöchsten Beistand" anflehte. Im Schreiben vom 13. September 1845 an den Staatsund Finanzminister Flottwell in Berlin heißt es, "daß auch uns die beklagenswerte Veranlassung vorliegt, unsere Befürchtungen wegen einem zu besorgenden Notstande u n s e r e r arbeitenden Bevölkerung f ü r den kommenden Winter Hochdenselben ausdrücken zu m ü s s e n . Denn auch in unserem Kreise, wie in einem großen Teile der Rheinprovinz, ist die Hoffnung auf eine sogar mittelmäßige Ernte der Kartoffeln durch die herrschende Krankheit vernichtet und mancher Familienvater in Angst und Sorgen f ü r die nächste Zukunft versetzt worden, da e r sich nicht zu raten, noch zu helfen wissen wird, wenn ihm sein Haupt-, mitunter sein einziges Nahrungsmittel fehlt." In dem Schreiben wird dann über örtliche Hilfsmaßnahmen eines "Vereins edelgesinnter Bürger" berichtet, der Hülsenfrüchte und Graupen im Großherzogtum Hessen aufgekauft habe, um "sie zu billigen P r e i s e n den Bedürftigen wieder abzulassen". Aber da diese Hilfe "schwerlich ausreichend" sei, baten die V e r t r e t e r d e r rheinischen Tuchindustrie den Finanzminister, "bei seiner Majestät dem Könige ein transitorisches Gesetz geneigtenst zu bevorworten, wonach die Ausfuhr von Korn, Weizen, Gerste, Hafer, Hülsenfrüchten und Kartoffeln und das Brennen der letzteren zu Branntwein g verboten und die Einfuhr von Reis zollfrei erlaubt werde" . 8 9
Ebenda, 2 . 2 . 1 . Nr 16 304, fol. 48. Ebenda, Rep. 77, T i t . 305 Nr 19, Bd 1, fol. 19-20; fol. 21, Kopie einer Depesche des Oberpräsidiums der Rheinprovinz an den Minister des Innern. "Das Oberpräsidium bittet um Überweisung von dreitausend Scheffel Brotmehl aus Königlichen Militär-Magazinen zur Beseitigung der dringendsten Brotnot in Aachen. Koblenz, den 31. Oktober (1845) um 1/2 5 Uhr gez. von Massenbach. N . B . An Seine Excellenz den Finanzminister ist eine Depesche gleichen Inhalts gesandt."
144
Karl Obermann Mit Riesenschritter: breitete sich die Not vor allem in den Städten des Rheinlands aus.
Im Monatsbericht des Regierungspräsidiums zu Köln an das königliche Zivilkabinett in Berlin vom Dezember 1845/Januar 1846 heißt es bereits: "In den Städten wird es bei der herrschenden Teuerung aller Lebensbedürfnisse auch dem Mittelstand schwer, das Notwendige für seinen Unterhalt zu beschaffen, während die Klasse der Tagelöhner und unbemittelten Einwohner teilweise schon in wirkliche Not gerät . . . " Im gleichen Bericht heißt es von dem bergischen Kreis Waldbroel mit vorwiegend Kleinindustrie auf dem Lande, daß "sich unter einer Bevölkerung von 19 400 Seelen schon jetzt ein Viertel nicht mehr im steuerleistungsfähigen Stande befindet, wobei diejenigen Bewohner mit in Anschlag gebracht sind, welche periodisch Brot, Salz und Kartoffeln bei den Nachbarn sich unter dem Namen 'leihen' erbetteln müssen, um ihren Hunger zu stillen" 1 ^. Nach dem Bericht des Regierungspräsidiums zu Aachen vom Dezember 1845/Januar 1846 hatten die "DurchschnittsMarktpreise" bereits "einen so hohen Grad erreicht, wie seit dem Notjahr 1817 nicht mehr der Fall gewesen", so daß infolge der Teuerung Geldnot bei den Gewerbetreibenden eingetreten sei. ^ Aber auch die Regierungspräsidenten der östlichen Provinzen wußten von ständig wachsender Not und zunehmender Teuerung zu berichten. "Die besitzlosen Volksklassen leiden bei den hohen Fruchtpreisen schon jetzt große Entbehrungen", meldete das Regierungspräsidium Oppeln in der damaligen Provinz Schlesien bereits Ende Oktober 1845. Das Regierungspräsidium Bromberg in der damaligen Provinz Ostpreußen berichtete ebenfalls Ende Dezember 1845, daß der "Unterhalt der Bevölkerung, namentlich der arbei12
