174 81 145MB
German Pages 548 Year 1990
Jahrbuch dir Soziologie will Sozialpolitik 1989 Zur Geschichte marxistischen soziologischen und sozialpolitischen Denkens
AKADEMIE-VERLAG BERLIN 1989
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN DER DDR Institut für Soziologie und Sozialpolitik
Redaktionskollegium: Horst Berger, Josef Bernard, Lothar Bisky, Toni Hahn, Artur Meier, Gerhard Tietze, Renate Walther, Rudi Weidig, Rose-Luise Winkler (Red.), Gunnar Winkler (Hrsg.) Redaktionsschluß: 31.07. 1988
Der Titel wurde vom Originalmanuskript der Autoren reproduziert.
ISBN 3-05-000768-0 ISSN 0138-435X Erschienen im Akademie-Verlag Berlin, DDR-1086 Berlin, Leipziger Str. 3—4 © Akademie-Verlag Berlin 1989 Lizenznummer: 202 • 100/25/89 Printed in the German Democratic Republik Einbandgestaltung: Karl Salzbrunn Gesamtherstellung: VEB Druckerei „Thomas Müntzer", 5820 Bad Langensalza LSV0185 Bestellnummer: 754 969 0(2183/10) 04000
V o r w o r t
Die Gewalt soll gegeben werden dem gemeinen Volk T h o m a s Müntzer Die soziale Geschichte der Menschen ist stets nur die Geschichte ihrer individuellen Entwicklung, ob sie sich dessen bewußt sind oder nicht Karl Marx
Unsere Deutsche Demokratische Republik, die in diesem Oahr den v i e r z i g sten ¿Jahrestag ihrer Gründung begeht, steht fest in einer
revolutionä-
ren und humanistischen Tradition jahrhundertelanger Kämpfe für den gesellschaftlichen Fortschritt, für Freiheit,
für die Rechte und die W ü r -
de des Menschen. A l s erster Arbeiter-und-Bauern-Staat den ist sie diesem historischen Erbe zutiefst
auf deutschem B o -
verpflichtet.
K. Marx und F. Engels, die mit der Schaffung der
materialistischen
Geschichtsauffassung - dem Historischen M a t e r i a l i s m u s - das sche und historische Erbe dieser Kämpfe verallgemeinerten,
theoretischufen
auch
die wissenschaftlichen Grundlagen für die Soziologie als Lehre vom H a n deln der Menschen. Sie vermochten dies,
indem eie konsequent
histori-
sches und dialektisch-materialistisches Herangehen bei der A n a l y s e sellschaftlicher Erscheinungen miteinander
ge-
verbanden.
D a s vierzigste Oahr des Bestehens der DDR ist Anlaß, Erfahrungen
der
soziologischen und sozialpolitischen Arbeit in der DDR z u resümieren zugleich derer zu gedenken, die ihren Weg entscheidend mitbestimmt
und
ha-
ben. Genannt seien hier Kurt Braunreuther, Hermann Duncker sowie Oürgen Kuczynski, Robert Schulz, deren Geburtstage sich in diesem Oahr zum 8 5 . und 7 5 . Mal Jähren,und Hans T h a l m a n n . Jede Wissenschaftsdisziplin durchläuft in ihrer Entwicklung in denen der einen oder anderen Forschungsrichtung
Phasen,
(der empirischen,
theoretischen, historischen) vorrangige Bedeutung für ihre W e i t e r e n t wicklung als Disziplin zukommt. Für die marxistische Soziologie
trifft
dies gegenwärtig für die Aufarbeitung ihrer Geschichte zu. Für die Weiterentwicklung ihrer theoretischen Grundlagen ist die weitere
Er-
schließung ihres historischen Erbes, ihrer eigenen Geschichte, unumgänglich. Der Band stellt sich daher zum Ziel, Arbeiten zur Geschichte der S o ziologie eine Orientierung zu geben. Im Mittelpunkt stehen
theoretische,
methodologische und systematische Fragen der Geschichte des marxistischen soziologischen und sozialpolitischen D e n k e n s . Einen wichtigen A u s g a n g e punkt bildet der Zusammenhang von soziologischem und
sozialpolitischem
Denken, der die soziologische Lehre von Marx und E n g e l s von Anbeginn
r
durchzieht und seine Weiterentwicklung in der Praxis de9 sozialistischen Aufbaus durch W. I. Lenin erfährt. Dieser theoretische Ausgangspunkt setzt zugleich Akzente für die Ausarbeitung der Geschichte der marxistischen Soziologie,' die, bedingt durch ihre historische Entwicklung, im Rahmen traditioneller Herangehensweisen als Geschichte ihrer Institutionalisierung nicht voll erschließbar ist. Gerade in Deutschland hat die Diskussion um den Zusammenhang von Soziologie und Sozialpolitik seine Geschichte, die aus marxistischer Sicht noch wsitgehend unerschlossen ist. Erfreulich sind die in letzter Zeit unternommenen Bemühungen, die Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland näher zu erforschen. Erste Ergebnisse liegen zur Geschichte der proletarischen Sozialpolitik vor, deren hervorragendste Vertreter neben Marx und Engels vor allem August Bebel, dessen 150. Geburtstag wir in diesem Oahr würdigen, Wilhelm und Karl Liebknecht, Clara Zetkin, Siegfried Rädel, Georg Schumann und Martha Arendsee waren. Auch die Auseinandersetzung mit der nichtmarxistischen Traditionslinie soziologischen und sozialpolitischen Denkens, wie sie am Verhältnis vom "Verein für Socialpolitik" und der "Deutschen Gesellschaft für Soziologie" offenbar werden, das von solch herausragenden Vertretern der nichtmarxistischen deutschen Soziologie wie F. Tönnies, L. von Wiese und Alfred und Max Weber, dessen Geburtstag sich in diesem 3ahr zum 125. mal jährt, geprägt wurde, kommt wachsende Bedeutung zu. Damit entstehen Fragen nach den Besonderheiten der Genesis von Disziplinen in den Gesellechaftewisesnschaften. Diese sind von der Soziologie für ihre eigene Entwicklung sowohl als Disziplin insgesamt als auch hinsichtlich ihrer verschiedenen Zweigdisziplinen bislang kaum thematisiert worden. Während im ersten Teil hauptsächlich theoretische und methodologische Fragen der Ausarbeitung der Geschichte der Soziologie und Sozialpolitik am Beispiel ausgewählter Arbeiten und soziologischer Zweiggebiete untersucht werden, stehen im zweiten Teil Analysen zur Entwicklung soziologischer Forschungen in der DDR im Mittelpunkt. Sie verdeutlichen ein Stückchen DDR-Geschichte, zeigen, wie Soziologie und Sozialpolitik an dem heutigen Antlitz unserer Republik mitgeschrisben haben, und umgekehrt. Den Abschluß des Bandes bilden zwei Beiträge zum Friedensdenken in Gegenwart und Geschichte aus philosophisch-soziologischer und psychologischer Sicht. Gunnar Winkler
II
Ob. f. Soziologie und Sozialpolitik 1989
Inhaltsverzeichnis
Seite
Vorwort
I
Horst Berger und Gunnar Winkler Zur Entwicklung der Beziehungen von Soziologie und Sozialpolitik in der DDR
1
Hubert Laitko Disziplingenese als sozialer Prozeß
21
Nikolai Genov Nationale und internationale Dimensionen in der gegenwärtigen bulgarischen Soziologie
46
Zinaida Tichonovna Golenkova Zur Entwicklung der marxistisch-leninistischen gie in den sozialistischen Ländern Europas
55
Soziolo-
Helmut Steiner Historischer Materialismus und soziologische Theorie
71
Otto Bittmann Das sozialpolitische Wirken von Marx und Engels in der Arbeiterbewegung
81
Christian Graf Zur Geschichte des Subsidiaritätsprinzips als eines Grundprinzips konservativer staatsdoktrinärer Sozialpolitik und radikaldemokratischer sozialpolitischer Auffassungen
95
Wolfgang KOttler Soziologie und Geschichte in Lenins Analyse des russischen Kapitalismus
107
Vera Sparschuh Die Erforschung der Geschichte marxistischer Zweigsoziologien als Untersuchungsgegenstand der Soziologiegeschichte. Zur Herausbildung der Arbeitssoziologie in der Sowjetunion der 20er Oahre
118
Rose-Luise Winkler Zur Entstehung der marxistischen Wissenschaftssoziologie in der Sowjetunion in der Zeitperiode von 1917 bis 1935
133
III
Bürgen Kuczynski Soziologie und Alltagsforschung Jutta Gysi und Dagmar Meyer Kontrovers zu OOrgen Kuczynski "Soziologie und Alltags forschung" Antwort an Outta Gysi und Dagmar Meyer von 3. K. Hans Mittelbach und Jörg Roesler Entwicklung von Einkommen und Verbrauch der Bevölkerun der DDR in den vergangenen vierzig Oahren Gerlinde Petzoldt Zeitverhalten in der DDR als Gegenstand wissenschaftlicher Forschung Siegfried Grundmann Zur Entwicklung der territorialsoziologischen in der DDR - Versuch einer Bilanz
Forschun
Ingrid und Manfred Lötsch Kontinuität und Wandel in der Sozialstrukturforschung der DDR Kurt Krambach Zur Geschichte der Agrarsoziologie in der DDR Werner Gerth Zur Geschichte der marxistischen soziologischen Ougend forschung in der DDR Outta Gysi und Rainer Schubert Zu einigen methodischen Problemen empirisch-soziologischer Familienforschung - Rückschau und Ausblick Dieter Lindig Analyse statistischer Dokumente-Werkzeug marxistischleninistischer Soziologie
S o z i o l o g i e
und
F r i e d e n
Klaus-Peter Florian Epochenprozeß und Menschheitsfortschritt Wolfram Meischner Geschichtliches zum psychologischen Friedensdenken
IV
Aus dem wissenschaftlichen Leben Uwe «noch Überlegungen zur Geschichte des marxistischen soziologischen Denkens in der Weimarer Republik (1919-1933)
327
Kerstin Krüger und Renate Waither Ausgewählte Aspekte der Geschichte der Planung' auf dem Gebiet von Kultur und Kunst
333
Herbert F. Wolf Marxistische Soziologie als Lehrfach 1947 - 1951. Zu Ansätzen an den Universitäten Leipzig und Rostock
341
Yvonne Erdmann Zur Funktion der staatlichen Sozialpolitik im Kapitalismus
352
Berichte Ralf Rohland Aus der Tätigkeit dee Wissenschaftlichen Rates für Sozialpolitik und Demografie
359
Horst Taubert 25 Oahre Wissenschaftlicher Rat für Soziologische Forschung in der DDR
35g
OurlJ Vasilevic Grldcin 20 Oahre Institut für soziologische Forschungen Moskau
373
Marianne Schulz In einer "erweiterten wissenschaftlichen Gemeinschaft" eine progressive gesellschaftliche Entwicklungsalternative für Frankreich denken - zehn Jahre marxistische Gesellschaftsanalyse des Institutes des Recherches Marxistes (IRM) Paris -
379
Artur Meier 40 Oahre Internationale Soziologische Geeellschaft
386
Gundula Barsch, Irene Falconere und Hartmut Götze Intensivierung und Lebensweise. Interdisziplinäre Konferenz am ISS vom 2. bis 4. Februar 1988 in Frankfurt/ Oder
392
Brigitte Weichert Drittes Internationales Demographie-Seminar schung in der DDR"
397
"Frauenfor-
V
Roswitha Mucha und Doris Rentzsch Viertes Internationales Symposium "Sozialpolitik und Demografie" am Institut für Soziologie und Sozialpolitik
399
Rezensionen/Annotationen Wolfgang Küttler Die Französische Revolution 1789-1989. Revolutionstheorie heute, Jahrbuch des IMSF Eckhard Trümpier Geschichte der Sozialpolitik der DDR 1945 bis 1985, (Hrsg.) G. Winkler
406
Doris Rentzsch K. I. Mikulskij, V. Z. Rogovin, S. S. Satalin, Socialnaja politika KPSS
410
Hans Röder Sozialstruktur der DDR, Autorenkollektiv unter Leitung von R. Weidig
413
Uta Meier Umbrüche: Beherrschbarkeit der Technik. Rationalisierungstyp und Technologiepolitik. Tendenzen politischer Kultur, Jahrbuch des IMSF
416
Gertraud Kalok Arbeitssoziologie - ein aktueller Diskussionsgegenstand
420
Otto Bittmann Internationale Marx-Engels-Forschung, Jahrbuch des IMSF
425
Dieter Vogeley Zur Geschichte, Theorie und Methodologie der Demographie Dieter Vogeley Metodologija demograficeskogo prognoza, (Hrsg.) A. G. Volkov Gerllnde Petzoldt V. A. Artemov. Socialnoe vremja. Problemy izucenija i ispolzovanija Uwe Knoch I. Gorges, Sozialforschung in der Weimarer Republik 1918 bis 1933
VI
42
9
434 437
440
Dieter Strützel F. Heckmann, F. Kröll, Einführung in die Geschichte der Soziologie
444
Vera Sparschuh Identitätssuche der Soziologie - Diskussionen zur Theorie und Geschichte
446
Marianne Schulz D. Käsler, Soziologische Abenteuer
453
Rainer Schubert R. Fichtenkamm, Familiale Obergänge im Wandel
456
Anhang (Quellennachweis ausgewählter soziologischer und sozialpolitischer Literatur aus der deutschen Arbeiterbewegung)
459
Resümees in deutscher, russischer, englischer, französischer und spanischer Sprache
471
Autorenverzeichnis
502
Personenregister
505
VII
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172
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24g
264
277
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304
IX
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502
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505
XII
456
The Sociology and Social Policy Yearbook 1989
Llet of contents
Preface
Page I
Horet Berger and Gunnar Winkler The development of the relationship between sociology and social policy In the GDR
1
Hubert Laitko Discipline genesis as a social process
21
Nikolai Genov National and International dimensions in modern Bulgarian sociology
46
Zinaida Tikhonovna Golenkova The development of Marxist-Leninist sociology in the socialist countries
55
Helmut Steiner Historical materialism and sociological theory
71
Otto Bittmann Marx' and Engels' social policy ideas
81
Christian Graf The history of the principle of subsidiarity as a basic principle of conservative state-doctrlnary social policy and radical-democratic socio-political views
95
Wolfgang KQttler Sociology and history in Lenin's analysis of Russian capitalism
107
Vera Sparschuh Research into the history of Marxist branch sociology ae an object of research into the history of Marxist sociology (The emergence of industrial sociology in the Soviet Union in the 1920s)
118
Rose-Luise Winkler The emergence of Marxist sociology of science in the Soviet Union In the period between 1917 and 1935
133
XIII'
Jürgen Kuczynaki Sociology and research into everyday life
148
Outta Gysi and Oagmar Meyer Controversy over Ourgen Kuczynaki"3 "Sociology and research into everyday life"
158
Response to Outta Gyei and Dagmar Meyer by 3.K
170
Hans Mittelbach and Jörg Roesler Income and consumption of the GOR population over the past 40 years
17_ 1/ i
'
Gerlinde Petzoldt Time behaviour in the GOR as an object of scientific research
202
Siegfried Grundmann The development of regional-sociological research in the GOR
215
Ingrid and Manfred Lötsch Continuity and changes in GOR social structure research
231
Kurt Krambach The history of agricultural sociology in the GOR
249
Werner Gerth The history of Marxist-Leninist youth research in the GDR
264
Outta Gysi and Rainer Schubert Some methodical problems of empirical-sociological family research - review and prospects
277
Dieter Lindig To analyse statistical documents - a tool used in Marxiet-Leninist sociology
293
S o c i o l o g y
and
p e a c e
Klaus-Peter Florian Epochal development and human progress
304
Wolfram Meischner Psychological poaco thInking in history
315
XIV
Scientific news Uwe Knoch The history of Marxist-Leninist sociological thinking in the WBimar Republic (1919 - 1933)
327
Kerstin Krüger and Renate Waither Some historical aspects of planning in the fields of culture and art
333
Herbert F. Wolf Marxist sociology a university subject, 1947 - 1951. First steps at theas Leipzig and Roetock universities
341
Yvonne Erdmann The function of social policies pursued by governments in capitalist countriee
352
Reports Ralf Rohland The actlvitiee of the Scientific Council for Social Policy and Demography
359
Horst Taubert 25 years of the GOR Scientific Council for Sociological Research in the
366
Ourij Vasilevic Gridcin 20 years of the Institute for Sociological Research, Moscow
373
Marianne Schulz An "extended academic community" - the French alternative concerning a progressive social development. 10 years of Marxist analysis at the Institute dee Recnerchee Marxistee (IRM), Parle Artur Meier 40 years of the International Sociological Society Gundula Barsch, Irene Falconare and Hartmut Götze Intensification and life-style. Interdisciplinary conference at the ISS, 2 ana 4 February, 1988,
379 386
in Frankfurt-on-the-Oder
392
Brigitte Weichert Third international Research in the GOR demography eeminar "Woman
397
XV
Roswltha Mucha and Doris Rentzsch Fourth International Symposium "Social Policy and Demography" at the Institute for Sociology and Social Policy
399
Reviews/Annotations Wolfgang Küttler The French Revolution, 1789 - 1989. Revolutionary theory today. Yearbook of the IMSF
402
Eckhard Trümpier History of G. Social Policy In the GOR between 1945 and 1985, Winkler (Editor)
406
Dorle Rentzsch Mlkulekii V. Z. Rogovln, S. S. Satalln K. I. Mlkulekli, sli Sotslalnaya politika KPSS
410
Hans R&der The eoclal structure of the GDR f multiple suthore headed by R. Weldlg
413
Uta Meier Revolutionary changes: How to master technology. Rationalization ana technology policy. Trernds of political culturs. Yeerbook of the IMSF
416
Gertraud Kalok Industrial sociology - an object of discussion
420
Otto Bittmenn International research on Marx and Engels Yearbook of the IMSF
425
Oleter Vogeley History, theory and methodology of demography
429
Oleter Vogeley Metodologlja demografitcheekogo prognoza, A. G. Volkov, (Editor)
434
Gerlinde Petzoldt v. A. Artemov, Sotsialnoe vreraja. Problemy lzutcheniya 1 lzpolzovanlya
437
XVI Uwe Knoch I. Gorges, Social reeearch in the Weimar Republic between 1918 and 1933
440
Oieter Striitzel F. Heckmann, F. Krôll, Introduction to the history of sociology Vera Sparschuh Seeking for identity in sociology - discussions on theory and history Marianne Schulz D. Kfislsr, Adventure in sociology Rainer Schubert R. Fichtenkamm, Changing familial transitions
Annex (list of references concerning particular works of sociological and socio-political literature of the German working-claes movement)
Summaries in German, Russian, English, French and Spanish List of Authors
List of Persons
Annuaire de s o c i o l o g i e et de p o l i t i q u e s o c i a l e 1 9 8 9
Sommaire
Page
Préface
j
Horst Berger et Gunnar tfinkler Quelques remarques s u r l a r e l a t i o n entre l a s o c i o l o g i e et l a p o l i t i q u e s o c i a l e
1
Hubert Laitko La" genèse des d i s c i p l i n e s comme un processus s o c i a l
21
Nikolai Guenov Dimensions n a t i o n a l e s et i n t e r n a t i o n a l e s dans l a s o c i o l o g i e bulgare a c t u e l l e
46
Zinaida Tichonovna Golenkova L ' é v o l u t i o n de l a s o c i o l o g i e m a r x i s t e - l é n i n i s t e dans l e s pays s o c i a l i s t e s
55
Helmut S t e i n e r Matérialisme h i s t o r i q u e et t h é o r i e s o c i o l o g i q u e Otto Bittmann L ' a c t i o n s o c i a l e de Marx et Jüngels au s e i n du mouvement r C h r i s toiuavnr i e Graf L ' h i s t o i r e du p r i n c i p e de s u b s i d i a r i t é , p r i n c i p e de base r é g i s s a n t l a p o l i t i q u e s o c i a l e c o n s e r v a t r i c e é r i g é e en d o c t r i n e de l ' E t a t et déterminant l e s conceptions s o c i a l e s des radicaux-démocrates
71
81
95
Wolfgang K ü t t l e r La s o c i o l o g i e et l ' h i s t o i r e dans l ' a n a l y s e de Lénine du c a p i t a l i s m e r u s s e
107
Vera Sparschuh L ' é t u d e de l ' h i s t o i r e de l a s o c i o l o g i e marxiste de branches comme objet de recherche de l ' h i s t o r i o g r a p h i e sociologique marxiste (Au s u j e t de l a s o c i o l o g i e du t r a v a i l en Union s o v i é t i q u e dans l e s années v i n g t ) Bose-Luise iVinkler La genèse de l a s o c i o l o g i e marxiste de l a s c i e n c e en Union s o v i é t i q u e , dans l a période a l l a n t de 1 9 1 7 & XVIII 1935
IIB
133
Jürgen Kuczynski Sociologie et la recherche sur la vie quotidienne
148
Jutta Gysi et Dagmar Meyer Une polémique au sujet de "Sociologie et la recherche sur la vie quotidienne" de Jürgen Kuczynski
158
Réponse à Jutta Gysi et Dagmar iûeyer de J.K.
170
Hans wittelbach et Jörg Hoesler L'évolution des revenus et de la consommation de la population de la R.D.A. au cours des 40 dernières années Gerlinde Petzoldt Le comportement à l'égard du temps en R.D.A., objet de la recherche scientifique
172 202
Siegfried Grundmann A propos de l'évolution des recherches sociologiques en R.D.A. sur les problèmes régionaux
215
Ingrid et Manfred Lötsch La continuité et les changements de la recherche sur la structure sociale en R.D.A.
231
Kurt Krambach Quelques remarques sur l'histoire de la sociologie agraire en R.D.A.
249
Werner Gerth Au sujet de l'histoire de la recherche marxisteléniniste sur la jeunesse en R.D.A.
264
Jutta Gysi et Rainer Schubert Quelques problèmes méthodologiques de la recherche empirique et sociologique sur la famille - Rétrospective et perspective Dieter Lindig L'analyse des documents statistiques, instrument de la sociologie marxiste-léniniste
277 293
Sociologie et paix Klaus-Peter Florian Le processus de l'époque et le progrès de l'humanité
304
XIX
tfolfram fceischner L'historique de l'idée de la paix dans l'optique psychologique
Vie scientifique Uwe Knoch Réflexions sur l'histoire de la pensée sociologique marxiste pendant la République ae weimar (1919-1933) Kerstin Krüger et Renate iïalther Quelques aspects de l'histoire de la planification dans les domaines de la culture et de l'art Herbert F. tfolf La sociologie marxiste comme discipline d'enseignement de 1947 à 1951. Au sujet des premières expériences faites à Leipzig et à Rostock Yvonne ErcLmann Au sujet de la fonction de la politique sociale de l'Etat en régime capitaliste
Compt es-rendus Ralf Rohland De l'activité du Conseil Scientifique pour la politique sociale et la démographie
359
Horst Taubert 25 ans de Conseil Scientifique pour la recherche sociologique en R.D.A.
366
Juri.i Vasilevic Gridsin 20 ans d'Institut de recherches sociologiques â Moscou
373
Marinnne Schulz Penser dans une "communauté scientifique élargie" une alternative progressive d'évolution sociale pour la France dix ans d'Institut des Recherches Marxistes (IRM) à Paris
379
Arbur Meier 40 ans de Société Internationale de Sociologie
386
Gundula Barsch, Irene Falconere et Hartmut Gôtze Intensification et mode de vie. Conférence pluridisciplinaire organisée par l'ISS du 2 an 4 fevrier 1988 à Frarikfurt/Oder
,QÎ,
xx
B r i g i t t e Weicherfc T r o i s i è m e Séminaire I n t e r n a t i o n a l de Démographie "Etudes en R.D.A. concernant l e s femmes"
397
Roswitha Mucha e t D o r i s Rentzsch Quatrième Symposium I n t e r n a t i o n a l " P o l i t i q u e s o c i a l e e t démographie" o r g a n i s é p a r l ' I n s t i t u t de S o c i o l o g i e e t de P o l i t i q u e s o c i a l e
399
Ree ens i ons/Annotat ions Wolfgang K ü t t l e r La R é v o l u t i o n f r a n ç a i s e 1789-1989. T h é o r i e de l a r é v o l u t i o n a u j o u r d ' h u i . Annuaire de 1 1 IMSF
402
Eckhard Trümpier H i s t o i r e de l a p o l i t i q u e s o c i a l e en R.D.A. de 1945 à 1985. ( E d . ) G. Winkler
406
D o r i s Rentzsch K. I . M i k u l s k i j , V . Z. Rogcrvin, S . S .
Satalin,
La p o l i t i q u e s o c i a l e du POTS
410
Hans Röder La s t r u c t u r e s o c i a l e en R . D . A . , c o l l e c t i f
d'auteurs
d i r i g é p a r R. Weidig
413
Uta Meier Ruptures: M a î t r i s e de l a t e c h n i q u e . Type de r a t i o n a l i s a t i o n et p o l i t i q u e de l a t e c h n o l o g i e . Tendances de l a c u l t u r e p o l i tKalok i q u e , Annuaire de l'IMSF Gertraud
416
La s o c i o l o g i e du t r a v a i l - un o b j e t de d i s c u s s i o n s
420
Otto Bittmann La r e c h e r c h e i n t e r n a t i o n a l e s u r Marx e t E n g e l s , Annuaire de l'IMSF
425
Dieter Vogeley Au s u j e t de l ' h i s t o i r e , de l a t h é o r i e e t de l a méthodol o g i e de l a démographie
429
Dieter Vogeley La méthodologie des p r é v i s i o n s ( E d . ) A. G. Volkov
démographiques,
Gerlinde Petzolàt V . A. Artemov, Le temps s o c i a l . Problèmes de son étude e t de son emploi
434
437 XXI
Uwe Knoch I . Gorges, Hecherohes s o c i a l e s pendant l a République de ¡Veimar, de 1918 à 1933 Dieter Striitzel P. Heckmann, P . K r o l l , I n t r o d u c t i o n à l ' h i s t o i r e de la sociologie Vera Sparschuh La s o c i o l o g i e à l a recherche de son i d e n t i t é -
>h>|
les
d i s c u s s i o n s s u r s a t h é o r i e et son h i s t o i r e
446
Marianne Schulz D. K a s l e r , Les aventures s o c i o l o g i q u e s
453
Rainer ociiubert R. Fichtehkamm, T r a n s i t i o n s f a m i l i a l e s en b o u l e v e r sement
456
Annexe (Sources concernant un choix de t i t r e s s o c i o logiques et s o c i o - p o l i t i q u e s ayant t r a i t au mouvement o u v r i r allemand)
45g
Résumés en allemand, r u s s e , a n g l a i s , f r a n ç a i s e t e s pagnol
471
Registre d'auteurs
502
R e g i s t r e de noms
505
XXII
Anuario de Sociologia y Politica Social 1989
Indice
Pàgina
Prefacio
I
Horst Berger y Gunnar Winkler Acerca del desarrollo de las relaciones entre sociología y política social en la ROA
1
Hubert Laitko Génesis de las disciplinas cono proceso social
21
Nikolai Genov Dimensión nacional e internacional en la sociología búlgara actual
46
Zinaida Tichonovna Golenkova Acerca del desarrollo de la sociología sn los palsee socialistas
marxiste-leninista
55
Helmut Steiner Materialismo histórico y teoría sociológica
71
Otto Bittmann La obra sociolpolltica de Marx y Engels en el movimiento obrero
81
Chrietian Graf Acerca de la historia del principio de subsidiaridad como un principio bésico de la política social conservadora de la doctrina del estado y de concepcionee sociopollticas de carficter democrético-radical
95
Wolfgang KQttler Sociología e historia en el análisis de Lenin sobre el capitalismo en Rusia
107
Vera Sparschuh La investigación de la historia de los ramos de la sociología marxista como objeto de investigación de la historia de la sociología marxista. Acerca del desarrollo de la eociologla del trabajo en la Unión Soviética
118
Rose-Luise Winkler Acerca del surgimiento de la sociología marxista de la ciencia en la Unión Soviética en el periodo de 1917 a 1935
133
XXIII
Oürgen Kuczynski Sociologia e investigación de la vida cotidiana
148
Outta Gysi y Dagmar Meyer Controversia sobre el articulo de OOrgen Kuczynski "Sociología e investigación de la vida cotidiana"
158
Respuesta de
170
K . a Outta Gysi y Dagmar Meyer
Hans Mittelbach y 35rg Roesler Comportamiento de loe ingresos y el consumo de la población de la ROA en loe Últimos 40 anos
172
Gerlinde Petzoldí El tiempo en la ROA como objeto de Investigación científica
202
Siegfried Grundmann Acerca del desarrollo de lnvestigacionss en materia de sociología territorial
2i5
Ingrid und Manfred L5tsch Continuidad y cambios en la investigación sobre la estructura social de la ROA
231
Kurt Krambach Acerca de la historia de la sociología agraria an la ROA
249
Werner Gerth Acerca de la historia de la investigación marxista-leninista en la ROA sobre cuestiones de la juventud
264
Outta Gysi y Rainer Schubert Acerca de algunos problemas metodológicos de la investigación de la familia a partir de criterios sociológicos emplricoa - Retrospectiva y perspectiva
277
Oieter Lindig Análisis de la documentación estadística de la sociología marxista-leninista
293
S o c i o l o g í a
y
p a z
Klaus-Peter Florian Proceso que determina la época y progreso humano
304
Wolfram Meischner Aspectos históricos del pensamiento psicológico sobre la paz
315
XXIV
Del aundo científico Uwe Knoch Acerca de la historia del penaaniento sociológico «arxista en la República de Weimsr (1919-1933)
327
Kerstin KrQger y Renate Walther Aspectos escogidos de la historia de la planificación en la esfera dsl arte y la cultura-
333
Herbert F. Wolf Sociologia marxista cono asignatura de 1947 a 1951. Sobre sus inicios sn las universidades de Lsipzig y de Rostock
341
Ivonns Erdmpnn Acerca de la función de la política social dsl Estado en el capitalismo
352
Informas Ralf Rohland Algunos comentarios sobre la actividad del Conssjo Científico para asuntos de política social y demografía
359
Horst Taubert 25 años de existsncia del Consejo Científico de Investigación Sociológica en la ROA
366
Ourij Vasilevic Gridcin 20 años de la fundación del Instituto de Investigacionea sociológicas de MoscQ
373
Marianne Schulz Búsqueda de una alternativa progresista para el dssarrollo social de Francia en una "comunidad científica mós amplia" - Diez años de anólisis marxiste de la sociedad del Instituto ds Investigaciones Marxistas (IRM) de París
379
Arthur Meier 40 años de la Sociedad Sociológica Internacional
386
Gundula Barsch, Irene Falconere y Hartmut Götze Intensificación y modo de vida. Conferencia interdisciplinarla sn el ISS del 2 al 4 de febrero de 1988 en Francfort del Oder
392
Brigitte Weichert Tercer Seminario Internacional Demogr&fico sobre el tema "Investigaciones de la RDA sobre la- mujer"
397
XXV
Roswitha Mucha y Doria Rentzsch Cuarto 8imposlo internacional sobra "Política social y demografía" en el Instituto de Sociología y Política Social
399
Resenas y anotaciones Wolfgang KQttler La Revolución Francesa 1789-1989. Teoría de la revolución en nuestros días, anuario dsl IMSF
402
Eckhard TrOmpler Historia de la política social de la RDA desde 1945 hasta 1985 (edit.) G. Winkler
406
Doris Rentzach K. I. MikuleklJ, V. Z . Rogovin, S. S. Satalin, Socialnaja politika KPSS
410
Hans Röder Estructura social de la ROA, colectivo de autores encabezado por R. Weidig
413
Uta Meier Cambios: La tócnica puede ssr dominada. Tipo de racionalización y política tecnológica. Tendencias de la cultura politica, anuario del IMSF
416
Gertraud Kalok Sociología del trabajo - Objeto de discusión
420
Otto Bittmann Investigación intsrnacional sobre Marx y Engels, anuario del IMSF
425
Dieter Vogeley Acerca de la historia, teoría y metodología de la demografía
429
Dieter Vogeley Metodologija demograficeskogo prognoza, (edit.) A . G. Volkov Gerlinde Petzoldt V. A. Artemov, Socialnoe vremja. Problemy izucenija i ispolzovanija Uwe Knoch I. Gorges, Investigación social en la República de Weimar desde 1918 hasta 1933
XXVI
434
437 440
Dieter Strützel F . Heckmann, F . Króll, Introducción a la historia de la sociología
4 4 4
Vera Sparschuh Búsqueda de identidad de la sociología - Discusiones sobre la teoría y la historia
4 4 6
Marianne Schulz O . Kásler, Aventura sociológica Rainer Schubert R . Fichtenkamm, Tr6nsitos familiares en proceso de cambio
4 5 3
456
Anexo (Indice de las fuentes de literatura sociológica y sociopolltica seleccionada del movimiento obrero alemán)
4 5 9
Resúmenes en alem&n, ruso, inglfts, francés y español
471
Indice de autores
502
Registro de nombres
XXVII
3b. f. Soziologie und Sozialpolitik 1989
Horst Berger und Gunnar Winkler Zur Entwicklung der Beziehungen von Soziologie und Sozialpolitik in der DDR
Die Diskussion um die Verbindung von Soziologie und Sozialpolitik schließt zumindest zwei Ebenen der Betrachtung eint Erstens den Zusammenhang von Soziologieentwicklung und praktischer Sozialpolitik und zweitens den Zusammenhang von Soziologie und Sozialpolitik ale eigenständiger Wissenschaftsdisziplinen. Wenn im nachfolgenden Beitrag vor allem auf den erstgenannten Aspekt eingegangen wird, so muß dabei davon ausgegangen werden, daß die praktische Sozialpolitik ihre wissenschaftliche Grundlags vor allem in der Soziologie, aber auch in der Demographie, den Wirtschaftswissenschaften, den Politik- und Rechtswissenschaften findet. Insofern wird ein Teilaspekt wissenschaftlicher Grundlegung - wenn auch sicher ihr weeentlicher - behandelt. Andererseits wird Soziologieentwicklung im Sinne der Reife einer Wissenschaftsdisziplin hier nur aus der Sicht ihrer Praxiswirksamkeit in bezug auf die Leitung und Planung sozialer Prozesse betrachtet. Eine weitere Erwägung ist vorauszustellen: Die historische Darstellung von Einzelprozessen ohns ihre Einbindung in eine komplexe Betrachtung birgt immer die Gefahr von Einseitigkeiten; insofern ist ein Mindestmaß an Darstellung der jeweilig konkreten historischen Bedingungen zwingend erforderlich. Schließlich muß man beachten, daß auch die Diskussion um den Zusammenhang von Soziologie und Sozialpolitik gerade in Deutschland seine Geschichte hat, die noch weltgehend unerschlossen ist. Bsids Traditionen, sowohl die marxistische als auch die bürgerliche, sind in ihrem Zusammenhang kaum untersucht worden. Auf Jeden Fall unterscheiden sich beide in ihrer konkret-historischen Entwicklung bedeutend voneinander. Für die bürgerliche Tradition sei auf die sozialpolitisch orientierten empirischen Sozialforschungen im Rahmen des Vereins für Socialpolitik verwiesen. Der Verein für Socialpolitik 1 war 1872 von liberalen Nationalökonomen und Journalisten gegründet worden, um die mit der fortschreitenden Industrialisierung auftretenden sozialen Probleme systematisch zu erforschen und praktische politische Einflußnahme auf die Gesetzgebung zu erlangen. Auf diese Weise sollte dem bürgerlichen Sozialreformlsmus in Deutschland Geltung verschafft werden. An der Grün1 2
Vgl. I. Gorges, Sozialforschung in der Weimarer Republik 1918-1933, Frankfurt a. Main 1986. Vgl. H. Krause, G. Rudolph, Grundlinien des ökonomischen Denkens in Deutschland 1848-1945, Berlin 1980, S. 107-115. 1
dung dieses Vereins waren vor allem Vertreter der jüngeren historischen Schule beteiligt, die entsprechend ihrer sozialpolitischen Ansichten als "Kathedersozialisten" (G. Schmoller, L. von Brentano) oder "Staatssozialisten" (A. Wagner) bszeichnet wurden. Indessen thematisierten diese frühen Vertreter bürgerlicher Sozialpolitik die soziale Frage bzw. die Arbeiterfrage vom Standpunkt der Bourgeoisie. In der Folgezeit wurde die bürgerliche Sozialpolitik zunächst innerhalb der Staatswissenschaften, später innerhalb der Volkswirtschaftslshre als selbständige Wissenschaftsdisziplin profiliert. 3 Von den Mitgliedern des Vereins für Socialpolitik wurden umfangreiche empirischhistorische Studien zu wechselnden Themenstellungen durchgeführt. Immer aber war während dieser Zeit in der Immensen empirischen Forschungstätigkeit ein praktisch-politischer Bezug enthalten. Oberwogen in der Anfangsphase sozialpolitische Themen, so wandte sich der Verein mit zunehmendem konservativen Kurs mehr wirtschaftlichen Themen zu, insbesondere in der Zeit der Wirtschaftskrisen. Um die ¿Jahrhundertwende wurden die statistischen Untersuchungen durch spezifische Methoden der empirischen Sozialforschung ergänzt (Enqueten). Oer Verein wurde für die sich herausbildende Soziologie zur wissenschaftlichen Organisationsform. Vor allem F. Tönnies, ein Schüler A. Wagners, sowie Max und Alfred Weber und L. von Wiese hatten als Vertreter der zweiten Vereinsgsneration wesentlichen Anteil an der wissenschaftstheoretischen und methodischen Neuorientierung der Vereinsuntersuchungen. Namentlich M. Weber sei besonders hervorgehoben, der als Mitglied des Dreierkomitees des Enquetenausschusses durch ein Arbeitspapier für die großangelegte Untersuchung über Auslese und Anpassung der Arbeiter in der Großindustrie die Methodik des Untersuchungsprngrnmms . entwickelte und bestimmte. 4 Diese Vereinsenquete wird mitunter als erste bewußte betriebssoziologische Untersuchung in Deutschland bezeichnet. 5 M. Weber war es auch, der mit seiner Werturteileauffaäfeung während der Vereinsverhandlungen 1905 eine scharfe methodologische Kontroverse auslöste. Im Unterschied zu den Nationalökonomen um G. Schmoller vertrat M. Weber die Auffassuna einer wertfreien Wissenschaft und einer strikten Trennung von Wissenschaft und Politik, was inn andererseits nicht daran hinderte, politisch aktiv zu sein. Sich innerhalb des Vereine für Socialpolitik mehr und mehr profilierend, gehörten M. und A. Weber, F. Tönnies und W. Lambertz zu den Gründern der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (1909). Es sstzte damit eine Entwicklungsphase ein, in der sich dis Soziologie mehr und mehr von der Sozialpolitik löste, die schließlich in der reinen Beziehungslshre von Wieses einen 3 4 5
2
Vgl. K. Braunreuther, Studien zur Geschichte der politischen Ökonomie und Soziologie, Berlin 1978, S. 210-213. Vgl. Schriften des Vereins für Socialpolitik, Bd. 133, 134, Leipzig 1910. Vgl. R. Dahrendorf, Industrie- und Betriebssoziologie, Berlin 1967, S. 33.
bestimmten Höhepunkt fand. Zwar begannen sich in der Zeit zwischen dem ersten Weltkrieg und dem Beginn der faschistischen Diktatur einige Zweigdisziplinen der Soziologie zu etablieren6, sie blieben aber ohne große sozialpolitische Wirksamkeit. Progressive soziologische Ideen flössen indessen in die sozialpolitische Programmatik der KPO ein. Für die marxistische Tradition ist charakteristisch, daß soziologisches Gedankengut vorrangig im Zusammenhang mit den praktisch-politischen Kfimpfen der Arbeiterklasse entwickelt wurde.(Von der akademischen Soziologie war die marxistische Soziologie bekanntlich weitgehend ausgeschlossen.) So war von vornherein ein engerer Zusammenhang von soziologischem und sozialpolitischem Denken gegeben. Zweifellos bedarf die Entwicklung dieser Tradition weitergehender detaillierterer historischer Untersuchungen. In der Zeit des Faschismus schließlich wurde die Soziologie als Wissenschaftsdisziplin suspendiert; einige ihrer hervorragenden Vertreter emigrierten. Andere vertraten offen faschistisches Gedankengut und dieno ten als Theoretiker und Praktiker der faschistischen Kriegspartei. So wurde im Ergebnis dieser Entwicklungen eine vollständige Trennung der bürgerlichen Soziologie von der Sozialpolitik in Deutschland vollzogen. Dies mag der Grund dafür sein, daß nach 1945 der Einfluß der in der sowjetischen Besatzungszone wirkenden bürgerlichen Soziologen auf die Lösung der anstehenden sozialpolitischen Probleme zunächst gering blieb.9 Als am 8. Mai 1945 durch die Sowjetunion und ihre Verbündeten der Antihitlerkoalition der Faschismus endgültig zerschlagen worden war, standen Millionen Menschen vor dem Nichts. Es galt, die zerstörten Werke und Fabriken wieder aufzubauen und auch die politisch-ideologischen Voraussetzungen dafür zu schaffen. Auf sozialpolitischem Gebiet konnte an die jahrzehntelangen Erfahrungen der deutschen Arbeiterklasse im Ringen um soziale Sicherungen - mit Erfolgen und Rückschlägen - angeknüpft werden. Die sowjetischen Erfahrungen auf sozialpolitischem Gebiet galt es ebenso zu nutzen wie die gesammelten Erkenntnisse des revolutionären Teils der deutschen Arbeiterklasse. Bereits 1928 hatte die KPD ihre Erfahrungen auf sozialpolitischem Ge6 7
8 9
Vgl. K. Braun reuther, Geschichte und Kritik der bürgerlichen Soziologie, in: G. Aßmann, R. Stollberg, Grundlagen der marxistisch-leninistischen Soziologie, Berlin 1979, S. 364-365. Vgl. 0. Bittmann, Das sozialpolitische Wirken von Marx und Engels in der Arbeiterbewegung, in diesem Bd., S.81-94; H. Steiner, Historischer Materialismus und soziologische Theorie, in diesem Bd., S. 71-80. Vgl. unter anderem H. Steiner, Soziologie in den Kämpfen für Frieden und gegen Krieg in Geschichte und Gegenwart, int Jahrbuch für Soziologie und Sozialpolitik 1986, Berlin 1986, S. 136-138. Wie H. Steiner zeigt, vertrat die Mehrheit dieser Soziologen nach 1945 eine Soziologieauffassung, die in der Konsequenz dazu führte, daß sie sich selbst ins gesellschaftliche Abseits stellten und damit ihre Disziplin für den gesellschaftlichen Neubeginn überflüssig machten. Vgl. H. Steiner, Zur Soziologie des Neubeginns nach 1945 in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands, in: Jahrbuch für Soziologie und Sozialpolitik 1988, Berlin 1988, S. 234-235. 3
biet zusammengefaßt. So wurde verallgemeinernd
festgestellt:
10
- O e r Kampf um die soziale Entwicklung, die Neugestaltung der Sozialpolitik ist Teil des proletarischen Klassenkampfes und nicht außerhalb dessen
erfolgreich.
- Nur ein unter einheitlicher Führung kämpfendes Proletariat ist in der Lage, die in seinem Interesse liegenden sozialen Fragen endgültig zu lösen. Die "Zersplitterung der proletarischen Kräfte in den
sozialen
Kämpfen ist eine der Hauptursachen, der die Bourgeoisie ihre Erfolge verdankt".11 - D e r sozialpolitische Kampf ist zu verbinden mit dem Kampf um die Beseitigung des reaktionären, den sozialen Interessen der Werktätigen widersprechenden
Gesetzeswerkes.
- D a s Hauptgebiet des sozialpolitischen Kampfes ist die Verwirklichung d e s Rechts auf Arbeit - das heißt die Teilnahme aller am A r b e i t s prozeß, die Verkürzung der Arbeitszeit, die Gewährleistung des Arbeitsschutzes und anderes. D e r sozialpolitische Kampf schließt jedoch gleichermaßen Fragen des Gesundheitswesens, des Wohnungswesens, der B e v ö l kerungsentwicklung, den Schutz für Mutter und Kind, Fragen der Jugendförderung, der sozialen Versicherung
ein.
- D e r Kampf um sozialpolitische Verbesserungen ist nur erfolgreich, wenn er "gegen die Zersplitterung, 12
ten sozialen Versorgungswesens'
für die Vereinheitlichung des gesamgeführt wird. Die wichtigste
Forde-
rung dabei "ist die vollständige Selbstverwaltung durch die Versicher- 13 ten oder Versorgungsberechtigten unter Mitwirkung der Gewerkschaften". Dennoch durchlief auch die marxistisch-leninistische
Sozialpolitik ver-
schiedene Entwicklungsetappen, im Verlauf derer sie sich als Disziplin formierte und noch
formiert.
Die Sozialpolitik 1945 bis 1949 - Kampf gegen Hunger, Not und Obdachlosigkeit Ausgehend von den gesammelten Erfahrungen orientierte die KPD in ihrem historischen Aufruf vom 11. Juni 1945 auf Sofortaufgaben zur Oberwindung des Chaos und E l e n d s bei gleichzeitiger Einleitung einer antifaschistisch-demokratischen Umwälzung. Dem Kampf gegen Hunger, A r b e i t s l o sigkeit sowie der Sicherung sozialer Rechte der Werktätigen,
Hilfsmaß-
nahmen für Opfer des Faschismus, Waisenkinder, Invaliden und Kranke sowie de m Schutz der M ü t t e r galt die besondere Aufmerksamkeit.
Gemeinsam
mit klassenbewußten Sozialdemokraten und anderen Antifaschisten in B e trieben und Verwaltungen, in den Gewerkschaften sowie den Frauen- und Jugendausschüssen wirkten die Kommunisten, um die ärgste Not der Massen zu lindern. Gleichzeitig drängten sie auf antiimperialistische 10 11 12 13 4
Verände-
Vgl. S. Rädel, Proletarische Sozialpolitik, in: Proletarische Sozialpolitik, 1/1928, S. 1-3. Ebenda, S. 1. Ebenda. S. 2/3. Ebenda, S. 3.
rungen der Gesellschaftsstruktur. Große Anstrengungen wurden unternommen, um die Ernöhrung, den Berufsverkehr und die gesundheitliche Betreuung zu sichern. Neben den Freuen- und Jugendausschüssen hatten die im Sommer 1945 gewählten Betriebsräte einen besonderen Anteil bei der Schaffung der materiellen Existenzbedingungen durch Ingangsetzung der Produktion. Oer 1. Kongreß des Freien Oeutechen Gewerkschaftsbundes (FDGB) im Februar 1946 forderte eine sozialpolitische Gesetzgebung, die auf die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen ausgerichtet war und in deren Mittelpunkt Forderungen nach einer einheitlichen
Sozialversiche-
rung und Arbeitsgesetzgebung unter maßgeblicher Beteiligung der Gewerkschaften standen. Nach Vernichtung der Kriegsverbrechermonopole,
der
Entstehung eines volkseigenen Wirtschaftssektors und der Schaffung einer stabilen antifaschistischen demokratischen Staatsordnung beschloß das Zentralsekreteriat der SED im Dezember die "sozialpolitischen
Richt-
linien" mit folgenden Hauptaufgabengebieten: 1 4 Sicherung des Rechts auf Arbeit und Demokratisierung der Wirtschaft, Sozialfürsorge, Gesundheitsfürsorge, Familienfürsorge, Wohnungsfürsorge, Betreuung der Umsiedler und Heimkehrer. Diese Richtlinien waren grundlegende
sozialpolitische
Zielstellung der antifaschistisch-demokratischen Umwälzung. Dabei mußten Auseinandersetzungen mit überholten Vorstellungen darüber geführt werden, daß unter veränderten Macht- und Eigentumsverhältnissen
sozial-
politische Ergebnisse nicht gegen die staats- und wirtschaftsführenden Organe, sondern nur mit ihnen gemeinsam durchgesetzt werden konnten. Es mußte vor allem der ideologische Kampf geführt werden gegen alte, überholte und einseitige sozialpolitische Vorstellungen. Das betraf sowohl eine enge Begrenzung der Sozialpolitik auf Politik zum Schutz vor den Not- und Wechselfällen des Lebens, als auch auf
"Arme-Leute-Politik",
auf Sozialfürsorge im engsten Sinne. Auch reines "Nur-Gewerkschaftlertum" - eine Wortschöpfung, die einst W. I. Lenin aus dem Deutschen übernommen hatte - war nicht mehr zeitgemäß. Diese Haltung fand sich in den ersten Nachkriegsjahren
besonders
bei den Mitgliedern von Betriebsräten, die aus der Tradition der Arbeiterbewegung kamen, aber noch nicht verstehen konnten, daß veränderte Macht- und Eigentumsverhältnisse ein anderes Herangehen an die Interessen der Arbeiter und ihrer Verbündeten erforderten. Mit der Losung "Mehr produzieren, gerechter verteilen, besser leben" wies der II. Parteitag der SED 1947 den entscheidenden Weg zur Verbesserung der Lebenslage der Werktätigen. Auf dieser Grundlage verabschiedete der 2. FDGBKongreß ein Programm "Soziale Forderungen des FDGB", die den Auf- und Ausbau einer sozialpolitischen Gesetzgebung, die Ausarbeitung eines fortschrittlichen Arbeitsrechts und den Aufbau einer einheitlichen So-
14
Vgl. Sozialpolitische Richtlinie der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands nach dem Beschluß des Zentralsekretariats vom 30. Dezember 1946, Berlin 1947. 5
zialversicherung zum Inhalt hatte. Man kann daher zu Recht sagen, daß die Gewerkschaften mit an der Wiege der neuen Sozialpolitik
standen.
Von besonderer Bedeutung für die Verbesserung der sozialen Lage der Werktätigen und eine Aktivierung der Sozialpolitik war der SMAD-Befehl 234 "über Maßnahmen zur Steigerung der Arbeitsproduktivität
und zur w e i -
teren Verbesserung der materiellen Lage der Arbeiter und Angestellten in der Industrie und im Verkehrswesen",
in dem die Anwendung neuer Lohn-
formen zur Steigerung der Arbeitsproduktivität
und eine Vielzahl
sozial-
politischer Maßnahmen zur besseren Versorgung der Werktätigen, zum A r beitsscnutz und insonderneit zur verstärkten Unterstützung der Jugendlichen und Frauen gefordert wurden. Der einsetzende
Wirtschaftsauf-
schwung und die damit verbundene Verbesserung der sozialen
Lebensbedin-
gungen der Werktätigen waren wichtige Grundlagen für die Herausbildung einer neuen, marxistisch-leninistischen
Sozialpolitik. 15
Die Zeit nach 1945 war zugleich für die Soziologie ein Neubeginn. Auch hier muß zwischen soziologischer Diskussion und Antwort auf kommende Fragen der Zeit und der Herausbildung einer
marxistisch-leninisti-
schen Soziologie unterschieden werden. Fest steht jedoch, daß in dieser Zeit der Einfluß der Soziologie auf die Sozialpolitik noch sehr gering war. Zwar gab es bereits in dieser Zeit vielfältige soziologische A k t i vitäten. Neben führenden Funktionären der SED und der Gewerkschaften artikulierten vor allem Historiker, Ökonomen, Philosophen und andere relevante
so-
ziologische Auffassungen, Konzeptionen und Strategien. Gleichzeitig
marxistische Gesellschaftswissenschaftler
sozialpolitisch
muß
man aber auch sagen, daß es in dieser Zeit - bis auf wenige Ausnahmen noch keine praktischen soziologischen Untersuchungen
sozialer Phänomene
gab. Faßt man die wesentlichen sozialen Ergebnisse dieser Periode zusammen, so bestanden diese in
folgendem:
- Bis 1949 hatten die Arbeiterklasse und ihre Verbündeten unter Führung der SED die antifaschistisch-demokratische
Umwälzung
vollzogen.
- Die Herausbildung des volkseigenen Sektors und die Bodenreform zu qualitativen, sozialstrukturellen
führten
Veränderungen.
- Not, Hunger und Obdachlosigkeit waren weitgehend beseitigt. Mit dem Recht auf Arbeit, Bildung, der Gleichberechtigung von Mann und Frau waren Bedingungen für die Gestaltung sozialer Grundrechte die über den Rahmen bürgerlich-demokratischer Verhältnisse
entstanden, hinausgin-
gen.
Die Periode 1949 bis 1970 - Ausbau und Gewährleistung sozialer
Sicher-
heit im umfassenden Sinne Für die Gestaltung einer marxistisch-leninistischen 15
6
Sozialpolitik w a r
Vgl. H. Steiner, Zur Soziologie des Neubeginns nach 1945 in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands, in: Oahrbuch für Soziologie und Sozialpolitik 1988, a.a.O., S. 228; H. F. Wolf, Marxistische Soziologie als Lehrfach 1947-1951, zu Ansätzen an den Universitäten Leipzig und Rostock, in diesem Bd., S. 341-351.
die Schaffung eines sozialistischen Gesetzeswerkes eine
grundlegende
Bedingung. D a s entscheidende Dokument, auf dessen Grundlage sich die neue marxistisch-leninistische Sozialpolitik herauszubilden begann, w a r die Verfassung, die sich die Deutsche Demokratische Republik mit ihrer Gründung gab. Darin waren die revolutionären Errungenschaften der A r beiterbewegung verankert und die Grundrechte der Werktätigen
formuliert.
Auf der Grundlage der Verfassung der D D R wurde in der Folgezeit ein umfassendes Gesetzeswerk ausgearbeitet, w e l c h e s weiteren
sozialpolitischen
Fortschritt ermöglichte: das Gesetz zum Schutz der A r b e i t s k r a f t der in der Landwirtschaft Beschäftigten (1949), das G e s e t z über die Teilnahme der Ougend am A u f b a u der DDR und die Förderung der 3ugend in Schule
und
Sport (Februar 1950), das Gesetz der Arbeit zur Förderung und Pflege der Arbeitskraft, zur Steigerung der A r b e i t s p r o d u k t i v i t ä t
und zur w e i -
teren Verbesserung der materiellen und kulturellen Lage der A r b e i t e r und Angestellten
(April 1950), das G e s e t z über den M u t t e r - und Kinder-
schutz und die Rechte der Frau (August 1950) usw. Unter wirtschaftlichen Ausgangsbedingungen
schwierigen
konnte im Zeitraum von 1949 bis
i960 das materielle und kulturelle Lebensniveau der Werktätigen weise erhöht werden. Die erreichten Errungenschaften auf
schritt-
sozialpoliti-
schem Gebiet fanden insbesondere im Gesetzbuch der A r b e i t ihren N i e d e r schlag. Vor der Sozialpolitik stand in dieser Zeit die Aufgabe,
wesentliche
Erfordernisse der Reproduktion der A r b e i t s k r a f t unter den Bedingungen der Planwirtschaft und der Herausbildung sozialistischer A r b e i t s - und Lebensbedingungen durchzusetzen. Fortschritte konnten insbesondere
bei
der Versorgung mit Konsumgütern und Dienstleistungen, bei der V e r s o r gung mit Wohnraum und dem Wiederaufbau zerstörter Städte erreicht w e r den. Im Prozeß der sozialistischen Umgestaltung und der Schaffung
der
materiell-technischen B a s i s des Sozialismus veränderte sich die Klassenstruktur in der DDR. Im Ergebnis der vollzogenen grundlegenden
so-
zialen Reform stellten die Arbeiterklasse und die Klasse der G e n o s s e n schaftsbauern nunmehr die Hauptklassen in der DDR dar.
Zudem begann
sich eine neue, sozialistische Intelligenz herauszubilden. D a s stische Eigentum an den wichtigsten Produktionsmitteln
soziali-
in Form des V o l k s -
eigentums und des genossenschaftlichen Eigentums bildete die nomische Grundlage der politischen Macht der Arbeiterklasse
sozialökoim B ü n d n i s
mit der Klasse der Genossenschaften und den anderen Werktätigen. D e r Bau zahlreicher sozialistischer Großbetriebe
führte zum quantitativen
Wachstum der Arbeiterklasse und einer zunehmenden Konzentration in traditionellen und neu erstandenen Zentren. Insgesamt stieg die Zahl der Beschäftigten in der sozialistischen Industrie zwischen 1950 und 1960 von 1,58 Millionen auf 2,32 Millionen A r b e i t e r und A n g e s t e l l t e an. Die damit verbundenen sozialen Veränderungen erforderten umfangreiche
16
so-
Autorenkollektiv, Zur Entwicklung der A r b e i t e r k l a s s e und ihrer S t r u k tur in der DDR, Berlin 1976, S. 51 (Schriftenreihe Soziologie). 7
zialpolitische Maßnahmen wie die Neugestaltung der Berufsbildung, die Qualifizierung der Freuen und ¿Jugendlichen, den Bau bzw. die Wiederherstellung von Wohnungen, die Schaffung von Versorgungs- und Kindereinrichtungen. Mit dem Abschluß der genossenschaftlichen Umgestaltung hatte sich die Klasse der Genossenschaftsbauern hsrausgebildet. Sie rekrutierte sich zwar überwiegend aus werktätigen Einzelbauern und Landarbeitern, aber auch Mittel- und Großbauern,sowie vormalige Industriearbeiter prägten das soziale Profil dieser Hauptklasse der sozialistischen Gesellschaft. Bedingt durch diesen Rekrutierungsprozeß, vor allem aber durch den unterschiedlichen Vergesellschaftungsgrad und die gegebene ökonomische Situation, bestanden noch erhebliche ökonomische, soziale, politische und ideologische Unterschiede innerhalb dieser neuen Klasse. Darüber hinaus existierten Unterschiede im Bildungeniveau sowie in den Denk- und Verhaltensweisen zum genossenschaftlichen Eigentum und der genossenschaftlich organisierten Arbeit. Beträchtliche Anstrengungen waren unternommen worden, um das Qualifikationsniveau der Werktätigen zu heben und aus den Reihen der Arbeiter und Bauern mit Hilfe und Unterstützung der demokratisch und humanistisch orientierten alten Intelligenz eine sozialistische Intelligenz heranzubilden. Eine bedeutsame Rolle hatten hierbei die Arbeiter- und Bauernfakultäten (ABF) an den Universitäten und einigen Hochechulen. Im Ergebnis dieses grundlegenden sozialen Prozesses entwickelte sich ein sozial neuer Typ der Intelligenz, der sich proportional aus allen Klassen, Schichten und sozialen Gruppen reproduzierte.*^ Insgesamt waren durch die angedeuteten sozialen Wandlungen neue soziale Beziehungen zwischen den Klassen, Schichten und sozialen Gruppen entstanden. Der sozialistische Charakter dieser Beziehungen schloß noch soziale Unterschiede in der Stellung zu den Produktionsmitteln, in der Art und Höhe des Einkommens und der gesamten Lebensweise ein. Es war daher eine wichtige sozialpolitische Aufgabe der damaligen Zeit, im Prozeß der weiteren sozialen Entwicklung die Grundinteressen der Klassen, Schichten und sozialen Gruppen sowie die territorialen Interessen in Übereinstimmung mit den Gesamtinteressen der jungen Republik zu bringen. Entsprechend der konkret-historischen Situation der Obergangsperiode war die Sozialpolitik auf bestimmte Schwerpunkte orientiert, die sich aus dem Entwicklungsniveau der politischen, ökonomischen, sozialen und ideologischen Verhältnisse ableiteten. In der Zeit der antifaschistisch-demokratischen Umwälzungen hatten sich grundlegende sozialökonomische Wandlungen vollzogen, die sich mit Beginn der sozialistischen Umgestaltung fortsetzen. Die dabei erreichten sozialen Grundrechte konnten weiter ausgebaut werden. Damit wurden 17
8
Vgl. M. Lötsch, Zur Entwicklung der Intelligenz in der Deutschen Demokratischen Republik, in: Autorenkollektiv, Die Intelligenz in der sozialistischen Gesellschaft, Berlin 1980 (Schriftenreihe Soziologie) .
theoretische Grundfragen der weiteren gesellschaftlichen
Entwicklung
gestellt, die für die noch jungen gesellschaftswissenschaftlichen
Dis-
ziplinen eine große Herausforderung waren und insbesondere die weitere Herausbildung bzw. Entwicklung solcher Basiswissenschaften wie die Wirtschaftswissenschaften, die Rechtswissenschaften
und die Philosophie
sti-
mulierten. V o r allem die politökonomischen Forschungen waren dabei mit vielen sozialen Problemen konfrontiert. Dies wurde auf d e r 1955 veranstalteten Konferenz zu Problemen der Obergangsperiode vom Kapitalismus 18 zum Sozialismus offensichtlich. Auf dieser Konferenz wurden neben vorrangig ökonomischen Problemen solche sozialpolitisch bedeutsamen
Ent-
wicklungsprobleme diskutiert wie die historischen Bedingungen für den sozialistischen A u f b a u in der DDR, die planmäßig proportionale
Entwick-
lung der Volkswirtschaft, der Kampf um Steigerung der A r b e i t s p r o d u k t i vität, des Arbeitslohnes und der Arbeitsnorm, die Relation zwischen A b teilung I und Abteilung II der gesellschaftlichen Produktion, die G e staltung der Verteilungsverhältnisse,
die Rolle der W e t t b e w e r b s - und
Neuererbewegung, die Teilnahme der Werktätigen an der Leitung und Planung von Staat und Wirtschaft. Bereits in den fünfziger Oahren wurden von soziologischen gruppen an den Universitäten der D D R soziologische Studien z u
Forschungssozialpo-
litisch bedeutsamen Problemen durchgeführt. Diese Forschungsgruppen krutierten sich aus Wissenschaftlern und Studenten bereits nalisierter Wissenschaftsdisziplinen,
re-
institutio-
Insbesondere der Politischen
Öko-
nomie, der Philosophie und der Psychologie. A b e r auch innerhalb der A r beitsgemeinschaften der Rechtswissenschaften, der M u s i k w i s s e n s c h a f t e n und der Medizin (Sozialhygiene) wurden soziologische
Untersuchungen
durchgeführt. Vorrangige Forschungsthemen waren: A r b e i t s b e d i n g u n g e n , Qualifizierungsverhalten, Ougend und Technik, V e r h ä l t n i s zur Arbeit, Einstellung zum Studium, Arbeitskräftefluktuation, Probleme der Bewußtseinsbildung
soziale Mobilität,
usw.
In der Periode des umfassenden A u f b a u s des Sozialismus bestand die sozialpolitische Grundaufgabe darin, die Ergebnisse der O b e r g a n g s p e r i o d e vom Kapitalismus zum Sozialismus auszubauen, die Grundlagen des S o z i a lismus zu stabilisieren und den Obergang zur Entwicklung des S o z i a l i s mus auf seine eigenen Grundlagen vorzubereiten. In dieser Zeit galt es, die ökonomischen Gesetze des Sozialismus, insbesondere d a s ökonomische Grundgesetz, konsequent und komplex durchzusetzen und somit die V o r a u s setzungen für die weitere Entwicklung des L e b e n s n i v e a u s und eine planmäßige, kontinuierliche und allseitige Verbesserung der A r b e i t s - und Lebensbedingungen der Arbeiterklasse und der mit ihr verbündeten
ande-
ren Werktätigen zu schaffen. Es galt, die ökonomischen Gesetze V o l l ständiger durchzusetzen bzw. zur Wirkung z u bringen, die zentrale
18
Lei-
Vgl. Protokoll der theoretischen Konferenz "Der O b e r g a n g s p e r i o d e vom Kapitalismus zum Sozialismus in der Deutschen Demokratischen Republik", Berlin 1955. 9
tung und Planung der Volkswirtschaft mit der Eigenverantwortung der Betriebe und Territorien besser zu verbinden, die Bündnisbeziehungen
zwi-
schen den Klassen, Schichten und sozialen Gruppen qualitativ weiterzuentwickeln. D a z u wurden notwendige Voraussetzungen mit der Wirtschaftsreform, der auf den wissenschaftlich-technischen
Fortschritt
gerichte-
ten komplexen sozialistischen Rationalisierung und der Entfaltung des Schöpfertums der Werktätigen geschaffen. Wichtige Voraussetzungen
dazu
entstanden auch durch die internationale Stärkung des Sozialismus und den (Übergang zur • sozialistischen ökonomischen Integration, durch die gewachsene Störfreiheit der Volkswirtschaft der DDR und durch die O b e r windung wirtschaftlicher Disproportionen. Auf dieser Basis konnten wesentliche Verbesserungen der Arbeits- und Lebensbedingungen
realisiert
werden. Die Lösung der sozialpolitischen Grundaufgabe widerspiegelte
sich
insbesondere in folgenden Prozessen und Ergebnissen: - Bedeutsame soziale Entscheidungen wurden auf dem Gebiet von Arbeit und Bildung getroffen. Bereits mit dem ersten umfassenden
Gesetzbuch
der Arbeit vom 12. April 1961 war ein Gesetzwerk entstanden, das alle wesentlichen Grundlagen der Ausgestaltung des Rechts auf Arbeit sprechend der gesellschaftlichen Entwicklung übersichtlich
ent-
zusammen-
faßte und regelte. Des weiteren wurden mit diesem Gesetzbuch und danach notwendige Festlegungen zur wissenschaftlich-technischen
Entwicklung
und einer damit verbundenen Erschließung des gesellschaftlichen
Arbeits-
vermögens getroffen. Damit wurde das Recht auf Arbeit auch hinsichtlich der Entwicklung der Arbeitsbedingungen
und der Arbeitsinhalte sowie des
Gesundheitd- und Arbeitsschutzes, insbesondere in Verwirklichung
seiner
sozialistischen Prinzipien, weiter ausgestaltet. Mit dem Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssystem wurden Bildung und Qualifizierung durchgängig und für alle zugänglich ausgestaltet. Im Mittelpunkt standen dabei die zehnklassige allgemeinbildende Oberschule, die Vervollkommnung der Berufsbildung
polytechnische
und der A u s b a u der
Erwachsenenqualifizierung. Das Qualifikationsniveau des Facharbeiters entwickelte sich in dieser Zeit zur entscheidenden
Qualifikationsstufe.
Mit der Durchsetzung des einheitlichen sozialistischen konnte der für die wissenschaftlich-technische
Bildungssystems
Entwicklung und die öko-
nomische Effektivität notwendige Bildungsvorlauf erreicht werden. Allen Mitgliedern der Gesellschaft ein möglichst hohes Niveau an Bildung wie anwendungsbereitem
so-
Fachwissen zu vermitteln,entsprach auch den sozia-
len Zielen der sozialistischen Gesellschaft, der Ausprägung der iVesenszüge der Arbeiterklasse, der allseitigen Persönlichkeitsentwicklung den Erfordernissen der
und
Produktivkraftentv/icklung.
