Jahrbuch für Geschichte. Band 39 Die Französische Revolution von 1789. Studien zur Geschichte und zu ihren Wirkungen: Walter Markov ... zum 80. Geburtstag am 5. Oktober 1989 gewidmet [Reprint 2021 ed.] 9783112546741, 9783112546734


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German Pages 460 [457] Year 1991

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Jahrbuch für Geschichte. Band 39 Die Französische Revolution von 1789. Studien zur Geschichte und zu ihren Wirkungen: Walter Markov ... zum 80. Geburtstag am 5. Oktober 1989 gewidmet [Reprint 2021 ed.]
 9783112546741, 9783112546734

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J A H R B U C H FÜR GESCHICHTE

AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN DER DDR Z E N T R A L I N STITUT FÜR G E S C H I C H T E Direktor: Akademiemitglied Prof. Dr. Walter Schmidt I N S T I T U T FÜR A L L G E M E I N E G E S C H I C H T E Direktor: Prof. Dr. Karl Drechsler

Redaktionskollegium: Rolf Badstübner, Helmut Bleiber, Lothar Berthold, Karl Drechsler, Ernst Engelberg, Heinz Heitzer, Fritz Klein, Dieter Lange, Adolf Laube, Walter Nimtz, Martin Robbe, Wolfgang Rüge, Heinrich Scheel, Hans Schleier, Walter Schmidt, Wolfgang Schröder, Gustav Seeber Redaktion: Wolfgang Schröder (Verantwortlicher Redakteur) Gunther Hildebrandt (Stellvertreter) Dietrich Eichholtz, Jutta Eichholtz, Petra Heidrich, Gerhard Keiderling, Michael Lemke, Klaus Mammach, Hans Schleier

JAHRBUCH 3 9 FÜR GESCHICHTE Die Französische Revolution von 1789. Studien zur Geschichte und zu ihren Wirkungen Herausgegeben von Kurt Holzapfel unter Mitarbeit von Katharina Middell

Walter Markov, dem Nestor der Leipziger Revolutionsforschung, zum 80. Geburtstag am 5. Oktober 1989 gewidmet

AKADEMIE-VERLAG

BERLIN 1

99°

Redaktionsschluß: 15. März 1988

I S B N 3-05-000807-5 I S S N 0448-1526 Erschienen im Akademie-Verlag, Leipziger Str. 3—4, Berlin, D D R - 1 0 8 6 © Akademie-Verlag Berlin 1990 Lizenznummer: 202 • 100/41/89 Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: V E B Druckhaus „Maxim Gorki", 7400 Altenburg LSV0235 Bestellnummer: 7549869 (2130/39) 02500

Inhalt

Kossok, Manfred Holzapfel, Kurt/ Zeuske, Michael Mazauric, Claude Vovelle, Michel Ado, A. V. Middell, Katharina

Bergo, I. V.

Lebedeva, E. I.

Pimenova, L. A. Middell, Matthias Certkova, G. S. Reinalter, Helmut Kieselbach, Andreas

Wagner, Gerhard

Schmidt, Walter

Seidel, Jutta Katsch, Günter

Abkürzungen 1789 und das Problem der klassischen Revolution . . . 1789 — Funktion und Wirkungsweise des Widerspruchs zwischen objektiver Realität und subjektivem Anspruch Anatomie et physiologie du jacobinisme Biographie ou étude de cas: Le retour de la biographie Zur egalitaristischen Bewegung auf dem Lande während der Französischen Revolution Egalitarismus und Kommunismus im Vorfeld und während der Französischen Revolution. Die Entwicklung der Auffassungen von N. E. Rétif de la Bretonne Der ideologisch-politische Konflikt der Parlements und des Absolutismus im Pamphletkrieg um die Gerichtsreform von Maupeou (1770—1774) Die Notabelnversammlungen am Vorabend der Großen Französischen Revolution und die Entwicklung der politischen Positionen des Adels Das sozialpolitische Programm des Adels am Vorabend der Französischen Revolution Zum Prozeß der Konstituierung der französischen Konterrevolution (Ende 1788-Sommer 1789) Gracchus Babeuf im Gefängnis von Arras Volksbewegung und Jakobinismus in Mitteleuropa. Zur Dialektik von materieller Basis und Ideologie Von der Militärreform zur Führung des Revolutionskrieges. Die militärische Zentralverwaltung in der Großen Französischen Revolution Zwischen zwei Revolutionen. Soziale Fragestellung, Geschichts- und Literaturgeschichtsrezeption im Werk Carl Gustav Jochmanns Friedrich Engels, das Zentenarium der Großen Französischen Revolution und die Strategie der revolutionären Arbeiterbewegung Die internationale Arbeiterbewegung und die Säkularfeier der Französischen Revolution Ein Riesenschritt in Richtung des menschlichen Fortschritts. Die Große Französische Revolution im Geschichtsbild der Kommunistischen Internationale . . .

7 9 31 65 81 101

121

147

163 179 203 235 255

271

291

311 339

359

6 Poskonin,

Inhalt V. S.

Eisner, Dieter

Kohnke,

Meta

Die Große Französische Revolution im Lichte der gaullistischen Publizistik 381 Wird die Revolution schulreif? Die BRD-Historiographie und Unterrichtsmaterialien und -entwürfe zur Behandlung der Französischen Revolution in der Schule . . . . 403 Quellen zur Geschichte der Französischen Revolution von 1789 im Zentralen Staatsarchiv, Dienststelle Merseburg . 427 Bibliographie

Middell, Katharina

Die Arbeiten Walter Markovs 1980-1989 Autorenverzeichnis '

446 455

Abkürzungen

AHRF Annales E. S. C. A. P.

AVA BzG DZfPh FHS GG GWU HHStA HZ IISG IML/CPA IML/'ZPA JbG MEGA MEW RHES RHMC WZ ZfG ZHF ZStAM

Annales historiques de la Révolution française, Nancy/Paris Annales Économie, Sociétés, Civilisations, Paris Archives Parlementaires de 1787 à 1860. Recueil complet des débats législatifs et politiques des chambres françaises. Fondé par Jérôme Madival et Emile Laurent, continué par l'Institut d'Histoire de la Révolution française sous la direction de Marcel Reinhard, Georges Lefebvre et Marc Bouloiseau, sér. 1:1787-1799, Paris 1867 ff. Allgemeines Verwaltungsarchiv, Wien Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung Deutsche Zeitschrift für Philosophie French Historical Studies, Seattle Geschichte und Gesellschaft, Göttingen Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, Stuttgart Österreichisches Staatsarchiv, Abt. Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Wien Historische Zeitschrift, München Internationales Institut f ü r Sozialgeschichte, Amsterdam Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der KPdSU, Zentrales Parteiarchiv, Moskau Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Zentrales Parteiarchiv Jahrbuch für Geschichte Marx/Engels, Gesamtausgabe Marx/Engels, Werke, 1956 ff. Revue d'histoire économique et sociale, Paris Revue d'histoire moderne et contemporaine, Paris Wissenschaftliche Zeitschrift Zeitschrift für Geschichtswissenschaft Zeitschrift für historische Forschung, Berlin (West) Zentrales Staatsarchiv, Merseburg

Soweit nicht anders angegeben, ist der Erscheinungs- bzw. Standort Berlin. Die Werke Lenins werden nach der 40bändigen Ausgabe des Dietz Verlages, Berlin 1956-1965, zitiert.

Manfred Kossok

1789 und das Problem der klassischen Revolution Ich definiere die Revolution als Machtantritt des Gesetzes, als die Wiederauferstehung des Rechts, als die Verwirklichung der Gerechtigkeit. Jules Michelet In einer Studie über den historischen Ort der Revolution von 1789 traf Inge Stephan das Urteil: „Über die Bedeutung der Französischen Revolution als bürgerliche Revolution und über die epochale Tragweite der Ereignisse f ü r Frankreich und die moderne Welt besteht ein Konsensus unter den Historikern", — es folgt d a n n die Einschränkung — „der jedoch die erheblichen Unterschiede in Methode, Einordnung und Ergebnis nicht verdecken kann." 1 Wenn es einen solchen Konsensus je gegeben haben sollte, und die historischen Schicksale der Z w e i h u n d e r t j ä h r i g e n geben eigentlich ein anderes Bild, d a n n ist er spätestens in der sich ständig zuspitzenden Debatte u m 1789, die anläßlich des bicentenaire ihren H ö h e p u n k t erreichte, verflogen. 2 Die „große Attacke" 3 ist von verschiedener Seite ausgegangen, und ihre Wurzeln weisen auf die 50er J a h r e zurück. Gewiß nicht ganz unbeeinflußt vom intellektuellen Klima des kalten Krieges entdeckten H a n n a h A h r e n d t und Jacob Talmon 4 in Rousseau und im Jakobinismus den U r s p r u n g des Totalitarismus, eine These, die sich fast wellenartig bis in die Gegenwart verbreitet hat und den abstrusen Zerrbildern Pate steht, die philosophie nouvelle und nouvelle droite von der Revolution entwerfen. 5 Vorläufige Spitze des Eisberges d ü r f t e die B e h a u p t u n g sein, Frankreich habe von 1789 bis 1795 einen „génocide franco-français" 6 durchlitten. Der akademisch seriösere Versuch, die welthistorische Relevanz der großen Revolution einzuebnen, f u ß t e auf der von Jacques Godechot und Robert R. Palmer anläßlich des Internationalen Historikerkongresses in Rom (1955) p r ä sentierten Theorie der atlantischen Revolution. 7 Die dadurch ausgelöste Polemik 8

1 Stephan, Inge, Wachstumskrisen und Herrschaftsstrukturen. Die Französische Revolution, in: Ansichten einer künftigen Geschichtswissenschaft II. Revolution — Ein historischer Längsschnitt, hrsg. von Imanuel Geiss und Rainer Tamchina, München 1974, S. 78. 2 Vovelle, Michel, L'Historiographie de la Révolution française à la veille du bicentenaire, in: 1789 — Weltwirkung einer großen Revolution, hrsg. von Manfred Kossok und Editha Kroß, Berlin 1989, Bd. 1. 3 Ebenda. 4 Ahrendt, Hannah, On Revolution, New York 1963 (dt. 1966); dies., Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft, Frankfurt a. M. 1962; Talmon, Jacob L., Die Ursprünge der totalitären Demokratie, Köln/Opladen 1961. 5 Benjowski, Regina, Abkehr vom Revolutionsdenken, in: spectrum, 1987, 5, S. 16ff. 6 Sécher, Raymond, Le génocide franco-français. La Vendée-Vengée, Paris 1986. 7 Godechot, Jacques/Palmer, Robert R., Le problème de l'Atlantique, in: X° Con-

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Manfred Kossok

ließ an Schärfe nichts zu wünschen übrig. Anläßlich des 20. Jahrestages der Theorie warb Palmer nochmals um Verständnis 9 , wobei er im Wissen um den Stand der Dinge betont in der Vergangenheit sprach. Von ungleich nachhaltigerer Wirkung auf die sich stets erneuernde Debatte um 1789 erweist sich der Einfluß jener Historiker, die unter das Diktum „historischer Revisionismus" gefaßt werden. Es handelt sich dabei keineswegs um eine geschlossene Richtung oder Schule, eher um eine Plattform, deren Wesen darin besteht, die, nach Auffassung der ihr verbundenen Autoren, bedauerliche Dominanz der marxistischen Historiographie zur Französischen Revolution aus den Angeln zu heben. Die von François Furet 1978 bei den renommierten Editions Gallimard veröffentlichte Streitschrift „Penser la Révolution française" 10 — von Albert Soboul, gegen den sie sich primär richtete, mit dem Satz konterkariert: „il faut la comprendre" — kann getrost als Manifest des historischen Revisionismus gelten. Als Hauptansatzpunkt der revisionistischen Kritik erweisen sich die folgenden Problemfelder: Betonung der politischen und ideologischen Konflikte gegenüber den ökonomischen und sozialen Voraussetzungen; Hervorhebung der unternehmerischen Potenzen des Adels und dessen Fähigkeit zur reformerisch-evolutionären Umgestaltung des Ancien Régime 11 , demgegenüber Abwertung der Hegemoniefunktion der Bourgeoisie 12 ; negative Bewertung und betonte Ablehnung einer schöpferischen Funktion der bäuerlichen und städtischen Volksbewegung als Triebkraft der Revolution; gemeinsam mit den Jako-

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gresso Internazionale di scienze storiche. Relazioni, Bd. 5, Rom 1955, S. 175—239; Palmer, Robert R., The Age of Démocratie Revolution, 2 Bde., Princeton 1959 (dt. 1970). Wesentliche Positionen der Kontroverse in The Eigtheenth Century Revolution. French or Western?, hrsg. von Peter Amann, Boston 1965. Palmer, Robert R., La „Révolution atlantique" — vingt ans après, in: Die Französische Revolution — zufälliges oder notwendiges Ereignis?, hrsg. von Eberhard Schmitt und Rolf Reichardt, T. 1, München/Wien 1983, S. 87—104 (Ancien Régime, Aufklärung und Revolution, hrsg. von Rolf Reichardt und Eberhard Schmitt, Bd. 9/1). Furet, François, Penser la Révolution française, Paris 1978. Zuvor gemeinsam mit Denis Richet, La Révolution française, Paris 1965 (19732, 19793). Zur sofort einsetzenden Kritik vgl. Mazauric, Claude, Sur la Révolution française. Contributions à l'histoire de la Révolution bourgeoise, Paris 1970, S. 21—63. Inzwischen hat Furet eine Kritik der Revolutionsauffassung von Karl Marx vorgelegt: Marx et la Révolution française, suivi de textes de Karl Marx réunis, présentés, traduits par Lucien Calvié, Paris 1986. Richet, Denis, Autour des origines lointaines de la Révolution française: Elites et despotisme, in: Annales E. S. C., 1969, 1, S. 1-23; Chaussinand-Nogaret, Guy, Aux origines de la Révolution: noblesse et bourgeoisie, ebenda, 1975, 2—3, S. 265—278. Vgl. auch die Literaturverweise in Kossok, Manfred, Vergleichende Geschichte der neuzeitlichen Revolutionen. Methodologische und empirische Forschungsprobleme, Berlin 1981, S. 56 f. (Sitzungsberichte der AdW der DDR. Gesellschaftswissenschaften, 2 G 1981). Taylor, George V., Noncapitalist Wealth and the Origins of the French Revolution, in: The American Historical Review, Bd. 72, 1967, 2, S. 469-496. Weitere Verweise in Kossok, Vergleichende Geschichte der neuzeitlichen Revolutionen, S. 57.

Problem der klassischen Revolution

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binern wird der Intervention der Massen das Entgleisen und Umkippen der Revolution (dérapage) angelastet; alles, was über die „eigentliche", von der aufgeklärt-liberalen Elite getragene Revolution bis 1791 hinauswies, wird als „temps de détresse" abgeschrieben. Es zeigt sich, daß es nicht allein um eine neoliberale oder konservative Neudeutung der Französischen Revolution geht, es steht der Begriff der bürgerlichen Revolution und mit ihm die Rolle der Revolution in der Weltgeschichte überhaupt zur Disposition. 13 Wie Walter Markov hervorgehoben hat,1'* gilt es beim kritischen Dialog mit dem historischen Revisionismus sehr genau zu unterscheiden, wo Forschungsfelder, die in Zukunft durchaus beackert oder neu gesehen werden müssen, aufscheinen, und wo Grundfragen des Revolutionsverständnisses, die keinen Raum für Kompromisse bieten, tangiert sind. Für die „klassische Geschichtsschreibung der Französischen Revolution", 15 deren Beginn Albert Soboul mit Antoine Barnave und den großen Historikern der romantisch-liberalen Schule (Auguste Mignet, Adolphe Thiers, Jules Michelet einschließlich Alexandre de Tocqueville) 16 angesetzt sehen wollte, die mit Jean Jaurès 17 zur „sozialen Interpretation" 18 vorstieß, danach durch Ernest Labrousse, Albert Mathiez, Georges Lefebvre und schließlich Soboul selbst zu neuen Höhen geführt wurde und durch ihre Ausstrahlung zu einer Art von internationaler „Schule" herangewachsen ist,19 stand die Betonung der epochalen Bedeutung der 13 Über die wesentlich von Furet mitbeeinflußte Hinwendung der „Annales" zur Reinterpretation der Revolution vgl. Blumenau, S. F., „Annaly" i problemi francuzskoj burzuaznoj revoljucii konca XVIII veka, in: Vestnik Moskovskogo Universiteta. Istorija, 1978, S. 68-87, bes. S. 76 ff. Von Alfred Cöbban wurde der Begriff Bürgerliche Revolution kurzerhand als Mythos abgetan, vgl. The Myth of the French Revolution, London 1955; ders., Aspects of the French Revolution, London 1968. Die Vorbehalte gegen eine Kennzeichnung der französischen Revolution als bürgerliche schlagen auch bei Hunt, Lynn, Politics, Culture and Class in the French Revolution, Berkely/Los Angeles/London 1984, durch, allerdings mit dem Eingeständnis: „In their own concern to combat the Marxist interprétation, many critics argue against the thesis of .bourgeois' revolution without offering anything convincing in its place" (S. 178). 14 Markov, Walter, Forschungsprobleme der Französischen Revolution. Aus Anlaß des Todes von Albert Soboul, in: ZfG, 1984, 6, S. 483-489. 15 Soboul, Albert, Die klassische Geschichtsschreibung der Französischen Revolution: Aktuelle Kontroversen, in: Rolle und Formen der Volksbewegung im bürgerlichen Revolutionszyklus, hrsg. von Manfred Kossok, Berlin 1976, S. 48—67 (Studien zur Revolutionsgeschichte. In Verbindung mit Walter Markov, Gerhard Schilfert und Walter Schmidt hrsg. von Manfred Kossok). Die von Soboul geprägte Bezeichnung ist von seinen Gegnern als Monopolanspruch fehlgedeutet worden. 16 Reizov, B. G., Francuzskaja romanticeskaja istoriograflja (1815—1830), Leningrad 1956 (bes. die Kap. IV, VII, IX). 17 Jaurès, Jean, Histoire socialiste [de la Révolution française], 4 Bde., Paris 1901 bis 1904. — 2. Neuaufl. der von Albert Soboul kommentierten Ausg., Paris 1984. 18 Geburt der bürgerlichen Gesellschaft: 1789. Beiträge von Ernest Labrousse, Georges Lefebvre, Albert Soboul, Maurice Dommanget, Michel Vovelle, hrsg. von Irmgard A. Hartig, Frankfurt a. M. 1979. 19 Vgl. Kossok, Manfred, 1789 - Versuch einer Positionsbestimmung, in: 1789 Weltwirkung, spez. Teil 1 : Schicksale einer Zweihundertjährigen.

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Manfred Kossok

Revolution, stets als „Die Große Revolution der Franzosen" 2 0 empfunden, nie außer Frage. Auf diesem Terrain begegneten sich lecture jacobine und lecture socialiste der Revolutionsgeschichte. Von der welthistorischen Größe als dem zentralen Ereignis in der Ablösung der feudal-ständischen durch die moderne bürgerliche Gesellschaft auszugehen, galt und gilt als die Conditio sine qua non für das Verständnis der Revolution. Untrennbar davon ist die Einordnung dieser Revolution als klassische Revolution im neuzeitlichen Revolutionszyklus und des bürgerlichen Zeitalters als Ganzes. Soboul hat es in einer programmatischen Studie auf den Nenner gebracht: „La Révolution française . . . mérite d'être considérée comme le modèle classique de la révolution bourgeoise." 21 Dabei spielte nicht zuletzt die Tatsache eine Rolle, daß das moderne Revolutionsverständnis nolens volens in entscheidendem Maße an der Epochenwende von 1789 fixiert ist. 22 Bekannt ist und nicht besonders betont werden muß der tiefgreifende Einfluß, den Frankreichs große Umwälzung auf die theoretische und praktische Revolutionssicht von Karl Marx und Friedrich Engels ausgeübt hat. 23 Wie nun läßt sich eine Revolution als klassisch bestimmen, und in welcher Weise treffen die Merkmale einer klassischen Revolution auf Frankreich 1789 zu? Der späte Engels schrieb 1885 in seiner Vorrede zur dritten Auflage des „achtzehnten Brumaire" von Karl Marx: „Frankreich ist das Land, wo die geschichtlichen Klassenkämpfe mehr als anderswo jedesmal bis zur Entscheidung durchgefochten wurden, wo also auch die wechselnden politischen Formen, innerhalb deren sie sich bewegen und in denen ihre Resultate sich zusammenfassen, in den schärfsten Umrissen ausgeprägt sind. Mittelpunkt des Feudalismus im Mittelalter, Musterland der einheitlichen ständischen Monarchie seit der Renaissance, hat Frankreich in der großen Revolution den Feudalismus zertrümmert und die reine Herrschaft der Bourgeoisie begründet in einer Klassizität, wie kein anderes europäisches Land." 24 Frankreichs historische Entwicklung von der Feudalität in die bürgerliche Moderne überragte in mehrfacher Hinsicht das Durchschnittsniveau der jeweiligen Epoche: klassischer Feudalismus, Prototyp des Absolutismus, reifste Ausprägung der Aufklärung und schließlich die klassische Revolution, dazu ihr Platz als Leitrevolution des ganzen 19. Jh. Speziell bei der Einordnung der Revolution sollte dieses Ensemble in seiner dialektischen Einheit Beachtung finden. Das Wesen einer Revolution ist nicht abstrakt bestimmbar. Revolutionen „an 20 Markov, Walter/Soboul, Albert, 1789. Die Große Revolution der Franzosen, Berlin 1973. 21 Soboul, Albert, La Révolution française dans l'histoire du monde contemporaine. Étude comparative, in: Studien über die Revolution, hrsg. von Manfred Kossok, Berlin 1969, S. 62. 22 Griewank, Karl, Der neuzeitliche Revolutionsbegriff, Weimar 1955 (2. Aufl. Frankfurt a. M. 1969). 23 Kossok, Manfred, Karl Marx und die Grundlegung wissenschaftlicher Revolutionsauffassung, in: Karl Marx und Grundfragen der Revolution in Theorie und Praxis, hrsg. von Manfred Kossok, Leipzig 1980, S. 11—41; Jaeck, Hans-Peter, Die französische bürgerliche Revolution von 1789 im Frühwerk von Karl Marx (1843 bis 1846). Gesehichtsmethodologische Studien, Berlin 1979. 24 Engels, Friedrich, Vorrede zur dritten Auflage [von Karl Marx' Schrift „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte"], in: MEW, Bd. 21, S. 248 f.

Problem der klassischen Revolution

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sich" oder „als solche" können Gegenstand einer Definition, aber nicht der Realgeschichte sein. Ihr historischer Ort leitet sich ab aus dem stadialen Reifegrad der gesellschaftlichen Formationsentwicklung und dem Charakter der Epoche, d. h. der Summe der geschichtsprägenden Grundtendenzen. So bildet die Triade Formation — Epoche — Revolution, auch faßbar unter dem Begriff der Historizität, das grundlegende Kriterium für die Analyse gesellschaftlicher Transformationsprozesse. 25 In der Geschichte umfaßt der Begriff des Klassischen, so auch die klassische Revolution, das Optimum an Gültigkeit und Wirkung, die größtmögliche Annäherung der historisch-gesellschaftlichen Praxis (Realität) an die allgemeinen („reinen", „typischen") Bewegungsgesetze und ihre Erscheinungsformen. Es handelt sich um die (stets relative) Kongruenz von Real- und Ideal-« typ, wobei das wesentliche Element vor allem in der epochesetzenden und epocheprägenden Wirkung und Ausstrahlung besteht. Als Kriterium ist anzusehen, daß nicht nur (nationale) „Weltausschnitte", sondern „die Bedürfnisse der damaligen Welt" in einer Revolution artikuliert wurden. 26 Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, umfaßte die Revolution von 1789 drei wesentliche Dimensionen: als nationale („französische"), kontinentale („europäische") und universale („globale") Revolution. Das mit der Französischen Revolution verbundene neue Epochenverständnis 27 war der adäquate subjektive Ausdruck einer höheren Stufe in der Verdichtung der Menschheits- zur Weltgeschichte. Klassische Revolutionen sind nicht wiederholbar und willkürlich multiplizierbar, sie sind auf besondere Weise einmalig, weshalb sich die Möglichkeit, eine Revolution als klassisch einzuordnen, für die jeweilige Gesellschaftsformation auf eine bestimmte Revolution begrenzt. Eine andere Frage wäre es, inwieweit in den übrigen Revolutionen (den Kettengliedern des gesamten Revolutionszyklus, der eine Formation hervorbringt und konsolidiert) Elemente des Klassischen gegeben sein können, ohne deshalb die Revolution in ihrer Totalität als klassisch zu bezeichnen. Hierüber sind die Meinungen durchaus geteilt. Bei J . S. Drabkin und B. F. Porsnev ist mit Bezug auf die englische, nordamerikanische und die französische Revolution von „klassischen" 28 die Rede, gleichzeitig werden diese Revolutionen noch dem Kreis der „frühen bürgerlichen Revolutionen" zugeordnet, da vor der industriellen Revolution stattfindend. Bekannt ist die 25 Kossok, Manfred, Bürgerliche Revolution — Fortschritt — Transformation, in: Politische Theorie und sozialer Fortschritt, hrsg. von Karl-Heinz Röder, Berlin 1986, S. 38-73. 26 Marx, Karl/Engels, Friedrich, Die Bourgeoisie und die Konterrevolution, in: MEW, Bd. 6, S. 108. Analog die Auffassung von Lenin, W. I., I. Gesamtrussischer Kongreß für außerschulische Bildung, in: Werke, Bd. 29, S. 361. Baumgart, Joachim, Revolutionäre Epoche und klassische Revolution, in: DZfPh, 1985, 6, S. 494, hat dagegen eingewandt, das grundlegende Kriterium bestehe in der politischen Reife der Revolution (Lösung der Machtfrage). Es scheint dies ein Streit um des Kaisers Bart zu sein, da die „äußere" Weltwirkung einer Revolution naturgemäß vom Charakter der Lösung ihrer „inneren" Aufgaben bestimmt wird. 27 Für den deutschen Raum vgl. Die Französische Revolution im Spiegel der deutschen Literatur, hrsg. von Claus Träger unter Mitarbeit von Frauke Schäfer, Leipzig 1975. 28 Art. „Burzuaznaja revoljucija", in: Sovetskaja Istoriceskaja Enciklopedija, Bd. 2, Moskau 1962, Sp. 842.

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Manfred, Kossok

Auffassung von Imanuel Geiß, derzufolge erst mit der Umwälzung der (feudalen) Agrar- in die (bürgerliche) Industriegesellschaft von Revolution gesprochen werden kann. 29 Gegenüber den historisch vorangegangenen gesellschaftlichen Transformationsprozessen revolutionärer Natur zeichnet sich die bürgerliche Revolution nicht n u r durch neue soziale und politische Qualität (Konstituierung der Bourgeoisie als herrschende Klasse) aus; erst mit den Revolutionen der Neuzeit seit dem 16. Jh. wird das Phänomen Revolution im „eigentlichen" Sinne f a ß b a r : ökonomisch-sozial, politisch-institutionell, ideologisch-kulturell, stadialregional-zeitlich eindeutig bestimm- und eingrenzbar. 30 Aus der stadialen Spezifik in der strukturellen und zeitlichen Ablösung der feudalen durch die bürgerliche Gesellschaftsformation im Ergebnis einer mehr als 300jährigen Revolutionskette (Revolutionszyklus) ergibt sich wiederum, daß die klassische bürgerliche Revolution nicht am Beginn des Übergangs- und Umwälzungsprozesses steht, sondern dessen Zenit und Wendepunkt markiert; bildlich gesprochen, handelt es sich um die Mitte des Weges und jenen einmaligen historischen Moment, der über die Durchsetzung der neuen Formation im Weltmaßstab entschied. Bis 1789 war der bürgerliche Fortschritt regional und insular eingegrenzt (Niederlande, England, USA). Der zunehmende Zwang, der von der neuen Produktionsweise und ihren politisch-sozialen Exponenten auf die Welt des Feudalismus ausging, reflektierte sich mit besonderer Deutlichkeit in der Reformpolitik des aufgeklärten Absolutismus. 31 Jedoch vermochten weder der traditionelle Absolutismus (Exempel: Sturz Turgots 1776) noch seine aufgeklärte Variante (Exempel: Rücknahme der Reformen durch Joseph II. und Leopold II. im Habsburgerreich) die Krise des Ancien régime zu überwinden. 32 Mit der Französischen Revolution setzte sich eine neue Stufe im bürgerlichen Revolutionszyklus durch: — Der Zusammenbruch der stärksten Feudalgewalt auf dem europäischen Kontinent entschied über das volle Ausgreifen der bürgerlichen Umwälzung im Weltmaßstab; 29 Geiss, Imanuel/Tamchina, Rainer, Die Revolution in der Weltgeschichte, in: Ansichten einer künftigen Geschichtswissenschaft, S. 15. 30 Es scheint deshalb wenig sinnvoll, vom „Grundtyp" Bürgerliche Revolution gleichsam retrospektiv auf den altorientalischen, antiken und feudalen Revolutionstyp zu schließen (vgl. Baumgart, S. 492), obwohl es sich bei diesen Formationsübergängen ohne Zweifel „um soziale Revolutionen handelte", vgl. Eichhorn, Wolfgang/Bauer, Adolf, Zur Dialektik des Geschichtsprozesses. Studien über die materiellen Grundlagen der historischen Entwicklung, Berlin 1983, S. 103 (AdW der DDR. Zentralinstitut für Philosophie. Schriften zur Philosophie und ihrer Geschichte, 33). Welche Problemfelder sich für eine genaue Bestimmung des Wesens vorbürgerlicher Revolution auftun, haben die zahlreichen Arbeiten von Joachim Herrmann und seinen Schülern, für die Antike von Rigobert Günther verdeutlicht. Vgl. auch Weltgeschichte bis zur Herausbildung des Feudalismus. Ein Abriß, von einem Autorenkollektiv unter Ltg. von Irmgard Sellnow, Berlin 1977 (Veröffentlichungen des Zentralinstituts für Alte Geschichte und Archäologie der AdW der DDR, Bd. 5). 31 L'Absolutisme éclairé, hrsg. von Béla Köpeczi (u. a.), Paris/Budapest 1985, bietet den aktuellen Forschungsstand. 32 Über den Sonderfall des „skandinavischen Weges" vgl. die Studien von Kâre Tonnesson über Dänemark und Schweden, ebenda, S. 299—320.

Problem der klassischen Revolution

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— die Universalisierung der bürgerlichen Revolution verband sich mit einer — gleichzeitigen Diversifizierung des Phänomens bürgerliche Revolution. Neben den von Frankreich im J a h r e 1789 auf klassische Weise verkörperten Prototyp der „Revolution im Feudalismus" t r a t e n die „Revolution auf dem Wege zum Kapitalismus" und die „Revolution im Kapitalismus". 3 3 Es w a r Ausdruck des Gesetzes der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, daß die g e n a n n t e n Revolutionstypen sowohl in historischer Folge wie auch zeitlich parallel existierten; f ü r das letztere bietet die europäische Revolution von 1848 ein Beispiel. 34 Nicht weniger relevant f ü r den Charakter u n d die Tragweite der Epochenzäsur von 1789 ist die Tatsache, daß bürgerliche Umwälzung seitdem nicht n u r (wie bis zum Ende des 18. Jh.) auf revolutionärem, sondern ebenso auf r e f o r m e r i schem Wege möglich wurde. 3 5 Revolution u n d Reform bildeten n u n die zwei bestimmenden Alternativen bei der Durchsetzung u n d Konsolidierung der n e u e n Formation. Dabei löste sich die Dialektik von Formationswechsel u n d Formationsgestaltung durchaus nicht in eine „primär revolutionäre" u n d „prim ä r evolutionäre" Entwicklungslinie auf, 36 da sowohl der Formationswechsel reformerisch erfolgen konnte (Beispiel: Preußen-Deutschland), 3 7 im Idealfall einmündend in eine Revolution von oben, wie u m g e k e h r t sich die entscheidenden Etappen der Formationsgestaltung auch durch Revolution realisierten (Frankreich 1830, 1848, 1870/71)38. Dieses Hervortreten neuer Alternativen hatte seinen U r s p r u n g jedoch nicht n u r in Frankreichs Revolution u n d ihren Folgen, parallel und auf die Dauer vielleicht noch nachhaltiger wirkte die von England ausgehende industrielle Revolution — nach Engels die „stille" Revolution —, weshalb u n t e r systemarem Kriterium von einer Doppelrevolution gesprochen w e r d e n muß. Es h a t m i t u n t e r den Anschein, als sei die V e r w e n d u n g des Begriffs Revolution und dessen Definition zu sehr auf die Epoche des Formationswechsels fixiert, was zu einer U n t e r b e w e r t u n g des revolutionären Charakters von qualitativen Verä n d e r u n g e n innerhalb einer Formation f ü h r e n kann. Die in der Revolution eingeschlossene „qualitativ neue S t u f e in der Entwicklung vom Niederen zum

33 Zur Typologie vgl. Kossok, Vergleichende Geschichte der neuzeitlichen Revolutionen, S. 9 ff. 34 Vgl. die Beiträge von Siegfried Schmidt, Walter Schmidt und Manfred Kossok, in: Die Revolution von 1848/49 als europäisches Ereignis, in: WZ der WilhelmPieck-Universität Rostock, Ges.- und Sprachwiss. R., 1974, 8. 35 Vgl. zu dieser Problematik die Beiträge in: Leipziger Beiträge zur Revolutionsforschung (im folg.: LBR), hrsg. von Manfred Kossok, Leipzig 1987, 16. 36 Baumgart, S. 496. 37 Preußische Reformen — Wirkungen und Grenzen. Aus Anlaß des 150. Todestages des Freiherrn vom und zum Stein, Berlin 1982. Vgl. den Beitrag von Helmut Bock, dazu die z. T. kontroversen Beiträge von Ernst Engelberg, Heinrich Scheel, Helmut Bleiber. 38 Loch, WernerJMarkov, Walter, Die französischen Revolutionen zwischen 1789 und 1871 im Lichte von Lenins Auffassung über den Revolutionszyklus, in: Studien zur Vergleichenden Revolutionsgeschichte 1500-1917, hrsg. von Manfred Kossok, Berlin 1974, S. 74-91.

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Höheren" 39 ist nicht nur f ü r den Wechsel von Formation zu Formation, sondern auch f ü r bestimmte Phasen der Formationsgestaltung (-konsolidierung) kennzeichnend. Dank der französischen Ereignisse wurde der Revolutionsbegriff subjektiv und wissenschaftlich faßbar, zugleich setzte aber in der historischen Realität, wie schon betont, eine rapide Diversifizierung ein — nicht zuletzt mit dem massiven Aufkommen von antikolonialen und nationalen Befreiungsrevolutionen —, die f ü r das Verhältnis von Einheit und Vielfalt im weltweiten Prozeß bürgerlicher Umwälzung eine völlig neue Dimension ergab/' 0 F ü r eine „Epoche sozialer Revolution"/' 1 die Durchbruch und Konsolidierung der neuen Gesellschaftsformation umfaßt, stellt die klassische Revolution das zentrale Ereign.s dar: „Eine solche Konstellation ist dann gegeben, wenn entfaltete revolutionäre Bedingungen eines Landes mit dem Heranreifen grundlegender epochaler Veränderungen zusammenfallen."'' 2 Dieser Aspekt galt eindeutig f ü r das Frankreich des Jahres 1789. In Gestalt des niedergehenden, von der offenen Krise erfaßten Absolutismus stieß der Spätfeudalismus an die Grenzen seiner Existenzfähigkeit — von Entwicklung konnte kaum noch die Rede sein —, woraus die Alternativsituation entstand: entweder Stagnation oder revolutionäre Überwindung der bestehenden Verhältnisse. In Frankreich existierte f ü r die Epoche der sozialen Revolution des Bürgertums die optimale Verbindung von objektiver und subjektiver Reife, die als der entscheidende Faktor dafür angesehen werden kann, daß die Revolution in Voraussetzungen, Verlauf und Ergebnissen den Pegel einer „normalen" bürgerlichen Umwälzung weit überschritt. An der Französischen Revolution ist das Wesen einer bürgerlichen Revolution mit besonderer Klarheit abzulesen: Mit Hegemonie, Volksbewegung, Phasenverlauf in auf- und absteigender Linie, Verhältnis von Revolution und Konterrevolution, Krieg und Revolution, Dialektik von inneren und äußeren Voraussetzungen sind nur einige der wichtigsten Problemkreise umrissen. Es ist deshalb keine subjektive Willkür im Sinne voluntaristischen Geschichtsverständnisses, wenn die Französische Revolution den zentralen Bezug f ü r die Beurteilung des Optimums an der bürgerlichen Umwälzung — sowohl in ihren Triebkräften wie Resultaten — abgibt. Den klassischen Rang dieser Revolution anzuerkennen, heißt aber nicht, sie f ü r die gesamte Epoche oder sogar die ganze nachfolgende Weltgeschichte als Modell zu setzen, wie es Lyford P. Edwards (1927) und Crane Brinton (1930)''3 unter makrosoziologischen Gesichtspunkten getan haben. Seine eigene ursprüngliche Gleichsetzung von klassischer und Modellrevolution korrigierend, stellte Soboul 1975 fest: „Es gibt keine Modelle,

39 „Revolution", in: Philosophisches Wörterbuch, hrsg. von Georg Klaus und Manfred Buhr, Bd. 2. Berlin 19696, S. 949. 40 Engelberg, Ernst, Die Einheit in der Vielfalt der Revolutionen (1789—1871) — zur Wirkungsweise historischer Gesetze, in: Ders., Theorie, Empirie und Methode in der Geschichtswissenschaft. Gesammelte Aufsätze, hrsg. von Wolfgang Küttler und Gustav Seeber, Berlin 1980, S. 385. 41 Marx, Karl, Zur Kritik der politischen Ökonomie, in: MEW, Bd. 13, S. 9. 42 Baumgart, S. 494. 43 Vgl. die Einleitung von Morris Janowitz zu Edwards, Lyford P., The Natural History of Revolution, Chicago/London 1970, S. I X - X I X ; Brinton, Crane, The Anatomy of Revolution, New York 1930.

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sondern nur Wege der Revolution."4'' Klassische Revolution als Modellrevolution oder Revolutionsmodell zu verstehen, würde bedeuten, abstrakt-ahistorische Kategorien in den Vergleich einzubringen. Jeder Vergleich mit anderen bürgerlichen Revolutionen erweist sich nur dann als sinnvoll, wenn die Frage beantwortet wird, ob das im konkret-historischen Moment mögliche Epochenoptimum erreicht (ausgeschritten) wurde oder nicht. So wäre es historisch widersinnig, darüber nachzudenken, warum die niederländische oder die englische Revolution nicht das „Niveau" der französischen erreicht hat. So signalisiert auch die Tatsache, daß die Revolutionen des 16. und 17. Jh. in religiöser Form gegenüber der säkularisierten Denkweise in Frankreich ausgefochten wurden — wiederum gemessen am Charakter der Epoche, d. h. dem tatsächlich erreichten stadialen Entwicklungsstand der neuen Gesellschaft —, durchaus kein Defizit oder irgendeine Art von „Rückständigkeit", vielmehr handelte es sich um die epochenspezifische adäquate subjektive Form, die Klassen- und Interessenkonflikte auszutragen. Ebenso verkehrt wäre es, in schematischer Weise die Revolutionen des 19. Jh. auf das französische Vorbild zurückzuprojizieren: Ein solches Verfahren trüge nicht zum Verständnis der „Einheit in der Vielfalt" bei, sondern würde lediglich Abweichungen, Deformierungen, „Sonderwege" und ähnliche Phänomene im Verhältnis zum Fixpunkt 1789 zu registrieren haben. 45 Für eine vergleichende Revolutionsanalyse kann ein Hantieren mit dem Begriff der klassischen Revolution im Falle Frankreich nur insofern .sinnvoll sein, daß er auf spezifische Weise dazu beiträgt, aus der Summe der untersuchten Einzelrevolutionen und revolutionären Zyklen die allgemeingültigen Grundzüge und Gesetzmäßigkeiten bürgerlicher Umwälzung und in organischer Verknüpfung damit die wesentlichen Varianten dieses Prozesses innerhalb der typologisch analogen Vorgänge zu erfahren. „Jede Revolution löst die alte Gesellschaft auf ; insofern ist sie sozial. Jede Revolution stürzt die alte Gewalt-, insofern ist sie politisch."m Aus dieser strukturellen „Arbeitsteilung" in der revolutionären Transformation — die Revolution als Prozeß und als Ereignis — ergibt sich die Notwendigkeit, zwischen der Revolution im weiteren und im engeren Sinne zu unterscheiden. Die Revolution im weiteren Sinne umfaßt den Zeitraum der vollen Durchsetzung, Ausprägung und Konsolidierung des neuen Formationstyps, wogegen die Revolution im engeren Sinne mit dem Sturz der alten Ordnung jenen, in der Regel zeitlich begrenzten historischen Moment bezeichnet, in dem sich die neuen Machtverhältnisse etablierten, die Machtfrage gelöst wurde. Furet bietet eine (bewußte?) Fehlinterpretation, wenn er in seiner Kritik an Soboul die Behauptung aufstellt, das Politische werde auf das Soziale reduziert („en réduisant le politique au social"47). So rennt des weiteren die These: „Mais l'idée qu'entre ces mêmes dates 44 Soboul, Albert, La fondation Basso et Histoire de la Révolution française, in: Annali della Fondazione Lelio e Lisli Basso. Isocco, Bd. 1, Rom 1975, S. XLI. 45 Vgl. die Fallstudien in Revolutionen der Neuzeit 1500—1917, hrsg. und eingel. von Manfred Kossok, Berlin 1982. 46 Marx, Karl, Kritische Randglossen zu dem Artikel „Der König von Preußen und die Sozialreform. Von einem Preußen", in: MEW, Bd. 1, S. 409. 47 Furet, Penser la Révolution, bes. Première partie: La Révolution est terminée, S. 75. 2 Jahrbuch 39

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[1789 et 1794], le tissu social, ou économique, de la nation a été renouvelé de fond en comble est évidement beaucoup moins vraisemblable'"'8, offene Türen ein. Auch die radikalste Revolution — ob klassisch oder nicht — setzt keine Stunde Null, sie steht in der Geschichte und ist ihr Produkt. Damit trug auch die Französische Revolution die Kennzeichen einer vom Ancien Régime geprägten Präfiguration : Der vielzitierte und für Frankreichs Kapitalismusentwicklung so kontrovers diskutierte Parzellenbauer existierte eben schon vor der Revolution,"'9 und das historische Werk der Revolution bestand darin, ihn zu „entfeudalisieren" und für längere Zeit überlebensfähig zu machen. Darin lag einer der wesentlichen Unterschiede des französischen zum englischen Weg in der bürgerlichen Umwälzung.50 Frankreichs Revolution von 1789 bis 1795, d. h. die Revolution im engeren Sinne, kann nicht zuletzt deshalb als klassisch gelten, weil es sich in der Gesamtgeschichte der bürgerlichen Revolutionen um die einzige handelte, in der sich die Herrschaft der Bourgeoisie in „reiner" (eben klassischer) Form durchsetzte. Die Art, wie die Machtfrage gelöst wird, ist aber eines der Grundkriterien, um Charakter (Typ) und historischen Platz einer Revolution zu bestimmen. Das wesentliche Merkmal: „ . . . die Bourgeoisie, die Klasse, die sich wirklich an der Spitze der Bewegung befand",51 war in Frankreich auf exemplarische Weise erfüllt, während die übrigen bürgerlichen Revolutionen in die verschiedenen Varianten eines Klassenkompromisses oder der Hegemoniesubstitution einmündeten.52 Es wäre eine interessante Aufgabe, eine Geschichte der bürgerlichen Revolutionen unter dem Aspekt des Hegemonievergleichs zu schreiben. Für Historiker, die vor und während der Revolution keine Bourgeoisie auszumachen vermögen oder das Epizentrum der Transformation in einer noblesse d'affaires sehen, stellt sich das Hegemoniekriterium natürlich so nicht, wenn überhaupt. So die Lesart bei Theda Skocpol: „The man who dominated France after the 48 Ebenda, S. 28. 49 Vgl. dazu die aufschlußreiche Regionalstudie von Gauthier, Florence, L a voie paysanne dans la Révolution française. L'exemple picard, Paris 1977 (Rez. von Kurt Holzapfel, in: ZfG, 1978, 5, S. 458—460); dies., Sur les problèmes paysans de la Révolution, in: AHRF, 1978, 232, S. 305-314; Soboul, Albert, Problèmes paysans de la Révolution (1789—1848). Études d'histoire révolutionnaire, Paris 1976, bes. S. 63 ff. 50 Kossok, Manfred, 1640 und 1789. Gedanken zu zwei Zäsuren der Weltgeschichte, in: WZ der Humboldt-Universität zu Berlin, Ges.-wiss. R., 1984, 3, S. 235—245; Gauthier, Florence, Theorie des einen Weges der bürgerlichen Revolution oder Negation der Französischen Revolution, in: Bürgerliche Revolutionen. Probleme des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus, hrsg. vom Institut für Marxistische Studien und Forschungen, Frankfurt a. M. 1979, S. 155—165 (Theorie und Methode 2). Die Unfähigkeit, „dem Kleinproduzenten den Garaus zu machen", war für Poulantzas, Nicos, Pouvoir politique et classes sociales, Bd. 1, Paris 1968, S. 178 ff., ein Hauptargument, um 1789 den Rang einer klassischen Revolution abzusprechen. Dagegen betonte Soboul die Rolle des einfachen Warenproduzenten bei der Durchsetzung des Kapitalismus in Frankreich, vgl. Bemerkungen zum Artikel von Michel Grenon und Régine Robin, in: Theorie und Methode 2, S. 196. 51 Marx, Karl/Engels, Friedrich, Die Bourgeoisie und die Konterrevolution, in: MEW, Bd. 6, S. 107. 52 Kossok, Vergleichende Geschichte, S. 26.

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révolution where not industrialists or capitalist entrepreneurs but primarily buraucrats, soldiers, and owners of real estate." 53 Hier treten zwei Mißverständnisse zutage: Das Fehlen einer Differenzierung von sozialer und politischer Hegemonie und das Übersehen der Tatsache, daß Frankreichs Bourgeoisie im Moment der Revolution zwar eine entwickelte, aber noch nicht voll konstituierte (d. h. industriell verankerte) Klasse gewesen und daß eine der historischen A u f gaben der Revolution darin bestand, diesen Konstituierungsprozeß voranzutreiben. Deshalb sahen auch Marx und Engels die „Lebensgeschichte der f r a n zösischen Revolution" selbst 1830 noch nicht als beendet an.54 Frankreich zu bescheinigen, daß es England gegenüber, dessen Revolution, fast 150 J a h r e zurücklag und dessen Agrarumwälzung sich spätestens seit dem 15. Jh. vollzog, 55 rückständig gewesen sei, kann als Paradebeispiel ahistorischer Interpretation 5 8 bezeichnet werden. Ähnlich verhält es sich mit der Feststellung von Lynn Hunt, die gestützt auf Guy Chaussinand-Nogaret, Louis Bergeron und Robert Forster — auch Denis Richet gehört in diese Argumentationslinie — zu der Feststellung gelangt, „that the main outcome of the Revolution was not capitalism but the création of a more unified elite of notables, whose primary self-definition rested on landowning". 57 Wiederum wird mit leichter Hand übersehen, daß bis zur Vollendung der industriellen Revolution (für Frankreich nach 1848) die Landwirtschaft ökonomische Hauptbasis bleibt, daß aber überdies in Frankreich nach Revolution und Empire trotz Restauration eine kapitalistische Agrarstruktur existierte, geprägt von der Antinomie zwischen einfachen Warenproduzenten und verbürgerlichtem Großgrundbesitz. 68 So sehr die These von der „reinen" Herrschaft der Bourgeoisie und ihrer klassischen Ausprägung einleuchtet, entbindet sie keineswegs von der Aufgabe, die Entstehung, Realisierung, Struktur und Wirkung bürgerlicher Hegemonie in ihren konkret-historischen Formen nachzuweisen (gerade angesichts der Angriffe von Cobban, Taylor, Furet und anderen gegen eine „soziale Interpretation" der Revolution). Einen in gewisser Hinsicht modellhaften Ansatz d a f ü r bietet die Studie von Mazauric über Rouen. 59 Um die Frage nach den Bedingungen f ü r eine klassische Ausprägimg bürgerlicher Hegemonie zumindest im Ansatz einzugrenzen und zu beantworten, scheint es angebracht, die folgenden Problemfelder ins Auge zu fassen: 1. Den objektiven und subjektiven Reifegrad 53 Skocpol, Theda, States and Social Révolutions. A comparative analysis of France, Russia and China, Cambridge 19803, S. 176. 54 Marx, Karl/Engels, Friedrich, Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik. Gegen Bruno Bauer und Konsorten, in: MEW, Bd. 2, S. 131. 55 Mothes, Gerlinde, Zur Frage einer frühbürgerlichen Revolution in England in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, in: WZ der Humboldt-Universität zu Berlin, 1984, 3, S. 251-254. 56 Skocpol, S. 177. 57 Hunt, S. 6. 58 Soboul, Albert, Problèmes agraires de l'Europe en 1815, in: Ders., Problèmes paysans, S. 347—371; ders., Propriété foncière et conditions des terres dans l'Europe napoléonienne. Le cas de la France, in: XV« Congrès international des Sciences historiques (Bucarest, 10-17 août 1980), Rapports III, Bukarest 1980, S. 379 fï. 59 Mazauric, Claude, Jacobinisme et Révolution. Autour du bicentenaire de Quatrevingt-neuf, Paris 1984, S. 115-142. 2»

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der bürgerlichen Klasse, sowohl als Gesamtklasse wie in ihren strukturell bestimmenden Fraktionen (Gruppierungen, Schichten); 2. die Dialektik von sozialer und politischer Hegemonie im Verlaufe der Revolution; 3. die Herausbildung und Triebkraftwirkung des „revolutionären (antifeudalen) Blocks"; 4. die selbständige und prägende Rolle der Volksbewegung in der Revolution; 5. das Verhältnis von Revolution und (innerer bzw. äußerer) Konterrevolution; 6. den Wirkungsradius des Individuums (der Persönlichkeit) im revolutionären Prozeß. Unter den Ständen und Klassen des Ancien Régime besaß die Bourgeoisie als einzige die Merkmale einer nationalen Klasse, und dies in einem dreifachen Sinne : in ihrer sozialen Konstituierung über das gesamte Territorium der Monarchie, in ihrem subjektiven Selbstverständnis und in der Anerkennung als Hegemon durch die Mehrheit der Nation, den Dritten Stand. Dieses objektive und subjektive Hegemoniepotential 60 realisierte sich auf unterschiedlichen Ebenen: ökonomisch, sozial-strukturell, ideologisch-kulturell und politisch-institutionell. Auf ökonomischem Gebiet (1. Hegemonieebene) ist die Bourgeoisie, vor allem in Handel und Finanz, am Vorabend der Revolution der Aristokratie entweder schon im Gesamtumfang des Reichtums, zumindest im Tempo der Akkumulation überlegen: „ . . . la bourgeoisie était souvent plus riche, et même plus puissante, que la noblesse." 61 Es war der Zeitpunkt abzusehen, an dem die Bourgeoisie den Adel definitiv überflügeln würde, wenn es gelang, die Vielzahl feudalständischer Prärogativen und Hindernisse aus dem Wege zu räumen, nach den Regeln der „Vernunft" zu regieren. 62 Die altherrschende Klasse konnte dieser Entwicklung nur die außerökonomische Gewalt entgegensetzen (in Form der réaction seigneuriale und der gelegentlich als „prérévolution" bezeichneten Revolte der Privilegierten). Wie die Bourgeoisie Ökonomie und Politik ins Gleichgewicht brachte, davon zeugte ihr praktizierter Wirtschaftsliberalismus, den sie schon in den cahiers de doléances63 angemahnt hatte. In sozialer Hinsicht (2. Hegemonieebene) war die Ausformung der Bourgeoisie als Klasse weit vorangeschritten. Innerhalb der Bourgeoisie bestand eine ausgeprägte Differenzierung zwischen der Großbourgeoisie aus Finanz und Handel, deren reichste Elemente sich faktisch dem Ancien Régime integrierten, während das mittlere, zum erheblichen Teil in der Provinz konzentrierte Bürgertum besonders deutlich die Auflagen der Privilegien- und Monopolpolitik spürte.