tenden Klasse, durch die hohen Getreide- und Kartoffelpreise sehr erschwert" sei. Der Raum reicht nicht, alle Berichte zu zitieren, die sich mit der Notlage beschäftigten und ihre Wirkungen auf die verschiedenen Klassen und Schichten schilderten. Zudem herrschte die Not nicht nur in Preußen, sondern in allen Staaten des Deutschen Bundes. Schon zu Beginn des Jahres 1846 beeinträchtigten der Mangel an den notwendigsten Lebensmitteln und die Preissteigerungen die gesamte gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung. Wie in England, Frankreich usw. schwanden auch in Deutschland nach der Mißernte vom Sommer 1846 die Aussichten auf baldige Besserung der Lage. Das Landes-Ökonomie-Kollegium in Berlin bemühte sich Ende 1846 zu ermitteln, wie hoch in Preußen 1846 die Ernteergebnisse an Roggen und Kartoffeln unter dem durchschnittlichen Jahresbedarf lagen. Die Berechnungen gingen davon aus, daß nach vorliegenden statistischen Angaben "der Bedarf an Roggen für den Kopf der Bevölkerung auf etwa 3 Scheffel angenommen werben könne", ein Minimum, 10 11 12
Ebenda, 2 . 2 . 1 . Nr 16 304/1, fol. 2/3. Ebenda, 2 . 2 . 1 . Nr 16 188, fol. 5/6. Ebenda, 2 . 2 . 1 . Nr 16 568, fol. 58, und 2 . 2 . 1 . Nr 16 111, fol. 213.
Wirtschafts- und sozialpolitische Aspekte
145
so daß bei 16 Millionen Einwohnern 48 000 000 Scheffel erforderlich wären. Dazu würden in normalen Jahren noch 18 000 000 Scheffel f ü r den wirtschaftlichen Verbrauch, f ü r die Ausfuhr und als Saatkorn benötigt, so daß ein Bedarf von 66 000 000 Scheffel vorläge, der normalerweise auch den Ernteergebnissen entspräche. Nach den eingegangenen Berichten rechnete das Landes-Ökonomie-Kollegium mit einem durchschnittlich um 41 % geringeren E r n t e e r t r a g , was ein Ausfall von 20 000 000 Scheffel Roggen f ü r die Ernährung der Bevölkerung ergeben mußte. Da aber die Ernte in den verschiedenen preußischen Provinzen unterschiedlich ausgefallen war - teilweise wie in den Regierungsbezirken Magdeburg, Merseburg, Minden, Arnsberg, Münster, Düsseldorf, Aachen und Köln ein Ausfall von etwa 52 % zu verzeichnen war, dafür jedoch Weizen, Gerste und Kartoffeln b e s s e r e Ergebnisse brachten, in anderen Bezirken dagegen der Roggen in b e s s e r e r Qualität, allerdings auch nicht in ausreichender Menge geerntet wurde - , schätzte das Kollegium das f ü r die Ernährung fehlende Roggenquantum auf mindestens 7 000 000 Scheffel e i n . Weit größeres Unbehagen erzeugte der Ausfall der Kartoffelernte. In den neun Regierungsbezirken der damaligen Provinzen Ost- und Westpreußen, Pommern und Posen hatte der Durchschnittsertrag an Kartoffeln "noch nicht 36 % einer gewöhnlichen Ernte e r r e i c h t " , so daß der Ausfall mehr als 64 % betrug. Acht Scheffel Kartoffeln pro Kopf wird jedoch als das Minimum bezeichnet, so daß bei einer Bevölkerung von 4 947 