- Zunehmende Bedeutung erlangte die Sozialpolitik in den Betrieben und für die Planung der A r b e i t s - und Lebensbedingungen. In Obereinstimmung mit der komplexen sozialistischen Rationalisierung wurde begonnen, mäßig die Arbeits- und Lebensbedingungen zu verbessern. Dazu wurden
planun-
ter anderem mit dem Beginn der Ausarbeitung von Plänen zur Verbesserung 10
der A r b e i t s - und Lebensbedingungen als Bestandteil des B e t r i e b s p l a n e s entscheidende Voraussetzungen geschaffen. Insbesondere ging in dieser Zeit der Gesundheits- und A r b e i t s s c h u t z in wachsendem Maße in die P l a nung des wissenschaftlich-technischen
Fortschritts ein. Die damit v e r -
bundene Ausgestaltung seines vorbeugenden C h a r a k t e r s w i d e r s p i e g e l t e
sich
in der sinkenden Zahl der A r b e i t s u n f ä l l e . - Auf dem Gebiet der Einkommensentwicklung wurde in den 60er Jahren des Leistungsprinzip konsequenter beachtet und die Entwicklung d e r Leistung an den Entwicklungsstand der Einkommen angeglichen,
insbesondere
durch die Ergebnisse des Produktionsaufgebots und der W e i t e r f ü h r u n g neuen ökonomischen
im
System.
- Wichtige Schritte wurden eingeleitet für die weitere soziale Förderung der Arbeiterklasse sowie die A u s g e s t a l t u n g dsr B ü n d n i s b e z i e h u n gen und die Oberwindung nicht gerechtfertigter Niveauunterschiede
in
den A r b e i t s - und Lebensbedingungen. Hervorzuheben ist das Bemühen,
un-
gerechtfertigte Niveauunterschiede w e i t e r auszubauen durch die M i n d e s t lohnerhöhungen und die Einführung neuer Stimuli, wie die J a h r e s e n d p r ä mie. - Im Ergebnis der wirtschaftlichen Entwicklung konnte das L e b e n s n i veau entscheidend angehoben werden. Auf dem Gebiet der Versorgungspolitik konnten durch die Sicherung
der
Staatsgrenze und im Ergebnis des P r o d u k t i o n s a u f g e b o t s und ssiner W e i t e r führung durch d a s neue ökonomische System Versorgungsstörungen
überwun-
den und die Versorgung der Bevölkerung mit den Hauptnahrungsmitteln in zunehmendem Maße mit modernen hochwertigen Konsumgütern w e r d e n . Besonderer Schwerpunkt w a r e n die Erhöhung der
und
verbessert
Konsumgüterproduk-
tion und die Verbesserung des D i e n s t l e i s t u n g s b e r e i c h e s sowie d e r A u s b a u der Arbeiterversorgung. Die wesentlichen Schwerpunkte auf dem Gebiet des Wohnens waren in den 60er Oahren die w e i t e r e Industrialisierung Bauens und die Fortführung des W o h n u n g s b a u s mit dem
des
schwerpunktmäßigen
A u s b a u der Stadtzentren von Berlin, Dresden, Leipzig und K a r l - M a r x Stadt, der Errichtung von Halle-Neustadt sowie die Verbesserung Wohnverhältnisse in anderen Industriezentren und in den
der
landwirtschaft-
lichen Zentren. Schrittweise wurden der Ausstattungskomfort d e r Wohnungen erhöht und die gesellschaftlichen Einrichtungen in den N e u b a u g e b i e ten geschaffen bzw. in früher entstandenen Wohngebieten durch G e m e i n schaftseinrichtungen ergänzt. Zudem w u r d e n in dieser Zeit die
sozialpo-
litisch orientierte Wohnraumlenkung und - V e r t e i l u n g sowie Nutzung
des
staatlichen,. betrieblichen und genossenschaftlichen W o h n u n g s b a u s
unter
Mitwirkung der Gewerkschaften
vervollkommnet.
In den 60er Oahren konnte der G e s u n d h e i t s s c h u t z der Bevölkerung
quan-
titativ und qualitativ weiter ausgebaut w e r d e n . Unter anderem wurde die Gesundheitserziehung verstärkt. Der A u s b a u des betrieblichen
Gesund-
heitsschutzes, besonders für die berufstätigen Frauen und Mütter, gelt sich unter anderem im Rückgang der M ü t t e r - und
spie-
Säuglingssterb-
lichkeit wider. Weitere wichtige A u f g a b e n waren die verbesserte
medizi11
nische und soziale Betreuung der älteren Bürger. A u f dem Gebiet der Sozialversicherung gab e s in den 60er Oahren eine ganze Reihe von Leistungsverbeeserungen. Neben der Verbesserung der materiellen bei Arbeitsunfähigkeit,
Leistungen
insbesondere für Werktätige mit Kindern, wurden
Schritte eingeleitet, um das Rentenrecht den neuen
gesellschaftlichen
Verhältnissen anzupassen. Zugleich wurde mit der Einführung der freiwilligen Versicherung auf Zusatzrente der Schritt zur Verbindung von Pflicht- und Zusatzversicherung begonnen. Trotz etändiger Verbesserungen der Leistungen wurden die Beiträge der Werktätigen nicht erhöht. Die Entwicklung von Freizeit und Erholung wurde in den 60er Oahren vor allem von der Einführung der Fünf-Tage-Arbeitswoche
in jeder zweiten
Woche und dann der durchgängigen Fünf-Tage-Arbeitswoche mit Begrenzung der wöchentlichen Arbeitszeit auf 43 3/4 Stunden bzw. vierzig Stunden
für
Dreischichtarbeiter und Werktätige in durchgehendem Schichtsystem charakterisiert. Sozialpolitisch bedeutsam war auch die Erhöhung des M i n desturlaubs auf fünfzehn Arbeitstage. D e r Feriendienst der Gewerkschaften entwickelte 9ich durch verbesserte Qualität der Erholungsaufenthalte, verstärkte Familienerholung und kooperative Zusammenarbeit
zwischen
Feriendienst und Betriebserholungsheimen. Da sich der Feriendienst der Gewerkschaften in dieser Zeit vorwiegend qualitativ entwickelte,
wuchsen
andere Erholungsträger wie das Betriebserholungswesen, das Reisebüro der DDR und das Campingwesen in quantitativer Hinsicht schneller als der Fsriendienst. Die Möglichkeiten der Wochenend- und Naherholung wurden verstärkt
erweitert.
Zur Unterstützung und Förderung von Familien sowie der berufstätigen Frauen und Mütter trugen eine ganze Reihe von gesetzlichen
Festlegungen
bei. Vor allem das 1965 verabschiedete erste Familiengesetzbuch der DDR steckte den Rahmen dafür ab. Die Gewerkschaften
förderten die Vereinbar-
keit von Berufstätigkeit und Mutterschaft in dieser Zeit-durch vielfältige Initiativen und vor allem auch über die Arbeit der
Frauenausschüsse
in den Betrieben. Die durch die großen Arbeitsanstrengungen der werktätigen unter Führung der Partei der Arbeiterklasse gewährleisteten
sozial-
politischen Errungenschaften konnten in dem Maße weiterentwickelt
werden,
wie es gelang, durch planmäßig proportionale Entwicklung der Volkswirtschaft und bewußtere Ausnutzung der ökonomischen Gesetze des Sozialismus dis Leistungsfähigkeit zu erhöhen. Eine stärkere Einbeziehung der Werktätigen in die Leitung und Planung von Wirtschaft und Staat war eine notwendige Voraussetzung, die gesellschaftlichen,
kollektiven und individu-
ellen Interessen noch besser in Obereinstimmung zu bringen. A u s diesen objektiven gesellschaftlichen Entwicklungstendenzen ergaben sich neue Erfordernisse an die Weiterentwicklung der Wirtschafts-, Sozial-, Bildungs-, Kultur- und Wissenschaftspolitik. A u f der Grundlage der Beschlüsse des VI. P a r t e i t a g e s wurden langfristige Aufgaben der Gesellschaftspolitik in Angriff genommen, um die Volkswirtschaft zu entwickeln und die Produktivität zu erhöhen. Eine spürbare Steigerung des verfügbaren Nationaleinkommens war erforderlich, um auf sozialpolitischem G e -
12
biet ein Programm realisieren zu können, das In seinem Inhalt, seiner Komplexität und seiner Umsetzung zunehmend dem Sinn des Sozialismus entsprach und für alle Bürger die sozialen Grundrechte, soziale Sicherheit und wachsendes Lebensniveau gewährleistete und weiter ausprägen half. Als wichtigste Triebkraft der ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklung erwies sich mehr und mehr das Ringen um die Obersinstimmung zwischen den Interessen des einzelnen Werktätigen und der Kollektive und den gesamtgesellschaftlichen Interessen. Das neue Programm der SED forderte, das Prinzip der materiellen Interessiertheit konsequent durchzusetzen: "Alles, was der Gesellschaft nutzt, muß auch für den Betrieb 19 und für den einzelnen Werktätigen vorteilhaft sein." Um diese Interessenübereinstimmung zwischen der gesamten Gesellschaft, den Kollektiven und den einzelnen Werktätigen durch die Politik der Partei und das bewußte Handeln der Volksmassen ständig herbeiführen zu können, mußten noch viele Erfahrungen gesammelt werden. Die Gesellschaftswissenschaften sahsn sich vor neue Aufgaben gestellt, um wissenschaftlich begründete Lösungsvorschläge für die herangereiften Probleme in der gesellschaftlichen Praxis leisten zu können. Dies fand auch im Parteiprogramm seinen Ausdruck: "Von den Gesellschaftswissenschaften werden verstärkt 20 soziologische Forschungen durchgeführt." Bereits Anfang der sechziger Oahre nahmen soziologische Untersuchungen besonders in der Industrie und Landwirtschaft einen beträchtlichen Umfang an, deren Gegenstand solche sozialen Entwicklungsprobleme waren wie "Triebkräfte der sozialistischen Arbeit", "soziale Bedingungen der beruflichen Qualifizierung", "Ursachen der Fluktuation", "Faktoren und Ausdrucksformen des Betriebsklimas", "Konsumentenverhalten", "Aspekte der sozialen Mobilität", "Neugestaltung der qualitativen Arbeitsbewertung", "Ougend und Technik" usw. Entsprechende Forschungsergebnisse wurden auf Oahrestagungen der Forschungsgemeinschaft "Soziologie und * Gesellschaft" in Prieros (1962), Berlin (1963) und Merseburg (1964) 21 vorgestellt und diskutiert. Natürlich konnte die Lösung der sozialpolitischen Grundaufgaben noch nicht hinreichend durch soziologische Untersuchungen unterstützt werden, dazu war das verfügbare Forschungspotential noch zu gering und zudem zersplittert. Der Beschluß des Politbüros des ZK der SED vom 15. September 1964 gab den Anstoß zur Intensivierung der soziologischen Forschung in der DDR, indem er die Soziologen der DDR auf die einheitliche Aufgabe orientierte, die sozialen und ideologischen Bedingungen, Faktoren und Triebkräfte der technischen Revolution in der Periode des umfassenden Aufbaus des Sozialismus zu erforschen. Die damalige Abteilung Soziologische Forschung des Instituts für Gesellschaftswissenschaften hatte dazu ein Forschungsprogramm vor19 20 21
Vgl. Protokoll der Verhandlungen des VI. Parteitages der Sozialistischen 'Einheitspartei Deutschlands, Bd. IV, Berlin 1963, S. 34Q. Vgl. Programm der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Berlin 1963, S. 102. Vgl. Soziologie und Praxis, hg. von G. Bohring und K. Braunreuther, Berlin 1965. 13
gelegt, für dessen Durchführung der inzwischen gegründete
Wissenschaft-
liche Rat für soziologische Forschung der DDR verantwortlich war. D i e s e s erste zentrale Forschungsprogramm konzentrierte sich auf das Thema "Die Entwicklung des kulturell-technischen Niveaus der Werktätigen im Prozeß 22 der technischen Revolution". Die entsprechenden soziologischen Untersuchungen wurden von verschiedenen soziologischen Einrichtungen in B e r lin, Leipzig, Halle, Dresden und Karl-Marx-Stadt durchgeführt. In den nachfolgenden Jahren konnte die Soziologie ihren Beitrag zur Leitung und Planung sozialer Grundprozesse beträchtlich erhöhen. Das Schwergewicht der Forschung lag dabei auf der Analyse der Umsetzung licher Reproduktionserfordernisse
gesellschaft-
in bewußtes soziales Handeln
soziali-
stischer Persönlichkeiten und Kollektive. Probleme des Verhältnisses der Werktätigen zur Arbeit, Entwicklungsprobleme der Gemeinschaftsarbeit,
sozialistischen
Fragen der Sozialstrukturentwicklung,
die Rolle
der Leitung als Bedingung für aktives soziales Verhalten und soziologische Probleme des Zeitbudgets reichten mehr und mehr ins Zentrum logischer Forschung. Die Institutionalisierung der Soziologie
sozio-
machte
rasche Fortschritte, und auch die Zusammenarbeit mit anderen W i s s e n schaften wurde intensiviert. Dazu trugen auch Gründungen solcher Institutionen wie das "Institut für sozialistische Wirtschaftsführung ZK der SED" und das "Zentralinstitut
beim
für Jugendforschung beim Amt
für
Jugendfragen des Ministerrates der DDR" (1966) bei. Im November 1969 fanden die "Tage der marxistisch-leninistischen Soziologie" statt. D i e ser 1. Kongreß der DDR-Soziologen
fand einen breiten Widerhall - mehr
als 600 Teilnehmer aus allen Bereichen der Gesellschaft
berieten
über die inzwischen erreichten soziologischen Forschungsergebnisse der weiteren Gestaltung der sozialistischen Gesellschaft.
bei
Insgesamt
konnte eine gute B i l a n z gezogen werden - die Soziologie hatte sich einen 23 festen Platz im Ensemble der Gesellschaftswissenschaften erworben. Dennoch konnte auf viele soziale Probleme noch keine hinreichende Antwort gegeben werden. Es galt die theoretische Arbeit zu verstärken, um durch wissenschaftlich fundierte Aussagen einen wirksamen Beitrag bei der praktischen Gestaltung und Lösung sozialer Prozesse leisten zu können. Vor allem die Gewerkschaften leisteten dabei einen
eigenständi-
gen Beitrag. D i e s fand seinen Ausdruck in der Bildung deö ersten tuts für Sozialpolitik
Insti-
(1963) und der Sektion Wirtschafts- und Sozial-
politik (1968) an der Gewerkschaftshochschule "Fritz Heckert" in B e r n a u sowie in der Herausgabe verschiedener sozialpolitischer
Publikationen.
In keinem Zeitabschnitt der Geschichte der D D R waren in einem historisch kurzen Zeitraum so grundlegende Veränderungen auf
ökonomischem,
sozialem und geistig-kulturellem Gebiet vollzogen wie im Zeitraum von 1971 bis 1985. In diese Entwicklung waren die qualitativen 22 23
14
Veränderun-
V g l . 0. Rittershaus, H. Taubert, Für die größere Wirksamkeit der soziologischen Forschung in der Deutschen Demokratischen Republik, ins Einheit, 9/10/1964. V g l . Soziologie im Sozialismus, Berlin 1970 (Schriftenreihe Soziologie) .
gen der Sozialpolitik einbezogen. Sie lassen sich im grundlegenden wie folgt
charakterisieren:
Erstens in der Orientierung der Sozialpolitik an der D r i n g l i c h k e i t der gesellschaftlich notwendigen Bedürfnisse der Klassen, Schichten anderer sozialer Gruppen, bei Beachtung spezifischer
und
Reproduktionser-
fordernisse, die sich sowohl aus den materiellen Bedingungen des A r b e i t s prozesses Arbeit unter erschwerten und gesundheitsgefährdenden gen, aus den zeitlichen Arbeitsbedingungen den allgemeinen Lebensbedingungen mehreren Kindern)
Bedingun-
(Schichtarbeit) als auch aus
(berufstätige Frauen und M ü t t e r mit
ergeben.
Zweitens in der organischen Verbindung von ökonomischem, lich-technischem und sozialem Fortschritt, die die Vorzüge
wissenschaftsozialisti-
scher Entwicklung voll zur Wirksamkeit bringt, die die O b e r e i n s t i m m u n g vdn persönlichen, kollektiven, Klassen- und gesellschaftlichen
Interes-
sen sichert. Drittens in der strategischen Orientierung auf die planmäßige bildung der für die entwickelte sozialistische Gesellschaft
Heraus-
charakteri-
stischen sozialen Verhältnisse. Diese vollzieht sich durch die direkte Einflußnahme auf die Gestaltung solcher A r b e i t s - und
Lebensbedingungen,
die der Entwicklung der Aktivität der Klassen und Schichten, der A u s p r ä gung der Einheitlichkeit und Differenziertheit der sozialistischen
Le-
bensweise dienen. Viertens in ihrer Komplexität, das heißt einer alle Seiten und B e reiche des gesellschaftlichen Lebens umfassenden Einflußnahme. Sie ist auf die organische Verbindung der sozialen Entwicklung mit dem w i s s e n schaftlich-technischen
und ökonomischen Fortschritt gerichtet, wie das
in der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik seinen A u s d r u c k det. Sie reicht von der Gestaltung der Arbeitsplätze über die
fin-
soziale
und kulturelle Betreuung im Kombinat bzw. im Betrieb, die Gestaltung zialistischer Wohngebiete, den A u s b a u der sozialen und
so-
gesundheitlichen
Betreuung bis zum Umweltschutz. Fünftens in ihrer sozialstrukturellen Orientiertheit, die in einer gezielten Förderung, Unterstützung und Betreuung der einzelnen
Klassen,
Schichten und sozialen Gruppen ihren Ausdruck findet. A u s g e h e n d von den Interessen der Arbeiterklasse und unter Beachtung ihrer Stellung im gesellschaftlichen Reproduktionsprozeß sowie der spezifischen
Arbeits-
und Lebensbedingungen - insbesondere in den Kombinaten als Zentren Arbeiterklasse - zielt sie über differenzierte Maßnahmen auf eine
der pro-
gressive Entwicklung der Arbeits- und Lebensbedingungen aller B e v ö l k e rungsgruppen. Im E r g e b n i s d er vom VIII. Parteitag der SED im Oahr 1971
gestellten
Hauptaufgabe wurde die Leistungsentwicklung der V o l k s w i r t s c h a f t
für die
Erhöhung des materiellen und kulturellen Lebensniveaus genutzt. D i e v e r gangenen Oahre zusammenfassend, konnte für die Entwicklung bis 1986 festgestellt werden: "Un ser Volk hat auf Grund der Entwicklung der Produktivkräfte und der sozialistischen Produktionsverhältnisse einen Le15
bensstandard erzielt wie noch nie in seiner Geschichte. Arbeitslosigkeit ist für uns ein Begriff aus einer anderen, fremden Welt. Gewährleistet sind bei uns soziale Sicherheit und Geborgenheit, Vollbeschäftigung, gleiche Bildungschancen für alle Kinder des V o l k e s . " ^ Im Zeitraum von 1971 bis 1985 wurde eine auf Wirtschaftswachstum beruhende Sozialpolitik realisiert, die durch folgende Grundzüge charakterisiert ist: Erstens: Ausgehend von der Erkenntnis, daß die Wechselbeziehungen zwischen den Arbeitsleistungen der Menschen, ihren Bildungsmöglichkeiten und den Wohnbedingungen immer mehr beachtet werden müssen, wurden mit dem Wohnungsbauprogramm entscheidende Schritte zur Lösung der Wohnungsfrage als soziales Problem verwirklicht. Wichtige Linien dabei waren - die Verbesserung der Wohnungsbedingungen für 7,9 Millionen Bürger bei besonderer Förderung von Arbeiterfamilien, Jungen Ehen und Familien mit mehreren Kindern; - Verbesserung dee Wohnkomforts bei gleichzeitiger Entwicklung der sozialen Infrastruktur (Krippen- und Kindergartenplätze eowie Schulen, medizinische, kulturelle und sportliche Einrichtungen); - Gewährleistung niedriger und stabiler Mieten (3 Prozent des Haushaltsnettoeinkommens) zur Gewährleistung einer einkommensunabhängigen Versorgung mit Wohnraum; - Einheit von Neubau und Modernisierung bei zunehmendem Stellenwert des in.nerstädti8chen Wohnungsbaus. Zweitens: Gewährleistung der Einheit von wirtschaftlichem Leistungsanstieg, wachsendem Realeinkommen und stabiler Versorgung der Bevölkerung. Das schließt ein: - die Einführung leistungsorientierter Löhne für 8,4 Millionen Arbeiter, Meister sowie Hoch- und Fachschulkader mit dem Ziel der wirksameren Durchsetzung des Prinzips "Jeder nach seinen Fähigkeiten - Jedem nach seiner Leistung"; - die Gewährleistung stabiler Verbraucherpreise für Waren des Grundbedarfs sowie für Mieten, Tarife und Dienstleistungen als unverzichtbarer Bestandteil sozialer Sicherheit und Geborgenheit; - die Herausbildung einer Waren- und Dienstleistungsstruktur, die dem wachsenden Familieneinkommen und sich ändernden Bedürfnissen der Menschen entspricht. Drittens: die wirkungsvollere Durchsetzung der Einheit von wissenschaftlich-technischem Fortschritt, sozialistischer Rationalisierung und Verbesserung der Arbeitsbedingungen. Dabei lagen die Schwerpunkte auf - der Neu- und Umgestaltung von Arbeitsplätzen unter Nutzung von Er-
24
16
E. Honecker, Bericht des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands an den XI. Parteitag der Sozialietischen Einheitspartei Deutschlands, Berlin 1986, S. 6.
kenntnissen der Wissenschaftlichen Arbeitsorganisation (WAO) bei Reduzierung von Arbeitserschwernissen und der Beseitigung von Unfallgefährdungen für Jährlich durchschnittlich 220 000 bis 230 000 Werktätige; - der Verbesserung der zeitlichen Arbeitsbedingungen durch Verkürzung der täglichen Arbeitszeit für ausgewählte Beschäftigtengruppen sowie der Erhöhung des ¿Jahresurlaubs bei besonderer Beachtung spezifischer Reproduktionserfordernisse für Schichtarbeiter und berufstätige Mütter; - dem Ausbau des Systems der sozialen und gesundheitlichen Betreuung der Werktätigen im Betrieb sowie der Verbesserung der Leistungen der Sozialversicherung im Falle von Arbeitsunfähigkeit. Viertens: Förderung der Familien mit Kindern und Unterstützung berufstätiger Mütter mit dem Ziel der Realisierung vorhandenen Kinderwunsches bei voller Berufstätigkeit. Das umfaßt - den Ausbau des finanziellen Leistungssystems bei Geburt von Kindern und für deren Erziehung; - die Erweiterung der Freistellung bei Geburt von Kindern, Einführung des Babyjahres für Mütter und Väter sowie Reduzierung der täglichen Arbeitszeit ; - die Unterstützung der Familienerziehung, der materiellen und finanziellen Unterstützung der Schul- und studentischen Ougend. Fünftens: Ausbau der materiellen, persönlichen und finanziellen Leistungen für die Veteranen durch - Ausbau der Einheit von Pflicht- und Zusatzrentenversicherung; - systematische Anhebung der Mindestrenten und Mindestsätze bei Verdoppelung des Gesamtaufwandes für Renten und gleichzeitige Anerkennung der gesellschaftlichen Leistungen von Müttern; - Entwicklung der Volkssolidarität zu einer Massenorganisation der sozialen und kulturellen Betreuung und Betätigung der Rentner. Sechstens: Feste Integration der sozialen Entwicklung in das System der Leitung, Planung und wirtschaftlichen Rechnungeführung bei wachsender Verantwortung der Gewerkschaften. Das schließt ein: - die finanzielle Sicherung aller sozialpolitischen Maßnahmen durch den Staatshaushalt der DDR bei wachsenden betrieblichen Fonds zur Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen; - die qualitative Vervollkommnung der Leitung und Planung sozialer Prozesse, insbesondere auf der Ebene der Kombinate und Betriebe; - die umfassende Entwicklung demokratischer Aktivitäten seitens der Gewerkschaften im Rahmen der Plandiskussion und des sozialistischen V/ettbewerbs als wichtigstem Ausdruck sozialer Aktivität zur Sicherung des erforderlichen Wirtschaftswachstums. Insgesamt wurde für die Bürger sichtbar, daß eine auf Wirtschaftswachstum beruhende Sozialpolitik weder auf ein System von Maßnahmen zur Sicherung von Existenzbedingungen zu begrenzen noch ein Privileg einzelner Gruppen oder Schichten ist, sondern die Gestaltung solcher sozialer Verhältnisse und Bedingungen, die eine gleichberechtigte Entwicklung aller Bürger ermöglichen. Sie ist eine Politik, die Leistungen des ein17
zelnen für die Gesellschaft
(im weitesten Sinne) durch die Gesellschaft
anerkennt und fördert. Sie ist keine Politik gegenüber Randgruppen der Gesellschaft, schließt jedoch die besondere Betreuung,
Unterstützung
und Fürsorge gegenüber jenen sozialen Gruppen ein, die nicht oder nur bedingt fähig sind, ihr Leben als Glied der Gesellschaft selbst zu gestalten. Sie ist eine sich an sozialer Gleichheit orientierende, das dem erreichten historischen Entwicklungsstand entsprechende Maß an Gleichheit gewährleistende und vorhandene soziale Unterschiede mindernde Politik. Durch die vom VIII. Parteitag der SED eingeleitete Politik der Haupt aufgabe in ihrer Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik begann auch eine neue Etappe soziologischer und sozialpolitischer Forschung. Die vom Parteitag begründeten Aufgaben zur Gestaltung der entwickelten zialistischen Gesellschaft in der DDR, die vor allem eine
so-
beschleunigte
Entwicklung der Produktivkräfte sowie ein höheres Niveau der. sozialen Beziehungen und des sozialistischen Bewußtseins erforderten eine Weiter entwicklung der sozialen Strategie . Der Mensch mit seinen
materiellen
und kulturellen Bedürfnissen, die Entfaltung seiner Persönlichkeit
und
die Entwicklung sozialistischer gesellschaftlicher Beziehungen wurden zum Grundanliegen der Wirtschaftspolitik. Diesem Grundanliegen waren die soziologischen und sozialpolitischen Forschungen gewidmet. Unter dem Thema "Der Beitrag der marxistisch-leninistischen
Soziologie zur
Leitung und Planung sozialer Prozesse bei der Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft in der DDR" fand im Mai 1974 der II. Soziologiekongreß statt. Durch gründliche Analysen und theoretische Ver allgemeinerungen der realen sozialen Prozesse konnte die Soziologie pro funde Aussagen zum Entwicklungsstand, den Tendenzen und zukünftigen Wicklungsperspektiven vor allem zu folgenden Themenkomplexen
Ent
erbringen.
1. Die Entwicklung der Struktur der Arbeiterklasse und der Beziehungen zwischen Arbeiterklasse und sozialistischer Intelligenz bei der Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft; 2. Die Entwicklung der Klasse der Genossenschaftsbauern
im Prozeß des U b e r g a n g s zur indu-
striemäßigen Produktion in der Landwirtschaft auf dem Wege der Kooperation; 3 . Lebensweise, Kultur, Persönlichkeit; 4 . Aktivität, Schöpfer25 tum, Leitung und Planung sozialer Prozesse. Von der Gewerkschaftshochschule wurde eine erste systematische Darstellung der marxistischleninistischen Sozialpolitik herausgegeben, in der gestützt auf soziologische Forschungen, der Einfluß der Sozialpolitik auf die Sozialstruk tur, die Lebensweise, das Lebensniveau und ausgewählte soziale Gruppen herausgearbeitet wurde. Die soziale Entwicklung kristallisierte sich al gemeinsames Anliegen von Soziologie und Sozialpolitik
heraus.
Auf dem IX. Parteitag der SED wurde die Gestaltung der entwickelten 25 26
18
Vgl. Soziologische Probleme der Klassenentwicklung in der DDR, Berlin 1975 (Schriftenreihe Soziologie). Vgl. Autorenkollektiv, Marxistisch-leninistische Sozialpolitik, Berlin 1975.
sozialistischen Gesellschaft als ein Prozeß tiefgreifender ökonomischer,
politischer, 27 sozialer und geistig-kultureller Wandlungen bestimmt. Ge-
stützt auf soziologische und sozialpolitische Forschungsergebnisse eigenständige Abschnitte über die Sozialstruktur und die
sozialistische
Lebensweise in das neue Parteiprogramm aufgenommen. Damit wurden gende Orientierungen
wurden
grundle-
für die weitere A u s g e s t a l t u n g der Sozialpolitik
geben. D a s neue Parteiprogramm stellte sowohl an die soziologische
ge-
For-
schung als auch an die Erhöhung der Wirksamkeit der Sozialpolitik
neue
Anforderungen. Diese Anforderungen ergaben sich vor allem aus den
sozial-
ökonomischen Grundprozessen und machten eine neue Qualität in der V e r b i n 28 dung von Soziologie und Sozialpolitik erforderlich. Mit Wirkung vom 1. Oanuar 1978 wurde deshalb an der Akademie der Wissenschaften der DDR im Forschungsbereich Gesellschaftswissenschaften
d a s Institut für Soziolo-
gie und Sozialpolitik gegründet. In der nunmehr zehnjährigen des Instituts für Soziologie und Sozialpolitik
Geschichte
(ISS) waren die A n g e h ö r i -
gen des ISS bemüht, durch die Einheit von Grundlagenforschung und angewandter Forschung und in interdisziplinärer Gemeinschaftsarbeit bei der Erforschung sozialer Grundprozesse eine hohe gesellschaftliche
Wirksam-
keit zu erreichen. Stets war es das besondere Anliegen, notwendige spektivische Aussagen über zu erreichende soziale Veränderungen
per-
in der
sozialistischen Gesellschaft durch auf hohem theoretischen N i v e a u de empirische soziologische, sozialpolitische und demographische
stehenAna-
lysen über die objektiven und subjektiven Wirkungsbedingungen der
sozia-
len Entwicklung und ihrer Gesetzmäßigkeiten zu gewinnen und S c h l u ß f o l g e rungen für die Sozialpolitik abzuleiten. In den letzten Jahren wurden entsprechend der Institutsthematik "Soziale Ziele, Bedingungen und Wirkungen ökonomischen Wachstums beim umfassenden Obergang zur rung" vor allem folgende Probleme
Intensivie-
bearbeitet:
- die Dialektik von Ökonomischem und Sozialem unter den Bedingungen der intensiv-erweiterten
Reproduktion,
- Bestimmung sozialer Ziele der ökonomischen Strategie der SED, - die Einheit von Sozialismus und Frieden und Entwicklung leistungsorientierten
Verhaltens im Kampf um den
- die soziale Determination demographischer
eines
Frieden,
Prozesse,
- die Anforderungen an die Disponibilität und Mobilität des gesellschaftlichen
Arbeitsvermögens,
- die sozialen Bedingungen und Aspekte des Leistungsverhaltens der Entwicklung und Nutzung des wissenschaftlich-technischen
bei
Fortschritts,
- Probleme der Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Mutterschaft unter den Bedingungen der
Intensivierung,
- das Wechselverhältnis von gesellschaftlichem A r b e i t s p r o z e ß und familialer 27 28
Lebensweise,
Vgl. Programm der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Berlin 1976, S. 19. Vgl. G. Winkler, Zur höheren Qualität der Verbindung von S o z i o l o gie und Sozialpolitik, ins Jahrbuch für Soziologie und S o z i a l p o l i tik 1980, Berlin 1980, S. 17-33.
19
- die soziale Determination des Aiternsprozesses, - soziale Aspekte der Umweltgestaltung und des Umweltverhaltens. Das Institut für Soziologie und Sozialpolitik ist neben dem Institut für Soziologie an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED die größte soziologische Forschungsinstitution in unserem Land. Die wissenschaftlichen Räte für "Sozialpolitik und Demografie", "Soziologische Forschung in der DDR" und "Die Frau in der sozialistischen Gesellschaft" kooperieren eng miteinander, um die theoretischen Grundlagen für die weitere Ausgestaltung der Sozialpolitik zu vertiefen. Dies fand auch in der gemeinsamen Vorbereitung des 3. Soziologiekongresses zum Thema "Lebensweise und Sozialstruktur" (1980) und des 4. Soziologiekongresses "Soziale Triebkräfte ökonomischen Wachstums" (1985) unmittelbaren Ausdruck. Mit der Orientierung der soziologischen und sozialpolitischen Forschungen auf die intensiv-erweiterte Reproduktion der Volkswirtschaft, die Beschleunigung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts zur Entwicklung der modernen Produktivkräfte und der Produktionsverhältnisse als Geflecht aller ökonomischen und sozialen Beziehungen im gesellschaftlichen Reproduktionsprozeß werden historisch neuartige Probleme des sozialen Fortschritts aufgeworfen, deren Inhalt unmittelbar den Gegenstand soziologischer und sozialpolitischer Forschungsarbeit bestimmt. Es gibt heute wohl kaum einen Gegenstand dieser Forschungen, der nicht von den globalen Problemen der Menschheitsentwicklung (Frieden und Abrüstung, Ökologie, Entwicklung bzw. Unterentwicklung, Bevölkerungsentwicklung, Beschäftigung, Ernährung bzw. Hunger, Gesundheit etc.) entscheidend geprägt würde. Konsequenzen für die Ausarbeitung sozialer Strategien, theoretischer Konzepte und adäquater Forschungsmethoden, die geeignet sein müssen, die Wechselwirkung von globalen und spezifischen, systemexternen und systeminternen Faktoren zu analysieren und zu erklären, müssen durchdacht werden. Zunehmende Bedeutung erlangen die Modellierung und Prognostizierung sozialer Prozesse und die Ausarbeitung von Varianten künftiger sozialer Entwicklung. Bei der Lösung dieser Aufgaben hat sich die Verbindung von Soziologie und Sozialpolitik stets aufs neue zu bewähren.
20
Ob. f. Soziologie und Sozialpolitik
1989
Hubert Laitko Disziplingenese als sozialer Prozeß
1. Prozesse der Disziplingenese als Thema der
Wissenschaftsforschung
und der soziologische Aspekt der Problematik Die moderne Wissenschaft existiert in Gestalt Tausender licher Disziplinen und SDezialgebiete. 1
unterschied-
Darin äußert sich ihre Gliede-
rung nach Erkenntnisgegenständen, Erkenntnisinhalten
und E r k e n n t n i s m e -
thoden, letzteres allerdings nur in gewissem Maße, da neben den d i s z i plinspezifischen Methoden auch disziplinübergreifende verwendet Diese Gliederungsdimension,
werden.
in der die Wissenschaft ihr d i s z i p l i n a r e s
Muster entfaltet, ist nicht ihre einzige, aber sie trägt
grundlegenden
und primären Charakter, denn Wissenschaft ist zunächst und vor allem so unzulänglich es wäre, dabei stehenzubleiben - als Erkenntnis bestimmt.
Disziplinen sind Entwicklungsformen der Erkenntnis, in ihrem
Rahmen erfolgt eine fortlaufende Erkenntnisproduktion. Zugleich aber weist das disziplinäre Muster eine hohe Dynamik auf, die Grenzen zwischen Disziplinen verschieben sich, und es werden ständig neue D i s z i plinen gebildet. Die Einführung des D i s z i p l i n b s g r i f f s in die B e t r a c h tung spaltet die Vorstellung vom Erkenntnisfortschritt
in zwei Ebenen
auf - die Ebene der disziplinären Erkenntnisentwicklung
einschließlich
der Wirkung, die aus der Wechselwirkung der Disziplinen
hervorgehen,
und die Ebene der Generierung neuer disziplinärer der E r k e n n t n i s .
Entwicklungsformen
3
So gesehen, erscheint die Herausbildung von Disziplinen, bezogen auf den Erkenntnisfortschritt,
als "Evolution der E v o l u t i o n " . 4 Die D y n a m i k
beliebiger Evolutionsprozesse ist davon abhängig, inwieweit der Formwandel, den der fortschreitende Verlauf solcher Prozesse von Zeit z u Zeit erforderlich macht, rechtzeitig und adäquat vor sich geht. V o r gänge der Disziplinentstehung
sind daher kritische O b e r g ä n g e im G e s a m t -
prozeß der Wissenschaftsentwicklung, 1
2 3 4
die in dem Maße, in dem sich die
Vgl. B. M . Kedrow, Klassifizierung der Wissenschaften, Bd. 1, 2, Berlin-Moskau 1975-1976! derselbe: Predmet i v z a i m o s v j a z e s t e s t v e n nych nauk, Moskva 1967; R. Rochhausen, Die Klassifikation der W i s s e n schaften als philosophisches Problem, Berlin 1968. Vgl. L. M. Kosareva, Predmet nauki, Moskva 1977. Vgl. A . Ogurcov, Disciplinarnost 1 vzaimodejstvije n a u k . Moskva 1986; Disciplinarnaja strukture nauki. CJeJo genezis i obosnovenie, M o s k v a 1988. D e r Begriff "Evolution der Evolution" wird begründet ins K. M . Savad8kij, 3e. I. Kolvinskij, "Evoljucija evoljucii", Leningrad 1977. 21
wissenschaftshistorische
Forschung der Aufhellung von Mechanismen
Erkenntnisfortschritts widmet, bei den Wissenschaftshistorikern mendes Interesse finden.
Dieses Interesse ist nicht nur
des
zuneh-
retrospektiv
orientiert, denn Prozesse der Disziplinentstehung kennzeichnen auch die Gegenwart der Wissenschaft, und es ist nicht abzusehen, daß die W i s s e n schaft etwa aufhören könnte, disziplinar strukturiert zu sein. Zwei historisch belegbare Umstände machen das Studium von Disziplingenesen zudem auch pragmatisch interessant. Einmal sind Disziplinen
solche
Struktureinheiten der Wissenschaft, die niemals auf einen nationalen Rahmen beschränkt bleiben; gelingt es, im Rahmen eines nationalen Wissenschaftssystems frühzeitig die heranreifende Notwendigkeit einer disziplinaren Neubildung zu diagnostizieren und daraus
wissenschaftsorga-
nisatorische Konsequenzen zu ziehen, dann ist das gleichbedeutend
mit
der Gewinnung von Vorlaufpositionen. Zum anderen ist die Herausbildung disziplinärer Keimzellen selten ein aufwendiger Vorgang. Sie wird in der Regel von Enthusiasten getragen, die sich mit größtem persönlichen gagement gegenüber der Trägheit der etablierten disziplinaren
En-
Struktur
durchsetzen. Diesen pragmatischen Vorteilen steht der Nachteil
gegen-
über, daß werdende Disziplinen embryonale Gebilde sind, die zunächst kaum den Reifegrad besitzen, der zur kontinuierlichen Erzeugung wirksamer Problemlösungen vonnöten ist. Die Förderung
praxis-
disziplinärer
Neubildungen ist daher eine Strategie, die sich erst auf längere Sicht, dann aber auch mit hoher Wahrscheinlichkeit
auszahlt.
Es trifft unzweifelhaft zu, daß die Entstehung von Disziplinen neue Erkenntnismöglichkeiten
schafft und daher zuerst und vor allem mit
Wandlungen auf der kognitiven Ebene verbunden sein muß. Wenn man sich aber allein darauf orientiert, das Werden einer Disziplin anhand der Akkumulation von Wissen über den disziplinaren Gegenstand
nachzuzeich-
nen, dann wird man zu einer seltsamen Konsequenz geführt. Elemente des Wissens über die Gegenstände der verschiedensten Disziplinen haben oftmals eine Tradition, die über Jahrhunderte, über Jahrtausende oder gar bis in die Geschichte der Urgemeinschaft zurückreicht. Der Mensch der Urgeschichte verfügt unbestreitbar über elementare biologische oder me5
22
In der D D R fanden längere Bemühungen in dieser Richtung einen vorläufigen Höhepunkt in einem Symposium zur Entstehung w i s s e n s c h a f t licher Disziplinen in der Geschichte, das im Dezember 1982 an der Wilhelm-Pieck-Universität Rostock durchgeführt wurde. Die hauptsächlichen Ergebnisse dieses Symposiums sind in den nachstehend genannten Publikationen enthalten: Der Ursprung der modernen W i s s e n schaften. Studien zur Entstehung wissenschaftlicher Disziplinen, herausgegeben von M . Guntau, H. Laitko, Berlin 1987; Studien zur Entstehungsgeschichte naturwissenschaftlicher Disziplinen. Rostocker Wissenschaftshistorische Manuskripte, Rostock, 10/1984; Studien zur Entstehungsgeschichte technikwissenschaftlicher Disziplinen, A k a d e mie der Wissenschaften der DDR, Institut für Theorie, Geschichte und Organisation der Wissenschaft, Berlin, Kolloquien 51, 1985; Studien zur Entstehungsgeschichte human- und gesellschaftswissenschaftlicher Disziplinen, A k a d e m i e der Wissenschaften der DDR, Institut für Theorie, Geschichte und Organisation der Wissenschaft, Berlin, Kolloquien 52, 1986,
chanische Kenntnisse, lange bevor von einer wissenschaftlichen
Biologie
oder einer wissenschaftlichen Mechanik die Rede sein konnte. D i s z i p l i n genesen als qualitativ bestimmte Vorgänge entziehen sich der W a h r n e h mung, wenn man sie aus einer rein kognitiven Perspektive sieht. A n d e r s verhält es sich, wenn man von der Annahme ausgeht, daß der zentrale Prozeß einer Disziplingenese die Entstehung eines neuen M o d u s w i s s e n schaftlicher Tätigkeit ist, der durch den ausschließlichen
kognitiven
Bezug auf einen bestimmten Gegenstand charakterisiert w i r d . ^ D i e s e r G e genstand kann mit Hilfe moderner Experimentaltechnik ganz neu
erschlos-
sen worden sein, wie es etwa bei der Physik der Elementarteilchen
der
Fall ist, aber sehr häufig verhält es sich so, daß über den Gegenstand der werdenden Disziplin schon umfangreiches Wissen vorhanden ist, sei es auf der Ebene der praktischen Alltagserfahrung,
sei e s auf der Ebene
präexistenter Disziplinen, in deren Domänen dieser G e g e n s t a n d
tangiert
wird, sei es auf der Ebene der Philosophie, die in ihren Kategorien
re-
ale Zusammenhänge von weltanschaulicher Bedeutung oftmals schon lange vor dem Heranreifen der Möglichkeit ihrer spezialwissenschaftlichen
Be-
handlung thematisiert, wie es besonders eindrucksvoll an d e r bis in die Antike zurückreichenden philosophischen Vorgeschichte der Psychologie zu erkennen i s t . 7 Diese Kenntnisse und Methoden werden mit der D i s z i plinbildung durch ein neues System w i s s e n s c h a f t l i c h e r Tätigkeiten o griert und damit aus ihren bisherigen Zusammenhängen gelöst.
inte-
Wenn eine Veränderung der Tätigkeitsweise, des V e r h a l t e n s und damit auch der interpersonellen Beziehungen von Wissenschaftlern der entscheidende Vorgang der Disziplingenese ist, dann verlangt die U n t e r suchung dieses Phänomens, die Wissenschaft als ein soziales System aufzufassen und entsprechende Begriffe und Methoden zu ihrer A b b i l d u n g zu verwenden. Obwohl diese Betrachtungsweise wesentlich vom M a r x i s m u s in g die Wissenschaftsgeschichte eingeführt worden ist , hat die von marxistisch-leninistischen Positionen ausgehende G e s c h i c h t s s c h r e i b u n g Wissenschaft nur zögernd Wege gefunden, diese neue Grundlegung
der
syste-
matisch in ihre eigene Methodologie umzusetzen, und ist von einer
6
7
8
9
Vgl. H. Laitko, Disziplingenese als Objekt v e r g l e i c h e n d e r U n t e r suchung - Prämissen und Fragen zum Symposium "Zur Herausbildung w i s senschaftlicher Disziplinen", Dezember 1982, in: Probleme der D i s z i plingenese in der Wissenschaftsgeschichte und W i s s e n s c h a f t s a e schichtsschreibung. Rostocker Wissenschaftshistorische M a n u s k r i p t e , a.a.O., 8/1982, S. 9-10. Vgl. L. Sprung, H. Sprung, Zur Genese der P s y c h o l o g i e . Ursprünge und Entwicklungslinien einer neuen Wissenschaft, in: Studien zur E n t stehungsgeschichte human- und gesellschaftswissenschaftlicher D i s z i plinen, a.a.O., S. 1-4. Vgl. M . Guntau, Gedanken zur Herausbildung w i s s e n s c h a f t l i c h e r D i s z i plinen in der Geschichte und zu Problemen der D i s z i p l i n g e n e s e in der Wissenschaftsgeschichtsschreibung, in: Probleme der D i s z i p l i n g e n e s e in der Wissenschaftsgeschichte und W i s s e n s c h a f t s g e s c h i c h t s s c h r e i b u n g , a.a.O., S. 35Vgl. 0. D . B e m a l , Die soziale Funktion der Wissenschaft, hg. von H. Steiner, Berlin 1986. 23
einigermaßen vollständigen Lösung dieser Aufgabe noch weit Erschwerend wirkt hier der Umstand, daß eine marxistisch Wissenschaftssoziologie an der Schnittstelle von
entfernt.
orientierte
Wissenschaftsforschung
und Soziologie bisher kaum als ein eigenständiges Spezialgebiet
ausge-
prägt ist, dem die Wissenschaftshistoriker ein auf ihre eigentlichen Aufgaben schon hinreichend spezifiziertes und zugleich in sich konsi11 stentes Ensemble von Begriffen und Methoden entnehmen könnten. Daher kann man den gegenwärtigen Stand der Beschäftigung von Wissenschaftshistorikern mit soziologischen Aspekten ihrer Thematik großenteils nur als ein Namhaftmachen lohnender Felder für die
Wissenschaftssoziologie
ansehen, deren angemessene Bearbeitung noch aussteht. Ein solches Feld dürften auch die Disziplingenesen sein. Wissenschaftshistorische Arbeit hat darin eine Gruppe von Vorgängen
erschlos-
sen, die in der Wissenschaft der Neuzeit mindestens seit dem 18. Jahrhundert von allgemeiner Bedeutung sind und deren Vergleichbarkeit
über
die unterschiedlichsten Gegenstandsbereiche hinweg einen wissenschafts12 soziologischen Zugriff möglich erscheinen läßt.
Diese Gruppe ist bis-
her nur unscharf abgegrenzt, denn eigentliche Disziplinen lassen nur bedingt von subdisziplinären und von supradisziplinären
sich
Systemen
unterscheiden. Man kann hoffen, daß die wissenschaftssoziologische
Be-
arbeitung das in den analysierten Vorgängen Vergleichbare genauer bestimmen und damit auch unser Wissen vom Wesen der Disziplinbildung
in
der Wissenschaft vertiefen wird. Die Chancen für eine quantitative A n a lyse sind differenziert einzuschätzen; in der Regel sind Disziplingenesen international sich erstreckende Prozesse, und die
Wissenschaftssta-
tistik, soweit sie für historische Untersuchungen überhaupt zur V e r f ü gung steht, ist auf solche Fragen kaum zugeschnitten. Doch schon eine konsequente qualitative Interpretation dessen, w a s die wissenschaftshistorische Forschung beschreibend vorstellt, würde im gegenwärtigen Stadium aus soziologischer Sicht einen spürbaren Fortschritt
erbringen.
Disziplingenesen sind Prozesse in der Wissenschaft, in denen tiver und sozialer Wandel eng mit einander verbunden sind. Die
kognisozialen
Veränderungen bewegen sich dabei auf einer Ebene, die durch die, im weitesten Sinn verstandenen, technologischen Anforderungen des wissen10
In der bürgerlichen Wissenschaftsforschung ist die marxistische A n regung, die Sozialgeschichte der Wissenschaft zu untersuchen, in großem Umfang aufgegriffen worden. A l l e r d i n g s verstand man hier diese Anregung meist nur als Hinweis zur Erschließung neuer empirischer Felder, während die materialistische Theorie der Geschichte entweder gar nicht oder allenfalls eklektisch genutzt wurde. VQI. R. Mac Leod, Changing Perspectives in the Social History of Science, in: I. Spiegel-Rösing, D. de Solla Price, Science, Technology and Society. A Cross-Disciplinary Perspective, London-Beverly Hills 1977, S.149-
11
Vgl. Socioiogiceskie problemy nauki, Moskva 1974; N. Oachiel, Soziologie und Wissenschaft, Köln 1978; B. Weidling, "Soziologie der Wissenschaft" - ein theoretisches oder methodologisches Problem?, in: Arbeitsblätter zur Wissenschaftsgeschichte, Halle, 10/1981, S. 57-65. Vgl. M. Guntau, H. Laitko, Entstehung und Wesen wissenschaftlicher Disziplinen, in: Der Ursprung der modernen Wissenschaften. Studien zur Entstehung wissenschaftlicher Disziplinen, a.a.O., S. 17-89.
180.
12
24
schaftlichen Arbeiteprozesses unmittelbar determiniert wird. Sie betreffen die Qualifikations- und Verhaltensprofile der Individuen im Arbeitsprozeß und deren normative Prägung, ihre Kooperations- und Kommunikationsbeziehungen und die institutionelle Fixierung dieser Beziehungen. Das disziplinare Muster der Wissenschaft befindet eich in einem unaufhörlichen Wandel. Sowohl die Inangriffnahme neuer Forschungsthemen als auch der stadiale Verlauf der Bearbeitung ein und desselben Themas rufen immer wieder Veränderungen, Umorientierungen in den Kommunikations- und Kooperationsbeziehungen hervor. Man kann sagen, daß strukturelle Fluktuationen gleichsam den Grundzustand des disziplinären Musters darstellen. Von einer Oisziplinbildung werden wir nur sprechen, wenn solche Veränderungen in einer bestimmten Richtung stabilisiert und aus dem sozialen Gewebe der Wissenschaft Strukturen arbeitsteilig ausgegrenzt werden, die sich gegenüber dem Wechsel der Forschungsthemen und dem Generationswechsel der Bearbeiter in der Zeit erhalten. Vielleicht ist das wichtigste Ergebnis der bisherigen wissenschaftshletoriechen Studien zu Disziplingenesen die Einsicht, daß eolche Prozesse über intermediäre protodieziplinäre Strukturen verlaufen, in denen die Strukturbildung noch reversibel ist, die wissenschaftliche Umgebung also eine protodisziplinäre Struktur wieder zu resorbieren vermag. Ein instruktives Beispiel dafür bieten die verschiedenen früheren Versuche, im Ensemble der marxistisch-leninistischen Gesellschaftswissenschaften eine besondere Organisationswissenschaft zu etablieren; die Resorption dieser Ansätze erfolgte derart, daß Probleme sozialer Organisation nach wie vor im Rahmen anderer gesellschaftswissenschaftlicher Disziplinen wie den Staats- und Rechtswissenschaften, den Wirtschaftswissenschaften, der Soziologie usw. behandelt werden. Disziplingenesen sind daher nicht als Automatismen anzusehen, die sich mit einer Art naturgesetzlicher Zwangsläufigkeit durcheetzen. Die globale Frage, inwieweit der Erkenntnisfortschritt der Gesamtwissenschaft in alternativen disziplinären Mustern gewährleistet werden könnte, läßt sich auf dem heutigen Stand der Wissenschaftsforschung noch nicht ernsthaft erörtern. Im einzelnen enthalten Disziplingeneeen jedenfalls rlsikobeladene Obergangszustände von hoher Unbestimmtheit. Dadurch entstehen Spielräume für das Wirken überdurchechnittlicher Persönlichkeiten, die mit ihren in kritischen Situationen vollbrachten Leistungen maßgeblich dazu beitragen, die Wahrscheinlichkeit der Stabilisierung einer neuen disziplinären Struktur zu erhöhen. Daraus wird die in der Tradition bereits etablierter Disziplinen häufig zu beobachtende Neigung verständlich, bestimmte Persönlichkeiten als die "Väter" oder "Begründer" des betreffenden Gebietes anzusehen - W. Ostwald als Begründer der Physikochemie, M. Planck als Begründer der Quantenphysik*, M. Delbrück als Begründer der Molekulargenetik usw. In der Tat aber sind Disziplinen ale kommunikativ und kooperativ integrierte Tätigkeltssysteme niemals mit dem Werk einzelner zu identifizierenj ein solches 25
Werk wird genau in dem Maße zum Entwicklungsfaktor einer Disziplin, in dem es in ein entstehendes disziplinares Tätigkeitssystem Eingang findet. Es gibt nicht wenige Beispiele dafür, daß Erkenntnisleistungen großer Gelehrter, die im Prinzip als konzeptuale Basen neuer Disziplinen geeignet gewesen wären, es verfehlten, eine entsprechende Disziplinbildung zu initiieren, weil aus irgendwelchen Gründen die Bedingungen dafür nicht reif waren. Schon vor ¿Jahrzehnten, lange vor dem Eintreten einer kritischen globalökonomischen Situation, hätte die globale Ökologie als Wissenschaftsdisziplin geschaffen werden können. In dem weitblickenden Bio- und Noosphärekonzept von V. Vernadskij wäre dafür eine perspektivreiche konzeptuale Basis vorhanden gewesen, doch die Einsicht in die zunehmende Dringlichkeit einer solchen Forschungsrichtung reichte damals - aus historisch verständlichen Gründen - nicht aus, um einen 13 Disziplinbildungsprozeß in die Wege zu leiten. Der Oberblick über zahlreiche Fälle von Disziplingenesen hat gezeigt, daß die Abläufe jeweils stark individualisiert sind. Bisher ist es nicht gelungen, die Vielfalt in einer zufriedenstellenden Typologie der Verläufe zu erfassen. Häufig entstehen die neuen disziplinaren Tätigkeitssysteme vor ihrer institutionellen Fixierung, doch es kommt auch vor, daß institutionelle Neubildungen zum Ausgangspunkt des ganzen Prozesses werden. Die folgende Darstellung ist nicht als ein ideales AblaufSchema von Disziplingenesen zu verstehen; vielmehr wird der Versuch unternommen, die Architektur der sozialen Seite von Disziplinbildungsprozessen in ihrem logischen Zusammenhang zu skizzieren, unabhängig davon, in welcher Zeitfolge die einzelnen Momente im realen geschichtlichen Ablauf a u f t r e t e n . ^ 2. Grundzüge sozialer Vorgänge im Prozeß der Disziplingenese 2.1. Problemfelder und ihre Wahrnehmung als Basis protodisziplinärer Kommunikationsnetze In der Umgangssprache und teilweise in der wissenschaftlichen Terminologie begegnet man auch einem sehr weitgefaßten Disziplinbegriff! danach bedeutete "Disziplin" entweder ein bestimmtes normen- und regelgeleitetes Gebiet menschlicher Tätigkeit (so etwa die verschiedenen sportlichen Disziplinen) oder eine durch Befolgung dieser Normen und Regeln gekennzeichnete individuelle oder kollektive Verhaltensqualität (militärische Disziplin, Arbeitsdisziplin, Studiendisziplin). Dieser Begriff ist auf die Sphäre der geistigen Tätigkeit sinngemäß anwendbar. 13 14
26
Vgl. A. S. Sirjaeva, Ekologija celoveka i sintez naucnych znanij, in: Vzaimodejstvie nhscestva 1 orirody. Filosofsko-metodologiceskie aspekty ekologlceskoj problemy, Moskva 1986, S. 270-283. Hypothesen über die Morphologie von Disziplingenesen werden erörtert in: M. Guntau, Zur Herausbildung wiseenschaftlicher Disziplinen in der Geschichte (Thesen), a.a.O., 1/1978, S. 15-17} derselbe: Gedanken zur Herausbildung wissenschaftlicher Disziplinen in der Geschichte und zu Problemen der Disziplingeneee in der Wissenschaftsgeschichtsschreibung, a.a.O., S. 33-39; M. Guntau, H. Laitko, Entstehung und Wesen wissenschaftlicher Disziplinen, a.a.O., S.55-59.
Man kann eine funktionell bestimmte Art dieser Tätigkeit, etwa die technische Entwicklung oder die analytische Tätigkeit zur Vorbereitung von Leitungsentscheidungen, durchaus als eine Disziplin der geistigen Arbeit auffassen, obwohl der Terminus selbst in diesem Zusammenhang in der Regel nicht verwendet wird, denn die praktischen Funktionen, denen diese Tätigkeiten subsumiert sind, prägen ihnen ganz spezifische, vielfach streng verbindliche und teilweise sogar juristisch bestimmte Normen auf. So schreibt S. Toulmin: "Ein kollektives menschliches Unternehmen nimmt dann die Form einer sich vernunftorientiert entwickelnden 'Disziplin* an, wenn die gemeinsame Orientierung der Menschen an einer hinreichend unstrittigen Menge von Idealen zur Entwicklung eines isolierbaren und in sich selbst sinnvollen Arsenals von Verfahren führt und wenn diese Verfahren aus Gründen der unvollständigen Erfüllung die15 ser Disziplinideale verändert werden können." Wissenschaftsdisziplinen fügen sich diesem umfassenden Disziplinbegriff, sind aber als eine seiner Teilklassen darüber hinaus durch eine wesentliche Besonderheit gekennzeichnet. Die normative Bestimmtheit einer wissenschaftlichen Disziplin ist nicht durch irgendwelche Erfordernisse praktischer Anwendung der Erkenntnis, sondern allein durch den kognitiven Bezug auf einen bestimmten Gegenstand geprägt. Ihre erste und unterscheidende Aufgabe besteht darin, den Gegenstand in seinen wesentlichen Zusammenhängen so abzubilden, wie er ist, unabhängig von den subjektiven Bedürfnissen und Wünschen, die das Interesse an diesem Gegenstand motivieren mögen. Das gilt auch dann, und ist dann mit besonderen erkenntnistheoretischen und methodologischen Schwierigkeiten verbunden, wenn menschliche Bedürfnisse selbst zum Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis werden. Unerläßliche Bedingung für die Entstehung einer WisseiTscha^tsdisziplin ist daher, daß das Subjekt wissenschaftlicher Tätigkeit kognitiv und motivational in der Lage ist bzw. in die Lage versetzt wird, den Gegenstand unter der Form des (Erkenntnis)objekts zu sehen, eine objektivierende Haltung ihm gegenüber einzunehmen 1 6 . Das bedeutet selbstverständlich nicht, daß Forderungen der Praxis für die Bildung von Wissenschaftsdisziplinen etwa ohne Bedeutung wären. Im Gegenteil, vielfach - etwa bei der Herausbildung der Geolo17 gie oder bei der Entstehung der verschiedenen technikwissenschaft4g liehen Disziplinen , ganz zu schweigen von den modernen physikalischtechnischen Gebieten, die unmittelbar mit den Hochtechnologien der wissenschaftlich-technischen Revolution korreliert sind - üben diese For15 16 17 18
S. Toulmin. Kritik der kollektiven Vernunft, Frankfurt a. Main 1978, S. 419. Vgl. H. Laitko. Wissenschaft als allgemeine Arbeit, Berlin 1979, S. B0-93. Vgl. M. Guntau, Die Genesis der Geologie als Wissenschaft. Schriftenreihe für geologische Wissenschaften, Berlin, 22/1984, S. 20-26. Vgl. G. Buchheim, Zur Herausbildung der Technikwissenschaften - Probleme wissenschaftshistorischer Untersuchungen, in: Dresdener Beiträge zur Geschichte der Technikwissenschaften, Dresden, 1/1980, S. 12-34. 27
derungen und die Einsicht in ihre Dringlichkeit einen kräftigen Motivationsdruck auf die wissenschaftlichen Bestrebungen aus, die zur Disziplinbildung führen. Entscheidend ist aber, daß es gelingt, eine Wissenschaf tlich-objektivierende Haltung gegenüber dem anvisierten Gegenstand herzustellen. Das ist keine unmittelbare Folge des Praxisdrucks im Gegenteil, die Erkenntnis muß gegenüber ihrer praktischen Zweckbindung zunächst einmal methodische Distanz gewinnen. Es hängt auch nicht vom guten Willen ab, sondern davon, inwieweit die objektive Abbildung bestimmter gesetzmäßiger Zusammenhänge von der bisherigen Entwicklung der wissenschaftlichen Erkenntnis ermöglicht wird. Insofern ist die Bildung neuer Disziplinen in den Gesamtprozeß der Wissenschaftsentwicklung als dessen organisches Moment eingebettet und kann nicht außerhalb dieses Zusammenhanges behandelt werden¡das setzt übrigens auch der Möglichkeit Grenzen, Disziplinbildungsprozesse bewußt zu organisieren. Solange ein kognitiver Bezug dieses Niveaus nicht hergestellt werden kann, bleibt die Reflexion der betreffenden Problematik in das praktische Handeln eingeschlossen. So enthält die analytisch-diagnostische Komponente der gesellschaftlichen Leitungstätigkeit zu jeder Zeit eine Fülle von Keimen für gesellschaftswissenschaftliche Disziplinen, die vielleicht künftig einmal entstehen werden. Themen von hoher weltanschaulicher Relevanz werden oftmals lange Zeit, bevor sie fachwissenechaftlich werden, bereits in der Philosophie oder auch in den Künsten - insbesondere in der Literatur - reflektiert. Die Fähigkeit, Gegenstände in Abstraktion von der Zweckbindung des Umgangs mit ihnen zu erfassen, ist konstitutiv für die Wissenschaft überhaupt, und die Herausbildung dieeer Fähigkeit als ein relativ spätes Produkt der historischen Entwicklung der menschlichen Gessllschaft erklärt die primäre Entstehung der Wisssnschaft. Der Autor folgt hier Überlegungen von E. Schwarzkopf, der die totale Negation der mythologischen Weltsicht und die Entstehung der Intention, die Welt aus sich selbst zu verstehen, als historische und systematische Bedingung Jeg19 licher Wissenschaft auffaßt. Dann ergibt sich, daß die primäre Entstehung der Wissenschaft in der griechischen Antike lokalisiert ist. Die vorgriechischen Formen spezialisierten Erkenntnisgewinns wie die Astronomie und die Mathematik des alten Orients - von Schwarzkopf als "Spezialdisziplinen praktischen Wissens" bezeichnet - sind demgegenüber noch mythologisch integriert und bleiben, wie schon aus der Rezeptform des in ihnen enthaltenen Wissens ersichtlich ist, in das praktische Le-
20
ben eingeschlossen. Für unsere Problematik ist diee insofern von Belang, als die für die Wissenschaft konstitutive objektivierende Erkenntnishaltung auf jegliche strukturelle Neubildung innerhalb der Wissenschaft übertragen 19 20
28
Vgl. E. Schwarzkopf, Das Problem der Wissenschaftsentstehung. Dissertation B, Humboldt-Universität, Berlin 1971, S. 13-17. Ebenda, S. 85-92.
wird. Deshalb ist es für die Bildung einer Wissenschaftsdisziplin
grund-
legend, daß aus den Erfordernissen, die den Erkenntnisfortschritt
moti-
vieren, eine Gruppe reiner, das heißt von allen
Applikationsforderungen
abstrahierter und nur auf die adäquate Erfassung des betreffenden
Gegen-
standes bezogener, Erkenntnisprobleme abgetrennt werden kann, die ihre spezialisierte und systematische Behandlung unumgänglich oder w e n i g s t e n s zweckmäßig erscheinen lassen und zudem so beschaffen sind, d a ß sie a l ler Wahrscheinlichkeit nicht in einer zeitlich begrenzten A k t i o n zu lösen sind, sondern eine weite Erkenntnisperspektive v e r s p r e c h e n . Häufig verhält es sich so, daß an verschiedenen Stellen unabhängig
Probleme
auftauchen, die der Behandlung mit den herkömmlichen Mitteln
hartnäckig
widerstehen; aus der Einsicht in Gemeinsamkeiten a l l e r dieser P r o b l e m e erwachsen Austauschbeziehungen, die die unterschiedlichen koordinieren und in eine einheitliche Richtung lenken. Die
Bestrebungen Konfrontation
mit solchen Problemen ist charakteristisch für den Obergang von der V o r geschichte zur Initialphase der eigentlichen D i s z i p l i n g e n e s e . In der Entstehungsgeschichte der modernen, quantentheoretisch begründeten krophysik beispielsweise erwies es sich, daß die
Mi-
Nichtübereinstimmungen
zwischen den mit den "halbklassischen" Versionen der Q u a n t e n t h e o r i e , insbesondere dem Bohrschen Atommodell, errechneten Werten und den e x p e rimentellen Meßwerten um so größer wurden, je komplizierter die in A n griff genommenen Probleme waren. D a h e r verbreitete sich, nachdem
alle
Versuche fehlgeschlagen waren, mit w e n i g e r radikalen Mitteln einen A u s weg zu erreichen, unter den Physikern das Bewußtsein von der N o t w e n d i g keit, eine Quantenmechanik als theoretische B a s i s des Studiums der M i kroweit zu schaffen, die auf grundsätzlich neuartigen Prinzipien
be-
ruhte. N. B o h r s Institut in Kopenhagen, an dem ständig Physiker a u s a l ler Welt zu Gast waren, bildete das Zentrum d i e s e s P r o z e s s e s z u n e h m e n der Vertiefung des
Problembewußtseins.
21
Eine Disziplinbildung ohne das theoretische Bewußtsein e i n e s F e l d e s miteinander verwandter und zur Lösung anstehender 22
ist unmöglich.