60 Vgl. für das folgende Kossok, Manfred, Hegemonie und Machtfrage in den neuzeitlichen Revolutionen. Theoretische Fragestellungen und empirische Probleme, in: LBR, 1987, 17/1, S. 15 ff. 61 Godechot, Jacques, Les révolutions (1770—1799), Paris 1970, S. 93; Labrousse, Ernest, La crise de l'économie française à la fin de l'Ancien Régime et au début de la Révolution, Paris 1944. 62 Zur Diskussion um die Krise des Ancien Régime vgl. Gindin, Claude, Qu'entendre par .crise de l'Ancien Régime'?, in: Cahiers d'histoire de l'Institut de recherches marxistes, 1987, 31, S. 1—19; umfassend dazu Soboul, Albert, La civilisation et la Révolution française, Bd. 1 : La crise de l'Ancien Régime, Paris 1970. 63 Hyslop, Beatrice, French Nationalism according to the general Cahiers, New York 1934.

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Abgesetzt davon existierte, schon als ein Scharnier zu den unteren Volksklassen, das Kleinbürgertum, gestützt auf die einfache Warenproduktion.64 Auf Engels geht die Beobachtung zurück, daß im Unterschied zum Adel „die Bourgeoisie, als Gesamtklasse, die Herrschaft nur kurze Zeit besessen"65 hat. Das trifft selbst für die Revolution zu, als die Bourgeoisie ihre Hegemonie unter den Bedingungen einer historischen Ausnahmesituation durchsetzte. Die Linksverschiebung im sozialen und politischen Hegemoniespektrum, die allerdings nur grosso modo als eine Fraktionsfolge von liberalem Adel und Großbourgeoisie über das Mittel- zum Kleinbürgertum gedeutet werden sollte,96 bestimmte die Phasenfolge in der Revolution und ihre Bewegung in aufsteigender Linie.1*7 Hegemonie ist kein Phänomen, das sich linear auf soziometrischer Basis berechnen läßt. Bürgerliche Revolutionshegemonie realisierte sich stets nur auf „übersetzte" (vermittelte) Weise, auch in der „reinen" Bourgeoisherrschaft während der Jahre 1789 bis 1795 (und darüber hinaus68). Bankiers, Großkaufleute, Manufakturbesitzer prägten nicht das Gesicht der drei Nationalversammlungen (Konstituante, Legislative, Konvent), sondern Advokaten (Maximilien Robespierre!), Journalisten, Literaten und Vertreter anderer freier Berufe. Die politische Repräsentanz der Klasse entsprach somit keineswegs dem sozialen „Durchschnitt". Daraus erwuchs im Verlaufe der Revolution und ihrer Radikalisierung eine zunehmende Spannung zwischen sozialer und politischer Hegemonie. Am ausgeprägtesten war diese (relative) Divergenz unter der jakobinischen Diktatur der 3. Revolutionsphase. In dem Maße wie die Jakobiner, speziell ihr robespierristischer Kern, unter dem Zwang der Umstände und dem Druck der bäuerlichen und städtisch-plebejischen Aktionen auf die Volksklassen zugingen (Robespierre: „ . . . se rallier au peuple"69), entfernten sie sich zwangsläufig von der bürgerlichen Mehrheit, der es um eine „rechtzeitige" Beendigung der Revolution ging. Das heißt, unter den Jakobinern erreichte die Revolution jenen kritischen Punkt, wo sie im Interesse der Bourgeoisie — noch immer subjektiv als Interesse der Nation verstanden — gegen die Bourgeoisie weitergetrieben werden mußte. „Damit selbst nur diejenigen Siegesfrüchte vom Bürgertum eingeheimst wurden, die damals erntereif waren, war es nötig, daß die Revolution bedeutend über das Ziel hinausgeführt wurde — ganz wie 1793 in Frankreich . . . Es scheint dies in der Tat eines der Entwicklungsgesetze der bürgerlichen Gesellschaft zu sein."70 Eine solche Konstellation hing allerdings von zwei Faktoren ab: der 64 Soboul, Albert, La Révolution française, eingel. von Claude Mazauric, Paris 1982, S. 67 ff. 65 Engels, Friedrich, Einleitung [zur englischen Ausgabe (1892) der „Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft"], in: MEW, Bd. 22, S. 307. 66 Besonders im Hinblick auf das Verhältnis von Girondisten und Jakobinern ist immer wieder darauf hingewiesen worden, daß die Differenzen primär politischer und weniger sozialer Natur gewesen seien. 67 Marx, Karl, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte (III), in: MEW, Bd. 8, S. 135. 68 Marx/Engels, Die heilige Familie, VI. Kapitel, ebenda, Bd. 2, S. 130 f. 69 Dieses in den Notizen Robespierres enthaltene Bekenntnis war die logische Konsequenz seines Grundsatzes „Je ne me repose que sur le peuple, sur Je peuple seul". Robespierre. Textes choisis, hrsg. und eingel. von Jean Poperen, Bd. 1, Paris 1974, S. 53. 70 Engels, Einleitung, S. 301.

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partiellen Loslösung (relativen Autonomie) der politischen von der sozialen Hegemonie und der eigenständigen Intervention der Volksmassen. In einer aufschlußreichen Studie hat Mazauric71 herausgearbeitet, daß die Jakobiner im Jahre II etwa 500 000 bis 600 000 Anhänger ausmachten, von denen wiederum 20 Prozent als das eigentlich effektive „personnel jacobin" gelten können. Auf Crane Brinton zurückgehend, wird die soziale Zusammensetzung auf 45 Prozent Handwerker und kleine Geschäftsleute, 10 Prozent selbständige Bauern, 24 Prozent Funktionäre, Advokaten, Kaufleute, „moins encore d'ouvriers", geschätzt. An Hand der Arbeit von Michael Kennedy über die Jakobiner von Marseille (wiederum Brinton folgend) hat Michel Vovelle die auffällige Verkleinbürgerlichung im Verlauf der Revolution betont: „L'élimination de 1',oligarchie mercantile' s'accompagne d'une montée très nette du groupe de l'artisanat." 72 Das Fazit bei Mazauric lautet: „ . . . une veritable classe .politique' de cent mille cadres autour desquels s'organise la république jacobine." 73 Trotz der Interessengegensätze zwischen Klasse und revolutionärer Exekutive erscheint es wenig glücklich, dem allgemeinen Trend folgend, die Jakobiner als „classe politique" von der „classe sociale" abzugrenzen, da es sich — wie gesagt — um eine Interessendivergenz, aber keinen Klassenkonflikt handelte: „Der ganze französische Terrorismus war nichts als die plebejische Manier, mit den Feinden der Bourgeoisie . . . fertigzuwerden."7'' Selbst die Volksmassen („noch keine selbständig entwickelten Klassen oder Klassenabteilungen") kämpften letztlich „nur für die Durchsetzung der Interessen der Bourgeoisie, wenn auch nicht in der Weise der Bourgeoisie"75. Es scheint deshalb zutreffender, von der Konfliktkonstellation zwischen sozialer und politischer Hegemonie auszugehen. Die Jakobiner, und unter ihnen wiederum vor allem Robespierre, verkörperten am ausgeprägtesten jene heroische Illusion,76 die zeitweilig das (Klassen-)Interesse der Bourgeoisie mit der Idee, dem Gesamtinteresse der Nation, zusammenführte. In dem Maße, wie der Citoyen dem Bourgeois weichen mußte, tangierte der Jakobinismus das Reich der Utopie. Robespierres Berufung auf Tugend und Moral, am Ende auf das Höchste Wesen, war der tragische Versuch, der sich abflachenden Revolution immer wieder Leben einzuhauchen, nachdem die saturierte Bourgeoisie schon die historische Wende vollzogen hatte. „In den Momenten seines besonderen Selbstgefühls sucht das politische Leben seine Voraussetzung, die bürgerliche Gesellschaft und ihre Elemente, zu erdrücken und sich als das wirkliche, widerspruchslose Gattungsleben des Menschen zu konstituieren. Es vermag dies indes nur durch gewaltsamen Widerspruch gegen seine eigenen Lebensbedingungen, 71 Vgl. den Aufsatz von Claude Mazauric im vorliegenden Band. 72 Vovelle, Michel, L a mentalité révolutionnaire. Société et mentalités sous la révolution française, Paris 1985, S. 152, mit statistischen Angaben. 73 Vgl. dazu auch die Studie von Kawa, Catherine, Voies nouvelles pour une étude de la bureaucratie révolutionnaire (im Druck). 74 Marx/Engels, Die Bourgeoisie und die Konterrevolution, S. 107. 75 Ebenda. 76 Kossok, Manfred, Realität und Utopie des Jakobinismus. Zur „heroischen Illusion" in der bürgerlichen Revolution, in: ZfG, 1986, 5, S. 415-426; Holzapfel, Kurt/ Zeuske, Michael, Karl Marx und die „heroische Illusion" in den französischen Revolutionen von 1789 und 1830, ebenda, 7, S. 599—610; vgl. auch den Beitrag von Holzapfel/Zeuske im vorliegenden Band.

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nur indem es die Revolution für permanent erklärt, und das politische Drama endet daher ebenso notwendig mit der Wiederherstellung der Religion, des Privateigentums, aller Elemente der bürgerlichen Gesellschaft, wie der Krieg mit dem Frieden endet." 77 Soweit Marx' Requiem auf den Sturz Robespierres, zugleich die überzeugendste Fixierung der Konsequenzen des Konflikts von sozialer und politischer Hegemonie im Rahmen einer bürgerlichen Revolution. Das im Falle der Französischen Revolution in spezifischer Form gegebene Spannungsverhältnis von sozialer und politischer Hegemonie ist, obgleich in anderer Weise ausgeprägt und unterschiedlichen Voraussetzungen geschuldet, für eine ganze Reihe der neuzeitlichen Revolutionen nachweisbar, so in England im Konflikt von Parlament und Armee (unter Führung Oliver Cromwells) sowie in den Revolutionen der 20er Jahre des 19. Jh., die sich auf Länder konzentrierten, in denen die Armee 7 8 die Hegemonieschwäche der Bourgeoisie, zugleich aber auch das Fehlen einer Volksbewegung kompensierte. Im letztgenannten Fall handelte es sich um institutionelle Hegemoniesubstitution, Frankreich dagegen ist das Beispiel für die reifste Ausprägung bürgerlicher Revolutionshegemonie. Eine entscheidende Voraussetzung für die Dynamik der Französischen Revolution bestand in der Formierung eines revolutionären Blocks der unterschiedlichen und konträren Klasseninteressen im Kampf gegen den Absolutismus und seine feudalen Grundlagen. Im revolutionären Block bündelten sich die politisch-sozialen Hauptkomponenten der Revolution: die liberaladlig-bourgeoise, die kleinbürgerlich-demokratische, die agrarisch-bäuerliche und die städtischplebejische Komponente. Das bindende Element dieser unterschiedlichen Klassenkräfte bestand zunächst in der Negation des Bestehenden, d. h. des Ancien Régime, in der Vielfalt seiner ökonomischen, sozialen und politisch-institutionellen Erscheinungsformen. Wie die Veränderung des Kräfteverhältnisses im Verlaufe der Revolution zu erkennen gibt, bildete der revolutionäre (antifeudale) Block keine immobile Konstante, sondern blieb in allen seinen Komponenten einem quantitativen und qualitativen Wandel unterworfen. So zeugen die Spaltungen des Jakobinerklubs vom Abdriften und Ausscheren der saturierten Teile der Bourgeoisie, zunächst in Gestalt der Feuillants, nach der zweiten Revolution im August 1792 auch der Girondisten. 70 Unter allen bürgerlichen Revolutionen hob sich die Französische Revolution durch die enge Verbindung von Hegemon und Volksbewegung ab. Das historisch Besondere bestand darin, daß die bäuerliche und städtisch-plebejische Bewegung nicht als eine von der Bourgeoisie an- und abrufbare „Armee zum Schlagen" 80 auftrat, sondern eigenständige Forderungen formulierte, damit den Verlauf der Revolution deutlich beeinflußte81 und einem relativ autonomen 77 Marx, Karl, Zur Judenfrage, in: MEW, Bd. 1, S. 357. 78 Kossok, Manfred, Karl Marx und der spanische Revolutionszyklus des 19. Jahrhunderts, Berlin 1987, S. 12 ff., über die Doppelfunktion der Armee (Sitzungsberichte der AdW der DDR, Gesellschaftswissenschaften, 4 G 1987). 79 Markov/Soboul, S. 242 ff. 80 Engels, Einleitung, S. 301. 81 Markov, Walter, Robespierristen und Jacquesroutins, in: Ders., Weltgeschichte im Revolutionsquadrat, hrsg. und eingel. von Manfred Kossok, Berlin 1979, S. 194 bis 241; ders., Uber das Ende der Pariser Sansculottenbewegung, ebenda, S. 287 bis 304.

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Entwicklungsrhythmus unterlag, ohne daß es aber gerechtfertigt wäre, im Sinne von Furet 82 von einer Auflösung der Revolution in drei unabhängige Teilrevolutionen zu sprechen. Die Volksbewegung war das tragende Element, dessen Intervention in den großen Journées dazu beitrug, die Revolution „bedeutend über das Ziel hinaus"zuführen. Diese Dialektik verdeutlicht, daß bürgerliche Revolution mehr umfaßte als nur Revolution der Bourgeoisie oder für die Bourgeoisie, ihr Charakter und das Ergebnis bestimmten sich durch die Summe aller die Revolution prägenden Klassenkomponenten. Es war nicht zuletzt der Druck der eigenständigen Volksbewegung, der die Bourgeoisie in Gestalt ihrer radikalsten Fraktion über den bürgerlichen Durchschnittspegel hinaustrieb. Was die Lösung der Machtfrage angeht, so ist die Bourgeoisie zwar vital an der Brechung des adligen Machtmonopols interessiert, sie tendiert aber in ihren Spitzen auf den Interessenausgleich, d. h. das Klassenkompromiß auf der Grundlage einer Teilhabe an der Macht (Machtteilung). Ob dieser Ausgleich zustande kommt oder nicht, hängt davon ab, ob eine die Revolution weitertreibende Fraktion der Bourgeoisie in die Hegemonie einrückt, in welchem Grade die eigenständige Volksbewegung interveniert und welche Stärke der aristokratische Widerstand besitzt. Mit Ausnahme der liberalen Adelsfraktion um den Marquis de Lafayette 83 stand die Masse der Aristokratie in einer mehr oder minder ausgeprägten Kontrastellung zur Revolution.84 Es war nicht zuletzt die Intransigenz der adligen Konterrevolution, aus der für die Bourgeoisie der Zwang erwuchs, die Grenzen einer „normalen" Revolution zu überschreiten. Nicht weniger intensiv auf die Radikalisierung im Verhalten des bürgerlichen Hegemons wirkte die äußere (internationale) Konterrevolution. 85 Die bis 1917 historisch einmalige ideologische Profilierung, Härte und Dimension in der Begegnung von Revolution und Konterrevolution, erlaubt den Schluß, daß der klassischen Revolution der Bourgeoisie eine auf ihre Weise klassische Konterrevolution gegenüberstand. Epochen revolutionären Umbruchs bieten dem Subjekt, der Persönlichkeit auf besondere Weise Freiraum für geschichtsprägendes Wirken. Es sind gerade die Persönlichkeiten, in denen sich die Fähigkeit offenbart, wie in einem Prisma die freigesetzten Bewegungskräfte der Geschichte zu bündeln und in ihrem Wesen zu artikulieren. Die Französische Revolution hat eine Phalanx von Politikern, Literaten, Journalisten, Künstlern und Heerführern hervorgebracht, die den neuen Zeitgeist verkörperten und durch ihr Handeln das Gesicht der Revolution und der Epoche prägten. 86 Diese Persönlichkeiten, die im besten Sinne Geschichte machten87 und deren Spuren „nicht in Äonen untergehen" werden, entstammten nicht nur dem Kreis der sich etablierenden Klasse, sie kamen ebenso 82 Furet, Penser, S. 161 ff. 83 Mathiez, Albert, Die Französische Revolution, Bd. 1, Hamburg 1950, S. 91 ff. („Lafayette als Majordomus des Königlichen Palastes"). 84 Vgl. den Beitrag von Matthias Middell im vorliegenden Band; Godechot, Jacques, L a Contre-Révolution. Doctrine et action 1789—1804, Paris 1961. 85 Markov, Walter, 1792 — Resümee über Krieg und Frieden, in: Weltgeschichte im Revolutionsquadrat, S. 101—114. 86 Soboul, Albert, Portraits de Révolutionnaires, Paris 1986. 87 Eine Vorstellung vermitteln die von Godechot aufgelisteten Biographien (Les révolutions, S. 60-62, Nr. 373-425 a).

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aus dem einfachen Volk. In der Revolution traten die Massen in ihren politischen und ideologischen Repräsentanten aus historischer Anonymität heraus, gewannen konkrete Gestalt und drückten dem Lauf der Dinge in unverlierbarer Weise ihren Stempel auf. Mochte die Realität der Jahre 1795, 1799, 1804 und 1815 auch die in die heroische Illusion eingebetteten Hoffnungen zurücknehmen und der Bourgeois „sans phrase" das Feld behaupten, die Revolution hatte selbst die Elemente hervorgetrieben, in denen „die Idee des neuen Weltzustandes"88 aufschien. Die außerordentliche ideologische Reife der Bourgeoisie (3. Hegemonieebene) fand zunächst ihren Niederschlag in Gestalt der Aufklärung, der entscheidenden Stufe im bürgerlichen Emanzipationsprozeß.89 Ideologisch und kulturell war das 18. Jh. bereits ein Jahrhundert der Bourgeoisie. Der qualitative Sprung bestand in der sukzessiven Säkularisierung des antifeudalen Denkens und einer klassischen Ausprägung seiner antiabsolutistischen Sprengwirkung. „Ungeachtet aller Differenzen zwischen einzelnen Vertretern und Gruppierungen ging es bei den militanten Bestrebungen der französischen Aufklärer um eine nationale und politische Bewußtseinsbildung aller Schichten im antifeudalen und weltlichen Sinne, die zugleich die ideologische Vorbereitung der 1789 ausbrechenden Revolution mehr oder minder instrumentieren half."?0 Dank dieser Reife gelangten die Franzosen als erste zu der Erkenntnis, ihr historisches Tun als Revolution zu begreifen. In der Revolution und über ihre verschiedenen Phasen realisierte sich die politisch-institutionelle Hegemonie der Bourgeoisie, ihre Etablierung als herrschende Klasse (4. Hegemonieebene). Summarisch seien nur einige Schritte im Prozeß der Konstituierung bürgerlicher Macht angedeutet : Mit der Ausrufung der Nationalversammlung setzte die Konstituierung der Macht „von oben" ein, parallel erfolgte die Machtübernahme „von unten" im Ergebnis der Munizipalrevolution. 91 Durch den Aufbau der Nationalmiliz 92 unter Führung von Lafayette organisierte sich die neue Klasse als bewaffnete Gewalt, zunächst primär gegen die unzuverlässige alte Armee und die Staatsstreichpläne der Krone gerichtet, bald aber auch die Bajonette gegen die radikalen Kräfte richtend (Massaker auf dem Marsfeld, 17. Juli 1791). Die Revolution kannte noch 88 Marx/Engels, Die heilige Familie, S. 126. 89 Seidel, Helmut, Philosophiehistorische Bemerkungen zum Begriff „Aufklärung", in: Johann Sebastian Bach und die Aufklärung, hrsg. von Reinhard Szekus, Leipzig 1982, S. 12-24. 90 Bahner, Werner, Aufklärung als europäisches Phänomen. Überblick und Einzeldarstellungen, Leipzig 1985, S. 6; vgl. auch Markov, Walter, Die Brücke der Aufklärung, in: Revue des études sud-est européennes, 1972, 10, S. 373; ders., Aufklärung und Revolution, in: Weltgeschichte im Revolutionsquadrat, S. 91—100; Krauss, Werner, Einführung in das Studium der französischen Aufklärung, in: Ders., Aufklärung II. Frankreich, hrsg. von Rolf Geißler, Berlin/Weimar 1987, S. 16 (Werner Krauss, Das wissenschaftliche Werk, 6). 91 Ligou, Daniel, A propos de la révolution municipale, in: RHES, vol. 38, 1960, 2, S. 146-177. 92 Arches, Paul, Aspects sociaux de quelques gardes nationaux au début de la Révolution (1789-1790), in: Actes du 81= Congrès des Sociétés savantes (Rouen/Caen 1956), Paris 1956, S. 443-455.

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keine Parteien im modernen Begriffssinn. Jedoch übten die allerorten aus dem Boden schießenden Klubs als Interessenvertretungen der unterschiedlichsten Gruppierungen eine vergleichbare Funktion aus. Als die Jakobiner noch Rechte (die künftigen Feuillants) und Gemäßigte (die späteren Girondisten) umfaßten, verfügte der Pariser Mutterklub über 90 Tochterklubs in den Provinzen (1790); im Mai 1793 konnte sich das Zentrum dagegen auf etwa 600 bis 800 Filialen stützen, die ganz Frankreich mit einem revolutionären Netz überzogen: „ . . . cette présence jacobine s'impose peu à peu comme un force d'intervention décisive dans la société politique." 93 Dank des Jakobinerklubs erwies sich die revolutionäre Bourgeoisie als die bestorganisierte Klasse der Revolution. Dagegen vermochten auf die Dauer die sansculottischen Volksgesellschaften nichts auszurichten.94 Bei der Durchsetzung der politischen Hegemonie der Bourgeoisie spielte die Presse eine hervorstechende Rolle.95 In der Feststellung, die Revolution sei durch die Presse gemacht worden, liegt keinesfalls eine übermäßige Übertreibung. Die „öffentliche Meinung" erwies sich als ein wesentlicher Faktor für oder gegen die Revolution. Was Presse vermochte, ist am Beispiel von Jacques René Hébert 96 und seinem meisterhaften, den Jargon des Volkes in die große Politik einführenden Père Duchesne ablesbar: „Le Père Duchesne fut l'un des trois ou quatre journeaux qui exercèrent sur les sansculottes parisiens l'influence la plus profonde . . . , il fut à la fois l'écho et le guide des masses populaires." 97 Die neue Macht wurde nicht als Herrschaft der Bourgeoisie, Ausdruck von Klasseninteresse — auch von der neuen Klasse selbst nicht — verstanden, sondern als Verkörperung der befreiten Nation und einer freien, künftig um die „Republik der Menschenrechte" gescharten Menschheit. Selbst die ersten Risse zwischen Anspruch und Wirklichkeit98 vermochten den Zauber der heroischen Illusion nicht zu brechen. In der ideologischen Instrumentierung und Durchsetzung bürgerlicher Revolutionshegemonie als Gesamtinteresse einer Nation von Patrioten 93 Mazauric, Anatomie et physiologie. Vgl. auch Kawa, Catherine, Le personnel du Ministère de l'interieur pendant la Révolution (1791—1800), Paris 1986 (Mémoire de D. E. A., vervielf.) ; dies., Voies nouvelles pour une étude de la bureaucratie révolutionnaire. 94 Soboul, Albert, Robespierre et les sociétés populaires, in: AHRF, 1958, 152, S. 50 bil 64; Markov, Robespierristen et Jacquesroutins. 95 Cunow, Heinrich, Die französische Presse in den ersten Jahren der großen Revolution, in: Die Neue Zeit, Bd. 1, 1906/07, S. 20-28, 58-64, 165-169, 199-206, 274-280, 365—381, 407—414, 426—436; ders., Die revolutionäre Zeitungsliteratur Frankreichs während der Jahre 1789 bis 1794. Ein Beitrag zur Geschichte der französischen Klassen- und Parteienkämpfe gegen Ende des 18. Jahrhunderts, Berlin 1908. Vgl. dazu Florath, Bernd, Die Klassenkämpfe der Französischen Revolution in Heinrich Cunows „Geschichte der Revolutionspresse", 1905—1912 (erscheint 1989 im Sammelwerk „Französische Revolution und Arbeiterbewegung"). 96 Jacob, Louis, Hébert, Le Père Duchesne. Chef des sans-culottes, Paris 1960 (Kap. III: Le Père Duchesne, S. 42 ff.). 97 Soboul, Portraits, S. 160. 98 Auf die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte folgten die Aufteilung der Patrioten in Aktiv- und Passivbürger durch die Verfassung von 1791 und das Gesetz Le Chapelier vom 14.6. 1791. Dessen Urheber bestieg zwar später die Guillotine, sein Werk aber hatte bis 1864 Gültigkeit.

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kam der Kultur, die sich vornehmlich am Ideal der Antike orientierte, ein zentraler Rang zu. Die Repräsentanten der Revolution „fanden in den klassisch strengen Überlieferungen der römischen Republik die Ideale und die Kunstformen, die Selbsttäuschungen, deren sie bedurften, um den bürgerlich beschränkten Inhalt ihrer Kämpfe sich selbst zu verbergen und ihre Leidenschaft auf der Höhe der großen geschichtlichen Tragödie zu halten". 99 In seinen Reden ließ Robespierre 100 die gesamte Ahnengalerie des antiken Roms und Griechenlands aufmarschieren und machte sie zum Kronzeugen seiner vertu. Dem neuen Ideal entsprachen die verschiedensten Kunstformen. Revolution und Kunst traten in eine bislang nicht gekannte Symbiose und gaben der Epochenwende ein unverwechselbares geistiges Profil: das Theater, dessen Agitation unmittelbar in den Tageskampf eingriff und das überdies zur Tribüne der Frauenemanzipation avancierte; die Malerei, die in Jacques Louis David 101 ihren unübertroffenen Meister fand und dessen „Tod des Marat" die Massen mehr ergriff als tausend Pamphlete; das revolutionäre Gedicht und vor allem das politische Lied, dessen Blüte in die Zeit der Jakobinerherrschaft fiel,102 und das in seinen besten Leistungen (Ça ira, Marseillaise, Chant de Départ) unsterblich geworden ist; schließlich die noch in Ludwig van Beethoven nachklingenden Revolutionssinfonien von Etienne Nicolas Méhul, Charles Simon Catel, Luigi Cherubini und André Ernest Grétry; nicht zu vergessen die großen Entwürfe der Revolutionsarchitektur von Beullée, Ledoux, Lequeu oder Desprez, in denen „die grandiose Utopie einer neuen Baukunst" gipfelte. In seinen Aussagen über „mentalité révolutionnaire" hat Vovelle 103 auf die besondere Bedeutung der Revolutionsfeste für die Formierung eines Bewußtseins und einer neuen Mentalität hingewiesen. Die Revolution schuf sich ihre eigenen Mythen, an die Stelle der gestürzten Idole der Vergangenheit traten neue Helden, die Konturen eines „homo novus révolutionnaire" tauchten auf, von einer gezielten Bildungspolitik 101 bewußt ins Auge gefaßt. Die Trinität des traditionellen Katholizismus wich der „triade révolutionnaire des martyres de la liberté, Marat, Lepeletier, Chalier".103 Man mag begründet einwenden, all das tangiere schon das Reich der Utopie. Gewiß, aber eben ein solcher Ausgriff in das Noch-nicht-Mögliche setzte die Kräfte frei, um das Schon-Mögliche dauerhaft zu verankern. 106 Frankreichs Revolution war klassisch in ihren Verwirklichungen wie in ihren großen Utopien. Robespierre mochte die Begegnung der Zeiten erfühlt haben,

99 Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, S. 116. 100 Robespierre, Maximilien, Habt Ihr eine Revolution ohne Revolution gewollt? Reden, hrsg. und eingel. von Kurt Schnelle, Leipzig o. J. (1958); Robespierre. Textes choisis. 101 Dowd, David L., Pageant-master of the Republic. Jacques Louis David and the French Revolution, Nebraska 1948. 102 Ça ira. 50 Chansons, Chants, Couplets und Vaudevilles aus der französischen Revolution 1789—1795, hrsg. und übertr. von Gerhard Semmer, Berlin 1958. 103 Vovelle, La mentalité, S. 157 iï. 104 Soboül, La Révolution française, S. 548 f£. 105 Vovelle, La mentalité, S. 181. 106 Markov, Walter, Die Utopia des Citoyen, in: Festschrift Ernst Bloch zum 70. Geburtstag, hrsg. von Rugard O. Gropp, Berlin 1955, S. 229-240.

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als er sagte: „Die Hälfte der Weltrevolution ist schon zuwege gebracht, die andere Hälfte muß noch realisiert werden." 107 Am Ende unserer Gedanken zum Thema sei nochmals darauf Bezug genommen, daß die Verwendung des Begriffs des Klassischen mit dem Blick auf 1789 insofern nicht unproblematisch ist, da der Eindruck aufkommen kann, das Bild einer subjektiv überfrachteten Idealrevolution zu schaffen. Diese Tatsache spricht nicht gegen die Verwendung des Begriffs klassische Revolution, unterstreicht aber die Notwendigkeit objektivierbarer Kriterien. Dem mag vielleicht geschuldet sein, daß es nach dem Tode von Albert Marius Soboul um diesen Begriff etwas ruhig geworden ist. Sobouls absolutes Engagement f ü r „seine" Revolution hat dem Thema stets neuen Auftrieb gegeben 108 und bildete eine Achse in der Polemik mit Furet. 109 Das Soboulsche Erbe aufzunehmen und fortzuführen, sollte aber auch Anstoß geben, über Klassizität in der Geschichte weiter nachzudenken und das Instrumentarium f ü r Verständnis und Verständigung zu vervollkommnen. Ein bloßer Austausch von Glaubenssätzen wäre dem großen historischen Gegenstand wohl kaum angemessen. So klar und allgemeingültig die Französische Revolution die Wesensmerkmale bürgerlicher Revolution ausgeformt hat, so besaß auch sie ihre spezifisch „französischen", nicht kopierbaren Besonderheiten, dazu Verwerfungen, Deformierungen, Inkonsequenzen. Noch ist die Debatte über das Verhältnis von politisch-sozialer Revolution und den Ergebnissen der ökonomischen Umwälzung nicht ausgestanden, obwohl sich Ansätze f ü r eine Versachlichung, ja sogar Tendenzen f ü r eine Umkehrung der Problemlage abzeichnen. 110 Es muß durchaus Walter Schmidt zugestimmt werden, „daß gleichzeitige optimale Lösungen auf allen Ebenen der gesellschaftlichen Entwicklung beim Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus nirgendwo erreicht wurden". 111 Die verschiedenen Ebenen der gesellschaftlichen Entwicklung differierten sowohl zwischen den historischen Regionen und Ländern wie auch innerhalb dieser. Totale und sektorale Entwicklung verliefen in der Regel nicht im Gleichklang. Die Schwierigkeit besteht nun darin, den konkreten Ursachen dieser Divergenzen auf die Spur zu kommen, was f ü r die bürgerliche Revolution auf das bislang nicht ausgelotete Problem der Präfiguration zurückführt. Das Phänomen der doppelten Verschiebung (in den Strukturebenen wie im zeitlichen Ablauf) lenkt den Blick ein weiteres Mal auf die Tatsache, daß sich die formationeile Ablösung der Feudalität (und anderer vorkapitalistischer Formen) durch den „bürgerlichen Kosmos" nicht auf ein Land, d. h. national eingegrenzt, erklären läßt. Der universale Charakter der kapitalistischen Produktionsweise 107 Robespierre, Habt Ihr eine Revolution ohne Revolution gewollt?, S. 348. 108 Bekenntnishaft sagte Soboul: „Hier finde ich mich wieder, ich lebe darin." Nachdenken über Geschichte. Anläßlich der Ehrung für Walter Markov und Albert Soboul am 4. Oktober 1974, Berlin 1976, S. 33 (Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften der DDR. Gesellschaftswissenschaften. 13 G 1975). 109 Soboul, Albert, Historiographie révolutionnaire classique et tentatives révisionnistes, in: Comprendre la Révolution, S. 323—346. 110 Vgl. Chassagne, Serge, Les structures de la proto-industrialisation en France (Vortrag vor der Arbeitsgruppe „Französische Revolution" am 29.9.1987). 111 Schmidt, Walter, Zu den Wegen der bürgerlichen Umwälzung, in: ZfG, 1978, 6, S. 497 ff.

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und der auf ihr basierenden Gesellschaft erfordert eine ebenso universalhistorische Problemsicht. Dem entspricht der schon erläuterte Begriff der Doppelrevolution, resultierend aus dem dialektischen Zusammenwirken von klassischer politisch-sozialer (Frankreich) und klassischer ökonomischer Revolution (England). Marx und Engels sind noch einen Schritt weitergegangen, indem sie in den Kreis der epocheprägenden Länder auch Deutschland als Heimat der philosophischen Revolution einschlössen,112 damit die endgültige Konstituierung der neuen Ordnung als Revolutionstriade verstehend. Es verdient weiterhin betont zu werden, daß mit der Epochenwende von 1789 Wesen und Wirkung der bürgerlichen Revolution durchaus nicht ein für allemal festgeschrieben blieben. Die im Gefolge der großen Revolution aufkommenden nationalen Befreiungsrevolutionen (inner- und außerhalb Europas), vor allem aber die Herausbildung und die organisatorische wie programmatische Verselbständigung der proletarischen Komponente im Verlaufe des 19. Jh.113 sprengten den von der Französischen Revolution des Jahres 1789 gesetzten Radius. Frankreich selbst hat diesen Wandel beispielgebend vollzogen und blieb bis 1871 das Land der historischen Initiative. 112 Engels, Friedrich, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, in: MEW, Bd. 21, S. 259-307. 113 Die proletarische Komponente in der bürgerlichen Revolution. Protokoll des IV. Internationalen Kolloquiums der Forschungsgruppe Vergleichende Geschichte der neuzeitlichen Revolutionen des Interdisziplinären Zentrums für Vergleichende Revolutionsforschung (IZR) an der Karl-Marx-Universität Leipzig, hrsg. von Manfred Kossok in Verb, mit Michael Zeuske, Leipzig 1985.

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1789 — Funktion und Wirkungsweise des Widerspruchs zwischen objektiver Realität und subjektivem Anspruch

1986 w u r d e n m e h r e r e Artikel zur „heroischen Illusion" veröffentlicht 1 und damit auf die spezifische revolutionshistorische Dimension eines Problemkomplexes verwiesen, der seit längerem die A u f m e r k s a m k e i t von Vertretern verschiedenster Wissenschaftsgebiete findet. Der historische Gedankenansatz erregte lebhaftes Interesse auf Kolloquien im In- und Ausland 2 , rief aber auch kontroverse Diskussionen hervor. 3 Aus diesem G r u n d e erscheint es uns legitim u n d notwendig, einige bereits f r ü h e r skizzierte Gedanken zu vertiefen, Marx' Beschäftigung mit dieser Materie systematisch darzulegen u n d einige Probleme in Verbindung mit der französischen Revolutionsgeschichte seit 1789 stärker zu akzentuieren. In der DDR-Revolutionsforschung u n d Weltgeschichtsschreibung haben sich vor allem Walter Markov und M a n f r e d Kossok mit diesem Problem befaßt. Von letzterem s t a m m t die Definition, von der auch wir ausgehen: „Auf den K e r n gebracht, bestand das Wesen der heroischen Illusion in der Fähigkeit der zur Ü b e r n a h m e der politischen Herrschaft b e r u f e n e n Klasse, d. h. der Bourgeoisie, ihre (Klassen-),Interessen' als Gesamtinteresse der Nation zu artikulieren. Von der Dauer und Intensität dieses (stets zeitweiligen u n d relativen) Zusammenfalls von ,Idee' und .Interesse' hing letztlich der Grad der Radikalität (die historische Dimension) einer bürgerlichen Revolution ab . . . die .heroische Illusion' [ist] die Fähigkeit der Bourgeoisie, ihre eigene Emanzipation (,Interesse') als allgemeinmenschliche (,Idee') zu begreifen und darin von der .Nation' (vulgo der Masse) akzeptiert zu werden." 4 In jüngster Zeit h a t sich auch der Rechtsphilosoph u n d -historiker H e r m a n n Klenner wiederholt mit dem Thema be-

1 Kossok, Manfred, Realität und Utopie des Jakobinismus. Zur „heroischen Illusion" in der bürgerlichen Revolution, in: ZfG, 1986, 5, S. 415 ff.; Holzapfel, Kurt/Zeuske, Michael, L' „illusion héroïque". Karl Marx et les révolutions de 1789 et 1830, in: La Pensée, Nr. 249, Jan.-Febr. 1986, S. 18 ff. 2 Siehe die Berichte in: Cahiers d'histoire de l'Institut de recherches marxistes, 1985, Nr. 21, S. Z1\.Middell, Matthias, Die Französische Revolution und der bürgerliche Revolutionszyklus, in: ZfG, 1986, 12, S. 1104f. 3 Schröder, Winfried, Bürgerliche Revolution von 1789. Kulturrevolution, Kunst und Literatur, Vortrag in der Arbeitsgruppe Französische Revolution am 10.1. 1987. 4 Kossok, Realität und Utopie, S. 418 f.

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schäftigt. 5 Vieles hat die vorliegende Studie Hans-Peter Jaeck zu verdanken. Seine werkkritischen theoriegeschichtlichen und methodologischen Studien zum Stellenwert der französischen Revolution im Werk von Marx6 verdeutlichen den ganzen Reichtum der Marxschen Frühschriften und geben in vielerlei Hinsicht Anstöße, ihre Ansätze für die Revolutionsgeschichtsforschung vertieft fruchtbar zu machen. In nur einem Jahrfünft — von Mitte 1843 bis 1848 — schufen Karl Marx und Friedrich Engels theoretische Grundlagen der kommunistischen Strategie und Taktik der erhofften und erwarteten Revolution. Dabei erarbeitete vor allem der „junge Marx"7 in der Etappe seines Schaffens, deren Ergebnisse in den Arbeiten „Zur Judenfrage" bis einschließlich der „Heiligen Familie" niedergelegt sind, eine Reihe von philosophisch-gesellschaftstheoretischen Ansätzen zur Interpretation der Französischen Revolution. 8 Die dazugehörige unvermittelte Entgegensetzung der Kategorie „Idee" und „Interesse" ist eine fruchtbare Problemstellung für die heutige Revolutionsforschung. In der Form der Hegeischen Widerspruchsdialektik verbergen sich unter diesen Kategorien zwei Grundprobleme, vor denen Marx in der Zeit seines Übergangs auf materialistische Positionen 9 stand: Die Erforschung der Anatomie der „bürgerlichen Gesellschaft"10 und der sogenannte Ideologie-Komplex. 11 Die öffentliche Anerkennung der Revolution als des wichtigsten Mittels zur Gesellschaftsveränderung 12 flankierte diese theoretischen Erkenntnisse. So nimmt es nicht wunder, daß auf Marx die bis dahin einmalige Radikalität der Jakobinerdiktatur einen besonderen Reiz ausübte. Stellte der Ideologie-Komplex ein übergreifendes theoretisches Problem dar, so boten die „Momente be-

5 Klenner, Hermann, Marxismus und Menschenrechte, Berlin 1982; ders., Revolutionsprogramm als Reformationstheorie, Berlin 1983, S. 5. 6 Jaeck, Hans-Peter, Die französische bürgerliche Revolution im Frühwerk von Karl Marx, Berlin 1979. 7 Lapin, Nikolai, Der junge Marx, Berlin 1974. 8 Jaeck. 9 In der Zeit von Mitte März 1843 bis Ende August 1844 „war der Übergang auf materialistische Positionen endgültig vollzogen, und es begann der Prozeß der Ausarbeitung des wissenschaftlichen Kommunismus". MEGA-, hrsg. vom IML beim ZK der KPdSU und vom IML beim ZK der SED, 1. Abt., Bd. 2, Berlin 1982, S. 11. 10 Hegel hatte die materiellen Lebensverhältnisse nach dem Vorgang der Engländer (Adam Ferguson, Adam Smith) in ihrer Gesamtheit unter dem Begriff „bürgerliche Gesellschaft" zusammengefaßt. Marx übernahm 1843 diesen Begriff und unterschied zwischen der alten (Antike, Feudalität) und der modernen bürgerlichen Gesellschaft. Ebenda, S. 12 f. 11 Zur Bedeutung, Entwicklung und zu den Quellen des Begriffs „Ideologie" bei Marx siehe Sandkühler, Hans Jörg, Kritik und positive Wissenschaft, in: Karl Marx. Kritik und positive Wissenschaft, hrsg. von Manfred Hahn und Hans Jörg Sandkühler, Köln 1986, S. 24 ff. (Studien zur Wissenschaftsgeschichte des Sozialismus, Bd. 6). 12 Marx, Karl, Kritische Randglossen zu dem Artikel „Der König von Preussen und die Sozialreform. Von einem Preussen", in: MEW, Bd. 1, S. 392 ff.

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sonderen Selbstgefühls" 1 3 der geschichtlichen Akteure und die „kolossale Täuschung" 14 ihrer Ideale in den „großen organischen allgemeinen Revolutionen" 1 5 ein ungewöhnlich wertvolles Material f ü r das Studium des konkreten Verhältnisses von Interesse und Idee. Jaeck schreibt: „ . . . das f ü r die Entstehung des historischen Materialismus konstitutive Problem der Ideologiebildung . . . resultierte [für Marx — d. Vf.] bereits aus dem Wissen u m den Widerspruch zwischen dem erklärten Wollen des gebildeten B ü r g e r t u m s vor der Revolution (Aufklärung) u n d dem tatsächlichen Resultat der Revolution (Konkurrenz, kapitalistische Ausbeutung), den M a r x auch als den — in der Epoche der J a k o b i n e r d i k t a t u r zu äußerster Schärfe zugespitzten — Widerspruch zwischen allgemeinen und besonderen Interessen, Staat und Gesellschaft, Citoyen und Bourgeois, Ideen und Interessen interpretierte." 1 6 Wie k a n n der Marxsche Ansatz von 1843/44 f ü r die Erfordernisse der heutigen Revolutionsforschung praktikabel werden? Anders g e f r a g t : Welche Weiterungen können aus ihm f ü r das spezielle revolutionshistorische Problem der Bündelung unterschiedlicher sozialer T r i e b k r ä f t e in der bürgerlichen Revolution gezogen werden? Zwei H a u p t g e f a h r e n gilt es dabei zu berücksichtigen. Es darf weder etwas in M a r x hineininterpretiert werden, noch können seine späteren Erkenntnisse zum Thema — weit stärker a m empirischen Material orientiert und nicht m e h r „hegelianisch" formuliert — und der Fortschritt der Revolutionsforschung im 19. und 20. Jh. außer acht gelassen werden. Wir glauben, daß diesen G e f a h r e n auf zweierlei Weise ein Riegel vorgeschoben w e r d e n kann. Erstens sollte die Entwicklung des Problems bei Marx über einen relevanten Zeitraum verfolgt w e r d e n ; zweitens m u ß — ohne daß es hier im einzelnen d a r gelegt w e r d e n k a n n — bedacht werden, aus welcher konkreten Situation die jeweilige Arbeit von M a r x entstand, und welchen Inhalt bestimmte Schlüsselbegriffe (bürgerliche Gesellschaft, Interessen, Ideologie, Idee u. ä.) f ü r ihn zu diesem Zeitpunkt hatten. Ein wichtiges Element des Gesamtwerkes von M a r x und Engels ist die historisch-konkrete Untersuchung der Revolutionen vom 16. bis zum 19. Jh. 17 Eine einzigartige historische E r f a h r u n g f ü r die Ausarbeitung der eigenen Theorie sowie Strategie und Taktik stellte die Große Revolution der Franzosen 1 8 dar. Über die intensive zeitgenössische Diskussion u m die französische Julirevo-

13 Ders., Zur Judenfrage, ebenda, S. 357. 14 Engels, Friedrich/Marx, Karl, Die Heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik. Gegen Bruno Bauer und Konsorten, ebenda, Bd. 2, S. 129. 15 Marx, Karl, Kritik des Hegeischen Staatsrechts, ebenda, Bd. 1, S. 260; siehe auch Schmidt, Walter, 1789 und 1848 im historischen Revolutionsvergleich bei Marx und Engels in der Zeit des Vormärz, in: 1789 und der Revolutionszyklus des 19. Jahrhunderts. Dem Wirken Walter Markovs gewidmet, Berlin 1986, S. 115 ff. (Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften der DDR, Gesellschaftswiss. 3 G 1985). 16 Jaeck, S. 4. 17 Kossok, Manfred, Karl Marx und die Grundlegung wissenschaftlicher Revolutionsauffassung, in: Karl Marx und Grundfragen der Revolution in Theorie und Praxis, hrsg. von Manfred Kossok, Leipzig 1980, S. 14. 18 Jaeck, Einleitung. 3 Jahrbuch 39

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lution von 1830 hatte Marx 19 bereits als revolutionärer Demokrat die Unterschiede zwischen den Postulaten der Aufklärung und den Ergebnissen der bürgerlichen Revolution rezipiert und sich somit immer mehr dem Studium der Politik zugewandt. Auch die Bedeutung materieller Bedürfnisse begann er bereits vor 1843 zu erkennen. Das Verhältnis von „Idee" und „Interesse" der Bourgeoisie in der Revolution aber bekam erst in der „Heiligen Familie" jene Fassung, f ü r die sich der Begriff „heroische Illusion" eingebürgert hat. Marx hat ihn expressis verbis in seinen Frühschriften nicht benutzt; auch Engels nicht. Das Problem der „heroischen Illusion" war, analog dem stürmischen wissenschaftlichen und politischen Voranschreiten von Marx in den f r ü h e n 40er J a h ren, eine sich entwickelnde Komponente, auf die er in den historischen Passagen seiner Arbeiten immer wieder zurückkam. Während Marx in der „Heiligen Familie" unter dem Einfluß der Engelsschen Fourier-Rezeption 20 die Blamage der „Idee" gegen Bruno Bauer hervorhob, hat er in der klassischen Formulierung in den Einleitungspassagen zum „18. Brumaire" die Geschichtsmächtigkeit von ideologischen Formen und Traditionen deutlich unterstrichen. Diese Komponente Marxschen Denkens erlaubt also eine Systematisierung unter revolutionshistorischem Aspekt. Der zeitweilige Zusammenfall von „Idee" und „Interesse" der „Nation" in der bürgerlichen Revolution, eben die „heroische Illusion", wird, basierend auf der Einleitungspassage des „18. Brumaire", begrifflich gefaßt und auf die Revolutionsgeschichte angewendet. In dem unter starkem Feuerbach-Einfluß 21 geschriebenen Aufsatz „Zur Judenfrage" fixierte Marx eine Reihe theoretischer Ansätze zur Interpretation der Revolution von 1789. Für die Thesen gilt — wie f ü r die nachfolgenden Arbeiten — mutatis mutandis die Bemerkung Jaecks zur Marxschen Interpretation der Menschen- und Bürgerrechte: sie bedurften keiner regelrechten späteren Revision, sondern einer gegenstandsadäquaten ökonomisch-gesellschaftstheoretischen Begründung. 22 Auf Suche nach der totalen, der „menschlichen Emanzipation" typisierte Marx die bürgerliche Revolution als „politische Emanzipation". 23 Er untersuchte das Verhältnis des „politischen Staates" zur „bürgerlichen Gesellschaft" 2 ' 1 während der Jakobinerherrschaft anhand der Kategorien „citoyen" und „bourgeois". Im Ergebnis konstatierte er eine „optische Täuschung", „ein psychologisches, ein theoretisches Rätsel" im „Bewußtsein der politischen Emanzipatoren". 25 Er faßte die Jakobiner als politische Emanzipatoren. Es geht um die Frage, wieso die Jakobiner 1793, kurz nach ihrem von der Pariser Volksbewegung er19 Kossok, Manfred, Vergleichende Geschichte der neuzeitlichen Revolutionen, Berlin 1981, S. 12 (Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften der DDR, 2 G 1981). 20 Sandkühler, S. 28. 21 Siehe Engels, Friedrich, Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, in: MEW, Bd. 21, S. 272, und Brief von Marx an Engels v. 24.4.1867, ebenda, Bd. 31, S. 290. 22 Jaeck, S. 68. 23 Finger, Otto, Philosophie der Revolution, Berlin 1975, S. 21. 24 Marx, Zur Judenfrage, S. 357 ff. 25 Ebenda, S. 367.

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kämpften Machtantritt, als zwei Drittel des französischen Territoriums von der Konterrevolution oder föderalistischen Revolte erfaßt waren, die „Droits de 1'homme" — von Marx als die „Rechte des Mitglieds der bürgerlichen Gesellschaft, d. h. des egoistischen Menschen"26 bezeichnet — in ihrer „Theorie" anerkannten und gleichzeitig in ihrer revolutionären „Praxis" ernstgemeinte Absichten erkennen ließen, „die chimärische Gleichheit und Brüderlichkeit des politischen Lebens"27 durchzusetzen. Marx maß die politische an der menschlichen Emanzipation. Daraus resultierte für ihn eine „verkehrte" Stellung des Verhältnisses von Theorie und Praxis in den Köpfen der Jakobiner, und für unseren Gegenstand wird eine eigentümliche Fassung des Problems der „heroischen Illusion" deutlich.28 Marx zeigte, daß es einer die Massen mitreißenden Praxis mit Zügen der menschlichen Emanzipation bedurfte, um die Durchsetzung des Klasseninteresses der Bourgeoisie in der „politischen Emanzipation" von der Feudalität zu sichern.29 Er verteidigte wohl die politische Konsequenz und die historische Leistung der Jakobiner, kritisierte aber das Wesen der politischen Emanzipation.30 Er demonstrierte an den Verfassungszielen, an den Menschen- und Bürgerrechten, daß die Jakobiner die Grenze der „politischen Emanzipation" nicht überschreiten konnten.31 Zwar war der Jakobinerstaat in „Momenten des besonderen Selbstgefühls" gezwungen, „seine Voraussetzungen, die bürgerliche Gesellschaft und ihre Elemente", zu unterdrücken32 und eine ideale Gemeinschaft „guter" citoyens anzustreben, gleichzeitig mußten die Jakobiner in der freigesetzten bürgerlichen Gesellschaft diesen citoyen notwendig „zum Diener des egoistischen homme"33 erklären. Das Idealbild des citoyen stand für die heroische Selbsttäuschung der Akteure von 1793/94; für Marx stand auf ihrer Seite ein „weltgeschichtlicher Irrtum, aber kein persönlicher".34 Diese Selbsttäuschung war für den Sieg der Revolution (objektiv) notwendig. Sie äußerte sich besonders deutlich in den Ziel Vorstellungen. Diese bekamen so von der „Nation" akzeptable und auch zeitweilig akzeptierte Inhalte sowie eine den Werten und dem Formempfinden der Zeit entsprechende Gestalt. In diesem Sinne gehen übergreifende Ebenen der heroischen Illusion (die langfristig ideologische Legitimierung der Hegemonie in Gestalt der Antikerezeption, Traditionen, überhaupt ideologische Orientierungen) und ihre konkrete sozial-politische Funktion (Bündelung der Triebkräfte, Ausrichtung auf ein Ziel) ineinander über. In der heroischen Illusion von 1793/94 floß die Erkenntnis der Größe der heroischen Aufgabe mit der Stimulierung des revolutionären Kampfelans zusammen. Selbstanfeuerung der Jakobiner und 26 27 28 29

30 31 32 33 34 3*

Ebenda. Jaeck, S. 62. Siehe Klenner, Marxismus und Menschenrechte. Zum vieldiskutierten Problem dieser Zeit, ob die Jakobinerdiktatur der Beginn oder die Vorstufe einer sozialen Bewegung im Interesse des Proletariats gewesen sei — wie Engels noch 1845 annahm (vgl. Das Fest der Nationen in London, in: MEW, Bd. 2, S. 612 f.) siehe unten Anm. 99. Marx, Zur Judenfrage, S. 364. Ebenda, S. 356. Ebenda, S. 357. Ebenda. Ebenda, S. 381.