000 Menschen in den drei Provinzen ein Bedarf von 39 576 000 Scheffel f ü r die Ernährung bestand. Dazu wurden in den drei östlichen Provinzen normalerweise noch f ü r Vieh- und Mastfutter, f ü r Stärkeund Syrup-Fabriken, Branntwein-Brennereien sowie f ü r die Aussaat 9 1/2 Scheffel Kartoffeln pro Kopf der Bevölkerung benötigt, also 47 000 000 Scheffel, eine Summe, die zusammen 86 576 000 Scheffel ausmachte. Das 1846 geerntete Quantum von 31 165 000 Scheffel reichte also noch nicht einmal f ü r die Ernährung. Doch das Kollegium zog nicht in Erwägung, den Grundbesitz zum Verzicht auf den erheblichen Gewinn aus der Branntwein-Brennerei zu veranlassen. Im Bericht heißt es: "Wenn man nun erwägt, daß in jenen Provinzen ein beträchtlicher Teil der Fläche, in Pommern und Posen sogar der größere, aus großen Besitzungen, Domänen oder Rittergütern besteht, auf denen der Kartoffelbau zur Verfütterung und vorzugsweise zur Branntweinbrennerei in großem Maßstab betrieben wird und daß h i e r von dem so beträchtlich verminderten Betrage doch so viel nur immer möglich zur wirtschaftlichen Verwendung, insonderheit zur Brennerei, wird genutzt werden; so steigert sich dadurch natürlich der Ausfall an dem Konsumtions-Quantum noch erheblich." Das Landes-Ökonomie-Kollegium begnügte sich damit, die Tatsachen festzustellen und darauf hinzuweisen: "Uns sind Gegenden genannt worden, wo die ganze Ernte anjetzt schon v e r zehrt ist oder doch nächstens verzehrt sein w i r d . . . F ü r diese Armen hilft es auch nichts,
146
Karl Obermann
daß der Ersatz für die mangelnden Kartoffeln in Brotgetreide, Hülsenfrüchten, Graupen und Grütze wirklich vorhanden ist; ihnen mangeln alle Mittel, um diese teuren Lebensmittel sich zu verschaffen. Bei solcher Bewandtnis der Dinge muß man darauf gefaßt sein, daß nicht bloß allenthalben in den unteren Schichten der Bevölkerung die Teuerung aller Nahrungsmittel recht drückend wird empfunden, sondern auch namentlich in den östlichen Provinzen, strichweise gewisse Klassen von wahrem Mangel werden heimgesucht werden, nämlich - die wirklich Armen, weil arbeitsunfähigen nicht mitgerechnet - die kleinen freien Kolonisten, die herrenlosen Tagearbeiter und Einlieger in den Dörfern und vor allem die städtischen Tagelöhner, die Maurer- und Zimmergesellen und Handlanger und jene Sorte von Einwohnern der kleinen Landstädte, die nach Umständen als Handwerker oder durch Tagelohn sich ihren notdürftigen Unterhalt erwerben." Das in Fragen der Landwirtschaft in Preußen zuständige Landes-Ökonomie-Kollegium wußte seinem am 30. Januar 1847 dem Innenminister in Berlin zugesandten Bericht über die "Zustände im Lande" nur hinzuzufügen, daß "voraussichtlich mit jedem Monate die Teuerung zunehmen 13 und die Not sich mehren" werde. Die Übersichten der Ernte-Erträge in der preußischen Monarchie, die das LandesÖkonomie-Kollegium für die Jahre 1846, 1847 und 1848 an Hand von 123 Kultur-Tabellen und gutachtlichen Äußerungen der landwirtschaftlichen Vereine in den preußischen Regierungsbezirken zusammenstellte, enthalten Angaben, "wie sich die Ernte in jeder Fruchtart zu einer Mitte lernte nach Prozenten verhält". In der Vorbemerkung heißt es dazu weiter: "Diese Methode gab den Landwirten keine Veranlassung, absichtlich ihre wahre Meinung zu verhehlen, und die erhaltenen Resultate scheinen daher Zutrauen zu verdienen; auch zeigt das Verhältnis zur Mittelernte am sichersten, ob Mangel oder Überfluß zu erwarten." Folgender Durchschnitt der Ernte-Erträge sämtlicher preußischer Regierungsbezirke wurde ermittelt (1 = Mitte lernte vor 1846); Weizen