Erkenntnisprobleme
Keineswegs immer führt aber die Diagnose eines
solchen
Problemfeldes zu einem grundlegenden D u r c h b r u c h in Gestalt einer einheitlichen, konsistenten, dem ganzen G e g e n s t a n d umgreifenden und w o m ö g lich noch mathematisch ausgeformten T h e o r i e . O f t m a l s muß ein w e n i g e r starker A u s d r u c k der Gemeinsamkeit des G e g e n s t a n d e s genügen, um die d i s ziplinäre A r b e i t zu integrieren; es ist d u r c h a u s möglich, daß in ein und derselben Disziplin Uber längere Zeit kontroverse theoretische A n 21 22
V g l . U. Röseoerg, Niels Bohr. Leben und Werk e i n e s A t o m p h y s i k e r s 1885-1962, Berlin 1985, S. 82-155. Der Begriff des Problemfeldes w i r d - a l l e r d i n g s ohne jegliche B e ziehung zum Disziplinbegriff - erörtert ins A . Gorziza, E. Lang, W. Wächter, Problemfelder als Forschungsgegenstand. Einige Grund-, lagen der A n a l y s e von Problemfeldern in der W i s s e n s c h a f t l i c h e n F o r schung, Akademie der Wissenschaften der DDR, Institut für Theorie, Geschichte und Organisation der Wissenschaft, Studien und Forechungsberichte, Berlin 3/1974. 29
Sätze existieren, ohne die Einheit'der Oisziplin zu sprengen. Das war beispielsweise in der Biologie und in der Psychologie ausgeprägt der Fall. E. Fabian formuliert sogar die Hypothese von der Allgemeingültigkeit einer solchen Polarisierung: "Die Entstehung einer wissenschaftlichen Disziplin ist an die Existenz alternativer Erkenntnisweisen auf einem Entwicklungsniveau ihrer gedanklichen Grundlagen gebunden, das deren Ausprägung zu wissenschaftlichen Traditionen möglich werden 23 läßt." Das Bewußtsein von der Gemeinsamkeit der Probleme wird im Laufe der Zeit ergänzt und verankert durch einen Konsens im empirischen Umgang mit dem Gegenstand, der zu einem im theoretischen Meinungsstreit invarianten Vorrat von Fakten (Tatsachen) führt. Nach dem Charakter des Problemfeldes lassen sich verschiedene Formen der Disziplingenese unterscheiden. In jedem Fall ist es möglich, daß praktische Bedürfnisse die Bemühungen um Verselbständigung des Gebietes vorantreiben, doch in keinem Fall ist das theoretische Bewußtsein des neuen Gebietes deren unmittelbares Derivat. Hier ist nicht beabsichtigt, eine Klassifikation oder Typologie möglicher kognitiver Kernprozesse von Disziplingenesen zu geben; es sollen lediglich einige häufig zu beobachtende Fälle genannt werden: Erstens, Segmentierung präexistenter Disziplinen. Das ist der wohl unkomplizierteste Fall einer Disziplinbildung. Die Akkumulation von Kenntnissen innerhalb einer Disziplin ebenso wie die Diversifizierung ihrer Methoden, deren Gesamtensemble nicht mehr von ein und demselben Fachvertreter beherrscht werden kann, führt dazu, daß die stets vorhandene innerdisziplinäre Arbeiteteilung in die Ausgrenzung von Spezialgebieten hinüberwächst. Die konzentrierte Beschäftigung mit dem engeren Gegenstandsbereich hat die Organisation des Wissens in speziellen Theorien zur Folge, die methodische Ausstattung spezifiziert sich usw. Das Kaderpotential rekrutiert sich aus den Fachleuten der Stammdisziplin, die sich allmählich in der neuen Richtung spezialisieren. So entstanden auf dem Boden der organischen Chemie Spezialgebiete wie die Chemie der Heterozyklen, die Innere Medizin verzweigte sich nach Organen und Krankheitsbildern in eine Vielzahl von Richtungen, die Wirtschaftswissenschaft brachte in Abhängigkeit davon, in welchem Gebiet der gesellschaftlichen Tätigkeit die ökonomischen Beziehungen untersucht werden, eine Vielzahl von "Ökonomiken" hervor usw. Der Verlauf eines solchen Differenzierungsprozesses wird von H. Scholz am Beispiel der Entstehung der organischen Chemie instruktiv dargestellt. 2 4 Zweitens, Abheben übergreifender Strukturen aus den theoretischen 23
24
30
E. Fabian, Kristallographie« Die Entstehung einer Wissenschaft im Spannungsfeld wissenschaftlicher Traditionen, in: Der Ursprung der modernen Wisssnschaften. Studien zur Entstehung wissenschaftlicher Disziplinen, hg. von M. Guntau, H. Laitko, a.a.O.. S. 125. > Vgl. H. Scholz, Die Entstehung der organischen Chemie als Teildiszi. plin der Chemie, in: ebenda, S. 154-167.
Systemen verschiedener präexistenter Disziplinen.
Dieses Verfahren -
ein leistungsfähiger Weg zur Integration des Wissens - ist insbesondere aus der Entwicklung der Mathematik bekannt. Zahlreiche
mathematische
Spezialgebiete integrierenden Charakters wie die Gruppentheorie, die 25 Mengenlehre usw. sind auf diesem Wege entstanden. Von der Mathematik aus hat dieser methodische Impetus auf die Sprachwissenschaft (strukpc turelle Linguistik) , die Ethnographie und überhaupt viele Bereiche der Natur- und Gesellschaftswissenschaften eingewirkt. Er liefert das charakteristische Entstehungsmuster der sogenannten
strukturwissen-
schaftlichen Disziplinen, deren Vorbild - auch in Hinblick27 auf das Niveau der methodologischen Reflexion - die Kybernetik war. Damit sich Disziplinen dieser Art bilden können, dürfte allerdings ein hoher Standard theoretischer Durcharbeitung der Ausgangsgebiete eine
unerläßliche
Bedingung sein. Für die primäre Konzeptualisierung von Bereichen, die bisher allein Gegenstand vorwissenschaftlicher praktischer Erfahrung waren, eignet sich dieser Weg kaum. Drittens, interdisziplinäre Synthese als Modus der Bildung von Disziplinen, die sich im Schnittbereich der Gegenstände zweier oder mehrerer präexistenter Disziplinen ausprägen. Diese Art von Disziplingenesen ist kognitiv besonders problematisch, weil sie nichttriviale theoretische Synthesen einschließt, in denen die theoretischen Basen mehrerer Disziplinen, die im allgemeinen nicht einfach miteinander verkettbar sind, zusammengedacht werden müssen; dafür liegen hier aber auch bevorzugte Wachstumspunkte für die Vertiefung der menschlichen Erkennt28
nis.
Viele Gebiete, die als Grenz- oder Obergangsdisziplinen
bekannt
und vielfach auch schon in ihrer Beziehung als solche ausgewiesen
sind
Humanökologie, Sozialhygiene usw. - , - Biochemie, Psychophysiologie, 29 entstehen auf diese Weise. De mehr die Ausgangsgebiete in ihren theoretischen und methodologischen Orientierungen divergieren, um so schwieriger, aber auch um so vielversprechender wird die Schaffung eines Obergangsgebietes. Der Gedankenaustausch zu aktuellen Fragen der Interdisziplinarität hat verdeutlicht, daß sich diese nicht in der 25 26 27 28
29
Vgl. H. Wußing, Die Genesis des abstrakten Gruppenbegriffe, Berlin 1969; N. Bourbaki, Ocerki po istorii matematiki, Moskva 1963. Vgl. G. Heibig, Geschichte der neueren Sprachwiesenschaft, Leipzig 1986, S. 46-118, 261-339. Vgl, V. S. Tjuchtin, Kibernetika i voprosy sinteza naucnogo znanija, in: Sintez sovremennogo naucnogo znanija, Moskva 1973, S. 250-274. Vgl. E. M. Mirskij, Mezdisciplinarnye issledovanija i disciplinarnaja organizacija nauki, Moskva 1980; O . M. Sicivica, Sloznye formy integracii nauki, Moskva 1983; Interdisziplinarität in der Forschung. Analysen und Fallstudien, hg. von H. Parthey, K. Schreiber, Berlin 1983. Ein interessanter Fall dieser Art ist die Herausbildung der Quantenchemie. Vgl. V. I. Kuznecov, A . A . Pecenkin, Stanovlenie kvantovoj chimii, in: Sintez sovremennogo naucnogo znanija, a.a.O., S. 551569; E. Gey, Der Zusammenhang von interdisziplinären Forschungs-* Situationen und Kooperationsverhalten bei Bildung und Entwicklung neuer Spezialgebiete, dargestellt am Beispiel der Quantenchemie, in: Interdisziplinarität in der Forschung. Analysen und Fallstudien, a.a.O., S. 151-176. 31
Realisierung befristeter Projekte erschöpft, sondern auch zum Ausgangspunkt für die Entstehung neuer Disziplinen werden kann. Die Kooperation von Vertretern unterschiedlicher Disziplinen ist nur dann vom Erfolg gekrönt, wenn im Kopf des einzelnen Teilnehmers eine gewisse Synthese der Denkweisen erreicht ist. Keineswegs immer ist die Herausbildung einer solchen Disziplin mit einer vollgültigen theoretischen Synthese verbunden. Mitunter entwickelt sich das neue Gebiet über längere Zeit auf der Grundlage einer "symbiotischen" Verknüpfung unterschiedlicher theoretischer Konzepte. So lieferte die "Symbiose" von atomistisch-dlskontinuierlicher Auffassung der Struktur des Stoffes und energetisch-kontinuierlicher Vorstellung der Prozesse zunächst eine hinreichende theoretische Basis für die klassische physikalische Chemie. Viertens, Methoden und Methodensysteme als Kerne von Disziplinen. Oftmals beanspruchen Methoden und Verfahren der Forschung - besonders dann, wenn ihr Anwendungsbereich die Grenzen ihrer Herkunftsdisziplin weit überschreitet - so spezialisierte Aufmerksamkeit, daß sie zu Aus31 gangspunkten disziplinarer Neubildungen werden. Von dieser Art sind beispielsweise die Spektroskopie mit ihren diversen Verzweigungen, das ökologische Monitoring, die Sozial- und Wirtschaftsstatistik oder, um einen ganz neuen Fall zu nennen,- die Wissenschaftsmetrik. Unseres Erachtens erzeugt jedoch das Praktizieren einer Methode allein noch keine Disziplin. Die Methode muß selbst zum Erkenntnisgegenstand werden] dann geht es um die Vertiefung ihrer empirischen und theoretischen Fundierung und, auf dieser Basis, um die Weiterentwicklung der Methode selbst. Es ist möglich, daß sich der Schwerpunkt von der Methode auf den Kreis der Objekte verlagert, die mit Hilfe dieser Methode zugänglich 32 werden, wie es in der Entwicklung der Radioastronomie der Fall war. Andererseits kann aber auch die Methodenentwicklung im Zentrum bleiben, besonders dann, wenn - wie etwa bei der Entwicklung der Systemanalyse - zahlreiche Disziplinen mit höchst unterschiedlichen Gegenständen die Nutzer dieser Methode sind.^ Fünftens, Primäre Konzeptualisierung von Erfahrungsbereichen und 30
Vgl. W. Girnus, Zu einigen Grundzügen der Herausbildung der physikalischen Chemie als Wissenschaftsdisziplin, in: Der Ursprung der modernen Wissenschaften. Studien zur Entstehung wissenschaftlicher Disziplinen, hg. von M. Guntau, H. Laitko, a.a.O., S. 178-179. 31 Vgl. K. Fichtner, Interdisziplinarität in der Entwicklung und Anwendung naturwissenschaftlicher Analysemethoden, dargestellt am Beispiel der Röntgenkristallstrukturanalyse, int Interdisziplinarität in der Forschung. Analysen und Fallstudien, hg. von H. Parthey, K. Schreiber, a.a.O., S. 221-242] 0. Law, The Development of Specialties in Science« the Caee of X-ray Protein Cristallography, ins Perspectives on the Einer gen ce of Scientific Dlaciplines. Ed. by G. Lenalne, R. Mac Leod, M. Mulkay, P. Weingart. The Hagu« - Paris Chicago 1976, S. 123-148. 32 Vgl. M. 3. Mulkay, D. 0. Edge, Cognitive, Technical and Social Factors in the Growth of Radio Astronomy, int ebenda, S. 153-184} M. 0. Mulkay, Methodology in the Sociology of Sciencei Some Reflectione on the Study of Radio Astronomy, a.a.O., S. 207-219. 33 Vgl. I. V. Blauberg, V. N. Sadovsky, E. G. Yudin. Systems Theory. Philosophical and Methodological Problems, Moscow 1977. 32
Tätigkeitsformen. In der Frühzeit der disziplinaren Differenzierung der Wissenschaft, in der die aus der Antike überkommene und bis dahin nur in wenigen Fällen - hauptsächlich in Mathematik, Astronomie, Jurisprudenz und Medizin - aufgebrochene ursprüngliche synkretische Totalität philosophischer und wissenschaftlicher Weltaneignung sukzessiv zerfiel, war die erstmalige Erfassung von vorwissenschaftlichen Erfahrungen aus dem Alltag, aus den Gewerben usw. der bevorzugte kognitive Mechanismus der Disziplinbildung. Das bedarf der Erkenntnis von Naturzusammenhängen ebenso wie der Erforschung menschlichen Tuns. Die klassische Mechanik, Prototyp aller Naturwissenschaften der Neuzeit, entstand dadurch, daß auf der Grundlage der philosophisch gepflegten Kultur der Bildung abstrakter Begriffe, unter Einbeziehung von Ansätzen einer wissenschaftlichen Astronomie und Statik und in Auseinandersetzung mit zeitgenössischen naturphilosophischen oder halb-naturphilosophischen Theorien der mechanischen Bewegung, die insbesondere bei der Herstellung und dem Gebrauch von Werkzeugen gesammelte mechanische Erfahrung neu interpretiert, in idealisierter Gestalt gedanklichen Experimenten unterworfen und auf dieser Grundlage in reale Experimente umgesetzt w u r d e . 3 4 Die Geschichtsschreibung, die sich in einem vorwiseenschaftlichen Stadium befand, solange sie Erzählungen über Geschehenes einfach kolportierte, begann in eine wissenschaftliche Disziplin hinüberzuwachsen, als sie anfing, sich kritisch zu den Quellen zu verhalten, Anachronismen aufzudecken usw., also die Tätigkeit des Geechichtsschreibens selbst objek35 tiv zu analysieren. In der heutigen Wissenschaft überwiegen bei Disziplingenesen zwar die weiter oben geschilderten Mechanismen, bei denen die Gegenstände der neuen Gebiete schon vorher - wenn auch nur unter anderem und nicht spezifisch - im Blickfeld anderer wissenschaftlicher Disziplinen waren. Dennoch darf man dies nicht verabsolutieren. Die soziale Praxis generiert ständig neue Tätigkeitsbereiche, in denen selbst dann, wenn sie sich - wie es heute der Regelfall ist - wissenschaftlicher Kenntnisse bedienen, ein spezifisches "know how* entsteht, das von diesen vorausgesetzten Kenntnissen nicht erfaßt wird und den Rohstoff für neue Vorgänge primärer Konzeptualisierung bildet. Ein solcher Tätigkeitsbereich stößt früher oder später an eine Entwicklungsschwelle, an der er im Interesse seiner eigenen Welterentwicklung der Abbildung in einer spezifischen Wissenschaftsdisziplin bedarf. H. Kegler hat da-s unlängst sehr überzeugend für die Geschichte der Stadtplanung nachgewiesen. Die Praxis der Planung von Städtebau und Stadtgestaltung erreichte diese kritische Schwelle im letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts. Innerhalb von rund fünf Jahrzehnten entstand die Wissenschaftsdisziplin Stadtplanung mit einem eigenen Begriffs- und Methodenarsenal 34
35
Vgl. G. Harig, Ober die Entstehung der klassiechen Naturwissenschaften in Europa, in: G. Harig. Physik und Renaissance. Ostwalds Klassiker der exakten Wissenschaften, Bd. 260, Leipzig 1981, S. 37-79. Vgl. S. Toulmin, J. Goodfield, Entdeckung der Zeit, Frankfurt a. Main 1985, S. 112-142. 33
und selbständigen Forschungs- und L e h r e i n r i c h t u n g e n . M a n sollte annehmen, daß sich auf ähnlichen Wegen das Ensemble der Wiesenschaftsdisziplinen - vielleicht ganz besonders in der Sphäre der Gesellschaftswissenschaften - auch künftig bereichern wird. 2.2. Konturierung der protodisziplinären Kommunikationsnetze Die Feststellung von Gemeinsamkeiten in protodisziplinären Problemfeldern initiiert den wissenschaftlichen Austausch zwischen den Bearbeitern dieser Probleme. Disziplinen in statu nascendi sind Netze von regelmäßigen Kommunikationsbeziehungen zwischen Wissenschaftlern, die sich in unterschiedlichen institutionellen Bindungen befinden und vielfach auch in unterschiedlichen disziplinaren Kontexten arbeiten, aber voneinander wissen, daß eie es mit identischen oder einander berührenden Problemen zu tun h a b e n . ^ Es kann aber auch vorkommen, daß Problemgemeinsamkeiten längere Zeit unerkannt bleiben und die Bearbeiter isoliert von einander tätig sind; dann erweist erst die Rückschau, daß eine Disziplin weitaus mehr potentielle Quellen hatte, als aktuell in ihrer Genese wirksam geworden sind. Besonders günstig ist die Situation, wenn eine Disziplin im Streit unterschiedlicher Konzepte entsteht. Weit entfernt, die werdende Disziplin noch vor ihrer Etablierung in Fragmente zu zerspalten, trägt ein prinzipieller Meinungsstreit wie etwa die Neptunismus-Plutonismus-Kontroverse in der Entstehungszeit der Geologie sehr dazu bei, das Problemfeld auszuleuchten und die Relevanz verschie38 dener Forschungen für das neue Gebiet zu erkennen. Solange dieser nicht extreme Formen annimmt, ist konzeptioneller Streit kommunikations39 fördernd und treibt die Disziplinbildung voran. 36
37
38 39
34
Vgl. H. Kegler, Die Herausbildung der wissenschaftlichen Disziplin Stadtplanung - ein Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte. Hochschule für Architektur und Bauwesen Weimar, Dissertation B, 5/1987. Vgl. T. P. Ivanova, 0 kommunikacionnych edinicach issledovatel'skogo soobscestva, in: Sistemnye issledovanija, Ezegodnik 1975, Moskva 1976, S. 54-63; dieselbe, Kommunikacija kak pokazatel 1 svjazej v sisteme naucnoj dejatel'nosti, in: Sistemnye Issledovanija, Ezegodnik 1976, Moskva 1977, S. 55-65; 0. P. Ogurcov, Oisciplinarnoje znanie i naucnye kommunikacii, in: Sistemnye issledovanija. Metodologiceskie problemy, Ezegodnik 1979, Moskva 1980, S. 299-325; I. V. Marsakova, Sistema kommunikacii v oblasti znanija, in: Sistemnye issledovanija. Metodologiceskie problemy, Ezegodnik 1980, Moskva 1981, S. 354-371. Vgl. M. Guntau, Zur Herausbildung der Geologie als naturwissenschaftliche Disziplin am Ende des 18. Jahrhunderts, in: Rostocker Wissenschaftshistorische Manuskripte, a.a.O., 2/1978, S. 92-94. Vgl. J. Hamel, Der Methodenstreit um die Begründung astrophysikalischer Problemstellungen im 18. und 19. Jahrhundert, in: ebenda, S. 23-30; S. H. Richter, Methodenentwicklung und Methodenstreit in Lehre und Forschung der mechanischen Technologie im 19. Jahrhundert in Deutschland, in: Dresdener Beiträge zur Geschichte der Technikwissenschaften, a.a.O., 10/1984, S. 3-42; E. Fabian, Kristallogra-' phie: Die Entstehung einer Wissenschaft im Spannungsfeld wissenschaftlicher Traditionen, in: a.a.O., S. 114-126; derselbe, Die Entdeckung der Kristalle. Der historische Weg der Kristallforschung zur Wissenschaft, Leipzig 1986, S. 70-73.
Der Normalfall ist es wahrscheinlich, daß die Disziplingenese mit der Entstehung eines diffusen, schwach konturierten
Kommunikationsnetzes
auf der Ebene von Zeitschriftenbeiträgen einsetzt. (Für die G e s e l l schaftswissenschaften,
insbesondere die marxistischen, ergeben
sich
hier Besonderheiten in ihrer institutionellen Entwicklung, deren
Konse-
quenzen für die Disziplingenese zu durchdenken sind. - A n m e r k u n g
der
Redaktion) Einerseits berühren viele Forschungen den neuen G e g e n s t a n d ; andererseits sind die Pioniere des werdenden G e b i e t e s bestrebt, sich in den verschiedensten Journalen zu artikulieren. Die mündlichen und informellen Kontakte, die Diskussionen in Kolloquien, in Seminaren oder im privaten Kreis, die Korrespondenzen und der A u s t a u s c h lichter Manuskripte, die die Zeitschriftenkommunikation
unveröffentbegleiten
ihr gegebenenfalls auch vorausgehen, sind meist nur punktuell lich. Selten sind komplette Wissenschaftlerkorrespondenzen
und
zugäng-
erhalten,
und
für die Fachgespräche, die einen D i s z i p l i n b i l d u n g s p r o z e ß in kritischen Phasen vorangebracht haben, ist selbst die persönliche Erinnerung der 40 Beteiligten nur ein bedingt zuverlässiger Zeuge. Festen G r u n d findet der Historiker oftmals erst in der Sphäre der Kommunikation über V e r öffentlichungen. Die rezente Ausdifferenzierung bestimmter spezifischer Netze aus der allgemeinen wissenschaftlichen läßt sich mit dem Instrument des Science Citation Index
gegenstandsKommunikation
diagnostizieren,
allerdings ohne Garantie dafür, ob tatsächlich entstehende
Disziplinen
oder nur intermediäre Strukturbildungen ermittelt worden sind. 4 , 1 Für die Untersuchung von Disziplingenesen der Vergangenheit bleibt dem H i s t o r i ker allerdings kein anderer Weg als der einer aufwendigen großer Literaturmassive, wenn er das protodisziplinäre
Durchsicht
Kommunikations-
netz einigermaßen vollständig rekonstruieren will. Solche A n a l y s e n
sind
deshalb bisher auch nur selten vorgenommen w o r d e n . Sie zeigen eine T e n denz der Konturierung der Kommunikationsnetze, die mit der
inhaltlichen
Abgrenzung der entstehenden Gebiete einhergeht. D a b e i können Z e i t s c h r i f tenaufsätze, die weithin als paradigmatisch anerkannt werden,
zeit-
weilig die Funktion von Kristallisationskernen übernehmen; in n o c h höherem Grade wirken erste'Monographien oder Lehrbücher in d i e s e r Richtung. Auf nationalen und internationalen Kongressen etablierter D i s z i plinen treten häufiger Beiträge auf, die thematisch dem Gebiet zuzuordnen
entstehenden
sind.
Wenn es gelingt, in anerkannten Zeitschriften spezielle
Rubriken
und in angesehenen Kongressen spezielle Sektionen durchzusetzen, ist die Ausformung der entstehenden disziplinaren 40
41
dann
Kommunikationsnetze
Vgl. D . Crane, Invisible Colleges, Chicago 1972; S. W. Woolgar, The Identification and Definition of Scientific Collectivities. ins Perspectives on the Emergence of Scientific Disciplinee, Ed. by G . Lemaine, R. Mac Leod, M. Mulkay, P. Weingart, a.a.O., S. 2 3 3 - 2 4 4 . Vgl. B . V. Loginov, Zur Dialektik der Entstehung n e u e r i n t e r d i s z i plinärer Richtungen der Neurowissenschaften, ins D e r Ursprung der modernen Wissenschaften. Studien zur Entstehung w i s s e n s c h a f t l i c h e r Disziplinen, a.a.O., S. 290-298. 35
schon weit vorangeschritten. Die Streuung der Aufsätze - zumindest jener, die nicht nur der Information von Kollegen benachbarter Gebiete, sondern der Meinungsbildung und dem Meinungsaustausch an der Forschungsfront dienen - nimmt ab, bestimmte Zeitschriften werden zunehmend bevorzugt und als die eigentlich maßgebenden angesehen. Vielleicht ist keine der wissenschaftsorganisatorischen Maßnahmen, mit denen man Disziplinbildungsprozesse bewußt fördern kann, so effektiv wie die Gründung einer eigenen Zeitschrift im richtigen Moment, wenn die disziplinäre Kommunikation schon eine hohe Intensität erreicht hat und nach Konzentration strebt. Die von W. Girnus vorgenommene Untersuchung über die Herausbildung der klassischen physikalischen Chemie belegt diese Aussage nachdrücklich. Die von W. Ostwald und 3. H. van't Hoff im Oahre 1887 - in einem sowohl für die theoretische Ausprägung als auch für die Institutionalisierung des neuen Gebietes entscheidenden Zeitraum - begründete "Zeitschrift für physikalische Chemie, Stöchiometrie und Verwandtschaf tslehre" erfüllte vollauf die von Ostwald im ersten Heft ausgesprochene Hoffnung, das Blatt möge der physikalischen Chemie durch Vereinigung ihrer Arbeitskräfte ein geschlosseneres und wirksameres 42 Fortschreiten ermöglichen. Ostwald setzte dabei von vornherein den höchstmöglichen Standard; nicht nur durch die glückliche Wahl des Gründungszeitpunktes, sondern auch dadurch, daß er sich der regelmäßigen Mitarbeit praktisch aller führenden Vertreter des neuen Gebietes in der ganzen Welt versicherte. Es gelang ihm, die Zeitschrift für Oahrzehnte weltweit zum unbestrittenen Zentralorgan der physikalischen Chemie zu machen und damit eines der internationalen Kommunikationsmonopole aufzubauen, bei deren Schaffung die Wissenschaft des wilhelminischen Deutschland so erfolgreich war. In höchstem Grade bemerkenswert ist dabei jedoch, daß diese Zeitschriftengründung keineswegs die Antwort auf ein verbreitet ausgesprochenes Bedürfnis war, sondern eher ein Entschluß gegen die Meinung der Mehrheit. Ein Jahr vorher hatte Ostwald anläßlich der Berliner Versammlung der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte eine Befragung zur Gründungsabsicht durchgeführt; die Mehrzahl der befragten Fachkollegen hatte abgeraten mit dem durchaus zutreffenden Hinweis darauf, daß es schon genügend Zeitschriften gab, 43 in denen man physikochemische Arbeiten unterbringen konnte. Dieses Beispiel bezeugt ein weiteres Mal, daß die Entstehung einer neuen Disziplin wie jede Neuerung ein risikoreicher Vorgang ist, der Kühnheit nicht nur auf theoretischem, sondern auch auf wissenschaftsorganisatorischem Gebiet verlangt. Es veranschaulicht aber auch, daß eine eigene Zeltschrift als kommunikatives Zentrum der Disziplingenese 42 43
36
Vgl. W. Girnus, 90 Dahre Zeitschrift für physikalische Chemie, in: Zeitschrift für physikalische Chemie, Bd. 258, 2/1977. Vgl. W. Girnus, K roll vedeckych kommunikaci pri vzniku a vyvoji fyzikalni Chemie jako vedecke discipliny, in: Problemy a hlavni tendence vedy a techniky 2. poloviny 19. a pocatku 20. stoletl, Praha 1984, S. 219-262; R. Zott, Wilhelm Ostwald a problemy vedeckych komunikaci, in: ebenda, S. 339-356.
durch nichts ersetzt werden k a n n 4 4 ; Gastrecht in etablierten Zeitschriften anderer Disziplinen füllt diese Lücke nicht aus, wenngleich sicn zahlreiche Spezialgebiete in ihrer Entstehung und Entwicklung damit behelfen müssen« 2.3. Herausbildung einer stabilen Interessengemeinschaft Entstehung eines disziplinären Kommunikationsnetzes führt zur wechselseitigen interpersonellen Wahrnehmung der Teilnehmer, die einander unabhängig von Herkunftsdisziplinen und institutioneller Bindung als Bearbeiter ein und desselben Problemfeldes erkennen. Man zitiert einander, polemisiert gegeneinander, begegnet sich auf Tagungen und Kongressen. So formiert sich allmählich eine zunächst locker verbundene und unscharf abgegrenzte Gruppe von Wissenschaftlsrn, die sich selbst als eine neuartige wisssnschaftliche Gsmeinschaft versteht und auch von außen so verstanden wird. Das Bewußtsein der disziplinären Identität und die Akzeptanz dieser Zugehörigkeit durch die wissenschaftliche Umgebung sind nicht nur Indikatoren für das Voranschreiten der Disziplingenese, sondern vor allem ein unverzichtbares, wesentliches Moment dieses Prozesses selbst: "Wenn eine Gruppe von Personen sich selbst ale Vertreter einer bestimmten Wissenschaftsdisziplin bezeichnet, wenn darüber hinaus auch Vertreter anderer Wissenschaftsdisziplinen sie ale eine solche betrachten, wenn Bücher, Lehrbücher und Zeitschriften erscheinen, in deren Titeln die Bezeichnung der gegebenen Wissenschaftsdisziplin steht- und deren Inhalt dem Gegenstand der gegebenen Disziplin entspricht, wenn schließlich wissenschaftliche Einrichtungen beetehen, deren Namen gleichfalls der gegebenen Wissenschaftsdisziplin entsprechen, dann muß man annehmen, daß die gegebene Disziplin eine selbständige, besondere Wissenschaftsdisziplin i s t , " 4 5 Die Gesamtheit der Wissenschaftler, die eine Disziplin repräsentieren, kann unseres Erachtens ohne weiteres als "disziplinare Gemeinschaft" bezeichnet werden. Die Mitglieder einer solchen - in der Regel internationalen - Gemeinschaft erkennen einander an der gemeinsamen Verfügung über bestimmte Denkweisen und Methoden, an der gemeinsamen Bindung an bestimmte Ideale und Normen des wissenschaftlichen Verhaltens, die den Erfordernissen der Erkenntnis des disziplinären Gegenstandes entsprechen. Durch diese charakteristischen Züge einer fachlichen Gemeinschaft ist eine Disziplin eine soziologische Realität, aber darin erschöpft sich auch ihre soziologische Spezifik. Disziplinare Gemeinschaften sind wichtige Spezialfälle wissenschaftlicher Gemeinschaften, die seit iVarren 0. Hagstrom 4 ® in der bürgerlichen Wissenschaftssoziologie eingehend untersucht, aber auch hochgradig mystifiziert worden sind. Die Mystifizierung, die den Begriff der wissenschaft44 45 46
Vgl. S. Strbanova, Funkce vedeckych casopisu pri vzniku a stabllizaci vednich odvetvi, in: ebenda, S. 213-218. K. Pelc, Ob utoenenii ponjatija "nauenaja diseiplina", in: Voprosy istorii estestvoznajija i techniki, Vypusk 3/1975, S. 12. Vgl. W. 0. Hagstrom, The Scientific Community, New York-London 1965.
37
liehen Gemeinschaft in seiner bürgerlichen Prägung kennzeichnet, besteht darin, daß sie als ein soziales Phänomen "in betonter Abgrenzung zu den für die gesellschaftlichen Verhältnisse in den Jeweiligen Ländern typischen Ordnungen und gesetzmäßigen Strukturen dargestellt" w i r d . 4 7 Die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Wissenschaftsdisziplin setzt in keiner Weise die nationalen, staatlichen, klassenmäßigen Bindungen, die politischen und weltanschaulichen Überzeugungen des einzelnen Wiesenschaftlers außer Kraft. Wenn man dies in Betracht zieht, dann kann man den Begriff der wissenschaftlichen Gemeinschaft auf eine rationelle 48 Grundlage stellen und dem Hinweis von R. Mocek positiv entsprechen: "In der Idee der Wissenschaftlergemeinschaft liegt ein Ansatzpunkt zur Konkretisierung vieler bislang abstrakt verwendeter Begriffe 'des' Wissenschaftlers, seiner spezifischen Funktion im Erkenntnisprozeß, der 49 ethischen und sozialen Seite der Wissenschaft als Beruf". Unter Berücksichtigung dessen kann man den Begriff der disziplinaren Gemeinschaft als ein sinnvolles Konzept betrachten, das nicht durch Begriffe wie "disziplinares Kaderpotential" zu ersetzen ist; seine Eigenart besteht gerade in der Abbildung der spezifischen sozialen Beziehungen zwischen den im Rahmen einer Disziplin tätigen Individuen. Entstehende disziplinare Gemeinschaften weisen vielfach eine ausgesprochene Autoritätsstruktur auf. Wenige überragende Wissenschaftlerpersönlichkeiten werden als Pioniere, Klassiker, "Väter" des neuen Gebietes anerkannt, die Bezugnahme auf sie bildet einen wichtigen Rückhalt der noch unsicheren disziplinaren Identität, und zwar sowohl dann, wenn das entstehende Gebiet in Durchsetzungsschwierigkeiten ist und mit der Resistenz der bereits bestehenden disziplinären Struktur zu ringen hat, als auch dann, wenn die werdende Disziplin "in Mode" ist und durch übermäßigen Zulauf ihre Konturen schon wieder zu verlieren droht, noch ehe sie sie richtig ausgeprägt hat. Es ist schwer zu beurteilen, welcher Fall in der Wissenschaftsgeschichte überwiegt - der Zwang für die Pioniere eines neuen Gebietes, sich gegenüber allgemeinem Unverständnis zu behaupten, oder die Verwandlung eines neuen Ansatzes in eine Modeströmung, der weitaus größere Zukunftserwartungen aufgebürdet werden, als sie jemals erfüllen kann. Nicht selten sind beide Seiten verbunden: während die ältere, bestimmten Traditionen verpflichtete Wissenschaftlergeneration neuartigen Richtungen oft skeptisch oder abwartend gegenübersteht, gibt es in der jüngeren Generation eine weitaus größere Neigung, ungewohnte, risikoreiche Wege zu beschreiten. Aber abgesehen davon, daß in der Wissenschaft in allen Generationen als "altersgerecht" erwartete Attitüden auftreten, wird diese "natürliche" Differenzierung 47 48 49
38
R. Mocek, Gedanken über die Wissenschaft. Die Wissenschaft als Gegenstand der Philosophie, Berlin 1980, S. 170. Vgl. H.-H. Lanfermann, Nichtmarxistische Wissenschaftssoziologie Gegenstand kritischer Analyse, in: Arbeitsblätter zur Wissenschaftsgeschichte, a.a.O., 10/1981, S. 48-51. R. Mocek, Gedanken über die Wissenschaft. Die Wissenschaft als Gegenstand der Philosophie, a.a.O., S. 175.
durch soziale Gegebenheiten stark modifiziert. In Zuständen personeller Saturation, in denen die Karrieremöglichkeiten in den etablierten Disziplinen blockiert sind. Oben neue Richtungen auf junge Wissenschaftler einen beträchtlichen Reiz aus, weil sie möglicherweise Laufbahnen eröffnen, die anderswo verschlossen sind. Dieser Anreiz wirkt in der gleichen Richtung wie die kognitive Anziehungskraft der neuen Ideen. Im 19. Jahrhundert war die Notwendigkeit, die akademische Laufbahn mit dem finanziell ungesicherten Privatdozentenstatus zu beginnen, ein überaus wirksamer Hebel, der die jungen Wissenschaftler veranlaßte, sich vielversprechenden neuen Gebieten zuzuwenden. Bereits D. Diderot beschrieb drastisch die Situation, in der sich ein als attraktiv empfundenes neues Gebiet befindet, bevor sich seine disziplinäre Gemeinschaft stabilisiert hat: "Wenn eine Wissenschaft im Entstehen begriffen ist, wenden sich alle Geister zu ihr hin
dank der
außerordentlichen Hochachtung, die man den Erfindern in der Gesellschaft entgegenbringt; dank dem Wunsche aus eigener Anschauung eine Sache kennenzulernen, die soviel Aufsehen erregt; dank der Hoffnung, durch irgend eine Entdeckung berühmt zu werden; dank dem Ehrgeiz, Anteil am Ruhmestitel hervorragender Männer zu gewinnen. Sogleich wird sie von unzähligen Personen verschiedenen Charakters gepflegt. Es sind entweder Vornehme, die des Müßigganges überdrüssig sind, oder Oberläufer, die sich einbilden, sie könnten in der Wissenschaft, die gerade Mode ist, einen Ruf gewinnen, den sie in anderen Wissenschaften, die sie um der neuen willen aufgeben, vergeblich erstrebt haben. Manch? machen sich daraus ein Gewerbe; andere werden aus Neigung dazu getrieben. 50 viele vereinigte Anstrengungen bringen ziemlich schnell die Wissenschaft soweit, wie sie kommen kann. Aber je weiter die Grenzen der Wissenschaft werden, desto enger werden die Grenzen der Hochachtung: nur noch denjenigen wird sie entgegengebracht, die sich durch große Überlegenheit auszeichnen. Dann nimmt die Zahl der Anhänger ab; man schifft sich nicht mehr nach einer Gegend ein, in der die Glückstreffer so selten und schwierig geworden sind. Es bleiben der Wissenschaft nur noch Tagelöhner, denen sie Brot gibt, und einige Männer von Genie, die noch 50 lange Zeit berühmt bleiben." Es ist bemerkenswert, daß - ohne Bezugnahme auf Diderot - Sam Lilley zweihundert Jahre später praktisch die gleichen Feststellungen über die Herausbildung neuer Gebiete traf. Er sprach von der "snowball fashion", in der ein kleiner wissenschaftlicher Anstoß über die Rückkopplung mit der Gesellschaft eine mächtige 51 Bewegung auslösen kann. Im Verlauf der Disziplingenese differenziert sich aus dem allgemeinen Feld der Interessenten allmählich der Kern der eigentlichen disziplinaren Gemeinschaft heraus und scheidet sich von der Peripherie jener, 3ö 51
CT. Diderot, Philosophische Schriften, Bd. 1, Berlin 1961, S. 421-422. Vgl. S. Lilley, Social Aspects of the History of Science, in: Archives Internationales d 'Histoire des Sciences, Annee 2, 6/1949, S. 408-410.
39
die an dem neuen Gebiet ein nur flüchtiges und eher informatorisches Interesse nehmen. Dieser Scheidungs- und Konsolidierungsprozeß wird durch die Bildung disziplinärer Gesellschaften oder Vereine wesentlich 52 Solche Vereinigungen werden in den verschiedensten Phasen gefördert. der Entwicklung von Disziplinen ins Leben gerufen, doch wenn sie in einer frühen Phase der Disziplingenese entstehen, dann können sie den Gesamtprozeß bedeutend voranbringen. Allerdings ist die Wirksamkeit solcher Gesellschaften wesentlich auf den nationalen Rahmen beschränkt. Internationale disziplinäre Assoziationen werden in der Regel erst gegründet, wenn die betreffenden Disziplinen fest etabliert sind. Gründungen, die auf den Disziplingeneseprozeß noch spürbarsn Einfluß genommen haben, waren in Deutschland beispielsweise die "Deutsche Elektrochemische Gsssllschaft" (1894, ab 1902 als "Deutsche Bunsen-Gesellschaft für angewandte physikalische Chemie"), der "Elektrotechnische Verein" (1879) oder auch die "Deutsche Gesellschaft für Soziologie" (1909). Oft sind Gesellschaften und Zeitechriften miteinander verbunden, so daß mündliche und schriftliche Kommunikation im Disziplinbildungsprozeß in solchen Fällen inhaltlich abgestimmt verlaufen können. Sowohl über ihre Zeitschriften als auch über größere Tagungen und Kongresse können sich solche Gesellschaften in die internationale Kommunikation einschalten. Ehe eigene disziplinäre Kongresse zur Regel werden, üben spezielle Sektionen auf Kongressen älterer Disziplinen eine entsprechende Funktion aus. Oberdisziplinäre wissenschaftliche Vereinigungen sind als Matrix für die Bildung neuer disziplinärer Vereinigungen gut geeignet. So hat die Gesellschaft Oeutschsr Naturforscher und Ärzte über die flexible Einrichtung von Facheektionen auf ihren regelmäßigen Tagungen für eine ganze Reihe von Disziplinen Geburtshelferdienste geleistet. 5 3 Eine besonders hohe Intensität und Qualität erreicht der Herausbildungsprozeß disziplinarer Gemeinschaften dann, wenn ihre Keimzellen 54 wissenschaftliche Schulen sind. Vielfach rekrutiert sich der Mitgliederkreis solcher Schulen aus hochbegabten jungen Wissenschaftlern vieler Länder, von denen manche, in ihre Heimat zurückgekehrt, wiederum erfolgreiche Schulen bilden: Die Schulen um W. Wundt, um W. Ostwald und um A. von Graefe hatten entscheidenden Anteil daran, daß sich die Disziplingenesen der experimentellen Psychologie, der physikalischen Chemie und der Ophthalmologie gleichsam nach dem Mechanismus von Ketten52
53
54
40
Vgl. M. Guntau, Wissenschaftliche Gesellschaften und disziplinäre Erkenntnis in der Geschichte der Wissenschaft (Thesen), in: Rostocker Wissenschaftshistorische Manuskripte, a.a.O., 14/1986, S. 7-23. Vgl. H. Lampe, Die Entwicklung und Differenzierung von Fachabteilungen auf den Versammlungen von 1828-1913. Schriftenreihe zur Geschichte der Versammlungen deutscher Naturforscher und Ärzte II, Hildesheim 1975. Vgl. Wissenschaftliche Schulen, Bd. 1, 2, hg. von S. R. Mikulinskij, M. G. Oarosevskij, H. Steiner, R.-L. Winkler unter Mitarbeit von P. Altner, Berlin 1979.
reaktionen v o l l z o g e n . 5 5 Indes lassen sich zwar wissenschaftliche
Ge-
sellschaften, kaum aber Schulen planmäßig organisieren, so daß ee für die Wiseenschaftsleitung eine Sache feinfühliger Beobachtung ist, andeutende Schulen in werdenden Wissenschaftebereichen
sich
frühzeitig zu
diagnostizieren. Wenn der Kern einer Schule vorhanden ist, kann man selbstverständlich auch bewußt Maßnahmen ergreifen, um die Schule z u festigen und auszuweiten, wie es beispielsweise in d e r Schule der Pha56 gengenetik um Max Delbrück eehr erfolgreich praktiziert w u r d e . Eine disziplinare Gemeinschaft hat sich formiert, wenn ihre M i t g l i e der über ein unikales, disziplinspezifisches Q u ä l i f i k a t i o n s - und Fähigkeitsprofil verfügen, das nur durch einen längeren Lernprozeß angeeignet werden kann. Dann hat sich die "Disziplinierung" der W i s s e n schaftler entsprechend den Erfordernissen des neuen G e b i e t e s wirklich vollzogen. D a ß eine Disziplinbildung mit der Neuprägung p e r s o n a l e r Profile einhergeht, wird wohl nirgends so deutlich wie in den Fällen, wo neue Disziplinen durch das Eindringen von "Außenseitern" in nelle Gebiete entstehen. Die Molekulargenetik,
traditio-
und überhaupt die M o l e -
kularbiologie mit ihren zahlreichen Spezialgebieten,
ist ein
überzeu-
gendes Beispiel dafür. Delbrück sagte dazu pointiert: "Die moderne B i o logie ist deshalb so schwierig für die Biologen, weil sie nicht von berufsmäßigen Biologen, sondern von A u ß e n s e i t e r n gemacht worden iet, von Leuten, die sehr wenig Biologie studiert haben, von 57 Medizinern, C h e m i kern, Physikern, Mathematikern und Ingenieuren." Früher oder später werden die entstandenen Profile durch die gesellschaftliche als Berufe dauerhaft
Anerkennung
sanktioniert.
2.4. Institutionalisierung der entstehenden Die Disziplingenese ist mit mannigfachen
Disziplin
Institutionalisierungsvorgän-
gen verbunden. Sie setzen oftmals schon frühzeitig ein - auch w i s s e n schaftliche Zeitschriften und Gesellschaften sind Institutionen - , und je weiter die Institutionalisierung
fortschreitet, um so weniger
rever-
sibel ist die eingeleitete Oisziplingenese. D a s Erwachen des disziplinären Selbstbewußtseins äußert sich sofort im Verlangen nach
selbstän-
55 Vgl. 3. Ben David, R. Collins, Soziale Faktoren im Ursprung einer neuen Wissenschaft. Der Fall der Psychologie, ins W i s s e n s c h a f t s s o ziologie 2. Determinanten wissenschaftlicher Entwicklung, hg. von P. Weingart, Frankfurt a. M. 1974, S. 122-152; S. Fahrenbach, Die Herausbildung der Ophthalmologie in Preußen und die w i s s e n s c h a f t liche Schule Albrecht von Graefes (1828-1870), ins Der Ursprung der modernen Wissenschaften. Studien zur Entstehung w i s s e n s c h a f t l i c h e r Disziplinen, hg. von M. Guntau, H. Laitko, a.a.O., S. 3 1 5 - 3 2 8 . 56 Siehe U. Geißler, K. Lüdtke, 0. Tripoczka, Die Herausbildung der Phagengenetik - Thesen zur Entwicklung eines wissenschaftlichen Spezialgebietes, in: Rostocker Wissenschaftshistorische M a n u s k r i p t e , a.a.O., 10/1984, S. 24. 57 M. Delbrück, Inwiefern ist die Biologie zu schwierig für die B i o l o gen?, ins Physikertagung Stuttgart 1963. Mosbach/Baden 1963, S. 94; zu dieser Problematik siehe W . Beese, Die Herausbildung der M o l e k u largenetik, ins Der Ursprung der modernen W i s s e n s c h a f t e n . Studien zur Entstehung wissenschaftlicher Disziplinen, hg. von M. Guntau, H. Laitko, a.a.O., S. 202-204. 41
digen Institutionen. D i e s e s Verlangen führt in der Regel erst in einem längeren Durchsetzungsprozeß zum Erfolg, der sich besonders dann hartnäckig gestaltet, wenn sich die betreffende Disziplingenese nicht in einer Phase extensiven Wachstums des Wissenschaftspotentials
vollzieht,
sondern ihren Anspruch auf institutionelle Existenz nur durch Umverteilung der vorhandenen personellen und sachlichen Ressourcen zu ihren Gunsten einzulösen vermag. Eine gewisse Resistenz gegenüber den Institutionalisierungsansprüchen neuer Gebiete ist durchaus förderlich, denn sie zwingt zu einer eingehenden Prüfung der Legitimität dieser A n sprüche und veranlaßt dazu, die Argumentationsbasis dafür zu vertiefen; langfristiges Verzögern notwendiger
Institutionalisierungsmaßnahmen
wirkt hingegen auf Jeden Fall hemmend. Die disziplinaren Institutionen sind normative Fixierungen der kognitiven und methodologischen Verhaltensanforderungen,
die die Erkennt-
nis des betreffenden Gegenstandss an die Mitglieder der disziplinaren Gemeinschaft stellt, und zugleich der gesellschaftlichen Funktionen der Disziplin, insbesondere der Erwartungen an ihre applikative fähigkeit. Gegenüber
Leistungs-
Ihrer sozialen Umwelt wird die Disziplin in erster
Linie über ihre Institutionen repräsentiert. Obwohl Forschungs- und Entwicklungseinrichtungen der Industrie und zunehmend auch anderer Praxisbereiche vielfach nicht nach dem disziplinaren Prinzip
aufgebaut
sind, dominiert dieses Prinzip in der Institutionalisierung der Wissenschaft weiterhin, so daß diese im Blickfeld der Öffentlichkeit vor allem als eine Gesamtheit von Disziplinen erscheint und ihre sonstigen Gliederungsdimensionen demgegenüber in den Hintergrund In einer gegebenen historischen Situation existiert
treten. möglicherweise
eine ideale institutionelle Ausstattung einer Disziplin, die dieser, wenn sie vollständig realisiert ist, von der Institutionsseite her optimale Entwicklungsbedingungen darin produzierende,
gewährleistet. M. Guntau
reproduzierende, methodische,
und dirigierende Institutionen.
CO
unterscheidet
kollektionierende
Damit eine Disziplin in einem natio-
nalen Wissenschaftssystem voll vertreten ist, muß das Ensemble
ihrer
Institutionen annähernd komplett sein; die Vielgestaltigkeit dieses Ensembles bedingt auch, daß sich die Genese von Disziplinen über Jahrzehnte hinziehen kann, und ist unseres Erachtens der wesentliche
Grund
dafür, daß es vielfach nicht genügt, in Disziplingenesen Initial- und Reifephasen zu unterscheiden, sondern innerhalb der letzteren sich auch noch eine Konstituierungs- und eine Etablierungsphase voneinander abheben. Innerhalb der Etablierungsphase erwirbt die neue Disziplin
eine
so weitreichende institutionelle Ausformung, daß ihr weiteres stabiles Dasein gesichert
ist.
Worin allerdings das Minimum dieser Ausformung besteht, ist bisher noch ungeklärt. Keineswegs kann man eine positive Antwort auf die Frage "58
42
Vgl. M. Guntau, Zur Herausbildung wissenschaftlicher Disziplinen in der Geschichte (Thesen), in: Rostocker Wissenschaftshistorische M a nuskripte, 1/1978, S. 21-23.
nach dem A b s c h l u ß einer Disziplingenese daran binden, daß die ideale institutionelle Ausstattung erreicht ist. Zahlreiche Disziplinen,
be-
sonders solche speziellen Charakters, kommen niemals in den B e s i t z eines solchen Reichtums an Institutionen. Einerseits können
bestimmte
Arten von Institutionen - wie etwa Einrichtungen zur schriftlichen
und
zur mündlichen Kommunikation - einander wechselseitig in gewissen G r e n zen vertreten. A n d e r e r s e i t s kann eine Disziplin Institutionen
anderer
Gebiete für ihre Zwecke in Anspruch nehmen. Schließlich erfolgt die Institutionalisierung disziplinarer Funktionen vielfach in nären Verbänden. Wirtschaftswissenschaft,
supradiszipli-
Geschichtswissenschaft,
Psy-
chologie, Biologie, Chemie, Physik, Mathematik usw. sind auf dem h e u t i gen Stand der innerwissenschaftlichen A r b e i t s t e i l u n g keine D i s z i p l i n e n mehr, sondern disziplinübergreifende G e b i l d e . Die institutionelle
"Ver-
sorgung" zahlreicher Spezialdisziplinen erfolgt aber in vielfacher H i n sicht im Rahmen dieser supradisziplinären Strukturen. Die Klarheit in den Fragen der Institutionalisierung und der
ungenügende institutionel-
len Existenz von Disziplinen ist nicht in erster Linie Mängeln der w i s senschaftshistorischen Untersuchung konkreter Fälle geschuldet; die Hauptschwierigkeit dürfte darin bestehen, daß sich die
marxistische
VVissenschaftssoziologie des Phänomens der wissenschaftlichen
Institution
bisher nicht grundsätzlich angenommen hat. Die vorliegenden Studien
be-
zeugen aber, daß der Institutionalisierungsprozeß jedenfalls bis zur Sicherung zweier grundlegender Funktionen geführt werden muß, damit vom Abschluß einer Disziplingenese gesprochen werden kann. Die erste tion ist die der materiellen Siöherstellung der disziplinären lung und der Adressierung
Funk-
Entwick-
und Kanalisierung gesellschaftlicher
Anfor-
derungen an die Disziplin. In neuerer Zeit ist dafür die Existenz
staat-
licher disziplinärer Institutionen, die über die notwendigen Fonds v e r fügen, unerläßlich, ungeachtet der erheblichen Rolle, die private
Stif-
tungen bei der Finanzierung wissenschaftlicher Tätigkeit im K a p i t a l i s mus gespielt haben und teilweise noch immer spielen. Im S o z i a l i s m u s sind die Disziplinen über ihre staatlichen Institutionen in das g e s a m t gesellschaftliche System der Planung und Leitung einbezogen. A u f diesem Wege werden die disziplinären Gemeinschaften entscheidend
stabilisiert.
Der Enthusiasmus der Pioniere eines neuen G e b i e t e s ist keine auf D a u e r tragfähige Grundlage für dessen personelle Basis, wenn nicht in größerer Zahl Arbeitsstellen verfügbar sind, in denen der Einsatz der
spezifi-
schen disziplinären Qualifikation verlangt und anerkannt wird, die A u s 59 Übung der Disziplin also Züge eines B e r u f e s annimmt.
Die
Professio-
nalisierung einer Disziplin wird über ihre Institutionalisierung mittelt. Die zweite unerläßliche Funktion des Institutionennetzes die Sicherstellung der disziplinären 59
verist
Reproduktion.
Vgl. U. Nausch, Zur Professionalisierung und Berufsbildung in der Wissenschaftsgeschichte, in: G r e i f s w a l d e r Philosophische Hefte, Greifswald, 1(II)/1982, S. 471-476.
43
2.5. Reproduktive Stabilisierung der Disziplin E. Mirskij hat, unseres Wissens erstmalig, den Versuch unternommen, eine wissenschaftliche Disziplin als ein offenes selbstreproduzierendes ßO System darzustellen : "Die wissenschaftliche Disziplin stallt ein offenes, sich selbst organisierendes System dar, dessen Existenz durch die Regelung der Vorgänge zur Erhaltung und Reproduktion seiner einheitlichen Merkmale gewährleistet wird."® 1 Unter Umständen kann man so weit gehen, eine Disziplin überhaupt primär durch ihren zyklischen Reproduktionszusammenhang zu identifizieren, denn es ist möglich, daß unter Bedingungen hochintegrierten Wissenschaftsbetriebes die Institutionen interdisziplinär aufgebaut sind und die wissenschaftlichen Tätigkeiten gleichzeitig und mit gleichem Recht mehreren unterschiedlichen Diszi62 plinen zuzurechnen sind. Das sind Jedoch schwierige Fragen, die schon zur Einschätzung perspektivischer Tendenzen der Wissenschaftsentwicklung gehören. Der Wissenschaftshistoriker hat es in der Regel mit deutlicher und sinnfälliger abgegrenzten disziplinären Gebilden zu tun. Das Problem der disziplinaren Reproduktion ergibt sich schon auf elementare Weise aus dem biologisch-sozialen Faktum des Generationswechsels. Dieses Faktum erscheint trivial, weil es selbstverständlich ist, doch es ist fundamental für das Begreifen jeglicher sozialen Entwicklungsprozesse.^ Eine Disziplin kann sich nur dann reproduzisren, wenn ununterbrochen das Fazit ihrer Erkenntnistätigkeit gezogen und in eine Form geprägt wird, welche geeignet ist, die jeweils nachwachsende Generation in die disziplinare Gemeinschaft einzuführen. Deshalb ist die Lehre für die Existenz einer Disziplin und für das Begreifen ihres Wesens von überragender Bedeutung. Die Einrichtung von disziplingebundenen Lehrstühlen und die Abfassung entsprechender Lehrbücher sind Vorgänge, die langfristig über das Schicksal von Disziplinen entscheiden. Nicht zufällig trachten die Pioniere neuer Gebiete auch dann, wenn sie persönlich ausgeprägte Forschernaturen sind und wenig Neigung zur Hochschullehre haben, in der Regel mit allen Kräften danach, ihrer Disziplin so schnell wie möglich eine Vertretung in der Hochschullehre zu verschaffen. Mirskij geht davon aus, daß die Forschungsfront unter modernen Bedingungen vielfach interdisziplinär gestaltet ist und die Eigenart der einzelnen Disziplinen erst in der sukzessiven Verarbeitung des dort gewonnenen empirischen Wissens hervortritt. In diesem Fluß der Wissensverarbeitung, der von der Forschungsfront in die allgemeine Kultur der 60 61 62
63 44
Vgl. E. M. Mirskij, Mezdisciplinarnye issledovanija i disclplinarnaja organizacija nauki, Moskva 1980, S. 74-148. I. V. Blauberg, E. M. Mirskij, V. N. Sadovskij, Dis wissenschaftliche Disziplin: Begriff, Phänomen, Forschungsgegenstand, ins Rostocker Wissenschaftshistorische Manuskripte, a.a.O., 2/1978, S.132. Vgl. H. Laitko, Erkenntnistheoretische und reproduktionstheoretische Gesichtspunkte zur Bestimmung des Disziplinbegriffs, in: Rostocker Wissenschaftshistori6che Manuskripte, a.a.O., 1/1978, S. 25-34. Vgl. V. K. Egorov, Istorija est' smena pokolenij, Moskva 1986.
Gesellschaft gerichtet ist, treten einzelne "Staffeln" von P u b l i k a t i o nen hervor, in denen das Wissen fortschreitend verdichtet wird und die voneinander durch charakteristische Zeitabstände getrennt sind: O r i g i nalarbeiten, Obersichtsartikel (Reviews), Monographien,
Lehrbücher.
Dieses Bild ist natürlich stark schematisiert und orientiert sich v o r zugsweise an den Kerngebieten der Naturwissenschaften und d e r M a t h e m a tik, trifft aber nichtsdestoweniger W e s e n t l i c h e s . D e r Hauptgedanke Mirkijs besteht darin, daß ein gegenläufiger Fluß aus dem allgemeinen demographi8chen Potential der Gesellschaft in Richtung zur
Forschungs-
front in Betracht gezogen wird. In Prozeß ihrer A u s b i l d u n g und S p e z i a lisierung durchlaufen die künftigen Forschungskader die einzelnen
Pu-
blikationsstaffeln in der umgekehrten Reihenfolge, beginnend mit den Lehrbüchern«wiederum in charakteristischen Z e i t i n t e r v a l l e n . D u r c h die Kopplung der beiden entgegengesetzt gerichteten Ströme ergibt sich das Bild eines selbstreproduzierenden Systems mit einer
eigentümlichen
Chronostruktur. Die Reproduktionserfordernisse einer Disziplin beschränken sich n a türlich nicht auf die personelle Erneuerung. O e d e s ist vielfältig in umfassendere gesellschaftliche
Wissenschaftsgebiet
Reproduktionszusammen-
hänge eingebunden, die - auf die jeweilige Disziplin bezogen - die Reproduktion disziplinärer Forschungsfähigkeit gewährleisten. Hier soll jedoch nur hervorgehoben werden, daß die Schließung des internen
Repro-
duktionszyklus, der den stabilen G e n e r a t i o n s w e c h s e l der disziplinaren Gemeinschaft ermöglicht, den systematischen Schlußpunkt der D i s z i p l i n genese darstellt. Während für die Gründergeneration das d i s z i p l i n ä r e Profil noch eine Neuschöpfung war, zu der kein gebahnter Weg
führte,
existieren für die kommenden Generationen bereits mehr oder minder gut ausgeformte disziplinäre
Laufbahnen.
Wenn die Reproduktion einer Disziplin in erster Linie die tion von Forschungsfähigkeit
Reproduk-
ist, dann bedeutet dies, daß es sich nicht
um identische Reproduktion handeln kann,- sie muß die Resultate Forschungsprozesse in Voraussetzungen
früherer
künftiger überführen und ist da-
mit bereits der Elementarprozeß der disziplinaren S e l b s t e v o l u t i o n . Mit der Herstellung und Institutionalisierung des disziplinaren tionssystems endet die Disziplingenese
Reproduk-
und beginnt die Entwicklung
Disziplin auf ihrer eigenen Grundlage - ein Prozeß, der Kontinuität
der und
tiefgreifende Umbrüche einschließt, aber die Umbrüche, die mit der A b lösung von Theorien im Entwicklungsprozeß einer etablierten einhergehen, sind von qualitativ anderer Art als die primäre
Disziplin Herausbil-
dung von Disziplinen. In diesem qualitativen Unterschied liegt die Legitimation und die Notwendigkeit, D i s z i p l i n g e n e s e n einer speziellen
Un-
tersuchung zu unterwerfen. Die Wissenschaftsforschung hat damit einen lohnenden Gegenstand identifiziert und grob präpariert, der n u n m e h r der kritischen Erforschung innerhalb der marxistisch-leninistischen schaftssoziologie
fähig und bedürftig
Wissen-
ist.
45
Ob. f. Soziologie und Sozialpolitik
1989
Nikolai G e n o v Nationale und internationale Dimensionen in der modernen
bulgarischen
Soziologie
Noch vor ein paar Jahrzehnten gab es in der Weltsoziologie eine sehr begrenzte Zahl von ausgeprägten nationalen Traditionen. Diese Situation hat sich heute qualitativ verändert. Ein neues und kompliziertes Problem ist entstanden: Wie können die inzwischen zahlreich
entstandenen
bzw. in der Entwicklung befindlichen nationalen soziologischen
Tradi-
tionen voneinander abgegrenzt, entwickelt, koordiniert und dabei gegenseitig bereichert w e r d e n ? Die kognitive und institutionelle Entwicklung der Soziologie in einem Lande kann im Prinzip nur dann erfolgreich sein, wenn sie den Besonderheiten des sozialen und kulturellen Milieus im nationalen Rechnung trägt. Deswegen bildet die Vielfalt von nationalen
Rahmen
soziologi-
schen Traditionen eine Errungenschaft der modernen Soziologie. Nationale Traditionen sind eine der wichtigsten Quellen ihres
theoretischen
Reichtums, ihrer praktischen Effektivität und professionellen tive. In diesem Sinne ist die nationale Lokalisierung eine
Perspek-
erstrangige
Aufgabe der gegenwärtigen Soziologie besonders in den Ländern, in denen die Soziologie auf eine relativ kurze Entwicklungsperiode
zurückblicken
kann. Die Soziologie behauptet sich in den einzelnen Ländern
allerdings
unter dem Einfluß von sehr ähnlichen sozialen Prozessen wie der Industrialisierung und der Urbanisierung. Diese geschichtlich
bestimmten
allgemeinen Züge der Situation, in der die kognitiven und die beruflichen Muster der Soziologie als Wissenschaft entstehen und sich entwickeln-, prägen die allgemeinen Züge der Soziologie in den einzelnen Ländern. Daraus ergibt sich aber auch notwendig, nationale
Standards
wissenschaftlicher Leistung in der Soziologie auszuarbeiten und miteinander zu vergleichen, zum Beispiel für die Resultate einzelner
theore-
tischer und empirischer Untersuchungen. Anders ausgedrückt, die erfolgreiche Entwicklung der Soziologie in den einzelnen Ländern,
einschließ-
lich in den Ländern mit den bestentwickelten soziologischen
Traditionen,
hängt in einem steigendem Maße von ihrer Internationalisierung
ab.
Wie v e r l a u f e n diese widersprüchlichen Prozesse gegenwärtig in der bul1
46
Vgl. ausführlicher Building National Traditions in Sociology, N. Genov London, SAGE Publications (im Druck).
(Hrsg.)
garischen Soziologie? Die Antwort auf diese Frage ist von großem
Interes-
se. Daher handelt es sich hier keineswegs nur um die A n a l y s e e i n e s geschichtlichen Einzelfalls. Ähnlich wie in den meisten Ländern, in denen die nationale Lokalisierung der Soziologie ein reales soziales und kulturelles Problem darstellt, ist für Bulgarien eine relativ kurze
Entwick-
lung als modernes Staatswesen typisch. Es verfügt über beschränkte terielle und menschliche Ressourcen, die in die Entwicklung einer nen Wissenschaft investiert werden können. Bulgarien hat einen
mamoder-
beträcht-
lichen wirtschaftlichen wie sozialen Fortschritt nach dem zweiten Weltkrieg erreicht. Und man kann sagen, daß gerade die Notwendigkeit,
die
Prozesse eines schnellen sozialen W a n d e l s einzuleiten, die H a u p t t r i e b kraft der relativ verspäteten, aber raschen Institutionalisierung Soziologie in Bulgarien darstellt. Den geschichtlichen Rahmen
kognitiven und beruflichen Institutionalisierung der Soziologie die sozialistische Umgestaltung der bulgarischen
der
dieser bildet
Gesellschaft.
Die Ergebnisse der Entwicklung der Soziologie in diesem
geschichtli-
chen Kontext sind beachtlich. Im Laufe der letzten ein bis zwei O a h r zehnte entwickelten sich das akademische Institut dere Forschungseinriehtungen
für Soziologie und an-
mit führenden soziologischen
Orientierun-
gen wiö das Institut für Jugendforschung und das Forschungsinstitut gewerkschaftliche Probleme. Das Lehrfach Soziologie wurde
für
kontinuier-
lich an der Sofioter Universität "Kl. Ochridski", an der Hochschule
für
Ökonomie "K. Marx" und an anderen Hochschulen aufgebaut. Die n e u g e g r ü n deten soziologischen Periodika - die Zeitschrift "Soziologische me" (seit 1969) und das Bulletin "Soziologische Rundschau"
Proble-
(seit 1977)
haben einen breiten Leserkreis gewonnen. Es werden soziologische graphien, Sammelbände und Buchreihen veröffentlicht. Soziologen praktisch tätig in der Vorbereitung und Implementierung von scheidungen auf verschiedenen Ebenen - von dem nationalen
Monosind
Leitungsent-
Planungssystem
bis zum einzelnen Betrieb. Ungefähr 3 5 0 Berufssoziologen haben ihren A r beitsplatz allein in Landwirtschafts- und Industriebetrieben. Eine
ak-
tive Tätigkeit zur Stärkung des beruflichen Selbstbewußtseins der Soziologen entwickelt die bulgarische soziologische Gesellschaft, die 1959 gegründet wurde und circa 1500 Mitglieder vereinigt - also
vergleichs-
weise ebensoviel wie die britische soziologische Gesellschaft. So hat sich die Soziologie zu einer verhältnismäßig
reifen Wissenschaft
w i c k e l t , die sowohl in der nationalen wissenschaftlichen
ent-
Gemeinschaft
als auch in der weiteren sozialen Umgebung der Wissenschaft eine hohe 2 Wertschätzung erfährt. Dieser institutionelle Fortschritt
ist ohne die tatkräftige
Unter-
stützung von politischen Instanzen undenkbar. In einer Gesellschaft, der die Politik alle anderen Sphären des gesellschaftlichen 2
in
Lebens ein-
V. Dobrijanov, B. Stavrov, N. Genov, Savremennata sociologija v B a l garija, Sofia 1978; N. .Yahiel, Sociology and Social Practice, O x f o r d 1984, Part One.