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Enthusiasmierung der Sansculotten ergänzten sich bis zu stoischem Republikanismus. Marx deutete damit die Funktion der von den Jakobinern vertretenen Ideen für die Verbindung des Klasseninteresses der Bourgeoisie mit den antifeudalen Interessen aller Nichtprivilegierten (gefaßt als „Nation") an und erkannte, davon ausgehend, 1845/46 auch „Ideale und Utopismen als echte, historisch notwendige Selbsttäuschungen über wahre Klasseninteressen"35. Allen jenen von der Aufklärung „vorgegebenen" und von den Jakobinern „umgearbeiteten" Parolen der Revolution war nicht nur das Klasseninteresse der Bourgeoisie in allgemeiner Form inhärent( abgesehen von den utopisch-egalitären Komponenten der Aufklärung), im Laufe der Revolution konnten an ihren Idealen auch „alle Spannungsgrade revolutionären Umsturzwillens"38 ansetzen. Aber so unterschiedliche soziale Interessen die verschiedenen Klassenkräfte den Ideen auch unterlegten, so sehr auch die Jakobiner um Robespierre bemüht waren, „sich auf das Volk zu stützen", und das politische Interesse der Revolution beschworen, im Ergebnis stand die „menschliche Selbstbefreiung unter der Form der politischen Selbstbefreiung"37, womit Marx die bürgerliche Revolution durchaus als historischen Fortschritt erfaßte. Der stoische Republikanismus der Aufstiegsphase der Revolution mußte nun dazu dienen, die nackte Realität der bürgerlichen Gesellschaft zu ertragen. In Paris 1844 rezipierte Marx den Begriff Klasse und verband ihn mit der Präzisierung seiner Revolutionskonzeption.38 Hatte Marx in der „Judenfrage" das allgemeine Ziel, die „menschliche Emanzipation", formuliert39 und in allgemein-abstrakter Form wichtige Phänomene des Verhältnisses von Interesse und Idee fixiert, so analysierte er in der Einleitung zur „Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie" die sozialen Voraussetzungen der kommenden Revolution.40 Diese Problemstellung, der Klassenbegriff und die Gegenüberstellung von „deutschen" und „französischen" Zuständen ermöglichten es ihm, den Erfolg der Französischen Revolution zu erklären.41 In der „Judenfrage" hatte Marx auch den „Momenten [des] . . . noch jugendfrischen und durch den Drang der Umstände auf die Spitze getriebenen Enthusiasmus"42 besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Er wies damit zum ersten Mal auf die emotionale Seite in der Verbindung zwischen Hegemonie und Triebkräften hin. Damit ist ein wesentlicher Aspekt der Akzeptanz der Hegemonie erfaßt: Das Verhältnis der Führungskräfte zum Volk war wesentlich rational, das der Volkskräfte zum Hegemon wesentlich emotional. Enthusiasmus war ein Schlüsselbegriff der literarisch-philosophischen Debatte jener Zeit und bezeichnete geschichtliche Leidenschaft, die sich über private Interessen erhebt und auf 35 Jaeck, S. 68. 36 Markov, Walter, Die Brücke der Aufklärung* in: Ders., Weltgeschichte im Revolutionsquadrat, hrsg. von Manfred Kossok, Berlin 1979, S. 71. 37 Marx, Zur .Judenfrage, S. 357. 38 Jaeck, S. 68 f. 39 Finger, S. 32. 40 Höppner, Joachim, Einleitung zu: Deutsch-Französische Jahrbücher, hrsg. von Arnold Rüge und Karl Marx, Leipzig 1973, S. 47. 41 MEGA2, Bd. 1/2, Einleitung, S. 31 f. 42 Marx, Zur Judenfrage, S. 367.

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die selbstlose Verwirklichung von Ideen gerichtet ist/'3 Marx hat diesen Begriff als Element der „heroischen Illusion" immer benutzt. Bei Théodore Dézamy hatte Marx aber dessen Sentenz: „ . . . selbstlose Hingabe ist zweifellos schön, aber sie ist unserer Natur wenig gemäß; sie ist ein fiebriger, gewaltsamer und künstlicher Zustand, der solange anhält wie die Krise",44 wiederholt unterstrichen. In der „Einleitung" baute er diesen Gedanken zur These von der materiellen Verankerung der Ideen und des Enthusiasmus und der Revolution selbst aus. „Die Revolutionen bedürfen nämlich eines passiven Elements, einer materiellen Grundlage. Die Theorie wird im Volk immer nur soweit verwirklicht, als sie die Verwirklichung seiner Bedürfnisse ist."45 Wenn hier auch noch nicht von ökonomischen Interessen die Rede ist, so umreißt doch Marx eine Erkenntnis, die von den Führungskräften bürgerlicher Revolutionen bei Strafe ihres Unterganges erst in der Praxis erworben werden mußte. Die Freiheit der Rede, neue Rechte oder Institutionen machten noch keinen Menschen satt. Eine Revolution, sollte sie politisch radikal sein, mußte stets auch eine „Revolution radikaler Bedürfnisse"46 sein. Andererseits hatte Marx auch erkannt, daß iim Prozeß der bürgerlichen Revolution die Bourgeoisie nicht nur illusorisch im Interesse des Volkes auftrat, sondern mit den eigenen antifeudalen Interessen bedingt auch die Interessen von Teilen der Bevölkerung (Bauern) gegen den Adel durchsetzte, bzw. daß die jakobinischen Führungskräfte oftmals im Interesse der Sansculotten Maßnahmen gegen die Bourgeoisie ergreifen mußten. Jugendfrisch war der Enthusiasmus der französischen Bourgeoisie 1789, weil sie das Ausmaß der kommenden Kämpfe kaum ahnen konnte und weil sie ihr Klasseninteresse und das Interesse aller Nichtprivilegierten 1789 an die Spitze der Bewegung brachte. „Nation" gegen Ancien Régime. Die Bourgeoisie als Korrelat des gesellschaftlichen Fortschritts konnte so über Ideologen, Klubs und politische Vertreter als Hegemon der revolutionären Bewegung auftreten, wurde als solcher anerkannt und band die Interessen aller anderen Klassen und Schichten an das antifeudale Grundinteresse. Der Grundwiderspruch und die Frage Revolution und Konterrevolution verdeckten als Antiaristokratismus, Republikanismus oder Einheit der „Nation" die Widersprüche im Dritten Stand. Damit erst erwiesen sich die Wirklichkeit des Hegemonieanspruchs und die Bündnisbereitschaft der Bourgeoisie, damit erst konnte die „Nation" von den Advokaten, Journalisten und Politikern wirklich vertreten und geführt werden. Allerdings bestand der „Enthusiasmus" der Bourgeoisie — immer in der Verallgemeinerung als Gesamtklasse — wohl mehr darin, die Verhältnisse in ihrem Interesse „vernünftig" (worunter einzelne Fraktionen durchaus Unterschiedliches verstanden) zu gestalten. Der „Enthusiasmus" der fortgeschrittenen Teile der Volksmassen ging unter der Führung der Jakobiner dann so weit, die revolutionären Mittel bis zum Terror sowie zum revolutionären Krieg und damit die einmal begonnene Umwälzung bis zu jenem Punkt zu treiben, wo sie nicht mehr rückgängig zu machen war. 43 Jaeck, S. 62. 44 Dézamy, Theodore, Code de la Communauté, Paris 1842, S. 28, zit. nach Jaeck, S. 62. 45 Marx, Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie. Einleitung, in: MEGA2, Bd. 1/2, S. 178. 46 Ders., Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie, S. 387.

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Unter dem Eindruck der modernen Mentalitätsforschung'17 müssen aus dem Marxschen Ansatz des „Enthusiasmus" differenzierte Folgerungen gezogen werden. Faßt man unter diesem Enthusiasmus auch Interessenbewußtsein (was durchaus manipulierbar ist), Mentalitäten, Alltagsgefühl und -bewußtsein der Revolutionäre, oder ist es nur die emotionale Seite der Ideologie, die mit dem Ende der Revolution zusammenbricht? Daß im Laufe der Revolution die Einheit des Dritten Standes durch einzelne Fraktionen der Bourgeoisie zerrissen wurde, lastete Marx damals noch dem „Egoismus" der bürgerlichen Gesellschaft,48 ihrem Widerspruch zum „Allgemeininteresse" an. Dieses Allgemeininteresse an der Revolution wurde für Marx von einer radikalen Führungsgruppe „politischer Emanzipatoren"'*9 vertreten, die mit politischem Enthusiasmus die Revolution vorantrieben. Damit deutete er die für die Revolutionsgeschichte wichtige Erkenntnis an, daß die Hegemonie durch eine Gruppe von Hegemonieexponenten ausgeübt wurde, deren politische Interessen eine bestimmte Eigenständigkeit haben, und daß diese Führungspersönlichkeiten der „heroischen Illusion" bis zu einem bestimmten Grade einen persönlichen Stempel aufdrückten.50 Bei dem Stand seiner ökonomischen Studien allerdings und der Verwendung des Feuerbachschen Menschen-Begriffs51 konnte Marx zwar die Widersprüche an der Oberfläche des revolutionären Prozesses, ihre dialektische Verknüpfung markieren, aber noch nicht die treibenden ökonomischen Kräfte des Enthusiasmus und die Verknüpfung sozial-ökonomischer und politischer Klasseninteressen fixieren. In der Einleitung zur „Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie" fragte Marx danach, worauf eine „teilweise, eine nur politische Revolution" im sozialen Sinne beruhe. Er antwortete: „Darauf, daß ein Teil der bürgerlichen Gesellschaft sich emanzipiert und zur allgemeinen gelangt, darauf, daß eine bestimmte Klasse von ihrer besondern Situation aus die allgemeine Emanzipation der Gesellschaft unternimmt."52 Die Allgemeinheit des Ausdrucks „besondere Situation" zeigt, wie wenig dieser hier verwandte Klassenbegriff schon „marxistisch"53 ist, und daß Marx noch nicht von der Bindung der Entwicklungsstufen der Gesellschaft an sozialökonomische Grundprozesse ausgeht. Bis zur „Heiligen Familie" maß er der Kategorie „materielle Interessen" kaum Bedeutung bei.y' Er unterstrich allerdings klar die Relevanz der Eroberung der politischen Macht im Interesse der fortgeschrittensten Klasse der bürgerlichen Gesellschaft. Wenn Marx schrieb, daß „Revolution eines Volkes und die Emanzipation einer besondern Klasse"55 zusammenfallen müssen, so zielte er auf die Gesetzmäßigkeit des Vorganges und die Bedeutung eines Bündnisses zwischen Bourgeoisie und Volks47 Vovelle,

Michel,

La mentalité révolutionnaire, Paris 1985.

48 Marx, Zur Judenfrage, S. 366. 49 Ebenda.

50 Massin, Jean, Robespierre, Berlin 1976, S. 385.

51 Marx, Karl/Engels, Friedrich, Die deutsche Ideologie, in: MEW, Bd. 3, S. 217 f. 52 Marx, Zur Judenfrage, S. 388.

53 Jaeck, S. 69. 54 Höppner, Joachim, Marx und das Materialismusproblem bei Fourier, in: Bürgerliche Gesellschaft und theoretische Revolution, hrsg. von Manfred Hahn und Hans Jörg Sandkühler, Köln 1978, S. 182 f. 55 Marx, Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie, S. 388.

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massen ab. Wichtig erscheint in diesem Zusammenhang die Bindung des Begriffs „Revolution" an „Volk" in bezug auf die für die Emanzipation der Bourgeoisie notwendigen Mittel. Offen bleibt die Frage, ob Marx die Bourgeoisie zur Kategorie Volk rechnete. An dieser Stelle sind einige Worte zur Akzeptanz der Hegemonie notwendig. Aus den Ereignissen kann man schließen, daß die Bourgeoisie von der Masse des Volkes als Hegemon akzeptiert wurde, indem sie die Gesamtinteressen der Nation artikulierte. Im Verlaufe der Revolution mußten sich die Ideen und Zielvorstellungen radikalisieren. Bei dem vielschichtigen Problem aber, wie diese Ideen und die Führung bourgeoiser Kräfte konkret „angenommen" oder abgelehnt wurden (wichtig für die Erforschung der Konterrevolution), existieren empfindliche Forschungslücken. Hier zeigt sich in der Theorie immer noch der Abstand zur Frage der Geschichtsmächtigkeit von Illusionen und ihre vorzeitige Denunzierung als „falsches Bewußtsein". Auch der Mangel an empirischen, von theoretischen Fragestellungen ausgehenden Untersuchungen zur konkreten Entstehung politischer Bewegungen unter dem Einfluß der „heroischen Illusion", kurz: über die historische Dimension der Umsetzungen von Ideologie(n) und Weltanschauung(en), wird deutlich. Das verwundert um so mehr, als sich bei Marx, auch beim „reifen" Marx, alle Ansätze für Forschungen in diesen Bereichen finden lassen. 56 Marx nahm in der „Einleitung" zum ersten Mal Bezug auf das Problem der vertikalen sozialen Mobilität in der bürgerlichen Revolution: „Diese Klasse befreit die ganze Gesellschaft, aber nur unter der Voraussetzung, daß die ganze Gesellschaft sich in der Situation dieser Klasse befindet, also z. B. Geld und Bildung besitzt oder beliebig erwerben kann."57 Er meinte damit den „Aufstieg" von Teilen der unteren Volksklassen („Tüchtige") in die neue herrschende Klasse unter den von der Bourgeoisie diktierten neuen Verhältnissen, Verhaltensmustern und Werten. Seine späteren Hinweise zu diesem Problem („Deutsche Ideologie"68) berechtigen zur These, daß dieses Interesse am „Aufstieg" ein starkes Motiv für die Bindung an die Interessen der Bourgeoisie und eine objektive Basis für die „heroische Illusion" in den Umbruchzeiten der Revolution war. Die Hinweise von Marx auf die Bedeutung von Klassenbündnis, revolutionären Mitteln und sozialer „Blutauffrischung" zeigen, daß für ihn die bürgerliche ,,politische" Revolution weit mehr als nur die Revolution der Bourgeoisie war. 59 Als unumgänglich für die Machtübernahme durch den jeweiligen Hegemon oder „Emanzipator" 60 stellte Marx heraus: „Keine Klasse der bürgerlichen Gesellschaft kann diese Rolle spielen, ohne ein Moment des Enthusiasmus in sich und in der Masse hervorzurufen, ein Moment, worin sie mit der Gesellschaft im allgemeinen fraternisiert und zusammenfließt, mit ihr verwechselt und als deren allgemeiner Repräsentant empfunden und anerkannt wird, ein Moment, worin 56 Siehe die Einleitung zu „Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte", in: MEW, Bd. 8, S. 115 ff. 57 Marx, Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie, S. 388. 58 Siehe unten S. 42 ff. und Marx/Engels, Die deutsche Ideologie, S. 47. 59 Kossok, Vergleichende Geschichte, S. 16. 60 Marx, Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie, S. 390.

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ihre Ansprüche und Rechte in Wahrheit die Rechte und Ansprüche der Gesellschaft selbst sind, worin sie wirklich der soziale Kopf und das soziale Herz ist. Nur im Namen der allgemeinen Rechte der Gesellschaft k a n n eine besondere Klasse sich die allgemeine Herrschaft vindizieren." 6 1 Aber, f ä h r t Marx f o r t : „Zur politischen Ausbeutung aller Sphären der Gesellschaft im Interesse der eigenen Sphäre reichen revolutionäre Energie und geistiges Selbstgefühl allein nicht aus." 02 Der Gegensatz, der Grundwiderspruch, hier noch wesentlich als politischer und sozialer gefaßt, zum französischen Adel w a r die äußere Klammer f ü r das Bündnis von Hegemon und Triebkräften. Marx gab hier eine Vorform seines Verständnisses von heroischer Illusion, die er an dieser Stelle noch u n differenziert mit „Moment des Enthusiasmus" bezeichnete und im wesentlichen mit psychologischen bzw. anthropologischen Termini beschrieb. In der Erklär u n g der „Idee" überwog f ü r ihn noch die Leidenschaft. In Paris studierte Marx die Geschichte der Revolution von 1789 und intensivierte seine ökonomischen Studien (was seinen konzentrierten Ausdruck in den ökonomisch-Philosophischen Manuskripten fand). Hatte er in der „Einleitung" Klassen u n d Revolution noch wesentlich politisch bestimmt, 6 3 so baute er die abstrakte Gegenüberstellung von politischer und sozialer Revolution auch begrifflich mehr und m e h r am historischen Material ab. „Jede Revolution löst die alte Gesellschaft a u f ; insofern ist sie sozial. Jede Revolution stürzt die alte Gewalt; insofern ist sie politisch ... Die Revolution ü b e r h a u p t — der Umsturz der bestehenden Gewalt und die Auflösung der alten Verhältnisse — ist ein politischer Akt." 64 In diesem R a h m e n erarbeitete Marx auch Erklärungen des Hervorgehens der „Selbstüberhebung des politischen Wesens" 65 aus dem Aufklärungsdenken und seiner Wirkungsweise in der Revolution. Darin spiegelte sich die konkretere Fassung politischer u n d sozialer Momente seiner Revolutionskonzeption wider. „Die klassische Periode des politischen Verstandes", schrieb er, „ist die französische Revolution.',66 „Weit entfernt, im Prinzip des Staats die Quelle der sozialen Mängel zu erblicken, erblickten die Heroen der französischen Revolution vielmehr in den sozialen Mängeln die Quelle politischer Übelstände. . . . Das Prinzip der Politik ist der Wille. J e einseitiger, das heißt also, je vollendeter der politische Verstand ist, u m so m e h r glaubt er an die Allmacht des Willens, u m so blinder ist er gegen die natürlichen und geistigen Schranken des Willens, u m so unfähiger ist er also, die Quelle sozialer Gebrechen zu entdecken." 6 7 Diese Sentenz ist den „Emanzipatoren", wie Robespierre, auf den Leib geschrieben, die in Akten republikanischen Willens die „Nation", auf dem Höhepunkt der J a k o b i n e r d i k t a t u r verstanden als politische Einheit aller „guten Bürger" 6 8 , gegen innere und äußere Feinde f ü h r t e n . In der „Heiligen Familie" von 1845 setzte sich Marx — von ihm stammen die 61 62 63 64 65 66 67 68

Ebenda, S. 388. Ebenda. Jaeck, S. 81. Marx, Kritische Randglossen, S. 409. Ders., Zur Judenfrage, S. 357. Ders., Kritische Randglossen, S. 400. Ebenda, S. 402. Massin, S. 131, 349.

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Passagen zur Französischen Revolution 69 — vor allem mit der Reduzierung des Reichtums der Hegeischen Dialektik durch den junghegelianischen Kreis 70 u m Bruno Bauer auf das elitäre Konzept der Gegenüberstellung von „Geist" und „Masse" auseinander. Es ist, schrieb Marx, „ferner genau zu unterscheiden, inwieweit die Masse sich f ü r Zwecke interessierte' und inwieweit sie sich f ü r dieselben enthusiasmierte'. Die Idee blamierte sich immer soweit sie von dem ,Interesse' unterschieden war. Andererseits ist es leicht zu begreifen, daß sich jedes massenhafte, geschichtlich sich durchsetzende ,Interesse', wenn es zuerst die Weltbühne betritt, in der ,Idee' oder ,Vorstellung' weit über seine wirklichen Schranken hinausgeht und sich mit dem menschlichen Interesse schlechthin verwechselt. Diese Illusion bildet das, was Fourier den Ton einer jeden Geschichtsepoche nennt." 71 Marx verwendete hier das Prinzip des materiellen Interesses, er stützte sich dabei auf seine Studien zur Französischen Revolution und verwies direkt auf Fourier, der den „Überbaucharakter entsprechender Illusionen ahnte". 72 Marx begriff die „Idee" oder die ideologischen Formen bzw. Ausdrucksformen jetzt als durchaus gesetzmäßiges Korrelat einer bestimmten Entwicklungsstufe der Gesellschaft, 73 als deren Fahnenworte „Freiheit und Gleichheit" das Zentrum in einem ganzen ideologischen System bildeten. Er hat diesen ideologischen Formen aber auch als „heroische Illusion" in der Revolution einen besonderen Stellenwert eingeräumt. Marx gab in der Analyse der Revolution der Kategorie „Interesse" eine ökonomische Fundierung, indem er sie mit der materiellen Existenzweise einer sozialen Klasse7'* — Träger der neuen Gesellschaftsordnung — verband. Das heißt aber nicht, daß er in dem „massenhaften, geschichtlich sich durchsetzenden .Interesse' ", das in der „ ,Idee' . . . weit über seine wirklichen Schranken hinausgeht und sich mit dem menschlichen Interesse schlechthin verwechselt", im speziellen Fall der Französischen Revolution ausschließlich profanes Klasseninteresse im Sinne des „ökonomischen Berufs" der Bourgeoisie sah. Der Kern dieses Interesses in der Revolution war geprägt vom zeitweiligen wirklichen Zusammenfall von politischem Klasseninteresse der Bourgeoisie und Nationalinteresse75 in der Form einer notwendigen Selbsttäuschung. Marx hat diesen Gedanken in der „Deutschen Ideologie" im Zusammenhang mit dem Klassenbegriff vertieft: „Die revolutionierende Klasse tritt von vornherein, schon weil sie einer Klasse gegenübersteht, nicht als Klasse, sondern als Vertreterin der ganzen Gesellschaft auf, sie erscheint als die ganze Masse der Gesellschaft gegenüber

69 Jaeck, S. 108. 70 Siehe auch Die Hegeische Linke. Dokumente zu Philosophie und Politik im deutschen Vormärz, hrsg. von Ingrid und Heinz Pepperle, Leipzig 1985. 71 Engels/Marx, Die heilige Familie, S. 85. 72 Höppner, Marx und das Materialismusproblem, S. 182. 73 Diesen Ansatz hat Marx konkret an den Begriffen Freiheit und Gleichheit z. B. in den „Grundrissen" durch die Ergebnisse seiner ökonomischen Studien vertieft und auf der Grundlage des Tauschwertes behandelt, siehe Marx, Karl, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 1974, S. 156 u. 916. 74 Jaeck, S. 109. 75 Kossok, Vergleichende Geschichte, S. 16.

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der einzigen herrschenden Klasse."76 In einer Randbemerkung dazu heißt es: „Die Allgemeinheit entspricht... der Illusion der gemeinschaftlichen Interessen [im Anfang diese Illusion wahr]."77 Die Bindung des Begriffs „Enthusiasmus" an die Volksbewegung stellt einen entscheidenden Unterschied zu den Passagen in der „Einleitung" dar, bildet aber zugleich mit der dort erfolgten Hervorhebung der Volksrevolution eine Einheit. Nur unter der Hegemonie der Bourgeoisie (in der progressiven Abfolge ihrer Fraktion) war die Bündelung der Triebkräfte zu einem „antifeudalen Block" (Albert Soboul) solange möglich, bis die Revolution unumkehrbar war. Ideologische Grundlagen, Traditionen, Kunstformen, Propaganda, Feierlichkeiten, Orientierungen, Mentalitäten, Einheitsbegriff und Ziel,,vorgaben", revolutionäre Energie und Alltagsgefühl, in denen sich das „Interesse" der Bourgeoisie und der „Enthusiasmus" des Volkes konkret und durchaus bewußt gewählt artikulierten, bildeten ein ideologisches System um die — von den verschiedenen Formen der „politischen Aufklärung" 78 entwickelte und als Wert verbreitete — allgemein-menschliche „Idee" von Vernunft, Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Allerdings muß man bei der heroischen Illusion zur Zeit der Jakobinerdiktatur mit ihrer Instrumentierung der Kunst und Kultur auf das ausgesprochen selektive Verhältnis zur Aufklärung verweisen. Damit wurde nach dem langen ideologischen Prozeß der Formulierung des Führungsanspruchs die Einheit der „Nation" unter der legitimierten Hegemonie der Bourgeoisie verwirklicht. Diese Illusion war auch eine politische, wie Jaeck es ausdrückt, vor allem aber eine „heroische Illusion", indem sie den Kampf der revolutionären Kräfte auf der Höhe ihrer Aufgaben hielt, sie die Dramatik und Tragik der Revolution selbst sowie den Widerspruch zu den tatsächlichen Verhältnissen der bürgerlichen Gesellschaft ertragen ließ. Diese Illusion „erwartete die soziale Harmonie und Gerechtigkeit von politischer Freiheit und Gleichheit sowie vom politischen Willen, der sich als volonté générale durch Erziehung zum vernünftigen Urteil und Zählung aller Stimmen bilden sollte, wie es Rousseau gelehrt hatte".7" Dieses Ziel ließ die Jakobiner „ihre" Revolution als einen „totalen" Umbruch erkennen. Im römisch-antik gedachten Staatswesen überbot sich, nach Marx, die politische Aufklärung selbst und wurde überschwenglich.80 Dieser antik geformte moderne Staat über der entstehenden kapitalistischen Basis war nur temporär, mit Tugend und Terror, aufrechtzuerhalten. Das Klasseninteresse, verstanden als dürres bürgerliches Durchschnittsinteresse, konnte sich erst nach der Jakobinerdiktatur und der „Erfahrung Volksrevolution" durchsetzen und zeigen. „Die Bourgeoisie beginnt also ihr Regiment",81 schrieb Marx. Die Desillusionierung der Bourgeoisie, nicht nur des Durchschnittsbourgeois, sondern auch von Wortführern und Vollblutpolitikern wie Bertrand Barère, Jacques Pierre Brissot oder Georges Danton, hatte schon lange vorher eingesetzt. Der Alltag bestimmte nach der Jakobinerdiktatur das Denken des Bourgeois, die 76 77 78 79 80 81

Marx/Engels, Die deutsche Ideologie, S. 47 f. Ebenda. Diess., Die heilige Familie, S. 129 f. Jaeck, S. 117. Engels, Marx, Die heilige Familie, S. 129. Ebenda, S. 130.

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Idee als nunmehrigen adäquaten Ausdruck ihrer wirklichen Interessen, es richtete sich nach dem Wirken der „wesentlichsten materiellen Interessen, Handel und Industrie". 82 Und die Blamage der „Idee"? Sie hat tragische Züge für die Revolutionäre. Werner Krauss meinte in einem Utopie-Essay über Antoine Saint-Just, einen der wesentlichen Träger der „heroischen Illusion" : „In SaintJusts nachgelassenen Fragmenten vermischen sich Gedanken von kühnem politischen Realismus mit solchen, die ganz und gar ins Utopische zurückfallen." 83 Utopie ist nicht heroische Illusion. Marx schrieb weiter: „Das Interesse der Bourgeoisie in der Revolution von 1789, weit entfernt ,verfehlt' zu sein, hat alles , g e w o n n e n ' und hat den ,eingreifendsten' Erfolg gehabt, so sehr der ,Pathos' verraucht und so sehr die ,enthusiastischen' Blumen, womit dieses Interesse seine Wiege bekränzte, verwelkt sind. Dieses Interesse war so mächtig, daß es die Feder eines Marat, die Guillotine und das Vollblut der Bourbonen siegreich überwand. .Verfehlt' ist die Revolution nur für die Masse, die in der politischen ,Idee' nicht die Idee ihres wirklichen Interesses besaß, deren wahres Lebensprinzip also mit dem Lebensprinzip der Revolution nicht zusammenfiel, deren reale Bedingungen der Emanzipation wesentlich verschieden sind von den Bedingungen, innerhalb deren die Bourgeoisie sich und die Gesellschaft emanzipieren konnte. Ist also die Revolution, die alle großen geschichtlichen Aktionen repräsentieren kann, verfehlt, so ist sie verfehlt, weil die Masse, innerhalb deren Lebensbedingungen sie wesentlich stehenblieb, eine exklusive, nicht die Gesamtheit umfassende, eine beschränkte Masse war. Nicht weil die Masse sich für die Revolution enthusiasmierte' und interessierte', sondern weil der zahlreichste, der von der Bourgeoisie unterschiedene Teil der Masse in dem Prinzip der Revolution nicht sein wirkliches Interesse, nicht sein eigentümliches revolutionäres Prinzip, sondern nur eine ,Idee', also nur einen Gegenstand des momentanen Enthusiasmus und einer scheinbaren Erhebung besaß. Die 1789 erreichte einmalige Konkordanz von allgemeiner „Idee" und bürgerlichem „Interesse" ist eine der Gründe für die Klassizität und damit Unwiederholbarkeit der Großen Französischen Revolution. Gegenüber der morbiden Welt des Ancien Régime ist das von den „lumières" entwickelte und allerdings verklärte Reich der Bourgeoisie Sammelpunkt aller objektiv antifeudalen Kräfte "und zugleich Quelle mobilisierender Hoffnungen, Illusionen und (Selbst-)Täuschungen über Weg und Ziel der kommenden, vorerst indes bestenfalls erahnten Klassenkämpfe. Nur so aber körinen als unabdingbare Voraussetzung für den späteren Erfolg „Revolution eines Volkes und die Emanzipation einer besondern Klasse"*'' zusammenfallen. Hinter dieser prägnanten Kurzfassung der Wirkungsweise der Dialektik von Hegemon und Volksbewegung verbirgt sich ein ganzes Bündel komplizierter gesellschaftlicher Bedingungen für dann ein82 Ebenda, S. 131. 83 Krauss, Werner, Überblick über die französischen Utopien von Cyrano de Bergerac bis zu Etienne Cabet, in: Ders., Die Innenseite der Weltgeschichte. Essays, hrsg. von Helga Bergmann, Leipzig 1983, S. 228. S4 Engels/Marx, Die heilige Familie, S. 85 f. 85 Marx, Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie, S. 388.

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tretende Bewegungsabläufe. Die spätere Einschätzung von Friedrich Engels: „Die Bourgeoisie ist, im besten Falle, eine unheroische Klasse. Selbst ihre glänzendsten Errungenschaften, die englischen des 17. Jahrhunderts und die französischen des 18. Jahrhunderts, hat nicht sie sich erkämpft, sondern die plebejische Volksmasse für sie, die Arbeiter und Bauern", 86 würde ohne simultane Beachtung des Phänomens, daß gerade in der Aufstiegsphase dieser Klasse ihre herausragendsten Vertreter noch über Jahrhunderte aus dem „Durchschnitt" eben ihrer Klasse heraustreten konnten, die Realität einseitig widerspiegeln. Ähnliches gilt für die Volksmassen, die keineswegs für den Kampf um dieses Endergebnis angetreten waren. Es wäre zu simpel, anzunehmen, daß z. B. das Tugend- und Terrorsystem der Jakobiner und deren intellektueller Selbstbetrug mittels des Rückgriffs auf die römische Antike in den Massen „außer" der Zustimmung zur konsequenten Bestrafung der Konterrevolution und der Freude am kurzzeitig versüßten Alltag während der republikanischen Feste andere nennenswerte revolutionäre Potenzen freigesetzt hätte. Sie hatten vielmehr sehr handgreifliche Interessen, und die Revolution dünkte ihnen das Vehikel, solche Ambitionen durchzusetzen: „Die Revolution geschah für das Volk, das Glück des Volkes ist ihr Ziel; die Liebe zum Volk ist der Prüfstein für die revolutionäre Gesinnung."87 Nachgeborene wußten, daß dieser Anspruch illusionär war. Der Zeitgenosse mußte es anders sehen, und es scheint aus diesem Grund problematisch und weiterer Überlegungen wert, Theorien oder Ideen als falsch, verdreht oder utopisch zu bezeichnen, die im gegebenen Augenblick richtige Verhaltensweisen und einen engen Verbund der Volksbewegung mit jenen bürgerlichen Führern bewirkten, von denen sie sich eine Erfüllung ihrer z. T. utopisch verschlüsselten Sehnsüchte versprachen. Indem Marx schon früh den Freiheitsideen der Bourgeoisepoche einen materialistischen Festkern und den Kategorien „Interesse" und „Idee" eine ökonomische Fundierung gab, erhielt die „heroische Illusion" neben der ideellen ihre materielle Begründung. Die von Karl Marx im Frühwerk erkannte Bündelung von bourgeoisem Klasseninteresse und plebejischer Massenbasis der Revolution verlieh der „heroischen Illusion" die Funktion einer transitorischen Größe. Ihr weltgeschichtliches Optimum realisierte sich bereits im Jahre II, wo die notwendige Selbsttäuschung der Klassen und Schichten am ausgeprägtesten war. Deshalb war Saint-Justs resignierende Bemerkung von der „révolution glacée" nichts anderes als Ausdruck der Tatsache, daß „heroische Illusion" und Enthusiasmus der Volksmassen — beide Kategorien unabdingbar, damit sich in der menschlichen Geschichte überhaupt etwas „bewegt" — ihren Gipfelpunkt überschritten hatten und sich voneinander zu lösen begannen. Bis dahin aber gelang es vor allem den Robespierristen dank dieser „heroischen Illusion", das bürgerliche Klasseninteresse mit dem Nationalinteresse zum Gesamtinteresse der Revolution zu verschmelzen. Dadurch erhält auch die Einschätzung von Friedrich Engels aus dem Jahre 1895 (!), der die Revolutionen des 18. und 19. Jh. auch

86 Engels, Friedrich, Die „Krisis" in Preussen, in: MEW, Bd. 18, S. 291. 87 Instruktion für die republikanischen Behörden des Departements Rhone et Loire. Zit. nach Markov, Walter, Revolution im Zeugenstand. Frankreich 1789—1799, Bd. 2, Leipzig 1982, S. 538.

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d a n n als Revolutionen von Minoritäten begriff, wenn die Majorität mittat, 88 ihren tieferen Sinn. Spätere Forschungsergebnisse haben diese f ü r die komparative Methode essentielle Aussage weiter erhärtet und die Grundlage f ü r eine Sicht mitgeschaffen, der Beckmesserei so f r e m d ist wie unangebrachte Heroisierung. Insofern kann der Vorwurf, die Historiker der Linken hätten Wachstum und politisches Gewicht des französischen Industrieproletariats immer überhöht dargestellt, 89 und die (ernüchternde?) Feststellung, selbst in der Großen Französischen Revolution habe die Mehrheit des Volkes eher unter bzw. neben der Revolution, statt „mit ihr" gelebt, 90 weiterer Arbeit nur förderlich sein. Uns scheint, daß in dieser Engelsschen Sentenz und in der heute allseits geteilten Anerkennung des Charakters der 1789 eröffneten Epoche als Epoche des Aufstiegs und 'des vollen Sieges der Bourgeoisie 91 ein wichtiger erkenntnistheoretischer und noch längst nicht ausgeschriebener Aspekt f ü r ein noch tieferes Verständnis der Geschichte des 19. Jh. gegeben ist. Denn von dem Historiker verlangt die Verwendung des Epochebegriffs u. a. zu berücksichtigen, daß der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit folglich in diesem Zeitraum noch nicht zur Lösung drängte, wie eine partielle Bündnisfähigkeit bürgerlicher Klassenkräfte sogar bis über die Grenzscheide „Pariser Commune" ja auch belegt, die politischen und ökonomischen Krisen des 19. Jh. das kapitalistische System in der Substanz noch nicht gefährdeten und alle Bestrebungen und Klassenkämpfe der Zeit daher fast zwangsläufig in qualitativen Veränderungen zugunsten des Kapitalismus einmündeten oder — unter dem Aspekt der proletarischen Emanzipation — (unverzichtbare) antizipatorische Funktion besaßen. Historischer Ort und reale Möglichkeiten der Erfolgsaussichten einer häufig versuchten „zweiten Revolution" und damit der Volksbewegung werden f ü r die Untersuchung gleichfalls durch den Charakter der Epoche bestimmt, auch dann, wenn instinktives Weiterdrängen oder programmatische Plattformen 9 2 schon historisch neue Ufer und bessere Zeiten anvisierten. Aber es hieße schon aus diesem Grund einer falschen Problemsicht aufsitzen, würde man deshalb einfach vom „Scheitern der Volksbewegung" sprechen. 93 Sie gilt es vielmehr stärker danach zu befragen, wie sie sich organisierte und manifestierte, w a r u m sie wann was erreichte und worin ihr spezifischer Beitrag zur Beförderung des historischen Fortschritts tatsächlich bestand. Ein solches Herangehen erlaubt auch eine differenziertere Sicht auf Geschichte und Funktion der französischen Arbeiterbewegung im 19. Jh. Gewiß waren die 88 Engels, Friedrich, Einleitung zu: Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848—1850, in: MEW, Bd. 8, S. 515. 89 Vgl. Lequin, Yves C., De crises en avance: La croissance et la classe ouvrière, in: Huard, Raymond (u. a.), La France contemporaine. Idendité et mutations de 1789 a nos jours, Paris 1982, S. 268. 90 Vovelle. 91 Lenin, W. I., Unter fremder Flagge, in: Werke, Bd. 21, S. 135. 92 Höppner, Joachim¡Seidel-Höppner, Waltraud, Von Babeuf bis Blanqui. Französischer Sozialismus und Kommunismus vor Marx, 2 Bde., Leipzig 1975. 93 Vgl. u. a. Cobb, Richard, La protestation populaire en France (1789—1820), Paris 1975 ; Holzapfel, Kurt, Die Arbeiterfrage in Frankreich zur Zeit der Julirevolution : Probleme und Wirkungen, in: ZfG, 1983, 7, S. 596 ff.

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Revolutionen des französischen Revolutionszyklus eben mehr als nur Revolutionen der Bourgeoisie: Die Große unter ihnen hatte die „Idee des neuen Weltzustandes" hervorgebracht, und die nachfolgenden hatten diese Idee in Gestalt des utopischen Sozialismus und Kommunismus sowie der Klassenschlachten der Zeit um wesentliche Gedanken und Erfahrungen bereichert. Gleichwohl bleiben wenigstens zwei Marxsche Erkenntnisse für die Analyse der ganzen Epoche unverändert gültig: sein am Beispiel der Jakobinerdiktatur herausfiltrierter Hinweis, daß jede gegen die Bourgeoisie gerichtete Aktion „nur ein Moment im Dienste der bürgerlichen Revolution Century, t. 90, 1972, S. 1565—1593. Vgl. N. E. Restif de la Bretonne, Die Nächte von Paris 1789—1793, Reportagen, hrsg. von Martina Bender, Leipzig/Weimar 1989. 133 Rétif de la Bretonne, Les Nuits de Paris. La Semaine nocturne. Vingt Nuits de Paris, préface de Hubert Fabureau, Paris 19782, S. 312. 134 Markov, Walter, Grenzen des Jakobinerstaates, in: Ders., Weltgeschichte im Revolutionsquadrat, hrsg. und eingel. von Manfred Kossok, Berlin 1979, S. 115 f. 135 Höppner, Joachim/Seidel-Höppner, Waltraud, Von Babeuf bis Blanqui. Französischer Sozialismus und Kommunismus vor Marx, Bd. 2, Leipzig .1975, S. 74. 136 Middell, Katharina/Middell, Matthias, François Noël Babeuf, Märtyrer der Gleichheit, Berlin 1988, Kapitel 12. 137 Vgl. u. a. Rose, R. Barry, The „Red Scare" of the 1790s: the French Revolution and the „agrarian law", in: Past and Present, London 1984, 103, S. 113—130. 138 Rétif de la Bretonne, Revolutionsnächte, hrsg. von Kurt Kersten, München 1920,

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Frauen schienen ihm von regierungsfeindlichen Agitatoren aufgehetzt, denen sie in begreiflicher Unwissenheit gefolgt wären. Den Ruin der Händler anzustreben, dünkte ihn kurzsichtig, denn wo sollte man dann künftighin die begehrte Ware erwerben, und schließlich: „ . . . bei dem gegenwärtigen System, wo alle Besitztümer isoliert sind, [muß] es reiche Leute geben . . d i e weise

aufzuspeichern verstehen, [würde] es das größte Unglück sein . . . , wenn alle Leute Verschwender wären oder Müßiggänger, wie die Vorfahren der Armen oder die Armen selbst."139 Handelt es sich um Unverständnis gegenüber der sansculottischen Problematik oder um ein bewußtes Zugeständnis an die fast einhellige Verurteilung der Taxationsunruhen von den Girondisten bis zu führenden Jakobinern wie Robespierre und Marat,140 in der als Dissonanz lediglich die Rechtfertigung eines Jacques Roux zu vernehmen war, wonach „die Krämer dem Volke nur zurückerstattet haben, was sie ihm seit langem durch Uberpreise aus der Tasche gezogen haben"1/11 ? Für eine klare Entscheidung in dieser Frage ist die Rétifsche Argumentation indessen zu widersprüchlich. Mit Sympathie verfolgte er die Massenaktionen im Verlaufe der Revolution kaum, wenn er auch in den meisten Fällen ihre Notwendigkeit einsah,"'2 und so schlußfolgerte er für die Journée vom 25./26. Februar 1793: „J'ai toujours vue, pensé, dit, écrit, que le bas peuple, sans instruction, est le plus grand ennemi de tout gouvernement."1''3 Zu den Aktivisten der Revolution gehörte der Schriftsteller nicht,1/,/' der in aufklärerischer Manier eher auf eine Realisierung seiner Projekte „von oben", durch eine einsichtsvolle Re-

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S. 153. Vgl. die Dokumente bei Petersen, Susanne, Frauen in der Französischen Revolution. Dokumente, Kommentare, Bilder, Berlin 1987, S. 137 ff., 163 fï. Revolutionsnächte, S. 154 (Hervorhebung von mir). Zur Februarkrise vgl. Petersen, Lebensmittelfrage, S. 182fï.; Viola, Paolo, Sur le mouvement populaire parisien de février-mars 1793, in: AHRF, 1973, 214, S. 503 bis 518. Das einmütige Verdikt der sansculottischen Aktionen schloß indessen ein, daß sich Girondisten und Jakobiner gegenseitig die Verursachung der Unruhe vorwarfen. Vgl. Markov, Walter, Revolution im Zeugenstand. Frankreich 1789 bis 1799, Bd. 1, Leipzig 19862, S. 286 f. Roux, Jacques, Scripta et Acta. Textes présentés par Walter Markov, Berlin 1969, S. 438. So etwa im Falle der Septembrisaden. Vgl. Revolutionsnächte, S. 107; Le Drame de la vie, contenant un homme tout-entier, t. 4, Paris 1793, S. 1249 ; Monsieur Nicolas, t. 15, S. 4312 fï. Les Nuits de Paris, S. 312. Das heißt nicht, daß er mit seinen Romanen, Erzählungen und Theaterstücken nicht Einfluß auf die politisch-moralische Erziehung seiner Mitbürger nehmen wollte. Eine sozialgeschichtliche Analyse seines Lesepublikums steht allerdings mit Blick auf die Quellenlage verständlicherweise noch aus. Divergierend sind auch die Forschungsergebnisse zu Rétif als Autor politischer Pamphlete in den Jahren 1789—1791. Während Pierre Testud diese Autorschaft völlig bestreitet (Testud, Le Journal inédit, S. 1580 f.), läßt David Coward sie zumindest für eine Anzahl von Pamphleten gegen den Abbé Maury vom Frühjahr 1791 gelten (Coward, The Revolutionary pamplets, S. 303 ff.). Als sicher kann gelten, daß Rétif keinesfalls Verfasser aller 38 von Paul Lacroix aufgeführten Flugschriften ist. Lacroix, Paul (P. L. Jacob), Bibliographie et Iconographie de tous les ouvrages de Restif de la Bretonne, Paris 1875, S. 322 ff.

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gierung, setzte und im politischen Spektrum der voranschreitenden Revolution die Position „eines mit der Zeit gehenden, gebildeten Republikaners" 145 bezog. Zugleich spricht einiges dafür, daß nicht allein die Orientierung an der vorherrschenden Ablehnung des Ladensturmes, sondern prinzipielle Erwägungen das Urteil des „nächtlichen Beobachters", wie sich Rétif gern selbst bezeichnete und damit die selbstverordnete Rolle des unparteiischen Außenstehenden betonte, bestimmten. Er wandte sich gegen die Taxation als Bewegung, da er bei den plündernden Frauen dieselben Motive — Egoismus und Neid — zu entdecken vermeinte,146 die ihn einst zur harschen Kritik an den Auflösungserscheinungen der dörflichen communauté bewegt hatten. Daraus leitete er ab, daß die Erhebung gegen die Händler, so verständlich sie auch mit Blick auf das Elend des bas peuple sei, die bloße Reproduktion jener Gesellschaftsmerkmale brächte, denen er in einigen seiner vorrevolutionären Schriften die ideale Harmonie und Gleichheit entgegengesetzt hatte. Damit aber würden sich weitere Hindernisse für die ,allgemeine Versöhnung' (tout concilier)147 aufrichten. Hieraus folgte das Argument, eine Besitzteilung sei erfolglos, da man anderntags neu teilen müsse. Zugleich betonte Rétif, daß sich dies nur auf die Stadt beziehe und man „bei dem gegenwärtigen System . . . nur beim Grund und Boden den zu großen Besitzstand verhindern muß, weil alle, die zuviel Grundbesitz haben, einen Teil als Luxusländereien liegen lassen, die für den Anbau verloren sind"148. Auch diese Einschränkung brachte ihn nicht von der einmal erkannten Überlegenheit des kommunistischen Weges gegenüber egalitären Konzepten ab. 1796 stellte er am Ende seiner voluminösen Autobiographie „Monsieur Nicolas, ou le cœur humain dévoilé" noch einmal seine Position zum Verhältnis von égalité und communisme — im Gegensatz zu den Babouvisten, deren Scheitern er melancholisch vermerkte, 149 verwendete er diesen Begriff — dar. Nun bezog er in die Kritik des Egalitarismus auch die Agrarfrage explizit ein: „ . . . les opinions oiseuses de l'égalité morale et politique, du partage des biens; de la répartition agraire et de cent autres idées creuses, qui ne vont pas au but."150 Ni dit die „loi agraire", sondern die „communauté absolue" sei sein Ideal, so betonte er ausdrücklich und grenzte sich scharf von Rousseau ab, dessen Gleichheitsideal er jetzt als „une chimère, une absurdité destructive" bezeichnete.151 Wie für die vorrevolutionäre Zeit lassen sich Parallelen und Differenzen zur theoretischen Entwicklung Babeufs ausmachen. Die Polemik gegen ein Verharren in der Forderung nach einer nicht näher definierten égalité entsprang bei Babeuf152 wie Rétif den Erfahrungen und Enttäuschungen der erlebten Revolution, in der sich letztlich die bourgeoise Interpretation des Gleichheitsan145 146 147 148 149

Markov, Walter, Exkurse zu Jacques Roux, Berlin 1970, S. 159. Les Nuits de Paris, S. 311 f. Ebenda, S. 312. Revolutionsnächte, S. 154. „Les insensés Grenellistes ont été fusillés; Babeuf et Darthé executés à Vendôme ..." Monsieur Nicolas, 1.15, S. 4414. 150 Ebenda, t. 14, S. 3962. 151 Ebenda, t. 15, S. 4437. 152 Vgl. seine Kritik an der Revolution und die Rückbesinnung auf Mablys „égalité parfaite" u. a. in: Le Tribun du peuple, 40. Dazu Middell/Middell, Kap. 13. 10 Jahrbuch 39

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spruches durchgesetzt hatte. 153 Während jedoch die Babouvisten die aus der Niederlage der Pariser Volksbewegung mit ihren egalitaristischen Aspirationen gewonnene Einsicht in die prinzipielle Andersartigkeit der von ihnen angestrebten endgültigen Lösung gesellschaftlicher Widersprüche mit einem Programm verbanden, f ü r das sich breitere Massen mobilisieren ließen, nahm Rétif auf derlei bündnispolitische Überlegungen wenig Rücksicht und setzte seine Modellvorstellungen 154 schroff der herrschenden Realität gegenüber. Mit dem Scheitern der Verschwörung der Gleichen und der Hinrichtung von Babeuf und Alexandre Darthé in Vendôme im Mai 1797 schien jede Chance einer Verwirklichung seiner Ideen dahin, und er sah sich als Überlieferer gewonnener Erkenntnisse an künftige Generationen. Daß dies nicht nur sein Selbstverständnis traf, sondern auch seine theoretische Position charakterisierte, betonte schon Ioannissian, der Rétif als typischen Vertreter des 18. Jh. und in vielen Punkten Vorläufer des kritisch-utopischen Sozialismus des 19. Jh. bezeichnete. 155 Der sozialökonomische Entwicklungsstand, politische Erfahrungen und intellektuelle Vorbilder hatten, gebündelt und mehrfach gebrochen in einer individuellen Optik, den komplizierten Wandel der Gesellschaftskonzeption Rétifs determiniert. Ersten Reformvorschlägen, in denen er fast ausschließlich die persönliche Erfahrung der Dorfgemeinde formulierte, folgten eine schrittweise Ausweitung des zu reformierenden Raumes — von der isolierten Gemeinde bis zur gesamten Gesellschaft Frankreichs und späterhin sogar Europas — und eine zunehmende Konzentration auf Probleme des Eigentums. Der produktive Schriftsteller ließ sich von den Debatten und praktischen Veränderungen im Zuge der revolutionären Umwälzung zu einem neuen Durchdenken des Verhältnisses zwischen egalitaristischem Massenideal und eigener gütergemeinschaftlicher Zielvorstellung anregen. Erschienen ihm anfangs beide Lösungen gleichberechtigt und miteinander vereinbar, so erkannte er Stück f ü r Stück ihre Differenzen und ihre Unvereinbarkeit. Glaubte er 1789 noch an die Möglichkeit, über den Egalitarismus an den Kommunismus heranzukommen, so f ü h r t e ihm die Revolution das Scheitern dieser Hoffnungen vor Augen. Die fortan prononciert vertretene Abgrenzung zwischen Kommunismus und Egalitarismus bildete den Endpunkt eines schwierigen Ablösungsprozesses. Ihn als einer von ganz wenigen bis zum Ende durchschritten und damit eine wichtige Stufe der Entwicklung des vormarxistischen Kommunismus in Frankreich am Ende des 18. Jh. mitbestimmt zu haben, sichert dem Literaten Rétif einen unverwechselbaren Platz bei der Herausarbeitung der „Idee des neuen Weltzustandes". 153 Soboul, Albert, Égalité — du pouvoir et des dangers des mots, in : AHRF, 1974, 217, S. 371-379. 154 Vgl. sein 22 Seiten langes Programm einer „loi du communisme, ou d'une communauté générale" in Monsieur Nicolas, t. 15, S. 4324—4346. Dazu Ioannissian, Abgar, Restii de la Bretonne et le communisme utopique, in: La Pensée, Paris 1958, 78, S. 91 ff.; Volgin, V. P., Francuzskij utopiceskij kommunizm, Moskva 1960, S. 87—90 155 Ioannissian, Les idées communistes, S. 321.