Roggen
Erbsen
Gerste
Hafer
Kartoffeln
1846
0,76
0,57
0,68
0,74
0,71
0,53
1847
1,07
1,22
0, 80
0,94
0, 87
0,67
1848
0,99
1,04
0,95
1,04
1,33
0, 88
13 14
14
Ebenda, Rep. 77, Tit. 305, Nr 1, Bd 1, fol. 291 f . Ebenda, Rep. 87 B, Nr 12 706, fol. 188, 192. Bei 1848 ist die damalige Provinz Posen nicht eingeschlossen worden.
Wirtschafts- und sozialpolitische Aspekte
147
Der Rückgang der landwirtschaftlichenProduktion war nicht allein auf die Kartoffelkrankheit und auf ungünstige Wetterbedingungen zurückzuführen. Die eigentliche Ursache lag darin, daß auf dem Lande noch immer das feudale System vorherrschte und auch in der Junkerherrschaft weiterhin die feudale Methode der extensiven Ausbeutung des Gesindes und der Einlieger und Häusler galt. Die in Gang gekommene Ablösung der feudalen Lasten bedeutete zudem für den Bauern finanzielle Ausplünderung, so daß e r nicht in der Lage war, die Anbaumethoden zu verbessern, um höhere Erträge zu erzielen. Die Reorganisation der Produktion bzw. die Einführung rationeller Wirtschaftsmethoden auf den großen Gütern ließ noch sehr zu wünschen übrig. Der preußische Statistiker v. Viebahn, der im Auftrag des Landes-Ökonomie-Kollegiums die damaligen Provinzen Ost- und Westpreußen bereiste, schrieb in seinem als Zirkular verbreiteten Reisebericht vom 2. August 1846: "Indessen bilden rationelle Feldeinteilungen und Wirtschaftssysteme e r s t in wenigen Landschaften und auch da erst bei den größeren Gütern die Regel. Auf die nutzbare Verwendung der vorhandenen zahlreichen Menschen- und Tierkräfte durch das ganze Jahr hindurch wird nicht immer gedacht. Jene Zustände machen das Wirtschaften teuer, drücken namentlich die Reinerträge im Verhältnis zu den Roherträgen sehr herab und haben deshalb in Verbindung mit dem Kapitalmangel und mit den unvollkommenen Wirtschaftssystemen die Güter im Allgemeinen in niedrigen Kauf- und Pachtpreisen erhalten." Als besonderen Übelstand, dem man auch in anderen Provinzen, namentlich in Schlesien begegne, rügte der Statistiker, daß auf den Gütern zu viel unproduktives Aufsichtspersonal anzutreffen sei: "Inspektoren, Eleven, Hofmeister oder Hofmänner, Kämmerer und Buchfuhrer finden sich in einer Anzahl, wie die Erträge der Güter nicht immer rechtfertigen." Welter wird bemängelt, daß auch "die Ergebnisse bei den kleineren Wirten, namentlich auch bei den regulierten, denen die nötige Einsicht zur Einrichtung der veränderten Besitzung abging", wenig "vorteilhaft" seien. Der Statistiker trat dafür ein, der Landwirtschaft die "Aufnahme von Kapitalien" zu erleichtern, ferner "Ackerbauschulen und Musterwirtschaften" zu gründen, d . h . die Landwirtschaft zu modernisieren. Doch mußte v. Viebahn feststellen, daß sich Kaufleute und Bankiers das auf dem Land vorhandene Kapitalbedürfnis zunutze machten, und die Landwirte bereits "über Höhe der Zinsen, über den Druck der wenigen Kapitalisten und 15
Bankiers" klagten.