47
deutig bestimmt, ist dies unbedingt notwendig. Es ist unbestreitbar, daß gerade die politischen Entscheidungen auf höchster Ebene - des Politbüros und des Sekretariats des Zentralkomitees (ZK) der Bulgarischen Kommunistischen Partei - von 1967, 1974 und 1982 den stärksten Antrieb für die Institutionalisierung der Soziologie gegeben haben. Obwohl sie mit einer Reihe von Entscheidungen dieser Art in anderen sozialistischen Ländern vergleichbar sind, werden sie in ihrem konkreten Inhalt und in ihrer Effektivität auch von spezifischen nationalen Umständen mitbestimmt. Sie spiegeln in einer normativen Form die Veränderungen in der Theorie und Praxis-des Aufbaus der sozialistischen Gesellschaft im Lande wider, die nach der für die Soziologie sehr ungünstigen ersten Hälfte der 50er Jahre zustandekamen. Nach dieser Periode wurde es immer offensichtlicher, daß die raschen sozialen Veränderungen in den einzelnen sozialistischen Ländern neben vielen Gemeinsamkeiten auch beträchtliche Unterschiede aufweisen. Von der neuentstandenen soziologischen Wissenschaft wurde erwartet, daß sie ihren Beitrag zur Klärung der nationalen Spezifik für den technologischen, politischen, sozialen und kulturellen Fortschritt leistet. In diesem historischen Kontext erhielten die Wissenschaftler, die am Ende der 50er und am Anfang der 60er Jahre die Soziologie als einzelwissenschaftliche Disziplin begründeten und in großem Umfang empirische Untersuchungen durchführten, großes politisches Vertrauen. Von ihnen wurden insbesondere Anstöße zur Steigerung der Effektivität der sozialen Leitung erwartet. Von heutigem Standpunkt aus kann man rückblickend ohne weiteres sagen, daß sie dieses Vertrauen verdient haben. Die bulgarischen Soziologen waren von Anfang an bestrebt, nicht nur begründete wissenschaftliche Erkenntnisse über die Veränderung in der Gesellschaft anzubieten, sondern auch solche Kenntnisse, die möglichst unmittelbar zur Gewinnung von Leitungsentscheidungen beitragen - vor allem für Entscheidungen der zentrale^! Planungs-, Exekutiv- und Kontrollorgane. Gerade durch diese makrosoziale, auf handhabbares Wissen abzielende Orientierung läßt sich die vorherrschende Ausrichtung der Forschung erklären, vor allem ganzheitliche Prozesse auf der Ebene der gesamten Gesellschaft zu untersuchen. In dieser Forschungsstrategie, die auch von anderen Ländern in eigenen Forschungen vertreten sind, ist eine spezifische Nuance leicht erkennbar. In einem kleinen Land wie Bulgarien scheint die Gesellschaft relativ leicht durchschaubar zu sein. Dies ist die mehr oder weniger bewußte kognitive und sozialtechnologische Voraussetzung des in der bulgarischen Soziologie - im Unterschied zu der soziologischen Forschung in den anderen sozialistischen Ländern dominierenden Bestrebens nach der Durchführung repräsentativer empirischer Untersuchungen auf nationaler Ebene. Ihre Resultate bestimmen heute die wichtigsten Leistungen der bulgarischen Soziologie im Verlaufe
48
der letzten zwanzig O a h r e . 3 Derselben Forschungsstrategie
folgte auch
die Entscheidung, in das Programm der Volkszählung von 1985 bis 1986 eine Reihe von repräsentativen soziologischen Untersuchungen
aufzuneh-
men, und zwar für die Bereiche der Stadt und des Dorfes, des A r b e i t s vermögens und der Aktivierung der berufstätigen Bevölkerung, der V e r ä n derungen, Probleme und Lebensplanung der Persönlichkeit usw. Die A u f nahme eines solchen Umfangs von soziologischen Untersuchungen in das Programm einer Volkszählung ist ohne Beispiel für andere A u s dieser vorherrschenden erkenntnismäßigen und
Länder.
sozialtechnologi-
schen Orientierung auf die Systemebene der Gesellschaft a l s G a n z e s erklären sich auch Versuche, einen differenzierten
Gesellschaftsbegriff
zu entwickeln, und zwar aus soziologischer Sicht - zum Zweck der exakteren Begründung der soziologischen Erkenntnis selbst. Und stützt sich die am besten entwickelte Forschungsstrategie
in der Tat, im Sinne ei-
nes Paradigmas in der bulgarischen Soziologie auf einen solchen schaftsbegriff. Seine Subsysteme werden durch die Haupttypen
Gesell-
menschli-
chen Handelns definiert, und die Wechselwirkung dieser vier oder fünf Subsysteme wird als begrifflicher Rahmen angesehen, mit dessen Hilfe das soziologische Herangehen an die verschiedensten Strukturen und Pro-
4
zesse in der sozialen Wirklichkeit bestimmt werden kann.
In diesem Zu-
sammenhang kann man vielleicht mehr oder w e n i g e r begründet von e i n e r bulgarischen Schule in der gegenwärtigen marxistisch-leninistischen ziologie sprechen, in der hauptsächlich versucht wird,eine
So-
soziologi-
sche Systembetrachtung der Gesellschaft auszuarbeiten und den Begriff der soziologischen Struktur in diesem Kontext vielseitig anzuwenden 5 zu entwickeln.
und
Wenn w i r hier so einen verpflichtenden Begriff wie den der "wissenschaftlichen Schule" zur Charakterisierung dieser
Forschungsrichtung
verwenden, so soll das nicht über den realen Einfluß dieses H e r a n g e h e n s in der soziologischen Forschungspraxis hinwegtäuschen. T a t s ä c h l i c h
sind
die meisten theoretischen wie empirischen Untersuchungen im Lande nur annähernd durch diese Auffassung des G e g e n s t a n d s g e b i e t e s der Soziologie beeinflußt worden, und bei vielen anderen ist sie überhaupt ohne B e l a n g . Dafür sind jedoch tieferliegende Ursachen entscheidender, als es auf den ersten Blick erscheint. Bestimmend dafür ist die rasche D i f f e r e n z i e r u n g des Gesellschaftssystems und der soziologischen Erkenntnis. V i e l e Soziologen untersuchen vor allem einzelne Strukturen und Prozesse, zu deren Beschreibung und Erklärung ganz spezifische kategoriale M o d e l l e
ge-
bildet und gebraucht w e r d e n . Es.erscheint durchaus als möglich, daß auf 3
4 5
Vgl. zum Beispiel Sociologiceskata strukture na savremennoto balgarsko obstestvo, Sofia 1976; Harakteristika na balgarskoto n a s e lenie. Trudovi vazmoshnosti i realizacija, Sofia 1984; Socialnoklasovata strukture na savremenoto balgarsko obstestvo, Sofia 1986; Dnesnoto balgarsko semejstvo, Sofia 1987. Vgl. Z. Osavkov, Sociologijata kato nauka, Sofia 1970; St. Mihailov, Sociologiceski studii, Sofia 1982. Vgl. Osnovopoloznik na balgarska sociologiceska skola, Sofia 1985. 49
dieser Basis in absehbarer Zukunft auch alternative Auffassungen Gegenstandsgebiet der Soziologie, zu ihren Zielen und Mitteln
zum
entwickelt
und vertreten werden. A b e r welches auch immer die theoretischen und methodischen Unterschiede in der nationalen bulgarischen soziologischen
Forschergemein-
schaft sein mögen, in einer Hinsicht besteht zwischen ihnen Ü b e r e i n s t i m mung: Sie vertreten die Auffassung von der Soziologie als einer selbständigen, nichtphilosophischen Einzelwissenschaft. Diese Auffassung hat ihre nationale ideengeschichtliche Wurzel in den Arbeiten des einflußreichen Philosophen und Wissenschaftsorganisatoren T. Pavlov
(1890-
1977). Diese Soziologieauffassung wurde von ihm schon in den 30er fahren vertreten und auch in den weiteren Ausgaben seiner Arbeit "Widerspiegelungstheorie"
fundamentalen
entwickelt.^ In diesem Kontext der na-
tionalen ideengeschichtlichen Einflüsse, die die Besonderheiten der bulgarischen Soziologie heute mitbestimmen, kann man die Rolle von drei einflußreichen Persönlichkeiten nicht unerwähnt lassen. Zu ihnen zählt zweifellos Dimiter Blagoev (1856-1924) - ein hervorragend
ausgebildeter
Marxist und Begründer der Bulgarischen Kommunistischen Partei. Blagoev ist A u t o r von vielen Untersuchungen zu sozialökonomischen Problemen der Entwicklung Bulgariens, die heute als soziologisch oder der Soziologie sehr nahe stehend bezeichnet werden können. Vor allem ihm und seinen Mitstreitern ist es zu verdanken, daß der Einfluß des Marxismus in der bulgarischen demokratischen Intelligenz tief verwurzelt ist, was die rasche theoretische und ideologische Konsolidierung der bulgarischen ziologie nach dem zweiten Weltkrieg sehr erleichtert
So-
hat.
Von den Nachfolgern Blagoevs genießt Georgi Dimitrov (1882-1949)
das
höchste intellektuelle wie politische Ansehen. Seine Bedeutung in dem hier uns interessierenden Kontext kann man an zwei seiner Ideen überzeugend darstellen, die das nationale Selbstbewußtsein der bulgarischen Soziologie von heute tief beeinflußt haben. Das sind einerseits seine Auffassung von den nationalen Besonderheiten bei der Bildung der politischen Struktur der bulgarischen sozialistischen Gesellschaft
und
andererseits von dem bulgarischen Weg für Kollektivierung in der Landwirtschaft. Besonders erwähnenswert sind auch die originellen gen des Volkspsychologen Ivan Hadzijski
(1907-1944) 7 , die
von vielen bulgarischen Soziologen von unterschiedlichen gen aus wissenschaftlich aufgearbeitet
Forschun-
gegenwärtig Fragestellun-
werden.
Von ihren soziokulturellen Wurzeln, ihrem theoretischen Inhalt
und
von der sozial-technologischen Orientierung her ist die gegenwärtige bulgarische Soziologie also eng mit ihrem nationalen Kontext
verbunden.
Sie wird von diesem nicht nur tiefgreifend beeinflußt, sondern wirkt ihrerseits auch auf ihn ein. Obwohl sie später als andere nationale Traditionen entstanden ist, hat sich die bulgarische soziologische
6 7 50
Tradi-
S. T. Pavlov, Izbrani proizvedenija, t. 5, Sofia 1962, S. 381. Vgl. I. HadSijski, Sacinenija, t. I, II, Sofia 1974.
tion schnell entwickelt, sie ist lebendig und hat ihre eigene und professionelle
kognitive
Perspektive.
Wie ist die nationale soziologische Tradition in Bulgarien mit den Errungenschaften, Problemen, Tendenzen in der Weltsoziologie In welchem Grad lassen sich Internationalisierungstendenzen
verbunden? in der ge-
genwärtigen bulgarischen Soziologie feststellen? Die Beantwortung
die-
ser Frage kann zunächst damit beginnen, daß das theoretische und ideologische Selbstbewußtsein der soziologischen Forschergemeinschaft
in
Bulgarien durch ihre Zugehörigkeit zu der marxistischen geistigen T r a dition stark ausgeprägt ist. Und insoweit diese Tradition ihrem Wesen nach zutiefst internationalistisch ist, spiegelt sie die allgemeinen Züge der sozialökonomischen und kulturellen Situation in der modernen Welt wider, trägt der theoretische und ideologische Kern der bulgarischen Soziologie auch einen ausgesprochen internationalen Charakter. Es ist natürlich anzunehmen, daß dieser Kern einen bestimmenden auf das Forschungsprogramm der bedeutendsten bulgarischen
Einfluß
Soziologen
ausübt. Dieser Einfluß läßt sich eindeutig in der vorherrschenden krosozialen theoretischen und empirischen Orientierung
ma-
feststellen, in
dem Bestreben nach dem Aufbau und der A n w e n d u n g sozial-universaler grifflicher Modelle, im Inhalt des soziologisch interpretierten
be-
Gesell-
schaftsbegriffs. Dieser Einfluß ist auch unbestreitbar in der klaren und konsequenten Einstellung auf die Erzielung eines praktischen der soziologischen Forschungsarbeit im Einklang mit bestimmten schen und ideologischen Zielen. Daher ist es natürlich, daß die rische Aneignung der marxistischen geistigen Tradition,
schöpfe-
einschließlich
ihres internationalen big weitergeführt
Effekts
politi-
theoretischen wie wertmäßigen Inhalts, p wird.
zielstre-
Gemeinsamkeiten bei der Lösung sozialer Probleme und Aufgaben
und
auch der bei ihrer Erforschung angewendeten Ideen und Herangehensweisen verbinden natürlich die bulgarische soziologische
Forschergemeinschaft
mit den Soziologen sozialistischer Länder und vor allem mit
sowjetischen
Soziologen. Diese kognitiven und geistig-sozialen Bindungen sind fest in verschiedenen organisatorischen Formen der bi- und multilateralen sammenarbeit verankert zwischen den Akademie-Instituten
Zu-
und den U n i v e r -
sitäten, im Rahmen der Zusammenarbeit der Partei, üugend- und G e w e r k schaftsorganisationen
und verschiedenen anderen Institutionen und O r g a -
nisationen. Eine intensive und effektive Arbeit entwickelt die M u l t i l a terale Problemkommission der Soziologen aus den sozialistischen
Ländern.
Soziologen verschiedener Generationen nehmen an der Arbeit der V a r n a e r Soziologenschule
teil. Diese ist dem Wesen nach eine internationale
For-
schergemeinschaft von Soziologen aus den sozialistischen Ländern. In ihrem Rahmen stellen die bulgarischen Soziologen ihre theoretischen delle zur Diskussion, vergleichen die Ergebnisse ihrer empirischen 8
Vgl. zum Beispiel P„-E. Mitev, Ot socialnija problem kam otkritija, Sofia 1984.
MoUn-
svetogledni
51
tersuchungen mit denen aus den sozialistischen Ländern. Dabei erfolgt auch ein Vergleich und die Prüfung von Kriterien für wissenschaftliche Problemstellungen und Leistungen in der Soziologie als Disziplin. Die theoretischen Modelle und die wissenschaftlichen Kriterien, die von bulgarischen Soziologen und ihren Kollegen aus den
sozialistischen
Ländern erarbeitet, angewendet und überprüft werden, sind häufig auch von allgemeinerer Bedeutung. D a s gilt vor allem für die Analyse der gegenwärtigen wissenschaftlich-technischen Revolution, für ihre sozialen Voraussetzungen, ihren Inhalt und ihre Folgen. Sie bilden die
substan-
tielle B a s i s der Offenheit der bulgarischen Soziologie für theoretische Modelle und Forschungstechniken, die in den Forschergemeinschaften
der
Soziologen in den entwickelten kapitalistischen Ländern wie in den USA, in Frankreich und in der BRD oder in den Entwicklungsländern wie Indien und Mexiko ausgearbeitet und angewendet werden. Die starke Tendenz zur Professionaliaierung der Soziologie in Bulgarien führt
notwendigerweise
zur Verstärkung der Beziehungen zur internationalen Soziologie,
auch
wegen der objektiven Schwierigkeiten, wissenschaftlich begründete
Kri-
terien in einem kleinen Lande mit zahlenmäßig sehr beschränktem w i s s e n schaftlichem Potential entwickeln und anwenden zu müssen. Die einzige erfolgversprechende Lösung dieses fundamentalen Problems ist die A n e r kennung der Gültigkeit der Kriterien wissenschaftlicher
Problemstellun-
gen und Leistungen, die in der internationalen Forschergemeinschaft
an-
gewendet werden. D a s setzt natürlich ihre Kenntnis voraus. Dazu ist es auch notwendig, sich sowohl die Ideen der soziologischen Klassiker als auch der führenden Vertreter der gegenwärtigen nichtmarxistischen g ziologie kritisch anzueignen.
So-
Dasselbe Bestreben liegt auch den Bemühungen Bulgariens zugrunde, sich ausländische wissenschaftliche Erfahrungen anzueignen, die Leistungen der Soziologie in Bulgarien mit den Leistungen der internationalen Soziologie zu vergleichen, die persönlichen und organisatorischen Kontakte der bulgarischen Soziologen zu
internationalisieren.
Sie nehmen aktiv an der Arbeit der Internationalen soziologischen A s soziation wie an den von ihr organisierten Weltkongressen logie teil, sie haben leitende Funktionen in ihren
für Sozio-
Forschungskomitees
inne. Anerkannt ist die Rolle der bulgarischen Soziologie in der T ä t i g keit der mit der UNESCO verbundenen wissenschaftlichen
Organisationen
wie der International Federation of Social Science Organizations und dem Europäischen Zentrum für Forschung und Dokumentation auf dem Gebiet der Sozialwissenschaften in Wien. Es werden auch ständig Arbeiten bul10 garischer Soziologen in andere Sprachen übersetzt und sowohl in bul9 10
52
Vgl. zum Beispiel N. Genov, Rationalität und Soziologie, Sofia 1986. Übersetzungen von Arbeiten bulgarischer Autoren erscheinen jährlich in Russisch in "Bolgarskij sociologiceskij z u m a l " und in Englisch im "Bulgarian Journal of Sociology". Sammelbände in Englisch werden auch regelmäßig veröffentlicht. Vgl. Contemporary Sociology in Bulgaria Publishing House of the Bulgarian A c a d e m y of Science, Sofia 1978; Sociological Theory and Social Practice, ebenda 1982, Society and Social Change, Svyat Publishers, Sofia 1986.
garischen als auch in internationalen Publikationen veröffentlicht, um den ständigen wissenschaftlichen Austausch zu gewährleisten. Eine Bestätigung der Effektivität ihrer Tätigkeit sowohl innerhalb des Landes als auch auf internationaler Ebene ist die Tatsache, daß der VII. Weltkongreß für Soziologie ±970 in Varna stattfand. Welches sind die Wechselbeziehungen von nationaler Lokalisierung und Internationalisierung in der bulgarischen Soziologie? Die wichtigste Herausforderung an die bulgarische Soziologie geht gegenwärtig von der Verwirklichung der wissenschaftlich-technischen Revolution aus. Diese führt zu tiefgreifenden strukturellen Veränderungen in der Wirtschaft und in der Arbeitsorganisation, zu neuen Anforderungen an das Bildungsniveau, an die Entwicklung des kulturellen Lebens, an die Freizeitgestaltung. Die Erforschung wie die Leitung dieser Prozesse verlangen eine qualitativ neue Stufe in der beruflichen Ausbildung der Soziologen, Veränderungen in der Organisation der Forschungsarbeit wie in den Mechanismen der Umsetzung soziologischer Kenntnisse in die Praxis. Eine gewisse Sicherheit, diese Aufgaben erfolgreich zu lösen, ist durch die bisher erreichten theoretischen Ergebnisse und die durchgeführten bedeutenden empirischen Forschungen gegeben. Bedeutende Erfahrungen sind auch bei der Nutzung von Resultaten empirischer Forschungen in der Tätigkeit von Partei- und Staatsorganen gesammelt worden. Bedenklich ist jedoch, daß die bisher durchgeführten Untersuchungen auf der Ebene der Gesellschaft als soziales Ganzes vor allem auf ihre Struktur und Funktionsweise und weniger auf Entwicklungsmechanismen konzentriert sind. Demzufolge sind auch Theorie und Methodik der Erforschung von organisierten sozialen Veränderungen unzureichend ausgearbeitet, die dem Wesen nach den sozialen Inhalt des wissenschaftlichtechnischen Fortschritts ausmachen. Neue Erklärungsmodelle und Forschungsmethodiken sind zur wissenschaftlichen Ausarbeitung der Veränderungen im Verhältnis zur Arbeit, in der Bildung, in der Familie, im ganzen Wertsystem der bulgarischen Gesellschaft notwendig. Kurz gesagt, es ist eine qualitativ neue Etappe in der Professionalisierung der nationalen soziologischen Gemeinschaft zu bewältigen, damit sie den neuen gesellschaftlichen Anforderungen und Bedürfnissen gerecht werden kann. Dazu ist es notwendig, daß sich die Soziologie noch intensiver mit ihrem nationalen Kontext beschäftigt, ihre vielseitigen Funktionen in der natio11
nalen Gesellschaft genauer wahrnimmt. Es mag paradox klingen, aber in der Tat können diese neuen Aufgaben nur erfolgreich gelöst werden, wenn man die wissenschaftliche Erfahrung der Länder aufarbeitet, in denen der wissenschaftlich-technische Fortschritt bereits höhere Leistungen erbracht hat. Es müssen daher auch die realen sozialen Prozesse in den entwickelten Industrieländern genauer untersucht werden, da sie auf verschiedene Art und Weise - in Abhängig11
Vgl. auch N. Oahiel, Sociologijata pred novi zadaci, in: Sociologiceski problemi, 6/1986, S. 3/4. 53
keit von den Unterschieden in der ökonomischen und politischen
Organi-
sation, in der kulturellen Tradition usw. - auch Perspektiven und Tendenzen aufwerfen können, die für die Entwicklung der bulgarischen G e sellschaft von Interesse sein können. In einem weit höheren Maße als bisher ist es auch notwendig, die ökonomischen, politischen und kulturellen Prozesse auf internationaler Ebene soziologisch zu untersuchen, von denen ein kleines Land wie Bulgarien sehr stark abhängig ist. Das gilt vor allem für die Auswirkungen, die verschiedene globale Probleme auf unser Land haben. A n d e r s gesagt, die Internationalisierung des sozialen Lebens verlangt auch eine neue Qualität in der sierung der bulgarischen
Internationali-
Soziologie.
Die Bemühungen, die nationale Lokalisierung mit der
Internationali-
sierung der bulgarischen Soziologie in Einklang zu bringen, werden auch weiterhin durch die begrenzten Ressourcen des Landes bestimmt. Die genaue Bestimmung dieser nationalen Einschränkungen erfordern ständig
in-
ternationale Vergleiche, einen breiten Überblick über die Leistungen und Probleme der Soziologie in den anderen Ländern. Die bulgarische nationale soziologische Tradition kann nur entwickelt werden, indem sie sich weiter internationalisiert, oder anders gesagt, die
Internationali-
sierung der bulgarischen Soziologie vollzieht sich, indem man die n a t i o nale soziologische Tradition
54
weiterentwickelt.
ab. f. Soziologie und Sozialpolitik
1989
Zinaida Tichonovna Golenkova Zur Entwicklung der marxistisch-leninistischen listischen Ländern
Soziologie in den
sozia-
Europas
Die marxistische Soziologie hat sich in Vergangenheit und Gegenwart nicht isoliert innerhalb eines bestimmten Landes oder einer Gruppe von Ländern entwickelt, sondern ist das Ergebnis des kollektiven
Denkens
und schöpferischen Handelns von marxistischen Soziologen und von progressiven Wissenschaftlern verschiedener Länder. A l s
Internationales
Phänomen verkörpert die marxistische Soziologie einen
einheitlichen
Prozeß, der sich nicht auf das Schaffen einzelner regionaler Linien oder gar einzelner, wenn auch hervorragender, V e r t r e t e r dieser W i s s e n schaft zurückführen läßt. Die Aufgabe der Verallgemeinerung von E r f a h rungen der Entwicklung der marxistischen soziologischen T h e o r i e im internationalen Maßstab setzt die vorherige gründliche Erforschung
der
Entwicklung dieser Theorie in den verschiedenen Ländern v o r a u s . Wie im politischen Referat des X X V I I . Parteitages der Kommunistischen der Sowjetunion
(KPdSU) hervorgehoben wurde, sind "eine
Partei
aufmerksame,
rücksichtsvolle Haltung zu den gegenseitigen Erfahrungen und deren
i praktische Verwertung eine riesige Reserve der sozialistischen Welt" . Die positiven Erfahrungen aus der Zusammenarbeit der Soziologen
der
Länder des Sozialismus tragen zur Festigung der Positionen d e r m a r x i stisch-leninistischen Soziologie in der gesamten Welt bei, sie v e r s t ä r ken ihren Einfluß auf die Ideenwelt der westlichen Soziologen und d e r Soziologen der Entwicklungsländer im Kampf gegen
wissenschaftsfeindli-
che Sozialtheorien, sie begünstigen die Einbeziehung breiter Schichten der progressiven Intelligenz in der gesamten W e l t . D a s Bestreben
nach
Unterstützung durch marxistische Konzeptionen ist besonders spürbar bei den Vertretern der
Entwicklungsländer.
Die Grundlagen tür die Konstituierung und Entwicklung der marxistischen Soziologie wurden bekanntlich bereits im 19. und zu Beginn des 2 0 . Jahrhunderts durch K. Marx, F. Engels und W. I. Lenin
ausgearbeitet.
Marx führte den Begriff der ökonomischen G e s e l l s c h a f t s f o r m a t i o n
als
Gesamtheit der Faktoren der Produktionsverhältnisse ein und wies nach, daß die Entwicklung dieser Formationen ein n a t u r h i s t o r i s c h e r P r o z e ß Mit dieser Entdeckung der materialistischen 1
ist.
Geschichtsauffassung
M . Gorbatschow, Politischer Bericht des Z e n t r a l k o m i t e e s der KPdSU an den XXVII. Parteitag vom 25. Februar 1986, Moskau 1986, S. 104. 55
war der Grundstein für die Geschichte der marxistischen Soziologie
ge-
legt. Lenin hat in schöpferischer Anwendung der dialektischen Lehre von den Beziehungen vom Allgemeinen, Besonderen und Einzelnen auf das Wesen der sozialen Bewegungen gegen Ende des 19. und zu Anfang des 20. Jahrhunderts den Hauptinhalt, die wesentlichen Charakterzüge und Gesetzmäßigkeiten unserer Epoche aufgedeckt, die auch als Grundlage für die Erfassung detaillierter Besonderheiten eines bestimmten Landes von Bedeutung sind. Er setzte sich dabei konsequent mit den Prinzipien des mechanischen D e t e r m i n i s m u s auseinander, denen zufolge die objektiven
gesell-
schaftlichen Gesetze analog wie Gesetze der Natur wirken und die gesamte Vielfalt und Komplexität des Sozialen innerhalb dieses Erklärungsschemas erfaßt wurden. Lenins gesamtes revolutionäres Schaffen sich unmittelbar gegen jedweden Schematismus in der Erforschung
richtete gesell-
schaftlicher Prozesse, gegen jedwede Unterordnung unter bereits vorher "bekannte" Gesetze, und gegen jedwede Ignoranz gegenüber der Bedeutung des Einzelnen und Besonderen im Entwicklungsprozeß. In den A r beiten von Marx, Engels und Lenin wurden nicht nur grundlegende
theo-
retische Einsichten über den Gegenstand, die Prinzipien und Methoden der marxistischen Soziologie im Prozeß der Herausbildung der materialistischen Anschauungen des historischen Prozesses entwickelt,
sondern
auch das Fundament für die Entwicklung einer empirischen Tradition
und
die Anwendung der konkreten soziologischen Forschung und Sozialstatistik über die soziale Lage der Werktätigen geschaffen. Zu diesen gehören die bereits klassischen Arbeiten wie "Die Lage der arbeitenden Klasse in England" von Engels, "Die Entwicklung des Kapitalismus in Rußland", "Zur Statistik der Streiks in Rußland", "Statistik und Soziologie", "Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus" von Lenin und viele andere. Man muß hier auch eine Reihe von Arbeiten nichtmarxistischer Soziologen erwähnen, die in dieser Periode
Forschungen
zur Lage der Werktätigen in den einzelnen Ländern Europas durchgeführt haben, da diese Periode zusammenfiel mit der Herausbildung eines n a t i o nalen Selbstbewußtseins, mit dem Kampf der Völker zahlreicher Länder um ihre nationale und soziale Befreiung, mit der Tätigkeit der II. Internationale. Obgleich diese Forschungen nicht auf marxistischer Grundlage beruhten, haben ihr progressiver soziologischer Ideengehalt zur Herausbildung objektiver Voraussetzungen
für die Entwicklung einer marxisti-
schen soziologischen Wissenschaft auf nationalem Boden Ein neuer Impuls zur Präzisierung des marxistischen
beigetragen. soziologischen
Denkens ging von der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution aus, als unter ihrem unmittelbaren Einfluß und unter dem Einfluß der Ideen von Lenin kommunistische Parteien in allen Ländern Europas gegründet wurden, die begannen die theoretischen Erkenntnisse der
marxistisch-leninisti-
schen Soziologie für die wissenschaftliche Analyse von
Schlüsselproble-
men der Gesellschaft, zur Analyse der Klassen- und Sozialstruktur, nationalen Problemen und Problemen der Landwirtschaft Lenins Arbeiten haben viel zur theoretischen und 56
von
anzuwenden.
methodologischen
Begründung der Soziologie beigetragen, die auf den Prinzipien des historischen Materialismus basiert und gleichzeitig zur Erforschung der konkreten gesellschaftlichen Verhältnisse in einer historisch konkreten G e sellschaft befähigen mußte. Deshalb hat Lenin bereits im Jahre 1918 auf dem Höhepunkt d e s Kampfes um einen neuen proletarischen Staat e s a l s wichtigste Aufgabe erachtet, die sowjetische Gesellschaft konkret zu erforschen und forderte von der Akademie für G e s e l l s c h a f t s w i s s e n s c h a f t e n eine auf langfristige Ziele orientierte Sozialforschung
t
2
durchzuführen.
Zweifellos ist die tiefere theoretische D u r c h d r i n g u n g des
soziologi-
schen E r b e s unserer Klassiker im Hinblick auf Entwicklungstendenzen
und
-Verläufe der marxistischen Soziologie a l s Disziplin geboten. D i e s trifft gegenwärtig nicht n u r für die Beziehungen von historischem rialismus und Soziologie als philosophischer und
Mate-
einzelwissenschaftli-
cher Disziplin zu, sondern berührt v o r allem auch Fragen der A u s a r b e i tung der kategorialen Ebene zweigsoziologischer und spezieller
soziolo-
gischer T h e o r i e n . In den ersten Jahren nach der Oktoberrevolution w a r die
marxistische
Soziologie in der UdSSR ausgerichtet auf eine enge V e r b i n d u n g
zwischen
der Sozialtheorie und dem praktischen Kampf von Partei und Volk um die sozialistische Umgestaltung dsr Gesellschaft, auf die D u r c h f ü h r u n g
em-
pirischer Forschungen zu den realen Prozessen des gesellschaftlichen
Le-
bens. Zu dieser Zeit führten die marxistischen Soziologen zahlreiche so*ziologische Forschungen durch, deren Ergebnisse einen w e s e n t l i c h e n B e i trag zur Lösung der konkreten sozialen und ökonomischen Probleme d e r Obergangsperiode erlaubten. Zu ihnen gehören in den 20er Jahren die A r beiten von S. G . Strumilin, L. E. Minz, S. 3 . Vol'fson,. N . A . Sema^ko, A . Gastev, V . M . Bechterev, L. S. Vygoteki, S. A . O r a n s k i und vielen anderen.' Der A u f b a u dee Sozialismus in der UdSSR in der zweiten Hälfte der 20er und zu Beginn der 30er Jahre vollzog sich unter den schwierigen B e dingungen der internationalen kapitalistischen "Einkreisung", und es waren auch zahlreiche innere Probleme nicht gelöst. Unter diesen B e d i n gungen mußten neue soziale Probleme bewältigt werden. Es ging um den Charakter der Obergangsperiode vom K a p i t a l i s m u s zum Sozialismus, um die Wege zur Lösung dieser Widersprüche, um die Gesetzmäßigkeit in d e r E n t wicklung der sozialistischen Gesellschaft, um die Veränderungen in d e r Sozialstruktur der Gesellechaft, um die Beziehungen zwischen den K l a s sen und Nationen, um die Probleme d e r kulturellen Revolution und d e s ideologischen Kampfes. Bei der Löeung dieser Fragen hätte die m a r x i 2 3
Vgl. W . I. Lenin, O b e r eine sozialistische A k a d e m i e für G e s e l l schaftswissenschaften. int Werke. B d . 27, Berlin 1978, S. 3 9 9 . Gegenwärtig gewinnt die Aufarbeitung der Ergebnisse der S o z i o l o g i e entwicklung in den 20er Jahren zunehmende Bedeutung für die theoretische Selbstbestimmung der Soziologie. Vgl. ausführlicher, P o r t r ä t s russischer und sowjetischer Soziologen, Sonderheft 1987 der S c h r i f tenreihe des ISS, Soziologie und Sozialpolitik, Beiträge aus d e r Forschung.
57
stisch-leninlstische Soziologie eine positive Rolle spielen
können.
Die Ereignisse, die sich nach Lenins Tod in der UdSSR voil^ooen, waren jedoch für die Konstituierung und Entwicklung der
soziologischen
Wissenschaft ungünstig. Sie führten dazu, daß die fortschrittlichen
so-
ziologischen Traditionen vergessen und schließlich für überflüssig gehalten wurden. Eine allseitige Analyse der Ursachen dieser Entwicklung kann gegenwärtig noch nicht gegeben werden. Tatsache ist jedoch, daß in den 30er Oahren eine Situation die Oberhand gewann, derzufolge
davon
ausgegangen wurde, daß die sozialistische Gesellschaft gegenüber der kapitalistischen den Vorteil habe, daß Grundlage ihrer Entwicklung der historische Materialismus als wissenschaftliche Theorie sei, in der alle gesellschaftswissenschaftlichen,
objektiven und
erforderlichen.Gesetze
enthalten seien, (die sich in den theoretischen Auffassungen 0. W. Stalins widerspiegelte). Ihre weitere Entwicklung vollziehe sich anscheinend gemäß den festgestellten Gesetzen, ohne Überraschungen und unvorhergesehene Ereignisse und die schwierigen Probleme des Menschen und des Verhältnisses zwischen Gesellschaft und Individuum seien in der Praxis gelöst. Deshalb sei auch die Wissenschaft, die sich mit diesen Problemen befaßt, nicht notwendig. Die Soziologie wurde allmählich zu einer nichtmarxistischen Pseudowissenschaft dequalifiziert. Dadurch wurde in der UdSSR in den 3 0 e r und 40er Oahren die Entwicklung der Soziologie
ge-
hemmt. Es wurden praktisch keine soziologischen Forschungen mehr durchgeführt, es wurden keine Soziologen ausgebildet und es wurde keine soziologische Fachliteratur publiziert. D o g m a t i s m u s und
scholastisches
Theoretisieren begannen in den Gesellschaftswissenschaften zu dominieren. In diesem Zeitraum, das heißt also in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, war die Sj,£üation der marxistischen Soziologie in den Ländern Europas schwierig. Die marxistische Soziologie wurde lange Zeit nicht an den Universitäten zugelassen und gelangte im Bedarfsfalle zu nichtakademischen Ausdrucksformen. Ihre Entwicklung war in der Hauptsache verknüpft mit der revolutionären Publizistik und mit ren Zirkeln. Viele Arbeiten wurden in Untergrundverlagen
revolutionä-
publiziert.
Die Weltwirtschaftskrise in den Oahren von 1930 bis 1934 verstärkte und verschärfte noch die antagonistischen Widersprüche zwischen und Arbeit, die für den gesamten Prozeß der sozialökonomischen
Kapital Entwick-
lung der kapitalistischen Länder charakteristisch sind. In Deutschland und in einigen anderen europäischen Ländern wirkte sich die Verknüpfung der schärfsten sozialen und nationalen Widersprüche auf die gesamte gesellschaftspolitische Lage aus, sie beschleunigte den Prozeß der Verbreitung des faschistischen Ungeistes und Terrors. In dieser Zeit übte der Marxismus-Leninismus in verschiedenen
Ländern
einen starken Einfluß auf einen bedeutenden Teil der Intelligenz aus, die ungelöste Probleme ihrer Gesellschaftsordnung besonders te«
reflektier-
In dem Maße, wie sich der politische Kampf und die Zunahme der A r -
beiterbewegung verschärften, neigte sich die fortschrittliche
58
Intelli-
genz immer mehr der Arbeiterbewegung zu, später beteiligte sie sich am nationalen Befreiungskampf in der Zeit von 1939 bis 1956. Einzelne V e r treter der progressiven bürgerlichen Soziologie wandten in ihrer Forschungsarbeit die Methodologie des M a r x i s m u s aktiv an, da sie in ihr die fruchtbarste Wissenschaftskonzeption
sahen. Ihre Hinwendung zum M a r x i s -
mus war zu diesem Zeitpunkt in nicht geringem Maße durch ihre Opposition gegenüber dem Faschismus bedingt. Die nationale und soziale Unterdrückung, die Verfolgung von allem Fortschrittlichen, das Anwachsen der allgemein demokratischen und n a t i o nalen Befreiungsbewegungen, die Verstärkung des Kampfes der Volksmassen Europas für ihre ökonomischen, sozialen und politischen Rechte, die B e drohung durch den Faschismus und das Beispiel der Entwicklung der UdSSR als erstem sozialistischen Staat in der Welt, das ist der
sozialpoliti-
sche Hintergrund für die Entwicklung der marxistischen Soziologie in der Periode zwischen den beiden
Weltkriegen.
Die erforderlichen Voraussetzungen
für die weitere Festigung der mar-
xistisch-leninistischen Soziologie entstanden erst nach dem zweiten
Welt-
krieg, als die Schaffung eines weltweiten Systems des S o z i a l i s m u s zu ihrer schöpferischen Weiterentwicklung
beitrug.
Die Entwicklung der soziologischen Wissenschaft verlief in den listischen Ländern in der Nachkriegszeit widersprüchlich,
sozia-
sie hatte
Hoch- und Tiefpunkte zu verzeichnen. In jedem Land wurde sie beeinflußt durch die Traditionen des revolutionären und progressiven (darunter auch soziologischer' Ideen). Soziologisches und
Gedankengutes sozialpoliti-
sches Denken waren stets eng miteinander verflochten. D a sie sich mit den bedeutendsten und lebenswichtigen sozialen Problemen befaßt,
haben
sich auch die progressiven Denker und Soziologen der verschiedenen der unter Berücksichtigung ihrer jeweiligen konkret-historischen
Län-
Bedin-
gungen diesen Problemen zugewandt, sie suchten nach Wegen und M e t h o d e n zu ihrer Lösung, sie entwickelten aktiv die soziologische Theorie,
wo-
bei sie auch die Lehren des Marxismus schöpferisch anwandten. T r o t z vieler Gemeinsamkeiten, die den Entwicklungsprozeß der Soziologie in den sozialistischen Ländern charakterisieren,
sind auch w e s e n t l i c h e B e -
sonderheiten und Vielfalt in ihrer Entwicklung in den einzelnen
Ländern
zu beobachten. Sie finden ihren A u e d r u c k in den untersuchten
Fragestel-
lungen, im unterschiedlichen Grad der Erforschung bestimmter
Probleme
und in den Wegen zu ihrer Lösung. Hierbei beziehen wir uns auf einen ganzen Komplex von Fragen: den ' Entwicklungsgrad des konzeptuelen und begrifflichen
Instrumentariums,
die Beziehungen von theoretischer und empirischer Forschung,
d e n Grad
der Erforschung dieser oder jener Probleme, die A n z a h l der q u a l i f i z i e r ten Kader und das Vorhandensein e i n e s entsprechenden
Ausbildungssystems
für diese Kader, den Entwicklungsgrad des Netzes w i s s e n s c h a f t l i c h e r
Ein-
richtungen und deren materieller Basis, die gesamte Atmosphäre der B e ziehungen zur Wissenschaft von seiten der Staats- und P a r t e i o r g a n i s a tionen sowie der gesellschaftlichen Organisationen, den Grad der B e t e i 59
ligung der Wissenschaft an der Entwicklung und Realisierung der Sozialprogramme und Beschlüsse, ihre Verbindung zur Praxis. D a s alles zusammengenommen führt zu dem Phänomen, das als Ungleichmäßigkeit in der Entwicklung der Soziologie als Disziplin bezeichnet wird. Und dies bedingt auch die Periodisierung der Geschichte der Soziologie, die keine einfache Wiederholung der Hauptperioden der allgemeinen menschlichen Geschichte ist, sie ist konkret und spezifisch für jedes einzelne Volk und wiederholt sich nicht unverändert in der Geschichte anderer Völker. Die
Periodisie-
rung in der Geschichte der Soziologie muß im Zusammenhang mit ihren zifischen Gesetzmäßigkeiten,
spe-
mit der inneren Entwicklungslogik der So-
ziologie, das heißt mit dem Gegenstand der Forschung gesehen werden. Folglich hat sich die marxistische Soziologie auch unter dem Einfluß fortschrittlicher nationaler Traditionen herausgebildet. Dazu zählt das - durchaus unterschiedliche - soziologische Erbe, das entweder beschleunigend oder hemmend auf die Entwicklung der Soziologie in der Nachkriegsperiode wirkte, aber auch der Einfluß des weltweiten
soziologi-
schen Ideenguts, da die Entwicklung der Soziologie als Wissenschaft
auch
von relativ selbständigen inneren Entwicklungsgesetzen bestimmt wird. In den ersten Nachkriegsjahren war das Hauptaugenmerk auf die O b e r windung des bürgerlichen Einflusses,auf die Entwicklung eines progressiven Erbes, auf die Verknüpfung des marxistischen theoretischen D e n kens mit der Praxis der sozialistischen Revolution und des sozialistischen A u f b a u s gerichtet. Zu dieser Zeit erfolgte die Umstrukturierung der Lehrpläne für die Gesellschaftswissenschaften
auf der Basis der
marxistisch-leninistischen Methodologie, e s entfalteten sich umfangreiche Aktivitäten zur Übersetzung und zur Erforschung der wichtigsten Werke von Marx, Engels und Lenin. Mit großem Interesse verfolgte die wissenschaftliche Öffentlichkeit in den sozialistischen Ländern in den Nachkriegsjahren erstmals die Arbeiten der sowjetischen
Gesellschafts-
wissenschaftler, von denen viele Arbeiten in die entsprechenden
Spra-
chen übersetzt worden sind. Die wichtigsten Ergebnisse der Tätigkeit der Marxisten in der ersten Etappe der Nachkriegsentwicklung der sozialistischen Länder in Europa war die endgültige Zerschlagung der Ideologie des Faschismus, die Oberwindung des Einflusses bürgerlicher
ideali-
stischer und nationalistischer Schulen und Strömungen. Im ersten Oahrzehnt entwickelte sich die Soziologie vorzugsweise im Rahmen der Philosophie, genauer des historischen Materialismus. Eine Ausnahme stellt die VR Polen dar, wo sofort nach Beendigung des zweiten Weltkrieges Lehrstühle für Soziologie eingerichtet und Studenten in der Fachrichtung Soziologie ausgebildet worden
sind.
Häufig wurde in dieser Zeit die Kritik der bürgerlichen
Konzeptionen
und Theorien in Form der vereinfachten Gegenüberstellung der Lehren bürgerlicher Philosophen und Soziologen mit allgemeinen marxistischen
Grund-
sätzen praktiziert. D a s theoretische Erbe der Klassiker des MarxismusLeninismus und insbesondere die Dialektik und deren Anwendung auf die gesellschaftliche Praxis wurde dabei nicht in ihrer gesamten Tiefe er-
60
faßt und angeeignet. O a s Hauptinteresee galt Fragen, die sich auf die A n a l y s e der allgemeinen Gesetzmäßigkeiten und spezifischen Besonderheiten der
sozialisti-
schen Revolution bezogen, auf die Rolle von P a r t e i und Staat in der sozialistischen Gesellschaft, die Triebkräfte der sozialistischen
Revolu-
tion, die Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung des Klassenkampfes in der Obergangsperiode, die Veränderungen des gesellschaftlichen
Bewußtseins,
die Gesetzmäßigkeiten der Obergangsperiode vom K a p i t a l i s m u s zum Sozialismus, die Rolle der Volksmassen und der Persönlichkeit in der G e schichte usw. Erheblich weniger Beachtung fanden die Entwicklung der
kategorialen
Grundlagen der Soziologie, ihrer Methodologie, da ihre Spezifik als W i s senschaft nicht präzise bestimmt w a r . Empirische Fakten, auf deren Grundlage Verallgemeinerungen und Schlußfolgerungen erfolgten, aus Beobachtungen, Archivmaterialien, Statistiken, Befragungen, ten geschöpft, sie waren nicht das Ergebnis eigenständiger
wurden Berich-
soziologi-
scher Forschungen. Z u den Schwierigkeiten ihrer Entwicklung gehört auch, daß die Ende der 40er Oahre und zu Beginn der 50er Oahre in den
sozia-
listischen Ländern (darunter auch in der UdSSR) vertretenen A u f f a s s u n gen von der Soziologie als bürgerlicher Wissenschaft von einigen V e r tretern der Gesellschaftswissenschaft noch immer w i r k t e n . In der Nachkriegszeit nahm in den sozialistischen Ländern die A b h ä n gigkeit der Soziologie von der Praxis, von politischen
Entscheidungen
in dem Maße zu, wie sie zu einer empirischen Wissenschaft w u r d e . Für die umfassende Entwicklung empirischer Forschungen sind staatliche
Fi-
nanzierungsquellen erforderlich, ferner eine Vielzahl fachlich q u a l i f i zierter Kader, eine schnelle Umverteilung w i s s e n s c h a f t l i c h e r Kräfte und menschlicher Ressourcen, teure D a t e n v e r a r b e i t u n g s a n l a g e n .
Entscheidun-
gen zu diesen Fragen können unter den Bedingungen der Planwirtschaft nur zentrale Leitungs- und Verwaltungsorgane treffen. Die L e i t e r der verschiedenen Ebenen haben die Bedeutung dieser Disziplin nicht richtig begriffen, da sie in nicht ausreichendem Maße über
immer
soziologi-
sche Vorkenntnisse verfügten. Deshalb w a r die Situation der Soziologie in den sozialistischen Ländern in den einzelnen Etappen der Entwicklung der Gesellschaft widersprüchlich und kompliziert. Oedoch bedingten die tiefgreifenden sozialökonomischen Umgestaltungen in den
sozialistischen
Ländern, die Herausbildung neuer sozialistischer Beziehungen, die D e m o kratisierung d e s gesellschaftlichen Lebens einen wachsenden B e d a r f nach soziologischen Kenntnissen, nach empirischen Forschungen zu Ende der 50er und insbesondere in den 60er Oahren. Fragen nach der Entwicklung der Soziologie als G e s e l l s c h a f t s w i s s e n schaft, der Spezifik ihres G e g e n s t a n d e s und ihrer Methodik unter den neuen historischen Bedingungen wurden so fast zur gleichen Zeit von Soziologen in verschiedenen europäischen sozialistischen Ländern
gestellt.
Sie waren bedingt sowohl durch die innere Entwicklunqslogik der M e t h o dologie der wissenschaftlichen Erkenntnis als auch durch die K o m p l i 61
ziertheit der Prozesse, die sich im gesellschaftlichen Leben und in der sozialen Klassenstruktur der Gesellschaft vollzogen, die nicht eine adäquate Lösung ohne Entwicklung eines entsprechenden
immer
wissenschaft-
lichen A p p a r a t e s und der soziologischen Analyse finden konnten. Gerade in dieser Zeit, als sich die Entwicklung der Soziologie zu einer selbständigen Wissenschaft vollzog, entstanden lebhafte Diskussionen
über
Gegenstand und Struktur der Soziologie als Wissenschaft. Am aktivsten wurden diese Probleme gegen Ende der 50er Jahre und in den 60er Jahren diskutiert. Die Diskussionen entfachten sich um die Fraqe nach dem Verhältnis von Soziologie, historischem Materialismus und wissenschaftlichem Kommunismus, w a s verbunden war mit der Definition des Forschungsgegenstandes der Soziologie. Die überwiegende Mehrheit der Soziologen vermeidet in der Tat eine direkte Fragestellung zum Verhältnis von historischem Materialismus und Soziologie, zur Definition ihres Forschungsgegenstandes. Oedoch sind sie der Auffassung, die Soziologie sei eine eigenständige Wissenschaft von Gesetzmäßigkeiten des Funktionierens, der Entwicklung und der Wechselbeziehungen terschiedlichen
sozialer Gemeinschaften
un-
Typs.
Man muß dabei betonen, daß in den verschiedenen Ländern diese
Fragen
unterschiedlich gelöst worden sind. Beispielsweise wurde in der V o l k s republik Bulgarien in der Nachkriegszeit die von T . Pavlov in den 30er Oahren entwickelte Konzeption von der Soziologie als nichtphilosophischs=»r Wissenschaft weiter fortgeführt. So hebt Z. Osavkov hervor,
daß
die Soziologie eine nichtphilosophische Wissenschaft ist, deren Forschungsgegenstand in der "Struktur", in den spezifischen
Besonderheiten
der Gesellschaft besteht, in ihren spezifischen allgemeinen
Entwicklungs-
gesetzen und den Wechselbeziehungen zwischen den gesellschaftlichen
Phä-
nomenen oder ihres Einflusses auf das gesellschaftliche Leben, in spezifischen Erkenntnismethoden 4 liehen Lebens insgesamt.
und in den Veränderungen des gesellschaft-
Die ungarischen Soziologen halten die Soziologie vorzugsweise
für
eine empirische Wissenschaft, die eine theoretische und eine angewandte Ebene umfaßt. Die erstere enthält ein System von Begriffen und Methoden, die in allen Bereichen der soziologischen Wissenschaft anzuwenden
sind,
die zweite Ebene findet ihre Anwendung zur Erreichung einzelner Ziele. B e i einer derartigen Verfahrensweise wird c der Kreis der Kenntnisse außerordentlich eingeschränkt.
soziologischen
In der D D R ist der Standpunkt am weitesten verbreitet,
demzufolge
der historische Materialismus die allgemeine soziologische Theorie des Marxismus-Leninismus ist. Die Gesetze und die Kategorien des historischen Materialismus sind Bestandteil der marxistisch-leninistischen 4 5
62
Vgl. Z. Osavkov, Istoriceskiat materializam i sociologi.ata, Sofia 1958, S. 215; T . Stojcev, Istoziceekij materializm - filosofekaa teoria i sistema, Sofia 1983, S. 34. Vgl. A szociolögial felvfetel mödszeru, Budapest 1971, S. 5; K. Kulszär, Czociölogie, Budapest 1981, S. 46-47; Sociologiceskie issledavania, 1982, S. 105.
So-
ziologie. Die Soziologie erforscht die Struktur und die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft als System sozialer Erscheinungen und Prozesse in ihren Wechselbeziehungen, indem sie die sozialen Gesetzmäßigkeiten, die Struktur und die Entwicklung der ökonomischen
Gesellschaftsfor-
mationen und ihrer Elemente, ferner die Quellen für die soziale Aktivität der Klassen, der Gruppen und Individuen in der Gesellschaft aufdeckt.® In der polnischen Soziologie dominiert die Auffassung von der Soziologie als Wissenschaft über die Gesetze der Struktur und der Entwicklung der Gesellschaft. Als Bestandteil des historischen Materialismus (der materialistischen sozialen Ontologie) gehört sie zur Philosophie, während die Theorie der Gesellschaft zur Soziologie gehört. Beispielsweise geht 0. Szczepanski bei der Definition des Gegenstandes der marxistischen Soziologie von der Bedeutung der marxistischen Lehre über die Gesellschaft und besonders vom marxistischen Verständnis der ökonomischen Gesellschaftsformation aus. Er ist der Auffassung, daß Forschungsgegenstand der marxistischen Soziologie die allgemeinen Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung der ökonomischen Gesellschaftsformation ihrer Erscheinungsformen
und
sind. 7
In ¿Jugoslawien sind die Ansichten der Soziologen außerordentlich unterschiedlich: Die einen sind der Auffassung, daß der historische Materialismus die Methode aller Gesellschaftswissenschaften, darunter auch der Soziologie sei. Andere verneinen kategorisch irgendeine Beziehung zwischen diesen, sie sind der Auffassung, daß es die Soziologie als Wissenschaft gibt und der historische Materialismus mit seinem Begriffsapparat eindeutig "veraltet" ist und nicht mehr den modernen Bedingungen der gesellschaftlichen Realität entspricht. Unter den Bedingungen des wissenschaftlich-technischen
Fortschritts wird die Soziolo-
gie als allgemeinste Gesellschaftswissenschaft definiert, die die Gesellschaft unter dem Gesichtspunkt ihrer Elemente und Erscheinungen erforscht, ferner unter dem Gesichtspunkt ihrer Veränderungen, darunter auch der Wechselwirkungen der gesellschaftüichen g mäßigkeiten in einzelnen Etappen.
Entwicklungsgesetz-
Auch unter den sowjetischen Gesellschaftswissenschaftlern
gab es im
Verlauf der Diskussionen und gibt es noch heute unterschiedliche Standpunkte hinsichtlich des Gegenstandes und der Struktur der marxistischen Soziologie, über ihr Verhältnis zum historischen Materialismus. Ober lange Zeit hin galt als allgemein anerkannt folgende Betrachtungs-
6 7 8
Vgl. E. Hahn, Historischer Materialismus und marxistische Soziologie Berlin, 1968, S. 8; Grundlagen der marxistisch-leninistischen Soziologie, Berlin 1977. Vgl. 3. Szczepanski, Sociologija, razwoj problematyki i metod., Warszawa 1969, S. 99-111. Vgl. R. Lukifc, Osnovi Sociologije, Beograd 1976, S. 35; R. Supek, Sociologija 1 Sociallzam, Zagreb 1966, S. 17; Socioloski lexikon, Beograd 1982, S. 615-616; Z. T. Golenkova, Ocerk istorii sociologiceskoj mysli v Ogoslavii, Moskva 1984.
63
weise der verschiedenen Ebenen des soziologischen
Erkenntnisstandes:
Die allgemeine soziologische Theorie ist der historische
Materialis-
mus; daneben existieren spezielle soziologische Theorien und die empiq rische konkrete soziologische Forschung. Man kann sagen, daß dieser Standpunkt sich in den letzten Jahren in vielen sozialistischen durchgesetzt hat. Gegenwärtig erfährt er gewisse
Ländern 10
Präzisierungen.
Diskutiert wurde auch über die Hauptaufgabe der Soziologie, die Wechselbeziehungen zwischen theoretischer und empirischer in der Soziologie, über das Verhältnis von allgemeiner
Forschung
soziologischer
Theorie und soziologischen Zweigdisziplinen, über die Stellung des Soziologen in der Gesellschaft, auch über das V e r h ä l t n i s von
Soziologie
und Ideologie. In den 60er Jahren zeichnet sich eine neue Entwicklungsetappe in der Soziologie in den sozialistischen Ländern ab. Sie ist gekennzeichnet durch eine intensive Entwicklung der empirischen soziologischen
For-
schuna im Zusammenhang mit den sozialökonomischen Umgestaltungen
ins-
besondere am Ende der 60er und zu Beginn der 70er Jahre. In dieser Zeit erhielt die Soziologie praktisch in allen Ländern den Status einer akademischen Disziplin an den Universitäten, es wurden soziologische G e sellschaften und Vereinigungen gegründet, diverse soziologische A b t e i lungen (Lehrstühle, Laboratorien, Sektionen),
ferner Zentren für ö f f e n t -
llchkeits- und Meinungsforschung. Erheblich erweitert wurde die publizistische Basis, es wurden Fachpublikationen herausgegeben und soziologische Fachzeitschriften
gegründet.
So besteht seit dem ¿Jahre 1959 in der Volksrepublik Bulgarien eine soziologische Gesellschaft, im Jahre 1968 wurde das Institut für Soziologie der Bulgarischen Akademie der Wissenschaften sowie die Zeitschrift "Sociologiiieski problemy" gegründet. Seit 1968 werden am Hochschulinstitut für Ökonomie "Karl Marx" der Universität Sofia Vorlesungen zur Soziologie gehalten, seit 1976 besteht hier die Ausbildungsrichtung logie und ein Lehrstuhl für Soziologie. Daneben werden Kurse für Soziologen
Sozio-
dreimonatige
durchgeführt.
In der Ungarischen Volksrepublik wurde im Jahre 1946 an der Universität Budapest der erste Lehrstuhl für Soziologie eingerichtet, der im Jahre 1947 zu einem Forschungsinstitut umgewandelt w u r d e . 1948 begann man mit der Durchführung von Meinungsumfragen. Nach einer Unterbrechung kam es z u Beginn der 60er Jahre zu einer Erneuerung der Soziologie. 1971 wurde da s Institut für Soziologie der Ungarischen Akademie der Wissen—
9
10
64
V g l . V . N . Ivanov. Metodologiceskie problemv marksistsko-leninskoj socioloaii. int Voprosy filosofii, 8/1986) A . G . Charcev, Predmet i Struktura Sociologiceskoj nauki, int Sociologiceskie lssledovania 2/1981; Rabocaa kniga sociologa, Moskva 1983; I. I. Fedoseev, K voprosy o predmete marksistsko-leninskoj sociologi!, in: Sociologiceskie lssledovania, 3/1983. V g l . Z. T . Golenkova, V . N. Ivanov, K itogam XI Vsemirnogo sociologoceskogo Kongressa, in: Sociologiceskie lssledovania, 1/1987, S. 36-37; 0. Kuczynski, Bemühungen um die Soziologie, Berlin 1987.
schatten gegründet, seit 1972 wird die Fachzeitschrift herausgegeben. Es wurde
"Szociologia"
eine Reihe anderer soziologischer
gen gegründet, darunter das Institut für
Einrichtun-
Gesellschaftswissenschaften
beim Z K der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei(USAP),das mationszentrum
(auf der Grundlage von zehn Instituten), dem
Infor-
folgende
Hauptaufgaben übertragen worden sind: erstens die Einrichtung einer D a tenbank für Gesellschaftswissenschaften trum 136 Forschungsvorhaben
(gegenwärtig vereint das Zen-
in Ungarn), Datenaustausch mit siebzehn
Län-
dern; zweitens die Entwicklung eines einheitlichen Systems zur E r f a s sung von Daten für eine Auswahlgesamtheit von 6000 Personen
(die U m -
fragen erfolgen zweimal jährlich nach einheitlichen Fragebögen, die in neun Ländern genutzt werden); drittens die Verbesserung der Methodik soziologischen
An der Universität Budapest wurde ein Lehrstuhl für Geschichte Soziologie
der
Forschung. der
eingerichtet.
In der DDR wurde im Jahre 1964 ein wissenschaftlicher Rat für soziologische Forschungen gegründet, dessen Ziel in der Entwicklung und Koordinierung der soziologischen Forschungen besteht. D i e s e r Rat gibt eine Schriftenreihe "Soziologie" heraus, organisiert
Soziologenkongresse.
Im Jahre 1966 wurde das Zentralinstitut für Jugendforschung in Leipzig gegründet, d a s in den zwanzig Jahren seines B e s t e h e n s zahlreiche
For-
schungsarbelten zur komplexen Erforschung der Probiene der J u g e n d vorgelegt hat. 1978 wurde d a s Institut für Soziologie und S o z i a l p o l i tik der A k a d e m i e d e r Wissenschaften der DDR gegründet, an d e r A k a d e n l e für Gesellschaftswissenschaften
beim Z K der Soziallstischen
Einheits-
partei D e u t s c h l a n d s (SED) besteht ein Institut für m a r x i s t i s c h - l e n i nistische Soziologie, e s wurden Lehrstühle für Soziologie an den U n i versitäten und insgesamt über zwanzig soziologische Zentren
eingerich-
tet. In der Volksrepublik Polen wurden in den Jahren von 1945 bis 1950 zahlreiche soziologische Institute, Lehrstühle und
Fachzeitschriften
gegründet. 1945 nahm in Lodz ein Institut für Soziologis die A r b e i t auf, an der Universität Lodz wurden drei Lehrstühle für Soziologie
ein-
gerichtet. Soziologische Forschungen wurden damals auch an den U n i v e r sitäten in Krakau, Poznart und Warschau durchgeführt. Im Jahre 1952 w u r de an der Universität Warschau ein Lehrstuhl für Soziologie
eingerich-
tet, im Jahre 1955 d a s Institut für Philosophie und Soziologie an der Polnischen Akademie der Wissenschaften. Später wurden Institute
für
Soziologie an den Universitäten Warschau, Poznart und Krakau gegründet* wo gleichzeitig mit der Durchführung soziologischer
Forechungsarbeiten
auch die Ausbildung junger Spezialisten im Fachbereich Soziologie
er-
folgt. Gegründet wurden soziologische Abteilungen und Zentren an z a h l reichen akademischen Einrichtungen. Von großer Bedeutung sind die M e i nungsforschungszentren
und die Zentren zur Erforschung der M a s s e n k o m -
munikationsmittel. Ee erscheinen vier soziologische
Fachzeitschriften.
In der Sozialistischen Republik Rumänien wurde ein Zentrum für so-
65
ziologische Forschungen an der Akademie für soziale und politische Wissenschaften und an der Universität Bukarest gegründet, das quartalsweise eine Fachzeitschrift
für Soziologie herausgibt. An den Universitäten
wurden Lehrstühle für Soziologie
eingerichtet.
In der iisSR wurde 1966 das Institut für Soziologie an der T s c h e c h i schen Akademie der Wissenschaften
(Prag) und das Institut für Soziolo-
gie der Slowakischen Akademie der Wissenschaften
(Bratislava) als sozio-
logische Einrichtungen für Grundlagenforschung gegründet. An der Politischen Hochschule des ZK der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei (KPii) wurde ein Lehrstuhl für Soziologie eingerichtet, ebenfalls erfolgte die Einrichtung soziologischer Abteilungen an den Hochschulen.
1964
wurden in der Tschechischen Sozialistischen Republik und in der Slowakischen Sozialistischen Republik soziologische Gesellschaften
gegründet,
1965 begann die Herausgabe des "Sociologicky Kasopis" in Prag und der Zeitschrift "Sociologia" in Bratislava. Die gegenwärtig wichtigsten
Zen-
tren der soziologischen Forschung sind das Institut für Philosophie
und
Soziologie der Tschechischen Akademie der Wissenschaften
(Prag) und das
Institut für Philosophie und Soziologie der Slowakischen Akademie der Wissenschaften
(Bratislava). Auch an anderen Einrichtungen besteht eine
Reihe soziologischer Abteilungen. Im Oahre 1956 wurde in der SFRO die ¿Jugoslawische Soziologische G e sellschaft gegründet, später folgten Abteilungen auf
Republiksebene.
Seit 1958 wird die Fachzeitschrift "Sociologija" herausgegeben. Es wurden Lehrstühle für Soziologie an den
gesellschaftswissenschaftlichen
Fakultäten der Universitäten eingerichtet, später folgte die Gründung von Instituten für Soziologie. In den Republiken bestehen
soziologi-
sche Forschungszentren, in Belgrad befindet sich das Institut für Gesellschaftswissenschaften. Insgesamt werden vier soziologische schriften herausgegeben. Die zu Beginn der 60er Jahre
Fachzeit-
durchgeführten
komplexen soziologischen Untersuchungen in den sozialistischen
Ländern
befaßten sich vor allem mit Problemen der Veränderungen in der Klassenund Sozialstruktur der sozialistischen Gesellschaft. A n f a n g s waren dies in der Regel monographische Forschungen, in denen auf
allgemeintheore-
tischer Eben e einzelne Fragen entweder der Struktur der Arbeiterklasse« der Bauernschaft oder der Intelligenz untersucht wurden. Nachdem sich ihre Zahl beträchtlich erhöht hatte, rückten methodologische Fragen in den Mittelpunkt, die sich aus der Bestimmung des Inhalts der Hauptbegriffe ergaben (Klasse, Gruppe, Schicht), aus den Kriterien der Differenzierung innerhalb der Klassen und zwischen den Klassen, im Zusammenhang
mit
Problemen der Mobilität, den Faktoren der Auffüllung einzelner Schichten, Gruppen und andere. Viele dieser Fragen wurden auch in den Fachzeitschriften, auf den Symposien und Konferenzen diskutiert. Die n a t i o nale Statistik eines jeden Landes gestattete es,bestimmte
Schlußfolge-
rungen über die allgemeinen Gesetzmäßigkeiten der Evolution der Klassenund Sozialstrukt ur zu ziehen, über das Vorhandensein spezifischer, sonderer Wesenszüge in ihrer Entwicklung. Dies fand seinen 66
be-
konkreten,
quantitativen Ausdruck im System von Kennziffern zum Beispiel über den Anteil der Bevölkerung in Stadt und Land, wobei das Hauptinteresse den Integrationsprozessen galt. Erforderlich waren jedoch soziologische schungen, die die Komplexität dieser Entwicklung widerspiegeln
For-
würden.
In dieser Periode wurden in fast allen Ländern umfangreiche Daten gesammelt, Man muß dabei hervorheben, daß in einer Reihe von Ländern die Soziologen ihr Interesse auf die Komplexität der Entwicklung der Klassenund Sozialstruktur in der sozialistischen Gesellschaft und die N o t w e n digkeit einer größeren Beachtung der Differenzierung innerhalb der Klasse gerichtet haben. Sie entwickelten in diesem Zusammenhang eine Reihe von differenzierenden Merkmalen zu ihrer Untersuchung. B e s o n d e r s sant war für eine Reihe von Soziologen aus der Ungarischen
interes-
Volksrepu-
blik, der Volksrepublik Polen und Jugoslawien das Merkmal der Teilnahme an der Ausübung von Macht, am System der Verwaltung und Leitung. Kennzeichnend für die Entwicklung der Soziologie in den
sozialisti-
schen Ländern sind sowohl allgemeine Charakterzüge und Tendenzen - bedingt durch die ihr zugrunde liegende gemeinsame theoretische
Konzeption
des Marxismus-Leninismus, durch die Gemeinsamkeiten der A u f g a b e n ,
die
sich aus der Errichtung der sozialistischen Gesellschaft ergeben - als auch Besonderheiten, die auf der nationalen Spezifik der
sozialökonomi-
schen Entwicklung der Länder und auf dem unterschiedlichen
Entwicklungs-
grad der Soziologie in jedem einzelnen Land beruhen. Die Beziehungen von Allgemeinem und Besonderem in der Entwicklung der
marxistisch-leni-
nistischen Soziologie werden am Beispiel der thematischen Grenzen
der
soziologischen Forschungen besonders deutlich. Die allgemeinen Gesetzmäßigkeiten sind vor allem mit den A u f g a b e n Umgestaltung der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse Grundlage prinzipiell neuer Formen des gesellschaftlichen
der
auf d e r
und g e n o s s e n -
schaftlichen Eigentums verbunden. Diese Thematik wird von den S o z i o l o gen aller sozialistischen Länder im Rahmen der Erforschung der Probleme der Arbeit und der Arbeitskollektive, der Probleme der Teilnahme
der
Werktätigen an der Leitung und Planung der Volkswirtschaft, der ö k o n o mischen und der sozialen Entwicklung der Betriebe, der allmählichen
Be-
seitigung der Unterschiede zwischen den Bereichen der geistigen und der körperlichen Arbeit untersucht. Ein weiterer gemeinsamer genstand ist das Problem
Forschungsge-
Vervollkommnung der Klassen- und S o z i a l -
struktur der Gesellschaft, die allmähliche A u f h e b u n g sozialer U n t e r schiede und die mit diesem Problem verbundenen Fragen der
sozialen
Gleichheit und Gerechtigkeit. Z u ihnen zählen auch Fragen der A u f h e b u n g der sozialen
Unterschiede
zwischen Stadt und Land, Probleme d e r Urbanisierung und der damit in Zusammenhang stehenden Fragen der Ökologie, der Lebensqualität, d e r Entwicklung der sozialen Infrastruktur. Eine aktuelle T e n d e n z in der soziologischen Forschung wurde ferner die Erforschung der Probleme d e s A l l tags, die Nutzung der Arbeitszeit und der Freizeit, die Probleme d e r Familie, die Berufstätigkeit der Frauen und der E i n f l u ß der B e r u f s t ä t i g 67
keit der Frauen auf die Entwicklung der
Familienbeziehungen.