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Der ideologisch-politische Konflikt der Parlements und des Absolutismus im Pamphletkrieg um die Gerichtsreform von Maupeou (1770—1774)

Für die politische Geschichte Frankreichs des ausgehenden Ancien Régime stellte der Beginn der 70er J a h r e des 18. Jh. eine wichtige Etappe dar, die durch eine scharfe politische Krise gekennzeichnet war. Diese entsprang dem Versuch des Absolutismus, die Opposition der Parlements f ü r immer zu beenden. Eine der wichtigsten Funktionen der Parlements war die Registrierung aller von der königlichen Macht ausgehenden gesetzgeberischen Akte, die erst nach dieser Prozedur juristisch in K r a f t traten. Die Parlements hatten das Recht, falls sie mit den gesetzgebenden Handlungen des Monarchen nicht einverstanden waren, diesem offizielle Schriftstücke ihres Protestes (Remonstranzen) zu übergeben. Sie konnten königliche Verfügungen anfechten und Vorschläge zur Änderung der Form und manchmal des Inhalts der Edikte unterbreiten. 1770 bis 1774 w u r den auf Initiative des Kanzlers Maupeou Gerichtsreformen durchgeführt, die in entscheidendem Maße das Antlitz dieser Kooperationen veränderten, ihnen ihre politische Rolle entzogen und gleichzeitig den Kern der parlamentarischen Opposition zerschlugen. Die Reform Maupeous rief einen regelrechten Pamphletkrieg hervor, wie ihn Frankreich nicht einmal aus der Zeit der Fronde und des berühmten Kardinals Mazarin kannte. Es war der einzige „Federkrieg" im Frankreich des Ancien Régime, an dem sowohl die Opposition als auch die Regierung mit solcher Intensität teilnahmen. Die Reform von Maupeou und die durch sie hervorgerufene politische Krise wurden zu einer der markantesten Erscheinungen in der,langen Auseinandersetzung zwischen dem Königtum und den Parlements, welche Mitte des 18. Jh. eine qualitativ neue Stufe erreichte. Zu dieser Zeit hemmte der französische Absolutismus, der sich im Zustand des Niedergangs und in einer allgemeinen Krise befand, die weitere Entwicklung des Landes. Die Parlements übernahmen die Führung der gesamten Adelsschicht und entwickelten sich zur direkten politischen Opposition des absolutistischen Regimes. Die Tatsache, daß in der Publizistik des Pamphletkrieges nicht nur eine konkrete Bewertung der Reformen gegeben wurde, sondern auch solche grundlegenden Probleme wie Recht und Prärogativen des Königs und der Parlements, Charakter des staatlichen Aufbaus, Rechte und Freiheiten der Nation diskutiert wurden, gestattet die Analyse der ideologischen Aspekte des politischen Konflikts und eine Bewertung des ideologisch-politischen Inhalts sowie des sozialen Wesens der Programme des regierenden wie des parlamentarischen Lagers. Eine vollständige Bibliographie der in den Reformjahren erschienenen publizistischen Literatur ist bis heute noch nicht zusammengestellt worden. In der 10*

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Pariser Nationalbibliothek existiert indessen eine relativ umfassende Sammlung dieser Werke, und anhand des Quellennachweises kann man zwar nicht über die Gesamtzahl, aber zumindest über die Dynamik ihres Erscheinens urteilen. Die Mehrheit der dort aufbewahrten Pamphlete erschien in den Jahren 1770/71, zur Zeit der wichtigsten mit der Reform verbundenen Ereignisse, als von beiden Seiten 250 Streitschriften publiziert wurden. In der Folgezeit verringerte sich ihre Zahl auf 29 (1772) und drei (1773). 1 Eine gewisse Wiederbelebung erfuhr die Polemik 1774 im Zusammenhang mit der Abschaffung der Reformen und der Wiederherstellung der Parlements. Der nachfolgenden Analyse liegt eine Auswertung von über 150 Pamphleten zugrunde, die etwa zu gleichen Teilen von den Publizisten des regierenden Lagers und der Opposition stammen. Mit wenigen Ausnahmen erschienen die Pamphlete beider Seiten anonym, bestenfalls sind Verlagsort und Erscheinungsjahr verzeichnet. Durch indirekte Angaben aus Korrespondenzen und Memoiren von Zeitgenossen sowie nach dem bekannten Nachschlagewerk von Barbier 2 konnte jedoch ein bedeutender Teil der Publikationen identifiziert werden. Der Kreis der regierungstreuen Publizisten ist fast vollständig bekannt. Zu ihnen zählen die persönlichen Sekretäre Maupeous Lemercier und Lebrun — zukünftiges Mitglied der Konstituierenden Nationalversammlung und Dritter Konsul der französischen Republik —, die eng mit Regierungskreisen verbundenen Advokaten Moreau und Saintin Le Blan, der talentierte Publizist und Advokat Linguet, der Staatsrat und frühere Erste Präsident des Parlement von Toulouse, Bastard, der Rat am Pariser Parlement, Abbé Mary, das Mitglied der königlichen Administration Letourneur, der Marquis de Villete, der Abbé Bouguet . . . Etwa zehn der regierungsfreundlichen Pamphlete wurden von Voltaire geschrieben. Die Bestimmung der Autoren der parlamentarischen Publizistik ist weitaus schwieriger und nur bei etwa einem Drittel der Pamphlete gelungen. Zu den Verfassern zählen nicht nur etliche Vertreter der „Robe" — die Advokaten de Beaumont, Le Paige, Moriseau, Blonde, Target (das zukünftige aktive Mitglied der Konstituante), Moufïle d'Angerville, Coguereau, der Rat bei der Chambre des Comptes Clément de Boissy, Mitglieder des Châtelet von Paris und der Provinz Beaujolais —, sondern auch der Steuerpächter Augeard, der Literat und königliche Zensor Pidansat de Mairobert, Kronprinzen, Vertreter der Aristokratie, des Geburtsadels einschließlich des militärischen und des Provinzadels (aus der Normandie, der Bretagne, dem Languedoc). Sogar bei dieser unvollständigen Aufzählung wird sichtbar, daß die Opposition aus Vertretern verschiedener sozialer Schichten bestand, in ihrer Mehrzahl allerdings adliger Herkunft war. Wenngleich die Reform Maupeous und die politische Krise 1770 bis 1774 relativ breit in der internationalen (französischen, englischen, amerikanischen, italienischen) Historiographie erforscht wurde, gibt es über die Pamphletistik dieser Periode keine spezielle Untersuchung. Ende des vorigen Jahrhunderts widmete der französische Historiker Philippe Roguain einige Seiten seines Buches 3 der Beschreibung des Pamphletkrieges 1 Cataloge de l'histoire de France, Bd. 2, Paris 1854, S. 430—445. 2 Barbier, Armand, Dictionnaire des ouvrages anonymes, Bd. 1—4, Paris 1964.

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vom Anfang der 70er Jahre. Er lenkte die Aufmerksamkeit darauf, wo die Pamphlete erschienen, durch wen und wie sie verbreitet wurden und welche Maßnahmen die Regierung zur Suche und Gefangennahme der Buchhändler und Kolporteure unternahm. Der erste Versuch einer Analyse der Publizistik beider Lager wurde in der gut fundierten Arbeit von Jean Egret unternommen. Er gibt einen kurzen Überblick über die grundsätzlichen Positionen beider Seiten, äußert sich über die Erscheinungsdaten einiger Pamphlete und über ihre Autoren. 4 Die Beurteilung der publizistischen Literatur durch Egret ist seiner allgemeinen Konzeption der parlamentarischen Opposition untergeordnet. Seiner Meinung nach fanden die Parlemente die Unterstützung breiter gesellschaftlicher Schichten, verteidigten nicht nur ihre engen, korporativen, sondern allgemeine Interessen und waren somit „Vertreter der Nation, wenn auch ohne Mandat". Der Aufsatz des amerikanischen Historikers David Hudson 5 ist organisch eingebettet in den fortwährenden Meinungsstreit der westlichen Historiographie um das Ancien Régime und die Große Französische Revolution. Wenn er auch eindeutigen Formulierungen aus dem Weg geht, so folgt aus der Logik seiner Darlegung die Annahme der Möglichkeit einer Selbstreformierung der absoluten Monarchie unter der Bedingung einer Lösung des Konflikts mit der Parlementsopposition zu ihren Gunsten. Hudson gründet seine Arbeit auf die Analyse einer großen Zahl von Pamphleten beider Seiten. Besondere Aufmerksamkeit widmet er der Auswahl der historisch-traditionalistischen Argumente, der Behandlung der „lois fondamentales" und dem Streit über die Zweckmäßigkeit der Reformen unter dem Aspekt der Effektivität des neuen gerichtlichen Mechanismus. Er kommt zu dem Schluß, daß rein logisch die Beweisgründe des regierenden Lagers vergleichsweise fundierter waren und mehr dem realen Inhalt der historischen Situation entsprachen als die Argumente der Opposition. Nach Hudson ging die Regierung im Endergebnis als Sieger aus dem Pamphletkrieg hervor. Bei dieser Interpretation der Ereignisse bleibt jedoch unverständlich, warum die Reformen schließlich zurückgenommen wurden. Nicht zufällig verliert er kein Wort über die Ursachen der Wiedereinsetzung der Parlements nach dem Tod Ludwigs X V . Viele wichtige Aspekte der Diskussion, z. B. über die Macht, über die Vertretungskörperschaften, über die Rechte und Freiheiten der Nation, läßt der Autor unberührt. Ebensowenig berücksichtigt er den Einfluß der Aufklärung auf die ideologische Zielsetzung der streitenden Parteien. Hudson betrachtet den Pamphletkrieg als ein isoliertes Phänomen ohne Berücksichtigung der vorhergegangenen und nachfolgenden Ereignisse. Die Reform Maupeous deutet er als politisch-administrative und gerichtliche Maßnahme, unabhängig von den komplizierten Verflechtungen der gesellschaftlichen Widersprüche jener Zeit. 1774 endete die fast 60jährige Herrschaft Ludwigs X V . Ihm folgte Ludwig XVI., der 19 Jahre später seine Tage auf dem Schafott beendete. Dieser Wechsel der 3 Siehe Roguain, Philippe, Dvizenie obscestvennoj mysli vo Francii v XVII veke (1715-1789), St. Petersburg 1902, S. 312-318. 4 Egret, Jean, Louis XV et l'opposition parlementaire 1715—1774, Paris 1970, S. 209 bis 221.. 5 Hudson, David, In Defense of Reform: French Government Propaganda during the Maupeou Crisis, in: FHS, 1973, 1, S. 51-76.

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Monarchen symbolisierte einen wichtigen Einschnitt in der Geschichte des Ancien Régime. Nach Albert Soboul läßt sich von den Jahren 1770 bis 1774 bis zur Französischen Revolution eine direkte Linie ziehen, sowohl im ökonomischen als auch im ideologischen Bereich. 6 In dieser Periode traten die Kennzeichen des Untergangs, die länger als ein halbes Jahrhundert von einer nach außen intakten Fassade des feudalabsolutistischen Systems verdeckt wurden, deutlich zutage. Es entstand eine tiefe politische Krise. Die Tatsache, daß diese durch eine Gerichtsreform hervorgerufen wurde, ist nicht verwunderlich. Die vom Kanzler Maupeou durchgeführte Attacke gegen die Parlements sollte weniger eine Verbesserung des Gerichtswesens herbeiführen, als vielmehr einflußreiche politische Gegner des Absolutismus beseitigen. In der ersten Etappe der Auseinandersetzungen versuchte die Regierung, die parlamentarische Opposition mit traditionellen Methoden zu unterdrücken. Anfang Dezember 1770 wurde ein „disziplinarischer Erlaß" (édit de règlement) an das Parlement von Paris geschickt. In der Präambel wurde es beschuldigt, „neue, gefährliche Ideen" zu verbreiten. Besondere Unzufriedenheit der königlichen Macht erweckten die wachsende Solidarität der Obersten Gerichtshöfe der Provinzen und die von ihnen begründete Doktrin eines „einheitlichen und unteilbaren Parlement". Ebenso mißfielen der Anschlag auf die alleinige legislative Macht des Königs und das Streben der Magistrate, im Namen der Nation aufzutreten und sich dem Monarchen entgegenzustellen. „Wir müssen . . . diese gefährlichen Neuheiten im Keime ersticken", hieß es im Dokument 7 Den Parlements wurde verboten, Termini wie „Einheit", „Unteilbarkeit" und „Klasse" zur Bezeichnung ihrer Gemeinsamkeiten* zu gebrauchen, gegenseitige Kontakte zu unterhalten und die Remonstranzen anderer Kammern in ihren Sitzungen zu beraten. Die Magistrate durften Gerichtsverfahren nicht unterbrechen und keine kollektiven Beratungen durchführen. Ihr Remonstrationsrecht wurde bestätigt und zugleich eingeschränkt. Nach der Registratur eines beliebigen staatlichen Aktes sei es nicht erlaubt, sich der Durchführung entgegenzustellen. Das Edikt rief den entschiedenen Widerstand der Magistrate hervor. Am 10. Dezember unterbrach das hauptstädtische Parlement seine Arbeit, und nichts konnte es zur Unterordnung zwingen. Unter diesen Bedingungen vollzogen die Machthaber eine radikale Umbildung des ganzen parlamentarischen Systems. Die „streikenden" Magistrate des Parlement von Paris wurden in entlegene Gebiete des Landes verbannt und ihrer Funktionen enthoben. Am 23. Februar 1771 wurde die Gründung Hoher Räte (conseils supérieurs) in jenen Territorien verkündet, die sich früher im Bereich der Gerichtsbarkeit des hauptstädtischen Parlement befanden — in Arras, Blois, Châlons, Clermont-Ferrand, Lyon und Poitiers. 8 Diese Räte waren in ihren Gebieten die höchsten Berufungsinstanzen, konnten jedoch nicht wie die früheren Parlements Edikte registrieren und Remonstranzen erlassen. Gleichzeitig wurde eine Umgestaltung des Pariser Parlement vorgenommen, C Vgl. Soboul, Albert, Problèmes théoriques de l'histoire de la Révolution française, in: Aujourd'hui l'histoire, Paris 1974, S. 262. 7 Isambert, Gustave, Recueil général des anciennes lois françaises, Bd. 22, Paris 1830, S. 506. 8 Ebenda, S. 512 f.

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wobei das Territorium, welches unter seiner Zuständigkeit stand, stark beschnitten wurde. 9 Gerichtsverfahren wurden für kostenlos erklärt, die neuen Richter sollten ein fixiertes Einkommen vom Staat erhalten. Die Besetzung aller parlementarischen Ämter erfolgte danach nicht durch das Parlement selbst, sondern durch die Regierung. Alle diese Novitäten stellten die neuen Organe unter direkte Kontrolle der königlichen Administration und nahmen ihnen die Möglichkeit, sich der Regierungspolitik entgegenzustellen. Mit Beginn der zweiten Hälfte des Jahres 1771 wurden analoge Maßnahmen in den Provinzparlements durchgeführt. Nach dem Tode Ludwigs XV. belebte sich die Opposition, die in den letzten Jahren seiner Herrschaft verstummt war, von neuem. Sein Nachfolger war gezwungen, den Parlements ihren früheren Status wiederzugeben sowie die Magistrate aus der Verbannung zurückzuholen und in ihre alten Funktionen einzusetzen. Die Reform Maupeous wurde nicht nach einem konkreten Programm durchgeführt. Die Umbildungen trugen keinen globalen Charakter, sondern betrafen nur die oberste Stufe des Gerichtswesens. Die Einführung kostenloser Rechtsprechung, die Ausbreitung des territorialen Netzes der hohen Gerichtshöfe, die Ablösung des überholten Systems des Ämterkaufs — dies alles waren Maßnahmen, die darauf gerichtet waren, das Gerichtswesen zu rationalisieren. Das Prinzip der Besetzung aller Gerichtsämter von oben und die Abhängigkeit der neuen Behörden von der königlichen Macht entsprachen jedoch nicht den Forderungen nach einer Reform der Rechtsprechung, wie sie zu dieser Zeit schon von Vertretern eines fortgeschrittenen gesellschaftlichen Denkens erhoben wurden. Die Autoren, die für die Regierung eintraten, setzten sich im Interesse des Kanzlers für eine Abschaffung des Ämterkaufs, für die Proklamierung eines kostenlosen Gerichtswesens und die Beschneidung der territorialen Kompetenzen des Pariser Parlement ein. Voltaire unterstrich die Progressivität der Reformen aus der Sicht einer Verbesserung des gerichtlich-juristischen Systems, jedoch enthielt er sich einer Wertung der politischen Aspekte der Ereignisse. Er betrachtete sie als „ein herrliches Morgenrot", den Anfang einer prinzipiell neuen Staatspolitik. 10 Die Mehrzahl der oppositionellen Autoren negierte sowohl die Gesetzmäßigkeit und Notwendigkeit einer Gerichtsreform insgesamt als auch einzelner Maßnahmen. Nur in sehr wenigen Pamphleten wurden die Neuerungen anerkannt, jedoch meinten auch sie, daß vorhandene Unzulänglichkeiten im Gerichtswesen auf andere, „gesetzliche" Weise, unter Beibehaltung der alten Parlements, hätten beseitigt werden können. 11 Alle grundlegenden Errungenschaften der Gerichtsreform erschienen den oppositionellen Publizisten als illusorisch. Die Abschaffung des Ämterkaufs wurde 9 Vgl. über die gerichtlichen Aspekte der Reform Maupeous ausführlicher Villers, Roger, L'organisation du Parlement de Paris et des Conseils supérieurs d'après la réforme de Maupeou (1771—1774), Paris 1937. 10 Voltaire, Réponse aux remontrances de la Cour des Aides, par un membre des nouveaux Conseils souverains, in: Œuvres complètes, hrsg. von Louis Moland, Bd. 28, Paris 1878-1883, S. 385-388. 11 Lettres d'un homme à un autre homme sur les affaires du temps, in: Affaires des parlements français (1770-1772), Bd. 2, o. O. u. J., Nr. 2, S. 22.

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von ihnen entweder offen verdammt oder als sinnloser Akt deklariert, denn eine strenge Auswahl bei der Besetzung der Parlementsräte existierte in ihrem Verständnis schon vorher: „Gingen etwa der Aufnahme in die Magistratur keine Studien und keine Examen voraus? Bildete man etwa nicht die neuen Richter unter steter Aufmerksamkeit der alten?" 12 Als Illusion erweise sich die Einführung kostenloser Rechtsprechung, Bestechungsgelder blieben — nunmehr illegitim — trotzdem in verdeckter Form bestehen. Die Ausgaben f ü r das Gerichtswesen verringerten sich ihrer Meinung nach nicht, sondern wuchsen im Resultat der Reformen bedeutend an. 13 Scharfe Kritik wurde gegenüber den hohen Räten und den neuen Parlements geübt. Ihre Gründung würde die Lage des Volkes, dem es um vieles leichter und billiger war, auf guten Straßen in die Hauptstadt zu Jahren als sich auf Feldwegen zu den lokalen Gerichten zu begeben, nicht im geringsten verbessern. 14 Besonders hart traf es jene, die der Bestimmung Maupeous folgten und in die neugeschaffenen Organe eintraten. Die oppositionellen Autoren überschütteten sie mit allen nur denkbaren Beschimpfungen und unterstrichen überdies ihre Inkompetenz und professionelle Unfähigkeit, ihren „sklavischen Geist" und ihre Abhängigkeit vom Thron. Besonders betonten sie, daß die Mehrheit von ihnen dem „niederen Gesindel" (vile populace) entstammte. 15 Die Diskussion um die gerichtlichen Aspekte der Reform bestimmte indessen nur den geringeren Teil der Polemik. Die Erörterung politischer Fragen nahm bedeutend größeren Raum ein und bildete ihren tatsächlichen Gegenstand. Die Wurzel des konstitutionellen Konflikts, der durch die Reform Maupeous hervorgerufen wurde, bildete der Streit um die Prärogativen. Jede Seite gab ihre Auslegung des Komplexes der Prärogativen, die dem König und den Parlements zustanden. Den regierungsfreundlichen Publizisten war die Macht des Monarchen absolut, ihm gehörte die ungeteilte, legislative, exekutive und gerichtliche Macht. Die Parlements behandelten sie als reine Gerichtsorgane, denen der König nur einen Teil seiner Vollmachten auf juristischem Gebiet überträgt, die er zu beliebiger'Zeit zurücknehmen konnte. Hieraus resultiert die Praxis der speziellen „königlichen Sitzung" (Lit de justice), auf welcher die Anwesenheit des Monarchen dem Magistrat jegliche gesetzgebende K r a f t entzog. Manchmal wandten sich die Verfechter der Reform, die legislative und gerichtliche Macht streng trennten, der Autorität Montesquieu zu und benutzten seine Theorie der Gewaltenteilung als Beweis f ü r die Unrechtmäßigkeit der Vermischung gesetzgebender und gerichtlicher Vorrechte in ein und demselben Organ. 10 12 Le maire du Palais, ebenda, Nr. 4, S. 65. 13 Parallele de l'ancienne et de la nouvelle taxe des frais de Justice, in: Les efforts de la liberté et du patriotisme contre le despotisme du Sr de Maupeou, Chancelier de France, Bd. 4, Londres 1773, S. 97-101. 14 Le maire du Palais, in : Affaires, Bd. 2, Nr. 4, S. 68. 15 Maupeouana, ou Correspondance secrète et familière du Chancelier Maupeou avec son cœur Sorhouet, Teil 1, o. O. 1773, S. 9. 16 Lettre de M. de C** à M. de St**** à Rouen, Paris 1771, S. 42; Reflexions d'un citoyen sur l'édit de décembre 1770, in: Recueil de toutes les pièces intéressantes publiées en France, relativement aux troubles des Parlements, Bd. 2, Bruxelles 1771, S. 264.

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Die proparlementarischen Publizisten billigten dem König nur die exekutive Gewalt im vollen Umfang zu. Die legislative und die gerichtliche Macht oblagen nach Meinung der Reformgegner nicht unkontrolliert dem Monarchen, sondern wurden durch die Existenz der parlamentarischen Prärogativen begrenzt, deren Inhalt die Publizisten dieses Lagers jedoch unterschiedlich verstanden. Die Mehrheit von ihnen erkannte, zumindest verbal, die entscheidende Rolle des Monarchen bei der Schaffung von Gesetzen an. Sie unterstrich allerdings, daß auch die Parlements „auf ihre Weise an der legislativen Macht teilhaben".17 Sie würden frei alle gesetzgebenden Akte der Regierung erörtern und ins Verhältnis zu den traditionellen „lois fondamentales" setzen, um sie dann entweder in erster Fassung anzunehmen oder in den Text notwendige Veränderungen einzufügen, bzw. sie lehnten ihre Eintragung ab. Die Parlements verstanden sich als „Hüter der Gesetze" und als „corps intermédiaires". Indem sie den Parlements die entscheidende Rolle bei der Einschränkung der königlichen Alleinherrschaft zugestanden, bezogen sich die Gegner der Reform häufig auf Montesquieu und seine Theorie der „pouvoirs intermédiaires".18 Dabei verteidigten sie das Prinzip der „Unkündbarkeit der Ämter". Die Theorie der Delegierung von juristischen Vollmachten erkannten die Magistrate im Prinzip an, deuteten sie jedoch in einer für sie günstigen Art: das Ni chtein Verständnis der Parlements mit den königlichen Handlungen widerspiegele den „gerechten und legalen Willen des Monarchen selbst, der sich gegen seine Willkürakte richtet".10 Die rein politischen Vorrechte der Parlements leiteten sich deshalb aus ihren juristischen Vollmachten ab. In einer sehr kleinen Gruppe von Pamphleten zeichnete sich der Komplex politischer Rechte der Parlements etwas anders ab. Man behauptete, daß die Magistrate die vollkommene legislative Gewalt besäßen, umging jedoch praktisch die Frage nach den gesetzgebenden Vorrechten des Monarchen und dem Verhältnis von königlichen Vollmachten und denen der Parlements in diesem Bereich.20 Mit den Vorrechten von König und Parlement verbanden sich verschiedene Vorstellungen über den Staatsaufbau. Alle Autoren erkannten einstimmig an, daß Frankreich eine Monarchie ist, und verurteilten in Worten die Despotie; die Frage nach dem Wesen dieser Monarchie beantworteten sie jedoch äußerst verschieden. Betrachten wir vorerst die Position der Publizisten aus dem regierungstreuen Lager. Nur sehr wenige von ihnen unterstützten un verschleiert die Auffassung, daß der König in seinem Reich „absoluter Herrscher" sei und jede beliebige Entäußerung seines Willens einem Gesetz gleichkomme. Als ein charakteristisches Beispiel dieses Herangehens können die „Überlegungen eines Friseurs über die Geschäfte des Staates" gelten, worin in scharfen und beleidigenden Ausdrücken das Verhältnis zwischen König und Parlement mit dem Verhältnis 17 Lettre de Monsieur ***, conseuller au Parlement, à M. le Comte de ***, in: Affaires, Bd. 1, Nr. 13, S. 10. 18 Réflexions succintes sur ce qui s'est passé au Parlement de Paris depuis le mois de décembre 1770, ebenda, Nr. 2, S. 4. 19 Observations sur le discours du Chancelier, ebenda, Nr. 5, S. 13. 20 Tableau des différents âges de la Monarchie Française, in: Les efforts, Bd. 2, 1772, S. 78.

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eines Friseurmeisters zu seinen Gesellen und Dienern verglichen wird. 21 Die Zeitgenossen, die Gegner ebenso wie die Anhänger der Reform, verurteilten dieses Pamphlet einstimmig. Es gibt allerdings eine Reihe von Werken, wenn auch deren Zahl nicht sehr groß ist, die in einer „angemesseneren" Sprache geschrieben sind und die gleichen Ansichten enthalten. So wird z. B. im Pamphlet „Der Wahn vieler Leute" behauptet, f ü r die Franzosen sei „ein Herrscher besser als 2 000".22 Ein anderer Autor meinte, daß es in einem Land mit absoluter Herrschaft eines Monarchen „reichlich absurd" sei, „die Freiheit der Opposition oder ein Recht auf Widerstand gegen den König zuzulassen". 23 Da die Publizisten sich nicht als Anhänger eines tyrannischen Staatsaufbaus zu erkennen geben wollten, gestanden sie teilweise zu, daß „die höchste Autorität des Monarchen nicht eigenmächtig sein darf; seine Macht ist unteilbar, darf aber nicht in Despotie umschlagen". 24 Die dem Monarchen auferlegte Beschränkung war somit moralisch-sittlicher Art : Ein König darf nicht zulassen, daß sich sein Staat zu einer Despotie entwickelt. Die Mehrzahl der regierungstreuen Publizisten nahm eine flexiblere Position ein. Sie erkannten an, daß eine Reihe von „Grundgesetzen" existiert, die zu verändern der König kein Recht hat, wobei das Parlement ihren Schutz übernimmt 2 5 Der Anspruch des Parlement auf Änderung und Kontrolle aller Gesetze wurde scharf verurteilt, verändere doch gerade das die Natur der Monarchie und verwandele sie in eine Aristokratie, in Anarchie oder Despotie, in der die Magistrate die Rolle des Despoten übernehmen. 2 6 Ihrer Ansicht nach deuten die Parlements Montesquieu falsch. Der berühmte Philosoph habe von „abhängigen und untergeordneten" Einrichtungen geschrieben, die Magistrate jedoch „halten sich f ü r unabhängig"; Montesquieu hielt die Geistlichkeit und den Adel f ü r die wichtigsten „pouvoirs intermédiaires", die Parlements aber enthoben sie dieser Funktion vollständig. 27 Diese Gruppe von Pamphletisten unterstrich die Notwendigkeit der Beibehaltung der vollen und unteilbaren obersten Macht des Monarchen und erkannte gleichzeitig einige Garantien in Form von Traditionen und Privilegien an, welche „Willkür und Despotie" einschränken sollten. Von der Machteinschränkung des französischen Monarchen durch die „grundlegenden Gesetze" spricht auch die Mehrheit der proparlementarischen Publizisten, jedoch in völlig anderem Zusammenhang. Auf die verschiedenartige Auslegung solcher „lois fondamentales" durch Vertreter beider Seiten wird weiter unten eingegangen, hier sei nur vermerkt, daß in den Werken des oppositionellen Lagers besonderes Augenmerk auf die Notwendigkeit einer realen 21 Réflexions d'un maître perruquier sur les affaires de l'État, in: Affaires, Bd. 4, Nr. 16. 22 La folie de bien des gens, in : Recueil de toutes les pièces, Bd. 2, S. 40. 23 Observations sur l'écrit intitulé „Protestation des Princes", ebenda, S. 299. 24 Très-humbles es très-respectueuses remontrances d'un citoyen aux parlements de France, o. 0.1771, S. 7. 25 Lettres provinciales, La Haye 1772, S. 107. 26 Extrait d'une lettre, en date de Londres; Réflexions d'un citoyen sur l'édit de décembre, in: Recueil de toutes les pièces, Bd. 2, S. 53, 268. 27 Raisons pour désirer une réforme dans l'administration de la Justice: Lettre du public à M-s les ci-devant officiers du Parlement de Paris, ebenda, S. 20, 58.

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Einschränkung der königlichen Alleinherrschaft gelegt wurde. Ein Teil dieser Publizisten sah in den Privilegien von Klerus und Adel und in der periodischen Einberufung der Generalstände das wichtigste „Bollwerk der Freiheit" 28 . Es gibt Pamphlete, in denen die provinziellen Privilegien und Freiheiten als „das einzige Mittel gegen eine despotische Regierung" 29 betrachtet werden. Trotzdem überwogen unter den Publizisten der Opposition, die für die Erhaltung verschiedenster Privilegien eintraten, jene, die das Parlement für die wichtigste Barriere gegen Willkürherrschaft hielten. Der Autor einer dieser Broschüren definierte drei Merkmale der Monarchie: „lois fondamentales", „pouvoirs intermédiaires" und „corps dépositaires des Lois".30 Gestützt auf Montesquieu, korrigierte er dessen Theorie und wies den Parlements durch die Verbindung des zweiten und dritten Merkmals die Rolle eines „Hüters der Gesetze" und einer „Zwischengewalt" zu. Zwei Publizisten dieses Lagers versuchten, den parlementarischen Status mit Hinweisen auf Äußerungen und die Politik einiger „aufgeklärter Monarchen" — Katharina II., Maria Theresia, Friedrich II. — zu begründen. 31 In ähnlicher Weise wurde insbesondere die „Instruktion" der russischen Zarin an die Kommission zur Schaffung einer „Gesetzessammlung" kommentiert, in welcher wirklich einige verbale Analogien zur Theorie der „Zwischengewalten", mit der die Magistrate sich brüsteten, feststellbar waren. Schließlich hebt sich noch eine Gruppe proparlementarischer Broschüren deutlich heraus, in denen das Parlement als Organ und Vertreter der „Nation", das gerade in dieser Eigenschaft ein Gegengewicht zum Monarchen bilde, dargestellt wurde. „Welches nationale Organ bleibt uns, das uns gegen die Machenschaften verderbter Minister schützen würde und dem König ehrfürchtig zeigt, daß er über Bürger und nicht über Sklaven herrscht?" 32 Das Parlement schränke die legislative Macht des Königs ein, da es die „unantastbaren Rechte der Nation" vertrete. 33 In der Deutung als „Organ und Vertreter der Nation" ist eine Orientierung auf das englische Parlement spürbar, wenn auch die Publizisten dieses Lagers sich nicht offen dazu bekannten. 34 Die Anhänger des Kanzlers bemerkten diese Tendenz sehr schnell und mußten des öfteren feststellen, daß „die Magistrate uns gern überzeugen möchten, daß London in Paris liegt". 35 Natürlich widerspiegeln bei weitem nicht alle Pamphlete die genannten Ansichten in Reinform. Häufig barg ein Pamphlet manchmal sogar in einem einzigen Satz einander entgegengesetzte Positionen. Nicht selten wurde dem Parlement sowohl die Rolle eines „Vertreters der Nation" als auch die des „Hüters der 2 3 Principes de la législation française, o. O. 1771. 29 Manifeste

aux Normands;

Essai historique

sur les droits de la Province

de

Nor-

1,

1775,

mandie; Manifeste aux Bretons, i n : L e s e f f o r t s , B d . 5 , 1 7 7 3 . 3 0 Réflexions succintes, i n : A f f a i r e s , B d . 1, N r . 2, S. 4. 3 1 Le Parlement

justifié

par l'impératrice

S . 84—130; Le Parlement

de Russie,

justifié par l'impératrice

in: Les

efforts, Bd.

reine de Hongrie, par le Roi de

Prusse, et par le Roi de Sardaigne, ebenda, Bd. 4, S. 46—97. 3 2 Maupeouana, T. 2, S . 19. 33 Tableau des différents âges, i n : L e s e f f o r t s , B d . 2, S. 78.

34 Über diesen Aspekt der Ideologie der Parlements vgl. Acomb, Frances, Anglophobia in France (1763-1789), Durham 1950. 35 Lettres américaines sur les parlements, P a r i s 1771, S. 19.

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grundlegenden Gesetze" zugewiesen. A n anderer Stelle setzte man die Rechte der Nation faktisch gleich mit den Privilegien der Provinz. Eine solche eigenartige Vermischung von Begriffen und Ansichten erklärt sich zum einen aus dem eklektischen sozialpolitischen Denken vieler Publizisten, zum anderen aus dem Versuch, verschiedene Argumente zu nutzen, um damit eine größere Zahl von Anhängern zu gewinnen. Das Problem der Nation, ihrer Rechte und Freiheiten, erörterten die Anhänger der Parlements viel breiter und ausführlicher als ihre Opponenten, deren A n sichten in einer Reihe recht simpler Thesen Ausdruck fanden, da ihre Konzeption von der Nation der des 17. Jh. ähnelte. Die Nation, so die Verteidiger der Reform, seien alle Franzosen, d. h. alle Untertanen des französischen Königs, der sich als „Verkörperung und einziger Repräsentant" 36 der Nation, Vereiniger und Beschützer ihrer Rechte und Freiheiten darstelle. Mit anderen Worten, König und Nation sind untrennbare, mehr noch, identische Größen. In der regierungsoffiziellen Publizistik erhielt der Begriff „Nation" nicht die Bedeutung einer selbständigen sozialpolitischen Kategorie. Für die oppositionellen Autoren waren König und Nation dagegen keine übereinstimmenden Kategorien. Die Pamphlete aus diesem Lager enthalten faktisch keine Definition des Begriffs „Nation". Allerdings läßt sich die Sinngebung dieses Begriffs aus dem Kontext der mit „Nation" verbundenen Worte w i e Recht, Freiheit und aus anderen indirekten Merkmalen erschließen. Die Gegner der R e f o r m verstanden unter Nation nur den Teil der Gesellschaft, welcher traditionell bestimmte politische Rechte besaß: die Nation „nahm immer an der Leitung des Staates teil", 37 „beteiligte sich an der Ausarbeitung der Gesetze", 38 „berief sich selbst ein" 39 (d. h. die Generalstände). Gleichzeitig findet man die Formulierung, daß die Nation zwar aus drei Ständen (états) gesteht, jetzt aber, nach der von Maupeou durchgeführten Reform, die ganze Nation „erwacht" sei und „alle Stände der Bürger" einmütig f ü r den Schutz ihrer verletzten Rechte eintreten und sich dabei um Prinzen und Pairs vereinigen müssen.40 Die Nation besteht somit aus Adel und Geistlichkeit in Verbindung mit der politisch aktiven Führungsschicht des Dritten Standes. Charakteristisch ist dabei, daß die Begriffe „Nation" und „ V o l k " mit wenigen Ausnahmen 41 in der proparlementarischen Publizistik überhaupt nicht miteinander verbunden waren. Die politischen Rechte und Freiheiten, die der Nation zugeschrieben wurden, berührten das Volk nicht. Mehr noch, in vielen Broschüren ist eine unverdeckte Unruhe spürbar, daß alle diese Diskussionen über den Charakter und die Grenzen der königlichen Macht in ungünstiger Weise das Volk beeinflußten, eine gefährliche „Bewegung der Gemüter" 42 hervorriefen, was die verhängnisvollsten Folgen haben könne. In dieser Frage zeigten die Publizisten 36 37 38 39 40 41

Lettre de M. de C** à M. de St**** à Rouen, S. 16. Principes de la législation française, S. 68. Tableau des différents âges, in: Les efforts, Bd. 2, S. 56. Manifeste aux Normands, ebenda, Bd. 4, S. 201. Lettres d'un homme, in: Affaires, Bd. 2, Nr. 2, S. 54. Die Begriffe „Nation" und „Volk" traten nur in zwei Pamphleten synonym auf, vgl. Inauguration de Pharamond und Lettre à M. le Comte de *** Ancien Capitaine au Régiment ***, in: Les efforts, Bd. 4, 5. 42 Vues pacifiques, in: Affaires, Bd. 2, Nr. 5, S. 1.

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beider Seiten eine bemerkenswerte Ubereinstimmung. In einem der regierungsfreundlichen Pamphlete fragte man z. B.: „Sollten nicht selbst die Prinzen zittern, wenn sie ihre Protesterklärung unterschreiben, die schon längst ein öffentlicher Kodex des Aufruhrs und ein Beispiel des Ungehorsams für das Volk geworden ist?" 43 Für die oppositionellen Publizisten bildete der Vertrag die Grundlage für die Beziehungen zwischen König und Nation. Aus den Bedingungen dieses Vertrages gehe hervor, daß der Monarch nur den Willen der Nation verwirklicht. Die Nation stehe ihrem Wesen nach über dem König und besitze die souveräne Macht. Dieser Vertrag war ein Akt, der die Grundlagen eines bestimmten gesellschaftlich-politischen Systems festlegte und mit dessen Hilfe Rechte und Freiheiten real verwirklicht würden, die der Nation von alters her eigen sind. Zum Komplex dieser Rechte (oft wurden sie als „natürliche Rechte" bezeichnet) gehörten Leben, Ehre, Freiheit und Eigentum, welche der Monarch schützen und achten müsse. Meistens war die Nation insgesamt Träger dieser Rechte, manchmal aber wurden sie auch jedem einzelnen Individuum zugeschrieben. „Alle Bürger haben das Recht auf Eigentum, Freiheit und Leben, und um diese Rechte besser zu gewährleisten, haben sich die Individuen zur Gesellschaft vereinigt." 44 Im ganzen aber überwog in der proparlementarischen Publizistik die traditionelle, im Mittelalter vorherrschende Auffassung von der Nation als einem undifferenzierten Gebilde, einer Art Korporation. Die Verwirklichung der ursprünglichen Rechte erfolgte durch periodisches Zusammentreten der Nation bzw. ihrer Vertreter, durch die Schöpfung positiver Gesetze und die Kontrolle ihrer Verwirklichung. Diese Funktionen erlangten die Bedeutung von unabdingbaren Rechten der Nation und galten ebenso wie die „natürlichen Rechte" : „Das Recht der Nation auf Teilnahme — gemeinsam mit dem Souverän — an der gesetzgebenden Gewalt ist unbestreitbar und unantastbar. Es ist ihr nicht von den Königen geschenkt; die Nation bezieht es aus ihrem eigenen Wesen . . .", 45 „die Nation muß an der politischen Leitung des Staates teilnehmen". 46 Die Nation besaß mithin einen bestimmten Komplex von Rechten, die aus dem Vertrag mit dem von ihr eingesetzten Monarchen hervorgehen. Gemäß den Bedingungen dieses Vertrages, der einmalig abgeschlossen ist und nicht periodischer Bestätigung bedarf, übertrug die Nation dem König die exekutive Gewalt — nach Meinung einiger Autoren auch einen bestimmten Teil der legislativen Funktionen — und behielt sich das Recht der Kontrolle über die Tätigkeit des Monarchen vor. Die Unverbrüchlichkeit dieses Vertrages gewährte der Nation das Recht auf Widerstand gegenüber dem Herrscher, wenn dieser die Bedingungen des Kontrakts verletzte. In einer solchen Situation war der Nation nicht nur gestattet, nein, sie war sogar verpflichtet, den faktisch schon durch den Monarchen verletzten Vertrag aufzulösen. Der Widerstand gegen den „Usurpator der heiligen Rechte der Nation" war eine Bürgerpflicht, ein Zeichen 43 Observations sur l'écrit, in: Hecueil de toutes les pièces, Bd. 2, S. 298. 44 „Tous les citoyens ont les droits de la propriété, de la liberté, de la vie, et c'est pour assurer mieux ces droits que les individus ont formé la société." L'avocat national, in: Les efforts, Bd. 5, S. 6. 45 Tableau des différents âges, ebenda, Bd. 2, S. 71. 46 Principes de la législation française, S. 1.

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der Liebe zum Vaterland. „Die Sklaven, die sich mit ihrer Lage zufriedengeben, sind nicht weniger schuldig als der Tyrann selbst."'*7 Der Pamphletkrieg war größtenteils nicht nur ein politischer Streit, sondern eine theoretische Diskussion, in deren Verlauf vier Kategorien von Argumenten genutzt wurden. Zur ersten gehörten solche, die mit der Anerkennung des göttlichen Ursprungs bestimmter Institutionen sowie dieser oder jener Form des staatlichen und gesellschaftlichen Aufbaus zusammenhingen. Die zweite, die man bedingt als historisch-traditionalistisch bezeichnen kann, beruhte auf der Annahme einer „Verfassung" des Staates, deren Autorität gewöhnlich durch eine Vielzahl von Hinweisen auf historische Vorbilder gestärkt wurde. Das hervorstechende Kennzeichen der dritten Kategorie ist die Anerkennung des Vertrags- und naturrechtlichen Ursprungs der Macht, der Rechte, Freiheiten und Privilegien. Charakteristisch ist allerdings, daß die Vertrags- und die naturrechtliche Basis als voneinander unabhängige Elemente dieses Argumentationstyps auftraten. Ihre gegenseitige Beeinflussung ist nur in einigen Pamphleten des parlamentarischen Lagers spürbar. Die vierte Kategorie widerspiegelt den Prozeß des Eindringens der rational-philosophischen Doktrin des 18. Jh. in die sozial-politische Denkweise der gebildeten Schichten der französischen Gesellschaft. In der realen Polemik verdichten sich die hier typisierten Argumente zu verschiedenen, relativ durchdachten Kombinationen, bei deren Analyse sich einige Gesetzmäßigkeiten zeigen. Den Verteidigern der Reform erschien der göttliche Ursprung der königlichen Macht allein nicht ausreichend zur Begründung ihrer Position. Dieses Argument galt nur in einem Werk als wirklich fundamental. Doch war auch hier die Behauptung, die königliche Macht sei von Gott gegeben, durch einen Appell an historische Traditionen untermauert. Die unbeschränkte Macht falle dem französischen Monarchen aus dem Recht des Eroberers zu (gemeint war die Eroberung Galliens durch die Franken). 48 Die überwiegende Mehrheit der Argumente dieses Lagers gehört zur Kategorie der historisch-traditionalistischen, unter denen wiederum die Hinwendung zu den „lois fondamentales" einen zentralen Platz einnahm. Zu diesen Gesetzen, die nie in systematischer Form schriftlich fixiert wurden, zählte einer der Pamphletisten die Unteilbarkeit der königlichen Macht und ihren göttlichen Charakter, die volle und absolute Macht des Monarchen, die Unantastbarkeit der Krondomänen, die monarchische Form der Regierung, das salische Gesetz (über die Thronfolge)/'9 Zur Untermauerung dieser Ansichten beriefen sich die regierungsfreundlichen Publizisten neben dem Appell an die „grundlegenden Gesetze" oft auf historische Präzedenzfälle. Ihre Exkurse kann man in Kürze folgendermaßen zusammenfassen. Die königliche Macht trug bereits seit der Zeit der französischen Eroberung absoluten Charakter. Schon die Macht der Merowingerdynastie wurde nie real durch die alte Volksversammlung beschränkt, zwischen der und den Generalständen keinerlei Kontinuität bestand, noch weniger zu den Parla47 Manifeste aux Bretons, in: Les efforts, Bd. 5, S. 290. 48 Réflexions d'un maître perruquier, in : Affaires, Bd. 4, Nr. 16, S. 3. 49 La tête leur tourne, in : Recueil de toutes les pièces, Bd. 2, S. 125 f.

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ments. Selbst die Generalstände genossen beim Monarchen nur beratende Funktion. Das Pariser Parlement als ausschließlich juristisches Organ wurde unter Philipp IV. dem Schönen auf der Grundlage von vier Gerichtsbezirken (bailliages) geschaffen. Es w a r stets abhängig vom Monarchen, welcher ihm das Recht der Eintragung von Edikten und das Remonstrationsrecht gab. Die Parlements wurden vom König zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Regionen gebildet, woraus folgte, daß die von den Magistraten vertretene Theorie eines „einheitlichen und unteilbaren Parlement" keine reale Grundlage besitze. Ein ähnlicher Komplex historischer Argumente existiert mit einigen Variationen in fast jedem regierungsfreundlichen Pamphlet und wurde nicht selten mit einer Auswahl historischer Originaldokumente versehen. Die Beweisgründe historisch-traditionalistischen Typs dominierten bei den V e r teidigern der Reformen sowohl im Umfang als auch in der Bedeutsamkeit. Nur ein einziges Mal standen sie in Verbindung mit der Anerkennung des vertraglichen Ursprungs: „Die Nation übertrug alle ihre Rechte und Interessen dem Monarchen, dem einzigen Repräsentanten der Nation" 50 , aber dieser „nationale Vertrag" (contrat national) wurde im weiteren Kontext faktisch mit den „Grundgesetzen" gleichgesetzt. Die Hinwendung zu Elementen rationalistischer philosophischer Doktrinen geschah sehr selten und war fast immer mit historisch-traditionalistischen K o n struktionen verbunden bzw. ihnen untergeordnet. Meist appellierten die regierungsfreundlichen Publizisten an die Autorität von Montesquieu. 51 In einigen Pamphleten, so auch bei Voltaire, wurde die Gerichtsreform Maupeous — rationalistischer Argumentation folgend — als besser durchdacht und stärker den Belangen des Volkes entsprechend bewertet. In der proparlamentarischen Publizistik finden sich ebenfalls Argumente aller genannten Typen, jedoch in anderen Proportionen und Kombinationen. Ähnlich wie in den Pamphleten der Reformanhänger nahm die These des göttlichen Ursprungs beträchtlichen Raum ein, die indessen nicht mit historisch-traditionalistischen, sondern mit vertragsrechtlichen Argumenten verbunden wurde. Die Anerkennung des göttlichen Charakters der königlichen Macht findet man nur in zwei Pamphleten, und beide Autoren unterstreichen den Doppelcharakter ihrer Herkunft. Die königliche Macht habe vor allem vertraglichen Charakter, der Monarch erhalte die Macht durch „den einmütigen Willen" des Volkes, und Gott segne diesen Vertrag nur. 52 „Es wäre töricht anzunehmen, daß Gott selbst Ludwig X V . für den französischen Thron auserwählte . . . In Wirklichkeit bestimmte Gott, der Herrscher aller Dinge, daß Ludwig X V . gerade in der Familie geboren wurde, welche durch ihre Entscheidung die Thronfolge übertragen hat." 53 Wie auch die Pamphlete des regierungsfreundlichen Lagers enthielt nahezu jedes Werk der Opposition einen mehr oder weniger umfangreichen Appell an die „Grundgesetze", an die „Prinzipien der Verfassung", an historische Vorbil5 0 Lettres de M. de C** à M . de St**** 5 1 E b e n d a , S . 4 2 ; Raisons

à Rouen, S. 22 f .

pour désirer

une réforme;

Réflexions

d'un

citoyen,

in:

Recueil de toutes les pièces, Bd. 2, S. 20, 58-60, 257, 264; Extrait d'une lettre,

ebenda, S. 55. 52 Inauguration de Pharamond, B d . 5, S. 217. 53 Le Parlement justifié par l'impératrice de Russie, e b e n d a , B d . 1, S. 123.

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der. Es ist charakteristisch, daß die parlamentarischen Theoretiker, die die Unbeständigkeit ihrer Positionen in der Frage der „lois fondamentales" begriffen, im Verlaufe des Pamphletkrieges und selbst am unmittelbaren Vorabend der Revolution einer klaren Bestimmung ihres Inhaltes auswichen. Auf Grund der etwas nebulösen und fragmentarischen Angaben in den Pamphleten vom Anfang der 70er Jahre kann man feststellen, daß die „lois fondamentales" von der Opposition meist mit Vertrags- und naturrechtlichen Prinzipien verknüpft wurden. In einem Werk wurden diese Gesetze als „der grundlegende Akt des Zusammenschlusses zwischen dem Souverän und dem .Volk" gedeutet. 54 Hier zeigt sich, daß zu den „Grundgesetzen" auch jene gehörten, welche „der Nation die Beteiligung an der legislativen Gewalt erhalten" und ihnen weiterhin das natürliche Recht auf Leben, Ehre, Freiheit und Eigentum garantieren. Gleichzeitig wurde in einer Reihe von Pamphleten das Recht der Parlements auf Registratur von Dokumenten und Herausgabe von Remonstranzen unterstützt, wobei die Unabsetzbarkeit von Amtsträgern als integraler Bestandteil der Verfassung des Staates und als wichtigstes Grundgesetz galt.5D Die historischen Argumente der oppositionellen Publizisten führten zu der Schlußfolgerung, daß der französische König seine Macht nicht auf dem Weg der Eroberung, sondern durch freie Wahl erhalten und diese Macht stets beschränkten Charakter getragen habe. Schon die altgermanische Volksversammlung (Champs de Mars) hatte an der politischen Leitung des Landes aktiv teilgenommen, und diese Tradition wurde von den Merowingern auf die Karolinger und Kapetinger vererbt. Einige Autoren unterstrichen dabei, daß die königliche Macht stets durch die Rechte und Freiheiten der gesamten Nation eingeschränkt war. 56 Andere wiederum führten, wenn sie über die Grenzen der monarchischen Gewalt sprachen, den komplizierten Vergleich der Parlements des 18. Jh. mit den altgermanischen Volksversammlungen an, die sie in den Kronrat umwandelten und dabei behaupteten, daß gerade die Parlements, deren Wesen sich über Jahrhunderte nicht verändert habe, Hauptträger dieser Rechte waren und bleiben.57 In einigen wenigen Broschüren wurden die Parlements als Generalstände „en miniature" bezeichnet. Der Grad der Aneignung von Prinzipien der rationalistischen Philosophie lag bei den Vertretern des oppositionellen Lagers insgesamt höher als im Lager der Reformverteidiger. Sowohl die proparlamentarischen als auch die regierungsfreundlichen Publizisten bezogen sich auf die Autorität Montesquieus. Die Anerkennung der Notwendigkeit einer Vertretungskörperschaft für die Nation konnte man sowohl dessen Darlegungen über den englischen Staatsaufbau entnehmen als auch bei den Vertretern des radikaleren Flügels der französischen Aufklärung finden. Es ist interessant, daß die Opposition in hohem Grade Begriffe der Aufklärung verwendete. In den proparlamentarischen Pamphleten finden wir solche Termini und Wortverbindungen wie „Patriot und Patriotismus", „Vernunft", „Aufklärung", „Wahl", „freie und denkende Menschen", „Vertreter der Nation", 54 Tableau des différents âges, ebenda, Bd. 2, S. 75. 55 Protestation des Princes, in: Affaires, Bd. 1, Nr. 6, S. 2. 56 Principes de la législation française; Inauguration de Pharamond, Bd. 4.

in: Les efforts,

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„Stimme und Wille der Nation", „im Namen der Nation", „erwachte Nation", „Gesellschaftsvertrag", „natürliche Rechte der Person", „Bürgerrechte", „Bürgerpflichten" oder „Gemeinnutz". Eine Analyse der Argumentation der proparlamentarischen und regierungsfreundlichen Publizistik zeigt die Ähnlichkeit der theoretischen Grundlagen der politischen Ideologie beider sich bekämpfenden Lager, wobei Komponenten dieses theoretischen Arsenals in den jeweiligen Darstellungen unterschiedliches Gewicht erlangten. Das politische Denken beider Gruppierungen zeigte sich in hohem Maße säkularisiert. Die Idee einer göttlichen Grundlage der politischen Verhältnisse und sozialen Beziehungen war nahezu vollständig durch andere Faktoren ersetzt, unter denen die „lois fondamentales" die führende Position einnahmen. Mit anderen Worten, die konstitutionell-juristische Komponente gehörte zu den Grundlagen des politischen Denkens sowohl der proparlamentarischen als auch der regierungsfreundlichen Publizisten und ordnete sich alle anderen theoretischen Konstruktionen unter. Diese Komponente ergänzten beide Seiten in fast gleichem Maße mit dem Wesen nach rationalistischen Positionen, die hauptsächlich von Montesquieu übernommen wurden, was man durchaus als Integration von Ideen der Aufklärung werten kann. Wenn auch in der proparlamentarischen Publizistik im Unterschied zur regierungsfreundlichen die Idee des Vertrages und der Naturrechte einen bedeutenden Platz einnahm, so galt dies weniger für die aufklärerische Interpretation als vielmehr für die Formulierungen, die charakteristisch sind für Vertreter der sogenannten Naturrechtsschule des 16./17. Jh. (Jean Bodin, Hugo Grotius, Spinoza, Hobbes). Die durchgeführte Untersuchung zeigt, daß der Kampf um die Gerichtsreform Maupeous ein ideologisch-politischer Konflikt war. A m Beispiel des Pamphletkrieges kann man den Zusammenprall der absolutistischen und antiabsolutistischen Doktrin genau analysieren. Dabei offenbarte die absolutistische Doktrin, die von den Publizisten des regierungsfreundlichen Lagers verteidigt wurde, eine Reihe wesentlicher neuer Züge. Die These der vollen und absoluten Macht des Königs und deren traditionelle Fundamentierung durch „göttliches Recht" des Monarchen ist in den Pamphleten kaum noch zu finden. Die Idee des absoluten Königtums wurde durch andere theoretische Argumente begründet, die dem Inhalt nach denen der Opposition glichen. Die oppositionelle Publizistik dagegen forderte mit Nachdruck eine beschränkte Monarchie. Jedoch gingen die Parlements auf politischer Ebene nicht über die Forderung nach Einschränkung der königlichen Macht durch eine privilegierte oligarchische Korporation hinaus, was nach den Worten von Karl Marx nur „die eigensinnige und liberal sich auf spreizende Geltendmachung von Zunftinteressen"58 war. Ungeachtet der Schärfe der politischen Konfrontation manifestierte die Art und Weise der Argumentation der Publizisten beider Lager keinen besonderen Antagonismus. Das zeigt sich besonders deutlich im Eindringen aufklärerischer Ideen in ihre politische Ideologie, die indessen nicht über die Aneignung des Erbes 57 Tableau des différents âges, ebenda, Bd. 2. 58 Marx,

Karl,

Die preußische Konterrevolution

in: M E W , Bd. 6, S. 139. 11 Jahrbuch 39

und der preußische

Richterstand,

162

1- V. Bergo

von Montesquieu, einem sehr gemäßigten Vertreter der Aufklärung, hinausgingen. Die Vertrags- und naturrechtlichen Prinzipien, die die Anhänger der Parlements zur Formulierung ihrer politischen Forderungen anwandten, übernahmen sie nicht vom konsequenten Demokratismus Rousseaus, sondern von den Denkern des 16. und 17. Jh. Die gegen die Parlements gerichtete, ungewöhnlich scharfe Polemik, die um die Reformen entbrannte, zeugte von der Veränderung der Rolle und des Platzes dieser Korporationen im gesellschaftlichen Leben Frankreichs. In der zweiten Hälfte des 18. Jh. entstand im Land eine Situation, in der sich die oppositionelle Stimmung breiter Schichten hauptsächlich in der Unterstützung der parlamentarischen Opposition widerspiegelte. Struktur und Funktionsweise der Parlements verwandelten sie in eine ernste politische K r a f t und machten sie zur einzigen legalen Einrichtung, welche zum Sprachrohr des Unwillens verschiedenster sozialer Schichten werden konnte. Eine relativ breite und vielschichtige Koalition trat gegen die Reform auf; es wäre indessen übertrieben, sie als eine allumfassende, gesamtnationale Opposition zu bezeichnen. Die Zahl der Reformanhänger war hingegen weitaus geringer und schloß fast nur Vertreter der absolutistischen Administration ein. Dies legt die Schlußfolgerung nahe, daß der französische Absolutismus in den 70er Jahren des 18. Jh. in hohem Maße politisch und sozial isoliert war. Der Konflikt zwischen den Parlements und der Regierung um die Reform Maupeous war das Aufeinanderprallen zweier Elemente der absolutistischen Staatsmaschinerie. Er war faktisch eine Ausdrucksform der „Krise der Oberen" zu Beginn der 70er J a h r e des 18. Jh., die auf relativ friedlichem Wege gelöst wurde, da noch keine revolutionäre Situation bestand. Die objektive politische Rolle der Parlements war in dieser Etappe bekanntlich zwiespältig. Einerseits waren sie die politischen Initiatoren des Kampfes mit dem Absolutismus, zogen breite Bevölkerungsschichten in diesen Kampf und traten dabei als Führer der entstehenden antiabsolutistischen Koalition auf. Die Parlements förderten in bedeutendem Maße die unmittelbare politische Aufklärung der Massen, indem sie eine Reihe brennender Fragen des Staats- und Gesellschaftsaufbaus vor die breite Öffentlichkeit brachten. „Gerade das Parlement zog mehr als jedes andere Machtorgan den Pariser menu peuple in die politische Agitation hinein und gab ihm politischen Unterricht, den er später, im Jahre 1789, gegen die eigenen Lehrer anwendete", bemerkt in diesem Zusammenhang George Rüde. 59 Andererseits bot das politische Programm, das sich in den Losungen und Forderungen der parlamentarischen Opposition äußerte, keine reale Alternative zum absolutistischen Regime in Frankreich. Gerade deshalb erwies sich die parlamentarische Opposition letztendlich als „Sackgasse" des antiabsolutistischen Kampfes, und nicht zufällig verschwanden die Parlements 1789 augenblicklich von der historischen Szene und gingen gemeinsam mit dem Absolutismus unter. (Übersetzt von Gudrun Helmis) 59 Rüde, George, The Crowd in History, 1730-1848, New York/London/Sydney 1964, S. 49.