15
Ebenda, Rep. 87 B, Nr 12 732, fol. 301-304.
148
Karl Obermann
Das Ausmaß der Preissteigerungen und der Spekulationen Kapitalisten bzw. Großhändler und Bankiers, aber auch Großgrundbesitzer machten sich vor allem den eingetretenen Roggen- und Kartoffelmangel zunutze und trieben die P r e i s e hoch. Die Preissteigerungen übertrafen prozentual bei weitem den Rückgang der E r n t e erträge, und selbst als 1847 beim Roggen wieder gute Ernteergebnisse erzielt wurden, bemühten sich die Spekulanten, die P r e i s e noch längere Zeit hochzuhalten. Weniger der Rückgang der Ernteergebnisse als die enormen Preissteigerungen erzeugten den Notstand bzw. die Krisensituation. Die Spekulation kannte keine Grenzen und verschärfte ständig die Lage. Die Preissteigerungen werden durch die Tabelle auf den Seiten 150/151 veranschaulicht. Bemerkenswert ist, daß die P r e i s e der wichtigsten Nahrungsmittel der arbeitenden Klasse, Roggen und Kartoffeln, von 1845 bis 1847 um 80 - 100 Prozent stiegen und namentlich in den Städten der Rheinprovinz, Brandenburgs sowie den Provinzen Sachsen und Schlesien mit einer größeren Arbeiterbevölkerung den höchsten Stand e r r e i c h t e n . E r s t nach Ausbruch der Revolution 1848 erfolgte ein Rückgang der P r e i s e auf das Niveau von 1845. Auf Kosten der Arbeiter erzielten die an der Spekulation beteiligten Kaufleute und Bankiers 1 also erhebliche Profite. Welche enorme Summe die Arbeiter in Deutschland zur Deckung ihres Bedarfs an Brot und Kartoffeln 1846/47 mehr aufbringen mußten, hat der liberale Statistiker D r . F r e i h e r r von Reden bereits im Mai 1847 in einem Vortrag im Berliner statistischen Verein dargelegt. In seinen "Flüchtigen Erinnerungen aus einem freien Vortrage über Lebensmittelpreise und Arbeitslöhne", die im Laufe des J a h r e s 1847 in der Zeitschrift des statistischen Vereins veröffentlicht wurden, schreibt e r , daß der Verein "auf gestellte bestimmte Fragen über die Verhältnisse der handarbeitenden Volksklassen mehr als 3 000 Antworten aus allen Teilen Deutschlands" erhielt. Daraus ergab sich, "daß f ü r eine Normal-Familie (Mann, Frau und 3 Kinder, oder sonstige zur Familie gehörige Personen, eine durch ganz Deutschland gerechtfertigte Durchschnitts-Annahme) täglich fast vier Pfd. oder jährlich 1450 Pfd. Roggen - 17 Scheffel, erforderlich sind". Da es nun in Deutschland, wie v. Reden feststellte, 8 312 000 solcher Normal-Familien gab, war jährlich im Durchschnitt ein Bedarf von 141 814 000 Scheffeln Brotkorn vorhanden. Bei Mittelpreisen von 1 1/2 T a l e r wurden also 212 721 000 Taler dafür benötigt. "Da nun aber seit der Ernte 1846 der Scheffel Roggen um mindestens 75 Prozent höher im P r e i s e gestanden hat als in Mitteljahren, so hat das erforderliche Brotkorn einen annähernden Wert von 369 500 000 T a l e r gehabt; der Verbrauch ist also um 157 000 000 T a l e r gegen ein Mitteljahr v e r t e u e r t . " F ü r den Durchschnittsverbrauch einer Normalfamilie an Kartoffeln
Wirtschafts- und sozialpolitische Aspekte
149