Zunehmend gewinnen soziale Probleme der Massenkommunikation, der öffentlichen Meinung, Fragen der politisch-ideologischen
und moralischen
Erziehung der Persönlichkeit, Probleme der Jugend an Bedeutung. Ein integrierendes Problem, das unterschiedliche soziologische
Forschungen
mit der Praxis des sozialistischen Aufbaus verknüpft, sind die
Sozial-
planung und die Leitung sozialer Prozesse. Die marxistische Soziologie ist ein wichtiger Faktor für die Entwicklung und die praktische Verwirklichung der Sozialprogramme. In diesem Zusammenhang ergeben sich hohe Anforderungen an die Qualität der
sozio-
logischen Forschung, an ihre wissenschaftliche Repräsentativität
und
theoretische Reife. Es geht um die Erhöhung der Verantwortlichkeit Wissenschaft
der
für die Entwicklung von Lösungen im Bereich der sozialen
Praxis. Deshalb gewinnen gegenwärtig die Analysen innerer Entwicklungsprobleme der Soziologie als Disziplin besondere
Bedeutung.
Die Entwicklung der Soziologie in den sozialistischen Ländern verlief nicht glatt und ohne Schwierigkeiten. Die starke Erweiterung
des
Umfanges der empirischen Forschungen, insbesondere in den 60er Jahren, erfuhr keine ausreichende parallele Entwicklung in theoretischer Hinsicht. Die Ausbildung soziologischer Kader war nicht hinreichend
kon-
sequent entwickelt. Zeitweilig wurden auch Kader ohne ausreichende rufliche Qualifizierung aufgenommen. Die breite Durchführung scher Forschungen ging häufig einher mit ihrer einseitigen auf Meinungsumfragen
zuungunsten
be-
empiri-
Ausrichtung
der allseitigen Untersuchung
objekti-
ver Prozesse, die Methodenvielfalt der Soziologie wurde so auf Umfragenmethoden
reduziert; es war gewissermaßen eine "Umfragesucht"
ent-
standen. D a s alles konnte nicht ohne Wirkung auf das Niveau der Forschungsarbeiten, auf ihren methodologischen Reifegrad und ihre ideologische Standhaftlgkeit bleiben. Einige Soziologen übernahmen auch unkritisch methodologische Instrumentarien der bürgerlichen (vorzugsweise des Funktionalismus), ziologischen Informationen falsche
Soziologie
sie zogen aus den ermittelten
so-
Schlußfolgerungen.
Großen Schaden fügten Dogmatismus und Revisionismus der Entwicklung der marxistisch-leninistischen Soziologie zu. Der Dogmatismus kam zum Ausdruck in der A b k e h r von den realen Problemen der sozialen Praxis, im Schematismus, in Scholastik, in der Furcht, sich akuten, real existierenden Problemen zu stellen, in Versuchen der Schönfärberei
zahlreicher
wiederkehrender sozialer Probleme, in ihrer oberflächlichen Analyse, der Nichtwahrnehmung verschiedener Interessen in der Gesellschaft
in
und
der entstandenen Schwierigkeiten beim A u f b a u des Sozialismus. Mit dem fortschreitenden A u f b a u der sozialistischen Gesellschaft
in
jedem Land bewegt sich auch die soziologische Wissenschaft auf eine qualitativ neue Ebene ihrer Entwicklung zu. In der Hauptsache wird sie charakterisiert durch eine größere Akzentuierung auf die Erforschung der Zusammenhänge und gegenseitigen Abhängigkeiten der ökonomischen
und
sozialen Faktoren in der Entwicklung der Gesellschaft. In der Gegenwart 68
wurde die Soziologie zu einem wichtigen Instrument bei der und Verwirklichung der Sozialpolitik der Parteien, zur
Entwicklung
wissenschaftli-
chen Vorbereitung sowohl der Pläne für die Sozialentwicklung der einzelnen Arbeitskollektive als auch für die Entwicklung der Fünfjahrplan« der
und der Perspektivpläne der sozialen und ökonomischen Entwicklung
Länder des Sozialismus. Eine größere Akzentuierung erfolgt auf die Erforschung des Zusammenhangs sozialer Faktoren in der Entwicklung Gesellschaft. Dieser Akzent w a r bedingt durch die vor den
der
sozialisti-
schen Ländern stehenden Aufgaben des O b e r g a n g s von den extensiven zu intensiven Formen der Wirtschaftsführung, durch die A u f g a b e n
der
Vereinigung der Vorzüge des sozialistischen sozialökonomischen mit den Errungenschaften der wissenschaftlich-technischen
Systems
Revolution.
Im vergangenen Jahrzehnt haben sich die internationalen
Beziehungen
erheblich erweitert und gefestigt, die Koordinierung zwischen den Soziologen innerhalb der sozialistischen Gemeinschaft und auch auf
inter-
nationaler Ebene haben sich verstärkt. Es wurden stabile Kontakte
zur
Praxis des sozialistischen A u f b a u s entwickelt.Große A u f m e r k s a m k e i t
wird
Komplexforschungen gewidmet, die einen großen K r e i s der Erscheinungen und Prozesse der gegenwärtigen Realität einbeziehen. Es wurden che Lehrbücher zur marxistisch-leninistischen Soziologie
zahlrei-
veröffentlicht.
Von großer Bedeutung bei der Verallgemeinerung der von der
marxistisch
leninistischen Soziologie gesammelten Erfahrungen bei der weiteren
Prä-
zisierung und der Entwicklung ihres K a t e g o r i e n a p p a r a t e s ist die im ü a h r e 1964 gegründete Problemkommission
für die allseitige Zusammenarbeit
Akademien der sozialistischen Länder auf dem Gebi'et der Soziologie lution der Sozialstruktur dftr sozialistischen G e s e l l s c h a f t .
der "Evo-
Sozialpla-
nung und - P r o g n o s t i z i e r u n g " , seit 1984 "Soziale Prozesse in der sozialistischen Gesellschaft". An der Arbeit dieser Kommission sind S o z i o l o gen aus der Volksrepublik Bulgarien, der Ungarischen
Volksrepublik,
Vietnams, der DDR, Kuba, der MVR, der V o l k s r e p u b l i k P o l e n . d e r S o zialistischen Republik Rumänien, der UdSSR und der C S S R Hauptzielrichtungen
beteiligt.
und Aufgaben dieser Kommission bestehen in der A u f -
deckung der allgemeinen Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung und V e r ä n d e rung der Klassen- und Sozialstruktur in der sozialistischen
Gesellschaft,
in der Entwicklung einheitlicher methodologischer Prinzipien der
sozio-
logischen Forschung, in der Durchführung von V e r g l e i c h s u n t e r s u c h u n g e n in der Verallgemeinerung der von der marxistisch-leninistischen
und
Sozio-
logie gesammelten Erfahrungen bei der A n a l y s e sozialer P r o z e s s e . Die gemeinsame Arbeit der Soziologen der sozialistischen Länder e r möglicht nicht nur die Ermittlung w i c h t i g e r w i s s e n s c h a f t l i c h e r tionen über allgemeine Entwicklungstendenzen
Informa-
sozialer Prozesse und B e -
sonderheiten ihres Verlaufes in jedem einzelnen Land, sondern sie trägt auch zur weiteren Festigung der Einheitlichkeit der ideologischen tionen in der Soziologie bei, sie dient der weiteren Entwicklung
Posidieses
Wissenschaftszweiges, das heißt, sie fördert die w i s s e n s c h a f t l i c h e wicklung von theoretiechen Konzeptionen, empirischen Forschungen,
EntMe69
thodiken und Programmen'für die statistische
Datenverarbeitung.
Ende der 70er Jahre und zu Beginn der 80er Jahre wurden empirische Parallel- und Vergleichsuntersuchungen
in den
zahlreiche
sozialisti-
schen Ländern zu den Problemen der Annäherung der Arbeiterklasse
und
der ingenieur-technischen
Intelligenz, zu Problemen der Hochschulbil11 Solche Untersudung und der Jugend sowie der Familie durchgeführt. chungen ergeben erstens eine weitaus umfangreichere
wissenschaftlich-
statistische Basis für die Erforschung der sozialen Prozesse. dienen sie als Grundlage für Wiederholungsuntersuchungen,
Zweitens
die die so-
zialen Veränderungen im Abstand von fünf, zehn und mehr Jahren mit einer größeren Anzahl von Kennziffern verde utlichen« Drittens ist die marxistisch-leninistische Analyse der Tendenzen der
sozialökonomischen
Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft auf der Basis empirischer Daten für deren wissenschaftlich begründete Leitung
erforderlich.
Die Aufgabe der Soziologen besteht gegenwärtig darin, verstärkt fristige prognostische Entwicklungen der Gesellschaft aufzudecken,
lang-
vorausschauend
rechtzeitig alternative Lösungsvarianten zu erarbeiten
und
die Auswahl der besten Varianten zu begründen. Gerade diesen Fragen hat sich die Soziologie in den vergangenen zehn Jahren zu wenig
zugewandt.
Häufig hinkten die Soziologen der Praxis hinterher, wiederholten,
er-
läuterten oder billigten bereits beschlossene Lösungen. Damit bringen sie ihre Disziplin in Mißkredit und büßen ihre Selbständigkeit
ein.
Die Soziologie muß eine der wichtigsten Triebkräfte und eines der wichtigsten Instrumente für die Umgestaltung (Perestrojka) in der G e 12
sellschaft werden.
Natürlich verläuft dieser Entwicklungsprozeß der
soziologischen Wissenschaft in jedem einzelnen Land hinsichtlich
Umfang,
Tempo und Richtungen unterschiedlich, nicht überall ist sein Status gleichermaßen begründet. Folglich sind Unterschiede in der Erfassung einzelner soziologischer Probleme in der Wissenschaft
unausweichlich,
ebenfalls sind Unterschiede in der Methodik und in den Wegen zur Lösung dieser Probleme festzustellen. Die optimale Variante der Lösung dieser Probleme kann nur durch die historische Entwicklung der Soziologie selbst beantwortet
11 12
70
werden.
Vgl. Molodez' i vyssee obrazovanie, Moskva 1984; Sblizenie rabocego klassa i inzenernotehniceskol intelligencii socialisticeskich stran Praga 1985, Tom 1-3. Vgl. T. 0. Zaslavskaa, Perestrojka i socioiogia, ins "Prawda" vom 6. September 1987.
Ob. f. Soziologie und Sozialpolitik
Helmut
1989
Steiner
Historischer Materialismus und soziologische
Theorie*
D a s Thema "Historischer Materialismus und soziologische Theorie" ein zwischen marxistischen und nichtmarxistischen Soziologen
ist
beider-
seits strittiges und streitbares Thema, zumal die Diskussion durch verschiedenerlei Umstände historisch belastet ist. Da ich wiederholt
die
Erfahrung gemacht habe, daß der Historische M a t e r i a l i s m u s als Inbegriff einer Kanonisierung der Geschichtsphilosophie und Sozialtheorie
des
Marxismus auf der Grundlage einzelner D a r s t e l l u n g e n und L e h r b ü c h e r terpretiert wird, möchte ich betonen, daß ich primär den
in-
Historischen
Materialismus als wissenschaftliche Methode im B l i c k w i n k e l habe und erst in zweiter Linie die auf dieser Grundlage erarbeiteten
theoreti-
schen Systeme, Lehrbücher, Lehrprogramme etc. des Historischen
Materia-
lismus. Ich möchte mich dabei auf A u s f ü h r u n g e n zu zwei Aspekten
be-
schränken: erstens will ich an Hand des uns von F. Engels in seinem sogenannten "Altersbriefen" übermittelten V e r m ä c h t n i s s e s sein Programm für den theoretisch-methodologischen
Zusammenhang von Historischem
Ma-
terialismus und soziologischer Theorie ableiten, um z w e i t e n s auf den spezifisch historischen Begründungs- und E n t s t e h u n g s z u s a m m e n h a n g xistischer Soziologie
mar-
einzugehen,
F. Engels nimmt bekanntlich in mehreren Briefen zwischen 1890 und 1895 gegen verkürzte Wiedergaben und Interpretationen der von K. Marx und ihm ausgearbeiteten Theorie von den bestimmenden Triebkräften
des
Geschichtsverlaufs vehement Stellung. Er erläutert immer w i e d e r das Grundprinzip, polemisiert mit falschen und mißverständlichen gen und verbindet dies mit teilweise außerordentlich
Auffassun-
selbstkritischen
Darlegungen. Indem Marx und er nämlich zunächst ihre A u f g a b e darin
sahen,
die letztlich bestimmende Rolle der ökonomischen V e r h ä l t n i s s e für alle gesellschaftlichen Prozesse herauszuarbeiten, zu begründen sowie a l s letztlich bestimmendes Prinzip verständlich zu machen und z u p r o p a g i e ren, wurde bei der systematischen Darstellung w e i t g e h e n d auf z w e i e r l e i verzichtet: Erstens auf dis Begründung und konkrete A n a l y s e der v i e l f ä l tigen Vermittlungen und gesellschaftlichen Mechanismen zur historischen Vsrwirklichung dieses letztlich bestimmenden P r i n z i p s und z w s i t e n s auf
x
Gekürzte Fassung eines Vortrages auf der Oahrestagung der Sektion Soziologische Theorie der Deutschen G e s e l l s c h a f t für Soziologie (BRD) am 13. Februar 1988 in A u g s b u r g .
71
die konkrete Wechselwirkung der verschiedenen gesellschaftlichen reiche mit- und aufeinander sowie vor allem auf die aktive der geschichtsphilosophisch abgeleiteten politischen, ideologischen,
Be-
Rückwirkung
juristischen,
religiösen, kulturellen Faktoren auf das gesamte
gesell-
schaftliche - auch ökonomische - Leben. Daß Marx und Engels sich schon früher dessen durchaus bewußt waren, beweisen Marx' exemplarisch
zeit-
geschichtliche Analyse "Oer 18. Brumaire des Louis Bonaparte" wie auch Engels* Kritik und Ironisierung des mechanischen, bloßen
Ursache-Wlr-
kung-Materialismus L. Feuerbachs* und die stattdessen begründete Notwendigkeit, die "Triebkräfte der Triebkräfte"
menschlichen H a n d e l n s zu er-
kennen. Im folgenden seien aber ob ihrer Eindeutigkeit drei Auszüge aus diesen Engels-Briefen im Wortlaut wiedergegeben: "Unsere
Geschichtsauffas-
sung aber ist vor allem eine Anleitung beim Studium, kein Hebel der Konstruktion a la Hegelianertum. Die ganze Geschichte muß neu studiert w e r den, die Daseinsbedingungen der verschiedenen
Gesellschaftsformationen
müssen im einzelnen untersucht werden, ehe man versucht, die privatrechtllchen, ästhetischen, philosophischen,
politischen,
religiösen etc. A n -
schauungsweisen, die ihnen entsprechen, aus ihnen a b z u l e i t e n " . 3 Und zur gleichen Zeit schrieb er an 3. Blochs "Daß von den Jüngeren
zuweilen
mehr Gewicht auf die ökonomische Seite gelegt wird, als ihr zukommt, haben Marx und ich teilweise selbst verschulden müssen. Wir hatten, den Gegnern gegenüber, das von diesen geleugnete Hauptprinzip zu betonen, und da war nicht immer Zeit, Ort und Gelegenheit, die übrigen an der Wechselwirkung beteiligten Momente zu ihrem Recht kommen zu lassen. Aber sowie es zur Darstellung eines historischen Abschnitts, also zur praktischen A n w e n d u n g kam, änderte sich die Sache, und da war kein Irrtum möglich. Es ist aber leider nur zu häufig, daß man glaubt, eine neue Theorie vollkommen verstanden zu haben und ohne weiteres handhaben zu können, sobald man die Hauptsätze sich angeeignet hat, und das auch nicht immer richtig. Und diesen Vorwurf kann ich manchem der neueren 'Marxisten' nicht ersparen und es ist da dann auch wunderbares Zeug geleistet worden". Und auch F. Mehring macht er nochmals ausdrücklich auf diese Problematik aufmerksam: "... wir alle haben zunächst das Hauptgewicht auf die Ableitung der politischen, rechtlichen und sonstigen ideologischen V o r stellungen und durch diese Vorstellungen vermittelten Handlungen
aus
den ökonomischen Grundtatsachen gelegt und legen müssen. Dabei haben
1 2 3 4
72
Vgl. K. Marx, D e r 18. Brumaire des Louis Bonaparte, in: MEW, Bd. 8, Berlin 1960; F. Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, in: MEW, Bd. 21, Berlin 1962. F. Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, a.a.O., S. 297. F. Engels an Conrad Schmidt, 5. August 1890, in: MEW, Bd. 37, Berlin 1967, S. 436/437. F. Engels an Joseph Bloch, 21./22. September 1890, in: MEW, B d . 37, Berlin 1967, S. 465.
dann die formelle Seite über der inhaltlichen v e r n a c h l ä s s i g t : die A r t und Weise, wie diese Vorstellungen etc. zustande kommen. Das hat denn den Gegnern willkommenen A n l a ß zu Mißverständnissen
5
lungen
respektive
Entstel-
gegeben,
Diese Engels"sehen Altersbriefe sind außer der eindeutigen
Bekräfti-
gung der letztlich aus den ökonomischen Verhältnissen und L e b e n s b e d i n gungen resultierenden sozialen Prozesse für die Soziologie und die soziologische Theorie in mehrerlei Hinsicht von Bedeutung: Erstens betont er mehrfach, daß es sich beim Historischen lismus nicht um eine feststehende lineare
Materia-
Ursache-Wirkung-Beziehung,
sondern um eine wissenschaftliche Methode als Zugang zu komplexen len Prozessen und Erscheinungen
sozia-
handelt.
Zweitens wird die wissenschaftliche Analyse dieser chen Komplexität geradezu zum Programm erhoben
gesellschaftli-
(gesellschaftliche
terminationen und Vermittlungen, Wechselwirkungen v e r s c h i e d e n e r
De-
gesell-
schaftlicher Bereiche aufeinander, aktive Wirkungen der v e r s c h i e d e n e n politischen,
rechtlichen, bewußtseinsmäßigen Prozesse und Erscheinungen
auf das gesamte gesellschaftliche
Leben).
D r i t t e n s wird mit der Verwirklichung eines solchen P r o g r a m m s die Formierung einer eigenständigen Wissenschaftsdisziplin - auf der G r u n d lage und in Einheit mit dem Historischen M a t e r i a l i s m u s (Wir nennen
sie
inzwischen Soziologie.) - wissenschaftstheoretisch begründet und w i s s e n schaftspolitisch geradezu auf die Tagesordnung
gesetzt.
Daß diese Engelssche - und zutiefst Marxsche - Programmatik in den folgenden Jahrzehnten noch nicht systematisch zur Ausarbeitung - und damit auch nicht zu einer eigenständigen Wissenschaftsdisziplin logie im Marxismus - gelangte«
Sozio-
hat viele Gründe. Sie liegen sowohl in-
nerhalb als auch außerhalb der Arbeiterbewegung. Die von Engels in den genannten Briefen ausgedrückte Selbstkritik. aber auch Kritik an der inzwischen politisch und theoretisch agierenden ersten wurde in der Folgezeit nicht grundsätzlich
Schüler-Generation
überwunden.
Die vielfältigen politischen Tagesaufgaben, die mit dem W a c h s t u m politischen Arbeiterbewegung und der intellektuellen A u s s t r a h l u n g Marxismus weiterhin - und vielleicht noch mehr - notwendige
der
des
Erläuterung
des Grundprinzips des Historischen Materialismus, die zunehmend n o t w e n dige polemische Verteidigung dieses G r u n d p r i n z i p s gegen A n g r i f f e
ver-
schiedenster Art, die bei allem zahlenmäßigen Wachstum und v i e l f a c h e r intellektueller Brillianz dennoch begrenzte Zahl von Theoretikern und Intellektuellen
marxistischen
(Bis weit in dieses Jahrhundert
sie weitgehend vom offiziell akademisch institutionalisierten schaftsbetrieb der Universitäten und A k a d e m i e n in den
waren
Wissen-
kapitalistisch
organisierten Gesellschaften de facto ausgeschlossen.), aber auch die um die Jahrhundertwende einsetzende Revisionismusdebatte
5
und
schließlich
F. Engels an Franz Mehring, 14. Juli 1883, ins MEW, B d . 39, B e r l i n 1968, S. 96. 73
Spaltung nicht nur in der politischen Arbeiterbewegung,
sondern auch in
der theoretischen Marxismus-Diskussion - seien als ursächliche zumindest
Faktoren
genannt.
Einen nicht zu unterschätzenden Einfluß hat auch der lange Zeit bestimmende Einfluß K. Kautskys - in Deutschland auf jeden Fall, aber auch darüber hinaus - bei der Darstellung und Propagierung der materialistischen Geschichtsauffassung. Das für die Theoretiker der II. Internationale insgesamt zutreffende streng deterministische Verständnis des Historischen Materialismus war bekanntlich bei K. Kautsky besonders ausgeprägt.0 Die demgegenüber stärkere Berücksichtigung des aktiven
Einflusses
des politischen, juristischen, ideologischen O b e r b a u s auf den Geschichtsprozeß und verschiedener gesellschaftlicher Vermittlungsmechanismen
-
nicht zuletzt auch ihrer Verankerung in der Kultur, bzw. in dem Kulturgewordensein - in den Darstellungen des Historischen Materialismus durch 8 9 7 in Frankreich, A . Labriola in Italien sowie G. Plechanow
P. Lafargue
und den jungen W. I. L e n i n 1 0 in Rußland blieben zunächst auf eine nationale Ausstrahlung beschränkt und selbst diese hatte in ihrer Zeit nie die Wirkung, wie die des führenden Theoretikers der stärksten Abteilung in der II. Internationale: K. Kautsky. 6
Vgl. K. Kautsky, Die materialistische Geschichtsauffassunp. 2. Bd.. Berlin 1927; derselbe, uer Einfluß der Volksvermehrung aut den Fortschritt der Gesellschaft untersucht, Wien 1880; Das Erfurter P r o gramm, Berlin 1965; S. M. Brajovic, Karl Kautsklj - evoljucija ego vozzrenij, Moskva 1982: H. 0 . Mende, Karl Kautsky - vom Marxisten zum Opportunisten. Studie zur Geschichte des historischen Materialismus, Berlin 1985. 7 Vgl. P. Lafargue, Vom Ursprung der Ideen. Eine Auswahl seiner Schriften von 1886 bis 1900, Dresden 1970; derselbe. D a s Recht auf Faulheit und aridere Satiren, Berlin (West) 1986; Z. M. Protasenko, Voprosy istoriceskogo materializma v trudach Polja Lafarga, Leningrad 1962; Ch. N. Momdzan, Pola Lafarg i filosofia marksizma, Moakva 1978. 8 Vgl. A . Labriola, Ober den historischen Materialismus, Frankfurt a. Main 1974; L. Nikititsch, A . Labriola, Biographie eines italienischen Revolutionärs, Berlin 1983. 9 Vgl. G. W . Plechanow, Zur Frage der Entwicklung der monistischen Geschichtsauffassung, Berlin 1956; derselbe, Eine Kritik unserer Kritiker. Schriften aus den Oahren 1898 bis 1911, Berlin 1982; Kunst und gesellschaftliches Leben, Berlin 1975; B . A . Cagin, Razrabotka G . V . Plechanovym obscesociologiceskoj teorii marksizma, Leningrad 1977; M . Oowtschuk, 0. Kurbatowa, Georgi Plechanow, Eine Biographie, Berlin 1983. 10 Vgl. W. I. Lenin, W a s sind die "Volksfreunde" und wie kämpfen sie gegen die Sozialdemokraten? ins Werke, Bd. 1, Berlin 1961; derselbe, Der ökonomische Inhalt der Volkstümlerrichtung und die Kritik an ihr in dem Buch des Herrn Struve (Die Widerspiegelung des M a r x i s mus in der bürgerlichen Literatur, ebenda, B d . 1, Berlin 1961; Zur Charakteristik der ökonomischen Romantik (Sismondi und unsere einheimischen Sismondisten), ebenda, Bd. 2, Berlin 1961; Perlen volkstümlerischer Projektemacherei, ebenda, Bd. 2, Berlin 1961; Die Entwicklung des Kapitalismus in Rußland, Der Prozeß der Bildung des inneren Marktes für die Großindustrie, ebenda, Bd. 3, Berlin 19^,0; D e r Kapitalismus in der Landwirtschaft. (Ober das Buch Kautskys und einen Artikel des Herrn Bulgakow, ebenda, B d . 4, Berlin 1960; N. Bucharin, Theorie des historischen Materialismus. Gemeinverständliches Lehrbuch der Marxistischen Soziologie, Hamburg 1922. 74
Allerdings steht meines Erachtens eine adäquate Würdigung und v o r allem Nutzung der zuletzt genannten Theoretiker des Historischen
Materialis-
mus mit heutigem Problembewußtsein - auch und vor allem für die Soziologie - noch aus. Oede Erörterung des Verhältnisses von Historischem M a t e r i a l i s m u s und soziologischer Theorie - im Verständnis marxistisch
soziologischer
Theorie - verlangt zudem für eine adäquate Behandlung den verschiedenen Entstehungszusammenhang von marxistischer und nichtmarxistischer
Sozio-
logie in der Geschichte zu berücksichtigen. Wann immer man die H e r a u s bildung und Etablierung der Soziologie als nichtmarxistische
Wissen-
schaf tsdisziplin auch ansetzt - sei es bei A . Comte und H. Spencer,
der
Generation um die Jahrhundertwende oder noch später im Zusammenhang
mit
ihrer endgültigen Institutionalisierung - die der marxistischen
Sozio-
logie verlief auf jeden Fall anders. Entsprechend anders sind G e s i c h t s punkte und Prinzipien ihrer
Geschichtsschreibung.
Erstens: Weitgehend unbestritten auch von nichtmarxistischer
Seite
ist der Beitrag von K, Marx und F. Engels für die Soziologie. D e r Streit geht vor allem um die Art des Beitrages: als V o r l ä u f e r oder als Klassiker, mit soziologischen Bausteinen oder mit einem geschlossenen
Kon-
zept, Auf jeden Fall liegt von ihnen kein systematisches W e r k zur B e gründung der Soziologie - vergleichbar der systematischen D a r l e g u n g
der
politischen Ökonomie - vor. Ihr theoretisches System der Soziologie
und
ihre empirischen Forschungen soziologischen C h a r a k t e r s sind im G e s a m t werk enthalten, die es systematisch herauszuarbeiten
und darzustellen
gilt. Dabei sind zwei Arten systematischer D a r s t e l l u n g inzwischen zu unterscheiden: eine auf dem Verallgemeinerungs- und A b s t r a k t i o n s n i v e a u des Historischen Materialismus - N. B u c h a r i n s und M. A d l e r s D a r s t e l l u n gen des Historischen Materialismus als soziologische Theorie seien da11 für exemplarisch genannt - und eine zweite, die auch die anderen V e r allgemeinerungs- und Abstraktionsebenen in den ökonomischen und historischen Marx'-Engels"sehen Arbeiten - wie etwa: Engels* "Lage der arbeitenden Klasse in England", Marx' "Der 18. Brumaire des Louis B o n a parte" und die anderen zeitgeschichtlichen Analysen zur französischen 12 Entwicklung, Engels* "Zur Wohnungsfrage" usw. einschließen. Von den verschiedenen Bemühungen um solche Gesamtdarstellungen
11 12
der
Vgl. M . Adler, Soziologie des Marxismus, 3. Bd., Wien 1964; H. Cunow, Die Marx*sehe Geschichts-, G e s e l l s c h a f t s - und Staatstheorie, 2. Bd., Berlin 1920. Vgl. L. A . Leont'ev, Problema ravenstva v "Kapitale" K. Marksa, Moskva i960; Marks i sociologija, Moskva 1968; Sociologiceskoe nasledie Karla Marksa i issledovanija social'noj strukturi i obraza zisni, Berlin 1984; Karl Marx und Friedrich Engels - ihr E i n f l u ß und ihre Wirksamkeit in der Geschichte und Gegenwart der soziologischen Theorie, (Hrsg.) H. Steiner, Berlin 1986. 75
Marx'sehen Soziologie sind die Arbeiten von T. B. Dottomore
13
bekannt,
aber in der gesamten theoretischen, methodologischen und empirischen Vielfalt steht eine solche Gesamtdarstellung - von marxistischer Seite - noch aus. Zweitens: Von mindestens ebenso großer Bedeutung ist es, daß sich marxistisches soziologisches Denken, Analysieren und Erklären nicht im Koordinatensystem einer selbständigen Wissenschaftsdisziplin
Soziolo-
gie, sondern im Gesamtsystem marxistischer Diskussionen und Darstellungen entwickelte und entfaltete. K. Kautskys "Darstellung der materialistischen Geschichtsauffassung", A. Bebels "Die Frau unä der Sozialismus" sowie die von ihm initiierte Umfrage unter den Bäckergesellen Deutschlands, überhaupt die von den Gewerkschaften und der SPD organi14 sierten Sozialenqueten mit ihrem reichhaltigen Material , P . Lafargues Untersuchungen "Über den Ursprung der Ideen" und G . Plechanows monisti15 sehe Geschichtsauffassung , R. Hilferdings Analyse sozialer Struktur16 Veränderungen beim Obergang zum Imperialismus sowie schließlich VV. I. Lenins Auseinandersetzung mit der Soziologie der Volkstümler, Analyse der sozialökonomischen Entwicklung des zaristischen
seine
Rußlands,
seine Arbeiten zur politischen Soziologie des Imperialismus und zur sozialen r roblematik der entstehenden Sowjetgesellschaft seien ebenso
ge-
nannt w e R. Luxemburgs Beiträge zum Verhältnis von sozialer Reform und sozialer Revolution sowie zur Begründung und Organisation gesellschaft17 18 liehen Handelns , A . Gramscis Intelligenztheorie , E. S. Vargas A n a 13 Vgl. T. B. Bottomore and M. Rubel (eds.), Karl Marx. Selected Writings in Sociologv and Social Philosophy, Harmondsworth 1965; T . B. Bottomore (ed.), Karl Marx. Oxford 1973; derselbe, Marxist Sociology, London 1975; derselbe (ed.). Modern Interpretations of Marx, Oxford 1981; A Dictionary of Marxist Thought, Oxfort 1983. 14 Vgl, A . Bebel, Die Frau und der Sozialismus (1883), Berlin 1946; derselbe, Die soziale Zusammensetzung der sozialdemokratischen Wählerschaft Deutschlands, int "Die Neue Zeit", 1904/1905; D. Fricke, Handbuch zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, 2. Bd., Berlin 1987. 15 P. Lafargue, Vom Ursprung der Ideen. Eine Auswahl seiner Schriften von 1886 bis 1900, a.a.O.j G. Plechanow, Zur Frage der Entwicklung der monistischen Geschichtsauffassung, Berlin 1956. 16 Vgl. R. Hilferding, D a s Finanzkapital. Eine Studie über die jüngste Entwicklung des Kapitalismus (1910), Berlin 1955; W. Gottschalck, Strukturveränderungen der Gesellschaft und politisches Handeln in der Lehre von Rudolf Hilferding, Berlin (West) 1962; C. Stephan (Hrsg.), Zwischen den Stühlen oder über die Unvereinbarkeit von Theorie und Praxis. Schriften Rudolf Hilferdings 1904 bis 1940, Berlin (West) 1982. 17 Vgl. R. Luxemburg, Von Stufe zu Stufe. Zur Geschichte der bürgerlichen Klassen in Polen (1897/98), in: Gesammelte Werke, Bd. 1.1, Berlin 1974, S. 94-111; dieselbe, Wirtschaftshilfe und sozialpolitische Rundschau (1898/99), ebenda; Sozialreform oder Revolution? (1899), ebenda, S. 367-466; Die "deutsche Wissenschaft" hinter den A r b e i tern (1899/1900), ebenda, S. 767-790; Massenstreik, Partei und Gewerkschaften (1906), Bd. 2, Berlin 1972, S. 91-170. 18 Vgl. A . Gramsci, Izbrannye Proizvedenija, 3. Bd., Moskva 1957; Antonio Gramsci, Revolutionär und Internationalist, Berlin 1978; A . Gramsci, Zu Politik, Geschichte und Kultur. Ausgewählte Schriften, Leipzig 1980; derselbe, Notizen zur Sprache und Kultur, Leipzig 1984; Gedanken"zur Kultur, Leipzig 1987; D. Albers, Versuch über Otto Bauer und Antonio Gramsci: Zur politischen Theorie des Marxismus, Berlin (West) 1983. 76
lysen der Mitgliedschaft und des politischen Einflusses sozialdemokrati19 scher Parteien Westeuropas oder die breit angelegte empirische S o z i a l 20 forschung in den 20er und 30er Jahren in der Sowjetunion. Die A u f z ä h lung ließe sich fortsetzen. Ihnen allen gemeinsam ist der
soziologische
Zugang, Charakter und Gehalt, ohne diese Kennzeichnung und oft auch ohne die Terminologie der inzwischen sich etablierenden
nichtmarxistischen
Soziologie zu verwenden. Das läßt sich auch am Beispiel von Zeitschriften sowie von P r o g r a m men von Konferenzen und Kongressen zeigen. Im "Verein für Socialpolitik" und in der "Deutschen Gesellschaft für Soziologie" haben Marxisten - mit wenigen Ausnahmen - keinen Platz. In den "Kölner Vierteljahresheften Soziologie", in "Schmollers Jahrbuch" und anderen Zeitschriften
für
sind
marxistische Beiträge kaum zu finden. D e m g e g e n ü b e r enthalten die Z e i t schriften "Neue Zeit" der SPD, "Der Kampf" der SPD, "Unter dem B a n n e r des Marxismus" und "Die Internationale" der Komintern, überhaupt die unterschiedlichsten Organe, in denen die T h e o r i e - und
Ideologiedebatten
der Arbeiterbewegung geführt wurden und werden eine Fülle
soziologisch
und sozialpolitisch gehaltvoller marxistischer Beiträge, die
innerhalb
der eigentlich soziologischen Fachdiskussion bis auf den heutigen T a g auch bei uns - noch weithin unerschlossen
sind.
Beispielsweise wurde die soziologische und sozialpolitische A n g e stelltenproblematik
in der "Neuen Zeit" bereits vor der ¿Jahrhundertwen-
de an Hand konkreter Analysen diskutiert, d a s heißt viele Jahre vor dem Erscheinen der ersten fachsoziologischen Darstellung zur sozialen 21 und Stellung der Angestellten durch E. Lederer im Jahre 1912.
Lage
Für die soziale Lage und Lebensweise d e s I n d u s t r i e p r o l e t a r i a t s
gilt
dies ohnehin. Der gesamte P r o z e ß der Formierung marxistischer Soziologie - marxistischen soziologiechen Denkens und H a n d e l n s - verlief als w i s s e n s c h a f t 19
20
21
Vgl. E. S. Varga, Die sozialdemokratischen Parteien, ihre Rolle in der internationalen Arbeiterbewegung der Gegenwart, Hamburg 1926; derselbe, Materialien über den Stand der Bauernbewegungen, Hamburg 1925i D a s Wohnungswesen als soziales Problem, Budapest 1918. Vgl. B . A . Cagin, Ocerk istorii sociologiceskoj ntysli v SSSR, M o s k v a 1971; S. G . Strumilin, Bjudget v r e m e n i rusekogo rabocego i kvest'Janina v 1922 - 1923 gg. , M o s k v a 1924; derselbe, Problemy e k o n o m i k i truda. O c e r k i i etjudy, Moskva 1925; K izuceniju rabocego byta, Moskva 1925; Social'nye problemy p j a t l l e t k i (1928/29 - 1932/33), Moskva 1929; A . N . Soskina, Istorija social'nych obsledovanij sibirskoj derevni v 20-e gody, Novosibirsk 1976; Social'nych obllk k o l c h o z noj melodezi (po materialam sociologiceskich obsledovanij 1938 i 1969 gg.), Moekva 1976; Social'nych oblik rabocej melodezi. Po materialam sociologiceskich obsledovanij 1936 i 1972 gg., Moskva 1980; N. B . Lebina, Rabocaja molodez' Leningrada. Trud i social'nyj oblik 19211925 gody, Leningrad 1982; N . Thun, A d r e s s a t e n w e c h s e l . Literarische Kommunikation in Sowjetrußland (1917-1930), Berlin 1987. V g l . K. Kautskv. Die Intelligenz und die Sozialdemokratie. "Die Neue Zeit", 1895; derselbe, Bernstein und das sozialdemokratische Programm, Stuttgard 1899; F. van der Goes, Dis Legende vom neuen Mittelstand. "Die Neue Zeit", 1906; P . Lange, D e r neue M i t t e l s t a n d . "Die Neue Zeit"-, 1907; 8. Kongreß der Gewerkschaften D e u t s c h l a n d s im Jahre 1911; E. Lederer, Die Privatangestellten in der modernen Wirtschaftsentwicklung, Tübingen 1912.
77
licher Institutionalisierungsprozeß
im wesentlichen außerhalb des offi-
ziellen Universitätsbetriebes und der etablierten
wissenschaftlichen
Fachzeitschriften und damit anders als der der nichtmarxistischen
Sozio-
logie. Das anzuerkennen, bedeutet aber zugleich: Die Kriterien der wohlvertrauten Soziologieentwicklung
in den Universitäten und in den profes-
sionalisierten Fachzeitschriften können nicht zum alleinigen Maßstab für die Beurteilung soziologischen Gedankenguts gemacht werden. Gewiß
steht
die systematische Erschließung und Darstellung auch dieser Traditionslinien marxistischer Soziologie noch aus. Daß es sich dabei aber keineswegs nur um Aussagen auf dem Verallgemeinerungsniveau des Historischen Materialismus als Geschichtsphilosophie
und Sozialtheorie
einerseits
oder um unmittelbar praktisch-politisch nutzbares empirisches A l l t a g s wissen andererseits handelt, ist sicher schon aus der exemplarischen Namensnennung
(A. Bebel, A . Gramsci, K. Kautsky, P. Lafargue, R. Luxem-
burg, E. Varga usw.) deutlich
geworden.
Drittens: Analog wie für Marx und Engels sind auch bei Lenin seine soziologischen Leistungen aus dem Gesamtwerk zu erschließen, obwohl bei ihm schon verschiedentlich ein direkter Bezug zur Soziologie und zu soziologischen Forschungen enthalten ist. Unter der Fragestellung
"Histo-
rischer Materialismus und soziologische Theorie" ist aber gerade das Gesamtwerk zu erschließen. Dort, wo sich Lenin am häufigsten - auf jeden Fall theoretisch am zusammenhängendsten direkt und explizit - mit Soziologie befaßt, ist es auf dem Verallgemeinerungsniveau des Historischen Materialismus: in seinen Frühschriften zur Auseinandersetzung mit der 22
Gewerkschafts- und Sozialtheorie der russischen Volkstümler.
Er faßt
dort Grundaussagen Marx*scher Soziologie zusammen - und er nennt sie auch so. Umgekehrt hat er in den wenigen Jahren, die ihm nach der Oktoberrevolution 1917 blieben, immer wieder die Durchführung von konkreten
So-
zialforschungen angeregt und auch konkret veranlaßt. Bereits bei der Gründung der Sozialistischen Akademie 1919 hat er in seinen
schriftli-
chen Hinweisen besonderen 23 Wert auf die Organisierung von konkreten Sozialforschungen gelegt. Spezifisch soziologisch-theoretische Beiträge - wie zum Beispiel zu den sozialen Strukturveränderungen, zur sozialen Basis verschiedener Parteien, zum sozialen Handeln als Massenhandeln - sind aber sowohl in seinen Arbeiten zur Entwicklung des Kapitalismus in Rußland als auch in denen zur Imperialismustheorie
und schließlich zum
sozialistischen
Aufbau enthalten, ohne daß dies terminologisch als Soziologie ?4 net w i r d .
bezeich-
Es ist auch auffallend, daß in der Sowjetunion der 20er und der 22 23
24
78
Vgl. A n m e r k u n g 10. W, I. Lenin, Ober eine Sozialistische Akademie für Gesellschaftswissenschaften, in: Werke, Bd. 27, Berlin 1960, S. 399/400; derselbe, O b e r die>Arbeit des Volkskommissariats für Bildungswesen, ebenda, B d . 32, Berlin 1961, S. 117-127. Vgl. Anmerkung 10.
ersten 30er Oahre einerseits eine umfangreiche empirische
Sozialfor-
schung durchgeführt wurde, die aber demgegenüber andererseits nicht von einer gleich intensiven theoretischen Diskussion zur Soziologie Disziplin begleitet war. In all diesen Oahren intensiven
als
soziologischen
Denkens und Forschens in den 20er und ersten 30er Jahren der S o w j e t union blieb ein unausgereiftes, vielleicht sogar "gebrochenes"
Verhält-
n i s zur Soziologie als eigenständige Wissenschaftsdisziplin, nicht zur soziologischen Forschung oder zur soziologischen
aber
Forschungsmethodo-
logie. Schon damals - und nicht erst in den Oahren der D o g m a t i s i e r u n g zwischen den 30er und 50er Oahren - wurde in der Sowjetunion und in der kommunistischen Arbeiterbewegung Soziologie
(als eigenständige
plin) primär in der Entgegensetzung zur offiziellen akademisch
Disziorgani-
sierten nicht- und antimarxistischen Soziologie gesehen. D a s marxistisch-leninistische wissenschaftstheoretische
und w i s s e n s c h a f t s p o l i -
tische Selbstverständnis von Soziologie war weitgehend davon Das ist meines Erachtens deshalb bedeutsam, weil es die
bestimmt.
genannte
Dogmatisierung - als erklärte Frontstellung gegen jede Art von
Soziolo-
gie - zwischen den 30er und 50er Oahren auf jeden Fall erleichterte
und
weil auch in den Oahren nach dem 20. Parteitag der KPdSU 1956 der P r o zeß des Wiederbeginns soziologischer Forschungen unter dieser B e z e i c h nung (Tatsächlich wurden sie ohne die Kennzeichnung von v e r s c h i e d e 25 nen Wissenschaftlern in all den Oahren weitergeführt ,) und die endgültige Etablierung als eigenständige Fachdisziplin zu Beginn der 60er Oahre in der Mehrzahl der europäischen sozialistischen Länder noch außerordentlich widersprüchlich und zögernd verlief. Es ist hier nicht der Platz, um die zwischen 1956 bis zur M i t t e der 60er Oahre stattgefundene Diskussion zum V e r h ä l t n i s von
Historischem
Materialismus und soziologischer T h e o r i e detailliert nachzuzeichnen
und
zu analysieren. In der Retrospektive läßt sich aber feststellen - und das wird in sowjetischen Arbeiten zur Geschichte der Soziologie von terschiedlichen Autoren hervorgehoben - daß die Initialisierung Diskussion um die Soziologie als eigenständige
un-
für die
Wissenschaftsdieziplin
im Gesamtsystem marxistischer Gesellschaftswissenschaften
in der M e h r -
zahl der europäischen sozialistischen pc Länder von T . Pavlov in B u l g a r i e n und 0. Kuczynski aus der DDR ausging. T . P a v l o v entwickelte in seinem Hauptwerk zur philosophischen Widerspiegelungstheorie die A u f f a s s u n g von einer eigenständigen nichtphilosophischen
Wissenschaftsdisziplin
Soziologie, womit er die Identifikation jeder marxistischen 25
26
Soziologie
Innerhalb der philosophischen, ökonomischen und historischen W i s senschaften, der Volkskunde, L i t e r a t u r - und Kunstwissenschaften wurden in all den Oahren theoretisch wie empirisch bedeutsame marxistische soziologische Arbeiten v o r g e l e g t . Für das Gebiet der heutigen DDR seien für die Zeit seit 1945 genannt: F. Behrens, G . Knepler, W. Krause, 0 . Kuczynski, 0. Lips, A . Meusel, D . Rühle, H. Scheier, W. Steinitz. Vgl. A. K. Uledov, Sociologiceskie zakony, Moskva 1975, S. 14; G. V . Osipov, Teorija i praktika sociologiceskich issledovanij v SSSR, Moskva 1979, S. 166/167. 79
mit dem Historischen Materialismus theoretisch
aufkündigte.
27
Und D, Kuczynski schrieb 1957 im CJubiläums-Heft der sowjetischen philosophischen Zeitschrift zum 40. Jahrestag der Oktoberrevolution einen Aufsatz über "Soziologische Gesetze", in der er sich unter anderem ebenfalls für eine eigenständige Wissenschaftsdisziplin marxistische Sozio28
logie einsetzte. A u s sicher verschiedenen Gründen blieb Pawlows - mehrfach vorgetragene Position - weitgehend ohne öffentliche polemische Resonanz, Kuczynskis A u f s a t z in der Sowjetunion eine sehr kontroverse,
während
allerdings
noch weitgehend ablehnende Debatte auslöste, die aber - wie die historischen Darstellungen inzwischen zeigen - soziologische
Aktivitäten
stimulierte. Etwa zur gleichen Zeit entstanden am Ende der 50er Jahre in der UdSSR, in Bulgarien, in der CSSR, DDR, in Jugoslawien und Rumänien - die VR Polen hatte eine davon unterschiedliche Soziologie-Entwicklung - innerhalb der existierenden Wissenschaftsdisziplinen Philosophie, sche Ökonomie und wirtschaftswissenschaftlichen
politi-
Zweigdisziplinen
beitsökonomik, Agrarökonomik und andere), Psychologie,
(Ar-
Rechtswissen-
schaften. Sozialhygiene und anderen soziologischen Forschungsgruppen, mit verschiedenen theoretischen und empirischen Untersuchungen Von Anfang an waren sie aber mit der Frage der und theoretisch-methodologischen 29 schaftsdisziplin verbunden.
die
begannen.
wissenschaftspolitischen
Standortbestimmung als eigene Wissen-
Bei aller gelegentlichen Zuspitzung in den dazu geführten
Diskussionen
war das Bemühen um eine konstruktive Bewältigung bei nahezu allen B e teiligten gegeben. Die sachlichen Schwierigkeiten lagen nicht allein im Dogmatismus der letzten 2 bis 3 Jahrzehnte, sondern - und deshalb bin ich hier darauf eingegangen - erstens in der bereits traditionell dersartigen Entwicklung und Institutionalisierung marxistischen
an-
sozio-
logischen Denkens in der Geschichte der Arbeiterbewegung von Anfang an und zweitens in einer Vermengung im Verständnis des Historischen
Mate-
rialismus als wissenschaftliche Methode mit seinem zum Zeitpunkt vorherrschenden, überlieferten
27 28 29
80
Lehrsystem.
T. Pavlov, Izbrannye Filosofskie Proizvedenija, tom 3, Moskva 1962-1964, S. 398-399. CJ. Kuczynski, Sociologiceskie zakony. "Voprosy filosofii", 1957, N. 5 (deutsch in« 0. Kuczynski, Studien zu einer Geschichte der Gesellschaftswissenschaften, Bd. 10, Berlin 1978, S. 224-231). Eine erste international vergleichende Darstellung "Razvitie sociologii v socialisticeskich stranach Evropy" über diese Periode mit Beiträgen aus Bulgarien, CSSR, DDR, Polen, Rumänien und der UdSSR ist enthalten in dem Sammelband "Sociologija i Ideologija" (Moskva 1969).
Ob.
f. Soziologie
Otto
und S o z i a l p o l i t i k
1989
Bittinann
Das s o z i a l p o l i t i s c h e
W i r k e n v o n M a r x und E n g e l s
D i e Welt zu erkennen bedeutete
in der
Arbeiterbewegung
f ü r K . M a r x und F . E n g e l s
stets,
sie
verändern. Die objektiven
ökonomischen Gesetze der k a p i t a l i s t i s c h e n
duktionsweise
sich
realisieren
Kampf d e r A r b e i t e r k l a s s e dieser
z u den o b j e k t i v e n
ökonomischen Gesetze
sentlich
im K l a s s e n k a m p f .
bestimmen
Faktoren,
und i h r e
stets aktiv
t e i l g e n o m m e n . D a s war n i c h t
des Vormärz i n D e u t s c h l a n d , Während i h r e r
Emigration
des i n t e r n a t i o n a l e n
i n E n g l a n d wurden s i e
Proletariats.
S i e wiesen nach,
kann,
sich
indem s i e
als
Klasse
ung v o n k a p i t a l i s t i s c h e r
daß d i e s e formiert
Konzeption.
Die Konzeption
v o n M a r x und E n g e l s
Wirken we-
Beitrag
Sozialpolitik
revolutionären
in der von
die anerkannten
Führer
ihrer Tätigkeit Rolle
ihre Aufgabe nur
beinhaltete
je-
der
realisieren
führt.
Befrei-
Die
von
daher auch e i n e
für die S o z i a l p o l i t i k
Zeit
1848/49.
und den Kampf um i h r e
der K l a s s i k e r
bildet
Perspektive
der
Marx'
der p o l i t i s c h e
m i t dem ö k o n o m i s c h e n
dem A n w a c h s e n d e r A r b e i t e r b e w e g u n g Ökonomie d i e
schuf
sichere
Im " K a p i t a l " wicklung...
sehr
Hauptwerk
so-
Arbeiter-
erst
Marx'
einer
"Das K a p i t a l " .
prole-
Neben
der A r b e i t e r k l a s s e
besonders die
Erkenntnis,
m i t dem Kampf um T e i l f o r d e r u n g e n der S t r a t e g i e
daß
der und
und T a k t i k ,
z u r Massenbewegung
Gerade die
mit
an B e d e u t u n g
ge-
endgültige Ausarbeitung
wissenschaftliche
der
politischen
Grundlage.
gab Marx " a u ß e r der a l l g e m e i n e n w i s s e n s c h a f t l i c h e n im D e t a i l ,
nach b i s h e r noch n i c h t
Q u e l l e n , d l « Zustände des e n g l l s c h e n - a g r i k o l e n während der l e t z t e n
K . M a r x an S i g f r i d 1965, S. 542/543.
Meyer,
zwanzig Gahre" 30. A p r i l
der
ver-
und R e f o r m e n
Kampf v e r b u n d e n w e r d e n muß.
f ü r d i e Beantwortung von Grundfragen wonnen h a t t e n ,
zur Begründung
des Klassenkampfes
der e r s t e Band des " K a p i t a l "
Kampf um d a s E n d z i e l
letariats
nur der F a l l
Arbeiter-
Kapitalismus
Den w o h l w i c h t i g s t e n tarischen
S e i t e n der
und U n t e r d r ü c k u n g
Theorie
zialpolitische
im
auf
Hauptschwerpunkt
Ausbeutung
M a r x und E n g e l s a u s g e a r b e i t e t e
1
welche das
Begründung der h i s t o r i s c h e n
Arbeiterklasse.
mittelt
Pro-
der
Erscheinungsformen
sondern auch i n der R e v o l u t i o n
doch war d i e w i s s e n s c h a f t l i c h e
klasse
gehört
beeinflussen.
M a r x und E n g e l s h a b e n an den K l a s s e n k ä m p f e n klasse
Folglich
zu
1867,
benutzten
und i n d u s t r i e l l e n wieder.
in:
Er
Ent-
amtlichen Pro-
vermittelte
MEIV, B d . 3 1 ,
Berlin
81
dabei der Arbeiterbewegung wichtige Erfahrungen. Kit seinen
theoreti-
schen Untersuchungen wie mit der historischen Beweisführung gab er ihr das Rüstzeug für den Kampf um die Durchsetzung sozialökonomischer sozialpolitischer
und
Zielstellungen.
Marx zeigte, daß Bourgeoisie und Proletariat ständig um die Höhe des Lohnes, um die Länge des Arbeitstages, um die gesamten
Arbeitsbedingun-
gen ringen. Die Arbeitskraft wird unter ihrem Wert bezahlt, wenn nur die biologisch unabdingbaren Lebensmittel ausreichend zur Verfügung stehen. In ihre '.Vertbestimmung gehen auch soziale Momente ein, deren Größe v o m erreichten Stand der Zivilisation und von der Intensität Klassenkampfes abhängt. Die Analyse des Einflusses von Arbeitszeit, beitsproduktivität
des Ar-
und - i n t e n s i t ä t zeigt zugleich, daß der Wert der Ware
Arbeitskraft ständigen Schwankungen unterliegt und die Arbeiter sich unablässig gegen die Versuche der Bourgeoisie zur Wehr setzen müssen, den Lohn unter den Wert der Arbeitskraft zu senken. Eingehend
untersuchte
Marx im ersten Band des "Kapital" die Wirkungen der Maschinerie auf den Wert der Arbeitskraft, auf die Arbeitszeit, Arbeitsintensität, den B e schäftigungsgrad, auf die Frauen- und Kinderarbeit, auf hygienische moralische Zustände. Hierbei wird klar, daß die Arbeiterklasse
und
ständig
vor nachteiligen Auswirkungen des technischen Fortschritts im Kapitalismus auf der Hut sein muß- Marx" Geschichte der englischen gebung enthält zahlreiche Hinweise zu Fragen des
Fabrikgesetz-
gewerkschaftlichen
Kampfes. Vor allem die Analyse des Arbeitstages im "Kapital" ist eine überzeugende Darstellung des Klassenkampfes zwischen Bourgeoisie und Proletariat. Ausführlich schildert Marx das erbitterte Ringen der englischen Arbeiter um den Normalarbeitstag, damals geradezu "eine Vorbedingung, ohne welche alle anderen Bestrebungen nach Verbesserung und Emanzipa2 tion scheitern" mußten. Leidenschaftlich brandmarkte er die kleinlichen und gehässigen Manöver der Kapitalisten zur Verlängerung der A r beitszeit und vermittelte dabei der Arbeiterbewegung wichtige
Kampfer-
fahrungen. "Die englischen Fabrikarbeiter", betonte er, "waren die Preisfechter nicht nur der englischen, sondern der modernen Arbeiterklasse überhaupt..."''. In seine Darstellung nahm er auch den B e s c h l u ß des Genfer Kongresses der Internationale von 1866 über den Achtstundentag der später zur gemeinsamen Forderung des internationalen werden
auf,
Proletariats
sollte.4
B e i der Ausarbeitung des "Kapital" war Marx weit davon entfernt,
die
sozialen Fragen seiner Zeit einseitig zu betrachten. B e s o n d e r s deutlich 2 3 4
82
K. Marx, Instruktionen für die Delegierten des Provisorischen Zentralrats zu den einzelnen Fragen, ins MEW, Bd. 16, Berlin 1962, S. 192. K. Marx, D a s Kapital. Erster Band, in: MEW, Bd. 23, Berlin 1962, S. 316/317. Vgl. G . Hautsch, -Kampf und Streit um A r b e i t s z e i t . Dokumente und M a terialien des Kampfes um Arbeitszeitverkürzung Frankfurt a. Main 1984.
wird das am B e i s p i e l seiner Überlegungen zur
Persönlichkeitsentwicklung
der A r b e i t e r im Kapitalismus. Diese sah er in engem Z u s a m m e n h a n g mit d e r Entwicklung von "Reichtum". Wenn die Zwecksetzung und Z i e l s e t z u n g
der
Produktion verschiedenen Eigentümern zufallen, kann laut Marx die
Reich-
tumsentwicklung zum Selbstzweck werden. Sie führt damit nicht zur
Indivi-
dualitätsentwicklung
oder - w a s noch folgenreicher ist - aus P r o d u k t i v -
kräften werden D e s t r u k t i v k r a f t e . In beiden Fällen wird die
Individuali-
tätsentwicklung v e r z e r r t . D a s schöpferische Wesen des Individuums, se unversiegbare Q u e l l e der Reichtumsentwicklung, genteil
die-
schlägt in sein G e -
um.
Ebenso ist die Reproduktion der A r b e i t s k r a f t von einem
antagonisti-
schen W i d e r s p r u c h gekennzeichnet. Die Freiheit, sich in der
individuel-
len Reproduktion persönlich zu entfalten, ist für den L o h n a r b e i t e r
im
K a p i t a l i s m u s eine unausweichliche N o t w e n d i g k e i t . Er muß sich in b e w u ß t e r Formung seines "Privatlebens" bewähren. Er muß seine p e r s ö n l i c h e n
Da-
seins- und G l ü c k s a n s p r ü c h e unter einen Hut zu bringen suchen mit dem Erfordernis, seine A r b e i t s k r a f t möglichst "marktgerecht" zu
reproduzieren.
Die Ausprägung seiner Individualität, von besonderen Neigungen,
Bedürf-
nissen und Fähigkeiten in der Bewältigung der L e b e n s a n f o r d e r u n g e n
wird
mit dem Wegfall feudaler bzw. traditioneller V o r s c h r i f t e n und B r ä u c h e für den L o h n a r b e i t e r zur Notwendigkeit, w i l l er den mit seiner V e r g e sellschaftung wachsenden Wahlmöglichkeiten
und E n t s c h e i d u n g s z w ä n g e n
ge-
recht w e r d e n . Auf der anderen Seite muß laut Marx beachtet w e r d e n , daß der w i r k liche G e s c h i c h t s v e r l a u f nicht von freien, selbstbewußten, Individuen geprägt wird, die ihre g e s e l l s c h a f t l i c h e n
gebildeten
Lebensbedingungen
beherrschen, sondern von Menschen, deren Psyche und P h y s i s durch jahrhundertelange
soziale, politische und geistige
zutiefst
Unterdrückung
und Entmündigung geprägt ist. V / e i t e r e G e s t a l t u n g s k r ä f t e des A r b e i t e r l e bens sind Kapital und Staat, sind P r o f i t j a g d und Konkurrenz, die jeden Lebensbereich durchdringen und jedes Moment
freier W a h l und
Entschei-
dung verdrehen. Die Begründung der w e l t h i s t o r i s c h e n Rolle d e s P r o l e t a riats bedeutete für Marx und Engels k e i n e s w e g s eine A b l e h n u n g
proleta-
rischer Sozialpolitik unter den Bedingungen des K a p i t a l i s m u s . Schon in der Schrift "Das Elend der Philosophie" hatte Marx ausgeführt, daß der zunehmende Druck des Kapitalismus die A r b e i t e r s c h a f t
immer wieder,
trotz
aller Abratungen und Mahnungen zur Koalition, zum Streik und zum Kampf treibt. "Das ist", schrieb er 1847, "heute so sehr der Fall, daß der E n t w i c k l u n g s g r a d der Koalitionen in einem Lande genau den Rang net, den dasselbe in der Hierarchie des W e l t m a r k t e s e i n n i m m t . wo die Industrie am höchsten entwickelt ist, besitzt die 5 und bestorganisierten Koalitionen."
bezeichEngland,
umfangreichsten
Im "Manifest der Kommunistischen Partei" wendeten sich Marx und E n g e l s
5
K. Marx, D a s Elend der Philosophie,
180.
ins MEW, Bd. 4, Berlin 1959,
S.
83
scharf gegen die utopischen Sozialisten, weil diese im Elend nur das Elend sahen. Demgegenüber gingen sie davon aus, daß sich die Rolle der Arbeiterklasse aus den Produktionsverhältnissen
ergibt, aus ihrer Stel-
lung zum Eigentum an den Produktionsmitteln, aus ihrer Verbindung mit der modernen Produktion. Sie zeigten, daß es sich um die
organisierteste
und disziplinierteste und um die letzte ausgebeutete Klasse handelt, die sich nicht befreien kann, ohne alle anderen werktätigen Klassen und Schichten zu befreien. Nachdem Marx und Engels die Wirkung des Kapitalismus auf Arbeiterschaft und kleinen Mittelstand dargelegt haben, schildern sie, wie zur Abwehr der niederdrückenden Tendenz des Kapitalismus die Arbeiterschaft sich organisiert, immer größere, immer festere Kampfvereine bildet und wie mit dieser Organisation zugleich ihre Kraft wächst. Bald wußten die Arbeiter gewisse Erfolge (bezüglich der A r b e i t s b e d i n gungen) zu erringen, wenn auch zunächst nur vorübergehend, bis schließlich die Arbeiterschaft zum politischen Klassenkampf überging:
"Diese
Organisation der Proletarier zur Klasse, und damit zur politischen
Par-
tei, wird jeden Augenblick wieder gesprengt durch die Konkurrenz unter den Arbeitern selbst. A b e r sie ersteht immer wieder, stärker,
fester,
mächtiger. Sie erzwingt die Anerkennung einzelner Interessen der A r b e i ter in Gesetzesform, indem sie die Spaltungen der Bourgeoisie unter sich benutzt."® Es ist eine historische Tatsache, daß sowohl die meisten Sozialisten vor Marx als auch die kleinbürgerlichen Theoretiker wie P. Proudhon und L. Blanc den gewerkschaftlichen Kampf um höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen weitgehend ablehnten. Statt dessen erhofften sie eine Linderung der sozialen Not von Kooperativgenossenschaften,
vom
Arbeitsgeld, von der Einsicht der Herrschenden bzw. dem Staat. Marx und Engels kritisierten diese Ansichten, wobei der Eindruck entstanden ist, als seien sie überhaupt gegen eine proletarische
Sozial-
politik im Rahmen des Kapitalismus gewesen. Dies ist jedoch nicht zutreffend. Marx' Kritik am kleinbürgerlichen Reformismus bedeutete nicht, daß er die Möglichkeit und Notwendigkeit ökonomischer Reformen in den Grenzen des Kapitalismus oder deren Einfluß auf die
Produktionsverhält-
nisse der bürgerlichen Gesellschaft leugnete. Er wollte lediglich zu verstehen geben, daß mit Reformen dieser Art die Grundlagen der kapitalistischen Ordnung nicht verändert werden können. "Es ist nötig, dies klar einzusehn, um sich keine unmöglichen Aufgaben zu stellen und die Grenzen zu kennen, innerhalb deren Geldreformen und Zirkulationsumwandlungen die Produktionsverhältnisse
und die auf ihnen ruhenden
schaftlichen Verhältnisse neugestalten
gesell-
können."7
Die von Marx kritisierten Argumente gegen die Koalitionen der A r b e i ter, gegen ihre Vereinigung zum Zwecke von Lohn- und Streikkämpfen 6 7
84
be-
K. Marx, F. Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, in: ebenda S. 4 7 1 . K. Marx, Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie, in: MEVV, Bd. 42, Berlin 1983, S. 80.
rühren auch den politisch-ideologischen Nerv arbeiterfeindlicher Demagogie von heute. Die bürgerlichen Ökonomen raten den Arbeitern ab, den sozialen Frieden zu gefährden. Sie würden dadurch den regelmäßigen Gang der Industrie hemmen, den Handel stören, die Konkurrenzfähigkeit
unter-
graben, einen Teil der Arbeit überflüssig machen und dadurch niedrigere Löhne bedingen. Man dürfe sich nicht gegen die Gesetze des Marktes auflehnen. Marx faßte seinerzeit diese Standpunkte so zusammen: "Die Ökonomen wollen, daß die Arbeiter in der Gesellschaft bleiben, wie dieselbe sich gestaltet hat und wie sie sie in ihren Handbüchern gezeichnet und besiegelt haben. Die Sozialisten (gemeint sind die vormarxistischen Sozialisten - 0. Bittmann) wollen, daß sie die alte Gesellschaft beiseite lassen, um desto besser in die neue Gesellschaft eintreten zu können, die sie ihnen mit so vieler Vorsorge ausgearbeitet
haben." 8
Ersteres ist offene Apologie des Kapitalismus. Die P r o f H i n t e r e s s e n Kapitalisten, die in der Tat durch Streik- und Lohnkämpfe
der
beeinträchtigt
werden, erscheinen hier als eherne Gesetze, als unabänderliche Ordnung, deren Störung die ganze Gesellschaft in Unordnung brächte. Auch heute noch dominiert diese ideologische Form des Kampfes der Bourgeoisie gegen den gewerkschaftlichen Widerstand gegen die Ausbeutung. Die utopischsozialistische Argumentation gegen die Koalitionen der Arbeiter
findet
sich in mehreren Varianten neoanarchistischer Konzepte wieder« Auch sie lassen die "alte Gesellschaft" beiseite, um desto besser in die neue Gesellschaft eintreten zu können. Die wissenschaftliche Begründung der Sozialpolitik durch Marx und Engels, ihre sozial-politische Konzeption, erhielt wichtige Impulse bereits durch den heroischen Versuch der Pariser Kommune, eine neue Gesellschaft aufzubauen. Marx entging keine irgendwie bedeutsame Maßnahme g der Kommune. Ausführlich analysierte er in seinen Schriften die verschiedenen Beschlüsse der Kommune auf den Gebieten der Wirtschaft, tur und Politik. Die Einführung eines wirklich allgemeinen
Kul-
Wahlrechts
zu den Wahlen der Stadträte, deren Verantwortlichkeit und jederzeitige Absetzbarkeit, die Trennung der Kirche vom Staat und der Schule von der Kirche, das Verbot der Nachtarbeit in den Bäckereien, Maßnahmen zur B e seitigung der Arbeitslosigkeit, die Abschaffung der Geldstrafen und der Zwangsabzüge vom Lohn der Arbeiter, die Aufstellung eines Planes zur Inbetriebnahme der von den Unternehmern verlassenen Fabriken und Werke, die Schließung der die Arbeiter knechtenden Leihhäuser, die Organisierung einer Sozialfürsorge, die Beseitigung der Prostitution, die Einstellung aller Klagen aus fälligen Wechseln, die Annullierung der Mietschulden usw. - das waren für Marx Maßnahmen im Interesse der Arbeiterklasse. In der Tat stellten die Dekrete der Kommune Akte eines neuen, 8 9
K. Marx, D a s Elend der Philosophie, ins MEiv, Bd. 4, a.a.O., S. 179. Vgl. K. Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich, in: MEW, Bd. 17, Berlin 1962, S. 313-362 sowie die beiden Entwürfe dazu in: ebenda, S. 4 9 3 610. 85
revolutionieren Rechts dar, das, wenn auch in gewissem Grade
spontan,
von proletarischen Ctaat in Interesse dos Proletariats geschaffen vjurde. In der Pariser Kommune nurrie zun ersten Male deutlich, was unter proletarischer Sozialpolitik nach Eroberung der politischen [lacht zu
verste-
hen ist . So-
Der Kampf von Marx und Engels zur Durchsetzung der proletarischen zialpolitik Die sozialpolitischen Konsequenzen aus der ersten proletarischen lution wurden
Revo-
für das Proletariat in einer großen Zahl von Schriften
der Klassiker nach 1071 gezogen, wobei vor allen die Streitschrift von Engels "Zur iVohnungsf rage" und die von Marx verfaßten "Randglossen zur 10 Kritik des Gothaer Programms" zu nennen sind. In diesen Schriften drückt sich zugleich die enge Verbundenheit von Marx und Engels mit der deutschen Arbeiterbewegung aus. Seit Anfang der 70er Oahre, aber besonders nach dem Beginn der Wirtschaftskrise von 1073 zeigten sich in der Arbeiterbewegung neue Ansätze des politischen Kampfes. Das gemeinsame Interesse an der Zurückdrängung der negativen sozialen Folgen der Gründerjahre und der Krise begünstigte den Annäherungsprozeß der bis dahin bestehenden zwei Richtungen der deutschen Arbeiterbewegung, der Lassalleaner und der Eisenacher. In der Frage der Vereinigung dieser beiden Richtungen kam den sozialpolitischen Programmpunkten eine besondere Bedeutung zu. In seiner Kritik des Gothaer Programmentwurfs setzte sich Marx
aus-
führlich mit Lassalles "ehernem Lohngesetz" auseinander, das seinen Er11 finder um viele Oahre überlebt hatte. Marx" hauptsächliche Einwände: Das Gesetz mit Lassalles Stempel sei in Wirklichkeit die Malthussche Bevölkerungstheorie. A b e r Lassalle irre, da der Arbeitslohn nicht das sei, was er zu sein scheint, nämlich der Wert bzw. Preis der Arbeit, sondern nur eine markierte Form für den Wert bzw. Preis der Arbeitskraft. Damit sei klargestellt, daß der Lohnarbeiter nur die Erlaubnis hat, für sein eigenes Leben zu arbeiten, das heißt zu leben, soweit er eine gewisse Zeit umsonst für den Kapitalisten arbeitet. Das ganze kapitalistische Produktionssystem drehe sich darum, durch Ausdehnung
des
Arbeitstages oder durch Entwicklung der Produktivität 12 bzw. größere Spannung der Arbeitskraft die Gratisarbeit zu verlängern. 10
11 12
86
F. Engels, Zur Wohnungsfrage, in: MEW, Bd. 18, Berlin 1962, S. 209287. Zu Engels Schrift vgl. auch L. A . Leontjev, Engels und die ökonomische Lehre d e s Marxismus, Berlin 1970, S. 4 2 6 / 4 2 7 ; K. Marx, Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei, in: MEW, Bd. 19, Berlin 1982, S. 15-32. Formuliert ist dieses Gesetz in: F. Lassalle, Reden und Schriften. Leipzig 1987, S. 239. Vgl. K. Marx, Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei, in: MEW, Bd. 19, a.a.O., S. 25/26. Ausführlicher zur Marxschen Programmkritik vgl. auch 17. Jahn, W. Müller, Die Bedeutung der A u s e i n andersetzung mit den ökonomischen Auffassungen des Lassalleanismus in Marx" "Kritik des Gothaer Programms für die Geschichte der marxistischen politischen Ökonomie, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, Berlin 1975, Teil II, S. 201-229.