E. I.

Lebedeva

Die NotabeinVersammlungen am Vorabend der Großen Französischen Revolution und die Entwicklung der politischen Positionen des Adels

Die vorliegende Arbeit ist der Erforschung eines Aspekts der Krise der „Oberen" am Ende der 80er Jahre des 18. Jh., einem wesentlichen Bestandteil der sich in jener Zeit herausbildenden revolutionären Situation, gewidmet und beleuchtet die Standpunkte, die die Notabelnversammlungen von 1787 und 1788 zu wichtigen Fragen des Staatslebens einnahmen. Die erste Notabelnversammlung (22. Februar bis 25. Mai 1787) war auf Initiative des Generalkontrolleurs der Finanzen Calonne seit 1626 erstmals wieder einberufen worden, um seinen Plan staatlicher Reformen zur Bekämpfung des Defizits zu erörtern und dabei die Opposition der Parlements zu umgehen. 1 Für die Notabelnversammlung von 1787 wurden 144 Personen eingeladen, darunter sieben Prinzen des Königshauses, 13 Vertreter der höchsten Verwaltung (Mitglieder des Kronrates, Intendanten usw.), 39 Vertreter des Adels, Herzöge und Pairs von Frankreich, elf Vertreter des Hohen Klerus, 34 Magistrate der Parlements und anderer Gerichtskammern, zwölf Repräsentanten der Provinzialstände und 25 der Munizipalitäten. 2 Lediglich vier Mitglieder der ersten Notabelnversammlung vertraten den Dritten Stand. 3 Eine zweite Versammlung tagte vom 9. November bis zum 12. Dezember 1788, um den König über die besten Formen der Generalstände, deren Einberufung für das Jahr 1789 vorgesehen war, zu beraten. Beide Versammlungen erörterten somit Fragen, die die Perspektiven der politisch-sozialen Entwicklung des Landes betrafen. Da sie faktisch homogen zusammengesetzt waren — sie vereinigten die Adelselite Frankreichs —, ist ein Vergleich ihrer Positionen sehr interessant. Als Quelle für die Untersuchung dienten hauptsächlich die Protokolle der Versammlungen 4 sowie eine Reihe anderer Zeugnisse von Teilnehmern und Augenzeugen der Ereignisse. 5 1 Vgl. dazu Egret, Jean, Louis XV et l'opposition parlementaire, Paris 1970. Vgl. auch den Beitrag von I. V. Bergo im vorliegenden Band. 2 A. P., Bd. 1, S. 182-185. 3 Vgl. L'Assemblée des notables de 1787. La conférence du 2 mars, hrsg. von Pierre Renouvin, Paris 1920, S. XIV (im folg.: La conférence du 2 mars). 4 Vgl. A. P., Bd. 1, S. 182-238, 389-487; La conférence du 2 mars. 5 Journal de l'Assemblée des notables de 1787. Par le comte de Brienne et ÊtienneCharles Loménie de Brienne archevêque de Toulouse, hrsg. von Pierre Chevallier, Paris 1960; Réponse de M. de Calonne à 'écrit de M. Necker, publié en Avril 1787, contenant l'examen des comptes de la situation des finances rendus en 1774, 1776, 1781, 1783 et 1787, avec des observations sur les résultats de l'Assemblée des Notables, Londres 1788; Blain de Sainmore, A. M., Lettres 1787, 1788, Céntral'nyj

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Die erste Notabeinversammlung wurde in einer für die Monarchie außerordentlich komplizierten Situation einberufen. Mit Blick auf die ökonomische Krise, die Erschöpfung der Staatsfinanzen, die Diskreditierung der Regierungspolitik in den Augen der Öffentlichkeit erschien weitblickenden Beamten die Lage sehr bedrohlich. In dem im August 1786 vorgelegten „Plan d 'amélioration générale" sprach Calonne von der Notwendigkeit, „den Staat zu retten" und „seinen Untergang zu verhüten". 6 Kern des Plans war die Idee einer gleichmäßigeren Steuerverteilung, d. h. der Verlagerung eines bedeutend größeren Teils der Staatsausgaben als bisher auf die Schultern der Privilegierten. Beabsichtigt war, an Stelle des Zwanzigsten (vingtième) eine neue, überständische und unbefristete allgemeine Grundsteuer (die sogenannte subvention territoriale) einzuführen. Die übrigen alten Ständesteuern sollten beibehalten, jedoch vervollkommnet und für den Dritten Stand erleichtert werden. In Verbindung damit war geplant, in einer Reihe von Provinzen die indirekten Steuern zu erhöhen und außerdem die Stempelsteuer für alle Zivilstandsakte und Handelsgeschäfte auf das ganze Land auszudehnen. Calonne beabsichtigte, den Klerus, der sich bis zu diesem Zeitpunkt einer weitgehenden Selbständigkeit bei der Festlegung der Steuersätze erfreut hatte, genauso wie die anderen Stände dem System der Besteuerung zu unterwerfen. Es wurde eine Reihe von Maßnahmen zur Vereinheitlichung des Zollregimes, zur Stimulierung von Industrie und Handel, zur Regelung der Bewirtschaftung der königlichen Domänen geplant. Das Reformprogramm sah auch die Einrichtung gewählter nichtständischer Provinzialversammlungen, lokaler Verwaltungsorgane vor. Calonnes Projekte beruhten auf den Errungenschaften des ökonomischen und politischen Denkens seiner Zeit, hauptsächlich auf den Ideen der Physiokraten. Die Schöpfer des Plans stützten sich auf die Erfahrungen vorangegangener Reformminister der zweiten Hälfte des 18. Jh., in erster Linie Turgots. Calonne war bestrebt, diese Erfahrungen und Ideen zur weiteren Stabilisierung des bestehenden politischen Systems, des Absolutismus, anzuwenden. 7 In seinen einzelnen Bestandteilen war Calonnes Plan nicht neu; die kühnste Neuerung bestand in dem Vorhaben, alle diese Umgestaltungen gleichzeitig in Angriff zu nehmen. Versuche ähnlicher Art seitens der Regierung hatten bisher mit einer Niederlage und der Entlassung ihrer Initiatoren geendet. Jeder Reformversuch hatte die Interessen der einen oder anderen sozialen Schicht berührt. Die absolute Monarchie demonstrierte mit ihren Reformplänen, „daß die Staatsgewalt als scheinbare Vermittlerin momentan eine gewisse Selbständigkeit gegenüber beiden" kämpfenden Klassen, dem Adel und der Bourgeoisie, erhielt. 8 Jedoch vermochte die Regierung diese Reformen nicht durchzusetzen. Gosudarstvennoj Archiv Literatury (im folg.: CGALI), f. 1321, op. 1, d. 5, 7; Staël, Anne-Louise Germaine de, Œuvres des années 1787, 1788 et 1789, 3 Bde., Paris 1930. 6 Réponse de M. de Calonne, S. 79. 7 Vgl. die ausführliche Analyse des Reformplanes Calonnes bei Lebedeva, E. I., K istorii politiceskogo krizisa nakaune Velikoj francuzskoj revoljucii, in: Problemy novoj i novejsej istorii, Moskva 1983, S. 3—19. 8 Engels, Friedrich, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, in: MEW, Bd. 21, S. 167.

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Sie erlitt eine Niederlage nach der anderen in den Auseinandersetzungen mit der Adels- (vor allem der Parlement-)opposition und mit der Unzufriedenheit des Volkes, die manchmal in offene Empörung umschlug. Damit hatte die Monarchie ihr Unvermögen demonstriert, die Zentralisierungsfunktion weiterhin erfolgreich wahrzunehmen. Als der „Plan zur Sanierung der Finanzen" 1786 erschien, war die Autorität der Monarchie bereits stark erschüttert. Entschlossen zu konsequentem Handeln, war Calonne bemüht, sein Projekt vor dem Schicksal der vorangegangenen Reformversuche zu bewahren. So entstand die Idee der Einberufung der Notabelnversammlung, was einer Absage an die absolutistische politische Doktrin gleichkam. Die von der Regierung ausgewählten und — daran zweifelte Calonne nicht — entsprechend ihren Anweisungen handelnden Notabein mußten mit ihrer Autorität den Widerstand der Magistratur neutralisieren. In der Geschichtsschreibung hat man Calonne Inkonsequenz vorgeworfen, da er sich bei der Durchführung der gegen die Interessen der Privilegierten gerichteten Reformen gerade auf die aristokratischen Notabein stützen wollte. 9 Es war jedoch völlig normal, daß sich die Versammlung aus Adligen zusammensetzte, andere „Notabein" kamen für die absolute Monarchie überhaupt nicht in Frage. Es ging ja darum, sich mit ausgewählten Vertretern der Oberschicht zu verständigen und zu einigen, ihnen zu diesem Zweck einen Katalog der Bedürfnisse und Erfordernisse des Staates vorzulegen und sie zum Verzicht auf einen Teil ihrer Privilegien zu bewegen. Der Reformer hatte es mit der gebildeten Militär- und Beamtenaristokratie zu tun, mit Menschen, die aus dem gleichen Milieu stammten wie er selbst. Die meisten von ihnen verfügten über Erfahrungen in der administrativen Tätigkeit und konnten den Ernst der Lage einschätzen. Viele von ihnen waren anerkannte Verfechter von Neuerungen in der Regierung, traten für Reformen ein, die auf den fortgeschrittensten Errungenschaften des ökonomischen und philosophischen Denkens beruhten. Die physiokratischen Ideen, auf denen der Plan Calonnes basierte, waren weithin bekannt und verbreitet unter den Privilegierten. Der Minister war sicher, bei den Notabein auf Verständnis für seine Pläne zu stoßen. Es zeigte sich jedoch, daß es unter den Auserwählten auch unerbittliche Gegner jeglicher Veränderungen und, was nicht weniger wichtig ist, auch persönliche Feinde Calonnes gab. Selbst wenn der König gewünscht hätte, ausschließlich Verfechter von Reformen in die Versammlung zu bitten, wäre ihm dies kaum möglich gewesen. Die einen führte allein ihre Dienststellung oder ihr Titel in die Versammlung, andere wurden durch das allgegenwärtige System höfischer Protektion eingeschmuggelt. Der Versammlung war ein strenger Ablaufplan vorgegeben. Ihre Mitglieder waren auf sieben Büros verteilt, die von den Prinzen von Geblüt geleitet wurden. Die Notabelnversammlung sollte im Januar 1787 eröffnet werden, aus verschiedenen Gründen wurde dies aber einige Male verschoben. Diese Verzögerung begünstigte die Erregung der Gemüter um die bevorstehenden unerhörten Er9 Vgl. zur Geschichte der politischen Krise der Jahre 1787—1789 Cherest, Aimé, La chute de l'Ancien Régime. 1787-1789, Bd. 1, Paris 1884, S. 131 ff.; Egret, Jean, La Pré-révolution française, Paris 1962, S. 13-20.

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eignisse. Eine große Menschenmenge begleitete schließlich am 22. Februar die königliche Kutsche zur Eröffnung der Versammlung ins Versailler Palais de Ménus Plaisirs. Auf der ersten Sitzung einige Tage später riß man sich die gedruckten Reden des Königs, Calonnes und des Siegelbewahrers Miromesnil buchstäblich aus der Hand. 10 In der Folgezeit wuchs das öffentliche Interesse weiter an. Obwohl die Versammlung hinter geschlossenen Türen tagte und die Regierung offiziell nicht über den Verlauf der Debatten informierte, verbreiteten sich allerlei Nachrichten, die rege diskutiert wurden. 11 Eine Vielzahl von Pamphleten kritischer „Kommentatoren" gegen und f ü r die Regierung, Couplets und Anekdoten begleitete die Arbeit der Notabein. 12 Die öffentliche Meinung erwies sich als einflußreiche K r a f t — sowohl der Monarch als auch die Notabein mußten mit ihr rechnen. Schwierigkeiten in der Arbeit der Versammlung zeigten sich bereits in den ersten Tagen. Die gewählten Berater des Monarchen weigerten sich, dem streng vorgegebenen Szenarium zu folgen. In den Reden auf der ersten feierlichen Sitzung bezifferte Calonne das gigantische Ausmaß des Defizits mit 114 866 000 Livres. 13 Der Effekt der Bekanntgabe dieser Zahl war um so stärker, als die allgemeinen Vorstellungen der Öffentlichkeit über den Zustand der Staatsfinanzen auf einem fiktiven „Überblick" (Compte endu) beruhten, der 1781 von dem damaligen Generalkontrolleur Jacques Necker veröffentlicht worden war. Diesem Bericht zufolge hatten die jährlichen Einnahmen die Ausgaben um 1 200 000 Livres überstiegen. Es war offensichtlich, daß ein so großes Defizit nicht in sechs Jahren hatte entstehen können. Calonne hatte das Wachsen des Defizits unter seinen Vorgängern verfolgt und bezichtigte Necker der Fälschung. Der Generalkontrolleur wollte der Versammlung die Notwendigkeit ernsthafter Umgestaltungen vor Augen führen. Ganz unerwartet jedoch stellten die vom König Auserwählten nun selbst Forderungen. Aus verschiedenen Büros wurde der Wunsch laut, daß man die vorgeschlagenen Maßnahmen 14 nicht ohne Überprüfung des Defizits und ohne einen Gesamtüberblick der Regierung über den Zustand der Finanzen erörtern könne. Die Notabein scheuten sich nicht, die königliche Administration zu kritisieren, und sehr bald ertönten in ihren Versammlungen Stimmen nach einer Einber u f u n g der Generalstände. 15 Zu diesem Zweck strebten die Notabein eine Zusammenarbeit der Büros an, und schon am 2. März sah sich Calonne gezwungen, eine Art koordinierende Beratung ihrer Vertreter anzuberaumen. 16 10 Blain de Sainmore, Lettres 1787, CG ALI, f. 1321, op. 1, d. 5, Briefe 20-21, 31, 37. Blain de Sainmore, literarischer Korrespondent der russischen Großfürstin Maria Fedorovna, beschrieb in seinen Briefen nach Rußland ausführlich die Arbeit der Versammlung und die Reaktionen der Öffentlichkeit. 11 Blain de Sainmore berichtete einige Male darüber. Vgl. z. B. die Korrespondenzen vom 24. und 31. 3., ebenda, Briefe 47, 54. 12 Siehe zum Beispiel Cherest, S. 164 f. 13 A. P., Bd. 1, S. 193. 14 Vgl. die verschiedenen Memoranden ebenda, S. 201—207. 15 In den letzten Februartagen wurde diese Idee zuerst im zweiten Büro vom Generalstaatsanwalt am Parlement von Aix-en-Provence, Le Blanc de Castillon, ausgesprochen. CGALI, f. 1321, op. 1, d. 5, Brief 41. 16 La conférence du 2 mars.

Die Notabeinversammlungen

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Diese ersten Forderungen der Notabein im Sinne der Einschränkung des Absolutismus riefen bei der Regierung große Erregung hervor. Die Unfähigkeit der Monarchie zu erfolgreichem Handeln war offenkundig. Wir bemerkten bereits, daß allein die Einberufung der Notabein schon ein Abrücken von den Prinzipien des Absolutismus bedeutete. Daß die Regierenden eine Versammlung in Anknüpfung an Praktiken des 17. Jh. organisierten und von dieser Versammlung Gehorsam erwarteten, zeigte jedoch, daß sie sich nicht über die schwerwiegenden Veränderungen im klaren waren, die sich während der letzten 160 Jahre in den Wertvorstellungen und im Denken der Menschen vollzogen hatten. Im Auftreten der Notabein im Jahre 1787 mußte sich unweigerlich der Einfluß der Aufklärungskultur mit ihrer Propagierung der Freiheit und dem Selbstwert der menschlichen Persönlichkeit, mit ihrem Rationalismus, dem Streben nach Allgegenwärtigkeit ' der Vernunft und nach Wahrheit widerspiegeln. Die, gebildeten Notabein, die gewohnt waren, sich über das „Wohl der Gesellschaft" — das indessen längst nicht alle im Sinne der Ideologie der Aufklärung begriffen — Gedanken zu machen und darüber zu diskutieren, fühlten sich selbst berufen, die Geschicke des Staates in die Hand zu nehmen. Jeder von ihnen wollte seinen Standpunkt zum Finanzwesen und zum politischen System überhaupt darlegen. Nicht im geringsten hatten die Notabein damit gerechnet, daß ihnen der Ablauf der Versammlung bereits vorgeschrieben sein würde. Sie brachten dem König und seinen Vertretern nicht die erwartete Ehrerbietung entgegen. Ihre Ausführungen entfernten sich manchmal weit vom eigentlichen Gegenstand der Debatte, d. h. von den Denkschriften über die Reformen. Alle Versuche jedoch, das „freie Wort" in der Versammlung zu begrenzen, riefen nur große Empörung unter den Auserwählten hervor. Der weitere Gang der Ereignisse entzog sich zunehmend der Kontrolle der Administration. In den Protokollen der Versammlungen, aber auch im politischen Tagebuch der Brüder Brienne, die der Versammlung angehörten, wiederholten sich oft Bemerkungen, daß die Herren Notabein „alle gleichzeitig sprechen" und der Sekretär kein einziges Wort aufschreiben könne. Vergeblich rief der Vorsitzende zur Ordnung — nach einigen Minuten schwand die Disziplin erneut. 17 Obwohl sie in den Büros den Monarchen vertraten, waren die königlichen Prinzen nicht imstande, die Initiative zu ergreifen. Ihr Auftreten ließ den nötigen politischen Takt vermissen, es fehlte ihnen Autorität und Erfahrung. Die Regierung vermochte bis zum Ende der Arbeit der Versammlung auch nicht, ihrer Verwunderung über deren Geschwätzigkeit und Verwegenheit Herr zu werden. Sie konnte sich den neuen Bedingungen nicht anpassen. Calonne versuchte wiederholt, die Taktik zu ändern : bald pflichtete er den maßgebenden Vertretern der Büros bei, bald führte er Privatgespräche mit den Führern der Opposition, den Prälaten. 18 Nach Versöhnung strebend, machte er gute Miene zum bösen Spiel, indem er erklärte, daß die Einwände der Büros „lediglich die Form betreffen, aber nicht dem Wesen der Sache widersprechen . . ," 1 9 Das alles führte jedoch nicht zum gewünschten Resultat, sondern erhöhte eher die Erbit17 Ebenda, S. 55; vgl. auch S. 20 f.,24, 32, 47, 49, 64; Journal de l'Assemblée, S. 41, 45. 18 La conférence du 2 mars; Cherest, S. 166. 19 A. P., Bd. 1, S. 208 (anläßlich der Übergabe der zweiten Abteilung der Memoranden an die Versammlung).

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terung der Notabein. Um seinen Plan vor dem Scheitern zu bewahren, appellierte Calonne schließlich an die öffentliche Meinung. Er publizierte die zwei ersten Abteilungen der Memoranden über die Reformen mit einem Vorwort, 20 in welchem die Aristokraten getadelt wurden, daß sie nicht bereit seien, im Interesse des Wohles des ganzen Volkes auf ihre Privilegien zu verzichten. „L'Avertissement de Gerbier" wurde im Lande als Flugblatt verbreitet, 21 die Prediger verlasen es von der Kanzel. 22 Jedoch entsprach der Plan Calonnes den Erwartungen des Volkes zu wenig, als daß es sich für ihn interessiert hätte. Die Ergebnislosigkeit der ersten Versammlung bewahrte den Organisator und Initiator der Reformen nicht vor dem Rücktritt; er mußte bald in die Verbannung gehen. Die Notabein hatten nur solche Maßnahmen gebilligt, die nicht an die Grundlagen der Ordnung rührten und ihre Interessen nicht verletzten, so die Vervollkommnung der Taille und der Gabelle, die Reform der Wegefron, aber auch den Plan einer Serie von neuen Anleihen bei gleichzeitiger Tilgung früher aufgenommener. Die Gabelle und die Wegefron wurden zwar grundsätzlich gebilligt, es erhoben sich jedoch gerade in dieser Frage ernsthafte Zweifel in bezug auf die Zulänglichkeit der vorgeschlagenen Maßnahmen und die Brauchbarkeit dieser Steuern. Der einzige prinzipielle Schritt, den die Mehrheit der Notabeinversammlung unterstützte, war die Befreiung des Getreidehandels von staatlicher Reglementierung. Selbst diese Reform war bei Calonne weniger konsequent als bei den Theoretikern des Physiokratismus. 23 Die übrigen Projekte Calonnes, darunter jene, in die er die meisten Hoffnungen gesetzt hatte, wurden einer scharfen Kritik unterzogen. In ihrer Mehrzahl wurden sie prinzipiell nicht abgelehnt. Nur der Plan einer Verpachtung der Krondomänen rief — da „unvereinbar mit der Verfassung des Königreichs" — Widerspruch hervor. In einigen Fällen stießen die geplanten Maßnahmen auf den Widerstand einzelner Gruppen der Notabein. So rief das Projekt einer Tilgung der Schulden des Klerus den Protest der Vertreter des ersten Standes, die Vereinheitlichung des Zollregimes den der Provinzialstände und der Parlements hervor. In diesen Fällen verzichtete die Versammlung darauf, eine Entscheidung zu treffen, und verwies auf die Versammlung des Klerus und die Institutionen der Provinzen, in deren Kompetenz die aufgeworfenen Fragen angeblich fielen. Schließlich wurde eine Reihe von Maßnahmen einer Art „konstruktiver" Kritik unterzogen. Die Analyse dieser Vorschläge der Notabein ist besonders unter dem Gesichtspunkt der Bestimmung ihrer sozialpolitischen Positionen von Interesse.

20 Es stammte vom Advokaten Gerbier und ging in die Geschichte ein als „L'Avertissement de Gerbier". 21 Ein Exemplar dieses Flugblattes ist dem Bericht beigelegt, den I. M. Simolin nach Sankt Petersburg sandte. Archiv Vnesnej Politiki Rossii. Snosenija Rossii s Franciej. 1787, op. 93/6, d. 447, Briefe 122-123. 22 Cherest, S. 186. 23 Als echter Vertreter des Absolutismus vertraute Calonne nicht auf die Potenzen des Marktes und sah für den Fall einer Hungersnot die Regulierung der Getreidepreise vor. Hier wirkte sich auch die Erfahrung des „Mehlkrieges" im Zusammenhang mit den Reformen Turgots aus. Vgl. A. P., Bd. 1, S. 206.

Die Notabelnversammlungen

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So entzündete sich der Konflikt zwischen der Regierung und den Notabein an den wichtigsten Projekten, als es um die Provinzialversammlungen und die allgemeine Bodensteuer ging. Die von den Physiokraten ausgearbeitete Idee der Selbstverwaltung der Provinzen war in der aufgeklärten öffentlichen Meinung weithin bekannt. Turgot hatte seinerzeit die Einrichtung gewählter nichtständischer örtlicher Organe als eine mögliche Form der nationalen Vertretung geplant.24 Von 1778 bis 1781 hatte Necker Provinzialversammlungen im Berry und in der Haute Guyenne organisiert, war dabei jedoch von den Prinzipien Turgots abgewichen. Seine Versammlungen wurden von oben festgesetzt und trugen ständischen Charakter, obwohl es in ihnen erstmalig eine doppelte Vertretung des Dritten Standes gab.20 Calonnes Plan der Provinzialeinrichtungen führte die Tradition Turgots weiter. Er sah ein System von Gemeinde-, Bezirks- und Provinzialversammlungen für jene Gebiete vor, in denen es keine Provinzialstände gab.26 Zu den Gemeindeversammlungen sollten nur Grundeigentümer mit einem Jahreseinkommen über 600 Livres Zutritt haben, also die Seigneurs des Ortes und die Dorfbourgeoisie. Personen mit geringeren Jahreseinkünften konnten einen gemeinsamen Abgeordneten aufstellen, indem sie ihre Steuersätze zusammenlegten. Grundeigentümer mit hohem Einkommen erhielten dementsprechend mehrere Stimmen, deren Gesamtzahl jedoch ein Drittel der Versammlung nicht überschreiten durfte. Den Vorsitz konnte ein beliebiger Vertreter jedes Standes führen. Die Mitglieder der Gemeindeversammlung wählten die Distriktsversammlung aus Grundeigentümern mit einem Zensus von 1 000 Livres; diese wiederum schickten Vertreter in die Versammlung der Provinz. Den Provinzialversammlungen oblag nach dem Plan Calonnes die Verteilung der Steuern, darunter die Klassifizierung des Bodens für die Erhebung der Steuer; sie sollten die öffentlichen Arbeiten, die Armenfürsorge usw. leiten.27 In der Notabeinversammlung rief die Idee einer neuen Lokalverwaltung Widerspruch bei den Parlementaires der Provinzen hervor, die mit Recht die Konkurrenz neuer Einrichtungen fürchteten. 28 Die Mehrheit der Notabein nahm die Idee im Prinzip an, billigte jedoch die geplante Struktur der Verwaltung nicht. Ausnahmslos alle Büros lehnten das auf Turgot zurückgehende nichtständische Prinzip der Organisation der Versammlungen ab, da es sich „von der französischen Verfassung entfernt" und durch die Vermischung aller drei Stände die für die Aufrechterhaltung der königlichen Autorität und das Bestehen der

24 Faure, Edgar, La disgrâce de Turgot, 12 mai 1776, Paris 1962, S. 358 ff. 25 Renouvin, Pierre, Les assemblées provinciales en France de 1787. Origines, développement, résultats, Paris 1921, S. 47; Egret, Jean, Necker, ministre de Louis XVI, Paris 1975, S. 130. 26 Goodwin nahm an, daß Calonne in der Folgezeit dieses System auf das ganze Königreich ausdehnen wollte. Vgl. Goodwin, A., Calonne, the Assembly of French Notables of 1787 and the origins of the Revolte nobiliaire, in: English Historical Review, Bd. 61, 1946, 240, S. 223. Das ist wahrscheinlich, da das Ziel der Reform für Calonne zweifellos in der Neutralisierung des politischen Einflusses der Parlements lag. Siehe auch Lebedeva, S. 17. 27 A. P., Bd. 1, S. 201-203, 205. 28 Cherest, S. 159.

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Monarchie unabdingbare Hierarchie zerstört. 29 Die Notabein forderten auch, nur Vertretern der beiden oberen Stände in den Provinzialversammlungen den Vorsitz anzuvertrauen. Die konkreten Vorschläge der Notabein in bezug auf die Provinzialversammlungen kamen dem seinerzeit von Necker erarbeiteten System sehr nahe, das keinen radikalen Bruch mit der alten Ordnung, den Übergang vom Stände- zum Vermögenszensus etwa, vorgesehen hatte, sondern auf einen Kompromiß abzielte. Dieses System entsprach eher dem allgemeinen Geist des Reformplanes, den Bestrebungen zur Wandlung des Absolutismus. Nicht von ungefähr wurden die Ergänzungen der Notabein in dem dem Parlement zur Registratur übergebenen Edikt über die Provinzialversammlungen berücksichtigt, und in dieser Form wurde es schließlich in der zweiten Hälfte des Jahres 1787 in Kraft gesetzt. 30 In dieser Frage sprach sich die überwältigende Mehrheit der Notabein keineswegs im konservativen Sinne gegen Umgestaltungen überhaupt aus. Die königlichen Delegierten schreckte nur die ihrer Meinung nach unangemessene Radikalität des Plans der Regierung. Ausschlaggebend war jedoch die ablehnende Haltung der Notabein zur Einführung der Territorialsteuer. Darin bestand das Herzstück des Calonneschen Planes, gerade auf diese Steuer rechnete er bei der Lösung der Finanzprobleme, und auf sie richtete sich die kritische Aufmerksamkeit aller Kammern. Alle antiabsolutistischen Forderungen der Notabein kamen bei der Erörterung der Territorialsteuer zur Sprache. Die Opposition der Versammlung in dieser Frage wird in der Literatur gewöhnlich als Beweis egoistischer aristokratischer Bestrebungen ihrer Mitglieder und des Unwillens zur Opferung der Privilegien gewertet. 31 Die Monarchie wandte sich nicht zum ersten Mal an die Finanzkraft der Aristokraten auf der Suche nach dringend benötigten Mitteln, die vom Dritten Stand auch über verschärfte Steuern nicht zu erhalten waren. Jedoch faniden die reichsten Steuerzahler — die Adligen — immer wieder Mittel und Wege, der proportionalen Besteuerung ihres gesamten Besitzes zu entgehen. So verwandelte sich der „gerechte" Zwanzigste in eine fast ausschließlich vom Dritten Stand zu entrichtende Steuer, in eine Zulage zur Taille. Mit dem Eingang dieser Steuer in die Staatskasse wurde immer weniger gerechnet. Keinerlei Revisionen, denen sich die Parlements hartnäckig widersetzten, konnten an dieser Sachlage etwas ändern. 32 Die Idee einer allgemeinen Besteuerung des Bodens im Königreich war bereits von den Physiokraten entwickelt worden ; Turgot hatte ihre Verwirklichung geplant. 33 Alle Böden, unabhängig von ihrer Rechtsqualität und Nutzung, sollten ohne jegliche Ausnahme der neuen Steuer unterliegen. J e nach Beschaffenheit war das Land in vier Klassen einzuteilen und 1/20 bis 1/50 des Ertrages zu er29 A. P., Bd. 1, S. 219 f. 30 Siehe Renouvin, S. 294. 31 Vgl.- z. B. Cherest, S. 174—178; La conférence du 2 mars, S. 47, Anm. des Hrsg.; Egret, La Pré-révolution, S. 54. 32 Marion, Marcel, Histoire financière de la France depuis 1715, Teil 1, Paris 1914, S. 170-225. 33 Weulersse, Georges, La physiocratie sous les ministères de Turgot et de Necker, Paris 1950, Kap. 2.

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heben. 34 Calonne plante, die Bodensteuer sofort nach dem Einbringen der Ernte in Form von Naturalien einzunehmen, da in vielen Provinzen die Geldmittel f ü r die Bezahlung der neuen Steuer nicht ausreichen würden. 35 Staatliche Protektion des Handels sollte nach Meinung des Generalkontrolleurs den Mangel an Marktbeziehungen ausgleichen. Die Bekanntgabe des Inhalts der geplanten Reform am 23. Februar rief den Protest der Notabein hervor. In den Debatten vermieden sie es jedoch, die im Memorandum proklamierte Gleichheit der Besteuerung und die Bodensteuer prinzipiell anzugreifen. Die Versammlung machte schwerwiegende Einwände gegen die Schwierigkeiten, ja die völlige Unmöglichkeit der Erhebung dieser Steuer in der Praxis.3® Sie zeigte sich erstaunt über den so beklagenswerten Zustand der Staatsflnanzen, sprach der Administration Calonnes ihr Mißtrauen aus, forderte Rechenschaft über Einnahmen und Ausgaben und schließlich die Einberufung der Generalstände. Darin waren sich die Notabein einig. Uneinig waren sie hingegen in ihrer grundsätzlichen Haltung zu einer allgemeinen nichtständischen Steuer. Diese hatte in der Versammlung nicht wenige Verfechter, darunter auch bekannte liberale Adlige und Staatsbeamte, Parteigänger von Calonne. Blain de Sainmore schrieb über die Unterstützung der Bodensteuer durch den Maire von Troyes. 37 „Von allem, was vernünftige Menschen f ü r die Befriedigung der Bedürfnisse des Staates vorschlagen können", verkündete Herzog von La Rochefoucauld-Liancourt, „ist das unzweifelhaft einfachste und gerechteste die Bodensteuer, aber in Geldform." 38 Zugunsten der Besteuerung des Reinertrages in Geldform, f ü r eine konsequentere Anwendung des physiokratischen Prinzips sprach sich auch der Herzog von Nivernais aus. 39 Der Herzog von Charost schlug die Vereinigung beider Prinzipien vor, d. h. er griff ebenfalls die Idee der Steuer auf. 40 Während die liberalen Notabein in der Frage der Provinzialversammlungen bestrebt waren, den Radikalismus des Regierungsprojekts einzuschränken, kritisierten sie in diesem Fall den Plan Calonnes von links und riefen zu einer konsequenteren Änderung auf. Zugleich erhoben sich in der Versammlung Stimmen, die vorschlugen, den Wegezoll auf die Privilegierten auszudehnen, umgewandelt in eine Geldabgabe, so wie es Turgot getan hatte, anstelle eines einfachen Zuschlags zur Taille, wie es jetzt vorgesehen wurde. 41 Die Billigung der Idee der Bodensteuer f a n d ihre Widerspiegelung auch in einigen Dokumenten der Notabein. „Die Naturalsteuer kann nicht zugelassen werden", heißt es in einer Verlautbarung des f ü n f t e n Büros vom 9. März aus Anlaß der Memoranden der ersten Abteilung, „weil sie notwendigerweise unbestimmt, 34 35 36 37 38 39

Siehe A. P., Bd. 1, S. 203-205. La conférence du 2 mars, S. 24. A. P., Bd. 1, S. 216-220. CGALI, f. 1321, op. 1, d. 5, Brief 38. La conférence du 2 mars, S. 57. Gleichzeitig äußerte er Bedenken, ob die Einführung der Steuer nicht verfrüht sei. Ebenda, S. 43. 40 Ebenda, S. 34 f., siehe auch S. 9, 25, 28, 30, 55, wo die Notabein denselben Gedanken zum Ausdruck bringen. 41 Journal de l'Assemblée des Notables, S. 28.

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disproportional, ungleich und ruinös sein wird . . . Die Erhebung in Geldform würde erfordern, ausnahmslos alle Böden des Königreichs in proportionaler Abhängigkeit von ihrem Ertrag einzustufen." 42 Diesen Standpunkt unterstützten bei weitem nicht alle Mitglieder der Versammlung. Sehr verbreitet war in der Tat auch der egoistische Wunsch, nicht an den Staatsausgaben beteiligt zu werden. Bezeichnend dafür ist die Position der Prälaten, die nicht nur durch die bevorstehenden materiellen Verluste, sondern auch durch den Anschlag Calonnes auf ihre finanzielle Selbständigkeit aufgebracht waren. Bei der Erörterung der Reformprojekte griffen die Vertreter des Klerus, die das Prinzip der einheitlichen Besteuerung nicht direkt ablehnten, zu einer Verzögerungstaktik. Sie klammerten sich an einzelne Formulierungen und kritisierten mit Vorliebe die Schwachstellen des Regierungsplanes — z. B. die Steuereinziehung in Naturalien —, als würden sie sich auf die Positionen der liberalen Notabein begeben. In der Antwort auf eine offizielle Erklärung des Erzbischofs von Toulouse, Etienne Charles Lomenie de Brienne, daß die Reform nicht realisierbar sei, erkundigte sich Calonne mit Interesse, welche Mittel man denn bei der Durchführung der Reform f ü r die geeignetsten halte. Es folgte eine Replik des Erzbischofs von Narbonne, Dillon: „Monsieur, wir verweisen nicht auf irgendwelche Maßnahmen. Uns genügt es, die Unzulänglichkeit jener, die Sie vorgeschlagen haben, zu verdeutlichen." 43 Hier wird das Bestreben offensichtlich, die Reformen zu sabotieren, zeigt sich die Unfähigkeit, die Erfordernisse der Zeit zu erkennen. Die Analyse der Debatten und Beschlüsse der ersten Notabelnversammlung zeigt die Verschiedenheit der sozial-politischen Positionen ihrer Mitglieder. Einerseits hatten viele von ihnen Verständnis f ü r die Anforderungen der Situation und die reformerischen Bestrebungen. Davon zeugen der liberal-aufgeklärte Geist von Gegenvorschlägen der Notabein in der Frage der Provinzialversammlungen und die Verlautbarungen über die Notwendigkeit einer prinzipiellen Veränderung der Wegezölle, d. h. ihrer Umwandlung in eine allgemeine Steuer, sowie die zunehmende Kritik an der Unzulänglichkeit und Schädlichkeit der Gabelle. Andererseits waren in der Versammlung auch entgegengesetzte, aristokratischreaktionäre Bestrebungen verbreitet. Ihre Verfechter wollten sich nicht von den fiskalischen und anderen Privilegien lossagen und versuchten mit allen Mitteln, die Reformen zu verhindern. Sie widersetzten sich der Vereinheitlichung des Zollsystems, der Beseitigung der inneren Schranken, äußerten Befürchtungen betreffs der neuen Provinzialverwaltung. Von ihnen ging der Wunsch aus, die alten Einrichtungen f ü r die höheren Stände beizubehalten. Jedoch gerieten die in der Versammlung vereinten, entgegengesetzte politische Auffassungen vertretenden Aristokraten nicht miteinander in Konflikt. Trotz der genannten unvermeidlichen Widersprüchlichkeiten faßten sie gemeinsame Beschlüsse. Die Ablehnung der absolutistischen Ordnung war ihnen gemeinsam. In Verbindung mit der Vorbereitung und der Diskussion der Reformen e r f u h r das ganze Land einen gesellschaftlichen Aufschwung. Die Eigentümlichkeit der Situation bestand darin, daß soziale Kräfte verschiedener politischer Richtung gegen den „Despotismus" und seine Mißbräuche gemeinsam auftraten. 42 A. P., Bd. 1, S. 220.

43 La conference du 2 mars, S. 39 f.

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Die Notabeinversammlung des Jahres 1787 war nach langer Unterbrechung der erste Versuch eines gesamtstaatlichen politischen beratenden Organs. Die Ideen, die bis zu diesem Zeitpunkt nur in der philosophischen Publizistik und in der Literatur existiert hatten, wurden nun erstmals als konkrete praktische Maßnahmen der Innenpolitik zur Diskussion gestellt. Die Versammlung wurde für ihre Mitglieder eine Art Schule der politischen Tätigkeit und des politischen Kampfes; die dort gesammelten Erfahrungen konnten sie bereits zwei Jahre später, als viele Notabein Abgeordnete der Generalstände waren, nutzen. Der Versuch der Regierung, mit Hilfe von ausgewählten Aristokraten einen umfangreichen Reformplan zu verwirklichen, kennzeichnete den Beginn der Herausbildung einer revolutionären Situation und zeugte eindrucksvoll vom Vorhandensein einer „Krise der Oberen", die bedeutete, daß es „für die herrschenden Klassen . . . unmöglich [war], ihre Herrschaft unverändert aufrechtzuerhalten". 44 In der Folgezeit vertiefte sich die Krise, und im Frühjahr/Sommer 1788 nahm sie Formen einer echten „Adelsrevolte" an/'r> Gleichzeitig zeichnete sich vor dem Hintergrund der ökonomischen Krise, einer drastischen Verschärfung der Schwierigkeiten in der Lebensmittelversorgung, nach und nach auch eine „Krise der .Unteren' " ab. Der Aufschwung der Massenbewegung am Vorabend der Revolution begann im Sommer 1788/' 6 Im August war der König unter dem Druck der öffentlichen Meinung gezwungen, den Rücktritt des unpopulären Ministers Loménie de Brienne zu veranlassen und den Siegelbewahrer und Initiator der Parlementreform, Lamoignon, zu verabschieden. Necker wurde zurückbeordert und die versprochene Einberufung der Generalstände auf das Frühjahr 1789 festgesetzt. Im Zusammenhang damit veröffentlichte die Regierung einen Aufruf, in dem sie forderte, über die Formen und den Ablauf dieser Generalstände „neue Untersuchungen anzustellen". 47 Unter den Bedingungen der revolutionären Situation verlor die Adelsopposition, die im Prozeß der Zuspitzung der Krise eine wichtige Rolle gespielt und einen sozial heterogenen Block aller mit dem Absolutismus Unzufriedenen angeführt hatte, die Initiative. Der aktive politische Widerstand des Adels gegen die Regierung hörte auf. Das Pariser Parlement faßte einen Beschluß über das Verbot von Volksversammlungen in der Hauptstadt, begann die gerichtliche Verfolgung einer Reihe von „aufwieglerischen" Broschüren und sprach sich für die Einberufung der Generalstände nach dem Vorbild von 1614 aus/' 8 Die Generalstände, die seit 175 Jahren nicht zusammengetreten waren, sollten nun alle finanziellen, ökonomischen und sozialen Probleme lösen. Die Frage ihrer Formen wurde zur wichtigsten Frage im politischen Leben, die eine ideelle Polarisierung in der Gesellschaft veranlaßte. In den Generalständen des 17. Jh. besaßen alle Stände die gleiche Anzahl von Vertretern. Da das Prinzip der ständischen Abstimmung herrschte, befanden 44 Lenin, W. 1., Der Zusammenbruch der II. Internationale, in: Werke, Bd. 21, S. 206. 45 Siehe Mathiez, Albert, La Révolution française, Bd. 1, Paris 1937, S. 18. 46 Cekanceva, Z. A., Narodnye dvizenija vo Francii nakanune Velikoj francuzskoj burzuaznoj revoljucii konca XVIII veka, in: Novaja i novejsaja istorija, 1981, 5, S. 60-76. 47 Cherest, Bd. 2, S. 48 f. 48 Remontrances du Parlement de Paris au XVIIIe siècle, Paris 1889, S. 779, 782—794.

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sich die Privilegierten immer in der Mehrheit. Der sogenannte neue Modus der Generalstände sah die Verdopplung der Zahl der Vertreter des Dritten Standes und eine namentliche Abstimmung vor. Diese Idee war nicht neu, hatte sich doch in den Jahren 1778 bis 1781 schon Necker auf sie berufen. Die erste Notabelnversammlung hatte diese Idee für die Provinzialversammlungen unterstützt. Nun wurde sie von den bürgerlichen Publizisten vertreten und von der öffentlichen Meinung ebenso wie vom liberal gesinnten Adel aufgegriffen. Blain de Sainmore schrieb z. B., daß es „aufgrund der Revolution, die sich im Denken vollzogen" habe,49 nicht möglich sei, die Stände in der alten Form einzuberufen. Bereits im Juli erhob die Ständeversammlung des Dauphiné, angeführt durch den Parlementadel von Grenoble, die Forderung, die Generalstände nach neuem Modus zu versammeln, um den Nichtprivilegierten ihre Rechte zu sichern.50 Hauptverfechter der neuen Formen im Kronrat war der Generalkontrolleur der Finanzen, Jacques Necker. Er hielt die alte Prozedur für unmöglich, da „sich die Lage der Dinge seit den letzten Generalständen geändert" habe. „Der Handel, die Manufakturen und das Handwerk haben ein Niveau erreicht, an das früher nicht einmal zu denken war", unterstrich er und plädierte dafür, dem Dritten Stand Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.51 Da sich die Mitglieder des Kronrates zu keiner einheitlichen Meinung durchringen konnten, wurde beschlossen, die Notabein erneut einzuberufen. Ihre zweite Versammlung (9. November bis 12. Dezember 1788) wurde mit vier Fragenkomplexen konfrontiert. Die erste, wichtigste Gruppe von Fragen betraf die Zusammensetzung der bevorstehenden Generalstände. Zur Debatte standen die Gesamtzahl der Deputierten aus jedem Stand und die Formen der Abstimmung. Der zweite Fragenkomplex betraf den Modus der Einberufung der Stände und der Einladung — etwa, ob jedem Stand eine gesonderte Einladung zuzusenden sei u. ä. Der dritte Komplex über die Wahlordnung mußte klären, wer in die Generalstände gewählt werden konnte, und insbesondere, ob die Privilegierten den Dritten Stand vertreten könnten. Schließlich wurden viertens Probleme behandelt, die die Einberufung der örtlichen Versammlungen für die Ausarbeitung der Wähleraufträge für die Stände betrafen.52 Die Regierung hatte mit der ersten Versammlung, als die Notabein sofort ganz ohne Scheu über Dinge zu diskutieren begannen, die vom Standpunkt der Monarchie aus gar nicht zur Debatte standen, betrübliche Erfahrungen gemacht. Eingedenk dieser Tatsache war diesmal nicht die Erörterung vorbereiteter Texte, sondern die Beantwortung formulierter Alternativfragen vorgesehen. Aber auch die Versammlung selbst sah trotz gleichartiger Zusammensetzung im Herbst 1788 anders aus als anderthalb Jahre zuvor. Die Notabein lehnten sich diesmal nicht auf, mokierten sich nicht über die Tagesordnung, sondern befolgten die vorgeschriebene Prozedur. Sie erkannten den Ernst der Lage und taten, was ihnen aufgetragen war. 49 CG ALI, f. 1321, op. 1, d. 6, Brief 165. 50 Egret, Jean, Le Parlement de Dauphiné et les affaires publiques dans la deuxième moitié du XVIIIe siècle, Bd. 2, Grenoble 1942, S. 291-294. 51 Rede Neckers bei der Eröffnung der zweiten Notabelnversammlung, in: A. P., Bd. 1, S. 393. 52 Ebenda, S. 394-396.

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Die politische Erfahrung der vergangenen angespannten anderthalb Jahre äußerte sich auch noch an anderer Stelle. Wenn in der ersten Versammlung die Meinungsverschiedenheiten oft zu einer gewissen Verworrenheit und inneren Widersprüchlichkeit der Beschlüsse geführt hatten, so strebten die Notabein jetzt nicht unbedingt Kompromißentschließungen an: Im Falle von Divergenzen formulierte das Büro oft zwei entgegengesetzte Antworten und Begründungen. Die Position der Notabein wurde hauptsächlich bei der Lösung des ersten Komplexes deutlich, bei den Fragen, die ihr Verhältnis zu den politischen Absichten des Dritten Standes betrafen. Hier stießen zwei entgegengesetzte Standpunkte aufeinander: der erste, den Necker in der Eröffnungsrede formulierte, forderte die Berücksichtigung des neuen Kräfteverhältnisses, der zweite ignorierte die Veränderungen. Prinz Conti äußerte ihn mit aller Entschiedenheit am 29. November. Das Land sei „von skandalösen Schriften überschwemmt", behauptete er, „die im ganzen Königtum Unruhe und Zwietracht verbreiten". Nach Meinung des Prinzen war es „für die Stabilität des Thrones" unbedingt nötig, „daß alle neuen Systeme ein für allemal abgeschafft und die Verfassung und die alten Formen sämtlich und vollständig aufrechterhalten bleiben". 63 Die Position des Generalkontrolleurs siegte nur im ersten Büro, das mit einer Mehrheit von 13 gegen 12 Stimmen die Idee der doppelten Vertretung des Dritten Standes unterstützte. Dieselbe knappe Mehrheit sprach sich auch für-eine namentliche Abstimmung in den Generalständen aus, allerdings nur bei der Erörterung fiskalischer Fragen, da hier „ein gemeinsames Interesse die zwei ersten Stände vereint und sie den Interessen des Dritten gegenüberstellt". 54 Jene zwölf Mitglieder des ersten Büros, die in der Minderheit geblieben waren, erarbeiteten einen separaten Beschluß. „Adel und Klerus befürchten nicht ohne Grund, daß eine derartige Veränderung sie jener Freiheit berauben würde, die ihnen unsere Verfassung garantiert", erklärten sie. „Der Dritte Stand muß die Grenzen respektieren, die unsere Verfassung ihm vorschreibt . . . , er soll sich damit begnügen, unabhängig und frei zu sein, und nicht danach streben, Gesetze zu erlassen." 55 In allen anderen Büros siegte der Standpunkt des Prinzen Conti, obwohl sich Stimmen zur Unterstützung der neuen Formen der Generalstände in jedem Büro erhoben. Im zweiten und dritten Büro sprachen sich acht Notabein dafür aus, im sechsten unterstützten sechs von 24 Mitgliedern die doppelte Vertretung des Dritten Standes, „der nützlichsten Klasse der Staatsbürger, die zudem den beiden anderen zusammengenommen zahlenmäßig zehnfach überlegen ist".56 Jedoch sprachen sie sich gleichzeitig für das alte Prinzip der Abstimmung aus, was die Idee der doppelten Vertretung wiederum entscheidend beeinträchtigte. 57 Von den insgesamt 144 Mitgliedern der Notabeinversammlung dürften insgesamt kaum mehr als 50 für die neuen Formen votiert haben, so daß sich in der 53 54 55 56

Ebenda, S. 402. Ebenda, S. 405. Ebenda, S. 406. Ebenda, S. 472. Die Minderheit des sechsten Büros nahm ebenfalls einen gesonderten Beschluß an. 57 Ebenda, S. 475.