von etwa 25 Scheffel jährlich wurden insgesamt nach den Berechnungen v. Redens im J a h r 208 550 000 Scheffel benötigt, die in Mitteljahren bei einem P r e i s von zehn Silbergroschen pro Scheffel einen Wert von 69 500 000 T a l e r hatten, 1846/47 aber auf 140 000 000 T a l e r gestiegen waren, so daß also 70 000 000 T a l e r mehr aufzubringen waren. Für Roggen und Kartoffeln waren also zusammen 227 000 000 T a l e r mehr e r f o r d e r l i c h . Um eine Vorstellung von der gewaltigen Höhe dieser Summe zu vermitteln, schreibt v. Reden: "Dies ist fünfmal der jährliche Gesamtbetrag (der 43 1/2 Millionen) Steuern des Preußischen Staats; 2 , 8 Mal die jährliche Gesamt-Staats-Ausgabe Preußens (82 Millionen); - 3 Mal die Gesamtsumme der jährlichen Staatsausgaben aller deutschen Staaten, ohne Österreich und Preußen, fast gleichkommend dem Gesamtwerte der verzollten Jahreseinfuhr des Zollvereins." Der Statistiker erlaubte sich jedoch auch zu bemerken: " E s versteht sich von selbst, daß diese Verteuerung einem Teile der Bevölkerung unseres Vaterlandes sogar Gewinn gebracht hat, nicht aber dem Teile, von welchem hier die Rede i s t . " 1 6 In den Jahren 1845 bis 1847 wurde in Deutschland die Masse der Arbeiter und der kleinen Gewerbetreibenden durch die Preissteigerungen in einem Maße ausgeplündert wie nie zuvor. Die Spekulanten erzielten enorme Gewinne, sie nutzten die große Nachfrage sowohl in den deutschen Staaten wie in England, Frankreich, Belgien, um möglichst hohe P r e i s e zu erzielen. Da es die preußische Regierung trotz aller Vorstellungen bis Ende 1846 ablehnte, die Getreideausfuhr durch Zölle zu beschränken, kannte die Spekulation keine Grenzen, Am 8. Oktober 1846 hatten sich die Stadtverordneten von Berlin durch die wachsende Not veranlaßt gesehen, einen dringenden Appell an den preußischen König zu richten. Hier heißt es: " E u e r Königliche Majestät wolle uns Allergnädigst verstatten, auf die Ursachen d e r heutigen Teuerung hinweisen zu dürfen. Sie sind zwiefacher A r t . Einmal sind sie das Resultat einer krankhaften Konstitution des Getreidehandels, so wie e r heute betrieben wird, überhaupt. Ganz besonders aber sind sie Folgen der Anomalie, daß - während nach zwei wenig als mittelmäßigen Ernten in Deutschland, bei fast gänzlichem Mißwachs in anderen Ländern und bei der durch die trockene Witterung sich bereits ungünstig darstellenden Aussicht f ü r die neuen Saaten, alte Vorräte gänzlich aufgeräumt und die Königlichen Magazine entleert sind, gleichzeitig aber die Kartoffel-Ernte eben sowohl in Qualität als Quantität durchaus unzureichend ausfällt, - dennoch es verstattet bleibt, Getreide nach dem Auslande zu verführen und die Kartoffeln unter einem Schutzzoll von 200 bis 300 pro Cent, je nach dem Werte des Branntweins, der Spiritus-Fabrikation p r e i s -
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Zeitschrift des Vereins für deutsche Statistik, unter Beirat m e h r e r e r Mitarbeiter, h r s g . von Dr. F r e i h e r r n v. Reden, 1. J g . , Berlin 1847, S. 568.
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Wirtschafts- und sozialpolitische Aspekte
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