Auch die Bündnisfrage spielt in der Marxochen Programmkritik eine zentrale Rolle. Von ihrer richtigen Beantwortung hängt es immer noch ab, wie groß das sozialpolitische Durchsetzungsvermögen des Proletariats im Kapitalismus und der Arbeiterklasse im Sozialismus ist. Unter
lassallea-
nischem Einfluß war in das Programm die linksopportunistische These aufgenommen worden, daß der Arbeiterklasse nur eine einzige Masse
reaktionäre
gegenüberstünde.
Marx wies diese Auffassung entschieden zurück: "Hat man bei den letzten Wahlen Handwerkern, kleinen Industriellen etc. und Bauern
zugerufen:
Uns gegenüber bildet ihr mit Bourgeois und Feudalen nur eine
reaktionäre
Masse?" Lassalle habe diese Verfälschung des "Kommunistischen vorgenommen, "um seine A l l i a n z mit den absolutistischen 13 Gegnern wider die Bourgeoisie zu beschönigen".
und
Manifests"
feudalen
Engels ging in einem Brief an A . Bebel ebenfalls auf diese Frage ein und fragte ihn: "Wenn zum Beispiel in Deutschland das
demokratische
Kleinbürgertum zu dieser reaktionären Masse gehörte, wie konnte da die Sozialdemokratische Arbeiterpartei jahrelang mit ihm, mit der Volkspar-, tei, Hand in Hand gehen? Wie kann der 'Volksstaat'
fast seinen
politischen Inhalt aus der kleinbürgerlich-demokratischen Zeitung' n e h m e n ? Und wie kann man nicht weniger als sieben in dies selbe Programm aufnehmen, die direkt und wörtlich
Forderungen übereinstim-
men mit dem Programm der Volkspartei und kleinbürgerlichen ... und "von denen keine einzige, die nicht
ganzen
'Frankfurter
D e m o k r a t i e 14 ?"
bürgerlich-demokratisch".
D a s Gothaer Programm ließ sich aber auch im revolutionären Sinne pretieren. Nicht alles daran w a r falsch, und selbst eine so
inter-
irreführen-
de Floskel wie das "eherne Lohngesetz" wurde so'-aufgefaßt, daß es den gewerkschaftlichen Kampf zuließ. Durch diese Art der Interpretation fanden es die Funktionäre und Mitglieder der Sozialdemokratischen tei kaum als Widerspruch, daß in den sozialpolitischen Partien
emp-
Par-
gleich-
zeitig Zielstellungen genannt werden, die mit dem "Kapital" von M a r x durchaus übereinstimmten und nicht zuletzt durch den Einfluß dieses W e r kes zum Gemeingut der deutschen A r b e i t e r b e w e g u n g geworden w a r e n . Die wichtigste davon war die "Verwandlung der A r b e i t s m i t t e l in G e m e i n g u t der Gesellschaft". Auch wurden solche Forderungen erhoben, die
teilwei-
se die Marxsche Programmkritik berücksichtigten. D a z u gehörten d a s "unbeschränkte Koalitionsrecht", der "Normalarbeitstag", das "Verbot der Kinderarbeit und aller die Gesundheit und Sittlichkeit
schädigenden
Frauenarbeit", die "Schutzgesetze für Leben und Gesundheit der A r b e i t e r " 15 und Fabrikinspektoren. Für die teilweise Berücksichtigung der Marxschen Programmkritik
hatten
W. Liebknecht und W. Bracke gesorgt. Bebel w a r über die Kritik nicht
in-
formiert worden, und so blieb sie der P a r t e i bis in die 90er Oahre un13 K. Marx, Randglossen zum Programm der deutschen A r b e i t e r p a r t e i , in: MEW, B d . 19, a.a.O., S. 23. 14 F. Engels, Brief an Bebel, 18./28. M ä r z 1875, in: ebenda, S . 4 . 15 Vgl. Dokumente zur Geschichte der SED. 1847 bis 1945, B d . 1, Berlin 1983, S. 85/86. 87
bekannt. Das hat nun keineswegs dazu geführt, daß Marx und Engels der sozialpolitischen Entwicklung in Deutschland
fernstanden. Ihr
litisches Denken beeinflußte unmittelbar solche anerkannten
sozialpo-
Persönlich-
keiten der deutschen Arbeiterbewegung wie W. Liebknecht und A . Bebel. Liebknecht hatte vor den Schwurgericht in Leipzig bereits 1072 erklärt: "'.Vir wollen
revolutionär nur in dem Ginne sein, daß die soziale
Frage
nicht mit Palliativmitteln, nicht mit üuppenküchen und Konsumvereinen gelöst werden kann, sondern nur durch radikale Heilmittel. Ob diese Lösung friedlich oder gewaltsam, im Wege der Reform oder Revolution finden wird, hängt nicht von uns, sondern
statt-
von unseren Gegnern ab, den
augenblicklich im Staat maßgebenden Faktoren. Gehen diese letzteren unsere berechtigten Forderungen ein, nun dann gibt es keine in anderen Falle lasse ich dahingestellt sein, was geschehen '•Jach der Vereinigung von, 1075 wurde die Sozialdemokratie
auf
Revolution, wird."1^ schnell zu
einer nassenpartei, die sich weniger denn je auf dos sozialistische ziel beschränken konnte, wie sie sich den neuen sozialpolitischen gaben stellte, zeigt der erste umfassende
End-
Auf-
Arbeiterschutzgesetzentwurf,
den die Sozialdemokratie während der Debatte über die Änderung der Gewerbeordnung im April 1S77 im Deutschen Reichstag einbrachte. A . Bebel und F. IV. Fritzsche
(1825-1905) hatten ihn ausgearbeitet. In einer großen 17 Rede zur Begründung des Entwurfs zeichnete Bebel den Entwicklungsgang der kapitalistischen Gesellschaft nach und stellte damit seine Kenntnis des "Kapital" unter Beweis. Er zeigte, wie die ganze Entwicklung des Kapitalismus zum Großbetrieb drängt und das Kleingewerbe
ruiniert, wie die
Maschine mehr und mehr die Handarbeit ersetzt und wie gleichzeitig mit die Kapitalkonzentration
da-
und das Elend der Massen zunehmen. Die D a r -
legung der unversöhnlichen Feindschaft der Sozialdemokratie
gegenüber
dem Kapitalismus verband er mit konkreten sozialpolitischen
Forderungen
schon innerhalb der bürgerlichen Der G e s e t z e n t w u r f 1 8
Ordnung.
forderte unter anderem einen gesetzlichen
Normalar-
beitstag von maximal zehn Stunden für Männer und von maximal acht Stunden für Frauen und ¿Jugendliche, Verbot der Sonntags- und der Kinderarbeit. Einsetzung vom Reich auskömmlich bezahlter und deshalb von den Unternehmern unabhängiger Fabrikinspektoren. Neben der
schweizerischen
hatte vor allem die englische Fabrikgesetzgebung Pate gestanden, durch Marx"
rungenschaft des Klassenkampfes der englischen Arbeiter bekannt 16 17 18
88
die
"Kapital" der deutschen Arbeiterbewegung als bedeutende
Er-
geworden
VV. Liebknecht, Der Hochverraths-Prozeß wider Liebknecht, Bebel, Hepner vor dem Schwurgericht in Leipzig vom 11. bis 26. März 1872, Berlin 1894, S. 107. Rede August Bebels am 18. April 1877, in: Ausgewählte Reden und Schriften, Bd. 1, Berlin 1983, S. 440-450 (Auszüge). A n t r a g . G e s e t z betreffend die theilweise Abänderung der Titel I, II, VII, IX und X der Gewerbeordnung. Berlin, den 11. April 1877, Fritzsche, Bebel (weitere zehn Unterzeichner), in: Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Deutschen Reichstages. 3. Legislatur-Periode. - I. Session 1877. Dritter Band. Anlagen, Berlin 1877, Nr. 92, S. 316-321.
war. Der sozialdemokratische Gesetzentwurf wurde zwar abgelehnt,
hatte
aber große Bedeutung als Richtschnur für das sozialpolitische Wirken der sozialdemokratischen Partei im Deutschen Reichstag und für die A k t i 19 Kampfes.
Vierung des gewerkschaftlichen
Auf die Erstarkung und organisatorische Formierung der A r b e i t e r b e w e g u n g in Deutschland reagierten die herrschenden gesellschaftlichen Kräfte mit dem Verbot aller sozialdemokratischen Organisationen
("Sozialistenge-
setz" von 1878). Damit waren aber auch die zum Teil bereits Dahrzehnte vorher entstandenen freiwilligen Hilfskassen, die finanzielle
Unter-
stützung bei Krankheit, Invalidität und Tod gewährten, als Selbsthilfeorganisationen der Arbeiter und Handwerker in ihrer Existenz bedroht, da sie sehr eng mit den Organisationen d e r A r b e i t e r b e w e g u n g waren
verbunden
bzw. teilweise sogar zu ihren Keimzellen gerechnet werden
müssen.
Zur Peitsche "Sozialistengesetz" mußte sich also aus Gründen der S t a a t s erhaltung und Herrschaftssicherung das Zuckerbrot der staatlich v e r o r d neten und geschaffenen Institutionen der Sozialversicherung
gesellen.
In diesem Sinne wurden 1883 ein Gesetz zur Krankenversicherung der A r beiter, 1884 ein Gesetz zur Unfallversicherung
und 1889 das A l t e r s v e r -
sicherungs- und Invaliditätsgesetz verabschiedet, die als Bismarcksche Sozialgesetzgebung
in die Geschichte eingegangen
sind.
Am Rande sei angemerkt, daß diese Gesetze überaus lückenhaft waren, nur bestimmte Teile der Arbeiterklasse erfaßten und unter Hinweis auf deren sozial-integrativen Charakter und ihre Unzulänglichkeit von der 20
Sozialdemokratie abgelehnt wurden.
Die populärste, aber z w e i f e l l o s
schwierigste Maßnahme wäre die Einführung eines Mindestlohnes
gewesen.
Weniger weitgehend, doch ebenfalls vom Bundesrat verweigert, w a r die V e r stärkung des Arbeitsschutzes. Auch die Wohnungsnot war groß und die G e sundheitsversorgung
ungenügend. Die Verhütung - und nicht nur der n a c h -
trägliche A u s g l e i c h - von Unfällen w a r mangelhaft. Zur Bekämpfung saisonalen, konjunkturellen oder strukturellen A r b e i t s l o s i g k e i t
der
wurde
nichts unternommen. Um die Beseitigung dieser Mißstände kämpfte die SPD in erster Linie. Die Verbesserung der Haftpflicht war den A r b e i t e r n
we-
niger wichtig. Noch geringere Bedeutung hatte für sie die angebotene Versicherung. Insofern waren ihre Bedürfnisse von der Regierung w e i t g e hend ignoriert
worden.
Sozialreformen
fordern hieß daher, A t t a c k e n gegen den
Klassenfeind
zu führen. 1891 aus A n l a ß einer entsprechenden Reformdebatte im D e u t schen Reichstag schrieb Engels an Bebel: "Eine beßre Propaganda 19
20
ist
F. Engels hatte den sozialdemokratischen A b g e o r d n e t e n empfohlen, bei solchen "Fragen, in denen das V e r h ä l t n i s der A r b e i t e r zum Kapitalisten direkt ins Spiel kommt: Fabrikgesetzgebung, N o r m a l a r b e i t s tag, Haftpflicht, Lohnzahlung in Waren etc." positiv m i t z u a r b e i t e n . Friedrich Engels an August Bebel, 24. November 1879, in: Briefe an Bebel, Berlin 1958, S. 47/48. Vgl. dazu G . Hofmann, Die deutsche Sozialdemokratie und die S o z i a l reformen von 1889, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 6/1982, S. 511-523. 89
nicht zu denken... V/ir haben die Sache hier mit großen Interesse verfolgt und unsre Freude gehabt an den einschlagenden Reden. Mir kamen dabei die './orte des alten Fritz in den Sinn: "in übrigen ist es das Genie von unseren Soldaten zu attackieren, es ist solches auch schon ganz 21 recht'". Im übrigen ist Engels 18S1 der Meinung, daß soziale Reformen im Kapitalismus immer "soziale Flickgesetzgebung" 22 am Kapitalverhältnis nichts ändern.
sein werden, da sie
Marx und Engels standen auch den sozialpolitischen Bestrebungen Proletariats in anderen europäischen Ländern aufgeschlossen
des
gegenüber.
Es sei hier nur auf das Interview hingewiesen, das Marx 1871 einem Reporter der Zeitung "The V/'orld" gewährte, sowie auf seinen "Fragebogen 23 für Arbeiter" aus dem Jahre 1C30. Auf die Frage des Reporters, welchen Zweck die Internationale Arbeiter Assoziation
(IAA) verfolge,
antwortete
Marx: "Die ökonomische Emanzipation der Arbeiterklasse durch die Eroberung der politischen Macht. Die Anwendung dieser politischen Macht
für
die Verwirklichung sozialer Ziele." Und er fügte hinzu: "Unsere Ziele müssen so umfangreich sein, damit sie alle Formen der Wirksamkeit 24 Arbeiterklasse.einschließen."
der
Ober Marx" berühmten Fragebogen im Rahmen einer Enquete Ouvrifer in der Zeitschrift "Revue Socialiste" mit seinen fast hundert Fragen ist 25 schon viel geschrieben worden. Den vielen Betrachtungen möchten wir einen weiteren Gesichtspunkt hinzufügen. Wir sehen einen Zusammenhang dieses Fragebogens mit der praktischen Ausarbeitung der Theorie der Leitung der Gesellschaft durch die Arbeiterklasse. Diese Theorie
arbeitete
Marx - unter Berücksichtigung der Ansichten A . Saint-Simons - als Organisations- und Leitungstheorie zur Bildung einer breiten, die Kapitalistenklasse isolierenden und überwindenden Einheitsfront aus. Nach der Übernahme der Macht muß die Arbeiterklasse nach Ansicht von Marx dann diese Theorie als Organisations- und Leitungstheorie bei der Mobilisierung der breiten Volksmassen für die Verwaltung und Kontrolle im Prozeß des sozialistischen und kommunistischen Aufbaus weiterentwickeln.
Dafür
seien konkrete Forschungen notwendig. Deshalb bezeichnet Marx seinen Fragebogen nur als "ersten 26 Schritt", der für die "gesellschaftliche neuerung" getan werden muß. 21 22 23
24 25
26 90
Er-
F. Engels an August Bebel in Berlin, 1./2. Mai 1891, in: MEW, B d . 38, Berlin 1979, S. 95. F. Engels, In Sachen Brentano contra Marx wegen angeblicher Zitatsfälschung, in: MEW, Bd. 22, Berlin 1963, S. 96. K. Marx, Aufzeichnungen eines Interviews, das Karl Marx einem Korrespondenten der Zeitung "The World" gewährte, in: MEW, Bd. 17, a.a.O., S. 639-643; derselbe, Fragebogen für Arbeiter, in: MEW, Bd. 19, a.a.O., S. 230-237. K. Marx, Aufzeichnungen eines Interviews, das Karl Marx einem Korrespondenten der Zeitung "The World" gewährte, in: MEW, Bd. 17, a.a.O., S. 641. Eine wenig bekannte Abhandlung findet sich in der im Exil erschienenen "Zeitschrift für Sozialforschung" des ehemaligen Frankfurter Instituts für Sozialforschung (Hilde Weiß: Die Enquete Ouvrifer von Karl Marx, 3g. V (1936), S. 76-85. Vgl. Anmerkung 150, in: MEW, Bd. 19, a.a.O., S. 569/570.
Marx und Engels über die Lösung der sozialen
Frage
Anders als die vormarxschen Sozialisten haben Marx und Engels ihren
gei-
stigen und politischen Erben keine zusammenhängende und detaillierte schreibung der zukünftigen sozialistischen
und kommunistischen
schaft hinterlassen. Sie lehnten es ab, der schlcchten Gegenwart mittelt das Ideal eines vollkommenen Gemeinwesens
Be-
Gesellunver-
gegenüberzustellen.
Trotzdem stand für Marx und Engels fest, daß die Lösung der
sozialen
Frage des Proletariats stets eng verbunden sein wird mit der V e r g e s e l l schaftung des Privateigentums an den Produktionsmitteln, mit der a l l m ä h lichen Beseitigung des Klassenantagonismus,
mit der Oberwindung der al-
ten Formen kapitalistischer Arbeitsteilung, mit der Lösung der
Wohnungs-
frage. Auch die Beseitigung sozialer Unterschiede zwischen Mann und Frau, zwischen körperlicher und geistiger Arbeit sowie wesentlicher
Unterschie-
de zwischen Stadt und Land gehören dazu. Die Gesellschaft der Zukunft sollte eine sozial gerechte
Gesellschaft
sein. Das schloß die Verwirklichung des Rechtes auf Arbeit, des Rechtes auf Erholung und Freizeit, auf Schutz der Gesundheit, auf
materielle
Sicherheit bei Krankheit und im A l t e r ebenso ein wie die Brechung
des
Bildungsprivilegs der Besitzenden und die Schaffung gleicher M ö g l i c h k e i ten für alle zur Entwicklung ihrer Fähigkeiten und Talente. Damit war für Marx und Engels die Lösung der sozialen Frage eine langfristige Aufgabe, die über mehrere Reifestufen hinweg und anknüpfend an die sozialpolitischen Kämpfe im Kapitalismus letztlich erst im K o m munismus gelöst sein wird. Merkmale dieses Prozesses sind neben der politischen Macht der Arbeiterklasse unter Führung einer
revolutionären
Partei, neben der sozialpolitischen Aktivität der Volksmassen vor allem die Entfaltung der Produktivkräfte, eine hohe Arbeitsproduktivität
und
ein Niveau des gesellschaftlichen Reichtums, das es ermöglicht, d a s kommunistische Verteilungsprinzip "Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem 27 nach seinen Bedürfnissen!" einzuführen. A u s historischer Sicht ist es angezeigt, besonders die Eigentumsfrage hervorzuheben. Diese hat schon zu Lebzeiten von Marx und Engels im Mittelpunkt der Diskussion über die Lösung der sozialen Frage gestanden. Bis Mitte der siebziger Oahre herrschte bei den Lassalleanern allgemein und vereinzelt bei den E i s e n achern die Auffassung, daß das sozialistische Eigentum
ausschließlich
genossenschaftliches, nicht Staatseigentum sein w e r d e . Diese Vorstellung entsprach jenem Entwicklungsstadium des Kapitalismus, da der A r b e i t e r noch vorwiegend dem Handwerkerproletariat
entstammte oder im Kleinbe-
trieb beschäftigt war. Zur Zeit der I. Internationale überwog diese A u f fassung in der gesamten internationalen Arbeiterbewegung, in den
roma-
nischen Ländern propagiert durch Proudhonisten und Bakunisten, in England bedingt durch den vorwiegend owenistischen Charakter der stischen Einflüsse und in Deutschland verfochten durch die 27
soziali-
Lassalleaner.
K. Marx, Randglossen zum Programm der deutschen A r b e i t e r p a r t e i , MEW, Bd. 19, a.a.O., S. 21.
in:
91
Marx hatte an diese Vorstellungen angeknüpft und sie zugleich weiter geführt, als er in der "Inauguraladresse" den Sozialismus ökonomisch definierte als ''Kooperativsystem... auf nationaler Stufenleiter".
28
Ein
durchweg genossenschaftliches Eigentum im Sozialismus hatte auch Bebel 29 1870 noch angenommen. Mitte der siebziger Oahre begann sich mit der Expropriationsidee die Oberzeugung durchzusetzen, daß die Produktionsmittel in den Händen des Staats konzentriert werden müßten, eine Oberzeugung, die heutzutage zum Allgemeingut aller kommunistischen und A r beiterparteien geworden
ist.^
Die modernen Revisionisten versuchen, ihre konterrevolutionären
Ab-
sichten zu vertuschen, indem sie behaupten, Marx und Engels wären zwar für die Vergesellschaftung der Produktionsmittel, nicht aber für deren Verstaatlichung gewesen. Für Marx und Engels war jedoch die Überführung der wichtigsten Produktionsmittel in das Eigentum des Staates immer mit ihrer Vergesellschaftung
sozialistischen
identisch. Schon im "Kommu-
nistischen Manifest" schrieben sie, daß das Proletariat seine politische Macht dazu benutzen wird, "der Bourgeoisie nach und nach alles Kapital zu entreißen, alle Produktionsinstrumente in den Händen des Staats, das heißt des als herrschende Klasse organisierten Proletariats, zu zentralisieren und die Masse der Produktionskräfte möglichst rasch zu ver31 mehren". In seiner Polemik gegen E. Dühring, der direkt die Frage stellte, ob denn nicht auch im Sozialismus die "Kommunen" völlig selbständig
sein
sollten und ihre Geschäfte über den "freien Verkehr", den Konkurrenzmechanismus, untereinander abwickeln sollten, stellte Engels dazu n u r ironisch fest: Es geht dann alles vor sich "ganz 32 im alten Stil, nur daß an die S"telle des Kapitalisten die Kommune tritt" , dBß es aber darauf ankommt, die alte Art des Produzierens von Grund auf umzuwälzen, die Gesellschaft tatsächlich von der Gesamtheit der Besitz ergreifen
damit
Produktionsmittel
kann.^
'.V. I. Lenin hat wiederholt die Verdienste von Marx und Engels um eine proletarische und sozialistische Sozialpolitik gewürdigt. Schon bei der Lektüre von Engels' Buch "Die Lage der arbeitenden Klasse in England" hatte er geschrieben: "Engels aber hat als erster gesagt, daß das Proletariat nicht nur eine leidende Klasse ist; daß gerade die schmachvolle wirtschaftliche Lage, in der sich das Proletariat
befindet,
es unaufhaltsam vorwärtstreibt und es zwingt, für seine endgültige B e 28 K. Marx, Inauguraladresse der Internationalen Arbeiterassoziation, in: MEW, Bd. 16, a.a.O., S. 12. 29 Vgl. A . Bebel, Unsere Ziele. Eine Streitschrift gegen die "Demokratische Correspondenz", in: Ausgewählte Reden und Schriften, B d . 1, Berlin 1983, S. 59-110. 30 Vgl. dazu Dokumente der Internationalen Beratung der kommunistischen und Arbeiterparteien in Moskau, Ouni 1969, Berlin 1969, S. 31. 31 K. Marx, F. Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, in: MEW, Bd. 4, a.a.O., S. 481. 32 F. Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft ("AntiDühring"), in: MEW, Bd. 20, Berlin 1973, S. 270. 33 Siehe ebenda, S. 277. 92
freiung zu kämpfen... . Andererseits ivird der Sozialismus nur dann eine Macht sein, wenn er zum Ziel des politischen Kampfes der Arbeiterklasse 34 geworden ist." In der '.Virtschafts- und Sozialgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts manifestierte sich die Arbeiterklasse demzufolge einerseits als Objekt der Entwicklungsgesetze des Kapitalismus; andererseits stellte sie sich dar in Gestalt von Menschen, die auf Grund dieser ihrer Lage bestrebt waren, Interessen durchzusetzen, die sie als gemeinsame erfuhren. Auf dieser zweiten Ebene sozialhistorischer Darstellung handelt es sich beim Klassenbegriff immer um ein erfahrenes Verhältnis des Konfliktes und des Kampfes. Die Arbeiterklasse läßt sich nicht anders identifizieren als in ihrem Kampf gegen die herrschenden Klassen. Deshalb muß sie stets unter der Optik dieses dynamischen
Kampfverhältnis-
ses gesehen werden. In den fast fünfundvierzig Oahren, die seit dem Ende des zweiten Weltkrieges vergangen si^id, hat sich ein neuer Inhalt der Arbeiterbewegung herausgebildet, der| ihr soziales Wesen noch mehr verdeutlicht. Bereits der junge Marx ha|tte das vorausgesehen, als er darauf hinwies, daß sich ohne Revolution der Sozialismus nicht ausführen lasse. Er bedürfe dieses politischen Aktes, soweit er der Zerstörung und der Auflösung bedürfe. Und dann folgt der Satz: "Wo aber seine organisierende Tätigkeit beginnt, wo sein Selbstzweck, seine Seele hervortritt, da schleudert der Sozialismus die politische Hülle weg.""'5 Auch wenn sich das "Wegschleudern" der politischen Hülle nicht ganz so vollzieht, wie Marx und Engels und zeitweise auch Lenin sich das gedacht haben, verdienen im Zusammenhang mit der Entfaltung des sozialen Wesens des Sozialismus (manifestiert unter anderem in der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik) alle Äußerungen de"- Klassiker des Marxismus-Leninismus über die Sozialpolitik im Sozialismus unbedingte Beachtung. So würdigte Lenin beispielsweise auch Marx' Verdienst um die Verteilungsverhältnisse im Sozialismus, der sich gegen den unhistorischen Gebrauch solcher sozialen Forderungen wie "Gleichheit" und "Gerechtigkeit" gewandt hatte. Ein letztes Beispiel dafür, wie Marx und Engels sich die Lösung der sozialen Frage vorgestellt haben, sind Marx" Ausführungen über den Arbeitstag im Sozialismus, die sich in der von ihm überarbeiteten
Schrift
von 0. Most "Kapital und Arbeit" finden. Wörtlich heißt es dazu: "Eine sozialistische Gesellschaftsform unterstellt höhere ueoensansprüche der Arbeiter, kann also auch den Arbeitstag nicht auf die zur Erzeugung der notwendigen Lebensmittel unentbehrliche Zeit beschränken. Aber es arbeiten die Produzenten hier nur für sich selbst, nicht für kapitalistische Grundeigentümer und vornehme Müßiggänger, und es wird der Arbeitstag ungleich kürzer sein als in der heutigen Gesellschaft, weil jeder Arbeitsfähige arbeitet, weil die in der kapitalistischen Wirtschaft un34 35 3b
W. I. Lenin, Friedrich Engels, in: Werke, Bd. 2, Berlin 1961, S. 9. K. Marx, Kritische Randglossen zu dem Artikel eines Preußen, in: MEW, Bd. 1, Berlin 1957, S. 409. W. I. Lenin, Staat und Revolution, in: Werke, Bd. 25, Berlin 1960, S. 480.
93
vermeidliche Kraftvergeudung wegfällt
und weil iiit der a l l s e i t i g e n
dung d e s A r b e i t e r s die P r o d u k t i v k r a f t
der g e s e l l s c h a f t l i c h e n
einen u n g e a h n t e n A u f s c h w u n g n i m m t . A n beitstag,
Ausbeuterordnung lismus bestimmte,
ist, w a s er dabei a l s Ziel d e s S o z i a -
so ist doch u n b e s t r i t t e n , daß w e s e n t l i c h e
gen b e r e i t s v e r w i r k l i c h t
94
dem A r -
kapitalistischen
und der s o z i a l i s t i s c h e n G e s e l l s c h a f t , Wenn auch n o c h
nicht alles Wirklichkeit geworden
37
einem E i n z e l p r o b l e m ,
klärte Marx h i e r den U n t e r s c h i e d z w i s c h e n der
Bil-
Arbeit
Zielstellun-
wurden.
CJ. Most, K a p i t a l und A r b e i t . Ein p o p u l ä r e r A u s z u g a u s "Das K a p i t a l " von Karl Marx, C h e m n i t z 1876, S. 24, in: R e p r i n t d e r O r i g i n a l a u s gäbe, W u p p e r t a l 1 9 8 5 .
Ob. f. Soziologie und Sozialpolitik 1989
Christian Graf Zur Geschichte des Subsidiaritätsprinzips als eines Grundprinzips konservativer staatsdoktrinärer Sozialpolitik und radikaldemokratischer sozialpolitischer Auffassungen
Vor dem Hintergrund krisenhafter Wirtschaftsentwicklung, Hochrüstung und Staatsverschuldung in den entwickelten kapitalistischen Staaten, aber auch im Zusammenhang mit radikaldemokratischen, "antietatistischen" Äußerungen ist das Subsidiaritätsprinzip zu einer der meistdiskutierten sozialpolitischen Grundregeln geworden. "In dieser Situation, in der allenthalben nach Entlastungsstrategien gesucht wird, erfreut sich das Subsidiaritätsprinzip der Sache wie dem Begriffe nach einer ganz neuen und lange Zeit nicht für möglich gehaltenen Zustimmung, die von der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände über alle im Bundestag vertretenen Parteien bis zur Alternativbewegung reicht." 1 Es fällt dabei nicht nur diese "merkwürdige Koalition zwi-
2
sehen rechts und links" auf, wenn es um das genannte Prinzip geht, sondern vor allem auch seine unterschiedlichen und teilweise sogar konträren Auslegungen. 3 Einigkeit besteht scheinbar darin, den Ausgangspunkt des Subsidiaritätsprinzips auf die päpstliche Sozialenzyklika "Quadragesimo anno" aus dem Oahre 1931 zurückzuführen. Offenbar unter dem Eindruck der unmittelbaren Konfrontation mit dem italienisch-faschistischen Pseudokorporatismus ging es der katholischen Kirche darum, mit dem Subsidiaritätsprinzip die "Nachrangigkeit" jedweder Staatstätigkeit in sozialen Ange1 2 3
M. Spieker, Wenn der Sozialstaat zum Sozialfall wird, in: Gemeinsam für die Zukunft, (Hrsg.) W. Kramer, M. Sprangenberger, Köln 1984, S. 278. Vgl. F. 0. Karl, Zur Begründung einer Einladung der Friedrich-EbertStiftung zum Thema: Selbsthilfe - ein Weg zurück oder Modell für die Zukunft? in: Die Neue Gesellschaft, 4/1984, S. 348. So äußerte beispielsweiee der SPD-Vorsitzende H. 0. Vogel dazu: "Ee ist sehr erstaunlich, daß gerade das Subsidiaritätsprinzip zu einem polltischen Kampf- und Schlagwort geworden ist und überwiegend von Leuten gebraucht wird, die sich nach meinem Eindruck mit dem Subsidiaritätsprinzip und der Katholischen Soziallehre nur sehr selektiv vertraut gemacht haben. Jedenfalls erziele ich im Deutschen Bundestag durch Verlesung einschlägiger Texte oder auch päpstlicher Enzykliken immer wieder erhebliche Oberraschungseffekte. Insbesondere dann, wenn man die Autoren erst nach Verlesung der Textstellen bekanntgibt, weil da interessante Verwechselungen insbesondere auf konservativer Seite auftreten und Vermutungen über die Urheber angestellt werden, die das Ziel weit verfehlen." H. 0. Vogel, Rückbesinnung auf genossenschaftliche Ideen, in: Ebenda, S. 355. 95
legenheiten
festzuschreiben - sicherlich aber weniger um ein Prinzip
des "hilfreichen Beistandes" durch die übergeordnete Einheit. In der katholischen Soziallehre wird die Gesellschaft als
"berufsständisch-
körperschaftliche Ordnung" aufgefaßt, die sich nach den Muster
konzen-
trischer Kreise: Person - Familie - Sozialgebilde/Kommune - staatliche Institution, aufbaut. Das entspricht dem naturrechtlichen Prinzip,
das
nach thomistischer Tradition die Beziehungen zwischen Personen und Sozialgebilden regelt. "... wie dasjenige, was der Einzelmensch aus eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften leisten kann, ihm nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden darf, so verstößt es gegen die Gerechtigkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zum guten Ende führen können,
für
die weitere und übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen; zugleich ist es überaus nachteilig und verwirrt die ganze Gesellschaftsordnung. Jedwede Gesellschaftstätigkeit
ist ja ihrem Wesen und Begriff
nach subsidiär; sie soll die Glieder des Sozialkörpers darf sie aber niemals zerschlagen oder
unterstützen,
aufsaugen."4
Im Interesse der Erhaltung und des möglichen A u s b a u s kirchlicher Sozialdomänen wie Krankenpflege mit ihren Institutionen oder Kinder- und Bildungseinrichtungen sollte das Primat gegenüber dem
sozialpolitischen
Versorgungsanspruch eines zunehmend säkularisierten Staates herausgestellt werden, indem die katholische Kirche mit ihrer weltweiten,
auto-
ritär strukturierten Organisation dem Staat gegenüber als kleinere Einheit dargestellt w i r d . Darüber läßt eigentlich die Ziffer 80 von "Ouadragesimo anno" keinen Zweifel, die bezeichnenderweise bei den A u s l e gungsstreitereien kaum Beachtung
findet.
"Angelegenheiten von untergeordneter Bedeutung, die nur zur A b h a l tung von wichtigeren Aufgaben führen müßten, soll die Staatsgewalt also den kleineren Gemeinwesen überlassen... Darum mögen die staatlichen Machthaber sich vor A u g e n halten: je besser durch strenge Beobachtung des Prinzips der Subsidiarität die Stufenordnung der verschiedenen V e r gesellschaftungen innegehalten wird, um so stärker stehen gesellschaftliche Autorität und gesellschaftliche Wirkk raft c da, um so besser und glücklicher ist es auch um den Staat bestellt." Von "Quadragesimo anno" wird das Subsidiaritätsprinzip selbst ausdrücklich als "jener hochbedeutsame sozialphilosophische Grundsatz"
be-
zeichnet, der eine fundamentaltheoretische Grundaussage für einen universalen Anspruch an jegliche bürgerliche Soziallehre darstelle. F. V i l mar und B. Runge stellen hingegen in bezug auf radikaldemokratische sitionen zur Selbsthilfe
fest: "Viele Linke zucken schmerzhaft
Po-
zusam-
men, wenn das Konzept der Selbsthilfe mit dem Verweis auf das Prinzip
4
5 96
Ziffer 79 im "Rundschreiben des Heiligen Vaters Pius XI. über die gesellschaftliche Ordnung, ihre Wiederherstellung und ihre Vollendung nach dem Heilsplan der Frohbotschaft zum 4 0 . Jahrestag des Rundschreibens Leo X I I I . Rerum novarum" vom 15. Mai 1931, in: Die katholische Sozialdoktrin in ihrer geschichtlichen Entfaltung Eine Sammlung päpstlicher Dokumente vom 15. Jahrhundert bis in die Gegenwart, Aachen 1976, Bd. 1, S. 603. Vgl. ebenda.
der Subsidiarität gerechtfertigt w i r d . Aber sie sollen sich
beruhigen:
Die Idee der Subsidiarität ist keine Erfindung der Katholischen l e h r e . " 6 Selbst der Nestor der gegenwärtigen katholischen 0. Nell-Breuning,
betonte: "Das Subsidiaritätsprinzip
lisches' Sondergut, es ist ein allgemeingültiges
Sozial-
Soziallehre,
ist kein
'katho-
7
Vernunftsprinzip."
Tatsächlich kann man die Ansichten progressiver D e n k e r zum V e r h ä l t n i s von "Selbsthilfe und hilfreichem Beistand" gewissermaßen über J a h r h u n derte verfolgen, beispielsweise vom "Leviathan" des britischen Materiap über die listen und Staatstheoretikers T . Hobbes aus dem Jahre 1651 auf den realpolitischen Notwendigkeiten Robespierres und der J a k o b i n e r fußenden sozialkritischen Anschauungen des T h e o r e t i k e r s der kleinbürgerlich-demokratischen Schichten des aufsteigenden Kapitalismus in Q Deutschland, J . G . Fichte , bis hin zu A . Lincolns "Fragment on G o v e r n 10 ment für den bereits weit entwickelten kapitalistischen Staat in den USA aus dem Jahre 1854. Es war aber sicher nicht dieses
Lincoln"sehe
Papier, welches 1935 in den USA zum "Social Security Act" führte. V i e l mehr war dies dem Druck der großen Depression und vor allem dem einer zunehmend politisch organisierten A r b e i t e r b e w e g u n g
geschuldet.
Im weitesten Sinne beinhaltet auch die Kontroverse zwischen F. Lassalle und H. Schulze-Delitzsch über die Frage, wer Finanzierung und R i siko der von Lassalle projektierten "Produktivassoziationen der A r b e i ter" zu tragen habe, eine "subsidiäre" Problemstellung.
Ausgerechnet
Lassalle, welcher in anderem Zusammenhang die Möglichkeit eines "unverkürzten Arbeitsertrages"
für den A r b e i t e r unterstellte,
staatliche Finanzierung solcher genossenschaftlicher
ten, die zuvor bereits die englischen und französischen 6 7 8
9
10
forderte die
ProduktionsstätSozialutopisten
F. Vilmar, B. Runge, Auf dem Weg zur S e l b s t h i l f e g e s e l l s c h a f t ? Essen 1986, S. 18. 0. Nell-Breuning, Ein katholisches P r i n z i p ? in: Kirche und moderne Gesellschaft, (Hrsg.) H. 17. Brockmann, Düsseldorf 1976, S. 83. "Es ist für einen Menschen nicht genug, zur Fristung seines Lebens zu arbeiten, sondern er muß auch, wenn nötig, für die Sicherung seines Arbeitsergebnisses kämpfen... Und da viele Menschen durch unvermeidbare Zufälle unfähig werden, sich selbst durch eigene A r b e i t zu ernähren, sollten sie nicht der Wohltätigkeit von Privatpersonen überlassen, sondern auf Grund der Gesetze des Gemeinwesens w e n i g stens mit dem Lebensnotwendigsten versorgt werden." T . Hobbes, Leviathan oder Materie, Form und Gewalt, Leipzig 1978, S . 294/295. "Es ist Grundsatz jeder vernünftigen Staatsverfassung: Jedermann soll von seiner Arbeit leben können... und der A r m e . . . hat ein absolutes Zwangsrecht auf Unterstützung... Keiner hat eher rechtlichen Anspruch auf die Hülfe des Staates, bis er nachgewiesen, daß er in seiner Sphäre alles Mögliche gethan, um sich zu erhalten, und daß es ihm dennoch nicht möglich gewesen." 3. G. Fichte, G r u n d l a g e n des Naturrechts, Zweiter Theil, Jena-Leipzig 1797, in: J. G. Fichte, Gesamtausgabe, Stuttgart-Bad Cannstatt 1970, IVerkeband 4, S. 2 2 / 2 3 . "The legitimate object of government, is tp do for a community of people, whatever they need to have done, but can not do, at all, or can not, so well do, for themselves - in their separate, and individual capacities. In all that the people can individually do as well for themselves, government aught not to interfere." A . Lincoln, Fragment on Government (I), 1. Juli 1854, in: The collected w o r k s of A . Lincoln, New Brunswick-New Jersey 1959, Bd. II, 1848 - 1858, S. 220. 97
propagiert hatten und aus denen "die sozialistische Organisation der 11 Gesamtarbeit" entstehen sollte. Mit dieser Forderung drang Lassallo schließlich in das "Gothaer Programm"
ein.
Schulze-Delitzsch vertrat ebenfalls extreme Positionen, nicht hinsichtlich der utopischen Forderung nach staatlicher Finanzierung Genossenschaften,
sondern in bezug auf seine generalisierenden
der
Anschau-
ungen zur strikten Ablehnung jeglicher staatlicher Sozialhilfe. "Darauf, daß jeder die Folgen seines Tuns und Lassens selbst trage und sie nicht anderen aufbürde, auf der Selbstverantnortlichkeit und Zurechnungsfohiglceit beruht die Möglichkeit alles gesel^gchaftlichen Zusammenlebens der Menschen sowie des Staatsverbandes." ^ K. Marx unterzog der Lassolleschen Auffassung in seinen 1C75 formulierten "Randglossen zum Programm dar deutschen Arbeiterpartei"
einer
scharfen Kritik. Er verwahrte sich dagegen, anstelle des Klassenkampfes eine "Zeitungsschreiberphrase"
zu setzen, wonach anstatt eines "revo-
lutionären Uimvandlungsprozesses der Gesellschaft" die
"sozialistische
Organisation der Gesamtarbeit" aus der bürgerlichen Staatshilfe
ent-
stehe. "Es ist dies würdig der Einbildung Lassalles, daß man mit Staatsanlehn ebensogut eine neue Gesellschaft bauen kann wie eine neue Eisen13 bahn." Marx war es auch, der in diesen "Randglossen" - in seiner berühmten "Kritik des Gothaer Programms" - in der Auseinandersetzung dem "unverkürzten Arbeitsertrag" Lassalles die objektive
mit
Notwendigkeit
gesellschaftlicher Verteilungsformen der Konsumtionsmittel
nachwies.
"Der 'unverkürzte Arbeitsertrag' hat sich unterderhand bereits in den 'verkürzten' verwandelt, obgleich, was dem Produzenten in seiner Eigenschaft als Privatindividuum entgeht, ihm direkt oder14 indirekt in seiner Die "Kritik des
Eigenschaft als Gesellschaftsmitglied zugut kommt."
Gothaer Programms" und die Herausarbeitung der dialektischen
Wechselbe-
ziehungen zwischen Produktion und Distribution in 15 der "Einleitung der Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie" bilden gemeinsam mit der von W. I. Lenin herausgearbeiteten objektiven Notwendigkeit
der
Verteilung des gesellschaftlichen P r o d u k t s * 5 die Grundlage der V e r t e i lungstheorie der Konsumtionsmittel im Sozialismus. Auf ihr beruht die Wirtschaftsstrategie der Partei der Arbeiterklasse und des sozialistischen Staates der DDR in ihrer Einheit von VVirtschaf ts- und Sozialpoli11 12
13 14 15 16
98
Vgl. F. Lassalle, Herr Bastiat - Schulze von Delitzsch, der ökonomische Julian oder: Kapital und Arbeit, Berlin 1868, S. 218. H. Schulze-Delitzsch, Kapitel zu einem deutschen A r b e i t e r k a t e c h i s mus (1863), in: H. Schulze-Delitzsch's Schriften und Reden, (Hrsg.) Allgemeiner Verband der auf Selbsthilfe beruhenden deutschen Erw e r b s - und '.Virtschaf tsgenossenschaf ten e.V., Berlin 1910, B d . II, S. 32/33. K. Marx, Kritik des Gothaer Programms, in: MEW, Bd. 19, Berlin 1978, S. 26. Ebenda, S. 19. K. Marx, Einleitung der Grundrisse der Kritik der politischen Ö k o nomie, in: MEW, Bd. 42, Berlin 1983, S. 30 - 33. W. I. Lenin, Staat und Revolution, in: Werke, Bd. 25, Berlin 1970, S . 479; derselbe, Bemerkungen zum zweiten Programmentwurf Plechanows, in: Werke, Bd. 6, Berlin 1975, S. 40.
tik, indem stets ein ausgewogenes Verhältnis von Verteilung nach der Arbeitsleistung als Grundprinzip der Verteilung einerseits und den Z u wendungen aus gesellschaftlichen Mitteln zur Erfüllung der gesellschaftlichen A u s g l e i c h s - und Unterstützungsfunktion andererseits angestrebt w i r d . D a s Subsidiaritätsprinzip
ist hinsichtlich seiner Auslegungen
höchst ambivalentes Theorem. Die verwirrende D i s k u s s i o n und
ein
teilweise
haarspalterische Deutung des katholischen Subsidiaritätsprinzips
ist
gewollt, geht es doch vor allem den konservativen Kräften darum,
hand-
feste sozialpolitische Interessen auf einen christlichen
Autoritätsbe-
weis zu gründen. Die unterschiedliche Auslegung des S u b s i d i a r i t ä t s p r i n z i p s
beginnt
bereits innerhalb der Vertreter der katholischen Soziallehre
selbst.
So ist interessant
festzustellen, daß Nell-Breuning als einer der M i t -
verfasser von "Quadragesimo anno" in deren A u s l e g u n g deutlich von deren Formulierung abweicht. Er vertritt die Auffassung, daß dieses Prinzip von der Pflicht zur Hilfe handele, die das Gemeinwesen und damit auch der Staat seinen Gliedern schulde. Er ist gegen eine Auslegung von "subsidiär" im Sinne von Ersatz- oder Notbehelf. Er erkennt damit Z u ständigkeit und Verantwortung des Staates für Sozialhilfe nicht nur an, sondern fordert sie geradezu, und widerspricht damit dem Prinzip "Nachrangigkeit", wie es vor allem in der Ziffer 80 von
der
"Quadragesimo
anno" doch deutlich zum Ausdruck kommt. "Der A n k l a n g an unser Fremdwort 'subsidiär' = Notbehelf, Ersatz, Lückenbüßer, hat leider zu dem unausrottbaren M i ß v e r s t ä n d n i s geführt, die Gemeinschaft dürfe nur dort, wo die Kräfte des einzelnen versagen, behelfsmäßig oder ersatzweise eingreifen." "...aber dann ist man nicht bei dem, w o v o n in dem Text die Rede ist, der in aller Welt als die klassische Formulierung d e s S u b s i d i a r i t ä t s prinzips gilt. Was diesen Text angeht, ist an erster Stelle zu b e m e r ken, daß er gar nicht von einem Prinzip spricht, sondern von einer Pflicht: 'subsidiarium o f f i c i u m ' . " 1 0 In ähnlicher Weise gilt dies auch für den B u n d e s v e r b a n d der K a t h o l i schen Arbeitnehmer-Bewegung
(KAB) Deutschlands,
indem in dessen
satz- und Aktionsprogramm" ähnlich lautende Feststellungen
"Grund-
getroffen
werden. "Soweit die Kirche geeellschaftliche A u f g a b e n im Interesse des G e m e i n w o h l s erfüllt, hat sie, wie andere freie gesellschaftliche
Kräf-
te, nach dem Subsidiaritätsprinzip Anspruch auf Förderung durch den _19 Staat." Solche Auslegungen des Subsidiaritätsprinzips eignen sich n a t ü r l i c h kaum dafür, staatliche Hilfe nur für den Notfall anzuerkennen,
wenn
die Bürger oder ihre Wohlfahrtsorganisationen völlig am Ende ihrer 17 18 19
0 . Nell-Breuning, Soziallehre der Kirche, Wien 1977, S. 53. Derselbe, Ein katholisches Prinzio? ins Kirche und moderne G e s e l l schaft. fHrsg.) H. W . Brockmann, a.a.O., S. 62/63. Texte zur katholischen Soziallehre, B d . II, D o k u m e n t e zur G e s c h i c h te des V e r h ä l t n i s s e s von Kirche und Arbeiterschaft am Beispiel der KAB, (Hrsg.) Bundesverband der katholischen A r b e i t n e h m e r - B e w e g u n g (KAB) Deutschlands, Kevelaer 1976, S. 1395.
99
"Selbsthilfe-Kräfte" sind und schon gar nicht als Rechtfertigung von staatlichem Sozialabbau als einem Hauptziel konservativer, staatsdoktrinärer Sozialpolitik. Für die staatliche Sozialpolitik des Konservatismus ist eine spezifisch ausgedeutete "Subsidiarität" eine der entscheidenden politischen und sozialen Ordnungsprinzipien. Im Artikel 128 des "Grundsatzprogramms der COU" der BRO heißt es dazu: "Oer Sozialstaat muß die eigenen Kräfte des Menschen entfalten helfen. Sein Sinn besteht nicht darin, den Bürgern die Verantwortung für ihr 1 »hen abzunehmen ... Sozialstaatliche Daseinsvorsorge darf nicht in totaler Versorgung ausarten ... der Versuch umfassender und gleicher Versorgung für alle würde soziale Ge20 rechtiqkeit verfehlen." Und unter dem Grundwert "Freiheit" wird im Artikel 17 festgestellt: "Die Verwirklichung der Freiheit bedarf der eigenverantwortlichen Lebensgestaltung nach dem Prinzip der Subsidiarltät. 21 Bereits die konservativ geführten Bundesregierungen der BRD der 50er und 60er Gahre betonten stets die Notwendigkeit eines Abbaus 22 staatlicher Sozialleistungen. Sie beriefen sich dabei auf "wissen23 schaftllche" Gutachten und Untersuchungen neoklassischer Theoretiker. In der ersten Regierungserklärung einer konservativ geführten Bundesregierung der 80er Jahre wird das Subsidiaritätsprinzip als ein "politisches Strukturprinzip" bezeichnet, und auch für die Zukunft wurde die Bedeutung dieses Prinzips für konservatives politisches Denken und Handeln eindeutig fixiert: "Subsidiarität, Flexibilität und Transparenz sind die politischen Leitlinien für die Zukunft einer Gesellschaft selbständiger B ü r g e r . " ^ Das entspricht genau den Vorgaben der Monopole für die von ihnen gewünschte Regierungspolitik. "Die Arbeitgeber sind der Auffassung, daß der individuellen eigenverantwortlichen Vorsorge gegenüber der kollektiven sozialen Absicherung mehr Raum gegeben werden muß. Umbruch in der Sozialpolitik bedeutet vor allem Stärkung 25 des Subsidiaritätsprinzips." Die sozialdarwinistisch/radikal marktwirtschaftliche Strömung des Konservatismus interpretiert das Subsidiaritätsprinzip im Sinne eines 20 21 22
23
24 25
100
CDU: Grundsatzprogramm, beschlossen auf dem 26. Bundesparteitag in Ludwigehafen, Oktober 1978, (Hrsg.) CDU-Bundesgeschäftsstelle, Bonn, ohne Jahr, S. 50. Ebenda, S. 7. Vgl. Regierungserklärung vom 2. September 1957, in: Verhandlungen des Deutschen Bundestages, 3. Wahlperiode, Bd. 39, Bonn 1958; Regierungserklärung vom 29. November 1961, 4. Wahlperiode, Bd. 50, Bonn 1962. Vor allem die "Rothenfelser Denkschrift" von H. Achinger, 0. Höffner, H. Muthesius, L. Neundörfer, wonach die "gesamte Neuordnung der sozialen Leistungen unter den Prinzipien der Solidarität und Subsidiarität zu stellen" sei (Köln 1955, S. 21/22); sowie die "Sozialenqutte" (Soziale Sicherung in der BRD, Bericht der SozialenquÄte-Kommission, Stuttgart-Berlln(W)-Köln-Mainz 1966). H. Kohl, Tagesordnung der Zukunft. Rede auf der Konferenz der Adenauer-Stiftung e.V. im Mal 1986, Berlin (W), (Hrsg.) CDU-Bundesgeschäftsstelle, Bonn, ohne Jahr, S. 1. Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverände, Soziale Sicherung im Umbruch, Köln 1983, S. 5.
radikalen Sozialabbaus durch Privatisierung der Lebensrisiken, die sich für den einzelnen aus den für ihn unvorhersehbaren und durch ihn nicht zu beeinflussenden Krisenerscheinungen des kapitalistischen Systems ergeben. Sie setzt nahezu ausschließlich auf die "Selbstheilungskräfte des Marktes" und lehnt im wesentlichen Sozialleistungen des Staates überhaupt ab. Das verbleibende staatliche Sozialleistungssystem solle das Niveau einer Minimalversorgung in der Nähe des Existenzminimums haben. Ein Staat, welcher auf Vollbeschäftigung ziele und soziale Risiken kompensiere, "untergräbt" nach dieser Auffassung die Grundlagen der Gesellschaft. Dafür werden die folgenden Gründe angegeben: - Erhöht der Staat die Sozialausgaben, ersetzt er zugleich private durch staatliche Nachfrage. Auf diese Weise tritt der sogenannte "crowding-out-effect" ein, das heißt der private Sektor der Wirtschaft wird verdrängt. - Der Werktätige zeige ein vermindertes Leistungsverhalten und stellt hohe, ungerechtfertigte Verteilungsansprüche. - Die sozialen Sicherungssysteme selbst schaffen Ansprüche, die zu einer Versorgungsmentalität führen, wodurch Eigeninitiativen, Leistungsstreben usw. ausgehöhlt werden. - Der "Sozialstaat" behindere unternehmerische Expansion, weil rigide und kostenträchtige Sozialvorschriften den "Produktionsfaktor Arbeit" verteuern und eine flexible Anpassung an veränderte Marktsituationen unterbinden. Sozialreformistische staatliche Sozial- oder Wohlfahrtsprogramme werden als "Vollkasko-Gesellschaft" bezeichnet, das soziale Netz als "soziale Hängematte, in der es sich die Sozialparasiten wohl sein lassen", verunglimpft und die zu Versorgenden als "staatlich gefütterte Hauskaninchen" denunziert. Es gelte, die Trittbrettfahrerhaltung sogenannter "freeriders", welche versuchen, in den Genuß von Sozialleistungen ohne entsprechende Eigenleistung zu gelangen, auszumerzen. Die Ansatzpunkte zum Abbau sozialer Leistungen sind in den konservativ regierten entwickelten kapitalistischen Staaten ihrem Wesen nach gleich, wobei Jedoch spezifische Unterschiede bestehen. Das US-amerlkanische Sozial- und Armutsvorsorgesystem umfaßt zwei Teile: - Die Sozialversicherungsprogramme, welche auf das unter dem Druck der Weltwirtschaftskrise zustandegekommene "Social-Security-Act" von 1935 zurückgehen und dem "New Deal" des damaligen Presidenten Roosevelt entsprechen. Sie wurden in Form der Renten-, Arbeitslosen-, Invalidltäts-, Alterskranken- (Medicare) und Hinterbliebenenversicherung allmählich zum "Social-Security-System" ausgebaut. - Die Wohlfahrtsprogramme der Kennedy-Johneon-Konzeption des "War on Poverty" und der "Great Society", welche unter wachsendem Dissens nur noch geduldet sind. Die Eingriffe richten sich in erster Linie auf die öffentliche Unterstützung (public aseistance) und die Welfare-Projekte der 60er Jahre. Drastisch sind die Kürzungen jeweils dann, wenn es sich um sozial ausgegrenzte, isolierte Gruppen wie Wohlfahrtsempfänger oder "working poor" handelt. Strukturveröndernde Einschnitte wurden vor allem in den zentralen Welfare-Programmen für notleidende Familien mit Kindern (Aid to Families with Dependend Children - AFDC), bei Krankenbeihilfe (Medicaid), bei Lebensmittelgutscheinen (foodstamps) und bei der normalen Fürsorge (general esslstance) vorgenommen und bestimmte Unterstützungen gänzlich abgeschafft. Die Eingriffe in das SV-System sind dagegen vergleichsweise gering. Der Versuch, die Rentenversicherung anzutasten. 101
s c h l u g fehl, da er sich .gogon die g e w e r k s c h a f t l i c h o r g a n i s i e r t e terklasse
Arbei-
richtet«.
Den "Grundsatz des hilfreichen Beistandes" als unabdingbare s t a n d s p f l i c h t d e s S t a a t e s , wie er von e i n i g e n V e r t r e t e r n d e r schen S o z i a l l e h r e g e f o r d e r t wird,
Bei-
katholi-
fixiert d e r K o n s e r v a t i s m u s auf
F a m i l i e . Sie w i r d als d a s " t r a g f ä h i g s t e
die
soziale Netz" bezeichnet.
In
d e n " S t u t t g a r t e r L e i t s ä t z e n d e r C D U " d e r B R D w i r d d e r F a m i l i e mit
Nach-
d r u c k die n o t w e n d i g e M i t w i r k u n g b e i w i c h t i g e n s o z i a l e n A u f g a b e n z u g e 2c ordnet. D i e F a m i l i e w i r d als " k o s t e n g ü n s t i g e s A u f f a n g n e t z de-r D a seinsversicherung"
angesehen,
indem v o r allem d e r H a u s f r a u die
sozia-
len L a s t e n a u f g e b ü r d e t w e r d e n . Z u r S t i m u l i e r u n g d e r A u s g l i e d e r u n g
der
F r a u e n a u s dem A r b e i t s p r o z e ß a l s H a u p t v o r a u s s e t z u n g
"Fa-
milienpolitik"
konservativer
und d a m i t z u g l e i c h v e r m e i n t l i c h e r A u s b a u e i n e r i h r e r
z i a l e n M a s s e n b a s e n w e r d e n d u r c h a u s m a t e r i e l l e A n r e i z e a u s dem b u d g e t wie E r z i e h u n g s g e l d Die Nutzung
und a n d e r e s
"antietatistischer"
ver "Entstaatlichung"
Sozial-
vorgesehen.
Stimmungen der Bevölkerung
D i s k u s s i o n um d a s S u b s i d i a r i t ä t s p r i n z i p k e i n e s w e g s zur V e r m i n d e r u n g
in d e r
d u r c h den K o n s e r v a t i s m u s
s t a a t l i c h e r B e v o r m u n d u n g . Mit
ist h i e r b e i h a u p t s ä c h l i c h A b k o p p l u n g d e s
Konzept des Ausbaus des Repressivstaates auch mittels
führt
konservatiSozia-
len v o n den s t a a t l i c h e n L e i s t u n g e n g e m e i n t . T a t s ä c h l i c h b e s t e h t
ein
Instrumentali-
sierung d e r S o z i a l l e i s t u n g e n . So w i r d b e i s p i e l s w e i s e d u r c h s t r e n g e dürftigkeitsprüfungen
so-
d e r b ü r o k r a t i s c h e D r u c k auf die W e r k t ä t i g e n
Beer-
höht.27 Die Neokonservativen
stehen z w a r s t a a t l i c h e n S o z i a l l e i s t u n g e n
weni-
ger a b l e h n e n d g e g e n ü b e r ,
sehen a b e r in d e r " E l e f a n t i a s i s "
als A u s d r u c k
für " U n d u r c h s c h a u b a r k e i t
und U n r e g i e r b a r k e i t d e s a n o n y m e n
Apparates"
ein H a u p t a r g u m e n t
gegen staatliche Wohlfahrtsprogramme.
"Was ist
der
S c h l ü s s e l , d e r K e r n , d a s W e s e n d e s N e o k o n s e r v a t i s m u s als B e w e g u n g ? b e d e u t e t n i c h t ein l a i s s e z - f a i r e d e r E n t w i c k l u n g . Z i e l ist ein vativer Wohlfahrtsstaat,
d a s heißt e i n w i r t s c h a f t l i c h e f f i z i e n t e r
f a h r t s s t a a t . " 28 In d i e s e m S i n n e w i r d d a n n auch für p r a k t i s c h e 26
27
28
102
Es
konserWohl-
neokon-
C O U : D e u t s c h l a n d s Z u k u n f t als m o d e r n e und h u m a n e I n d u s t r i e n a t i o n , S t u t t g a r t e r L e i t s ä t z e für die 8 0 e r J a h r e , b e s c h l o s s e n auf d e m 3 2 . C D U - P a r t e i t a g , 9 . - 11. M a i in S t u t t g a r t , (Hrsg.) C D U - B u n d e s a e s c h ö f t s s t e l l e , B o n n , o h n e Jahr, S. 10, T h e s e 21, S . 21/22, T h e s e 4 8 . E r h ä l t ein A r b e i t s l o s e r in d e r B R D v o n a e r B u n d e s a n s t a l t für A r b e i t kein A r b e i t s l o s e n g e l d mehr, kommt e s k e i n e s w e g s a u t o m a t i s c h z u r Zahlung der nächst niedrigeren Unterstützungsstufe, der Arbeitslos e n h i l f e . D e r A r b e i t s l o s e m u ß v i e l m e h r seine H i l f s b e d ü r f t i g k e i t n a c h w e i s e n und e i n e n B e d ü r f t i g k e i t s a n t r a g s t e l l e n . U n t e r h a l t s p f l i c h t gilt d a b e i s o w o h l für den E h e p a r t n e r e i n e s A r b e i t s l o s e n oder dia Eltern eines minderjährigen, unverheirateten Arbeltslosen ( s o g e n a n n t e g e s t e i g e r t e U n t e r h a l t s p f l i c h t ) a l s a u c h für d i e E l t e r n v o l l j ä h r i g e r o d e r v e r h e i r a t e t e r A r b e i t s l o s e r u n d u m g e k e h r t für die K i n d e r a r b e i t s l o s e r V ä t e r u n d / o d e r M ü t t e r sowie d a u e r n d g e t r e n n t lebender Ehepartner (sogenannte nichtgesteigerte Unterhaltspflicht). I. K r i s t o l , H i s t o r i s c h e , p h i l o s o p h i s c h e und s o z i o l o g i s c h e W u r z e l n d e s N e o k o n s e r v a t i s m u s , in: D e r N e o k o n s e r v a t i s m u s in d e n V e r e i n i g t e n S t a a t e n . S a n k t A u g u s t i n 1982, S. 6 9 .
servative Sozialpolitik gefordert: "regulative Leitideen" wie mehr Markt, wo immer möglich; Steuerung auf der "mittleren Ebene" durch Verbände, wo Marktsteuerung nicht möglich und staatliche Steuerung nicht erwünscht ist; stärkere Dezentralisierung und Entlastung des Staates O k . 289 toberrevolution drei Viertel entstanden bzw. entwickelt worden" von ihnen (23,6 Prozent) wurden vor 1917 und 907 (73,9 Prozent) nach der Revolution gegründet. Knapp ein Fünftel der Institute - 235 oder 19,2 Prozent - wurden 1918-1921 aufgebaut, in den mit extremer
materieller
Not ausgefüllten Jahren des Bürgerkrieges und der Intervention. Ein noch intensiveres Wachstum zeigten die anschließenden Jahre des ökonomischen Wiederaufbaus: 1923-1925 war der Grundstein für 364 (29,4 Prozent) 1926-1929 für 308 (25,1 Prozent) Forschungszentren gelegt
und
worden."15
D a s rasche Wachstum wissenschaftlicher Einrichtungen konnte n i c h t ohne Auswirkungen auf die Qualität w i s s e n s c h a f t l i c h e r Arbeiten
bleiben.
Um 1930 setzt daher eine Wende in der Wissenschaftspolitik ein, die verstärkt auf die Praxiswirksamkeit der Forschung orientierte, Fragen der Entwicklung und Beherrschung der Technik in den Vordergrund rückte und die Effektivität der Arbeit wissenschaftlicher Einrichtungen
verschärft
stellte. Dieser sozialhistorische und - ö k o n o m i s c h e Hintergrund bildete das Problemfeld der entstehenden
Wissenschaftssoziologie.
Wie bereits bemerkt, beschäftigten sich mit Fragen der Organisation, Leitung und Planung der Wissenschaft V e r t r e t e r aller
Wissenschaftsdiszi-
plinen, der Staatsorgane und gesellschaftlicher O r g a n i s a t i o n e n . sprechend breit ist auch das Spektrum der Quellen
Ent-
w i s s e n s c h a f t s16 soziolo-
gischen Denkens. Diese sind gegenwärtig nicht voll erschlossen. wollen auf einige von ihnen eingehen, die nicht nur von der
Wir
unterschied-
lichen disziplinaren Herkunft dieser A n s ä t z e zeugen, sondern zugleich 13 Vgl. Spravocnik: Nauka i naucnye rabotniki SSSR, Cast I - N a u c n y e rabotniki Moskvy (1925), Cast II - naucnye rabotniki Leningrada (1926), Cast III - naucnye rabotniki SSSR bez Moskvy i Leningrada (1928). 14 Organizacija sovetskoj nauki v 1926-1938 gg., Leningrad 1974, S. 3. 15 G . Meyer, Zur Sozialstruktur der W i s s e n s c h a f t l e r der UdSSR. M a t e r i a lien aus den zwanziger Jahren, zitiert nach 3. Kuczinsky, D i e Intelligenz, Studien zur Soziologie und Geschichte ihrer Großen, Berlin 1987, S. 312-313. 16 Auf einige wesentliche von ihnen verweist A . P. Ogurzov, V g l . A . P . Ogurzov, Zabytye isyskanija, int Priroda, 2/1976, S. 118-127.