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für die weitere sozial-politische Entwicklung Frankreichs wichtigsten Frage zwei Drittel der Notabein als verläßliche Verteidiger des bestehenden Systems der Privilegien erwiesen. In der Mehrzahl der Fälle argumentierte man ähnlich wie die Minderheit des ersten Büros. Der Beschluß des zweiten Büros bezog sich beispielsweise auf die Generalstände, die Philipp der Schöne 1302 einberufen hatte, wo nach Ständen abgestimmt worden war. 5 8 Das fünfte Büro gab der Hoffnung Ausdruck, daß „die Nation 1789 genauso versammelt werde wie im Jahre 1614". 59 Inhaltsreicher und interessanter war der Beschluß des dritten Büros: Eine Umgestaltung müsse unbedingt in den alten Formen durchgeführt werden. Da indessen „selbst die Veränderung von Mißständen nur schrittweise erfolgen" könne, sei es für den Anfang nötig, die Stände nach dem alten Vorbild einzuberufen. 60 Das Prinzip einer zahlenmäßig gerechten Vertretung sei auch bei Verdoppelung des Tiers nicht verwirklicht, denn in diesem Fall hätte der Dritte Stand nicht zwei-, sondern 20mal mehr Deputierte haben müssen. Das Büro bestritt die Tatsache, daß die höheren Stände nicht an den Staatsausgaben beteiligt seien, zahlten sie doch indirekte Steuern, den Zwanzigsten und die Kopfsteuer. Gleichzeitig erklärte es sich'aber zum Verzicht auf alle fiskalischen Privilegien bereit. 61 In dieser Stellungnahme wurde nicht auf mittelalterliche Regeln verwiesen, nicht kurzschlüssig und mechanisch die alten Verhältnisse auf die neue Zeit übertragen, wie in der Verlautbarung des Prinzen Conti. Ziel dieses Dokuments war es, die bürgerliche These vom Parasitismus der höchsten Stände vom Standpunkt der Vernunft und im Geiste der Aufklärung zu widerlegen: Vom Adel als dem mächtigsten Eigentümer hänge das Gemeinwohl ab. Für den Beschluß des dritten Büros war die Hervorhebung der latenten Widersprüche innerhalb des Dritten Standes charakteristisch. In einer Zeit, da sich die ländliche Bevölkerung in Frankreich stark vermehrte, würden die Vertreter des Dritten Standes zu den Generalständen vor allem Städter sein. Sie seien gebildeter, ihnen werde es leichterfallen, den häuslichen Herd zu verlassen. Jedoch könnten die Interessen der Bauern und der Städter in Widerspruch miteinander geraten. Der Seigneur selbst verteidige die Interessen der Bauern, er „könne nur reich sein, wenn seine Vasallen wohlhabend sind". Zugleich wies der Beschluß auf den Interessengegensatz zwischen „Eigentümern" und „Eigentumslosen" hin: „die Nichtbesitzenden vermögen nicht an den Generalständen teilzunehmen, da sie die ganze Zeit für die Sicherung ihres Lebensunterhalts arbeiten müssen". 62 Beim Vergleich der Dokumente der zweiten Notabelnversammlung mit denen der ersten fällt das Fehlen jeglicher Opposition gegenüber der Regierung auf. So wie die erste Versammlung mit der Tätigkeit des Generalkontrolleurs Calonne unzufrieden war, war es die zweite mit der Arbeit Neckers. Die überwältigende Mehrheit der Versammlung lehnte zwar die von ihm verkündeten Prinzipien ab, versuchte aber nicht, den Rücktritt des Ministers zu erreichen: 58 59 60 61 62

Ebenda, Ebenda, Ebenda, Ebenda, Ebenda,

S. 418. S. 461. S. 433. S. 436 f. S. 437 f.

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sie demonstrierten eine ausgesprochene Ehrfurcht vor der Macht. „Skandalöse Schriften" hatten Verbreitung erlangt, das Volk war erwacht. „In den Prinzipien der Regierung bereitet sich eine Revolution vor", schrieben Anfang Dezember die Prinzen in ihrem berühmten Memoire. 63 Unter diesen Bedingungen schien den Notabein eine Opposition gegen die Monarchie nicht n u r fehl am Platze, sondern auch gefährlich. Dies war die Position der gesamten Versammlung. Wie schon in der ersten Versammlung, lassen sich in der zweiten zwei Flügel feststellen. War es infolge der unklaren Positionen und der Unentschlossenheit der Notabein in jener schwierig, das Kräfteverhältnis einzuschätzen, so fällt das bei der zweiten Notabeinversammlung leichter. Die Verfechter liberaler Konzessionen an den Dritten Stand stellten in der Versammlung nicht mehr als ein Drittel der Mitglieder. Ein großer Teil dieses Drittels befürwortete wiederum n u r sehr begrenzte Reformen und hielt es nicht f ü r nötig, sich von der konservativen Mehrheit strikt abzugrenzen. Im Vergleich zur ersten Notabeinversammlung, in der liberale Beschlüsse zu wichtigen Fragen des Calonneschen Planes angenommen wurden, hatte sich auf der zweiten die reformerische Leidenschaft der Notabein merklich abgekühlt. Die zweite Versammlung hielt der Konfrontation mit der Realität nicht stand und konnte den Anforderungen des politischen Kampfes nicht entsprechen. Bezeichnend ist die Tatsache, daß die Mehrheit der Notabein im Herbst 1787 f ü r die Institutionen der Provinzen genau dieselben Formen gefordert hatte, wie man sie jetzt f ü r die Generalstände ablehnte. Im Zusammenhang damit formierten die Notabein sich zu einer Gruppe, die sich nicht auf einen Kompromiß mit der Mehrheit, den Anhängern des Dritten Standes, einließ. Die Tendenz zur ideologisch-politischen Polarisierung innerhalb der herrschenden Klasse Frankreichs ist f ü r die letzten vorrevolutionären J a h r e charakteristisch. Im F r ü h j a h r 1789 spiegelte sie sich in den adligen Cahiers de doléances wider, von denen nur ein geringer Teil — 17 von 165 — liberal-reformerischen Charakter trug. M In den Revolutionsjahren wurde dieser Prozeß die Grundlage der politischen Spaltung des Adels : Einen kleineren Teil zog es in die revolutionären Versammlungen und Klubs, den größeren nach Koblenz und Turin, in die Emigration. (Übersetzt von Johanna Klein) 63 „Une révolution se prépare dans les principes du gouvernement." Mémoire presenté au roi par Monseigneur le comte d'Artois, M. le prince de Condé, M. le duc de Bourbon, M. le duc d'Enghien et M. le prince de Conti, auch als Mémoire des princes bezeichnet. Ebenda, S. 487. 64 Vgl. Pimenova, L. A., Dvorjanstvo nakanune Velikoj francuzskoj revoljucii, Moskva 1986, S. 156. Vgl. auch den Beitrag von L. A. Pimenova im vorliegenden Band.

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Das sozialpolitische Programm des Adels am Vorabend der Französischen Revolution

Fragen der sozialen Lage des Adels und seiner Stellung in Gesellschaft und Politik am Ende des Ancien Régime erregen die Aufmerksamkeit von Forschern verschiedener Länder und provozieren lebhafte Diskussionen. Dieses Interesse der Forschung ist keineswegs zufällig, ist doch die Suche nach Antworten auf diese Fragen für die Klärung des historischen Wesens der Französischen Revolution, ihrer Ursprünge und Voraussetzungen und ihrer Rolle für die nachfolgende Entwicklung Frankreichs von Bedeutung. Analog zur früheren „Debatte um die Gentry" in der britischen Historiographie ist der Streit um den französischen Adel des 18. Jh. Bestandteil einer viel breiteren Polemik, die sich um die Gesamtkonzeption der Französischen Revolution rankt. 1 Lange Zeit widmeten Historiker, wenn sie den französischen Adel am Vorabend und während der Revolution untersuchten, jenen Dokumenten und Fakten besondere Aufmerksamkeit, die den politischen Konservatismus des Adels, seine Bindung an die Feudalverhältnisse und seine Feindseligkeit gegenüber dem historischen Fortschritt belegen. Dieser Standpunkt charakterisierte schon das Bewußtsein von Teilnehmern an der Französischen Revolution, die den Ruf „Aristokraten an die Laterne" zur Forderung erhoben. Die Worte Aristokrat und Konterrevolutionär wurden Synonyma, was sich in breitem Maße in der revolutionären Publizistik, in Gedichten, Liedern, in den Diskursen der Redner, in Plakaten und Karikaturen widerspiegelte. Eine ähnliche Einschätzung des Adels klang auch in den ersten historischen Arbeiten über die Französische Revolution an: in den Werken der Revolutionsteilnehmer Antoine Barnave und Alexandre Lameth, danach bei François Mignet und seinen Zeitgenossen. Viele Historiker des 19. und des frühen 20. Jh. machten sich ihre Auffassungen zu eigen, die sich für lange Zeit sowohl in der historischen Spezialliteratur als auch in der öffentlichen Meinung einbürgerten. Demgegenüber erlangte in den letzten Jahrzehnten ein Standpunkt größere Verbreitung, wonach gerade der Adel die Entwicklung kapitalistischer Verhältnisse in der Wirtschaft beförderte und so — führend im Kampf gegen den Absolutismus, für die Verwirklichung liberaler, aufklärerischer Prinzipien — auf 1 Siehe z. B. Soboul, Albert, L'historiographie classique de la Révolution française, in: La Pensée, Paris 1974, 177, S. 40—58, dt. in Rolle und Formen der Volksbewegung im bürgerlichen Revolutionszyklus, hrsg. von Manfred Kossok, Berlin 1976, S. 48—67; Doyle, William, Origins of the French Revolution, Oxford 1980, S. 1—40; Ado, A. V., Velikaja francuzskaja revoljucija i ee sovremennye kritiki, in: Burzuaznye revoljucii XVII—XIX vv. v. sovremennoj zarubeznoj istoriografii, Moskva 1986, S. 96-126. 12»

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fortschrittlichen politischen Positionen stand. Diese Meinung vertreten François Furet, Denis Richet, Guy Chaussinand-Nogaret und eine ganze Reihe weiterer Historiker Frankreichs, der USA, Englands und der BRD. 2 Die Diskussion bewegt sich insbesondere um die Frage, ob der Adelsstand zu den Kräften des Ancien Régime gehörte oder sich ebenso in Opposition zu ihm befand, wie er sich dem absoluten Monarchen widersetzte ; ob der Adel in ideologisch-politischer Hinsicht einheitlich oder gespalten auftrat. Die Existenz der adligen cahiers de doléances f ü r die Generalstände von 1789, die als zeitgenössische Erhebung zur öffentlichen Meinung einmalig f ü r das 18. Jh. und f ü r die gesamte Periode der Neuzeit sind, ermöglicht eine Untersuchung dieses Fragenkreises. Der Brauch, den Deputierten zu den Generalständen Beschwerdehefte im Namen jener mitzugeben, die in den Versammlungen der Standesvertreter zusammenkamen, entstand in Frankreich bereits um die Mitte des 16. Jh. J e doch galt 1789 eine veränderte Ordnung f ü r das Aufstellen der Cahiers, in deren Ergebnis sie ähnliche Dokumente f r ü h e r e r Zeiten hinsichtlich der Repräsent a t i v s t übertrafen. Während der Adel zu den f r ü h e r e n États Généraux Beschwerdehefte einreichte, in denen die Vorstellungen auf der Ebene von Provinzen zusammengefaßt waren, kamen sie 1789 direkt aus den Bailliages und Sénéchaussées. 3 So wurden die in der Urwählerversammlung aufgesetzten Cahiers keiner weiteren Bearbeitung unterworfen. Für die Analyse standen uns 165 Beschwerdehefte aus dem J a h r e 1789 zur Verfügung: 150 Cahiers des Adels; drei von Adel und Klerus, drei von Adel und Drittem Stand und neun, die alle drei Stände zusammen verfaßt hatten. 4 Wiederholt haben sich Historiker mit den adligen Beschwerdeheften von 1789 befaßt, wobei die Meinungen über deren Inhalt wesentlich auseinandergingen. Für Jean Jaurès legten die Cahiers davon Zeugnis ab, daß der Adel eine reaktionäre politische K r a f t war, die Frankreich vom Absolutismus zurück zur ständisch-repräsentativen Monarchie stoßen wollte, obgleich sie sich f ü r ihre Ziele auch auf die revolutionäre Bewegung des Dritten Standes zu stützen suchte. 5 Zu ähnlichen Schlußfolgerungen gelangte auch der russische Historiker V. Ja. Chorosun, der die adligen Beschwerdehefte von 1789 speziell untersuchte. Das Programm des Adels am Vorabend der Revolution, das er aus den Cahiers herausgezogen hatte, benannte er als „ständisch-konservativ". Seine Realisie2 Richet, Denis, Autour des origines idéologiques lointaines de la Révolution française, in: Annales E. S. C., 1969, 1, S. 1—23; Lucas, Colin, Nobles, bourgeois and the origins of the French Revolution, in: Past and Present, 1973, 60, S. 84fE.; Chaussinand-Nogaret, Guy, La noblesse au XVIII e siècle. De la féodalité aux lumières, Paris 1976; Furet, François, Penser la Révolution française, Paris 1978. 3 Bailliages und Sénéchaussées waren Gerichts- bzw. Verwaltungsbezirke des vorrevolutionären Frankreich, die während der Wahlen zu den Generalständen als Wahlkreise dienten. 4 Zur Charakterisierung der Cahiers als Quelle historischer Untersuchungen vgl. Hyslop, Béatrice, A Guide to the General Cahiers of 1789, New York 1936; dies., Répertoire critique des cahiers de doléances pour les États Généraux de 1789, Paris 1933. Vgl. auch Pimenova, L. A., Dvorjanstvo nakanune Velikoj francuzskoj revoljucii, Moskva 1986, S. 12-21. 5 Jaurès, Jean, Histoire socialiste de la Révolution française, édition révue et annotée par Albert Soboul, Bd. 1/1, Paris 19832, S. 269-274.

Das sozialpolitische Programm des Adels

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rung hätte Frankreich in die Zeit der ständisch-repräsentativen Monarchie zurückgeführt. Das Wesen dieses Programms bestand nach Chorosuns Meinung in der Verteidigung der ständischen, grundherrlichen und provinziellen Privilegien. 6 Zur entgegengesetzten Schlußfolgerung gelangte ein französischer Historiker der Gegenwart, Guy Chaussinand-Nogaret: „Ainsi, c'est l'ensemble de l'organisation politique, économique et sociale de l'Ancien Régime que la noblesse a, sans restriction, remis en cause. Loin d'être les mainteneurs du passé, ils font plutôt figure d'iconoclastes." 7 In den adligen Cahiers sieht er das Projekt einer liberalen konstitutionellen Monarchie, das Urbild dessen, was sich in Frankreich nach der Julirevolution 1830 einbürgerte. Im vorliegenden Aufsatz soll untersucht werden, mit welchen sozialpolitischen Forderungen der französische Adel am Vorabend der Revolution auftrat, welches die Zielsetzung dieser Forderungen w a r ; es gilt herauszufinden, welche Positionen der Adel in seiner Gesamtheit vertrat und welche strittigen Fragen die Meinungsverschiedenheiten innerhalb des Standes herausforderten. Die Beschwerdehefte entstanden in der Periode einer umfassenden gesellschaftspolitischen Krise Frankreichs, von der die Krise der Herrschenden, die sich in den Cahiers des Adels widerspiegelte, einen Teil bildete. Alle Hefte durchzieht mit unterschiedlicher Deutlichkeit der Unmut über das politische System Frankreichs. Dies wird in der Bewertung erkennbar, die die Situation im Land auf den Seiten der Cahiers erfuhr: „Unglück Frankreichs"; „langwährende Mißstände"; „Not und Zwistigkeiten" ; „Verletzung grundlegender Gesetze der Monarchie und der unveräußerlichen Rechte der Nation" ; „Verletzung der Konstitution"; „Mißbrauch der unumschränkten Macht"; „Willkür, die die Freiheit der Bürger mißachtet"; „Regime der Unterdrückung"; „Willkür der Minister"; „ministerieller Despotismus" usw. 8 Im Frühjahr 1789 forderte der französische Absolutismus die Kritik der herrschenden Stände Frankreichs heraus, deren Interessen zu verteidigen er berufen war. Die adlige Opposition gegen den Absolutismus äußerte sich in der Forderung nach einer Begrenzung der königlichen Macht durch die Generalstände, die in der erdrückenden Mehrheit der Cahiers formuliert war. 162 der untersuchten 165 Hefte forderten die Umwandlung der Generalstände in ein Organ, das entweder ständig tätig sein oder regelmäßig für einen von ihm und unabhängig vom Wollen der Krone festgesetzten Zeitraum zusammentreten solle. Die Verfasser der Beschwerdehefte verlangten eine Erweiterung der Befugnisse der Generalstände. Zu Zeiten der ständisch-repräsentativen Monarchie hatte ihre Funktion in der Bewilligung neuer Steuern bestanden. Jetzt sollten ihre Kompetenzen nach den Vorstellungen, die die Autoren der Cahiers hegten, außer der Festsetzung von Höhe und Art der Steuern die Kontrolle über Verwaltung, Gesetzgebung und Finanzpolitik einschließen, d. h. die königliche Macht wesentlich einschränken. In 58 Heften wurden die Generalstände zum höchsten gesetzgebenden Organ, in weiteren 79 gemeinsam mit dem König zum Träger der gesetzgebenden Ge6 Chorosun, V. Jh., Dvorjanskie nakazy vo Francii v 1789 godu, Odessa 1899. 7 Chaussinand-Nogaret, S. 199. 8 A. P., Bd. 2, S. 507, 658, 750; Bd. 3, S. 246, 741; Bd. 4, S. 62; Bd. 5, S. 275, 431; Bd. 6, S. 77; Hyslop, Guide, S. 236 f., 246.

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walt erklärt; 43 schlugen die Unverletzlichkeit der Abgeordneten zu den Generalständen vor. Mit dem Ziel, dem „ministeriellen Despotismus" ein Ende zu bereiten, verlangten die Autoren von 149 Heften, die Verantwortlichkeit der Minister gegenüber den États Généraux festzulegen. In zehn Cahiers trug diese Forderung besonders radikale Form: in ihnen wurde die Bildung einer Institution (commission intermédiaire) aus den Reihen der Deputierten vorgeschlagen, damit auch zwischen den Sitzungsperioden der Generalstände eine Kontrolle der Administration möglich würde. Häufiger indessen — in 48 Cahiers — wurde die Meinung geäußert, dieses Gremium nicht aus Abgeordneten zusammenzusetzen. Deutlich wird der Einfluß, den die Lehre von der Gewaltenteilung ausübte. Bekanntlich hatte Montesquieu in der Regierung, die aus dem Parlament hervorgeht, eine verderbliche Vereinigung vollziehender und gesetzgebender Gewalt gesehen. 9 Die Verfasser von 77 Cahiers verlangten die Proklamation einer Verfassung oder einer Charta der Rechte der Nation, in die die oben beschriebenen Forderungen eingehen müßten. Darüber hinaus findet sich in den Heften ständig wiederkehrend das Verlangen, Rechte und Freiheiten der Bürger zu verkünden. Während die Adligen das politische System Frankreichs dieser Zeit als Despotismus und Willkürherrschaft kritisierten, zeigten sie sich als Anhänger eines — im Vergleich zum Charakter der absoluten Monarchie — prinzipiell neuen Typs der Wechselbeziehung von Regierungsmacht und Gesellschaft und forderten die unbedingte Wahrung des „heiligen Prinzips" der persönlichen Freiheit. Insgesamt 137 adlige Cahiers postulierten die Unverletzlichkeit der persönlichen Freiheit. Die Adligen erachteten die Umwandlung des Staatsapparates für unerläßlich. Häufig ist der Vorschlag anzutreffen, die Ordnung zu verändern, nach der Ämter zu erlangen waren : 62 Cahiers protestierten gegen Käuflichkeit und Erblichkeit von Ämtern in Verwaltung, Justiz, Finanz- und Heereswesen. Es wurde ein Programm der Umgestaltung der Lokalgewalten vorgebracht, das antiabsolutistischen Charakter trug. 44 Hefte forderten die Abschaffung des Intendantenamtes oder die Beschneidung seiner Kompetenzen, in 160 wurde vorgeschlagen, die Befugnisse lokaler Verwaltung von den Intendanten, die der König benannte, an gewählte örtliche Organe zu übertragen: an Provinzialstände oder an die Munizipalitäten in den Städten und Dörfern. In der überwältigenden Mehrheit der Beschwerdehefte wurden Unzufriedenheit über das in Frankreich existierende Gerichtswesen und die Prozeßordnung geäußert und Reformprojekte auf diesem Gebiet vorgetragen. In 146 Cahiers plädierten die Adligen dafür, das Justizsystem zu vereinfachen, die Gerichtskosten zu verringern oder die Verfahren kostenlos durchzuführen. Die Autoren von 88 Heften bestanden auf einer Reform der Zivil- und Kriminalgesetzgebung. In einer Reihe von Texten läßt sich dabei eine neue, antiabsolutistische Auffassung vom Ursprung des Rechts ausmachen. Entsprechend der offiziellen politisch-juristischen Doktrin der absoluten Monarchie war der königliche Wille als Quelle des Rechts anzusehen. Das aufklärerische Denken betrachtete dagegen die freie Entscheidung der Bürger als Rechtsquelle und ging von der These aus, gerichtliche Entscheidungen könnten nur auf der Grundlage des Gesetzes gefällt werden. 9 Montesquieu, Charles Louis, De l'esprit des lois, Paris 1969, S. 124.

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„Nur aus Gesetzen kann die Strafe f ü r Verbrechen abgeleitet werden und . . . die Macht ihrer Verkündung kann dem Gesetzgeber nur als dem Vertreter der gesamten Gesellschaft, die durch den Gesellschaftsvertrag verbunden ist, zukommen", hatte der in Frankreich weithin bekannte Jurist Cesare Beccaria geschrieben. 10 In den Beschwerdeheften widerspiegelte sich diese Auffassung in den Forderungen, keine Willkür in gerichtlichen Entscheidungen zuzulassen (14 Cahiers), die Kriminalprozesse öffentlich zu f ü h r e n (23 Cahiers) und die Kontrolle über die Rechtsprechung durch die Gesellschaft einzuführen. Im Zusammenhang damit wurde eine Reihe von Maßnahmen zur Sicherung der Unverletzlichkeit der Person verlangt. In 148 Cahiers forderten die Adligen, Strafen nur auf gesetzlicher Grundlage und auf gerichtlichen Entscheid hin auszusprechen, die Dauer von Arretierungen auf 24 Stunden zu begrenzen, nach deren Ablauf der Delinquent freizulassen oder in die Hände der Justiz zu übergeben sei. Wenn in der historischen Literatur die adligen Beschwerdehefte von 1789 widersprüchliche Einschätzungen erfuhren, so resultiert das aus der Uneinheitlichkeit der programmatischen Forderungen. Reflexionen verschiedener politischer Traditionen verflochten sich mit Ideen und Forderungen, die der gesellschaftspolitischen Situation und der geistigen Atmosphäre der zweiten Hälfte des 18. Jh. entwuchsen. Eine Reihe von Thesen in den adligen Cahiers von 1789 gingen auf die traditionelle Adelsopposition gegen die gewaltige Macht des Königs zurück. Schon in der „Großen Märzdonnanz" von 1357 taucht die Forderung nach regelmäßigem Zusammentritt der Generalstände unabhängig vom königlichen Willen auf, ebenso die Kontrolle der Minister durch die États Généraux und die Bestimmung der Minister aus dem Kreis der Deputierten. Das Programm einer Begrenzung. der königlichen Macht zugunsten des Adels, dessen Interessen mit denen des ganzen Volkes übereinstimmen würden, fand zur Zeit der Religionskriege in den Pamphleten der Monarchomachen Verbreitung. Vergleicht man die Beschwerdehefte von 1789 mit jenen adligen Cahiers des 17. Jh., die wir zur Verfügung haben, 11 so zeigt sich, daß die Forderung nach Periodizität der General10 Bekkaria, Cezare, O prestuplenijach i nakazanija, Moskva 1939, S. 204. 11 Detaillierte Auszüge aus d e m Cahier des Adels der Bourgogne und aus einem zusammengefaßten Adelscahier zu den Generalständen von 1562; Beschwerdeh e f t e des Adels des Boulonnais, von Péronne, Montdidier und Roye für die Generalstände von 1588, Adelscahiers aus der Bourgogne, Guyenne, dem Languedoc, Lyonnais, Forèze und Beaujolais, aus dem Berry, aus Meaux, Paris und der Ile-de-France, der Normandie, Bretagne, Champagne und aus d e m Brie sowie der Picardie zu den Generalständen von 1614, die handschriftlich überliefert sind, w e r d e n in der Handschriftenabteilung der Staatlichen öffentlichen Bibliothek Saltykov-Scedrin in Leningrad (Fr. F II, N 79, t. 1—2) aufbewahrt. Daneben verf ü g e n wir über die Publikation adliger Cahiers zu den Generalständen von 1614 und für die letztlich nicht stattgehabte Versammlung zur Zeit der Fronde in der Mitte des 17. Jh.: Archives et documents pour l'histoire moderne, XVI—XVIII e siècles, publ. par François X a v i e r Emmanuelli, Sér. 1, A, Noblesse 1614: Remontrances de la noblesse de Provence, A i x - e n - P r o v e n c e 1974; Cahiers de doléances de la noblesse d'Orléanais, Normandie et Bretagne pour les États Généraux de 1614, publ. par Yves Durand, in: Université de Nantes. Enquêtes et documents,

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stände — wenn auch in dem recht großen Intervall von zwölf Jahren — im Adels-Cahier des Lyonnais f ü r die États Généraux von 1614 auftaucht. 12 Die Verurteilung der königlichen Selbstherrschaft in den Heften von 1789 entstammt gleichfalls der Tradition der Parlementopposition, die zur Zeit der Fronde Mitte des 17. Jh. das Recht der Parlements proklamierte, die Steuern zu bestätigen und die Gesetzgebung zu kontrollieren. Wie die adligen Cahiers des 17. Jh. sprach sich auch die Parlementopposition entschieden gegen die Justizwillkür aus. In den Jahren der Fronde appellierten Parlements und Aristokratie in ihrem Protest gegen die unbegrenzte Macht des Monarchen an die Idee der Souveränität der Person. Die Verfügung der Kammern des Heiligen Ludwigs, die auf dem Höhepunkt der Fronde im Sommer 1648 verbreitet wurde, enthielt den dringenden Wunsch, willkürliche Verhaftungen und das Festhalten im Gefängnis ohne Urteil und gerichtliche Untersuchung zu untersagen, diejenigen zu entlassen, die ohne Urteil einsitzen; niemanden länger als 24 Stunden unter Arrest zu halten oder nach Ablauf dieser Frist unverzüglich der ordentlichen Justiz zu übergeben, die Praxis der Verschickung von lettres de cachet abzuschaffen, auf deren Grundlage jeglicher Untertan des Königs ohne Urteil eingesperrt werden konnte. 13 Analoge Forderungen existieren auch in den adligen Beschwerdeheften von 1789. Traditionell waren auch Forderungen, die Zahl der Gerichtsinstanzen zu beschränken, die neben den königlichen Gerichten existierenden behördlichen und anderen Gerichtshöfe zu beseitigen, die Ubergabe einer Strafsache von einem Gericht an ein anderes während der Verhandlung zu verbieten. Postulate ähnlicher Art fanden sich im Cahier der Adligen von Péronne f ü r die Generalstände von 1588 und in der Mehrzahl der Hefte des 17. Jh. Die Verworrenheit des Gerichtssystems, die unklaren Kompetenzen der verschiedenen Gerichtskammern, die in ihnen herrschende Korruption, der Bürokratismus und die Gesetzesunsicherheit waren einige der im Frankreich des Ancien Régime tief verwurzelten Übel. Der Absolutismus erwies sich als unfähig, das Chaos im Gerichtswesen zu liquidieren, deshalb rückten Forderungen nach Verbesserung der Justiz in den adligen Cahiers im Verlaufe von 200 Jahren zunehmend in den Vordergrund. Traditionell war gleichfalls eine Reihe von Vorschlägen der Adligen zur Reformierung der Lokalgewalten. So verlangte das Cahier von Péronne 1588 die Einrichtung von Provinzialständen. 14 Davon war ebenso im Beschwerdeheft von Guyenne 1614 die Rede. Das Heft des Angoumois aus dem Jahre 1649 erörterte die Abschaffung der Intendantenämter. Dort waren diese Vorschläge mit der Verteidigung von Provinzautonomie und -Privilegien gekoppelt und Teil eines politischen Programms, das auf die Stärkung der Position des Provinzadels t. 1, Nantes 1971; Mousnier, Roland/Labatut, Jean-Pierre ¡Durand, Yves, Problèmes de stratification sociale: Deux cahiers de la noblesse 1649—1651, Paris 1965. 12 Gosudarstvennaja publicnaja biblioteka imeni M. E. Saltykova-Scedrina. Otdel rukopisej (im folg. : OR GPB), Br. F II, N 79, t. 2, S. 236-245. 13 N. Johannes, sieur du Portail, Histoire de temps ou le véritable récit de tout ce qui s'est passé dans le Parlement depuis le mois d'août 1647 jusqu'au mois de novembre 1648, Paris 1649, S. 94—105; Lorris, Pierre Georges, La Fronde, Paris 1961, S. 40-42. 14 OR GPB, Fr. F II, N 79, t. 2, S. 330.

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ausgerichtet war. In den Heften von 1789 setzten Forderungen, die Intendantenämter abzuschaffen und gewählte Organe in Gestalt der Provinzialstände zu schaffen, gleichfalls Traditionen feudaler Selbstherrlichkeit fort und hatten zum Ziel, die Macht des lokalen Adels in den Provinzen zu Lasten der zentralistischen Politik des Absolutismus zu erweitern. Tendenzen provinziellen Partikularismus waren in insgesamt 74 Cahiers anzutreffen. Unter ihnen setzten sich 64 für die Unantastbarkeit der Provinzprivilegien und -gewohnheiten und für eine breite Autonomie der lokalen Stände in Fragen der Gesetzgebung und der Steuererhebung ein. In 19 Heften fand sich das Verlangen nach Wahrung der provinziellen Steuerprivilegien. Ähnlich partikularistische Bestrebungen waren charakteristisch für die Adligen jener Provinzen, die später als andere mit der königlichen Domäne vereinigt wurden und viele ihrer alten Vorrechte bis zum 17./18. Jh. bewahrten (Franche-Comté, Bourgogne, Lothringen, Languedoc, Gascogne, Poitou, Flandern, Normandie, Boulonnais). In den Cahiers von 1789 figurierte eine Reihe traditioneller Beschwerden über die Unordnung in der Armee. Dazu gehörte insbesondere der Wunsch nach Abschaffung der Käuflichkeit von Militärstellen. Formell war bis 1789 die Käuflichkeit militärischer Ämter durch eine Serie ministerieller Rundschreiben abgeschafft, tatsächlich aber ging der Handel mit Stellen in den Regimentern weiter. 15 In den Heften von 1614 aus dem Orléanais, Berry, Lyonnais und aus Guyenne forderte man, die Zahl der Kommandos zu verringern. Dafür sprachen sich im Jahre 1789 28 Beschwerdehefte aus. Der Adel der Bourgogne verlangte 1614 eine Reform der milice. Analogen Positionen begegnet man 1789 in 40 Heften. Die Adligen schlugen vor, die Formierung von Landwehren unter die Kontrolle der Provinzialstände zu stellen und anstelle des Losens das neue Prinzip der Wählbarkeit einzuführen, das geeignet wäre, die milice zu einer tatsächlichen „nationalen Landwehr" zu machen. Für die Hefte des 17. Jh. war gleichfalls das Verlangen nach Änderungen im Bereich des Finanzwesens charakteristisch. Das Anwachsen der königlichen Steuerlast, das die Herausbildung und Festigung des Absolutismus begleitete, hatte schon damals Proteste gegen das Fiskalwesen hervorgerufen. Zu den traditionellen Forderungen gehörten die nach sparsamem Umgang mit staatlichen Mitteln, nach einer Veränderung des Steuersystems und der Ordnung ihrer Erhebung, nach Abschaffung einiger indirekter Steuern und Einführung einer Luxussteuer. Allerdings zeigten die Autoren der Beschwerdehefte von 1789 bei der Behandlung dieser Fragen größere Entschlossenheit. Die Adligen des 17. Jh. hatten offensichtlich kein anderes Finanzsystem als das zu ihrer Zeit bestehende im Sinn und schlugen deshalb nur einige Korrekturen vor. So beschränkten sich die Artikel, die die Wirtschaft betrafen, auf Forderungen nach Einschränkung der staatlichen Mittel, der Pensionen und der Zahl staatlicher Ämter. In den Heften von 1789 wurden dagegen wesentlich tiefgreifendere Veränderungen vorgeschlagen : außer den oben aufgezählten z. B. alle Ausgaben aus dem Staatshaushalt, einschließlich der Aufwendungen des Königs und seiner Familie, exakt festzulegen und jährlich einen Finanzbericht zu veröffentlichen. Dies be15 Tuetey, Louis, Les officiers sous l'Ancien Régime: Nobles et roturiers, Paris 1908, S. 138—163; Corvisier, André, Armées et sociétés en Europe de 1494 à 1789, Paris 1976, S. 115-117.

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deutete eine völlige Reformierung des Steuersystems, während sich die Adligen im 17. Jh. auf Beschwerden über den unmäßigen Steuerdruck beschränkt, um Abschaffung oder Verminderung der gabeile ersucht hatten und um Aufhebung der Steuern, die es beim Eintritt in ein Amt oder bei Nobilitierung zu zahlen galt (droit de marque), eingekommen waren. Die Cahiers von 1789 enthielten das Verlangen, die bisherigen Steuern abzuschaffen und durch neue zu ersetzen sowie die Steuererhebung zu verändern: ihre Eintreibung zu vereinfachen, das System des Loskaufs abzuschaffen, den Verkauf der Steuereinnehmerposten einzustellen. Anstelle der Unzahl bestehender Steuern schlugen die Autoren von 41 Heften vor, nur noch zwei zu belassen: eine Immobilien- und eine Einkommenssteuer. Fragen der Entwicklung der Wirtschaft und des Unternehmertums wurden in den Heften des 17. Jh. kurz gestreift und in der Regel von Positionen der Verteidigung der Reglementierungen von Produktion und Handel oder im Geiste der zu dieser Zeit vorherrschenden merkantilistischen Lehren erörtert. Das Cahier der Picardie, ebenso die aus der Champagne und dem Brie von 1614 forderten die Preisfestsetzung für Getränke und andere Waren unmittelbaren Bedarfs. Im Beschwerdeheft des Berry schlug man vor, innerhalb des Landes den Handel mit Seidenstoffen zu verbieten, die nicht in Frankreich hergestellt waren, „pour éviter le grand transport d'argent qui se fait à cette occasion hors du Royaume". 10 Eine besondere Stellung nahm das Cahier der Bailliage Meaux ein. In ihm fanden sich neben Forderungen nach Reglementierung von Handel und Löhnen in keimhafter Form Freihandelsideen. Seine Autoren traten gegen jegliche Art von Monopolrechten auf, insbesondere im Getränkehandel, und verlangten, die ungehinderte Einfuhr beliebiger Waren ins Land zuzulassen.17 Die Hefte von 1789 widmeten insgesamt Entwicklungsproblemen des Unternehmertums große Aufmerksamkeit. Einige von ihnen enthielten ein entwickeltes ökonomisches Programm. Hierin kamen offensichtlich eine Änderung der sozialen Lage des Adels, Verschiebungen innerhalb des Standes unter den Bedingungen der Krise des Ancien Régime, die Auflösung feudaler und die Herausbildung bürgerlicher Gesellschaftsstrukturen zum Ausdruck. Der Adel begann, sich in unternehmerische Aktivitäten einzuordnen. 18 Außerdem stimulierte die ökonomische Literatur, die im 18. Jh. große Popularität genoß, ihrerseits in gebildeten Kreisen der Gesellschaft das Interesse an wirtschaftlichen Fragen. Das ökonomische Programm der adligen Cahiers von 1789 war heterogen. Eine Reihe von Dokumenten — vergleichsweise wenige — enthielt Artikel zur Verteidigung ökonomischer Grundprinzipien des Ancien Régime mit der charakteristischen Reglementierung von Produktion und Handel und mit Überresten der Zersplitterung. So forderten die Autoren von zehn Cahiers die Bewahrung von Zollbarrieren im Landesinnern. Alle diese Dokumente stammten aus der Franche-Comté, aus Elsaß und Lothringen, d. h. aus den Grenzprovinzen, die 16 OR GPB, Fr. F II, N 79, t. 2, S. 250. 17 Ebenda, 1.1, S. 410. 18 Zur Sozialstruktur des Adels und zu den Veränderungen am Ende des Ancien Régime vgl. Goubert, Pierre/Roche, Daniel, Les Français et l'Ancien Régime, 2 Bde., Paris 1984; Soboul, Albert, La Civilisation et la Révolution française, Bd. 1, Paris 1970; Pimenova, Kap. 1.

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Steuerprivilegien genossen und insbesondere von der Zahlung der Salzsteuer (gabelle) befreit waren. In den H e f t e n der Sénéchaussée Tulle (Limousin) u n d der Basse Marche f a n d sich die Forderung, E i n f u h r - und Marktzölle zu b e w a h ren. Das Cahier von Coutances in der Normandie, in dem die A u f h e b u n g der Z u n f t v e r f a s s u n g des Handwerks verlangt wurde, beinhaltete die Klausel, daß in den großen Städten die Z ü n f t e bestehenbleiben sollten. Die Idee einer Produktionsreglementierung f a n d im Beschwerdeheft der Sénéchaussée Agen (Généralité Bordeaux) m a r k a n t e n Ausdruck. Seine Autoren t r a t e n f ü r das grundsätzliche Verbot von M a n u f a k t u r e n , die keine Genehmigung der Provinzialstände hatten, ein, da ihrer Meinung nach ein zahlenmäßiges Anwachsen der M a n u f a k t u r e n zum Verfall von H a n d w e r k u n d Landwirtschaft f ü h r t e . In 16 H e f t e n aus verschiedenen Orten (in den Provinzen Lothringen, Languedoc, G u y e n n e und Gascogne, Flandern Orléanais, Île-de-France, Picardie und Korsika) f a n d e n sich Forderungen nach Reglementierung des Brothandels: Festlegung von Freisen und A u s f u h r m e n g e n von Getreide in andere Provinzen wie a n die Grenzen des Landes, Schaffung von Getreidereserven f ü r den Fall von Hungersnöten. Eine ganze Reihe von Thesen des ökonomischen P r o g r a m m s der adligen Cahiers von 1789 t r u g protektionistischen Charakter. F ü r staatliche protektionistische M a ß n a h m e n im Hinblick auf Handwerk, Handel, M a n u f a k t u r p r o d u k t i o n und Landwirtschaft plädierten 41 Hefte, u n t e r ihnen sechs (aus dem nördlichen Frankreich), die eine Ü b e r p r ü f u n g des Handelsvertrages m i t England von 1786 forderten, da sich dieser von Freihandelspositionen ausgehende Vertrag mit den bedeutend herabgesetzten Einfuhrzöllen f ü r englische Waren als ungünstig f ü r den Zustand der Industrie in Nordfrankreich erwies. In den Beschwerdeheften des 16. und 17. J h . n a h m e n Artikel über Religion, Kirche u n d Klerus breiten R a u m ein. Gewöhnlich stellten sie den ersten u n d einen der umfangreichsten Abschnitte der H e f t e dar. Diese P a r a g r a p h e n lassen sich in zwei Typen unterteilen: die einen bekundeten die Treue zur katholischen Religion und die Besorgnis über eine G e f ä h r d u n g ihrer ungeteilten Herrschaft; andere b e t r a f e n die Kirche als soziale Institution, ihren inneren A u f b a u u n d die Lage der verschiedenen Kategorien des Klerus. Die H e f t e der Normandie, des Orléanais, des Berry, Lyonnais, der Ile-d-France, von Meaux, der Picardie u n d der Champagne aus dem J a h r 1614 f o r d e r t e n M a ß n a h m e n gegen Ketzer u n d Protestanten sowie S t r a f e n f ü r Gotteslästerung. „La Religion est la principale colonne de toutes puissances et monarchies", schrieben die Adligen von Meaux. 1 9 „La piété est le principal fondement d'un État", pflichtete der Adel des Lyonnais bei. 29 In den Cahiers von 1789 n a h m e n Artikel zu Kirche u n d Religion wesentlich geringeren R a u m ein. F ü r den Katholizismus als herrschende Religion im Land setzten sich 13 H e f t e ein. Weitere 13 appellierten, den gebühr e n d e n Respekt f ü r die Religion zur Verbesserung der Sitten in Erinnerung zu r u f e n . So schrieben die Adligen des Boulonnais, Autoren eines des p r o k a t h o lischsten Cahiers von 1789: „Les Boulonnais déclarent qu'ils veulent vivre et m o u r i r dans la religion catholique, apostolique et romaine, qui sera m a i n t e n u e dans toute l'étendue de royaume; mais comme plusieurs sujets du Roi n'ont pas le bonheur de vivre dans cette religion, ils donnent pouvoir à leurs députés 19 OR GPB, Fr. F II, N 79, t. 1, S. 405. 20 Ebenda, t. 2, S. 236.

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de consentir à toute tolérance tant civile que religieuse, a u t a n t néanmoins, qu'elle ne nuirait ni a u x dogmes ni au culte que nous avons le bonheur de professer." 2 1 Der Adel von Dijon verlangte die öffentliche V e r k ü n d u n g des „droit de la nation de déterminer la religion nationale, devant seule avoir l'exercice public de son culte, laquelle elle entend être la religion chrétienne, selon la foi catholique, apostolique et romaine". 22 In keinem der Hefte gab es beleidigende Äußerungen über die Protestanten, noch weniger die Forderung, sie zu verfolgen. Ebensowenig sollte Blasphemie b e s t r a f t werden. Einige Artikel zur innerkirchlichen Organisation und zur Lage des Klerus w u r d e n aus den Cahiers des 17. J h . ü b e r n o m m e n : Forderungen nach Unabhängigkeit der französischen Kirche vom Heiligen Stuhl in organisatorischen und Finanzfragen, nach Verbesserung der materiellen Lage der niederen Geistlichkeit, nach Begrenzung der E i n k ü n f t e des hohen Klerus, nach Verringerung der klösterlichen Orden,, nach A u f h e b u n g von verfallenden Klöstern und nach Erhöhung der Ausgaben f ü r wohltätige Zwecke. Die Untersuchung der sozialpolitischen Forderungen der adligen Cahiers von 1789 gestattet die Schlußfolgerung, daß einige ihrer Forderungen aus den B e schwerdeheften vergangener J a h r h u n d e r t e übernommen w a r e n und, insofern in ihnen die Opposition zum Absolutismus zutage trat, die Traditionen der Adelsfronde aus dem 16. und 17. Jh. f o r t f ü h r t e n . Bedeutenden R a u m im P r o g r a m m des Adels n a h m e n Reformen ein, die auf die Vervollkommnung des zentralen und lokalen Machtapparates, des Gerichtswesens, der Armee und der Finanzen gerichtet waren. Die Mehrheit der Reformprojekte entsprach den Erfordernissen der Zeit. Eine Reihe traditioneller Forderungen w u r d e im V e r gleich zu den H e f t e n des 16. und 17. J h . u m vieles radikaler. Das betrifft insbesondere Artikel zum Problem der Steuern. Außerdem tauchte ein großer Teil der Forderungen antiabsolutistischen Charakters erstmals gerade in den Cahiers, von 1789 auf. In jenen Fragen, die unmittelbar die Interessen des Adels selbst berührten, k a m es zur Spaltung des Standes. In der Mehrheit der Cahiers wird das Bestreben sichtbar, die herrschenden Verhältnisse und die Privilegien des Adels zu v e r teidigen und zu stärken. Im Verlauf des politischen K a m p f e s vor und w ä h r e n d der Wahlen von 1789 stellte sich mit besonderer Schärfe die Frage nach dem Abstimmungsmodus in den Generalständen. In 114 adligen Cahiers äußerte sich Anhänglichkeit a n die traditionelle Stimmabgabe nach Ständen in allen Fragen. Dabei v e r f ü g t e jeder der drei Stände über eine Stimme, so daß die États Génér a u x ihren ständisch-korporativen Charakter bewahrt hätten und die doppelte V e r t r e t u n g des Dritten Standes ohne reale Bedeutung geblieben wäre. Die Autoren von 37 dieser 114 Hefte, die zwar prinzipiell auf der Idee ständischer Abstimmung beharrten, erklärten entweder, daß sie mit einer Stimmabgabe nach Köpfen einverstanden wären, wenn dies die Mehrheit der Adelsdeputierten forderte oder w e n n die zwischen den Ständen erwachsenden Meinungsverschiedenheiten die Arbeit der Generalstände hindern w ü r d e n ; oder sie beabsichtigten, die Stimmabgabe nach Köpfen in die Z u k u n f t zu verschieben u n d f ü r die Generalstände von 1789 die Stimmabgabe nach Ständen aufrechtzuerhalten. 21 A. P., Bd. 2, S. 424. 22 Ebenda, Bd. 3, S. 128.

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bzw. nach Köpfen nur abzustimmen bei der Festlegung der Steuern sowie bei Fragen, die die Interessen der einzelnen Stände nicht berührten, oder bei Detailproblemen. Am deutlichsten fand sich die Idee einer Rückkehr zu den Generalständen als Organ ständischer Vertretung in acht Cahiers formuliert, in denen sich neben der Verteidigung der traditionellen Stimmabgabe nach Ständen der Protest gegen die neueingeführte doppelte Vertretung des Tiers findet. Die Autoren von 28 Cahiers plädierten dafür, dem König das Recht vorzubehalten, zwischen den Sitzungen der Generalstände Gesetze zu initiieren. Diese Forderung entstand unter dem Einfluß der Tradition, die von der Parlementfronde ausging, da im Falle ihrer Erfüllung die Parlements die Möglichkeit erhalten hätten, ihre Privilegien zu nutzen, um Korrekturen an Gesetzesprojekten vorzunehmen und die Annahme der Gesetze hinauszuschieben. Die Wirkung parlamentarischer Tradition zeigte sich auch darin, daß die Verfasser von fünf Heften das System der Ämterkäuflichkeit verteidigten. Dies war in der Vergangenheit für adlige Cahiers völlig untypisch. Dagegen fanden sich in fast allen untersuchten Heften von 1614 und 1649/51 Forderungen, die Ämterkäuflichkeit abzuschaffen. Das Auftauchen von Artikeln zugunsten der Ämterkäuflichkeit in den Adels-Cahiers läßt sich als Zeugnis für den Einfluß werten, den die Ideen der „Robins" ausübten. Zur Begründung dieser Forderung, die im 18. Jh. bereits eine schlechte Reputation genoß und im Widerspruch zum allgemeinen Streben nach Rationalisierung bei der Organisation des Staatsapparates stand, wurde die Lehre von der Gewaltenteilung herangezogen. Den Schacher mit Ämtern und deren Erblichkeit stellten sich die Verfasser als beste Art und Weise vor, die Unabhängigkeit von Legislative und Justiz von der Exekutivgewalt zu garantieren. Darüber schrieben zum Beispiel die Adligen von Carcassonne: „Une malheureuse expérience nous a prouvé les avantages de la vénalité des charges lorsque le despotisme corrompt tout; l'indépendance que doit donner à un magistrat une grande fortune, l'intérêt qu'il a de la conserver, sont deut obstacles à l'extension de l'autorité; et la vénalité des magistratures ne peut jamais introduire, dans les cours chargées de défendre la constitution, les abus désastreux que produirait l'influence d'un favori." 23 Das Streben, die Standesvorrechte des Adels in den zentralen Organen der Staatsgewalt zu behaupten, kam auch in einem Gedanken zum Ausdruck, der in neun Cahiers zu finden ist. Danach wären die Generalstände nach dem Vorbild des englischen Parlaments in eine Zweikammernversammlung umzuwandeln. Charakteristisch ist dabei, daß sich die Verfasser dieser Dokumente für die ständische Stimmabgabe in den États Généraux von 1789 aussprachen. Die von ihnen vorgeschlagene Reform betraf die nachfolgenden Ständeversammlungen, und ihre Durchführung hätte die Beibehaltung der Stimmabgabe nach Ständen in veränderter Form bedeutet, da die Adligen das Ständeprinzip bei der Formierung der Kammern vorsahen. Der Klerus sollte nach ihrer Vorstellung der eigenen Ständevertretung verlustig gehen und in Abhängigkeit von seiner Herkunft sich entweder dem Adel oder dem Dritten Stand anschließen. Gesetze sollten unter der Bedingung angenommen sein, daß beide Kammern zustimmten. Inkonsequenz bei der Forderung nach bürgerlichen Rechten und Freiheiten 23 Ebenda, Bd. 2. S. 529.

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zeichnete die Autoren einiger Cahiers aus. In 14 Dokumenten wurde eine solche Äußerung von Willkür und bürgerlicher Rechtlosigkeit im absolutistischen Frankreich wie die lettres de cachet akzeptiert. Der König wurde ersucht, sie nicht zu mißbrauchen, sondern sie nur auf Bitten der Familie des Schuldigen oder auf Beschluß der Mitglieder des königlichen Rates zu verschicken. Die Verfasser von 44 Heften äußerten sich faktisch f ü r die Begrenzung der Pressefreiheit. Sie erklärten, daß die mißbräuchliche Anwendung der Pressefreiheit den Sitten, Gesetzen und der Religion Schaden zufügen könne. Die Adligen von Dourdan forderten im Prinzip die Proklamation der Pressefreiheit, bestanden aber auf der Notwendigkeit der „restrictions les plus fortes . . . que cette liberté ne dégénère en licence". 24 Im Cahier von Rodez wurde selbst das Prinzip einer freien Presse rundherum abgelehnt. 25 In den übrigen Fällen fand man flexiblere Formulierungen, und die Verfasser traten nicht offen gegen die Pressefreiheit auf, sondern sprachen darüber, daß sie nicht zu den Gesetzen, Sitten und der Religion in Widerspruch stehen sollte. Das Verhältnis zu den ständischen Privilegien war einer jener Prüfsteine, die uns gestatten, die gesellschaftspolitische Ausrichtung der Cahiers einzuschätzen. Der Unmut über den Absolutismus war im F r ü h j a h r 1789 beinahe allgemeine Stimmung. Gegen die Willkür der autokratischen Gewalt, f ü r staatsbürgerliche Rechte und Freiheiten gab das ganze Land seine Stimme ab. Aber die Verurteilung des politischen Regimes der absoluten Monarchie bedeutete noch keine Absage an das Ancien Régime als sozial-politisches System insgesamt. Die Mehrheit des Adels verteidigte neben der Proklamation staatsbürgerlicher Rechte und Freiheiten ihre Privilegien, die im J a h r h u n d e r t der Aufklärung als ungerecht und in den Augen des Dritten Standes als unbegründet erschienen und die eine der Hauptursachen f ü r den scharf ausgeprägten antinobilitären Charakter der Revolution darstellten. Die Verfasser von 101 Heften bestanden auf der Unantastbarkeit der Ehrenrechte des Standes, zum Beispiel auf dem Privileg, ein Schwert zu tragen oder ein Wappen zu besitzen. Die Autoren von 19 Cahiers sprachen sich f ü r das ausschließliche Recht des Adels aus, Offiziersränge und höhere Parlementsämter zu bekleiden. Der geringere Teil des Adels trat zur Verteidigung der Steuerprivilegien an. In sieben Beschwerdeheften wurde selbst das Prinzip der Ständegleichheit bei der Steuerbelastung entschieden abgelehnt. Die Forderung nach Bewahrung des Adelsprivilegs, ein Grundstück von bestimmter Größe zu besitzen (vol du chapon), das nicht besteuert wurde, enthielten acht Hefte. Die Autoren anderer acht Dokumente waren bereit, auf der Suche nach einem Ausweg aus der schweren Finanzkrise, die auf Frankreich lastete, Steuern in gleicher Höhe wie alle zu zahlen. Sie stellten allerdings die Bedingung, daß die formalen Standesunterschiede bei der Zahlung der Steuern gewahrt blieben. Die Verfasser von neun Heften äußerten ihre Bereitschaft, die Steuerprivilegien zeitweise, bis zur Überwindung der Finanzkrise, zu opfern. In sieben Cahiers schlugen die Autoren — beunruhigt über das Schicksal ruinierter Adliger — vor, den wenig begüterten Adel vollständig oder teilweise von den Steuern zu befreien. Ständisch-konservative Einstellungen bei Autoren der Beschwerdehefte äußer24 Ebenda, Bd. 3, S. 246. 25 Ebenda, Bd. 5, S. 556.

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ten sich auch in der Sorge um die „Reinheit des Adelsstandes". So verlangten 26 Hefte, alle Adelsgeschlechter des Königreiches zu registrieren und die Echtheit ihrer edelbürtigen Abstammung zu prüfen; 19 schlugen die Gründung eines heraldischen Tribunals vor, dessen Aufgabe darin bestehen sollte, sowohl Usurpationen von Adelstiteln als auch das überaus leichte Eindringen von — in der Meinung der Adligen unwürdigen — Emporkömmlingen in die Reihen der privilegierten Stände zu verhüten. Die Verfasser zweier anderer Cahiers beabsichtigten, eben diese Vollmachten den Provinzialständen zu übertragen. In den Beschwerdeheften wurdé wiederholt die Frage nach der Ordonnanz des Kriegsministers Philippe Henri Ségur von 1781 aufgeworfen. Sie hatte festgelegt, daß zu Offiziersrängen nur jene zuzulassen seien, deren Geschlecht mindestens vier Generationen von Adel zählte. Nur in drei Cahiers wurde der Wunsch geäußert, die Ordonnanz von 1781 in Kraft zu lassen: Château-Thierry, Buget-et-Valromay und Castres. Die Aufnahme dieser Artikel bezeugte, daß unter den Teilnehmern an diesen Versammlungen der Geist ständischer Exklusivität gegenüber den Anobilierten vorherrschte. Insgesamt war jedoch eine solche Forderung wenig verbreitet. In allen drei Fällen wurde sie von Versammlungen in Kleinstädten angenommen, in denen Ämter in Parlements, Verwaltung und Munizipalität fehlten, durch die eine Anobilierung möglich gewesen wäre, so daß die Zusammensetzung des Adelsstandes relativ homogen war. Die ständisch-konservative Tendenz kam deutlich auch bei der Lösung des Problems der Seigneurialrechte zum Ausdruck. Die bäuerlichen Lasten waren eine der Grundlagen des Wohlstandes für einen bedeutenden Teil des Adels. Es verwundert deshalb nicht, daß in 45 Hefte die Forderung Eingang fand, die grundherrlichen Rechte in ihrer Unantastbarkeit als geheiligtes Eigentum zu bewahren, und in 24 Cahiers das Verlangen auftauchte, die Befugnisse der grundherrlichen Gerichte zu erhalten, die einen mächtigen Hebel für den Druck der Seigneurs auf die Bauern vor allem bei der Lösung von Ve'rmögensfragen darstellten. Die in den Cahiers geäußerten Ideen und Bestrebungen, von denen oben die Rede war, stützen die Schlußfolgerungen von Jean Jaurès und V. Ja. Chorosun und zeugen davon, daß ein bedeutender Teil des Adels am Vorabend der Revolution mit einem konservativen Programm auftrat, in dem er die ständischen Privilegien verteidigte. Jedoch war ein anderer Teil des Adels in wichtigen sozialpolitischen Fragen zum Kompromiß mit dem Dritten Stand bereit. Obwohl die Mehrheit entgegen der einmütigen Forderung des Tiers danach strebte, die Abstimmung in den Generalständen nach Ständen zu bewahren, stand keineswegs der gesamte Adel auf dieser Position. In einer Reihe von Cahiers wurde die Idee einer gemischten Abstimmung unterstützt: unter besonderen Bedingungen hielten sie ein eingeschränktes Votum nach Köpfen für möglich. Weitere 13 Hefte sprachen sich noch radikaler zugunsten einer gemischten Abstimmung aus. Ihre Autoren verzichteten auf eine Verteidigung des Prinzips der Stimmabgabe nach Ständen. In 15 Heften kam gar die Forderung nach namentlicher Stimmabgabe ohne jede Einschränkung vor, was einem offenen Bruch mit dem traditionellen mittelalterlichen System der Ständevertretung gleichkam. Die Adligen der Bailliage Mantes bestritten sogar das ständische Prinzip der Wahl von Deputierten. Das Cahier schlug vor, daß künftig „la généralité des. citoyens de chaque terri-

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toire" den Abgeordneten wählen sollte. 36 Hier k a m die persönliche Autorität eines der Verfasser des Cahier, des b e r ü h m t e n Aufklärungsphilosophen J e a n Antoine Condorcet, 27 eines Anhängers bürgerlicher Gleichheit, zum Tragen. Diese k ü h n e Forderung trifft m a n in den Adels-Cahiers n u r einmal an. Im F r ü h j a h r 1789 w a r sie selbst f ü r den Dritten Stand noch nicht charakteristisch Das Cahier von Mantes ist insofern interessant, als es verdeutlicht, daß bei der Ausarbeitung der Texte mitunter die Ansichten ihrer unmittelbaren Verfasser in Widerspruch zur Meinung der Mehrheit der Versammlungsteilnehmer ger a t e n konnten. J e a n Antoine Condorcet w a r Autor eines E n t w u r f s f ü r das Beschwerdeheft. An der Redaktion des Dokuments n a h m gleichfalls einer der k ü n f t i g e n Schöpfer der Jakobinerverfassung-von 1793, Marie J e a n Hérault de Séchelles, teil. Condorcet setzte sich f ü r die namentliche Abstimmung ein. Vor der A n n a h m e des Cahier t r a t er in der Adelsversammlung mit einer Rede auf, die im Hauptteil der Verurteilung einer Stimmabgabe nach Ständen gewidmet w a r . Wahrscheinlich w a r der von ihm zur Diskussion gestellte Entwurf des Beschwerdeheftes in eben diesem Geist gehalten. Die von der Versammlung letztlich angenommene Variante erwies sich in diesem P u n k t als widersprüchlich. Zunächst w u r d e die Forderung nach ständischer Stimmabgabe geäußert, m i t dem Vorbehalt, daß „cependant, dans les circonstances particulières, le député sera libre de p r e n d r e le parti qui p a r a î t r a le plus avantageux". 2 8 Aber i m folgenden w u r d e festgelegt, die Generalstände m ü ß t e n Beschlüsse mit einer Zweidrittelmehrheit in einer Sitzung oder mit einfacher Mehrheit nach drei Sitzungen fassen. Dieser Abstimmungsmodus setzte die individuelle S t i m m abgabe voraus. Es ist aber klar, daß einige zu k ü h n e Thesen des von Condorcet vorgestellten E n t w u r f e s von der Versammlung zurückgewiesen w u r d e n . Ein Nachhall des ursprünglichen Textes verblieb jedoch in jenen Artikeln, die in den Augen der Versammlungsteilnehmer nicht wesentlich waren. In vielen Cahiers w u r d e der Platz des Parlement im politischen System F r a n k reichs einer entschiedenen Ü b e r p r ü f u n g unterzogen. Die Mehrheit der Adligen, die den Generalständen die höchste gesetzgebende Gewalt zugestand, überließ d e m König auch nicht das Recht auf selbständige Gesetzgebung im Zeitraum zwischen den Sitzungsperioden der États Généraux. Dadurch w u r d e n die Parlements faktisch der A n n a h m e von Gesetzesprojekten enthoben, u n d ihre legislativen Befugnisse gingen an die Generalstände über. In 73 Cahiers w u r d e ihnen n u r das Recht zugestanden, in vorgeschriebener O r d n u n g angenommene Gesetze zu registrieren und über ihre A u s f ü h r u n g zu wachen. Die Autoren von fünf H e f t e n sprachen sich f ü r eine durchgreifende Reform der Parlements mit d e m Ziel aus, sie in reine Justizorgane umzuwandeln. F r ü h e r hatte der französische Absolutismus schon mehrfach Versuche unternommen, deren politische Rechte zu beschneiden. D a f ü r stehen als Beispiele die gescheiterten Reformen von René Nicolas Maupeou und Chrétien François Lamoignon. Im F r ü h j a h r 1789 solidarisierte sich scheinbar ein bedeutender Teil des Adels mit dem Bem ü h e n der königlichen Macht u m eine Parlementreform. Im Kontext der Be26 Ebenda, Bd. 3, S. 662. 27 Zu den Aktivitäten Condorcets während der Wahlen zu den Generalständen vgl. Cohen, Léon, Condorcet et la Révolution française, Paris 1904. 28 A. P., Bd. 3, S. 661.

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schwerdehefte allerdings erlangten die vorgeschlagenen Maßnahmen einen anderen Sinn und büßten ihre ehemalige Ausrichtung auf die Stärkung der absoluten Macht des Monarchen ein. Das Wesen der Reformen bestand nunmehr darin, den Platz der Parlements als erbliche aristokratische Versammlungen durch gewählte Organe der Ständevertretung zu besetzen, und in den Heften, die die namentliche Abstimmung verlangten, wurde letzteres als ein Mittelding zwischen ständisch-repräsentativem und gesamtnationalem gesetzgebendem Organ angesehen. Wie bereits erwähnt, widmeten die Adligen der Verteidigung staatsbürgerlicher Rechte und Freiheiten besonders große Aufmerksamkeit. In den Cahiers von 1789 tauchte darüber hinaus eine Vielzahl von Artikeln auf, die sich früher weder in den Adels-Cahiers noch in den Dokumenten der Fronde fanden und die der ideologisch-politischen Atmosphäre der zweiten Hälfte des 18. Jh. entsprangen. Die Autoren von neun Beschwerdeheften rückten die Forderung nach Proklamation einer Erklärung der Rechte in den Vordergrund, die offensichtlich durch die jüngsten Geschehnisse des Unabhängigkeitskrieges der nordamerikanischen Kolonien hervorgerufen worden waren. Französische Adlige folgten diesen Ereignissen mit Interesse, einige nahmen selbst daran teil. In 17 Cahiers, in denen das Prinzip der Freiheit der Person aufgestellt war, wurde dies ergänzt durch Forderungen nach Freizügigkeit und freier Wahl des Wohnortes. 77 Hefte verlangten die Wahrung des Briefgeheimnisses; 137 verkündeten das Prinzip der Pressefreiheit, 93 von ihnen ohne jegliche Einschränkungen und Vorbehalte. Forderungen nach Abschaffung von Überresten persönlicher Abhängigkeit trifft man elfmal an, nach Beseitigung der Sklaverei in den Kolonien viermal, nach einer Verbesserung der Lage der Neger achtmal. Vorschläge, den Einsatz von Truppen bei inneren Konflikten zu begrenzen, tauchten auf, und 15 Hefte beinhalteten die Erklärung, daß die Armee nicht die Freiheit der Bürger verletzen dürfe. Die Autoren von 111 Heften forderten die Unantastbarkeit des Eigentums. Dabei wurde das seinem Wesen nach bürgerliche Prinzip der Unverletzlichkeit des Privateigentums in den Adels-Cahiers mitunter auf sehr spezifische Art und Weise gedeutet und zur Verteidigung der Standesprivilegien und grundherrlichen Rechte benutzt. In vielen Heften wurden den Forderungen nach bürgerlicher Gleichheit, die dem Tiers entstammten, wesentliche Zugeständnisse gemacht. Autoren von 16 dieser Cahiers schlugen vor, den Mitgliedern aller Stände freien Zugang zu staatlichen Ämtern zu eröffnen, zwölf boten an, jene Zeichen ständischer Unterschiede, die für die Nichtprivilegierten demütigend waren, unter den Abgeordneten der Generalstände abzuschaffen. In den Adels-Cahiers wurde ein breites Reformprogramm für das Justizsystem des Ancien Régime vorgebracht, in dem die Einführung einer bürgerlichen Prozeßordnung enthalten war. Die Autoren demonstrierten ihre Kenntnis der wichtigsten Begriffe des juristischen Denkens des 18. Jh., insbesondere des Begriffs der Annahme der Schuldlosigkeit. Die Verfasser von 41 Cahiers plädierten für die Einführung von Geschworenengerichten und einer Verteidigung der Angeklagten. In 19 Heften sprachen sich Adlige gegen das Prinzip des mittelalterlichen Feudalrechts aus, das im Frankreich des 18. Jh. bewahrt geblieben war, demzufolge die gesamte Familie des Schuldigen für die Tat haften mußte. In den Cahiers bürgerte sich das Prinzip persönlicher Haftbarkeit für begangene 13 Jahrbuch 39

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Verbrechen ein. Es wurde eine Reihe von Maßnahmen mit humanistischer Ausrichtung vorgeschlagen. In der juristischen Literatur und Praxis des 18. Jh. nahmen Proteste gegen die Grausamkeit der Strafen einen bedeutenden Platz ein. Es genügte, an die diesbezüglichen Äußerungen Voltaires und die Überlegungen Cesare Beccarias über die Schändlichkeit von Folter, barbarischen Strafen und Todesstrafe zu erinnern. In den Adels-Cahiers kann man Proteste gegen die Folter (10 Hefte) und grausame Strafen (16 Hefte), Vorschläge zur Begrenzung in der Anwendung der Todesstrafe (7 Hefte) antreffen. Jedoch, wurde in keinem der Cahiers ein solch grundlegendes Prinzip des Gerichtssystems des Ancien Régime wie dessen Standesgebundenheit angefochten. Zwar muß man zugeben, daß die Liquidierung ständischer Gebundenheit der Rechtsprechung im Frühjahr 1789 nicht zu den programmatischen Forderungen des Dritten Standes gehörte. Auch Cesare Beccarias Traktat „Von den Verbrechen und Strafen" sprach nicht davon, propagierte aber die Idee der Gleichheit zwischen Adligen und Nichtadligen bei der Bestrafung von Verbrechen.29 Gerade dies wurde neben Forderungen nach namentlicher Abstimmung und Steuergleichheit einer der zentralen Punkte in der Wahlpropaganda des Dritten Standes und fand sich in seinen Beschwerdeheften. In den adligen Cahiers schlug man dies 14mal vor. Für die Adligen stellte diese Forderung einen bedeutenden Schritt auf dem Wege des Kompromisses mit dem Dritten Stand dar, da die Einführung gleicher Bestrafung für alle Bürger im Falle eines Vergehens dem System der Standesgerichte und den Standesprivilegien insgesamt einen gewaltigen Schlag versetzte. Die Bereitschaft, mit der traditionellen ständischen Exklusivität zu brechen, äußerte sich in einer Reihe von Cahiers auch in Artikeln, die der Armee gewidmet waren. In 15 Heften fand die Forderung Eingang, die militärische Ordonnanz Ségurs von 1781 außer Kraft zy. setzen und — während das Privileg des Adels auf die Offizierstätigkeit gewahrt bleiben sollte — in dieser Hinsicht die Rechte aller Adligen unabhängig vom Alter ihres Adels anzugleichen. Acht Hefte protestierten uneingeschränkt gegen die Ordonnanz Ségurs und schlugen vor, Personen aus dem Dritten Stand die Möglichkeit einzuräumen, beliebige militärische Ränge gleichberechtigt mit den Adligen zu besetzen. Die Autoren dieser Dokumente zählten offensichtlich den Militärdienst nicht länger zu den Standesprivilegien des Adels. Das gewandelte Verhältnis zum Militärdienst kommt auch darin zum Ausdruck, daß in acht Heften gefordert wurde, künftighin den Treueeid nicht nur dem König, sondern auch der Nation zu leisten. Das war eine Neuheit, war doch der Waffendienst des Adels traditionsgemäß Dienst, der dem König geleistet wurde. Die Mehrheit der Adligen erklärte in den Heften den Verzicht auf die Steuerprivilegien. Diesen Verzicht, der durch die zugespitzte Krise des Regimes hervorgerufen wurde, brachte der Adel als Beweis seiner uneigennützigen Absicht dar, das Gemeinwohl zu befördern. Zum Beispiel enthielt das Cahier des Sénéchaussée Condom folgende Thesen: „Art. 1er. Etablissement de la forme constitutionelle de la monarchie française, sur des principes et fondements certains, justes et immuables d'une monarchie tempérée par les lois, elle portera sur la base de l'égalité des droits et de la hiérarchie des rangs, partie intégrante d'un 29 Bekkaria, S. 288-291.

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gouvernement monarchique. Art. 2. Garantie sûre et inviloable à tous et un chacun les membres de l'Etat, des droits imprescriptibles de la nature et de la société, savoir: sûreté, liberté, honneur et propriétés, de quelque nature et qualité qu'elles soient, sauf l'égalité contributive . . ." 30 In diese überwiegend für den Adel charakteristischen Erwägungen über das unantastbare Prinzip der Ehre und über die der Monarchie wesenseigene Ständehierarchie klingt die Erklärung, der Staat müsse auf dem Prinzip der Rechtsgleichheit gründen, wie eine Dissonanz. Jedoch ergibt sich aus dem Kontext, daß die Autoren des Cahier unter der Gleichheit der Bürgerrechte lediglich die Gleichheit hinsichtlich der Steuerbelastung verstanden, die notwendig sei, damit alle Bürger in gleicher Weise das Gemeinwohl beförderten. Die Forderung nach Steuergleichheit fand in 138 adligen Beschwerdeheften Eingang. Ihre Verbreitung ist tatsächlich erstaunlich, berührte doch die Abschaffung der Steuerprivilegien die Adligen sowohl materiell als auch hinsichtlich ihres sozialen Status, da die Befreiung von der Zahlung einer Reihe von Steuern eines der Kennzeichen der hohen Stellung des Adligen in der Gesellschaft war. Unter den Bedingungen der revolutionären Situation konnten sich selbst die konservativsten Führer und Ideologen des Adelsstandes nicht mehr entschließen, in ihren programmatischen Erklärungen die Gesamtheit der Adelsprivilegien zu verteidigen. Sich an den Steuerprivilegien, die besonders heftigen Attacken von Seiten des Dritten Standes ausgesetzt waren, festzuklammern, hätte bedeutet, den Adel in eine Situation politischer Isolation zu bringen. Die Bereitschaftserklärung über den Verzicht auf die adlige Steuerimmunität war sowohl in den Dokumenten der Zweiten Notabein Versammlung (November—Dezember 1788) als auch in den Schriften der vorrevolutionären Opposition der Parlements und in einem solchen Manifest der konservativen Aristokratie wie dem „Mémoire des Princes" enthalten, das von den zukünftigen Führern der Konterrevolution, dem Grafen d'Artois, Prinz Condé, dem Herzog von Bourbon, dem Herzog von Enghien und dem Prinzen Conti unterzeichnet war. Die adlige Pamphletliteratur betonte die von den Edlen bekundete Bereitschaft, alle Steuern zu zahlen, als Beispiel für die Uneigennützigkeit und Großherzigkeit des privilegierten Standes. 31 Aus den Flugschriften, aber auch aus den Verlautbarungen und Deklarationen anerkannter Führer des Adels, die veröffentlicht wurden und große Publizität erlangten, drang die Idee vom freiwilligen Verzicht auf die Steuerprivilegien in die Mehrheit der Adels-Cahiers. Die Idee bürgerlicher Gleichheit wurde nur einmal klar formuliert, und zwar im Beschwerdeheft der Bailliage Mantes. Darin war die Stimme seines Verfassers Condorcet zu vernehmen. Das Cahier forderte, die Rechte, „qui appartiennent à tous les hommes en leur qualité d'êtres sensibles, raisonnables et capables d'idées morales; droits qui sont antérieurs à toute institution sociale", zu verkünden. „ . . . et nous déclarons en même temps", fuhren die Adligen von Mantes fort, „que tous les hommes soumis aux lois française doivent jouir de ces droits sans qu'aucune autorité puisse légitimement y porter atteinte." Unter die natür30 A. P., Bd. 3, S. 37. 31 Decouflé, André, L'aristocratie française devant l'opinion publique à la veille de la Révolution (1787—1789), in: Études d'histoire économique et sociale du XVIII e siècle, publ. par André Decouflé u. a., Paris 1966, S. 1—52. 13»

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lichen Rechte wurden „la sûreté et la liberté des personnes, la sûreté et la liberté des biens, et l'égalité des droits politiques et civils" gezählt.32 Man trifft auch auf Vorschläge gemäßigter Reformen, die die Einschränkung der bäuerlichen Abgaben an den Grundherrn betrafen. In 45 Cahiers stimmte man für die Begrenzung oder Ablösung jener Rechte, die mit der persönlichen Macht des Seigneurs zusammenhingen: das Jagdrecht, die Haltung von Taubenschlägen und Kaninchenställen, Banalitäten, Wegezölle; Uberreste persönlicher Abhängigkeit und andere Lasten dieser Art. In fünf Heften wurde die Begrenzung oder Ablösung der „realen" Feudalrechte vom Typ des Champart, der Rente und der Abgaben bei Wechsel des Bodeneigners lods et ventes, in zehn die Liquidierung oder Einschränkung der Kompetenzen grundherrlicher Gerichtsbarkeit vorgeschlagen ; in vier weiteren die Eingrenzung der seigneurialen Reaktion. Die Mehrheit der Adels-Cahiers, die über ein relativ entwickeltes Programm hinsichtlich der grundherrlichen Rechte verfügten, stammte aus dem Pariser Becken und aus Nordfrankreich, d. h. aus dem ökonomisch fortgeschrittenen Gebiet, in dem der Anteil der Einnahmen aus Pacht und Eigenbewirtschaftung an den Einkünften des adligen Grundherrn bedeutend und die Rolle der seigneurialen Rechte entsprechend gesunken war. Natürlich war es für den Adel leichter, sich von den grundherrlichen Rechten zu trennen, wo diese als Einnahmequelle ihre frühere Bedeutung eingebüßt hatten. Wir erinnern indes daran, daß die im Frühjahr 1790 angenommenen Agrardekrete die unentgeltliche Abschaffung der seigneurialen Gerichtsbarkeit und aller Rechte, die aus der persönlichen Gewalt des Grundherrn herrührten, vorsahen: Das Jagd- und Fischfangrecht, das Privileg zur Haltung von Kaninchen und Tauben; Überreste persönlicher Abhängigkeit, Banalitäten, Wegezölle, die Wegefron (corvée) und andere Lasten ähnlicher Art. Für die auf dem Boden lastenden Abgaben, wie z. B. den Grundzins, den Champart, die Rechte und Abgaben bei Besitzwechsel, wurde die Ablösung mit 20- bis 25fachem Jahresertrag festgelegt. Im Frühjahr 1789 fand sich solches in keinem einzigen Adels-Cahier. Am nächsten kam diesem Programm das Cahier der drei Stände der Bailliage Montfort-l'Amaury, das die Abschaffung der grundherrlichen Rechte der Jagd, der Haltung von Kaninchenställen und Taubenschlägen, die Abschaffung der seigneurialen Gerichtsbarkeit, die Ablösung der Banalitäten, des Champart und des Zehnten vorsah. In geringerem Maße näherten sich ihm die Hefte von Châteauneuf-enThimerais und Dourdan an, in denen ebenso der Komplex von auf dem Boden lastenden Abgaben berührt wurde. Die Adligen von Châteauneuf-en-Thimerais schlugen vor, die Wegefron und die Abgabe beim Übergang des Bodens an einen anderen Besitzer abzuschaffen, das Jagdrecht, die Tauben- und Kaninchenhaltung einzuschränken, den Bauern zu gestatten, sich frei an ein königliches statt an das grundherrliche Gericht zu wenden, die seigneuriale Reaktion zu begrenzen. Im Heft von Dourdan machte man den Vorschlag — bei Erhaltung des Jagdrechts —, den Bauern den Schaden zu ersetzen, den die Jagd der Seigneurs verursachte; den Zehnt bei beiderseitigem Einverständnis von Bauer und Grundherrn abzulösen, den Champart, die Banalitäten und die Corvées abzulösen. Folgende Bedingungen wurden aufgeführt: bei Befreiung vom Champart dem Seigneur ein Drittel des Bodens zu geben oder dessen Geldwert zu entrichten; 32 A. P., Bd. 3, S. 662.

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die Banalitäten und die Wegefron waren nur abzulösen, wenn die ganze Gemeinde zugleich den 40fachen Betrag der jährlichen Abgaben zahlte. Die übrigen Cahiers gingen nicht über die Einwilligung zur Beseitigung der persönlichen Abhängigkeiten durch Ablösung hinaus (diese Abhängigkeiten wurden zu Beginn der Revolution kostenlos abgeschafft) und begleiteten den Verzicht auf die einen Abgaben mit Forderungen nach Bewahrung der Unantastbarkeit der anderen. Die vorgeschlagene Ablösungsrate war unverhältnismäßig hoch: das 30- bis 40fache der jährlichen Abgaben. Vicomte de Noailles, der spätere Initiator des formal freiwilligen Verzichts auf die Seigneurialrechte in der Konstituante, zählte zu den Verfassern des Adels-Cahier der Bailliage Nemours. In bezug auf die grundherrlichen Rechte war dort lediglich die Forderung enthalten, die Banalitäten einzuschränken. Dieses Beispiel demonstriert anschaulich den Bruch zwischen den Ausgangspositionen, die in den Cahiers geäußert wurden, und jenen Auffassungen, die die fortgeschrittenen Vertreter des Adels erzwungenermaßen unter dem Eindruck der Bauernaufstände in den Tagen der „Großen Furcht" im Sommer 1789 annahmen. Die Uberreste des Feudalismus im Agrarbereich schlössen neben den grundherrlichen Lasten auch den Komplex der aus der Vasallität überkommenen Feudalrechte ein, die die Beziehungen innerhalb der herrschenden Klasse der Grundbesitzer und Seigneurs regelten. Zu diesen Feudalrechten gehörten das Recht der königlichen Jagd auf den" Ländereien der Vasallen, Bezahlung einer Gebühr an den Suzerain beim Übergang des Lehens (fief) an einen anderen Besitzer; Herausbildung von Vasallenbeziehungen und Zahlung an den Suzerain im Falle der Erlangung eines Fief. Die Abschaffung oder Einschränkung dieser Rechte forderten 33 Cahiers. In 26 von ihnen war von der Aufhebung der königlichen Jagdreviere die Rede. Die Mehrzahl dieser Hefte stammte aus der Generalität Paris, da die Jagdreviere sich hauptsächlich auf dem Territorium der Krondomänen befanden. Die in den adligen Cahiers enthaltenen Entwürfe für Reformen der Lokalgewalten (die Forderung, das Amt des königlichen Intendanten zu beseitigen oder seine Vollmachten zu beschränken und die Provinzialstände wiederzubeleben) darf man nicht immer als Äußerung eines provinziellen Separatismus bewerten. Die Autoren von 66 Heften sprachen sich in dieser oder jener Form gegen die Bewahrung von Überresten der Zersplitterung des Landes aus. Der Vorschlag, die örtlichen Machtorgane den zentralen unterzuordnen und das Rechtssystem zu vereinheitlichen (49 Cahiers), sowie auch das Begehren, die provinziellen Steuerprivilegien abzuschaffen (34 Cahiers), zeugten von dem Wunsch der Adligen, all das Positive zu bewahren, das in den Jahren des Absolutismus bei der Zentralisierung des Staates erreicht worden war, und gleichzeitig die Willkür der Intendanten zu beseitigen. Das archaische und verworrene System der administrativ-territorialen Gliederung Frankreichs im Ancien Régime wurde in den Adels-Cahiers selten verurteilt. In zwölf von ihnen wurde vorgeschlagen, die Grenzen der Verwaltungsbezirke zu präzisieren oder vernünftiger festzulegen. Lediglich dreimal, in den Beschwerdeheften des Nivernais, Anjou und von Clermont-en-Beauvaisis, treffen wir das Projekt einer durchgreifenden Reform im Geiste des „Jahrhunderts der Vernunft": Beseitigung der Zerstückelung des Landes in administrative, Finanz-, Gerichts-, Wahl-, Militär-, Kirchenbezirke mit nicht übereinstimmenden und nicht immer festgeschriebenen Gren-

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zen, statt dessen die Schaffung eines einheitlichen Systems der administrativterritorialen Einteilung. Besorgt über die Entwicklung der Wirtschaft und des Unternehmertums forderten die Adligen in 113 Cahiers, die inneren Zollschranken abzuschaffen; in 38, die Einheit von Maßen und Gewichten auf dem gesamten Territorium Frankreichs einzuführen. Die Verfasser von elf Heften sprachen sich entweder für die vollständige Befreiung der Industrie und des Handels von der Besteuerung oder für eine relativ geringe Steuer auf die Einkünfte der Unternehmer aus. In einer Reihe von Cahiers gab es Artikel, die für die Freiheit des Handels eintraten und die Popularität von Ideen der physiokratischen Schule unter den Adligen bezeugten. 35 Cahiers beinhalteten die Forderung nach Freiheit des Unternehmertums (in der Mehrzahl der Fälle ging es um die Handelsfreiheit, vor allem des Getreidehandels). Besonders ausführlich wurde das Prinzip der Unternehmensfreiheit im Heft der Bailliage Mantes formuliert, wo man davon sprach, daß die Gesetze den Bürgern die „liberté naturelle de travailler, de choisir leur domicile, d'acheter ou de vendre"33 gewährleisten müßten. Die Abschaffung der für die Unternehmen entwicklungshemmenden Exklusivprivilegien und Monopole forderten 69 Cahiers, die Aufhebung der zünftigen Organisation von Handwerk und Handel und der mit ihnen verbundenen Reglements 21, die Abschaffung der Marktgebühren 19. Die von uns untersuchten Cahiers zeugen davon, daß der französische Absolutismus bis zum Frühjahr 1789 den Rückhalt im herrschenden Stand Frankreichs, jedenfalls bei dessen größtem Teil, eingebüßt hatte. Das erwies sich als Erscheinungsform einer Krise der „Herrschenden" am Vorabend der Französischen Revolution. Gewiß beinhalteten einige Beschwerdehefte Zugeständnisse an den Absolutismus : sie erklärten den König zum einzigen Träger der gesetzgebenden Gewalt; forderten nicht konsequent staatsbürgerliche Rechte und Freiheiten; erklärten sich mit der Einschränkung der Pressefreiheit und der Aufrechterhaltung der lettres de cachet einverstanden. Indessen waren ähnliche Forderungen jedesmal mit anderen verknüpft, die auf die Einschränkung der königlichen Macht zielten, so daß in keinem der Cahiers die proabsolutistische Orientierung überwog. Bei aller den Adel einenden Opposition zum Absolutismus war der Stand in seinem Inneren mit Blick auf das gesamte sozial-politische System des Ancien Régime differenziert. Die Mehrheit der Cahiers enthielt verschiedene Varianten eines Programms konservativ-reformerischen Typs. Antiabsolutistische Reformen von Staatsapparat und Gesellschaftsaufbau (Einschränkung der Macht des Königs durch die Generalstände; Verteidigung der Bürgerrechte) waren verbunden mit der Verteidigung der bestehenden Situation des Adels. Man setzte im Kampf mit dem Absolutismus auf die traditionellen sozial-politischen Institutionen: General- und Provinzialstände, Parlements, die Einrichtung des Erbadels, ständische Privilegien. Manchmal offenbarte sich die Sorge um die Aufrechterhaltung des Einflusses der Religion. In einigen Cahiers trifft man auf die Verteidigung der Privilegien der Parlementaristokratie: das Recht der Parlements, Korrekturen an Gesetzesentwürfen vorzunehmen und die Annahme der Gesetze aufzuschieben; der Praxis von 33 Ebenda.

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Verkauf und Vererbung der Ämter. Im ganzen aber schlug sich die parlamentarische politische Strömung schwach nieder. Es gibt kein Cahier, in dem sie dominierte. Die Verfasser einer Reihe von Beschwerdeheften standen auf Positionen des Provinzialseparatismus : sie verteidigten die Autonomie, die Bräuche und Privilegien der Provinzen, die Unabhängigkeit der Provinzialstände in legislativen und Steuerfragen. Ihren klarsten Ausdruck fand die provinzialseparatistische Strömung im Cahier der Bailliage Gex, dessen Autoren völlig von lokalen Angelegenheiten und der Verteidigung der örtlichen Privilegien in Anspruch genommen waren und Einschränkungen der königlichen Macht nicht auf gesamtnationaler Ebene verlangten. Die Mehrheit der Adligen band, wie aus den Beschwerdeheften deutlich wird, ihre Zukunftserwartungen an die Beschneidung königlicher Gewalt durch das Organ der Ständevertretung — die Generalstände. Viele bestanden dabei auf der ständischen Abstimmung in den États Généraux, auf wichtigen Adelsprivilegien, darunter jenen, die sich auf Ämter bezogen, manchmal aber auch auf Steuerprivilegien und Seigneurialrechten. Einige forderten, die doppelte Vertretung des Tiers in den Generalständen aufzuheben. Insgesamt fanden verschiedene Varianten des Programms konservativ-reformerischen Typs in 121 Cahiers Verkörperung. Sicher war der Grad des Konservatismus der Hefte dieser Gruppe verschieden. Den äußersten Flügel repräsentierten 28 Hefte, in denen das ständisch-konservative Programm am konsequentesten formuliert war. Ihre Autoren bekundeten die Unbeugsamkeit bei der Verteidigung adliger Privilegien, einschließlich der Steuervorrechte, protestierten gegen die verdoppelte Vertretung des Dritten Standes in den États Généraux. Aber die Mehrheit der Adligen sah sich genötigt, einzelne Zugeständnisse zu machen, sich z. B. von Steuerprivilegien loszusagen. In 17 Heften überwog die liberal-reformerische Zielsetzung. Ihre Autoren kritisierten den Absolutismus von Positionen aus, die dem bürgerlichen Liberalismus nahekamen. Sie nahmen solche Forderungen auf, die im F r ü h j a h r 1789 vom Dritten Stand geäußert wurden : individuelle Abstimmung in den Generalständen; Abschaffung der Steuer-, Ämter und juristischen Standesprivilegien; Einschränkung, Abschaffung oder Ablösung einiger bäuerlicher Belastungen und eine Reihe weiterer Forderungen. In 27 Cahiers hielten sich die Tendenzen liberalen Reformwillens und ständischen Konservatismus annähernd die Waage. Während in den einen keine klaren Antworten auf die strittigen Fragen über den Abstimmungsmodus in den Generalständen, die Abschaffung oder Aufrechterhaltung der Adelsprivilegien gegeben wurden, verband sich in anderen eine vorrangig konservative Lösung dieser Fragen mit der Bereitschaft zu Kompromissen, z. B. bei der Beschneidung der grundherrlichen Rechte. So stimmen unsere Schlußfolgerungen nicht mit den Ergebnissen überein, zu denen der oben schon erwähnte Guy Chaussinand-Nogaret kommt, wonach man das sozialpolitische Programm der Adels-Cahiers in ihrer Gesamtheit als fortschrittlich und liberal kennzeichnen könne. Zur Bewertung der Cahiers legte er ein einziges Kriterium an: das Verhältnis der Autoren zur absoluten Monarchie. Im F r ü h j a h r 1789 war der Absolutismus indessen Angriffen von verschiedenen Seiten ausgesetzt. Unter solchen Umständen muß man, um die Zielstellung des sozialpolitischen Programms des Adels zu klären, genau bestimmen, von wel-

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chen Positionen aus er sich dem Absolutismus widersetzte. Karl Marx bemerkte seinerzeit, daß gerade der Adel jene Kraft war, die dem Absolutismus den ersten Schlag versetzte und gleichsam die Französische Revolution eröffnete, obwohl er dabei in erster Linie auf seinen engen Standesinteressen beharrte. „ . . . die französische [fing] ebenso konservativ, noch viel konservativer an . . . als die englische. Der Absolutismus, besonders wie er zuletzt in Frankreich auftrat, war auch hier eine Neuerung, und gegen diese Neuerung erhoben sich die Parlemente und verteidigten die alten Gesetze, die us et coutumes der alten ständischen Monarchie."34 Der erste Schlag, der gegen die französische Monarchie geführt wurde, unterstrich Marx, „ging vom Adel aus, nicht von den Bauern". 35 Als liberal und im Fahrwasser der Forderungen des Tiers liegend muß man jene Cahiers einstufen, deren Programm nicht nur in Opposition zur absoluten Monarchie standen, sondern zur gesamten politisch-sozialen Struktur des Ancien Régime, die auf die Ungleichheit der Bürger und auf Standesprivilegien gegründet war. Die geographische Verteilung der Beschwerdehefte mit verschiedenen Lösungsvarianten umstrittener sozial-politischer Fragen ist von Interesse. Die konservativ-reformerischen Cahiers waren relativ gleichmäßig über das gesamte Territorium Frankreichs verteilt. Die Hefte, die am konsequentesten die Standesprivilegien des Adels verteidigten, zeichneten sich durch „Provinzialität" aus. Keines von ihnen kam aus dem Pariser Becken. Sie stammten hauptsächlich aus der Normandie, den westlichen Provinzen und dem Massif central. Die liberalen Cahiers konzentrierten sich im Pariser Becken und im Südosten (Provence und Dauphiné). Die Dominanz der einen oder anderen politischen Richtung im Heft war in jedem konkreten Fall von der Kombination vieler Faktoren abhängig: der Zusammensetzung der Teilnehmer an den Adelsversammlungen, ihrer Aktivität und Beredsamkeit. Die persönliche Autorität irgendeines der Anwesenden konnte großen Einfluß ausüben, wie dies z. B. in der Bailliage Mantes zutraf. Jedoch vermag man in der Verteilung der Cahiers insgesamt einige Gesetzmäßigkeiten zu entdecken. Die konservativen Hefte überwogen in den zentralen Provinzen, das heißt dort, wo der Adel in sozial-klassenmäßiger Hinsicht archaischere Züge trug. Gerade in diesen Gebieten war der Charakter des adligen Eigentums weitestgehend erhalten geblieben. Demgegenüber waren die liberal-reformerischen Beschwerdehefte in den fortgeschrittenen Gebieten verbreitet, wie dem Pariser Becken, wo der Prozeß der Verbürgerlichung eines Teils des Adels sehr lebhaft verlief. Es scheint, daß die soziale, klassenmäßige Heterogenität des Adels seine politisch-ideologische Differenzierung bedingte, jedoch nur in dem Sinne, daß sie die Ausarbeitung einer gemeinsamen Plattform und gemeinsames Handeln hemmte. Dennoch erweist es sich nicht in jedem konkreten Fall als möglich, das Überwiegen der konservativen oder liberalen Tendenz in den Adels-Cahiers dieser oder jener Region aus sozialen, klassenmäßigen Gründen zu erklären. Zum Beispiel passen die konservativen Hefte des normannischen Adels nicht in das gegebene Schema. Unter dem Aspekt des Charakters, den das adlige Eigentum trug, stand dieses Gebiet der 34 Marx, Karl/Engels, Friedrich, Rezensionen aus der „Neuen Rheinischen Zeitung. Politisch-ökonomische Revue". Zweites Heft, Februar 1850, in: MEW, Bd. 7, S. 209. 35 Marx, Karl, Der indische Aufstand, ebenda, Bd. 12, S. 285.

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Île-de-France und der Picardie nahe. Die Ursachen sind demnach in einer anderen S p h ä r e zu suchen. Vielleicht w a r die B e r u f u n g auf die Provinz- und Standesprivilegien eine Reaktion auf die Schwere der S t e u e r b ü r d e in dieser Provinz. Auf den Inhalt der Cahiers n a h m e n auch die Besonderheiten des politischen K a m p f e s in den Provinzen w ä h r e n d der vorangegangenen J a h r e Einfluß. So entstand das liberal-reformerische P r o g r a m m im Beschwerdeheft des Dauphiné im Ergebnis der Vereinigung des Adels dieser Provinz mit dem Dritten Stand, die w ä h r e n d der politischen Krise der J a h r e 1787/88 zustande kam. 3 6 Ebenso w u r d e n liberale Forderungen des Adels vom Einfluß der aufklärerischen Ideologie und K u l t u r geprägt. Liberale Cahiers w a r e n im Umfeld von Paris, der Hauptquelle aufklärerischer Kultur, konzentriert. Die Positionsbestimmung im Verlaufe der Diskussion in den Versammlungen w ä h r e n d des F r ü h j a h r s 1789 w u r d e zur ideologischen Voraussetzung der nachfolgenden Aufspaltung des französischen Adels in den J a h r e n der bürgerlichen Revolution. Selbstverständlich darf m a n die in den Cahiers bezogenen Positionen nicht vollständig mit jenen zusammenbringen, die in den K ä m p f e n d e r Révolutions j ä h r e tatsächlich eingenommen w u r d e n . Die sozialen und politischen Auseinandersetzungen, die in den ersten Monaten der Revolution heftig e n t brannten, ihre antinobilitäre Stoßrichtung, die grundsätzliche Beseitigung der Feudalordnung, die völlige Abschaffung aller Adelstitel und -Privilegien, die Proklamation bürgerlicher Gleichheit in der „Erklärung der Menschen- u n d Bürgerrechte" verwandelten viele liberale Adlige in Verteidiger des Ancien Régime. Nichtsdestoweniger markieren die Programme, die in den W a h l h e f t e n aufgezeichnet wurden, die politisch-ideologischen Trennlinien innerhalb d e s Adelsstandes. Schon lassen sich die Züge k ü n f t i g e r leidenschaftlicher Revolutionsgegner, Emigranten und Konterrevolutionäre vorausahnen. Abzusehen ist die vorsichtig-abwartende Position jener, die den gefahrvollen, radikalen Wandel fürchteten, aber dennoch zu A n f a n g die Revolution nicht als eine K a t a strophe ansahen und die liberalen Reformen begrüßten, die sie brachte. Bei der Abfassung der liberal-reformerischen Cahiers n a h m e n möglicherweise die k ü n f tigen Bürgermeister, Organisatoren und Befehlshaber der Nationalgarde teil, kurz, jener liberale Adel, der im Bund mit den Oberschichten der Großbourgeoisie eine herausragende Rolle spielte und zusammen mit ihnen ins Lager der Gegner überging, als die Logik der Entwicklung der gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen die Revolution über die Grenzen der konstitutionellmonarchischen Etappe h i n a u s f ü h r t e . (Übersetzt von Matthias Middell) 36 Egret, Jean, La Révolution des Notables. Mounier et les Monarchiens, Paris 1950; Soboul, Albert, La Révolution française, Paris 1983, S. 124—127.

Matthias Middell

Zum Prozeß der Konstituierung der französischen Konterrevolution (Ende 1788-Sommer 1789)

Verglichen mit dem Bücherberg, der in beinahe bisäkularem Bemühen um die Erklärung des revolutionären Umbruchs von 1789 angewachsen ist, und gemessen an der Bedeutung des Problems kann die stiefmütterliche Behandlung der Konterrevolution in der Historiographie nur verwundern. Aus der Ereignisflut erfreuten sich lediglich die erbitterten Kämpfe in der Vendée anhaltender Aufmerksamkeit der Geschichtsschreibung,1 während die Erforschung der Emigration seit Beginn unseres Jahrhunderts neue Impulse durch eine Reihe von regionalen sozialgeschichtlichen Untersuchungen zu den Nationalgüterverkäufen erhielt. 2 Die Analyse von Strategie und Taktik, Zusammensetzung und Kampfformen des gegenrevolutionären Lagers blieb dagegen deutlich hinter dem Studium anderer Seiten der Revolution zurück. 3 Auf die zusammenfassenden Darstellungen von Paul H. Beik und Jacques Godechot4 folgte wiederum — trotz einer beträchtlichen Zahl verdienstvoller Einzelstudien — eine Phase relativer Vernachlässigung des Gegenstandes. Erst im Vorfeld des Bicentenaire wendet sich die internationale Forschung verstärkt dem Phänomen der Konterrevolution zu, wie besonders das Kolloquium von Rennes 1985 belegt.5 Die Konjunktur erfaßt jedoch nicht alle Bereiche gleichermaßen. Zwei Aspekte stehen besonders im Vordergrund: Zum einen haben pressegeschichtliche Arbeiten Erhebliches zur Erhellung konterrevolutionärer Ideologie und dazugehörender Propagierungsmechanismen geleistet.6 Zum anderen rückten die Wechsel1 Vgl. die Bibliographie bei Petitfrère, Claude, Blancs et Bleus d'Anjou (1789-1793) [thèse], 2 Bde., Lille/Paris 1979. 2 Bilanziert bei Bouloiseau, Marc, Étude de l'émigration et de la vente des biens des émigrés (1792-1830), Paris 1963. 3 Vgl. die unvollendete Darstellung von Vingtrinier, Emmanuel, La contre-révolution, Première periode (1789—1791), 2 Bde., Paris 1924, und Batz, Baron de, Histoire de la contre-révolution, Paris 1910. 4 Beik, Paul H., The French Revolution seen from the Right. Social Theories in Motion 1789—1799, Philadelphia 1956; Godechot, Jacques, La contre-révolution. Doctrine et action, Paris 1961.19842. 5 Publikation wichtiger Beiträge unter dem Titel Les Résistances à la Révolution, publié par Roger Dupuy et François Lebrun, Paris 1987; siehe auch Lucas, Colin, Résistances populaires à la Révolution dans le sud-est, in: Mouvements populaires et conscience sociale XVIe—XIXe siècles. Actes du colloque de Paris 24—26 mai 1984, recueillis et présentés par Jean Nicolas, Paris 1985, S. 473 ff. 6 Popkin, Jeremy D., The Right-wing Press in France 1792-1800, Chapel Hill 1980; Bertaud, Jean Paul, Les Amis du Roi. Journaux et journalistes royalistes en

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beziehungen von Konterrevolution und Volksbewegung stärker ins Blickfeld. Claude Mazauric unterschied zwischen „contre-révolution" als „Gesamtheit politischer Strategie", die zur Restauration der feudalen Privilegienordnung (mit der Feudalmonarchie als wesentlichem Bezugspunkt) ausgearbeitet und eingesetzt wurden einerseits, und der „anti-révolution" von Teilen der Volksbewegung, die sich dem konkreten Revolutionsgeschehen „vor Ort" verweigerten oder entgegenstellten andererseits.7 Mit dieser Unterscheidung wird eine Begrenzung der Interpretation auf die Gegenüberstellung von revolutionärem und gegenrevolutionärem Lager zugunsten des für bürgerliche Revolutionen (vom Typ 17898) grundlegenden Dreieckskonflikt zwischen Bourgeoisie, Volksbewegung und Konterrevolution aufgehoben und zugleich der Schwerpunkt auf die exakte Bestimmung der Klasseninhalte sozial und politisch heterogener Bewegungen gelegt. Eine solch differenzierte Sicht, die fruchtbare Ansätze für die weitere Untersuchung divergierender Zielstellungen und zeitweiliger Domination im Verhältnis von Konterrevolution und Volksbewegung bietet, scheint jedoch momentan eher die Ausnahme denn die Regel. Immerhin gießen umfangreiche sozialgeschichtlich angelegte Arbeiten und die Überwindung der bislang vorherrschenden Eingrenzung dieser Fragestellung auf den Westen und Nordwesten Frankreichs9 ein breiteres Fundament für zusammenfassende Erklärung und komparative Sicht (etwa auf das Problem der bäuerlichen Massenbasis im Karlismus Spaniens10). Verstärktes Bemühen um eine tiefer lotende

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France de 1789 à 1792, Paris 1984; Murray, William James, The Right-wing Press in the French Revolution, London 1986. Außerdem die wichtigen Arbeiten von Roger Barny, z. B.: Jean-Jacques Rousseau dans la Révolution, in: Dix-huitième siècle, 1984, 6, S. 59-98. Mazauric, Claude, Autopsie d'un échec: la résistance à l'anti-révolution et la défaite de la contre-révolution, in: Les Résistances à la Révolution; einen Ansatz zur vergleichenden Betrachtung der Konterrevolution (en) in den neuzeitlichen Revolutionen bietet Markov, Walter, Zur historischen und strukturellen Einordnung der Konterrevolution in den bürgerlichen Revolutionszyklus. Vortrag auf dem Kolloquium des IZR vom 29. 6.1979 (Tonbandprotokoll). Zur Typologie bürgerlicher Revolutionen vgl. zusammenfassend Kossok, Manfred, Vergleichende Analyse der bürgerlichen Revolutionen der Neuzeit, in: Leipziger Beiträge zur Revolutionsforschung (im folg.: LBR), H. 1, hrsg. von Manfred Kossok, Leipzig 1982, S. 7 ff. Die Konfrontation zwischen Midi rouge und Midi blanc stand im Zentrum des Kolloquiums 1986 in Avignon. Die Beiträge sind publiziert in : Provence Historique, t. XXXVI, fasc. 148, avril—mai—juin 1987; siehe auch Lucas, Colin, The problem of the Midi in the French Revolution, in: Transactions of the Royal Historical Society, 5th serie, vol. XXVIII, London 1978, S. 1—25; Lewis, Gwynne, The Second Vendée. The Continuity of Counter-Revolution in the Department of Gard 1789— 1815, Oxford 1978. Kossok, Manfred, Revolution — Reform — Gegenrevolution in Spanien und Portugal (1808—1910), in: Studien zur vergleichenden Revolutionsgeschichte 1500—1917, hrsg. von Manfred Kossok, Berlin 1974, S. 134 ff. Vgl. neben der bereits angeführten Arbeit von Petitfrère neuerdings Sutherland, Donald M., The Chouans. The social origins of populär Counterrevolution in Upper Brittany 1770—1796, Oxford 1982, und Hütt, Maurice G., Chouannerie and Counter-Revolution. Puisaye, the Princes and the British Government in the 1790s, 2 Bde., Cambridge 1983.

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Einschätzung der Konflikte v. a. in Südfrankreich verdrängte Vendée und Chouannerie jedoch keineswegs aus der Liste der Neuerscheinungen,11 auch weil Frankreichs Rechte zunehmend die These vom „génocide franco-français" favorisiert, wobei die Revolutionäre von 1793 zu Vorläufern moderner Völkermorde stilisiert werden sollen.12 Die üppigere Literaturlage kann allerdings kaum darüber hinwegtäuschen, daß nach wie vor eine präzise definitorische Eingrenzung dessen, was eigentlich mit der Bezeichnung Konterrevolution zu fassen ist, aussteht und damit ein tragfähiger Konsens hinsichtlich des Untersuchungsgegenstandes nicht besteht. Häufig wird zeitgenössische Begrifflichkeit in modernen Darstellungen unrefiektiert verwendet, wobei der Bedeutungswandel während der Revolution selbst aus dem Blick gerät. Diese Verschiebung vom sozial determinierten zum wesentlich politisch bestimmten Begriff ist an anderer Stelle nachgezeichnet worden. Hieraus leitet sich eine Arbeitsdefinition ab, die im folgenden zugrunde gelegt werden soll. Danach wäre Konterrevolution — zumindest in bürgerlichen Revolutionen „im Feudalismus gegen den Feudalismus"13 — einzugrenzen auf den in Handeln und Denken gegen die (bürgerliche) Umwälzung vorgehenden Teil jener Klasse, gegen deren (feudale) Herrschaft sich die Revolution richtete, einschließlich jener der Feudalklasse sozial fremden Elemente, die aus unterschiedlichen Gründen der Programmatik vom Zurück zu einem nur unwesentlich modifizierten Ancien Régime beipflichteten.1,1 In der Kontroverse zwischen marxistischen Historikern und Vertretern eines „historischen Revisionismus" um die Rolle der Konterrevolution in der Französischen Revolution kristallisieren sich zwei Problemkreise von grundlegender Bedeutung für die allgemeine Revolutionsinterpretation heraus. Dies betrifft erstens die Frage nach dem Klassencharakter des gegenrevolutionären Lagers, wobei wiederum zwei Tendenzen, die sich scheinbar diametral entgegenstehen, zu unterscheiden sind. Einerseits begegnet man in verschiedenen Darstellungen einem undifferenzierten Konglomerat aus Adel, Bourgeoisie, ländlichen und städtischen Volksmassen, die im Namen von Tradition, Dezentralisierung bzw. Regionalismus der Revolutionsregierung und besonders den Jakobinern Widerstand geleistet hätten, womit das Problem allein auf der Ebene politischer Konflikte unter Ausklammerung der divergierenden sozialen Hintergründe behan12 Prononciert bei Sécher, Reynald, L e génocide franco-français. L a Vendée-Vengée, Paris 1986; in ähnlicher Richtung schon Durand, Yves, V i v r e au pays. Essai sur la notion de pays dans l'ouest de la France, Paris 1984, mit einem programmatischen Geleitwort von Pierre Chaunu. 13 Vgl. A n m . 8. Eine solche Einschränkung scheint mit Blick auf die sich im bürgerlichen Revolutionszyklus vollziehende Verschiebung in der

Hegemoniekonstella-

tion einerseits und in Beschränkung der Begriffsbildung auf die Revolution im engeren Sinne andererseits geboten. (Vgl. dazu die einschlägigen Arbeiten von DDR-Historikern, speziell M a n f r e d Kossok, W o l f g a n g Küttler und Walter Schmidt, zur vergleichenden Revolutionsforschung, die auch im folgenden zugrunde gelegt werden.) 14 Zur Begründung dieser vorläufigen Arbeitsdefinition vgl. Middell,

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terrevolution während der Französischen Revolution 1789—1795 — zeitgenössischer Begriff und aktuelle Forschung, in: 1789 — Weltwirkung einer Großen Revolution, hrsg. von M a n f r e d Kossok und Editha Kroß, Bd. 1, Berlin 1989, S. 97-114.