139
Ausdruck für die Ausdifferenzierung wissenschaftssoziologischen sind. Dabei sind wissenschaftswissenschaftliches
Denken häufig miteinander verbunden, lassen aber auch in dieser Phase schon Differenzierungen
Denkens
und - s o z i o l o g i s c h e s frühen
erkennen.
So repräsentieren die frühen empirisch-statistischen Arbeiten des G e netikers und Eugenikers Ou. A, Filipcenko zur Begabung von Wissenschaftlern ein Forschungsprogramm, das neben genetischen Fragestellungen reits demographisch-soziologische
einbezieht. D a s
be-
Forschungsprogramm
führte dabei auch einige Ideen von A . Dekandolle und F. Galton weiter. Diese Untersuchungen wurden mit Unterstützung der Kommission zur Verbesserung der Lage der Wissenschaftler
(CEKUBU) durchgeführt, der Filipcen-
ko angehörte und die unter dem Vorsitz von A . M. Gorki stand. Sie erstreckten sich auf die Wissenschaftler Petrograds, Moskaus und später wurden auch die Mitglieder der Russischen Akademie der Wissenschaften 17 (von 1846 bis 1924) einbezogen. In diesen Untersuchungen wurden der Geburtsort und die demographische Herkunft, die Geburtsjahrgänge,
die
nationale und soziale Herkunft, die Verteilung der Wissenschaftler
nach
Spezialgebieten, ihr produktives Alter, der Anteil von Männern und Frauen unter ihnen, die Berufe der V ä t e r und Verwandten, der Ehefrauen
und
- m ä n n e r , der Kinder, der Familienstand, die Anzahl der Kinder, der A n teil der Wissenschaftler an Erst-, Zweit- und Drittgeborenen usw. erfragt. So konnten nicht nur die geographische.nationale und soziale H e r kunft der Wissenschaftler in ihrer Struktur und Veränderung,
sondern
auch wichtige sozialdemographische Charakteristika aufgezeigt werden. In Verallgemeinerung
seiner über fünf CJahre sich erstreckenden
Unter-
suchungen kommt Filipcenko zu der Schlußfolgerung, daß die Erbanlagen, von deren glücklicher Kombination die Fähigkeit zu wissenschaftlichen Leistungen und anderen Tätigkeiten der Intelligenz abhängt, in allen Klassen und Schichten gleichverteilt sind. Er führt den Nachweis darüber,
daß
die Intelligenz als Schicht nur dann dauerhaft bestehen kann, wenn sie einen ständigen Zustrom aus den Reihen aller Klassen und Schichten erhält, w a s voraussetzt, daß alle Barrieren rechtlicher, ökonomischer und ideologischer Art beseitigt werden, die ein Überwechseln aus anderen Schichten Und Klassen in die Reihen der Intelligenz verhindern. Gleichzeitig betont Filipcenko die Grenzen der von ihm durchgeführten Untersuchungen,
ist sich zutiefst bewußt, daß zur Untersuchung
der
Frage nach den Bedingungen für die Entwicklung herausragender Wissenschaftler der Einsatz anderer Methoden notwendig ist, als eine
rein
statistisch-demographische Analyse. Oedoch lagen bereits im V e r s t ä n d n i s der erblich bedingten Anlagen als entscheidendem Faktor die Grenzen des eugenischen Herangehens der 20ziger Jahre begründet. Die Frage, die Fi17 Vgl. A n k e t a po nasledstvennosti sredi ucenych Peterburga, in: Nauka 1 ee rabotniki, No. 1, S. 33-35; Ou. A . Filipcenko, Statisticeskije resultaty po nasledstvennosti sredi ucenych Peterburga, ins Izvestija BJuro po Evgenike, 1/1922, S. 8-21; ders. Nasl vydajusiesja ucenye, ebenda, S. 22-38; T . K. Lepin, da. Ja. Lus, 3u. A . Filipcenko, D e j stvitelnye cleny v lmperatorskoj, nyne RossiiskoJ akademii nauk za poslednye 80 let (1846-1924), ebenda, 3/1925, S. 3 - 8 2 .
140
llpcenko als Genetiker besonders bewegte - welche Bedingungen zur Entwicklung herausragender Talente führen - diese Frage beantwortet er G a l ton folgend dahingehend, daß "herausragende W i s s e n s c h a f t l e r geboren 18 nicht entwickelt werden". Diese Frage zählt auch in der Gegenwart zu den kompliziertesten
und
Fra-
gen wissenschaftlichen Schöpfertums. Dennoch liegt die Antwort für die Lösung in der Suche nach den sozialen Grundlagen dieser auch wenn sie dabei das Problem der Erbanlagen als sches Problem
Entwicklung,
biologisch-geneti-
einschließt.
A u s arbeitsökonomischer Sicht untersucht in dieser Zeit S. G. Strumilin die Wechselbeziehungen von Qualifikation und B e g a b u n g . D i e s e
For-
schungen entstehen aus der allgemeinen Frage nach den Faktoren, die die Qualifikation der Werktätigen bestimmen. Strumilin weist darauf hin, daß sich die bürgerliche Wissenschaft dieser Zeit kaum ,mit dieser Frage beschäftigt hat und so völlig eigene Forschungswege entwickelt werden
müs-
19 sen.
Er untersucht diese an verschiedenen
Wissenschaftlerkategorien.
Diese Gliederung der Wissenschaftler geht auf eine im Dezember 1921 von der CEKUBU getroffene Entscheidung anläßlich der Zuteilung einer zusätzlichen akademischen Versorgung zurück. (Sie lag auch den
Untersuchungen
Filipcenkos zugrunde.) Sie umfaßte fünf Kategorien: 1. beginnende junge Wissenschaftler, 2. selbständige H o c h s c h u l l e h r e r und w i s s e n s c h a f t l i c h e Mitarbeiter an Hochschulen und Forschungsinstituten, 3 . bedeutende W i s senschaftler mit hoher wissenschaftlicher und Lehrerfahrung, 4 . herausragende Wissenschaftler,
Initiatoren und Begründer bedeutender w i s s e n -
schaftlicher Richtungen und Schulen, 5. W i s s e n s c h a f t l e r von W e l t r a n g . Strumilin ließ die Wissenschaftler ihre Fähigkeiten nach Merkmalen
allgemeinen
(visuelles Gedächtnis, Fähigkeit zum analytischen und
synthe-
tischen Denken, Standhaftigkeit, A u f m e r k s a m k e i t , Aktivität,
Phantasie,
Gedächtnis, Willenskraft, Entschlossenheit, Erfindungsgabe,
Selbstbe-
herrschung) und nach speziellen Fähigkeiten
(mathematische und sprach-
liche) auf einer fünf-stufigen Skala selbst einschätzen. Die U n t e r s u chungsergebnisse lassen bei aller Begrenztheit dieses V o r g e h e n s te Beziehungen zwischen Begabung, A r b e i t s e r f a h r u n g
bestimm-
und Q u a l i f i k a t i o n
zwischen den einzelnen Kategorien von W i s s e n s c h a f t l e r n und nach D i s z i plinen erkennen. Von besonderem Interesse sind die methodologischen
Ober-
legungen Strumilin8 zum Entwicklungsverhältnis dieser drei Komponenten des Arbeitsverhaltens, deren soziale Grundlage er bemüht ist, n a c h z u w e i sen. Charakteristisch für diese Zeit sind auch 20 vielfältige zum Wesen wissenschaftlichen Schöpfertums
Diskussionen
, zu denen sich W i s s e n s c h a f t -
ler verschiedener Disziplinen äußern. Diese Diskussion wie auch die bei18 Ou. A . Fllipcenko, Nasi vydajusiesja ucenye, in: Izvestija Bjuro po evgenike, a.a.O., S. 37. 19 S. G . Strumilin, Kvalifikacija i odarennost, in: Problemy e k o n o m i k i truda, izbrannye proizvedenija, Bd. 3, Moskva 1964, S. 85. 20 Vgl. den Sammelband "Tvorcestvo", Petrograd 1923, P. I. Valden, Techniceskoe tvorcestvo, Pg. 1918; M . A . Bloch, Tvorcestvo v nauke 1 technike, Petrograd 1920. 141
den besprochenen Forschungsrichtungen aus der Genetik und A r b e i t s ö k o n o mie sind aber noch überwiegend dem theoretischen D e n k a n s a t z der Herkunftsdisziplin verhaftet. Bis zu einem gewissen Grade gilt dies auch für die statistischen Untersuchungen zur Struktur und sozialen Zusammen21 Setzung wissenschaftlicher. Kader und für die Untersuchungen zum Zeitbudget von Wissenschaftlern und Studenten. Letztere kann man
soziologi-
schen Untersuchungen zurechnen, diese scheinen jedoch in erster Linie von wissenschaftsleitenden Organen für praktische Zwecke veranlaßt w o r den zu sein und folgen nicht primär einem ausgearbeiteten
Forschungspro-
gramm. Dennoch sind die empirisch-statistischen Analysen von nicht geringem Wert für eine konzeptual-theoretische Analyse
wissenschaftssozio-
logischen Denkens. Sie verdeutlichen, inwieweit soziologisches Denken unmittelbar in die Praxis der Wissenschaftsleitung eingegangen
ist.
Im Unterschied zu diesen bisher genannten Richtungen können die A r beiten von T. I. Rajnov und B . M. Hessen bereits als Arbeiten mit spezifisch wissenschaftssoziologischem
Konzept angesehen werden. Sie liegen
zeitlich etwa zehn Jahre später. D i e s trifft auch für die Arbeit lins zur Methodologie der Bewertung wissenschaftlicher Arbeiten In ihnen wird der Zusammenhang von kognitiven Entwicklungsbedingungen
(inneren) und sozialen
der wissenschaftlichen Tätigkeit, wenn auch in
unterschiedlichem Grade, bereits im theoretischen Herangehen siert, konzeptual
Strumi22 zu.
themati-
entwickelt.
D a s Schaffen T. I. Rajnovs ist bisher am wenigsten bekannt im Gegensatz etwa zur Arbeit Hessens. Viele seiner Arbeiten sind nicht publiziert bzw. werden gegenwärtig zur Veröffentlichung vorbereitet. A b e r auch die publizierten Arbeiten Rajnovs finden erst in den letzten Oahren 23 und - S o z i o l o g e n .
Aufnahme auch von den Wissenschaftswissenschaftlern
D a s wissenschaftliche Schaffen Rajnovs ist breit gefächert: es umfaßt wissenschaftshistorische,
philosophische,
literaturwissenschaftliche,
philologische, ökonomische und soziologische A r b e i t e n . Ein bedeutender Teil seiner Arbeiten ist Fragen des Schöpfertums in Wissenschaft und 24 Kunst gewidmet. Von unmittelbarer Bedeutung für die Wissenschaftssoziologie sind seine wissenschaftshistorischen Arbeiten 25 und die Untersuchungen über die Vielseitigkeit von Wissenschaftlern. In ihnen wird der wissenschaftssoziologische A n s a t z von Rajnov am weitesten entwickelt. 21 Vgl. I. S. Tajnclin, Naucnye kadry RSFSR, ins Naucnoe slovo, 10/1929, S. 3-9, I. S. Samochvalov, Cislennost i sostav naucnych rabotnikov SSSR, ins SORENA, 1-2/1934. 22 Vgl. S. G . Strumilin, K. metodologii uceta naucnogo truda, Leningrad 1932. 23 Vgl. S. R. Mikulinskij, M. G. üarosevskij, T. I. Rajnov - issledovatel nauki, in: Voprosy estestvoznanija i techniki, 4/1983, S. 8193, N. K. Gavrusin, K izuceniju rukopisnogo nasledija T. I. Rajnova, ins Pamjatniki nauki i techniki, Moskva 1986, Moskva 1987, S. 17024
25
142
182.
In verschiedenen Arbeiten setzt sich Rajnov mit dem Schaffen L. N. Tolstojs, V . G.Belinekijs, A . S. Puschkins, I. Newtons, Ch. Darwins, M . W . Lomonossovs, E. Schrödingers, P. Guks, Al-Farabis, Per de Marikurs. K. A . Timirjasev auseinander. T . I. Rajnov, 0 type raznostoronnogo ucenogo, ins SORENA, 10/1934, S. 101-127.
Rajnov war in seinen Arbeiten bemüht, Entwicklungsprozesse der W i s s e n schaft darzustellen. Er versuchte zumeist, die für eine bestimmte
Zeit-
periode charakteristische Denkweise, typische Denkformen im w i s s e n s c h a f t lichen Denken aufzufinden und ihre Wechselbeziehungen organisatorisch-institutionellen
mit sozialen
chermaßen bei der Untersuchung natur- und sozialwissenschaftlicher biete
und
Faktoren zu beschreiben, die er gleiGe-
zugrundelegte.
Das individuelle Schöpfertum - wie groß auch die Begabung der einzelnen Persönlichkeit immer sein mag - hängt von allgemeinen
"Systembeson-
derheiten ab, in der der Forscher oder W i s s e n s c h a f t l e r lebt und mit deren Veränderung auch eine Veränderung seiner wissenschaftlichen
Interes-
sen einhergeht. Rajnov untersuchte als erster den Einfluß sozialer Faktoren der Entwicklung und Stellung w i s s e n s c h a f t l i c h e r Spezialgebiete
und
Berufe auf die soziale Lage des Wissenschaftlers, weist ihren Einfluß in der Tätigkeit von Wissenschaftlern des 17. bis 20. J a h r h u n d e r t s n a c h . Auf der Grundlage statistischer Untersuchungen über die
Identifikation
der Wissenschaftler mit diesem oder jenem Spezialgebiet oder einer D i s ziplin weist er nach, daß ein ständiger Teil von W i s s e n s c h a f t l e r n mehr als einem Spezialgebiet tätig ist (nach seinen Angaben betrug
in ihr
Anteil im XVI.- X V I I I . Jahrhundert 25 bis 30 Prozent, im X I X . J a h r h u n 26 dert und zu Beginn des X X . Jahrhunderts 15-20 Prozent). Er zeigte auch, daß die Herausbildung von vielseitig orientierten Wissenschaftlern tiefst soziale Voraussetzungen und Gründe hat, die ihren
zu-
Niederschlag
auch in strukturellen Entwicklungsgesetzen der W i s s e n s c h a f t
selbst
fin-
den. Rajnov setzt sich nachdrücklich mit psychologischen Erklärungen
die-
ser Prozesse auseinander. "Man kann die Eigenschaft der Vielseitigkeit von Wissenschaftlern keineswegs einfach auf besondere
wissenschaftliche
Begabungen zurückführen. Und das ist auch überhaupt nicht nur ein P r o blem der Psychologie. Wie auch immer die Veranlagungen der W i s s e n s c h a f t ler für diese oder jene Tätigkeit sein mögen, zwischen diesen und ihrer Verwirklichung existieren das soziale Milieu, in dem der W i s s e n s c h a f t l e r lebt, sozialbedingte Organisationsformen der Arbeit und Mittel und Verhaltensweisen in der wissenschaftlichen
sozialbedingte 27
Arbeit."
Gleichzeitig hebt er die Vielfalt von Faktoren hervor, die es zu beachten gilt: "Welche Faktoren auch immer die Ausbildung der Fähigkeiten von Wissenschaftlern bestimmen, soziale Bedingungen seiner Arbeit, strukturelle Besonderheiten der wissenschaftlichen
oder
Entwicklung, der w i s -
senschaftlichen Arbeit als solcher, diese können ihren Einfluß auf den konkreten Menschen nur über seine individuelle psycho-physische tution erlangen... Man muß dabei hervorheben, das dies die
Konsti-
schwierigste
Aufgabe ist, deren Lösung kaum in Konturen sichtbar ist. D i e s ist28 nicht nur eine Aufgabe der Psychologie, sondern auch der Physiologie." Die von Rajnov beabsichtigten Untersuchungen über die 26 27 28
Vielseitigkeit
Ebenda. Ebenda, S. 110. Ebenda, S. 119.
143
von sowjetischen Wissenschaftlern sind offensichtlich nicht mehr reali29 siert worden. D i e s e s Vorhaben bestätigt aber das Niveau der theoretischen Reflexion und der empirischen Reife
wissenschaftssoziologischer
Fragestellungen. Die hier getroffenen Aussagen sind auch noch heute
für
die Analyse der Entwicklung wissenschaftlicher Kader von bedeutendem In teresse, ja in dieser theoretischen Tiefe keineswegs Charakteristisch
erschlossen.
für die Arbeiten Rajnovs ist die Anwendung
quanti-
tativer Methoden nicht n u r für quantitative Analysen der Dynamik wissen schaftlicher Entwicklungen,
sondern auch für die Analyse des Inhalts
der Entwicklung der Wissenschaft. D a s trifft auch für seine Untersuchun gen über die Pulsation der schöpferischen Produktivität in der westlichen Physik ( 1 9 2 9 ) 3 0 und über d ie Funktion von Leitentdeckungen in der Wissenschaft
( 1 9 3 5 ) 3 * zu. Mit diesen Untersuchungen war Rajnov seiner
Zeit weit voraus. Wissenschaftsmetrische Untersuchungen stellen
Fragen
der Analyse inhaltlicher wissenschaftlicher Entwicklungen erst seit den letzten Oahren als theoretisch-methodisches
Problem.
Die Arbeit von Hessen bewegt sich dagegen an der Grenze von historisch-materialistischer Analyse und der Wissenschaftssoziologie.
Im
Mittelpunkt seines bekannten Vortrages über die sozialökonomischen Grun 32 lagen der Newtonschen Mechanik t den er auf dem Zweiten internationalen Kongreß zur Geschichte der Wissenschaft 1931 in London hielt, steht der Versuch, "die Methode des dialektischen Materialismus und die Marxsche Konzeption des historischen Prozesses auf den Inhalt
physikalischer
Theorien und insbesondere die Entwicklung des Newtonschen Werkes in ^gr bindung mit der Periode, in der er lebte und arbeitete,
anzuwenden".
Hessen wollte den N a c h w e i s dafür erbringen, daß das Werk Newtons und seine Weltanschauung zuerst und vor allem ein Produkt seiner Zeit ist und nicht schlechthin Ausdruck seines persönlichen Genies. Der w i s s e n schaftliche Wert dieser Arbeit besteht hauptsächlich in dem Versuch, eine Beziehung zwischen den wichtigsten physikalischen Problemen
jener
Zeit und der sozialökonomischen Entwicklung, dem Entwicklungsstand
der
Produktivkräfte aufzuzeigen - nicht jene, wie vielfach unterstellt
wird
auf diese zurückzuführen. Mit diesem Herangehen leistete Hessen einen bedeutenden Beitrag zur Weiterentwicklung der schen Wissenschaftskonzeption
historisch-materialisti-
und ihrer Transformation in Wissenschafts
soziologische Fragestellungen. Bei aller Kritik an dieser Arbeit,
wird
ihre wissenschaftliche Bedeutung letztlich auf diesen Kern zurückgeführt. So gilt der Vortrag Hessens als Ausgangspunkt
für die Entstehung
e x t e m a l i s t i s c h e r Interpretationen der Wissenschaftsentwicklung in der 29 Rajnov erwähnt dieses Vorhaben am Schluß seines Artikels. Ebenda, S. 127. 30 T . I. Rajnov, W a v e - l i k e fluctuations of creative productivity inthe development of West-european physics In the XVII and XIX centuries, ins ISIS 1929, vol. 12, No. 38, S. 287-319. 31 T . I. Rajnov, Rukovodjacije otkrytija v nauke, in: SORENA, 9/1935, S. 84-95, 10/1935, S. 82-97. 32 Vgl. B . M. Hessen, Socialno-ekonomiceskije korni mechaniki Njutona, Moskva 1931 (1934). 33 Ebenda, S. 4 .
144
nichtmarxistischen Wissenschaftssoziologie
und - g e s c h i c h t e . 3 4 0. D . B e r -
nal wertete diesen für England als Ausgangspunkt einer Neueinschätzung 35 der Geschichte der Wissenschaft. Und die bekannte Arbeit von R. K. Merton "Science and Technology in the Seventeenth C e n t u r y
England"3^
die in unmittelbarer Auseinandersetzung zu Hessens Analyse
entstand,
knüpft an diese Fragestellung an. Diese Arbeiten belegen hinreichend die Entwicklung ziologischen Denkens, die Entstehung spezifischer
wissenschaftsso-
wissenschaftssoziolo-
gischer Ansätze in dieser Zeit. Wenn diese nicht zu einer Diskussion der Profilierung einer einzelwissenschaftlichen
Wissenschaftssoziologie
weitergeführt wurden, so können dafür verschiedene Gründe
maßgeblich
sein. Ein Grund dafür ist meines E r a c h t e n s in der Entwicklung der S o z i o logie al»s Disziplin insgesamt zu suchen. Die in dieser Zeit erfolgte Identifikation des Historischen M a t e r i a l i s m u s mit der Soziologie die spätere Eliminierung des Begriffs "Soziologie" aus dem
und
marxisti-
schen Wortgebrauch mußte zwangsläufig die Entwicklung einer eigenen zweigsoziologischen Fachdiskussion hemmen,wenn nicht gar v e r h i n d e r n . Die historisch-empirische Erkundung dieser Zeitperiode weist noch viele Lücken auf. D a s trifft in besonderem Maße für einzelne Disziplinen Beispiel für die Soziologie oder auch die Genetik zu. D e r
zum
gegenwärtige
Stand der Kenntnisse läßt aber mit Sicherheit schlußfolgern, daß der Zeitperiode von 1917 bis 1935 eine Schlüsselrolle als Initialphase die Entwicklung der Soziologie als einzelwissenschaftlicher zukommt. Einzelne Richtungen haben in dieser Zeit
für
Disziplin
wissenschaftliche
Denkansätze und Denkrichtungen hervorgebracht, denen noch heute eine hohe Bedeutung für die Entwicklung marxistischen soziologischen
Denkens
zukommt und die zum Teil wiederentdeckt und neu erschlossen werden
müs-
sen, zum Beispiel die Untersuchungen zum Zeitbudget, die A l l t a g s f o r schung, die verschiedenen Strömungen arbeitswissenschaftlicher
Forschun-
gen, innerhalb derer sich eine marxistische Arbeitssoziologie zu
for-
mieren b e g i n n t 3 7 , die Soziologie des Dorfes, die Kultur- und K u n s t s o ziologie, die Denksoziologie und eben auch die
Wissenschaftssoziolo-
gie.38 Es ist sicher kein Zufall, daß die "Denksoziologie" von K. R. M e g r e -
34 35 36 37
38
Vgl. L. R. Graham, The Socio-political Roots of B o r i s Hessen: Soviet Marxism and the History of Science, ini Social studies of science^ vol. 15, No. 4, Nov. 1985, S. 705-722. Vgl. 3. D . B e m a l , Die soziale Funktion der Wissenschaft, (Hrsg.) H. Steiner, Berlin 1986, S. 389. Vgl. R. K. Merton, Science and T e c h n o l o g y in the Sevententh C e n t u r y England, Cambrigde 1937. Vgl. A . I. Kravcenko, Sociologija truda v X X . veke, Moskva 1987, V. Sparschuh, Die Erforschung der Geschichte marxistischer Z w e i g soziologien als Untersuchungsgegenstand der Soziologiegeschichte. Zur Herausbildung der Arbeitssoziologie in der Sowjetunion der 20er Oahre, in diesem Band. S . 118 - 1 3 2 . Vgl. Einführung, ins Porträts russischer und sowjetischer S o z i o l o gen, Sonderheft 1987, Schriftenreihe Soziologie und Sozialpolitik, Beiträge aus der Forschung. 145
lidze
39
, die bereits im Titel programmatisch als "Soziologie"
net wird und ein Konzept entwickelt, daß dem vorherrschenden schafts- und Theorieverständnis dieser Zeit diametral i s t 4 0 , 1936 und auch in den folgenden Oahren nicht
bezeichWissen-
entgegengesetzt
erschien.
Zweifellos bedarf es zur Erhärtung dieser These einer genaueren Untersuchung der Entwicklung des Wissenschaftsverständnisses im historischen Materialismus und in der Philosophie dieser Zeit überhaupt, dem Theorie-Praxis-Verständnis sowie dem Theorie-Empirie-Verständnis.
Man
kann meines Erachtens hier für die Wissenschaftssoziologie von einem verzögerten Disziplinbildungsprozeß
sprechen, denn die vorliegenden A r -
beiten zeugen von der hohen theoretischen und empirischen Reife w i s s e n schaftssoziologischen Denkens, die im Normalfall zu Disziplinierungsprozessen führen würde. Für die These von einem verzögerten Disziplinbildungsprozeß auch die Aufnahme der hier entwickelten Ideen in der
spricht
internationalen
Wissenschaftlergemeinschaft. Natürlich konnte dies nur in dem Maße erfolgen, wie diese der internationalen Wissenschaftlergemeinschaft
zu-
gängig waren. Obwohl hier eine exakte historische Analyse der kommunikativen
und
anderen Wissenschaftsbeziehungen noch aussteht, steht der Einfluß des unmittelbar nach der Oktoberrevolution entstandenen senschaftlichen
wissenschaftswis-
und - s o z i o l o g i s c h e n Denkens auf die weitere
Entwicklung
dieser Disziplin außer Frage. Dies trifft nicht nur für bürgerliche A r belten^ sondern hauptsächlich auch für die in der Folgezeit
entstandenen
marxistischen Arbeiten zum Beispiel für die "Wissenschaftler-Linke"
um
D . Bernal zu. Die Entwicklung der nichtmarxistischen
wissenschaftssoziologischen 41 Arbeiten erfolgt jedoch bis in die 60er Jahre weitgehend unabhängig von wissenschaftswissenschaftlichem Denken. Dies trifft in besonderem Maße für die Arbeiten von P. A . Sorokin, R. K. Merton und T . Parsons in den Vereinigten Staaten, aber auch für die wissenssoziologischen Arbeiten von K. Mannheim, M. Scheler und die Arbeiten von Max 42 Von Interesse wäre in diesem Zusammenhang
Weber in Deutschland zu.
eine theoretische Analyse des sozialen und ideengeschichtlichen
39 40 41
42
146
Hinter-
Vgl. K. R. Megrelidze, Osnovnye problemy sociologija myslenija, Tbilissi 1965 (Erstauflage). Vgl. Z. T. Golenkova, Zur Entwicklung der marxistisch-leninistischen Soziologie in den sozialistischen Ländern, in diesem Band, S.58. Den Prozeß der Herausbildung wissenschaftswissenschaftlichen Denkens in der bürgerlichen Wissenschaftsforschung hat H. Poldrack als erster näher untersucht. Es ist nicht zufällig, daß w i s s e n s c h a f t s soziologische Ansätze hier kaum eine Rolle spielen. Vgl. H. Poldrack, Zum Problem des sozialtheoretischen Erkenntnisfortschritts der B o u r geoisie im niedergehenden Kapitalismus. Eine erkenntnistheoretischhistorische Studie zum epochalen und formationsspezifischen Hintergrund der Wende in der bürgerlichen Wissenschaftsforschung. D i s s e r tation B, Leipzig 1986. Vgl. Sovremennaja zapadnaja sociologija nauki, pod. red. A . A . Ignateva, V. Z. Kelle, E. Z. Mirskoj, Moskva 1988, S. 15-41.
grundes der polnischen Arbeiten von F. Znaniecki, M . Ossowska, Ossowski und L. Fleck, die sehr verschiedene Ansätze
St.
repräsentieren.
Die Verzögerung in der Entwicklung der Soziologie als Disziplin,
die
in dieser Zeitperiode eingetreten ist, zeigt sich vor allem in einem Zurückbleiben der Ausarbeitung ihrer theoretischen
(kategorialen)
Grundlagen auf den verschiedenen Zweiggebieten und speziellen
Theorien.
D a s wirkt sich bis heute auch im Entwicklungsstand der W i s s e n s c h a f t s s o ziologie aus, von der H. Laitko berechtigt feststellt, daß "diese an der Schnittstelle von Wissenschaftsforschung
und Soziologie kaum als
eigenständiges Spezialgebiet ausgeprägt i s t " ^ . Dazu haben nicht
unwe-
sentlich die historische Entwicklung der Soziologie einerseits und die sich daraus bis in die Gegenwart
erhaltenen Einstellungen zur S o z i o -
logie als Wissenschaft beigetragen. Auch in der Entwicklung
wissen-
schaftswissenschaftlichen D e n k e n s haben die Beziehungen der T e i l d i s z i plinen zueinander, darunter auch der Wissenschaftssoziologie
unter-
schiedliche Interpretationen in verschiedenen Entwicklungsphasen fahren, die von der führenden Rolle der Wissenschaftssoziologie ihrer Auflösung in einer allgemeinen Wissenschaftstheorie
erbis zu
reichen. G e -
genwärtig wird die weitere Ausarbeitung der Teildisziplinen
innerhalb
der Wissenschaftsforschung zu einem wichtigen Entwicklungsfaktor
der
Wissenschaftswissenschaft
ihres
s e l b s t . ^ Die historische Erschließung
theoretischen Erbes ist in diesem P r o z e ß ein n o t w e n d i g e s Moment für die weitere Ausarbeitung der theoretischen Grundlagen der W i s s e n s c h a f t s s o ziologie.
43 44
Vgl. H. Laitko, Disziplingenese als sozialer Prozeß, in diesem Band, S. 24. Es ist das Verdienst von N. Gachiel, diese Probleme aus der Sicht der wissenschaftssoziologischen Forschung analysiert zu haben. Vgl. N. Jachiel, Soziologie und Wissenschaft, Berlin 1978, S. 2 9 3 - 2 9 6 .
147
Ob. f. Soziologie und Sozialpolitik
Jürgen
1989
Kuczynski
Soziologie und Alltagsforschung
Im Jahrbuch 1982 hatte ich einen Beitrag "Zur Soziologie des A l l t a g s : ein A n l a ß zur Diskussion". Auch nach sieben Jahren stimme ich dem dort Gesagten zu. Zugleich aber meine ich, daß der A u f s a t z nicht den A n f o r derungen der Überschrift
entspricht.
In der Welt des Kapitals, in den entwickelten Industrieländern,
wer-
den heute viele Studien über den Alltag veröffentlicht. Sie sind den in den sozialistischen Ländern veröffentlichten nicht nur quantitativ weit überlegen, sondern auch nicht selten qualitativ besser. D a s letztere beruht auf einer Möglichkeit und einer sehr realen Tatsache. Die Möglichkeit hat W. I. Lenin so genannt: "Keinem einzigen dieser P r o f e s soren, die auf Spezialgebieten der Chemie, der Geschichte, der Physik die wertvollsten Arbeiten liefern können, darf man auch nur ein einziges Wort glauben, sobald er auf Philosophie zu sprechen kommt. W a r u m ? Aus dem nämlichen Grunde, aus welchem man keinem einzigen Professor der politischen Ökonomie, der imstande ist, auf dem Gebiet spezieller T a t sachenforschung die wertvollsten Arbeiten zu liefern, auch nur ein einziges Wort glauben darf, sobald er auf die allgemeine Theorie der politischen Ökonomie zu sprechen k o m m t . D e r
bürgerliche Soziologe hat al-
so die Möglichkeit, durch spezielle Tatsachenforschung die wertvollste Arbeit zu leisten. A l s Tatsache ist festzustellen, daß, wenn viele A r beiten zu einer Thematik veröffentlicht werden, die Wissenschaftler voneinander lernen. Ein Höhepunkt von Alltagsstudien in der Welt des Sozialismus waren die frühen Jahre in Sowjetrußland bzw. der Sowjetunion. Betrachten wir zum Beispiel die folgende Obereicht eines ganz spezifischen A l l t a g s aspekts:
1
148
W. I. Lenin, Empiriokritizismus und historischer Materialismus, Werke, Bd. 14, Berlin 1962, S. 347.
in:
Wohnungseinrichtung UdSSR
und Haushaltsinventar von Arbeiterfamilien in der
1923-19272
(Stück pro 100 Personen) November 1923
November 1925
November 1927
Möbels Tische Kommoden Schränke Spiegel Stühle, Sessel Bänke Hocker Betten
45 9 14 23 78 9 31 29
47 11 13 19 97 7 33 36
51 10 13 21 105 9 41 41
70 53 61 41 32 24 2 3 18 30 108 167 174 133 48
70 54 41 30 31 21 3 7 20 52 152 184 181 105 56
85 61 45 36 38 21 4 10 24 59 192 239 224 99 102
16 9 11 43 103
15 9 12 51 106
18 7 14 60 114
Geschirr und Gerät: Eisentöpfe, Kasserollen Tontöpfe Bratpfannen Kuchenbleche Teekannen Samovere Fleischwölfe Petroleumkocher Bügeleisen Schüsseln, Terrinen Teller Tassen, Gläser, Krüge Messer, Gabeln Holzlöffel Metallöffei anderes Inventar: Wanduhren Taschenuhren Nähmaschinen Matratzen* Strohsäcke Kissen, Polster
Man betrachte etwa die entgegengesetzte Entwicklung von Holz- und Metallöffel, die Stagnation der Entwicklung von Spiegeln, das schnelle Ansteigen bei Stühlen und Sesseln wie bei Bügeleisen - und zugleich auch noch 1927 den Mangel an all diesen
Gegenständen.
Das Ganze bietet einen vorzüglichen Einblick in einen winzigen, wichtigen Teil des A l l t a g s der Menschen und seiner Entwicklung
aber
über
vier 3ahre. Solche bzw. ähnliche Tabellen können überall in der Welt von tüchtigen Forschern gefertigt werden. Und wenn w i r etwa heute eine ähnliche Tabelle zum Beispiel der Kücheneinrichtung in der BRD und der DDR vergleichen würden, dann würden wir eine beachtliche
technische,
die Hausarbeit erleichternde Überlegenheit der Küche in der BRD
fest-
stellen. 3edoch muß man bedenken: Solche Feststellungen haben zwar viel mit dem Alltag, jedoch nichts mit Soziologie zu tun. Wie wird ein Soziologe an die beiden obigen Feststellungen zum A l l 2
Bjudzety rabocich i sluzascich, Vypusk 1, Bjudzet rabocej sem'i v 1922-1927 gg., Moskva 1929, S. 66; Vgl. auch G. Meyer, S o z i a l s t r u k tur sowjetischer Industriearbeiter Ende der zwanziger Oahre, Marburg 1981. 149
tag herangehen? Nehmen wir die erste, die einen noch recht
primitiven
Fortschritt im Alltagsleben anzeigt. Vielleicht wird der Soziologe einen Vergleich des Fortschritts der Wohnungseinrichtung mit dem Fortschritt des A l p h a b e t i s m u s und der Lektüre der Zeitungen machen. Und dabei wird er dann feststellen, daß der F o r t s c h r i ; i n
der Kunst des Le-
sens und der Zahl der Zeitungsleser weit schneller gewesen ist als der in der Ausstattung des Haushalts. Jetzt handelt es sich um soziologische Forschung, denn es geht nicht um eine A u f z ä h l u n g einzelner gesellschaftlicher Fakten, sondern um Tatsachen gesellschaftlicher
Beziehun-
gen. Und wenn er eine ähnliche Untersuchung für die ehemaligen giesischen Kolonien in Afrika machen würde, dann würde er
portu-
feststellen,
daß der Unterschied zwischen materieller Hauseinrichtungskultur
und
geistiger " E i n r i c h t u n g s H - K u l t u r im Tempo der Entwicklung noch viel größer ist, weil diese Länder Jetzt die geballte Kraft der geistigen Kultur des ganzen sozialistischen Lagers als Unterstützung zur V e r f ü gung haben, während die materielle Kultur des Sozialismus wesentlich langsamer übertragen w i r d . Plötzlich ist eine A l l t a g s - M i k r o - U n t e r s u chung durch den Soziologen zu einer Makro-Untersuchung geworden,
selbst
wenn es sich nur um eine kleine A n z a h l von Familien in einem Dorf in Mocambique handeln
sollte.
Nehmen wir nun das zweite Beispiel, die Kücheneinrichtung in der D O R und der BRO. Ihre Untersuchung an sich ist völlig ausreichend für eine Alltagsstudie. Gehen deren Resultate aber an einen Soziologen, so öffnen sich ihm viele Wege zur weiteren -Forschung. Er kann zum Beispiel die Kocheinrichtung vom technischen Standpunkt vergleichen mit dem, was gekocht w i r d . Er wird etwa daran denken, daß es seit zweihundert Oahren ein Traum des Industriearbeiters im Kapitalismus ist, so viel Fleisch essen zu können, wie er sich wünscht, und seine Frau hat sich in dieser Zeit stets gewünscht, statt mit billigstem Fett mit Butter kochen zu können. O e r Soziologe wird nun mit Recht feststellen können, daß in der D D R der Pro-Kopf-Verbrauch von Fleisch und Butter höher als in der BRD ist. Daraus ergibt sich zunächst, daß das Niveau der technischen E i n richtung und ihr Gebrauch, ihre Nutzung durchaus verschieden sein können. Daraus ergibt sich weiter, daß in der DDR ein "Magentraum" dee A r beiters heute erfüllt ist. Oedoch wird unser Soziologe, der ein echter Marxist und kein schönfärberischer oder falsch-parteilicher
Philosoph
ist, gleich hinzufügen, daß die Auswahl von Gemüse und Obst nicht nur zur heimischen Erntezeit, sondern das ganze Oahr über in der B R D größer ist als in der D D R . Doch wird er weiter hinzufügen, daß plötzlich eine tragische Lücke zwischen der überlegenen Technik der Kücheneinrichtung und ihrem Gebrauch eintreten kann, wenn, was nur im Kapitalismus geschieht, der Besitzer der Einrichtung arbeitslos oder gar Sozialhilfeempfänger wird. Dann entsteht eine Situation, die, natürlich noch viel schrecklicher in der "Lücke", K. Marx anhand einer amtlichen Untersuchung der durch die Baumwollkrise während des amerikanischen
Bürger-
krieges arbeitslos gewordenen Textilarbeiterinnen so geschildert hats
150
"Hygienisch habe die Krise, abgesehen von der V e r b a n n u n g der A r b e i t e r aus der Fabrikatmosphäre, vielerlei andre V o r t e i l e . Die A r b e i t e r f r a u e n fänden jetzt die nötige Muße, ihren Kinaern die Brust zu reichen,
statt
sie mit Godfrey's Cordial (einem Opiat) zu vergiften. Sie hätten die Zeit gewonnen, kochen zu lernen. Unglücklicherweise kunst in einen Augenblick, wo sie nichts zu essen Von ganz außerordentlicher Bedeutung
fiel diese Koch-
hatten."3
für die soziologische
Untersu-
chung des A l l t a g s ist auch folgendes Problem. Bekanntlich hat Marx gesagt: "Nicht w a s gemacht wird, sondern wie, mit welchen A r b e i t s m i t t e l n gemacht wird, unterscheidet die ökonomischen E p o c h e n " 4 und nennt als typisch für die feudale Epoche die Feldmühle und für den
Kapitalismus
die Werkzeugmaschine. Gleichzeitig aber stellen wir scheinbar und zum Teil auch anscheinend das Gegenteil fest. Denn die A r b e i t s m i t t e l
wer-
den heute zwischen kapitalistischen und sozialistischen Ländern
ausge-
tauscht, auf dem Weltmarkt gehandelt mit Käufern aus wahrlich
verschie-
denen ökonomischen Systemen, die jedes eine Epoche repräsentieren. D a her ist, wenn wir den Alltag des A r b e i t e r s im Betrieb untersuchen,
der
Unterschied für die im Kapitalismus und im Sozialismus B e s c h ä f t i g t e n nicht irgendwie grundsätzlich verschieden. Zwar sind die Hektik und die Unfallrate im Kapitalismus größer, dafür ist im Sozialismus, der in der technischen Ausstattung dem Kapitalismus noch unterlegen ist, die A r beit oft körperlich anstrengender und schmutziger. Ü b e r d i e s ist die tägliche Arbeitszeit im entwickelten Kapitalismus im allgemeinen
kürzer
als im Sozialismus. Also sind die A r b e i t s m i t t e l im Kapitalismus und Sozialismus nicht sehr verschieden, und Marx hat unrecht? A u c h muß der A l l t a g s f o r s c h e r feststellen, daß der Arbeitstag des A r b e i t e r s nicht sehr verschieden im Kapitalismus und Sozialismus ist, da der A r b e i t s p r o z e ß ganz ähnlich verläuft. Wie anders sieht aber trotzdem alles für den
soziologisch
forschenden Alltagsuntersucher aus. D i e s e r wird zunächst daran denken, daß das kapitalistische System auf A u s b e u t u n g , auf Gewinnung von M e h r wert aus der Arbeitskraft der Arbeiter beruht. Sodann wird er in B e tracht ziehen, daß Marx bei Weiterentwicklung der Technik die a u t o m a t i sche Fabrik, als die notwendige Produktion leistend, v o r a u s s i e h t . Und dann tritt folgendes eins "Die Arbeit erscheint nicht mehr so sehr als in den Produktionsprozeß eingeschlossen, als sich der M e n s c h v i e l m e h r als Wächter und Regulator zum Produktionsprozeß selbst D a s heißt, die Weiterentwicklung des
verhält."®
wissenschaftlich-technischen
Fortschritts im Kapitalismus wird dazu führen, daß praktisch alle P r o duktionsarbeiter arbeitslos werden und praktisch kein Mehrwert
mehr
produziert w i r d . Natürlich wird das kapitalistische System lange v o r her beseitigt sein. A b e r diese Perspektive zeigt doch, daß Marx 3 4 5
prin-
R 7 Marx, D a s Kapital, Erster Band, in: MEW, B d . 23, B e r l i n 1962, S. 416/417. Ebenda, S. 194/195. K. Marx, Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie, in: MEW, Bd. 42, Berlin 1983, S. 601. 151
zipiell durchaus recht gehabt hat mit seiner Feststellung, daß bestimmte Arbeitsmittel charakteristisch und entscheidend für jede "ökonomische Epoche" sind. Die einzige Einschränkung, die wir machen müssen, ist, daß diese Feststellung nicht für eine Übergangsepoche gilt, nämlich in unserem Fall für den Obergang der Welt vom Kapitalismus zum Sozialismus. Eine solche Übergangsepoche aber sah Marx nicht voraus, da er mit einer Weltrevolution rechnete. Wie aber wird die Entwicklung im Sozialismus zur Zeit der automatischen Fabrik sein? Doch bevor wir auf diese Frage zu sprechen kommen, kehren wir noch zur vorangehenden Problematik zurück. Der "reine" Alltagsforscher hat festgestellt, daß Arbeitsmittel und Arbeitsprozeß sich heute im Kapitalismus und Sozialismus nicht wesentlich unterscheiden. Aber wie sieht der Rest des Tages, die Freizeit, aus, wird der Soziologe weiter forschen. Und da wird er nun einen entscheidenden Unterschied feststellen. Auch wenn er in beiden Systemen leider viel zu viel Fernsehen feststellen wird und wenig Interesse für die Klassik in Literatur und Musik, ist doch das kulturelle Niveau der Freizeit in der DDR weit höher als in der BRD. Man nennt die DDR mit Recht ein Leseland. Wir haben zuvor die technische Kücheneinrichtung in der DDR und in der BRD verglichen und fanden die der BRD überlegen. Vergleichen wir jedoch die "Büchereinrichtung" in beiden Staaten, dann ist die der DDR der in der BRD weit überlegen. Man muß daher auch folgendes überlegen: so schwer, hektisch oder monoton und langweilig der Arbeitsprozeß in beiden Systemen noch oft verläuft, so radikal anders verläuft oft die Freizeit - wenn wir die Hausfrauen ausnehmen, denen der Mann (und das geschieht wohl noch gleich oft in beiden Gesellschaftsordnungen) die gesamte Hausarbeit überläßt. So ähnlich das Niveau des Arbeitsprozesses, so verschieden das Niveau der Freizeit im Sozialismus und Kapitalismus. Und oft spürt man im Niveau der Freizeit auch die Zukunft: im Sozialismus die ersten Spuren einer sozialistischen Persönlichkeit, im Kapitalismus die ersten Spuren des Verfalls in die Barbarei mit steigender Flucht aus der Realität in die Drogenlandschaft oder steigendem Austritt aus der Gesellschaft durch zunehmende Kriminalität auch unter den Werktätigen. All das hier Gesagte ist natürlich nur eine Andeutung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden, die der soziologische Alltagsforscher festzustellen hat, wenn er die Verhältnisse im sterbenden Kapitalismus und im werdenden Sozialismus vergleicht. Doch nun zurück zur Problematik der Zukunft, verglichen mit der Gegenwart, in der die Arbeitsinstrumente die gleichen sind im Kapitalismus und im Sozialismus. Und sie werden auch die gleichen bleiben, solange der Kapitalismus noch besteht, CJa, noch am Tage vor ihrem Untergang wird die Bourgeoisie weiteren technischen Fortschritt bringen - im Gegensatz zu allen anderen herrschenden Klassen im Stadium ihres Verfalls. Haben doch schon K. Marx und F. Engels im "Kommunistischen Mänifest" geschrieben: "Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Pro-
152
duktionsinstrumente
... fortwährend zu r e v o l u t i o n i e r e n . " 6 Die A u f g a b e
des Sozialismus aber ist es, im Wettbewerb mit dem Kapitalismus eine höhere Arbeitsproduktivität als dieser zu erreichen. Schon Lenin schrieb: "Die Arbeitsproduktivität
ist in letzter Instanz das aller-
wichtigste, das ausschlaggebende für den Sieg der neuen
Gesellschafts-
ordnung. u e r Kapitalismus hat eine A r b e i t s p r o d u k t i v i t ä t geschaffen,
wie
sie unter dem Feudalismus unbekannt war. D e r K a p i t a l i s m u s kann e n d g ü l tig besiegt werden und wird dadurch endgültig besiegt werden, daß der Sozialismus eine neue, weit höhere Arbeitsproduktivität
schafft."7
Lei-
der sind wir davon noch entfernt. Doch im Verlauf der Zeit wird d e r Sozialismus den Kapitalismus nicht nur einholen und überholen,
sondern
man wird auch feststellen, daß die wissenschaftlich-technische
Revolu-
tion für den Kapitalismus zwei Wege des T o d e s bringt, für den Sozialismus aber reines Glück der Menschheit. Im Kapitalismus wandeln sich nämlich die Produktionsinstrumente und mehr in Destruktionsinstrumente
mehr
(Rüstung zum Krieg) und bedrohen
die ganze Menschheit. Vor diesem Ende des Kapitalismus und der ganzen Menschheit werden die Friedensbewegung und die A u ß e n p o l i t i k der sozialistischen Länder uns alle, ob im Kapitalismus oder S o z i a l i s m u s
lebend,
wie wir auf unsere Kraft setzend erwarten können, retten. D e n zweiten Weg in Richtung Tod, Zusammenbruch durch Sturz des
kapitalistischen
Systems, hatten w i r schon genannt: immens steigende A r b e i t s l o s i g k e i t durch immer stärkere Annäherung an die automatische Fabrik, w e s h a l b die Werktätigen unter Führung der Arbeiterklasse dem kapitalistischen
Sy-
stem in absehbarer Zeit ein Ende bereiten w e r d e n . Wie aber wird sich der Alltag der Werktätigen auf dem Weg zur automatischen Fabrik im Sozialismus gestalten? D e r Industriearbeiter
wird
schließlich, wie schon Marx feststellte, nur noch als Wächter und Kontrolleur (einschließlich Reparaturarbeiten)
fungieren. Und wenn j e d e r
Mensch ein bis zwei Oahre seines Lebens dafür opfert, ist das lich genug. Damit ist das, w a s Marx die für die Gesellschaft
reichunbedingt
notwendige Produktion nennt, gesichert. D e r Rest d e s Lebens ist Freiz e i t . Was aber bedeutet d a s ? In seinem unermüdlichen Studium der gesamten politökonomiechen ratur seiner Zeit stieß Marx auf ein, wie er schrieb, "kaum
Lite-
bekanntes
Pamphlet" aus dem Oahre 1821. Der V e r f a s s e r ist unbekannt, der Titel lautet: The source and remedy of the national difficulties,
deduced
from prlnciples of political economy, in a letter to Lord 3ohn R u e s e l . In diesem Pamphlet findet sich der Satz: "Wahrhaft reioh ist eine N a tion erst, wenn kein Zins für Kapital gezahlt wird; wenn statt zwölf Stunden nur sechs gearbeitet wird. Reichtum ist verfügbare Zeit, 6 7
und
K. Marx, F. Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, In: MEW, Bd. 4, Berlin 1959, S. 465. W. I. Lenin, Die große Initiative, in: Werke, B d . 29, Berlin 1961, S. 416.
153
g sonst nichts."
Der Verfasser Ist im folgenden etwas wirr und zweideu-
tig in seiner Interpretation, Marx aber natürlich ganz eindeutig:
für
ihn besteht letztlich der Reichtum einer Nation aus ihrer Freizeit, an ihrer Freizeit wird man ihren Reichtum
messen.
Wie aber sieht der Alltag einer Nation aus, für deren Reichtum
Frei-
zeit als Maßstab gilt? Marx schreibt in den "Grundrissen": "Du sollst arbeiten im Schweiß deines Angesichts! war Jehovas Fluch, den er Adam mitgab. Und so als Fluch nimmt A . Smith die A r b e i t . Die 'Ruhe' erscheint als der adäquate Zustand, als identisch mit 'Freiheit' und 'Glück'. D a ß das Individuum
'in seinem normalen Zustand von Gesundheit,
Kraft, Tätigkeit, Geschicklichkeit, Gewandtheit' auch das B e d ü r f n i s einer normalen Portion von Arbeit hat, und von Aufhebung der Ruhe, scheint A . Smith ganz fernzuliegen. Allerdings erscheint das Maß der Arbeit selbst äußerlich gegeben, durch den zu erreichenden Zweck und die Hindernisse, die zu seiner Erreichung durch die Arbeit zu überwinden. Daß aber diese Überwindung von Hindernissen an sich Betätigung der Freiheit - und daß ferner die äußren Zwecke den Schein bloß äußrer Naturnotwendigkeit abgestreift erhalten und als Zwecke, die das Individuum selbst erst setzt, gesetzt werden - also als Selbstverwirklichung, Vergegenständlichung des Subjekts, daher reale Freiheit, deren A k t i o n eben die Arbeit, ahnt A . Smith ebensowenig. A l l e r d i n g s hat er Recht, daß in den historischen Formen der Arbeit als Sklaven-, Fronde-, arbeit die Arbeit stets repulsiv, stets als äußre Zwangsarbeit scheint und ihr gegenüber die Nichtarbeit als 'Freiheit', und
Lohn-
er'Glück*.
Es gilt doppelt: von dieser gegensätzlichen A r b e i t ; und, was damit zusammenhängt, der Arbeit, die sich noch nicht die Bedingungen,
subjek-
tive und objektive, geschaffen hat (oder auch gegen den H i r t e n - usw. -zustand, die sie verloren hat), damit die A r b e i t travail attractif, Selbstverwirklichung des Individuums sei, was keineswegs meint, daß sie bloßer Spaß sei, bloßes amusement, wie Fourier es sehr grisettenmäßig naiv auffaßt. Wirklich freie Arbeiten, zum Beispiel Komponieren ist g grade zugleich verdammtester Ernst, intensivste Anstrengung." Die Freizeit besteht also keineswegs nur aus Muße, aus passivem G e nuß, sondern ist vor allem auch eine höchst aktive Zeit im Leben des Menschen. Oedoch ist der Mensch in dieser Zeit höchst aktiv in einer Tätigkeit, die seinen Neigungen entspricht, nicht mit einer A r b e i t aus Zwang und Notwendigkeit,
um den nötigen Lebensunterhalt zu schaffen. Er
wird materiell, mit der Hand, und geistig, mit dem Kopf, arbeiten:
sei
es als Komponist oder Kunsttischler, sei es als Dichter oder Chirurg. Und der Mensch wird mehrere Berufe in seinem Leben haben. Er wird die Fähigkeiten, über die er verfügt, in der vielfältigsten Weise ausbil-
8 9
Vgl. K. Marx, Theorien über den Mehrwert Dritter Teil, in: MEW, B d . 26.3, Berlin 1968, S. 251. K. Marx, Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie, a.a.O., S. 512.
154
den. Er wird zu einer in sich vollendeten
Persönlichkeit.
Wird sein Alltag sehr anders aussehen als der des Menschen
heute?
Natürlich wird das der Fall sein! Schon dadurch, daß der H a u p t u n t e r schied im heutigen Alltag fortfällt: zwischen aufgezwungener A r b e i t
und
Freizeit. Der Alltag wird sich einteilen in Arbeit aus Neigung und in Muße, zwischen aktiver Tätigkeit und passivem G e n u ß . Merkwürdig: In unserem Zeitalter der Science-Fiction, des w i s s e n schaftlich phantastischen Romans, haben wir noch kein Werk der Schönen Literatur, das uns das Leben im vollendeten Kommunismus ahnen
läßt.
Wäre es nicht eine Aufgabe der Soziologen, die Schriftsteller
durch
wissenschaftliche Andeutungen zu einem solchen A l l t a g
herbeizaubernden
Roman anzuregen? Wenn die Physiker, die Chemiker, die T e c h n i k e r das heute für die gegenwärtig übliche Science-Fiction tun, sollte das doch den Soziologen für ein ganz neues Science-Fiction-Genre des hier angedeuteten Charakters möglich sein. Was für ein schöner Schluß, dieser letzte A b s a t z für einen A r t i k e l in einem Oahrbuch für Soziologie und Sozialpolitik! A b e r noch leben wir nicht in einer Zeit, in der wir so schließen dürfen. So dringende bleme stehen noch vor den soziologischen Forschern des Alltags,
Pro-
drin-
gende, drängende Probleme, deren Lösung die Menschen im S o z i a l i s m u s hier und heute von den Alltag9soziologen
fordern.
Ganz vorn unter ihnen steht zum Beispiel die reale Erfüllung
der
gesetzlichen Norm der Gleichberechtigung von Frau und Mann. Einmal stehen wir vor der Tatsache, daß sie bei uns, im G e g e n s a t z zur Welt des Kapitalismus, in hohem Maße auf allen unteren und
unteren-mittleren
Ebenen des gesellschaftlichen Lebens bei der A r b e i t erfüllt ist, der Kapitalismus uns aber groteskerweise und ohne jeden, aber auch ohne gendeinen Grund überlegen ist auf dem Wege zur Gleichberechtigung Frau in hohen Funktionen. In den höchsten gesellschaftlichen
ir-
der
Funktio-
nen gibt es ganz deutlich mehr Frauen im Kapitalismus als im S o z i a l i s mus. Und das nach vierzig Oahren faktischer Gleichberechtigung
der
Frau in der Ausbildung und Erziehung bei uns. D a s jedoch ist ein M a n gel im Sozialismus, der sich leicht korrigieren lassen sollte - von einem Tag zum anderen. A l s w i r uns dieser Situation in unserer A k a d e m i e so ganz bewußt w u r den, fanden wir sofort gute Wissenschaftierinnen, die schon seit einiger Zeit in die Akademie hätten aufgenommen werden können, und wir handelten entsprechend. D a s gilt selbstverständlich auch für hohe
Funk-
tionen in Partei und Staat. Viel ernster ist ein dem Kapitalismus und Sozialismus noch g e m e i n samer Mangel: die Doppelarbeit der Frau im Betrieb und im H a u s e . Und diese wird im Sozialismus durch eine so positive Maßnahme wie den m o natlichen Haushaltstag der Frauen noch gefestigt. Statt einen a l t e r nativen Haushaltstag für Frauen und M ä n n e r gesetzlich
festzuschreiben,
wird im allgemeinen angenommen, daß bei Ehepaaren die Frauen für den Haushalt zu sorgen haben.
155
Auch gilt es als noch immer zu selbstverständlich, daß das "Baby-Oahr" von Frauen wahrgenommen wird. Warum eigentlich? Warum haben wir nicht häufiger ein erstes Baby-Halbjahr für Frauen, die in dieser Zeit dem Kind noch die Brust geben können, und ein darauf folgendes zweites Baby-Halbjahr für die Männer? Wir haben doch selbstverständlich männliche Krankenpfleger, warum nicht auch männliche Babypflegerl Es gibt seit langem in aller Welt Studien zur Soziologie des Alltags der Frauen, Studien, die anzeigen, wie sich die Doppelarbeit auf ihr Leben auswirkt: wie die Frau wahrlich nicht erfrischt aus dem Betrieb nach Hause'kommt und was 'sie dort erwartet: die Kinder, die Abendbrotzubereitung und noch manches andere. Wir besitzen auch gar manche Studien des Alltags des Mannes, der so oft, wenn er nicht fernsieht, nach dem Abendbrot wieder die Wohnung verläßt zu geselligem oder politischem Zusammensein mit anderen Männern. Doch merkwürdigerweise haben die Soziologen noch keine echten Parallelstudien des Alltags von Ehepaaren gemacht, die uns ein zuverlässiges Bild eines Ehealltags vermitteln. Sehr wahrscheinlich würden solche Studien gewisse Fortschritte bei den jüngeren Ehepaaren hineichtlich der Eingliederung der Männer in die Haushaltsarbeit zeigen - sowohl im Kapitalismus wie im Sozialismus. Man braucht nur daran zu denken, um ein unwichtiges, aber charakteristisches Beispiel zu nennen, welches Aufsehen es im ersten Drittel unseres Jahrhunderts erregte, wenn der Vater einen Kinderwagen vor sich hinschob, und wie das heute keineswegs mehr als "unnatürlich" angesehen wird. Doch der Fortschritt ist noch so gering, daß viele Frauen in den entwickelten Industrieländern einen Ausweg darin sehen, keine Kinder oder nur eines, allerhöchstens, was nicht selten schon als Leichtsinn erscheint, zwei Kinder zu haben. Die Folge ist natürlich, daß die einheimische Bevölkerung zurückgeht, auf die Dauer auestirbt - eine Entwicklungsrichtung, die wir sowohl in der BRD wie in der DDR beobachten. Die Deutsche Demokratische Republik hat diese Tendenz mit großartigen sozialen Maßnehmen für die Frauen zu bekämpfen versucht - mit einigem, aber doch ungenügendem Erfolg. Wir haben ein Institut für Soziologie und Sozialpolitik an unserer Akademie der Wissenschaften der DDR: Eine nicht häufige Kombination von Wissenschaftsdisziplinen an einer Forschungsstätte. Doch eine überaus glückliche Kombination für die hier angeschnittene Problematik. Es wäre auch eine Aufgabe der Soziologen dieses Instituts zu überlegen, wo man die sozialpolitischen Maßnahmen durch andere ergänzen sollte. Daß sie ergänzt werden müssen, zeigt unsere Bevölkerungsstatistik wahrlich deutlich. Und die Richtung, in der sie ergänzt werden muß, scheint mir ebenfalls offensichtlich: vor allem durch Wandlung der Rolle des Mannes im Haushalt. Zeigen nicht diese Ausführungen die fundementale Bedeutung der Sozio156
logie für die Erforschung der gesellschaftlichen Verhältnisse?) Vielleicht ist es richtig, daß wir an unserer Akademie der Wissenschaften keine spezielle Klasse für Soziologie haben, denn alle gesellschaftswissenschaftlichen Studien und Diskussionen brauchen einen "gesunden Schuß" Soziologie. Doch falsch ist es bestimmt, daß in den beiden gesellschaftswissenschaftlichen Klassen keine hauptberuflichen Soziologen sind.
157
Ob. f. Soziologie und Sozialpolitik 1989
3utta Gysi und Dagmar Meyer Kontrovers zu Oürgen Kuczynskis "Soziologie und Alltagsforschung"
Jürgen Kuczyneki ist beizupflichten, wenn er "die fundamentale Bedeutung der Soziologie für die Erforschung der gesellschaftlichen Verhältnisse" betont. Von daher erscheint es durchaus berechtigt, die Frage nach der Präsenz der Soziologie in den beiden gesellschaftswissenschaftlichen Klassen erneut aufzuwerfen. Es wäre unseres Erachtens eine ausgesprochen verdienstvolle Leistung, wenn dieses Problem gerade auch aus der Sicht der anderen gesellschaftswissenschaftlichen Disziplinen und ihrer Vertreter befördert werden könnte. Die von Kuczynski als "überaus glücklich" bezeichnete Kombination von Soziologie und Sozialpolitik in unserem Institut verschafft dabei den soziologischen Forschungsergebnissen den erforderlichen Bezug zur gesellschaftlichen Praxis. Natürlich gehört es in unsere Kompetenz und Verantwortlichkeit, wissenschaftliche Voraussetzungen für sozialpolitische Leistungen und Maßnahmen zu schaffen. Das ist seit nunmehr über zehn Jahren eine kontinuierliche Ziel- und Aufgabenstellung des Instituts für Soziologie und Sozialpolitik, die genauso natürlich auch Forschungen zu deren "Ergänzung" (S.156 ) einschließt. Diesem gesellschaftlichen Auftrag sind wir bisher mit einigem Erfolg nachgekommen. Klar ist aber auch, daß die dynamische Entwicklung unserer Gesellschaft stets neue Aufgaben und Maßstäbe setzt. Wir sind Jürgen Kuczynski dankbar, daß er mit seinem Beitrag eine Problematik sichtbar macht, vor die sich Soziologen, insbesondere Frauen- und Familienforscher, immer wieder gestellt sehen: das Einbringen aller möglichen individuellen Sichtweisen in diese Forschungsbereiche, die persönlichkeitsspezifische Reflektion gesellschaftlicher Erscheinungen und Zusammenhänge. Frauen- und Familienthemen sind insofern "Alltagsgut", als jedermann etwas davon versteht. Denn jeder stammt aus einer Familie, die meisten von uns leben in einer Familie, haben einen Haushalt, eine(n) Partner(in), Kind oder Kinder, schlagen sich mit allerhand Problemen herum und verfügen von daher über umfangreiche eigene Lebenserfahrungen. Nun ist das zunächst durchaus nichts Negatives, zeugt es doch im Grunde von hohem Interesse für diesen Lebensbereich und persönlicher Betroffenheit von seinen Problemen. Wir würden es auch eher als Vor-, denn als Nachteil verbuchen wollen, daß der Sozialforscher seine eigene Erfahrungspalette in seine wissenschaftlichen Überlegungen einfließen 158
läßt und mitverwertet. D a s hat allerdings nur so lange seine B e r e c h t i gung, wie er seine individuellen Standpunkte nicht zum Maßstab der Theorie und Interpretation gesellschaftlicher Erscheinungen überhaupt
er-
hebt, A n d e r n f a l l s würde der Maßstab wohl dort ansetzen, wo der Forscher selbst sozialstrukturell beheimatet ist: in der Intelligenz. Dann ten wir das eingangs von Kuczynski gewählte Lenin-Zitat
könn-
(S.148 ) mühelos
um ein weiteres aus eigener Produktion bereichern: Keinem einzigen dieser Professoren der Ökonomie, Philosophie usw. sollte man glauben,
so-
bald er auf das spezielle Gebiet Frau und Familie zu sprechen kommt. Es erübrigt sich, im einzelnen darauf hinzuweisen, daß bei einer
solchen
sozialstrukturell und persönlichkeitsspezifisch gefärbten Lesart
bei-
spielsweise die Bedürfnisse unserer zahlenmäßig starken Gruppe der Facharbeiter kaum ins rechte gesellschaftliche Licht gerückt werden
würden.
Freilich wollen wir einem Wissenschaftler wie Oürgen K u c z y n s k i nicht unterstellen, daß er sich bei den von ihm aufgeworfenen Problemen
aus-
schließlich zum Fürsprecher eigener emotionaler Befindlichkeit
macht.
Seine Argumente und die teilweise stark verkürzt dargestellten
Ursache-
Wirkungs-Zusammenhänge
sind nicht neu. V i e l e s dieser und ä h n l i c h e r Art
ist nicht allein im öffentlichen Bewußtsein zu finden, sondern weht
uns
auch aus westlicher Richtung herüber. Das aber scheint umso mehr Anlaß, mit einiger Ausführlichkeit dagegen zu halten. Dabei macht der Beitrag von Kuczynski deutlich, daß die S o z i o logen mit ihren Forschungsergebnissen
selbst noch viel zu wenig in d e r
publizistischen Offensive sind. A u f jeden Fall aber wird klar, daß w i r - trotz der inzwischen recht stattlichen A n z a h l von
Buchpublikationen
zu den oben genannten Themen, trotz unserer immer zahlreicher w e r d e n d e n Auftritte in Rundfunk und Fernsehen, unserer Artikel in der T a g e s - und Wochenpresse - gerade unsere forschungsmäßig "benachbarten" Kollegen noch ungenügend erreichen. D a s ist eine Kritik, die w i r d u r c h a u s ernst n e h men müssen. Doch wäre es andererseits auch zu begrüßen, wenn unsere
be-
reits vorhandenen Ergebnisse ein bißchen ernsthafter zur K e n n t n i s genommen würden. Im folgenden wollen w i r uns, gestützt auf die bisherigen se zur Familien-, Frauen- und bevölkerungssoziologischen einigen von Oürgen Kuczynski vorgetragenen Feststellungen
Erkenntnis-
Forschung,
mit
detaillierter
auseinandersetzen. Soziologie - A l l t a g s f o r s c h u n g ? W i r - seit Oahren mit der Erforschung der Lebensweise unserer B e v ö l k e rung, mit der Familien-, Frauen- und Geburtenentwicklung
in unserem Lan-
de befaßt - verstehen uns durchaus als "Alltagsforscher" und können
kei-
nen so rechten Widerspruch zwischen soziologischer und A l l t a g s f o r s c h u n g entdecken. W a s anderes als der Alltag, das Alltagsverhalten der Menschen und ihre alltäglichen Lebensbedingungen könnte ansonsten G e g e n s t a n d serer Arbeit sein? Und w a s wäre wohl das Pendant zu
un-
"Alltag/Alltagsfor-
schung"? Etwa die Sonn- und Feiertage, die Feste und A u s n a h m e s i t u a t i o n e n 159
im Leben unserer Bevölkerung? Lebensweiseforschung
ist aus unserer Sicht
immer auch "Alltagsforschung". Eine andere Frage ist es, mit welchen Quellen und Methoden wir uns der Erforschung des Lebensalltags Daß derzeitig viele methodische Herangehensweisen noch
nähern.
unerschlossen
sind, steht ganz außer Frage. Richtig ist, daß wir nicht die Suppen- und Silberlöffel in den Familien und Haushalten zählen. Aber das kann unseres Erachtens auch kaum die gegenwärtige Aufgabe der DDR-Soziologen Eine soziologische Kernfrage bei allen Lebensweiseforschungen
sein.
ist je-
doch immer die Kontrolle der unmittelbaren Lebensbedingungen der Probenden, darunter ihrer Haushaltsausstattungen, deren technisches N i veau usw. Recht hat Kuczynski auch, daß wir kaum auf dem Wege sind, die
"Schrift-
steller durch wissenschaftliche Andeutungen" zu einem "ganz neuen Science-Fiction-Genre" in puncto Lebensweise "anzuregen" (S.155). So interessant wir uns solche Darstellungen auch vorstellen können - für wissenschaftlich begründete Science-Fiction-Produkte dieser Art
bedürfte
es wohl mehr als einer entwickelten soziologischen Forschung. Nebenbei bemerkt,ließe sich ein solcher "Anregungsprozeß" auch umgekehrt vorstellen: Schriftsteller, Szenaristen, Drehbuchautoren usw. lassen
ihren
Vorstellungen von der Zukunft freien Lauf. W i r beschäftigen uns derzeitig vor allem mit dem Hier und Heute und der absehbaren Zukunft und untersuchen die typischen Alltagstätigkeiten
und Verhaltensweisen,
die
konkreten Bedingungen, unter denen sie vollzogen werden, die Wertorientierungen und Bedürfnisse der Frauen und Männer. Und das erscheint durchaus als gerechtfertigt,
solange wir über die sozialen
uns
Erscheinun-
gen, Gesetzmäßigkeiten und Veränderungen in unserer Lebensweise noch viel zu wenig wissen. Gleichberechtigung der Frau durch Wandlung der Rolle des M a n n e s im Haushalt? Der A u t o r erhofft sich weitere gesellschaftliche Veränderungen in puncto Gleichberechtigung der Frau "vor allem durch Wandlung der Rolle des M a n nes im Haushalt"
(S.156). Damit wird der Mann nicht nur zum Dreh- und
Angelpunkt, sondern zugleich zum Handicap der beruflichen
Entwicklung
der Frau erhoben. D a s klingt an den mitunter von eheenttäuschten
Frauen
unternommenen Versuch an, das männliche Geschlecht a l s G a n z e s zum gesellschaftlichen
"Bösewicht Nummer eins" stempeln zu wollen. Gegensei-
tige Schuldzuweisungen aber, die mehr und mehr auch von vielen enttäuschten
ebenso
(überforderten, desorientierten) Männern an die Frauen ge-
richtet werden könnten, scheinen uns hier gänzlich fehl am Platze. A u c h wenn es noch viel zu wenig ausgesprochen w i r d : die Gleichberechtigung der Frau (auch in Haushalt und Familie) war und ist ein Prozeß, der beide Geschlechter angeht, in dem sich Frau und Mann - und zwar miteinander und füreinander - emanzipieren müssen. Ändert sich die gesellschaftliche Stellung des einen Geschlechts, muß sich auch die des a n deren wandeln. Denn anders als aufeinander bezogen ist keine
160
Entwicklung
der Geschlechter-, der Partner- und Elternbeziehungen
möglich.