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delt wird.15 Andererseits hat sich eine Richtung in der modernen Historiographie herausgebildet, die mit polemischer Spitze gegen die Charakterisierung des Ancien Régime als Feudalordnung behauptet, der Adel habe sich nicht einer bürgerlichen Revolution, sondern der Zerstörung bereits existenter kapitalistischer Entwicklungansätze widersetzt und sei der eigentliche Träger des Fortschritts in Frankreich gewesen, dessen Niederlage das Land in den entscheidenden und folgenreichen Rückstand gegenüber dem englischen Konkurrenten führte. An den Volksmassen, nicht an der Intransigenz der Aristokratie sei der Kompromiß mit der Bourgeoisie und das Aufgehen in einer einheitlichen Elite bürgerlicher Prägung gescheitert.16 Zweitens gehört die Frage nach Stärke und Schwäche der konterrevolutionären Bedrohung zu den am heftigsten diskutierten Punkten im Streit um die Revolution. Der Engländer Alfred Cobban minimierte die Bedeutung der Gegenrevolution soweit, daß er sie am Ende zum Mythos erklärte,17 worin ihm François Furet folgte, der in ihr nur ein Hirngespinst sah, das Jakobiner erdachten, um die terreur zu rechtfertigen: „ . . . zu jedem manichäischen Glaubensbekenntnis gehört eine harte Verfluchung derer, die besiegt werden müssen."18 Immerhin ist die Liste derer, denen Furet unterstellt, lediglich jakobinischem Legitimierungsdrang zu folgen, wenn sie die Stärke der Konterrevolution betonen, von erheblicher Länge und beschränkt sich keineswegs auf marxistische Autoren. Das dabei zutage geförderte Tatsachenmaterial belegt, daß keinesfalls aus der schließlichen Niederlage der Feudalklasse im Konflikt mit Bourgeoisie und Volksbewegung auf Chancenlosigkeit von vornherein geschlossen werden kann. Zeitweise wähnte man die „Schatten der Vergangenheit" schon aus der Welt, dann wuchsen ihnen aus der fortschreitenden Internationalisierung des Klassenkonflikts, aber auch aus Widersprüchen, die die Revolution (mit Notwendigkeit) hervorbrachte, neue Kräfte zu.19 So stand für die Revolutionäre von 1789 wie für die von 1793 nicht die Alternative zwischen einem der Bourgeoisie eigentlich genehmen Kompromiß und demokratischer Vertiefung der Revolution zur Debatte. Statt dessen war wenigstens bis zum Jahr II angesichts halsstarriger Konterrevolution zwischen einem Retour zur alten Ordnung und einem Vorwärts im Bündnis mit der Volksbewegung zu wählen. Selbst nach dem 9. Thermidor drohte das fragile politische Gleichgewicht immer wieder am Vormarsch der Rechten zu zerbrechen. Die Direktoren sahen sich häufiger als ihnen lieb war gezwungen, den selbstgezoge15 U. a. Durand, Vivre au pays; mit einer eigenen regionalistischen Note: Martray, Joseph, L a Bretagne dans la Révolution Française. Une passion déçue, Paris 1985. 16 Z. B. Le Roy Ladurie, Emmanuel, De la crise ultime à la vraie croissance 1660— 1789, in: Histoire de la France rurale, sous la direction de Georges Duby et Henri Wallon, t. 2, Paris 1975, S. 359 fE. ; Chaussinand-Nogaret, Guy, L a noblesse au X V I I I e siècle. De la féodalité aux lumières, Paris 1976. 17 Cobban, Alfred, The Debate on the French Revolution 1789—1800, London 1950. 18 Furet, François, 1789 — Vom Ereignis zum Gegenstand der Geschichtswissenschaft, Frankfurt a. M./Berlin [West]/Wien 1980, S. 69. 19 Vgl. u. a. Markov, Walter, Die Große Französische Revolution 1789—1795, in: Revolutionen der Neuzeit 1500—1917, hrsg. von Manfred Kossok, Berlin 1982, S. 111 fï.; Vovelle, Michel, Die Französische Revolution — soziale Bewegung und Umbruch der Mentalitäten, München/Wien 1982, S. 26 ff.

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nen Rahmen der Legalität zu überschreiten, und noch 1799 verweigerte sich Louis X V I I I . in der Deklaration von Verona jeglicher Übereinkunft mit der neuen Ordnung. Angesichts der Zentralstellung, die die „thèse des circonstances" (Claude M a zauric), zu der auch die Frage nach den Potenzen des gegenrevolutionären Lagers rechnet, in der Interpretation der Ereigniskette zwischen dem Zusammentritt der États Généraux und napoleonischem Empire durch die „klassische Linie der Revolutionshistoriographie" (Albert Soboul) einnimmt, muß die Erforschung der Konterrevolution in der Französischen Revolution als wesentliches Desiderat marxistischer Untersuchungen angesprochen werden. Dabei verweist die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen feudaler Opponenten der Revolution von 1789 auf die Zusammenhänge zwischen sozialstrukturellen, politisch-institutionellen und ideologischen Voraussetzungen für die Formierung einer schlagkräftigen Konterrevolution und deren konkret-historische Umsetzung im Verlauf der Auseinandersetzung. Wiewohl die seit den 60er Jahren erheblich intensivierte sozialhistorische Forschung, die auch v e r schiedene Aspekte der Geschichte des Adels im 18. Jh. beleuchtete, fast durchweg vor der Epochenscheide 1789 kapituliert, 20 sind ihr doch wesentliche A n regungen auch f ü r eine Geschichte der Konterrevolution zu entnehmen. Dabei rücken vor allem zwei Probleme in den Vordergrund. Einerseits ist nach jenen Faktoren zu fragen, die dazu führten, daß sich der französische Adel mehrheitlich bereit zeigte, den Kampf gegen die Revolution zur Konsequenz von Emigration (und damit verbundenen ökonomischen Verlusten im Zuge der Sequestrierung seiner Güter) und K r i e g gegen Frankreich zu treiben. Dies impliziert andererseits die Suche nach jenen Widersprüchen innerhalb der herrschenden Klasse des Ancien Régime, die zu Hindernissen bei der Formierung einer geschlossenen Front gegen die bürgerliche Neuordnung der Verhältnisse und der Formulierung eines kohärenten Alternativprogramms für die notwendig gewordene Krisenbewältigung wurden. Solcherart Präfigurationen des Klassenverhaltens in der Revolution herauszuarbeiten, heißt jedoch nicht, die Komplexität und Vielfalt der Auseinandersetzungen ab 1789 auf mechanistische Weise aus der vorrevolutionären Situation zu deduzieren. Der vorliegende Beitrag erhebt nicht den Anspruch, das gesamte Spektrum ineinander verschlungener Widersprüche, die f ü r die Konstituierungsphase der Konterrevolution von Belang waren, aufzuzeigen. Vielmehr soll auf einige Problemfelder hingewiesen werden, die von besonderem Interesse erscheinen. Dabei geht es um die Verschränkung dreier Ebenen: erstens jener Merkmale und Widersprüche, die den französischen Adel vor 1789 kennzeichneten, in ihrer Wirkung auf Tempo und Ausrichtung der Formierung des gegenrevolutionären Lagers; zweitens der Rolle politischer Auseinandersetzungen im unmittelbaren V o r f e l d der Französischen Revolution f ü r Struktur, Strategie und Taktik der 20 Ausnahmen bilden Brelot, Claude, La noblesse en Franche-Comté de 1789 à 1808, Paris 1972; Lemarchand, Guy, La fin du féodalisme dans le Pays de Caux. Conjoncture économique et démographique et structure sociale dans une région de grande culture, de la crise du XVII e siècle à la stabilisation de la révolution (1640— 1795) [thèse], Lille 1986.

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Konterrevolution und drittens der Einflüsse, die sich aus dem wechselseitigen Bezug von revolutionärer und konterrevolutionärer Seite bereits in der Konstituierungsphase ergaben. Der letzte Aspekt führt an die Frage der zeitlichen Fixierung des Vorganges heran. Eine Konterrevolution vor der Revolution erscheint nicht nur als begriffliches Paradoxon. Vielmehr ist nach dem Punkt in der Geschichte zu fragen, da angesichts einer (im Rahmen des herrschenden Systems) kaum mehr zu steuernden Krise konterrevolutionäres Reagieren auf die Herausforderung der sich abzeichnenden bzw. schon ausgebrochenen Revolution einsetzte. Andererseits scheint klar, daß Revolution wie Konterrevolution nicht dem Haupte des Jupiter entsprangen. So ist zu unterscheiden zwischen Präfigurationen langfristiger Natur und der Konstituierung der Konterrevolution in direkter Konfrontation mit der zunehmenden Politisierung des Tiers und der Organisation seiner politischen Exponenten. Die Französische Revolution wurzelte in einer tiefen Krise, deren verschiedene Erscheinungsformen im ökonomischen, politischen und ideologisch-kulturellen Bereich den gesamtgesellschaftlichen Charakter verdeutlichten, und die lediglich ihren auffälligsten Ausdruck in der finanziellen Misere der Krone im Laufe des letzten vorrevolutionären Dezenniums fand. 21 Ausgangspunkt war die Tatsache, daß sich dem Feudalsystem seit dem 17. Jh. deutlich zunehmend kapitalistische Elemente eingelagert hatten. Eine opulenter werdende Handels- und Finanzbourgeoisie dominierte die intensiveren Marktbeziehungen und suchte dabei häufig den erzielten Profit in Ämter und Grundbesitz anzulegen, die Machtbeteiligung und Prestigegewinn versprachen, zugleich aber eine feudale Deformierung zur Folge hatten. 22 Sich ausbreitende Warenproduktion und der Differenzierungsmechanismus fortschreitender Ware-Geld-Beziehungen zerriß die relative Homogenität der Land- und Stadtbevölkerung, betraf Bauern und Bürgerliche ebenso wie Adlige. Die Widersprüche gelangten dabei in dem Maße an die Oberfläche, wie die Schwierigkeiten anwuchsen, diese kapitalistischen Elemente in den systembestimmenden feudalen Rahmen zu integrieren, und vermitteln das Bild einer Gesellschaft mit vielfältigen Übergangsformen. Vor diesem Hintergrund läuft die Debatte um den Charakter des Ancien Régime, in der Autoren wie Denis Richet, François Furet, Guy Chaussinand-Nogaret, William Doyle u. a. um den Nachweis bemüht sind, daß die Feudalität keine praktische Bedeutung mehr besaß und kulturelle Gemeinsamkeiten von Adel und Bourgeoisie eine Interessenidentität hervorbrachten, 23 während andere Historiker vom grundsätzlich feudalen Charakter der französischen Gesellschaft vor 1789 ausgehen. 24 Letzt21 Vgl. Gindin, Claude, Qu'entendre par „crise de l'Ancien Régime"?, in: Cahiers d'histoire de l'Institut de recherches marxistes, 1987, 31. 22 Zum Charakter der Bourgeoisie des Ancien Régime vgl. Robin, Régine, La société française en 1789. Semur-en-Auxois, Paris 1970. 23 Zusammenfassend Doyle, William, Origins of the French Revolution, London 1980. 24 Vgl. das Resümee von Jacques Godechot in L'Aboliton de la féodalité dans le monde occidental. Actes du colloque de Toulouse 1969, t. 2, Paris 1971, S. 885 f.; einen Überblick zur neueren Debatte geben Lemarchand, Guy, La féodalité et la Révolution française: seigneurie et communauté paysanne de 1780 à 1799, in: AHRF, 1980, 242, S. 536 ff., und Pimenova, L. A., Dvorjanstvo Francii vo vremeni

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genannte Interpretationslinie kann sich auf eine Reihe von regionalen Untersuchungsergebnissen stützen, die den bedeutenden Anteil der Feudalabgaben an den Revenuen des Adels herausarbeiten. 25 Gleichzeitig provozierten aber die vorgelegten Forschungsresultate zur Teilnahme des Adels an den Finanzgeschäften, 26 zu den industriellen Aktivitäten 27 und einer intensivierten Domänenbewirtschaftung und Modernisierung der Landwirtschaft durch Einführung neuer Produktionsmethoden 28 sowie die Diskussion um die Charakterisierung des Absolutismus weiterführende Überlegungen zur typologischen Erfassung des erreichten Entwicklungsstandes in Frankreich am Vorabend der Revolution. Sie fanden ihren Ausdruck v. a. in der Debatte, die Mitte der 70er Jahre in der Zeitschrift La Pensée geführt wurde. 29 Das von Michel Grenon und Régine Robin entwickelte Modell, wonach feudale Überreste und kapitalistische Elemente in wechselseitiger Verschränkung eine Übergangsgesellschaft konstituierten, in der die kulturell-ideologische Dominanz der Bourgeoisie den Staat schrittweise in einen Transitionszustand zwischen Feudalismus und bürgerlicher Ordnung führte, 30 erwies sich als zu unpräzise und in empirischen Forschungen nicht ausreichend nachvollziehbar. Ungeachtet notwendig kritischer Einwände verweisen Grenon und Robin auf eine Unterscheidung von Betrachtungsebenen (Genesis des Kapitalismus, Wandlungen im Agrarbereich, Transformation des Staates, gesamtgesellschaftliche Veränderung), die für die Typologie des revolutionären wie des reformerischen Weges vom Feudalismus zum Kapitalismus von essentieller Bedeutung ist.31 Auf der anderen Seite hielten Albert Soboul und Elisabeth Guibert-Sledziewski in der Debatte fest, daß die Einbeziehung von Methoden der Ausbeutung und der Gewinnrealisierung, die die Seigneurs ihren dynamischeren- Konkurrenten bourgeoiser Herkunft abschauten, auf feudale Art und Weise das bäuerliche Mehrprodukt abzuschöpfen, die nach wie vor auf dem Primat außerökonomischer Gewalt beruhte, keineswegs mit einem konfliktlosen Wandel in Richtung Kapitalismus oder eines Übergangsstadiums zu verwechseln sei.32 Erinnert

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francuzskoj revoljucii konca XVIII v., in: Vestnik moskovskogo universiteta, ser. 8, istorija, 1982, 4, S. 50 ff. Zu Problemstellung und ersten Resultaten vgl. Soboul, Albert, Trois notes pour l'histoire de l'aristocratie (Ancien Régime — Révolution), in: Noblesse française — Noblesse hongroise XVIe—XIXe siècles, publié par Béla Köpeczi et Eva H. Balâzs, Budapest 1981, S. 77 ff. Chaussinand-Nogaret, Guy, Les gens de finance, Paris 1972. Richard, Guy, La noblesse d'affaires, Paris 1975. Bourdes; André I., Agronomie et agronomes en France au XVIIIe siècle, 3 Bde., Paris 1967. Vgl. zur parallelen Diskussion in der UdSSR u. a. Ado, A. V., Krest'janskoe dviäenie vo Francii vo vremja Velikoj buräuaznoj revoljucii konca XVIII v, Moskva 1971; Ljublinskaja, A. D., Francuzskie krest'jane v XVI-XVIII vv, Leningrad 1978. Grenon, Michel/Robin, Régine, A propos de la polémique sur l'Ancien Régime et la Révolution: pour une problématique de la transition, in: La Pensée, 1976, 187, S. 5 fï. Vgl. dazu Kossok, Manfred, Revolutionärer und reformerischer Weg beim Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus. Ein Diskussionsbeitrag, in: LBR, H. 16, hrsg. von Manfred Kossok, Leipzig 1986, S. 8 ff. Guibert-Sledziewski, Elisabeth, Du féodalisme au capitalisme. Transition révo-

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w u r d e an Georges Lefebvres p r ä g n a n t e Formulierung f ü r die Spezifik des f r a n zösischen Ancien Régime: „ . . . l'intrusion du capitalisme dans l'agriculture se faisait en partie sous le couvert des droits féodaux et les rendait beaucoup plus insupportables . . . Mais il accroissait aussi le revenu du seigneur et, p a r là, augmentait à ses yeux la valeur des droits féodaux et sa répugnance à les a b a n donner." 3 3 Der französische Adel folgte mehrheitlich nicht den physiokratischen Modellvorstellungen von intensiverer Bewirtschaftung der domaine proche und deren Ausweitung bzw. Arrondierung durch Bauernlegen nach englischem Vorbild 34 und zugleich deren schrittweise Entfeudalisierung auf dem Wege von Ablösungen. Anstelle dieses Konzepts, dessen Scheitern weniger vom Widerstand der Bauerngemeinden verursacht w u r d e als vielmehr vom Festhalten des Adels am feudalen Ausbeutungsgebaren (das wiederum den Protest der communautés hervorrief), setzten die Seigneurs eher auf eine Verschärfung der feudalen A n eignungsweise, um ihre Einnahmen trotz konjunktureller Schwankungen stabil zu halten oder, wenn möglich, zu steigern. 35 Trotz beträchtlicher regionaler Unterschiede — verwiesen sei n u r darauf, daß, die G r u n d h e r r e n im Süden u n d Südwesten Frankreichs stärker auf Übergangsf o r m e n zum kapitalistischen Pachtbetrieb, v. a. den métayage setzten 36 — zeichnete sich doch eine generelle Tendenz zur Wiederbelebung teilweise längst v e r gessener Feudalrechte und eine Verschärfung der feudalen Ausbeutung in der zweiten Hälfte des 18. Jh. ab. 37 Die Bedeutung der grundherrlichen Rechte — oder in einem weiteren Sinne des complexum feödale, wie es Philippe Merlin (de Douai) im September 1789 in der Nationalversammlung umriß — m u ß also unter einem Doppelaspekt gesehen

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lutionnaire ou système transitoire, in: La Pensée, 1974, 173, S. 22 ff.; dies., Voies idéologiques de la Révolution française, Paris 1976. Lefebvre, Georges, La Révolution française et les paysans [1933], in: Ders., Études sur la Révolution française, Paris 1954, S. 256. (Hervorhebung von mir.) Ausnahmen bestätigen hier lediglich die Regel: La Rochefoucauld, Jean Dominique/Wolikow, Claudine/Ikni, Guy, De Louis XV à Charles X — un grand seigneur patriote et le mouvement populaire. Le duc de La Rochefoucauld-Liancourt, Paris 1980; Weullersse, Georges, La physiocratie à l'aube de la révolution (1781— 1792), hrsg. von Corinne Beutler, Paris 1986. Zur Definition der feudalen Produktionsweise mit konkretem Bezug auf das Frankreich des 18. Jh. vgl. Lemarchand, Guy, Le féodalisme dans la France rurale des temps modernes. Essai de caractérisation, in: AHRF, 1969, 195, S. 77ff.; Gindin, Claude, La rente foncière en France de l'Ancien Régime à l'Empire, ebenda, 1982, 247, S. 1 ff. Nach der klassischen Arbeit von Merle, Louis, La métairie et l'évolution agraire de la Gâtine poitevine de la fin du Moyen Age à la Révolution, Paris 1958, ist das Thema in verschiedenen Regionalstudien jüngst wieder aufgenommen worden. Vgl. zur allgemeinen theoretischen Einordnung Marx, Karl, Das Kapital, Bd. 3, in: MEW, Bd. 25, S. 811 ff. Vgl. u. a. Bastier, Jean, La féodalité au siècle des lumières dans la région de Toulouse 1730-1790, Paris 1975; Goujard, Philippe, L'abolition de la „féodalité" dans le Pays de Bray (1789-1793), Paris 1979, S. 15-50, und die Studien in dem Band Contributions à l'histoire paysanne de la révolution française, sous la direction d'Albert Soboul, Paris 1977.

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werden: Zum einen lieferten sie traditionell einen wichtigen Anteil der Einnahmen im Budget der Seigneurs, zum anderen wuchs ihr Stellenwert bei der Meisterung der Herausforderung, die die ökonomische Entwicklung des 18. Jh. stellte und der der französische Adel auf wesentlich feudale Weise begegnete. Ihre Beseitigung zu akzeptieren, hätte die Autotransformation des Adels in bürgerliche Grundbesitzer bedeutet. Als P. F. Boncerf, Jurist und enger Mitarbeiter Turgots, 1776 in diese Richtung, argumentierte und dabei besonders auf die Rentabilität des Loskaufs der grundherrlichen Rechte verwies, 38 reagierte das Parlement von Paris, zu dieser Zeit Sprachrohr tonangebender Adelskreise, allergisch: Diese Broschüre sei „injurieuse aux lois et coutumes de la France, aux droits sacrés et inaliénables, et comme tendante à ébranler toute la constitution de la monarchie, en soulevant tous les vassaux contre leurs seigneurs et contre le roi-même, en leur présentant tous les droits féodaux et domaniaux comme autant d'usurpations, de vexations et de violences également odieuses et ridicules, et en leur suggérant les prétendus moyens de les abolir, qui sont aussi contraires au respect dû au roi et à ses minstres, qu'à la tranquillité du royaume". 39 Dem Beharren auf den grundherrlichen Rechten entsprach die Verteidigung ständischer Prärogativen in Sphären des gesellschaftlichen Überbaus. Die auf den Grundbesitz bezogene réaction seigneuriale bildete zusammen mit der réaction aristocratique (als Abschließung der Feudalklasse) die entscheidenden Pole einer Feudalreaktion, die in der zweiten Hälfte des 18. Jh. den Adligen mehrheitlich als günstigste Methode erschien, die massive Heraufkunft bürgerlicher Elemente in allen Sphären der Gesellschaft zu bändigen bzw. zu eigenem Nutzen abzuleiten. Den emporstrebenden Bourgeois, die unter den obwaltenden Umständen nur im Ämterkauf eine Möglichkeit sahen, den Ausschluß von der politischen Machtbeteiligung zu umgehen und durch tendenzielle „Aristokratisierung" wirtschaftlichen Erfolg in politische Mitsprache zu übersetzen, wurde ein deutliches Stoppzeichen gesetzt. Die Ordonnanz von Marschall Ségur (1781); wonach für die Besetzung höherer Offiziersstellen der Nachweis von vier Generationen reinblütiger Vorfahren notwendig wäre, deren analoge Anwendung für die Parlements bald darauf in Rennes, Grenoble und Aix gefordert wurde, war gravierendster Ausdruck der réaction aristocratique.40 Nicht nur die radikale Zuspitzung des Widerspruchs zwischen pays legal und pays réel sowie des Gegensatzes zwischen Adel und Bauernschaft, aus denen sich schließlich die Konstellation der Französischen Revolution ergab, waren Folge dieser Entwicklung, sondern ebenfalls eine Vertiefung sozialökonomischer Unterschiede und politischer Differenzen innerhalb des Adels. Die Nobilitierungspolitik der Krone — unverzichtbares Instrument beim Ausbau absolutistischen, Zentralismus — setzte sich auch im 18. Jh. fort. Während jedoch noblesse ancienne und die Robenadligen, deren Adelsprädikat im 17. Jh. erwor38 Boncerf, P. F., Les inconvéniens des droits féodaux, Londres/Paris 1776 (rééd. Paris 1976). 39 Arrêt de la Cour de Parlement qui condamne une brochure intitulée „les inconvéniens . . . " , zit. nach Hirsch, Jean-Pierre, La nuit du 4 août, Paris 1978, S. 9. 40 Bien, David L., La réaction aristocratique avant 1789. L'exemple de l'armée, in: Ann. E. S. C., 29, 1974, S. 23 ff. und 565 ff.; Edelstein, Melvin, La noblesse et le monopole des fonctions publiques en 1789, in: AHRF, 1982, 249, S. 440—443. 14*

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ben war, im Verlaufe des siècle des lumières schrittweise zusammenwuchsen, 41 ohne daß damit alles Trennende bereits überwunden gewesen wäre (wie sich 1789 zeigen sollte), traf die réaction aristocratique auch die anoblis des 18. Jh., unter denen allerdings die Finanziers des Absolutismus eine Ausnahme bildeten, da sie ob ihres Reichtums relativ mühelos in den Hochadel einheirateten. 42 Im ganzen gesehen, hatte die Entwicklung in Frankreich (im Gegensatz zu anderen Ländern) offensichtlich einen Punkt erreicht, da die fortgesetzte Nobilitierung nicht nur Vorstellungen von „rassischer Überlegenheit" infolge Zugehörigkeit zur fränkischen Erobererschicht aushöhlte, sondern dem Adel die Exklusivität als Grundlage des Ständesystems generell gefährdet zu sein schien.43 Die Spannungen innerhalb des Adels beschränkten sich jedoch nicht auf Unterschiede im Status zwischen Schwert- und Robenadel älteren und jüngeren Datums. Einer Rangfolge, die sich aus der Ahnentafel herleitete, stand die Hierarchie der Vermögen gegenüber, da traditionelle und moderne Kriterien eine Symbiose eingingen, die die Wirkung bürgerlicher Wertvorstellungen nicht verleugnen konnte. Auch wenn Jean Meyer berechtigt auf die Relativität des Armutsbegriffs für die Adligen hingewiesen hat,44 bleiben doch beträchtliche Vermögensunterschiede innerhalb des Zweiten Standes. Bereits die Listen der Kopfsteuer von 1695 — eine Mischung aus Steuerrolle und Rangtabelle — hatten den enormen Abstand zwischen Hochadel und den „gentilshommes n'ayant ni fief ni château" ausgewiesen, letztere gar mit den Wildhütern, Schankwirten und Küstern in einer Gruppe zusammengefaßt. 45 Im Laufe des 18. Jh. vertiefte sich diese Polarisierung beträchtlich. Die relativ feststehenden Einnahmen aus Pacht und grundherrlichen Abgaben erlebten zwar infolge der Preishausse auf dem Getreidemarkt ab 1730/1740 einen gewissen Verfall, den die großen Seigneurs mit einem höheren Anteil marktfähiger Produktion besser ausgleichen konnten; mit der Abflachung der Konjunktur in den 70er Jahren, der verschärften feudalen Ausbeutung und einer verbesserten Verwaltung der Güter stieg die Kurve der Renten in den letzten Jahren vor der Revolution allerdings wieder steiler an als die der Getreidepreise. So konnten die Adligen insgesamt ihren Anteil am Bodenbesitz stabil halten, während es — vor allem im zweiten Drittel des 18. Jh. — zu erheblichen Besitzverschiebungen innerhalb der Klasse kam.46 Dabei folgten die Kriterien, nach denen Rang und Ansehen des Adligen bestimmt wurden, keineswegs dem gleichen Schema. Ahnengalerie und finanzielle 41 Ford, Franklin, F., Robe and Sword. The Regrouping of the French Aristocracy after Louis XIV, Cambridge (Mass.) 1953. 42 Bluche, François, Les magistrats du parlement de Paris au XVIII e siècle (1715— 1771), thèse, Besançon 1960. 43 Vgl. Meyer, Jean, Noblesse et Pouvoirs dans l'Europe de l'Ancien Régime, Paris 1973, S. 51 f. 44 Ders., Un problème mal posé: la noblesse pauvre. L'exemple breton, XVIIIe siècle, in: RHMC, 1971, S. 161-188. 45 Bluche, François, Les enseignements sociaux du tarif de capitation de 1695, in: Noblesse française — Noblesse hongroise, S. 62 f. 46 Vgl. Meyer, Jean, La noblesse française au XVIII e siècle: aperçu des problèmes, in: Acta Poloniae Histórica, 1977, 36, S. 43.

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Potenz fielen sogar öfter auseinander. So h a t t e n die P a r l e m e n t r ä t e von Toulouse, deren Noblesse relativ frisch war, jene Adligen, die ihnen nach Zahl der edlen V o r f a h r e n weit überlegen w a r e n und daraus ihre traditionellen politischen Positionen in den Provinzialständen des Languedoc ableiteten, hinsichtlich des Vermögens deutlich ü b e r r u n d e t und nutzten diesen ökonomischen Vorsprung, u m die ruinierten Seigneurien ihrer Standesgenossen a u f z u k a u f e n . Die Gegensätze institutionalisierten sich im Streit zwischen dem P a r l e m e n t u n d der Ständeversammlung, der bis in den Wahlkampf von 1789 hineinreichte. 4 7 Graf Montlosier, Ersatzkandidat f ü r die Generalstände aus der Auvergne, der durch den Rücktritt der ursprünglich gewählten Vertreter schon im September 1789 zum Zuge kam, b e n a n n t e den Sachverhalt rückschauend : „ . . . il y avait p a r m i les individus nobles, à raison, non de la naissance, mais des degrés de la féodalité u n e grande inégalité de r a n g et de droit; depuis la décadence de la féodalité, je pourrais dire son anéantissement, il s'était établi a u milieu des inégalités de fait provenant des différences de la fortune, u n e complète égalité de droit." 48 Partielle Integration der geadelten parlementaires und financiers in die Feudalklasse u n d anhaltende Abgrenzung zwischen noblesse d'épée, noblesse de robe u n d anoblis spiegelten ebenso die Heterogenität des Adels wie die ökonomischen Unterschiede wider. Im Bewußtsein der Zeitgenossen n a h m eine weitere Ebene der Differenzierung gleichfalls großen R a u m ein. Die T r e n n u n g zwischen jenem Adel, der a m Hofe von Versailles oder in den Pariser Nobelvierteln lebte, und den Spitzen von Schwert- u n d Robenadel in den Provinzhauptstädten sowie dem Landadel, der die kleineren Städte bevölkerte oder inmitten seiner B a u e r n wohnte, m a n i f e stierte sich in kulturellen Unterschieden ebenso wie im Grad der Einbeziehung in die politischen u n d ideologischen Auseinandersetzungen der Zeit. 49 H a t t e n bis zur Mitte des 17. J h . Phasen der S t ä r k u n g des Absolutismus mit solchen gewechselt, in denen es dem Adel gelang, die Zentralisierungsbemühungen der Monarchie wieder in Frage zu stellen, so w a r der Erfolg der K r o n e seit der Niederlage, die die Fronde erlebte, deutlich und w u r d e u n t e r Louis XIV. zementiert. Es bildete sich ein Kompromiß heraus, der die weitgehende Suspendierung des Adels von direkter politischer Machtausübung mit grundsätzlicher Verteidigung seiner Privilegien verknüpfte. 5 0 So stellte der Absolutismus den von ihm geschaffenen und kontrollierten Verwaltungsapparat eher neben die traditionellen Organe des Adels. Dies h a t t e nicht n u r die unüberschaubare Vielfalt in der Administration des Ancien Régime zur Folge, sondern beließ der herrschenden Klasse auch dort, wo im Laufe der Zeit ständische V e r t r e t u n g e n 47 Vgl. Sentou, Jean, Fortunes et groupes sociaux à Toulouse sous la Révolution (1789—1799). Essai d'histoire statistique, Toulouse 1969, S. 81; Casteras, Pierre de, La société toulousaine à la fin du XVIIIe siècle, Toulouse 1891, S. 161 f. 48 Mémoires de M. le comte de Montlosier sur la Révolution Française, le Consulat, l'Empire, la Restauration et les principaux événemens qui l'ont suivi, 1755—1830, 1.1, Paris 1830, S. 148 f. 49 Vgl. Roche, Daniel, Le siècle des Lumières en Province. Académies et académiciens provinciaux, 2 Bde., Paris/La Haye 1978. 50 Vgl. Meyer, Jean, Noblesse de bocage, in: Noblesse française — Noblesse hongroise, S. 55. 51 Ders., Noblesse et Pouvoirs, S. 27.

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fast vollständig im Schatten der Intendanz untergetaucht waren, Institutionen, die in Zeiten der Krise, wenn die Interessenwahrnehmung durch die Krone gefährdet schien, reaktiviert werden konnten. Der Hof erwies sich dabei als wichtiges Mittel zur Integration des Adels in den absolutistischen Herrschaftsmechanismus, schuf aber zugleich den Gegensätzen innerhalb des Zweiten Standes eine neue Ebene. Eine Minorität von 500 bis 700 Familien innerhalb des Adels, dessen Gesamtzahl die moderne Forschung auf etwa 300 000 bis 350 000 Personen schätzt, 51 besetzte die entscheidenden Stellen in der direkten Umgebung des Königs, in Hochfinanz und Magistratur. Rechnet man die Spitzen des Provinzadels hinzu, so waren es etwa 1 500 Familien, die die Staatsgeschäfte Frankreichs tatsächlich dirigierten. 52 Während die große Masse des Adels auf die Ausübung ihrer Privilegien im Umkreis der eigenen Seigneurie beschränkt war und angesichts der Reduzierung eigener politischer Mitsprache auf die Landstände oder völliger Verdrängung aus der Politik von mittelalterlicher Omnipotenz träumte, machte diese kleine Oberschicht ihren Einfluß an den entscheidenden Punkten des Systems geltend und war Nutznießer gewaltiger Pensionen und Gratifikationen, die die Krone aus Steuermitteln abzweigte. Diese Umverteilung einer zentralisierten Feudalrente verstärkte die Polarisierung innerhalb des Adels weiter. Der daraus erwachsende Interessenkonflikt steigerte sich im Vorfeld der Revolution auf seiten der Provinzadligen zu offenem Mißtrauen, ob Hofadel und Krone tatsächlich bereit wären, die angestammte Ordnung zu verteidigen: „On était si las de la cour et des ministres, que la plupart des nobles étaient, ce qu'on a appelé depuis, démocrates, dénommination toutefois qui n'est pas exacte, car ils ne voulaient pas remettre le gouvernement entre les mains du peuple; ils voulaient seulement le retirer de l'oligarchie ministérielle." 53 Auf der anderen Seite hielten Hochadlige aus der Umgebung des Königs gleich dem Duc de Luxembourg den Provinzadel, dem zweihundert Jahre politischer Bildung entgangen seien, für die größere Gefährdung: „Si le choix des députés ne tombe pas sur ce que nous appelons grands seigneurs, il est à craindre que nous ne soyons culbutés par le tiers état dont le nombre est prépondérante au nôtre, dont l'instruction est connue, et par la plupart des démandes légitimes." 54 Vom Gegensatz zwischen Hof- und Provinzadel ist die ständig schwelende Gegnerschaft zum Absolutismus, dem „despotisme ministériel" abzuheben, die sich im Laufe des Jahrhunderts immer wieder Bahn in Ideologie und Aktion des Adels brach. Versuche, zwischen Krone und Adel zu vermitteln, die widerstreitenden Elemente im System der Herrschenden auszusöhnen und zumindest den labilen Kompromiß zu befestigen (so etwa in den Theorien des Chevalier d'Arq 55 ), konnten nicht verhindern, daß die Auseinandersetzungen verschiedent52 Bluche, François, La vie quotidienne de la noblesse française au XVIII e siècle, Paris 1973, S. 12. 53 Marquis de Ferrières, Charles Elie, Mémoires, t. 1, Paris 1821, S. 2 f. 54 Zit. in Montgaillard, Abbé G. H. Roques de, Histoire de France, 1787—1825, Bd. 2, Paris 1827, S. 64 f. 55 Vgl. Pimenova, L. A., Dvorjanstvo nakanune velikoj francuzskoj revoljucii, Moskva 1986, S. 84 ff. 56 Labatut, Jean-Pierre, Les noblesses européennes de la fin du XV e siècle à la fin du XVIIIc siècle, Paris 1978, S. 109.

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lieh aufflammten, und die révolte nobiliaire von 1787/88 machte noch einmal sichtbar, daß der frondeur auch im courtisan fortlebte. Wohl spiegelten die Thesen der Boulainvilliers, Saint Simon und La Rocque unterschiedliche Interessenlagen der einzelnen Adelsfraktionen, gab Montesquieu dem Anspruch der parlementaires systematische F o r m u n d vollendeten Ausdruck; zugleich aber erwies sich die Argumentation, wonach der Adel a u f g r u n d seiner historischen Wurzeln oder seiner sozialen Funktion (als Kriegerkaste oder als Gegengewicht zur Allmacht der Monarchie) nicht n u r berechtigt Privilegien genieße, sondern auch legitimerweise auf größere politische Teilhabe poche, als Klammer f ü r eine durch vielerlei Differenzierungen zerrissene Klasse. Dem Antiabsolutismus des ausgehenden 17. u n d des 18. Jh. entwuchs „un f o r t sentiment collectif" des Adels. 56 H a t t e im Streit u m den Nachfolger Louis' XIV. und die Regentschaft noch der Hofadel das Lager der Gegner absolutistischer Willkür a n g e f ü h r t , so stiegen in der Folgezeit die Parlements zum W o r t f ü h r e r des Adels im Streit mit dem Zentralismus der K r o n e auf. Landesweite organisatorische Verbindung und relative politisch-ideologische Homogenität gaben ihnen die K r a f t zum zähen Widerstand über ein H a l b j a h r h u n d e r t . Die Monarchie ging damit der Unterstützung jener K r ä f t e verlustig, die sie selbst hervorgebracht u n d deren sie sich bei der Durchsetzung der Machtkonzentration im 16. u n d 17. J h . bedient hatte. Die Nobilitierung e n t w a n d sich i m m e r m e h r der Kontrolle und w u r d e zum Automatismus, da die weit ü b e r wiegende Zahl von Adelstiteln auf dem Weg des Ä m t e r k a u f s vergeben wurde, der — einmal geöffnet — k a u m noch zu verstellen war. 57 J e n e Robins, die im Laufe des 17. Jh. in den Adel aufgestiegen w a r e n und die Ü b e r p r ü f u n g e n der Titel unter Colbert überstanden hatten, 5 8 w u r d e n n u n zu entschiedenen Vertretern der réaction aristocratique unter dem Stichwort des „sang épuré" und zum Z e n t r u m der Opposition gegen die Krone. Hiervon zeugt die Stellung der Parlements in der Krise, die Frankreichs Regierung in der zweiten Hälfte der 50er J a h r e durchmachte, ebenso wie der Widerstand gegen die Reformen von Maupeou. 5 9 Das letzte J a h r z e h n t vor der Revolution brachte eine Zuspitzung der verschiedenen Krisenmomente, so daß sich der effektive Gebrauch traditioneller absolutistischer Machtstrukturen zunehmend schwieriger gestaltete. Diese Vertiefung d e r Widersprüche w a r begleitet von Versuchen der herrschenden Klasse, eine a d ä q u a t e A n t w o r t zu finden, ohne an den Grundlagen des Systems r ü t t e l n zu lassen. Dies f ü h r t e in der Praxis zu einer beinahe vollständigen Lähmung des Herrschaftsmechanismus, der nicht n u r die revolutionäre Lösung des Konflikts unausweichlich (und möglich) machte, sondern auch f ü r die Konstituierung der Konterrevolution neue Faktoren zur Wirkung brachte. 57 Vgl. Meyer, Noblesse de bocage, S. 55. 58 Vgl. ders., La noblesse bretonne, 2 Bde., Paris 1966, S. 29 ff. 59 Vgl. Bergo, 1. V., Parlamentskaja oppozieija absoljutizmu vo Francii v 50e gody XVIII v. i oformlenije parlamentskoj politiceskoj doktriny, in: Razvitie politiceskich partii v stranach zapadnoj Evropy i Ameriki v novoe i novejsee vremja. Sbornik statej', Moskva 1984, S. 33—53; Doyle, William, The Parlements of France and the Breakdown of the Old Regime 1771-1788, in: French Historical Studies, VI, 1969/70, S. 415-458.

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Abwehr jeglicher Einschränkung ihrer Prärogative verband sich bei den Privilegierten mit dem überlieferten Haß auf den „ministeriellen Despotismus". Der wachsende Druck, dem die herrschende Klasse ausgesetzt war, wurde in einer Radikalisierung der öffentlichen Meinung manifest, deren antifeudaler und antinobilitärer Zug sich spürbar verstärkte,60 und steigerte andererseits das Mißtrauen des Adels in die Fähigkeit des Regimes, das System tatsächlich unbeschädigt zu erhalten. Die antiabsolutistische Polemik des Adels, die in den Jahren 1787 und 1788 zur Konstante wurde, signalisierte das Anwachsen der Interessenkonflikte unter den Herrschenden, hinter denen auf Zeit auch der grundlegende Gegensatz zum Dritten Stand zurücktrat. Das „Mémoire sur les États Généraux, leurs droits, et la manière de les convoquer" (1788, mit immerhin 14 Auflagen) von Graf d'Antraigues, späterhin Informant und Leiter einer Agentenzentrale der Konterrevolution,61 exemplifizierte die dabei mögliche Symbiose zwischen einer historisch-konstitutionellen Begründung für die Einschränkung der Monarchie, die vor allem die parlementaires in ihren Schriften betonten,62 und einer Argumentation mit Naturrecht und Gesellschaftsvertrag; die den Werken der Aufklärer entnommen war.63 Beurteilt man solche Äußerungen jedoch nicht mit Guy Chaussinand-Nogaret lediglich nach der Verwendung aufklärerischer Diktion und antiabsolutistischer Stoßrichtung,6'1 sondern zugleich auch nach der Modellgesellschaft, die an die Stelle des Ancien Régime treten sollte, wird deutlich, daß lediglich eine liberale Minderheit des Adels mit der Beschränkung des Absolutismus auch eine Beschneidung feudaler Privilegien und damit einen ersten Schritt der Transformation in Richtung bürgerlicher Verhältnisse zugestehen wollte. Den Parlementräten schien eine Ausweitung ihrer legislativen Kompetenz, dem Provinzadel die Rückkehr zu mittelalterlicher Machtbeteiligung die einzige Garantie für die Rettung der feudalen Gesellschaftsgrundlagen. Gegen solch breite Front, deren Heterogenität andererseits auch den Streit der Fraktionen bei Hofe prägte, mußten die Versuche Charles-Alexandre de Calonnes und seiner Nachfolger scheitern, mit einer Reorganisation die Lebenszeit einer partiell reformierten Monarchie zu verlängern. Parlementaires und hoher Klerus leiteten den Widerstand gegen die Calonnesche Steuerreform in der Notabein Versammlung von 178765 ebenso, wie sie Lomenie de Brienne und Lamoignon bei einer erweiterten Neuauflage der Vorschläge 1788 verzweifeln ließen.66 Sie führten eine taktische Allianz, die sich 60 Vgl. Carré, Henri, L a Noblesse de France et l'opinion publique au X V I I I e siècle, Paris 1920; Decouflé, André, L'aristocratie française devant l'opinion publique à la veille de la Révolution (1787—1789), in: Études d'histoire économique et sociale du X V I I I e siècle, hrsg. von A. Decouflé u. a., Paris 1966, S. 5 fï. 61 Zu d'Antraigues vgl. Pingaud, Léonce, U n agent secret sous la Révolution et l'Empire. Le comte d'Antraigues, Paris 1893, und neuerdings Godechot, Jacques, Le comte d'Antraigues, Paris 1986. 62 Vgl. Bickart, Roger, Les Parlements et la notion de la souveraineté nationale au X V I I I e siècle, Paris 1932. 63 64 65 66

Vgl. dazu Barny, S. 74 ff. Chaussinand-Nogeret, L a noblesse au X V I I I e siècle. Vgl. Egret, Jean, La pré-révolution française 1787—1788, Paris 1962, S. 18 ff. Ebenda, S. 265 ff.

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lediglich in der Negation einig war, ohne daß damit die Spannungen zwischen Schwert- und Robenadel aus der Welt gewesen wären.®7 Provinzadlige begrüßten durchaus einige Aspekte der Reform und unterstützten die Einführung der Assemblées provinciales: „On sera enfin quelque chose loin de la capitale, les bons esprits pourront s'exercer utilement."68 Da jedoch Lamoignons Justizreform mit provinziellen Sonderregelungen und vor allem- der grundherrlichen Gerichtsbarkeit — wesentliches Element der außerökonomischen Gewalt in direkter Verfügung des Adligen gegenüber den Bauern — aufzuräumen suchte, schloß sich letztendlich auch der Landadel der Opposition der Robins, Pairs und Bischöfe69 an, die Louis XVI. schließlich die Einberufung der Generalstände abzwang. Die Adelsrevolte von 1787/88 dokumentierte den unbedingten Willen der Privilegierten, an ihren Prärogativen festzuhalten und die Umwandlung des Regimes „von oben" zu verhindern, wie sie Calonne noch im Februar 1789 aus dem Londoner Exil dem Königspaar in Versailles schmackhaft zu machen suchte, indem er die Alternative, eine blutige „révolution contraire", in den schwärzesten Farben malte.70 Dafür waren die Adligen auch bereit, eine weitere Erschütterung des Systems in Kauf zu nehmen. Die Zeitgenossen registrierten die paradoxe Konstellation aufmerksam: „ . . . il y a maintenant dans le Royaume et à Paris, trois partis: celui des Royalistes, celui des Parlementaires et celui des Nationaux. Ces deux derniers font cause commune. Les Nationaux espèrent que cette alliance sera longue et qu'à son retour [aus dem Exil in Troyes — M. M.], le Parlement, instruit de cette crise, conservera les bons principes."71 Die Hoffnungen erfüllten sich nicht, und das Zweckbündnis, zeitweilig getragen von großbürgerlich-liberaladliger Opposition zum Feudalsystem und konservativadligem Widerstand gegen eine Ausweitung absolutistischer Kompetenz, zerbrach bei der Formulierung eines Gegenentwurfs zu den abgelehnten Reformen. Die eben noch gefeierten Robins verspielten den öffentlichen Kredit,-als sie am 21. September 1788 ihre Lesart der einzuberufenden Generalstände vortrugen und die traditionellen Formen von 1614 reklamierten, die den Privilegierten von vornherein das Übergewicht zusprachen. Die Gegenseite erkannte gleichfalls, daß die Frage des Modus künftiger Verhandlungen in den États Généraux den vielseitigen Problemkatalog in hervorragender Weise bündelte. Anfang November 1788 forderte die „Société des Trente", die die führenden Köpfe des liberalen Adels vereinigte, die Verdoppelung der Abgeordnetenzahl des Tiers, Abstimmung nach Köpfen und die gemeinsame Beratung aller drei Stände, bürgerliche Gleichheit und individuelle Freiheit als Grundlage der neuen Ordnung. Sehr schnell bildete im Bewußtsein der Zeitgenossen die Scheidung in patriotes und aristocrates entsprechend der Stellungnahme zur Form, in der die General67 Vgl. Stone, Bailey, The Parlement of Paris 1774-1789, Chapel Hill 1981. 68 Zit. in Egret, S. 119. 69 Zur Haltung des Klerus vgl. Peronnet, Michel, Les Assemblées du Clergé de France sous la règne de Louis XVI (1775-1788), in: AHRF, 1962, 167, S. 33 ff. 70 Lettre adressée au Roi le 9 février 1789, Londres 1789, S. 54 fï. 71 Brief des Pariser Advokaten Godard an seinen Dijoner Kollegen Cortot, zit. in Egret, S. 278.

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stände ab Mai 1789 verhandeln sollten, das entscheidende Kriterium f ü r die Identifizierung der politischen Lager. Mallet du Pan stellte im J a n u a r 1789 fest: „Le débat public a changé de face. Il ne s'agit plus que très secondairement du Roi, du despotisme, de la Constitution; c'est une guerre entre le Tiers État et les deux autres Ordres." 72 Diese Einsicht — der auf der Gegenseite Abbé Sieyès in seinem „Q'est-ce que le Tiers État" mit prägnanten Formulierungen beipflichtete — reflektierte nicht n u r ein Bewußtwerden künftiger Kampflinien, sondern zeigte auch das veränderte Feld an, auf dem die Konflikte der Herrschenden angesichts der revolutionären Herausforderung fortan auszutragen waren. Die Attacken der Parlements auf den Absolutismus erschienen nun auch den Adligen, die eben noch sekundiert hatten, in zweifelhaftem Licht, da sie der Polemik des Tiers den Weg geöffnet hatte. Der Pariser Parlementrat Jean Jacques Duval d'Eprémesnil, bis dahin Galionsfigur und Ideenspender des Widerstandes, 73 späterhin auf der äußersten Rechten in der Nationalversammlung zu finden, versuchte die geänderte Konstellation zu berücksichtigen und verhandelte sowohl mit dem Minister Louis' XVI. als auch mit der „Société des Trente". Sein Bemühen galt Zugeständnissen, die er seinen Kollegen abzuringen hoffte und mit denen der Konflikt vermieden werden könne: Gemeinsam mit Necker plädierte er f ü r die Verdoppelung der Abgeordnetenzahl des Dritten Standes und fügte hinzu, daß der Verzicht von Adel und Klerus auf die Steuerprivilegien jegliche Abstimmung unnötig mache und somit das Problem des Modus hinfällig sei.7'1 Die Kontakte mit den Spitzen des liberalen Adels sollten ebenfalls das Ansehen der Parlements wieder aufpolieren und gediehen bis zum Beschluß des Pariser Parlement vom 5. Dezember 1788, der in Teilen die klare Absage an alle Forderungen des Tiers vom 25. September zurücknahm. 7 ^ Mit der weiteren Zuspitzung des „Broschürenkrieges" und der klareren Abgrenzung der großbürgerlichliberalen Opposition vom altadligen Antiabsolutismus sahen sich allerdings die parlementaires zu eindeutiger Stellungnahme gezwungen. Nur wenige scherten aus der Klasse aus, die Mehrzahl der Parlementräte reihte sich in die Front derer ein, die die Aspirationen des Dritten Standes in Bausch und Bogen ablehnten. War der Konflikt unausweichlich, galt es, tradierte Interessenkonflikte zurückzustellen und' die Kräfte zu sammeln. Setzte sich diese Einsicht auch Ende 1788/ Anfang 1789 schrittweise durch, verblieben doch genügend Schwierigkeiten, die u. a. das gewissenhaft und beinahe Tag f ü r Tag geführte Journal des Marquis Marc Marie de Bombelles andeutet, der als Vertrauter des Baron de Breteuil die Informationen niederschrieb, die am Hof von Versailles eingingen. Allein zwischen dem 26. November und dem 9. Dezember 1788 registrierte er: die Broschüre des Grafen d'Antraigues, die ihm unerträgliche Attacken auf das System 72 Journal de Mallet du Pan, Januar 1789, zit. ebenda, S. 366. 73 Vgl. Carré, Henri, Un précurseur inconscient de la Révolution: le conseiller Duval d'Epremesnil (1787-1788), Paris 1897. 74 Unter seinen Papieren fanden sich im Jahre II: Réflexions d'un magistrat sur la question du nombre et sur celle de l'opinion par ordre et par tête; vgl. dazu Carré, Henri, La fin des Parlements (1788-1790), Paris 1912, S. 66. 75 Zur Rolle d'Eprémesnils vgl. Mémoires du comte Ferrand, ministre d'État sous Louis XVIII, hrsg. von v