D a ß wir den Mann in der Vergangenheit viel zu oft als starr montierte "Meßlatte" für weibliche Emanzipation angesehen haben, wird an der heutigen Problemlage im Bereich der Partner- und Ehebeziehungen
ziem-
lich deutlich. Doch davon ist an anderer Stelle dieses ¿Jahrbuches bereits die Rede. Könnten wir ¿Jürgen Kuczynski so verstehen, daß er den Mann nicht so sehr wegen dessen "mangelnder" Beteiligung im Haushalt, sondern im Interesse einer synchronen Entwicklung beider Geschlechter ebenso wie die Frau ale Adressat sozialpolitischer Maßnahmen "in die Pflicht"
genommen
sehen möchte, würden wir das sehr unterstützen. D a ß wir uns bereits auf gutem Wege dorthin befinden, sollte allerdings auch nicht
unterschlagen
werden. D a s machen die Maßnahmen zum Babyjahr, nach denen es Frau und Mann überlassen bleibt, wer nach Ablauf des Wochenurlaubs die bezahlte Freistellung bei Geburt eines Kindes in Anspruch nimmt , v o l l e n d s deutlich. Bisher steht aber auch fest, daß die M ä n n e r insgesamt noch kaum Gebrauch von dieser Möglichkeit machen, und es liegt nahe, daß den Frauen ein solches Selbstverständnis ebenso zu fehlen scheint. Die Inanspruchnahme des Babyjahres durch den Mann hat also nicht so sehr mit seinem Zugang zu solchen Maßnahmen, sondern offensichtlich mit den len Lebensbedingungen zu tun. Männer haben oft das höhere
rea-
Einkommen,
fühlen sich unabkömmlicher im A r b e i t s p r o z e ß und sind von ihren W e r t orlentierungen her noch viel zu wenig bereit, wegen ihrer Vaterschaft vorübergehend beruflich zu pausieren. Viele M ä n n e r mögen überdies um ihren Ruf, um ihre "Männlichkeit" besorgt Hausarbeit - Handicap der
sein.
Persönlichkeitsentwicklunq?
Vor allem wenn Männer (der Intelligenz - aber andere schreiben
darüber
wohl auch nicht) sich zur Hausarbeit äußern, gerät diese leicht in den G e ruch, ausschließlich Obel, Belastung und B e e i n t r ä c h t i g u n g der
(weibli-
chen) Persönlichkeitsentwiciklung zu sein. D a s mag aus der Sicht der Intelligenzfamilien noch eine gewisse Berechtigung haben. O b z w a r h o m o gene Intelligenzfamilien die geringste Zeit für Hausarbeit
verausgaben,
die häufigsten Nutzer hauswirtschaftlicher Dienstleistungen
sind,
Haushalte mit zeitsparender Technik ausrüsten und die häuslichen
ihre Pflich-
ten am gleichmäßigsten zwischen den Geschlechtern verteilen, sind sie unter der städtischen Familienpopulation am unzufriedensten mit dem Hausarbeiteaufwand und der praktizierten A r b e i t s t e i l u n g . D a s liegt daran, daß Frauen und Männer dieser sozialen Schicht von allen gruppen über die geringste Freizeit
(von Montag bis Freitag
Familiendurch-
schnittlich eine Stunde täglich) verfügen und mit ihrem kleinen
Frei-
zeitfonds in der Regel ein breit gefächertes Bedürfnis - und I n t e r e s s e n -
1
Vgl. Verordnung .über die weitere Verbesserung der A r b e i t s - und Lebensbedingungen der Familien mit Kindern vom 24. A p r i l 1986, in: Gesetzblatt der DDR. Teil I, Nr. 15, 28. April 1986, § 11, S. 242. 161
Spektrum zu b e f r i e d i g e n
suchen.
Für die s t ä d t i s c h e n A r b e i t e r - und A n g e s t e l l t e n f a m i l i e n
gilt
daß H a u s a r b e i t n i c h t p a u s c h a l a l s B e l a s t u n g a b q u a l i f i z i e r t , zum F a m i l i e n l e b e n d a z u g e h ö r i g , a l s L e i s t u n g
für die K i n d e r , den
die G e m e i n s c h a f t e m p f u n d e n w i r d . T a t s ä c h l i c h läuft über die T ä t i g k e i t e n e i n e w e s e n t l i c h e Seite der K o o p e r a t i o n
und
in der G e s e l l s c h a f t
auf den A r b e i t s p r o z e ß , a u f
als
Partner,
häuslichen
Kommunikation
der F a m i l i e n m i t g l i e d e r ab, und der N a c h w u c h s w i r d d u r c h die hung in die F a m i l i e n a r b e i t
eher,
sondern
die
Einbezie-
Arbeitsteilung
vorbereitet.
G e r a d e in A r b e i t e r f a m i l i e n w e r d e n H a u s a r b e i t s - und
Freizeittätigkei-
ten o f t m a l s kaum v o n e i n a n d e r g e t r e n n t . Für v i e l e A r b e i t e r i n n e n
und A r -
b e i t e r b e g i n n t die F r e i z e i t b e r e i t s dann, w e n n sie d a s W e r k t o r
heim-
w ä r t s p a s s i e r e n . H i e r findet o f f e n s i c h t l i c h ein
Verschmelzungsprozeß
statt, d e r sich auch in der F e s t s t e l l u n g von d e r " V e r h ä u s l l c h u n g "
der
F r e i z e i t a u s d r ü c k t . D a s gilt v o r a l l e m für die W e r k t a g e , denn die
mei-
sten F a m i l i e n v e r s u c h e n , die w e s e n t l i c h s t e n V e r s o r g u n g s l e i s t u n g e n W o c h e über" zu e r l e d i g e n ,
um am W o c h e n e n d e a b k ö m m l i c h , b e w e g l i c h
"die zu
sein. So w e r d e n m a n c h e h ä u s l i c h e n A r b e i t e n am F e i e r a b e n d d u r c h a u s a l s A u s gleich z u r B e r u f s a r b e i t , a l s E n t s p a n n u n g b e t r a c h t e t . V e r g l i c h e n mit stimmten m o n o t o n e n A r b e i t s t ä t i g k e i t e n ,
die in a b s e h b a r e n
k e i n e s w e g s v e r s c h w i n d e n w e r d e n , l a s s e n sich ohne v i e l M ü h e auch rische E l e m e n t e a u s der H a u s a r b e i t
schöpfe-
herausfiltern.
O b d i e s e E n t w i c k l u n g nun n e g a t i v o d e r p o s i t i v zu i n t e r p r e t i e r e n D e r S o z i o l o g e darf h i e r n i c h t a l l e i n a u s s e i n e m e i g e n e n heraus urteilen,
be-
Zeiträumen
ist:
Blickwinkel
sondern hat ein e n t s p r e c h e n d d i f f e r e n z i e r t e s
Betrach-
t u n g s m u s t e r a n z u l e g e n . W i r s i n d also w e i t d a v o n e n t f e r n t ,
Hausarbeit
global zu verdammen
einzustufen.
und g e m e i n h i n a l s e n t w i c k l u n g s h e m m e n d
Haus- oder besser Familienarbeit
ist an u n s e r e L e b e n s w e i s e und d a m i t
n a t ü r l i c h a u c h an u n s e r e n g e s e l l s c h a f t l i c h e n
Entwicklungsstand
gebun-
den. O h n e h i n ist in d e r H a u s a r b e i t s s p h ä r e ein k o m p l i z i e r t e s A u f und A b w e c h s e l s e i t i g e r A r b e i t s l e i s t u n g von F a m i l i e und G e s e l l s c h a f t z u ten. V e r s u c h t u n s e r e G e s e l l s c h a f t e i n e r s e i t s , z e i t a u f w e n d i g e
und
beobachspe-
z i f i s c h e K e n n t n i s s e e r f o r d e r n d e T ä t i g k e i t e n n a c h ihren K r ä f t e n a u s d e r F a m i l i e a u s z u l a g e r n , h a b e n sich solche A k t i v i t ä t e n , die mit der ration und den F r e i z e i t b e d ü r f n i s s e n der S o z i a l i s a t i o n
sowie
Koopemit
und E r z i e h u n g der K i n d e r z u tun haben, n i c h t n u r in
vielen Familien behauptet, Zurückzuverlagern
der Familienmitglieder
s o n d e r n oft a u c h w i e d e r v e r s t ä r k t
eingelagert.
s c h e i n e n sich bei e i n e m großen T e i l d e r F a m i l i e n
Ar-
b e i t e n w i e zum B e i s p i e l die A n f e r t i g u n g von T e x t i l i e n , B e k l e i d u n g ,
die
N a h r u n g s - und N a h r u n g s m i t t e l z u b e r e i t u n g ,
teils
auf g e s e l l s c h a f t l i c h e n E n g p ä s s e n , nisentwicklung
kleinere Reparaturen, w a s
t e i l s auf e i n e r e n t s p r e c h e n d e n
fußt.
E s fällt a l s o a u ß e r o r d e n t l i c h
schwer, h i e r für alle F a m i l i e n
K l a s s e n , S c h i c h t e n und s o z i a l e n G r u p p e n im D e t a i l g l e i c h e r m a ß e n 162
Bedürfaller Verbind-
liches zu konstatieren. Fest steht jedoch, daß wir dem wachsenden A u s maß der Hausarbeiten durch wachsende Pflegeansprüche
und - e r f o r d e r n i s s e
gesellschaftlich entgegentreten müssen, daß nach wie vor die Frage nach der Erhöhung der Reparaturleistungen
steht und daß es allgemein
darum
geht, ein breites Angebot an hauswirtschaftlichen Dienstleistungen reitzuhalten, das auch entsprechend attraktiv sein muß (wobei weise die Großwäscherei schon längst nicht mehr mit der maschine konkurrieren
be-
beispiels-
Haushaltswasch-
kann).
Nur Doppelarbeit für die Frau? Oürgen Kuczynski geht davon aus, daß der Mann fernsieht oder nach dem Abendbrot "die Wohnung verläßt zu geselligem oder politischem sein mit anderen Männern"
Zusammen-
(S.156), während sich die Frau im Haushalt
abschindet. D a s erscheint uns als ein recht simpel gezeichnetes Bild. Allein die Tatsache, daß heute 91,3 Prozent unserer Frauen im arbeitsfähigen A l t e r berufstätig sind ' zwingt die Familien zu einem
bestimm-
ten Maß an Arbeitsteilung. Wohl kaum ein Mann in der DDR würde heute weder die Notwendigkeit, noch die Tatsache seiner Beteiligung an der Hausarbeit leugnen. Es gehört also schon längst zum Rufbild des Mannes in unserem Land, daß er Hausarbeit nicht mehr ausschließlich als "Weibersache"
versteht.
Kurz zusammengefaßt steht es um die Erlediquna der Hausarbeit in den DDR-Familien wie
folgt:
1. Zur Hausarbeit gehört mehr, als die Statistik gemeinhin ausweist" 5 - nämlich alle für die Reproduktion der Familienmitglieder,
die B e t r e u -
ung der Kinder und das Funktionieren des Familienlebens notwendigen A r beiten. D a s sind zunächst die innerhalb der Wohnung permanent
ablaufen-
den Tätigkeiten wie Mahlzeiten zubereiten, Wäsche waschen, bügeln
und
ausbessern, saubermachen, Hausaufgaben kontrollieren usw. Zur H a u s a r beit gehören natürlich auch das Einkaufen, Erledigungen und Besorgungen verschiedenster Art, die Wartung von Auto und Garten,
Eigenreparatur-
leistungen, das Renovieren der Wohnung usw. - Arbeiten also, die im w e i teren Sinne für das Zusammenleben unentbehrlich
sind.
2. Die Erledigung all dieser Familienarbeiten vollzieht sich im allgemeinen nach dem Grundsatz: Wer eine A r b e i t besser und schneller kann, soll sie auch erledigen. Das ist Ausdruck von Effizienz und der E r k e n n t nis, daß gemeinsame Freizeittätigkeit erst dann beginnen kann, wenn auch das letzte Familienmitglied mit seiner Arbeit fertig ist. G e m e i n samkeit in der Freizeit aber steht in den meisten Familien sehr hoch im Kurs. Die oben genannten Arbeiten verteilen sich meistenteils noch
recht
geschlechtstypisch, wobei sich mit steigendem Q u a l i f i k a t i o n s n i v e a u 2 3
der
Im Vergleich dazu sind in der BRD nur etwas über 50 Prozent der Frauen im arbeitsfähigen A l t e r berufstätig. Vgl. Materialien zum Bericht zur Lage der Nation im geteilten Deutschland 1987, Bonn 1987, S 0 277. Diese, wie unsere vorherige Einschätzung, entstammen überwiegend den an unserem Institut durchgeführten empirischen Erhebungen. 163
1 sich
Partner diese Geschlechtstypik mehr und mehr verwischt. Da Frau selbst für fähiger halten, die meisten der täglich ablaufenden
Arbaiten
besser und schneller realisieren zu können, obliegen ihnen in der Regel mehrheitlich die in der Wohnung angesiedelten "traditionellen"
Frauen-
arbeiten. Männer dagegen sind mehr zuständig für Arbeiten außerhalb der Wohnung, für Reparaturen, technisch anspruchsvollere
und körperlich
schwerere A r b e i t e n . Sie neigen überdies dazu, sich aus der Palette der "traditionellen" Hausarbeiten nach Möglichkeit jene auszuwählen, Spaß machen, kreativer sind
die
("Lustprinzip").
Dabei erweitert sich ständig der Kreis jener Arbeiten, in denen
Frau-
en und M ä n n e r sich abwechseln bzw. die sie gemeinsam erledigen (zum Beispiel einkaufen, Mahlzeiten zubereiten, Geschirr spülen). Ein besonders fortgeschrittener Bereich der Arbeitsteilung zwischen den Partnern betrifft die Erziehung und Betreuung der Kinder. Gerade in jungen Familien sind die V ä t e r in aller Regel genauso um die Kinder bemüht wie die Mütter. Da die kontinuierlich zu erledigenden Hausarbelten mehr Zeit
kosten,
sind die Frauen folglich zeitlich erheblich stärker von der Hausarbeit gefordert als die Männer. 3. Dennoch unterscheidet sich der tägliche Freizeitfonds (Montag bis Freitag) der Geschlechter nicht erheblich voneinander: Frauen haben durchschnittlich zwei Stunden, Männer nur etwa zwanzig Minuten mehr Freizeit. B e i immerhin 3 7 Prozent der Paare verfügen beide Partner über gleich viel Freizeit, bei 25 Prozent ist der Freizeitfonds der Frauen sogar größer als der ihrer Männer; scharfe zeitliche Diskrepanzen
zwi-
schen den Partnern sind kaum zu verzeichnen. 4 . Die Annahme also, daß der Mann Freizeit hat, während die Frau sich im Haushalt abrackert,
trifft demnach so allgemein für unsere Gesell-
schaft nicht zu. Dieser Zeitausgleich kommt dadurch zustande, daß Männer - eine durchschnittlich längere Arbeitszeit und längere Wegezeiten
als
Frauen haben, - häufiger Funktionen im und außerhalb des gesellschaftlichen
Arbeits-
prozesses ausüben, - nicht selten Nebenerwerbstätigkeit
verrichten.
5. Entgegen aller Vermutung sind die meisten Frauen (die der Intelligenz ausgenommen) mit dieser Arbeitsteilung zufrieden. Sie akzeptieren auch eine sehr ungleiche Verteilung der häuslichen Pflichten, wenn der Mann entsprechende Pendantleistungen erbringt (zum Beispiel durch ein höheres Einkommen bzw. Zuverdienst aus Nebenerwerbstätigkeit).
Pro-
bleme um die Verteilung der Hausarbeit zeigen sich oft erst dann, wenn eine zugespitzte Konfliktlage in der Ehe besteht, wenn an Scheidung
ge-
dacht wird. Selbst eine ausgesprochen ungleiche Verteilung der häusli-
4
164
Vgl. 0. Gysi, Soziale Reproduktion in der Familie, in: Soziale Triebkräfte ökonomischen Wachst ums, Berlin 1986, S. 201. Diese Ergebnisse stammen im übrigen aus Untersuchungen mit Ehepaaren (vgl. S . 1 5 6 ).
chen Pflichten scheint aber allenfalls nur konfliktflankierend und kein eigenständiger Scheidungsgrund zu sein. Frauen in (hohe/höhere) LeltunqsfunktIonen Kuczynski ist zuzustimmen, wenn er feststellt, daß wir in der DDR durchaus stolz auf unsere Erfolge bei der Verwirklichung der Gleichberechtigung der Frauen sein können, die "auf allen unteren und unteren-mittleren Ebenen des gesellschaftlichen Lebens bei der Arbeit erfüllt ist" (S.155). Wir möchten nicht versäumen hinzuzufügen, daß auch Stolz auf die Souveränität angebracht ist, mit der die Frauen in unserer Gesellschaft ihr Leben meistern, ihre Kinder erziehen und um sinnvolle Partnerbeziehungen ringen. Doch hält ihr Weg auch viele Mühseligkeiten bereit, und so manches heutige Vorrecht, zum Beispiel das, alleine mit den Kindern leben zu können, ist nicht selten mit Verzicht auf Lebensglück, auf Partnerliebe und auch mit materiellen Einbußen (nur ein Einkommen) gekoppelt. Es gehört andererseits wenig Scharfsinn dazu, den Ausfall der Frauen in hohen und höheren Leitungsfunktionen zu erkennen. Dieses Problem ist hinlänglich bekannt, stellt seit fahren eine zentrale Zielstellung unserer Frauenpolitik dar und wird gegenwärtig in Presse und Rundfunk erneut stark bewegt. Man muß nicht unbedingt "vom Fach" sein, um als Ursache für diese Situation ein ganzes Bündel an materiellen Lebensbedingungen und geistigen Verhaltensregulativen zu erkennen. Dem Autor sei dennoch der Beitrag von B. Bertram (Zentralinstitut für Jugendforschung) 5 empfohlen, der diese Ursachen gewichtet und gewissermaßen "in die Reihe" bringt. Es berührt unangenehm, wenn er uns am Beispiel der weiblichen Akademiemitglieder weismachen will, daß sich die Männer nur "so ganz bewußt werden" müßten (S, 155), daß auch Frauen für solche Positionen in Frage kommen und bereitstehen. Abgesehen davon, daß wir Frauen traurig beraten wären, dergleichen männliche Einsichten abzuwarten, läßt dieses Beispiel völlig im Dunkeln, worauf sich Kuczynskis Optimismus gründet, wie hier "entsprechend gehandelt" wurde (S. 1 5 5 ) . Gemäß Statistik von 1987 gibt es derzeitig sechs weibliche Akademiemitglieder (davon fünf Ordentliche, ein Korrespondierendes Mitglled(er) 6 . L. Zahn zählte 1985 sieben Frauen in diesem Range, darunter fünf Ordentliche, zwei Korrespondierende Mitglieder. Sie schätzte die Entwicklung zwischen 1975 und 1985 wie folgt ein: "Der Anteil der weiblichen Akademiemitglieder er-, höhte sich von 2,5 Prozent im Jahre 1975 auf 3,07 Prozent 1980 und 3,11 Prozent 1985. Ohne Zuhilfenahme der zweiten Stelle nach dem Komma wäre kein statistischer Fortschritt in der Verwirklichung der Gleichberechtigung der Frauen im fraglichen Akademiebereich festzustellen gewe5 6
Vgl. B. Bertram, Ounge Frauen in leitenden Tätigkeiten - Voraussetzungen nutzen, in: Informationen des Wissenschaftlichen Rates "Die Frau in der sozialistischen Gesellschaft", 5/1987, S. 3-19. Vgl. Die Akademie der Wissenschaften der DDR, Berlin 1987, S. 146-
166.
165
s e n . " 7 Hier ist jeder Kommentar
überflüssig.
Wenn also Oürgen Kuczynski glaubt, daß die A b s e n z der Frauen in hohen/höchsten Leitungsfunktionen "sich leicht korrigieren lassen - von einem Tag zum anderen" (S. 1 5 5 ) , übersieht er den
sollte
Prozeßcharakter
dieser Erscheinung. Um Frauen in höheren und hohen Leitungsfunktionen
ein
setzen zu können, sind bekanntlich gewisse Vorstufen erforderlich. Zunächst geht es darum, eine der Anzahl der weiblichen ter entsprechende Zahl an weiblichen Professoren
Akademiemitarbei-
gegenüberzusetzen,
erst dann stellt sich die Frage nach den weiblichen
Akademiemitgliedern.
Hier wie anderswo ist demnach eine stufenweise Entwicklung
vonnöten.
Doch zurück zu den Ursachen dafür. Uns erscheinen einige Fragen in der bisherigen Diskussion noch zu wenig.gestellt, einige Seiten noch zu schwach durchdacht: 1. Sind Leitungsfunktionen, insbesondere höhere und hohe,
genügend
attraktiv? Welche Vor- und Nachteile könnten Frauen veranlassen, sie zu übernehmen bzw. auszuschlagen? Was die allgemeinen Vorteile so fallen sie heute meistens noch ziemlich spärlich aus
anbelangt,
("Karriere",
Macht, Geld?). Die Nachteile hingegen liegen deutlich auf der Hand: Verlust an Freizeit, höhere nervliche Beanspruchung, mehr Bürokratie, Ä r ger mit den Kollegen. Diese Nachteile gelten natürlich auch für die Männer, doch sind Männer immer noch stärker als Frauen auf berufliche Entwicklung "gepolt". Für sie gehören Funktionen eher zu ihrem Berufsleben. Frauen sind - bei hoher Bedeutsamkeit des Wertes Arbeit, der sich jedoch mehr auf Teilnahme an der Berufstätigkeit, auf gute Arbeitsleistungen und ein gutes Arbeitskollektiv bezieht, nicht nur etwas sozial- und familienorientierter,
sondern sie fragen auch stärker nach
dem dadurch zu erzielenden "Lebensgewinn". Machen wir also die Leitungsfunktionen (für beide Geschlechter) attraktiver - inhaltlich,
zeitlich,
finanziellI 2. Damit in Verbindung steht die Frage, ob gegenwärtige
Leitungstä-
tigkeiten immer frauenadäquat sind, ob sie den - physischen,
psychi-
schen, zeitlichen usw. - Möglichkeiten und Bedürfnissen der Frauen entsprechen. Es ist doch längst bekannt, daß auch in dieser Hinsicht schiede zwischen den Geschlechtern bestehen. Niemand würde weise auf die Idee kommen, Leitungsfunktionen
im Bergbau unter Tage mit
Frauen besetzen zu wollen. Frauen kommen also auch nicht für Leitungsfunktionen
Unter-
beispiels-
in allen Wirtschaftsbereichen
gleichermaßen
in Frage. Hier
fehlt es folglich an detaillierteren Analysen, welcher
Geschlechterpro-
porz für welche Wirtschaftsbereiche überhaupt real ist und dem gegenwärtigen Stand der gesellschaftlichen Arbeitsteilung
entspricht.
3. Reagieren die Betriebe und Einrichtungen in Form ihres gesamten Leitungspotentials genügend ausdauernd und sensibel auf die
ungleich
schwierigere Prozedur, Frauen für die Übernahme leitender Funktionen zu
7
166
L. Zahn, Frauen in der Wissenschaft?, in: spectrum 16/1985, S. V .
gewinnen? p Werden Frauen als Leiter daoei wirklich in ausreichendem "gewollt"
Maße
, und ist der gesellschaftliche Druck groß genug, daß die B e -
triebe Frauen als Leiter "zu wollen haben"? Welche (ökonomischen) de halten sie anderenfalls davon ab, hier mit dem erforderlichen
GrünNach-
druck vorzugehen? D a ß dabei gerade ökonomische Erwägungen im Spiele (zum Beispiel Ausfall der Frauen wegen Erkrankung der Kinder),
sind
scheint
uns ganz offensichtlich. 4 . Sind die Wege und Möglichkeiten, zu Leitungsfunktionen zu gelangen, für Frauen flexibel genug? Frauen fühlen sich bekanntermaßen
in
starker Abhängigkeit von ihrer Familiensituation, darunter von der erreichten Phase des Familienzyklus,
"abkömmlich" von zu Hause. Haben
sie
noch keine Kinder, kommen sie mangels beruflicher Erfahrungen als Leiter noch nicht in Frage, sind die Kinder groß, sind die Frauen nach landläufiger Auffassung als Leiter "zu alt", sprich: nicht mehr misch" genug. Sollten wir dieses Argument nicht noch einmal
"ökono-
gründlich
überdenken? Sollten wir uns in Zukunft nicht auch mehr um jene
Frauen
bemühen, die zwar d a s erforderliche berufliche Wissen haben, aber eben "nicht mehr ganz jung" (dritte Generation), dafür aber häuslich lich entlastet
deut-
sind?
Familiensituationen ändern sich überdies. Wir erinnern nur und unter anderem an den hohen Anteil geschiedener, allein lebender Mütter, die nicht selten nach mehr Selbstverwirklichung
in der Arbeit suchen. Und
selbst wenn Frauen wegen Krankheit als Leiter "ausfallen", ließe da nicht eine entsprechende "Reserve"
sich
bereitstellen?
5. Spielt die berufliche Belastung und Haltung des Ehemannes eine Rolle, wenn Betriebe um Frauen als Leiter w e r b e n ? Die Bereitschaft
der
Frauen hängt nun mal deutlich auch von der Haltung ihres P a r t n e r s ab. Männer sagen zwar oft, daß sie durchaus n i c h t s gegen Frauen als L e i t e r einzuwenden hätten, aber sie sagen noch öfter, daß sie bei der eigenen Frau ganz entschieden dagegen wären. Dahinter steht offenbar nicht allein die Furcht, mehr im Haushalt gefordert zu werden. Vielfach üben die Ehemänner selbst Funktionen aus, und viele Paare glauben, daß sie diese Art von doppelter Belastung nicht meistern könnten. Die konkrete
Situa-
tion in der Familie sollte also bei der Gewinnung von Frauen für eine q Funktionsübernahme
stets in Rechnung gestellt werden.
Stirbt die DDR-Bevölkerung
aus?
Wenn Kuczynski in der Doppelbelastung der Frau durch
Berufstätigkeit
und Mutterschaft einen Grund für Kinderlosigkeit bzw. die Beschränkung auf ein, "allerhöchstens, was nicht selten schon als Leichtsinn
(S.156 )
erscheint, zwei Kinder" sieht und ein "Aussterben" der Bevölkerung
be-
schwört, ist das nicht nur blanke Schwarzmalerei, sondern in m e h r f a c h e r 8 Vgl. I. Lange, Die Hauptaufgaben der Partei bei der zielstrebigen Verwirklichung der Frauenpolitik der SED, ins Informationen des Wissenschaftlichen Rates "Die Frau in der sozialistischen G e s e l l schaft", 4/1987, S. 27. 9 Vgl. ebenda, S. 27/28. 167
Hinsicht
unrichtig:
1. Die typische Familienform in der DDR ist die
Zwei-Generationen-
Familie mit überwiegend zwei Kindern. Einzelkinder werden von den Eltern nur selten gewünscht. Der Kinderwunsch beider Geschlechter richtet auf durchschnittlich zwei Kinder. Er ist, wie unsere und andere sche Untersuchungen bestätigen, in den zurückliegenden fahren
sich
empiri-
unseres
Jahrzehnts unverändert geblieben. Kinder zu haben, mit Kindern zu leben wird also weder von Frauen noch von Männern im Widerspruch zu den A n f o r derungen durch Beruf, Familie und Haushalt gesehen. Dieser wird nahezu vollständig erfüllt. Seit 1972 ist die einfache
Kinderwunsch Bevölkerungs-
reproduktion (Ersatz der Elterngeneration) zwar nicht mehr gesichert, der Rückgang des Fruchtbarkeitsniveaus in der ersten Hälfte der 70er Jahre konnte aber im Ergebnis der Wirksamkeit sozialpolitischer
Maßnahmen
aufgehalten werden. Es hat sich in den 80er Jahren auf dem Niveau von mehr als 80 Prozent stabilisiert. Nur etwa 9 Prozent der Frauen in der 10 DDR haben keine Kinder , wobei der Anteil derjenigen, die gewollt kinderlos bleiben, mit 1,5 Prozent mehr als niedrig ist. Die Rate der Frauen, die im Verlauf ihres (fertilen) Lebens Kinder g e boren haben (Mütterrate), liegt bei mehr a l s 90 Prozent. Sie war noch 11 niemals so hoch
, obwohl unser Frauenbeschäftigungsgrad zu den höchsten
der Welt gehört. Wae die Bevölkerungsprognose der DDR anbelangt, so schreibt W. Speigner» "Die Wohnbevölkerung bleibt bis etwa zur Mitte der 90er Jahre stant. Danach wird sie sich regional unterschiedlich verringern.
kon-
Insge-
samt werden es nicht mehr als 2 - 3 Prozent sein, bis zum Jahre 2020 müßte mit einer Verringerung von etwa 1 Mio. Einwohner gerechnet werden 12 (also etwa 6 %)" . D a s wird von unseren Demographen noch nicht als besorgniserregend angesehen. Trendfortschreibungen über einen langen Zeitraum oder gar Berechnungen über den Zeitpunkt des "Aussterbens" 13
einer
Bevölkerung sind reine Zahlenspielerei. 2. Die Ursachen für dae Nichterreichen der einfachen Reproduktion der Bevölkerung sind in den sich verändernden Lebensbedingungen und V e r h a l tensweisen der Menschen, also als eine Folge sich entwickelnder
Reproduk-
tionsbedingungen, zu sehen. Dabei haben die Lebenswerte "Kinder", lie" und "Partnerschaft" in keiner Weise an Bedeutung verloren, sind tief in den Wertorientierungen
"Fami-
sondern
und Bedürfnissen der Frauen und M ä n n e r
der älteren wie der jüngeren Generation verwurzelt. Sie werden ohne größere Einschränkungen a l s realisierbar und vereinbar mit dem ebenfalls starken 10 11 12
13
168
Vgl. T. Büttner, Demographische Reproduktion, ins Schriftenreihe des ISS, Beiträge aus der Forschung, Soziologie und Sozialpolitik, 3/1986, S. 67. Vgl. Kind und Gesellschaft, Berlin 1987, S. 20. W. Speigner, Zur Verschiebung der Altersstruktur in der DDR - U r sachen, Verlauf, Auswirkungen, in: Protokolle und Informationen, Wissenschaftlicher Rat für Sozialpolitik und Demografie, 2/1986, S. 10. Ebenda, S. 9.
Bedürfnis beider Geschlechter nach voller Berufstätigkeit,
sozialer und
politischer Aktivität sowie reichen kulturellen Aktivitäten erlebt. Die Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Mutterschaft geht also nachgewiesenermaßen nicht auf Kosten des Wunsches nach mehreren gend nach zwei)
(überwie-
Kindern.*4
3 . Unsere Sozial- und Familienpolitik ist bedürfnisorientiert;
Sie
geht von der Komplexität menschlicher Bedürfnisse aus. Es ist gesellschaftliches Anliegen der DDR, jungen Paaren die Familiengründung Vereinbarkeit von Berufstätiqkeit
und
und Elternschaft zu erleichtern,
ihnen
die zeitlichen und finanziellen Lebensbedingungen zu verbessern - besonders wenn sie mehrere Kinder haben - und die Geburtenentwicklung stimulieren, daß sie 3ich auf dem derzeitigen Niveau
siert. Dabei geht es vor allem darum, vorhandene Kinderwünsche ständig erfüllbar zu machen. Davon auszugehen, daß
so zu
stabilivoll-
sozialpolitische
Maßnahmen allein die Paare veranlassen könnten, mehr als die von ihnen gewünschte Kinderzahl zu realisieren, wie der A u t o r zu vermuten ( S . 1 5 6 ) , wäre reine
14
scheint
Illusion.
D a s ergaben auch die 1982 und 1987 an unserem Institut durchgeführten empirischen Untersuchungen zum Kinderwunsch und seiner E r füllung in der DDR. 169
Jürgen
Kuczynski
An two rt an Jutta Gysi und Dagmar Meyer von 0. K.
Natürlich bin ich ganz riesig froh, daß mein Beitrag zu einem Meinungsstreit im Jahrbuch geführt hat, und das noch von Seiten der Streiter gegen mich in einem so frisch - fröhlich - sehr bestimmten Ton! Ich bin dagegen, gleich ausführlich zu antworten, denn vielleicht geht der Meinungsstreit, wenn nicht an dieser Stelle, doch anderswo weiter. A u ß e r dem soll man zunächst auch dem Leser ein Urteil überlassen. Ich möchte nur vier Fragen auf Grund der so anregenden Bemerkungen von Jutta Gysi und Dagmar Meyer
stellen.
1. Ich habe den Eindruck, daß beide Soziologie und Alltagsforschung gleichsetzen. Ist das richtig? Der bedeutende bürgerliche Wirtschaftshistoriker Lujo Brentano vergab zum Beispiel einst eine Doktorarbeit mit dem Thema (das natürlich im katholischen München, wo er lehrte, nicht so fern lag): "Die Berufsstruktur der Heiligen". Zweifellos ein soziologisches Thema - aber Alltagsforschung? 2. Die Autoren meinen, daß "Frauen sich selbst für fähiger halten, die meisten der täglich ablaufenden Arbeiten besser und schneller
rea-
lisieren zu können" als die Männer und erklären damit, daß die Männer zum Beispiel zumeist nicht kochen. A b e r sollte man nicht endlich gegen diesen Mythos ankämpfen? Bekanntlich sind alle berühmten Köche in der Geschichte Europas in den letzten mehr als zweitausend Jahren seit dem alten Rom Männer gewesen. Und wenn man etwa Festmahlsschilderungen
bei
Gesellschaften des englischen oder russischen Hochadels in Memoiren (oder Romanen) des 18. und 19. Jahrhunderts liest, waren die
kulinari-
schen Genüsse fast immer französischen Köchen, niemals aber Frauen, zu verdanken. 3. Zur Problematik der Frauen in höheren Funktionen: Sind die A u t o ren hier nicht einem apologetischen Trend verfallen, wenn sie meinen, daß ich unrecht habe, wenn ich befürworte, daß hier rasch gehandelt werden müsse, um unser Hinterherhinken sogar hinter der Lage im Kapitalismus - man denke nur an die Zahl weiblicher Präsidenten,
Ministerpräsi-
denten und Minister dort - gutzumachen? Sie meinen, ich "übersähe den Prozeßcharakter dieser Erscheinungen".
Sollten aber dreiundvierzig
Jahre Prozeß nicht endlich ausreichen, um hier eine radikale Wandlung herbeizufüh ren? 4 . Nehmen die beiden Autoren die Bevölkerungsentwicklung bei uns ernst genug? Sie schreiben recht zufrieden: "Die Ursachen für das Nichterreichen der einfachen Reproduktion sind in der Gesamtheit der sich verändernden Lebensbedingungen
und Verhaltensweisen der Menschen, also als
eine Folge sich entwickelnder Reproduktionsbedingungen zu sehen. Dabei
170
h a b e n die L e b e n s w e r t e
'Kinder',
W e i s e an B e d e u t u n g v e r l o r e n , gen und B e d ü r f n i s s e n
"Familie"
sondern
der Frauen
sind
Handelt
reine
über den Zeitpunkt
wieviele Ehen zwei Kinder hervorbringen.
anscheinend
Sie sollten
zwei Kinder selbst
in a l l e n E h e n u n z u r e i c h e n d
Bevölkerung wären,
da es d a r a u f a n k o m m t ,
Jugendliche
gebärfähige
des
einen
'Aussteroder
um
befriedigt,
aber wissen,
daß
für die R e p r o d u k t i o n
d a ß in d e r n ä c h s t e n
Frauen vorhanden
und d a ß auf d e m IVege d o r t h i n s t e r b e n . Ich m e i n e ,
jüngeren
über
es s i c h h i e r w i r k l i c h n u r um e i n e Z a h l e n s p i e l e r e i
genwärtigen,
keiner
Zahlenspielerei".
eine ernste W a r n u n g ? Beide Autoren vermelden
mindestens ebensoviele
in
IVertorientierun-
"Trendfortschreibungen
langen Zeitraum oder gar Berechnungen sind
'Partnerschaft'
tief in d e n
und M ä n n e r d e r ä l t e r e n w i e d e r
Generation verwurzelt". Und weiter: bens' einer Bevölkerung
und
s i n d w i e in d e r
doch eine Reihe Kinder
ge-
und
man m u ß d i e B e v ö l k e r u n g s e n t w i c k l u n g
uns doch ernster ansehen, als es die A u t o r e n
der
Generation
bei
tun.
171
3 b . f. S o z i o l o g i e und S o z i a l p o l i t i k
H a n s M i t t e l b a c h und Jörg
1989
Roesler
E n t w i c k l u n g von E i n k o m m e n und V e r b r a u c h der B e v ö l k e r u n g der D D R in den vergangenen vierzig
Jahren
D i e E n t w i c k l u n g d e s L e b e n s n i v e a u s d e r B e v ö l k e r u n g in d e r D e u t s c h e n mokratischen Republik
(DDR) v o l l z i e h t
sich seit m e h r a l s v i e r
De-
Jahrzehn-
ten in V e r w i r k l i c h u n g d e r W i r t s c h a f t s - und S o z i a l p o l i t i k der A r b e i t e r k l a s s e . E i n k o m m e n und V e r b r a u c h d e r B ü r g e r g e h ö r e n zu den
wesentlichen
K o m p o n e n t e n , die die E n t w i c k l u n g d e s L e b e n s n i v e a u s b e s t i m m e n . Im den w i r d der V e r s u c h u n t e r n o m m e n , zu v e r f o l g e n .
D e r zur V e r f ü g u n g
Überblicksdarstellung
ihre E n t w i c k l u n g ü b e r v i e r
folgen-
Jahrzehnte
stehende Zeitraum gestattet nur eine
auf d e r G r u n d l a g e
reichhaltigen
Faktenmaterials.
D i e V e r f a s s e r w a r e n b e s t r e b t , die A u s w a h l der E r e i g n i s s e und M a ß n a h m e n so v o r z u n e h m e n , d a ß die E n t w i c k l u n g s l i n i e n ,
E r f o l g e und P r o b l e m e in w e -
s e n t l i c h e n B e r e i c h e n der S o z i a l p o l i t i k ü b e r e i n e n l a n g e n Z e i t r a u m weg d e u t l i c h w e r d e n . D i e meist für die V o l k s w i r t s c h a f t
insgesamt
l i e g e n d e n D a t e n zur E i n k o m m e n s - und V e r b p a u c h s e n t w i c k l u n g w u r d e n ü b e r w i e g e n d e n T e i l auf P e r s o n e n bzw. H a u s h a l t e b e z o g e n , um eine standardwirksame Aussage zu ermöglichen. Eine sozialstrukturelle f e r e n z i e r u n g h ä t t e die A u s s a g e n n o c h v e r t i e f t ,
Dif-
Darstel-
stand. Die vorgenommene Periodisierung
gab sich a u s d e r E n t w i c k l u n g s e l b s t . D i e B e s c h l ü s s e d e s V I I I . tages der S o z i a l i s t i s c h e n E i n h e i t s p a r t e i D e u t s c h l a n d s dere zur H a u p t a u f g a b e
zum lebens-
konnte h i e r a b e r n i c h t
d a r g e s t e l l t w e r d e n , da im V o r d e r g r u n d d i e z u s a m m e n h ä n g e n d e lung d e r L a n g z e i t e n t w i c k l u n g
hinvor-
(SED),
in i h r e r E i n h e i t v o n W i r t s c h a f t s - und
Parteiinsbeson-
Sozialpoli-
tik, w i r k t e n z ä s u r b e s t i m m e n d , w a s a u s d e r C h r o n i k d e r b e s c h l o s s e n e n realisierten
s o z i a l p o l i t i s c h e n M a ß n a h m e n und den s t a t i s t i s c h e n D a t e n
schwer a b z u l e s e n
1
172
er-
und un-
ist.
A l s A u s g a n g s j a h r w u r d e d a s J a h r 1946 g e w ä h l t , w e i l in d i e s e m J a h r n o c h in Form von B e f e h l e n der s o w j e t i s c h e n B e s a t z u n g s m a c h t . j e n e E n t w i c k l u n g auf dem G e b i e t d e s E i n k o m m e n s und V e r b r a u c h s b e g a n n , die mit d e r G r ü n d u n g d e r D D R von der P a r t e i d e r A r b e i t e r k l a s s e und d e r R e g i e r u n g der D D R in v o l l e r E i g e n v e r a n t w o r t l i c h k e i t w e i t e r e n t w i c k e l t w u r d e . D a s J a h r 1986 ist d a s letzte Jahr, zu dem zur Zeit s t a t i s t i sche V e r ö f f e n t l i c h u n g e n zur E n t w i c k l u n g von E i n k o m m e n und V e r b r a u c h v o r l i e g e n . Z u r D a r s t e l l u n g der E n t w i c k l u n g b i s 1989 w u r d e d a s F ü n f j a h r p l a n d o k u m e n t 1986 - 1990 mit h e r a n g e z o g e n .
Die Entwicklung von Einkommen und Verbrauch von der zweiten Hälfte der 40er bis Ende der 60er Jahre Im Jahre 1946 wurden auf dem Gebiet der DDR erste Maßnahmen zur Verwirklichung einer Einkommenspolitik im Sinne der Arbeiterklasse
unternommen,
nachdem die Sowjetische Militärodminist ration in Deutschland
(SMAD) im
Dezember 1945 im Interesse der V/ährungsstabilität zunächst einen
Lohn-
stopp auf der Basis der aus dem Kapitalismus überkommenen Lohnhöhen
und
-strukturen beschlossen hatte. Der erste wichtige Schritt in eine neue Richtung erfolgte mit dem SMAD-Befehl Nr. 253 vom August 1946, der das Prinzip des gleichen Lohns für gleiche Arbeit unabhängig von A l t e r und Geschlecht festlegte. Noch im November desselben Jahres folgte eine w e i tere lohnpolitische Maßnahme: Der Mindestlohn wurde auf 0,50 RM je Stunde bzw. 1 0 8 , —
RM im Monat
erhöht.
In den Jahren 1946 bis 1947 ging es noch vorrangig um die B e s e i t i gung von sozialen Ungerechtigkeiten aus der Zeit des K a p i t a l i s m u s und die Erfüllung von seit Jahrzehnten im ökonomischen Klassenkampf
gestell-
ten Forderungen der Arbeiterklasse auf dem Gebiet des Arbeitsschutzes, insbesondere für Frauen (Februar 1947) und Jugendliche
(Oktober 1947).
Bereits mit dem SMAD-Befehl Nr. 234 vom Oktober 1947 wurde jedoch der Zusammenhang zwischen Arbeitsleistung und Arbeitseinkommen duktivität und Lohn) erfaßt, in dem der Gedanke des
(Arbeitspro-
Leistungslohnes,
der damals noch weitgehend mit dem Stücklohn identifiziert wurde, enthalten ist. Dieser wurde ein knappes Jahr später durch die "Richtlinie Deutschen Wirtschaftskommission
(DIVK) zur Lohngestaltung" w e i t e r
der
ausge-
führt. Sie brachte die erste umfassende Regelung der Bezahlung nach der Arbeitsleistung. Im Hinblick auf den Leistungsstücklohn, der an die Stelle des teilweise noch verbreiteten A k k o r d l o h n e s aus
kapitalistischer
Zeit treten und in möglichst vielen Industriezweigen angewandt werden sollte, wurde 1949 mit der Ausarbeitung technisch begründeter A r b e i t s normen begonnen. Die Notwendigkeit exakter Normenarbeit war Ende
1948
offensichtlich geworden, als der Versuch, einen progressiven
Stücklohn
auf der Basis erfahrungsstatistischer Normen einzuführen, zu
ungerecht-
fertigten Lohnsteigerungen geführt hatte. D e r Anreiz, vom Zeit- zum Stücklohn überzugehen, erwies sich auch bei linearer Progression Normübererfüllung als groß genug, um während des Zweijahrplanes
der (1949 -
1950) und zu Beginn des ersten Fünfjahrplanes (1951 - 1955) den A n t e i l der Stücklöhner beträchtlich zu steigern. Hatten 1948 25 Prozent
aller
Arbeiter der Industrie im Leistungsstücklohn gearbeitet, so waren es 2
1949 40 Prozent und 1951 60 Prozent.
Die rasche Ausbreitung d e s Lei-
stungslohnes trug wesentlich zur beträchtlichen Steigerung der A r b e i t s produktivität während des Zwei- und Fünfjahrplanes bei, führte in der Folgezeit aber auch zu Problemen: Wissenschaftlich-technische
2
Arbeits-
Vgl. H. Matthes, D a s Leistungsprinzip als Grundlage der Entlohnung in der volkseigenen Wirtschaft, Berlin 1954, S. 53. 173
normen konnten nicht so rasch ausgearbeitet werden, wie die Zahl der Stücklöhner zunahm. Der Leistungsstücklohn wurde auch auf Bereiche
ange-
wendet, wo die tatsächliche Arbeitsleistung im Stücklohn nicht zu erfassen war. Sowohl die überwiegend erfahrungsstatistische Basis der Arbeitsnormen als auch die formale Anwendung des Leistungsstücklohnes
führten
etwa ab 1952 zur Verletzung des lohnpolitischen Grundsatzes, daß die Arbeitsproduktivität
rascher steigen sollte als der Lohn. Der vom Minister-
rat daraufhin im Mai 1953 unternommene Versuch, die Arbeitsnormen
admi-
nistrativ um 10 Prozent zu erhöhen, erwies sich zur Lösung des Problems als ungeeignet und mußte nach Protesten aus der Arbeiterschaft
bereits
im Juni 1953 w i e d e r zurückgenommen werden.'' D a s Problem überhöhter Normerfüllung blieb daraufhin bis Anfang der 60er Jahre ungelöst. D a s war eine der Hauptursachen dafür, daß Tarif- und Effektivlohn seit Mitte der 50er Jahre auseinanderzuklaffen begannen und der Tariflohn für die Höhe des Arbeitseinkommens an Bedeutung verlor. Aber immerhin gelang es ab Mitte der 50er Jahre, den Stücklohn dort, wo er formal angewandt worden war, durch geeignetere Formen des Leistungslohnes wie den Prämienzeitlohn zu ersetzen. Die wesentlichsten Veränderungen gegenüber dem aus dem
Kapitalismus
überkommenen Tarifsystem erfolgten in den fahren 1950 und 1952, als dia Tariflöhne stärker nach Industriezweigen differenziert wurden, wobei entsprechend der sozialistischen Industrialisierung die vorrangig zu entwickelnden Zweige (Bergbau, Metallurgie, chemische Industrie,
Ener-
giewirtschaft und Bauwesen) an die Spitze der Lohntabelle traten. G l e i c h zeitig wurde die aus dem Kapitalismus überkommene Differenzierung
der
Löhne nach Ortsklassen während der 50er Jahre Schritt für Schritt
abge-
baut . Die Einführung des Leistungsstücklohnes und einer auf die Schwerpunkte der Volkswirtschaft gerichteten Tariflohnpolitik
führten in den
Jahren 1950 bis 1951 zu einer überdurchschnittlichen Steigerung der A r beitseinkommen der Werktätigen dieser Bereiche, der im zweiten
Halbjahr
1953 und 1954 eine zweite Periode raschen Lohnzuwachses folgte. Diese stand in Zusammenhang mit der im Sommer 1953 von der Partei der A r b e i terklasse angenommenen "Politik des neuen Kurses". Ein Beschluß des Politbüros des Zentralkomitees
(ZK) der SED zur weiteren Verbesserung
der
Lebenslage der Arbeiterinnen und Arbeiter in der DDR brachte im Verlaufe des zweiten Halbjahres 1953 Lohnerhöhungen
für die bisher wenig
sichtigten Zweige der Leicht- und Lebensmittelindustrie
berück-
bzw. die Wirt-
schaf tsbereiche außerhalb der Industrie. Für die Industrie, das Verkehrswesen und Nachrichtenwesen wurde 1957 die Wochenarbeitszeit 48 auf 4 5 Stunden verkürzt - bei vollem
von
Lohnausgleich.
Erhebliche Lohnerhöhungen wurden erneut Ende der 50er Jahre vorgenommen. Sie hatten drei Ursachen: Erstens wurden Tariflöhne mit dem Ziel
3
Vgl. Geschichte der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin S. 157.
174
1981,
erhöht,
ein v o r r a n g i g e s '.Vach st um d e r E i n k o m m e n
in den S c h w e r p u n k t b e r e i c h e n Zweitens erhielten
im M ä r z 1 9 5 9 L o h n e r h ö h u n g e n , kommenssteigerungen
in M a r k
sichern.
Lebensmittelindustrie
da d e r S i e b e n j a h r p l a n
auch eine
zum Z i e l h a t t e . D r i t t e n s
ü b e r den P l a n h i n a u s i n f o l g e
Beschleuni-
kam e s zu
Ein-
ungerechtfertigt
hoher
der A r b e i t s n o r m e n . Die Zunahme des d u r c h s c h n i t t l i c h e n
beitseinkommens 122,—
beschäftigten
( 1 9 5 9 - 1 9 6 5 ) zu
die B e r e i c h e d e r L e i c h t - und
gung d e r K o n s u m g ü t e r p r o d u k t i o n Übererfüllung
für d i e s e
des Siebenjahrplans
j e w e i l s g e g e n ü b e r den
(M) 1 9 5 5 = 1 2 1 , —
fünf v o r a n g e g a n g e n e n
M ; 1960 = 1 2 3 , —
M; 1965 = 7 8 , —
Jahren
Ar-
betrug
M und 1 9 7 0 =
M.
Die vergleichsweise Bevölkerung daraus,
geringe Steigerung
des Arbeitseinkommens
in d e r e r s t e n H ä l f t e d e r 6 0 e r J a h r e e r k l ä r t
d a ß es m i t ' H i l f e d e s 1 9 6 1 i n i t i i e r t e n
sich
der
Produktionsaufgebotes
freiwilliger Basis gelang, das V e r h ä l t n i s von A r b e i t s p r o d u k t i v i t ä t
tens f ü h r t e die E r s c h ö p f u n g
extensiver Wachstumsfaktoren
J a h r e zu e i n e r V e r l a n g s a m u n g
des w i r t s c h a f t l i c h e n
damit auch den Spielraum
für s o z i a l p o l i t i s c h e
schrittweisen
des neuen
Einführung
wesentlich
Leitung der Volkswirtschaft
ab 1 9 6 4 k o n n t e d e r
wohl bedeutsamste
1966/67 vollzogene Obergang
der
60er
engte
ein. Mit
der und
IVirtschaftsmechanismus es 1966/67,
d e r A r b e i t s - und L e b e n s b e d i n g u n g e n
D i e in i h r e n A u s w i r k u n g e n
EinZwei-
Systems der Planung
wieder effektiver gestaltet werden. Das ermöglichte Reihe von Verbesserungen
Anfang
W a c h s t u m s und
Maßnahmen
ökonomischen
beitrug.
auf und
L o h n w i e d e r in O r d n u n g zu b r i n g e n , w o z u a u c h d i e 1 9 5 9 / 6 0 b e g o n n e n e f ü h r u n g v o n L o h n - und G e h a l t s g r u p p e n k a t a l o g e n
DDR-
erstens
eine
vorzunehmen.
dieser Maßnahmen war
zur Fünf-Tage-Arbeitswoche
der
bei einer
Ver-
k ü r z u n g d e r W o c h e n a r b e i t s z e i t auf 4 3 3 / 4 b z w . 4 2 S t u n d e n (für S c h i c h t 4 arbeiter). D a s Arbeitseinkommen stieg einerseits durch die A n h e b u n g des Mindestlohnes
im J u l i 1 9 6 7 v o n 2 2 0 , — 'auf 3 0 0 , —
ferenzierte Steigerung der bis unter 4 0 0 , — Bruttolöhne, vergebenen
andererseits erhielten
Jahresendprämie
M sowie durch
M liegenden
mit d e r e r s t m a l i g
im g r o ß e n
für 1 9 6 6 d i e b e r e i t s s e i t 1 9 4 8 / 4 9
und s e i t M i t t e d e r 5 0 e r J a h r e s t ä r k e r an die L e i s t u n g e n und d e s e i n z e l n e n W e r k t ä t i g e n
gebundenen
Prämien
dif-
monatlichen
des
Umfang
gezahlten Betriebes
größeren Umfang
und
Gewicht. Die Steigerung des A r b e i t s e i n k o m m e n s w a r der wichtigste die E n t w i c k l u n g net, betrugen
der Nettogeldeinnahmen
Faktor
der Bevölkerung. Pro Kopf
sie 1 9 4 9 e t w a s m e h r a l s e i n V i e r t e l ,
1970 bereits
für gerech-
die
Hälfte des Arbeitseinkommens. Da die Dynamik der Renten, Stipendien anderen Geldeinnahmen Arbeitseinkommen
in d i e s e m Z e i t r a u m n i c h t w e s e n t l i c h v o n d e r
abwich,
kam d a s r a s c h e r e W a c h s t u m d e r
men v o r a l l e m d u r c h d i e Z u n a h m e d e r B e r u f s t ä t i g e n nichtarbeitenden
4
Bevölkerung
zustande. Zwischen
und
der
Nettogeldeinnah-
bzw. den Rückgang
1 9 5 0 und 1 9 7 0
der
erhöhte
V g l . R. S c h ä f e r , J . W a h s e , Z u r R o l l e d e r A r b e i t s z e i t u n t e r d e m E i n fluß der Schlüsseltechnologien, in: W i r t s c h a f t s w i s s e n s c h a f t 1/1988, S. 34, 3 8 / 3 9 .
175
sich der Anteil der weiblichen Beschäftigten an der Gesamtzahl der Berufstätigen von 40 Prozent auf 45 Prozent. Zugleich stieg im Ergebnis von Oualifizierungsmaßnahmen
der Durchschnittslohn der berufstätigen
Frauen. In den 60er Jahren verlangsamte sich die Zunahme der weiblichen Beschäftigten zunächst, erreichte aber Ende der 60er Jahre doch 48 Prozent.
Gleichzeitig nahm die Teilzeitbeschäftigung
unter den berufstä-
tigen Frauen zu. Die Entwicklung der Renten folgte im wesentlichen in der Tendenz und zeitlichen Abfolge denen der Arbeitseinkommen, nachdem im Jahre 1946 die regelmäßige Zahlung von Alters- und Sozialrenten wieder aufgenommen worden war. Dabei ist allerdings das niedrige Ausgangsniveau zu berücksichtigen. In den 50er Jahren erhöhten sich die Rentenzahlungen
durch
Heraufsetzung der Mindestrenten und die generelle Erhöhung der A l t e r s renten (im November 1949, September 1950, Juli 1953, Oktober 1956, Mai 1959), durch die Schaffung einer zusätzlichen Altersversorgung zelne Berufsgruppen
(zum Beispiel für Bergleute sowie für die
für eintechni-
sche und künstlerische Intelligenz im April bzw. Juli 1951) bzw. für langjährige Berufstätigkeit
(ab 1954) und durch die Ausdehnung des Krei-
ses der Rentenempfänger auf weitere Bevölkerungsgruppen
(Genossenschafts-
bauern, Mitglieder von Rechtsanwaltskollegien ab 1959). Nach einer Pause A n f a n g der 60er Jahre folgten 1964 und 1968 erneut
Rentenerhöhungen.
Grundsätzliche Bedeutung für die Weiterentwicklung des Rentenrechts hatte der Staatsratsbeschluß vom März 1968 zur Besserung der materiellen Lage der Rentner. Er ermöglichte es, die durch die relativ niedrige Beitragsmessungsgrenze
für die Sozialversicherung von 6 0 0 , —
M bedingten
Schranken für die Erhöhung der Altersrente auf der Grundlage der Übernahme einer freiwilligen Zusatzrente zu überwinden. Ebenso wie das Einkommen begann auch der Verbrauch der Bevölkerung ab 1946, ausgehend von einem niedrigen Niveau, zu steigen. Angesichts der durch Raubbau während des Krieges und Kriegshandlungen
hervorgeru-
fenen geringen Ertragsfähigkeit der Landwirtschaft bewahrte die Rationierung der knappen Güter - Lebensmittel wurden nur auf Karten
ausgege-
ben, die nach der Schwere der Arbeit in die Stufen I bis VI gestaffelt waren - vor dem Hungertode, nicht aber vor dem Hunger. Mit Ausnahme von Brot und Kartoffeln betrug die Versorgung 1946 nur noch einen Bruchteil des Vorkriegsstandes und lag, in Kalorien gemessen, zum Teil beträchtlich unter dem physiologisch notwendigen Bedarf. Wenn selbst die niedrigen Rationssätze nicht immer an die Bevölkerung ausgegeben werden konnten, so lag das nicht nur an den Folgen des außerordentlich
harten
Winters 1946/47 und der Dürre vom Sommer 1947, sondern auch daran, daß ein Teil der Lebensmittel der Bewirtschaftung entzogen und auf dem Schwarzen Markt zu Preisen gehandelt wurde, die das Z e h n - bis H u n d e r t fache der (am Vorkriegsstand orientierten) Preise für rationierte W a ren betrug. A n g e s i c h t s der schwerwiegenden Ernährungslage wurde in den 5
176
Vgl. Statistisches Jahrbuch der DDR 1986, Berlin 1986, S. 17.
ersten Nachkriegsjahren eine Verbesserung der Versorgung der B e v ö l k e rung mit Lebensmitteln auf zwei Wegen angestrebt: einerseits durch Sicherung der Belieferung entsprechend den Kartensätzen, der Erhöhung der Rationen (August 1946, Juli 1949) bzw. der Abschaffung der karten mit den geringsten Versorgungssätzen
Lebensmittel-
(Februar 1947),
andererseits
durch die Ausgabe einer markenfreien Mahlzeit in jenen Betrieben
und
Industriezweigen, denen bei der Wiederherstellung der Volkswirtschaft besondere Bedeutung zukam wie zum Beispiel den Kohlegruben. D a s warme Mittagessen, ein wesentlicher Beitrag zur besseren Ernährung, schrittweise
konnte
(September 1945, Oktober 1947, Februar 1949, O k t o b e r 1949)
für einen immer größeren Teil der Beschäftigten zur Verfügung
gestellt
und qualitativ weiter verbessert werden (September 1950). Mit Hilfe der betriebsgebundenen Zusatzverpflegung
gelang es ab Oktober 1947
Befehl Nr. 234), die Zahl der Fehlschichten, die durch
(SMAD-
Hamsterfahrten,
Stoppeln und Schwarzmorktbesuche zustande kamen, zu verringern. Die entscheidende Niederlage erlitt der Schwarze Markt jedoch erst mit der Einrichtung "freier Läden" durch die staatliche Handelsorganisation
(HO),
in denen Nahrungs- und Genußmittel zusätzlich zur Versorgung auf Karten angeboten wurden. Die HO-Preise bedeuteten die Einführung eines offiziellen zweiten Preisniveaus. Sie lagen beträchtlich über den K a r t e n preisen, w a s dazu führte, daß ihre Existenz von Bevölkerungsgruppen
mit
geringerem Lohneinkommen zunächst keineswegs begrüßt wurde. Die H O Preise lagen aber deutlich unter den Preisen auf dem Schwarzen
Markt.6
Die Arbeiter erkannten sehr bald den wichtigsten Vorteil der HO: Man konnte sich für sein Geld wieder etwas leisten. Zu dieser
Erkenntnis
trugen auch HO-Preissenkungen bei, die während der ersten Jahre nach der Gründung der HO in rascher Folge vorgenommen wurden, so zum B e i spiel im Mai, Juli, Oktober 1949 bzw. im März, Mai, Juni, S e p t e m b e r und November 1950. Mit dem HO-Angebot war ein wesentlicher A n r e i z zum M e h r verdienst gegeben, und die Einführung des Leistungslohnes wurde die Existenz der "freien Läden" wirkungsvoll
durch
unterstützt.
A l l e r d i n g s betrug das Realeinkommen der A r b e i t e r und A n g e s t e l l t e n auch 1950 erst etwa die Hälfte des V o r k r i e g s s t a n d e s . + Der P r o - K o p f - V e r brauch wichtiger Nahrungsmittel lag zwar mit A u s n a h m e von Fleisch
und
Wurst bereits etwas höher, überschritt jedoch abgesehen von Margarine, noch nicht den Vorkriegsstand. Noch weniger günstig war es um die V e r sorgung mit Textilien und Schuhen
bestellt.
Anders als bei Lebensmitteln gestatteten die geringen zur Versorgung der Bevölkerung zur Verfügung stehenden Mengen in den ersten
Nachkriegs-
jahren keine auch noch so beschränkte Verteilung an alle. B e k l e i d u n g hielten zunächst nur bestimmte Gruppen von Bedürftigen:
Umsiedler und Heimkehrer. Erst im G r ü n d u n g s j a h r der Republik 6
+
er-
Ausgebombte, sicherte
Vgl. H. Barthel, Die Einführung des doppelten Preissystems für Einzelhandelsverkaufspreise in der D D R durch die Schaffung der HO-Läden von 1948 bis 1950/51 als komplexe Maßnahme der Wirtschaftspolitik, in: Jahrbuch für Geschichte, Bd. 31, Berlin 1984, S. 288. Vgl. Tabelle 4, im Tabellenanhang, S. 198.
177
die Punktkarte jedem Bürger einen gewissen Anspruch auf die Versorgung mit Textilien und Schuhen zu. Während die politischen und sozialen G r u n d rechte im Gründungsjahr der Republik den im Kapitalismus
erreichten
Stand bereits weit übertrafen, blieb der Lebensstandard noch beträchtlich hinter dem Vorkriegsniveau
zurück.^
Zur Lösung dieses für jeden Werktätigen in der DDR spürbaren
Wider-
spruchs wurden in der ersten Hälfte der 50er Oahre beträchtliche A n strengungen unternommen. Weitere Preissenkungen in der HO führten bis 1955 zu einem Absinken der Konsumgüterpreise um 60 Prozent. Zusammen mit einer im gleichen Zeitraum erreichten Zunahme des Arbeitseinkommens um fast 40 Prozent bedeutete das eine Steigerung des Reallohnes auf mehr als das Doppelte. Am Ende des ersten Fünfjahrplanes war der V o r k r i e g s reallohn erreicht und überschritten. Der Pro-Kopf-Verbrauch
erreichte
bzw. übertraf bei wichtigen Nahrungsmitteln wie Fleisch, B u t t e r und Eiern das Vorkriegsniveau. Bei Nährmitteln, Brot, Hülsenfrüchten
und
Kartoffeln wurde der Sättigungsgrad in der Versorgung bereits erreicht. Die Belieferung mit Textilien und Schuhen war wesentlich verbessert worden. Von noch weiterreichenderer Bedeutung waren die Veränderungen,
die
sich 1951 - 1955 gegenüber der zweiten Hälfte der 40er üahre in der Art und Weise der Versorgung mit Konsumgütern vollzogen: Der Schwarze Markt war als Versorgungsquelle Anfang der 50er Jahre bedeutungslos Die Anzahl der rationierten Lebensmittel verringerte sich
geworden.
schrittweise
durch die Aufhebung der Kartenbindung für alle Nahrungsmittel mit A u s nahme von Fleisch, Fett und Zucker. Die Rationierung von Textilien Schuhen wurde zwischen März 1951 und April 1953 zunächst
und
eingeschränkt
und dann vollständig abgeschafft. Die freie Konsumgüterwahl durch den Kunden begann 1953 zu dominieren. D a s führte insbesondere in der T e x tilindustrie, wo der dringendste Nachholebedarf nunmehr gedeckt war, und beim Handel, von dem jetzt mehr verlangt wurde, als nur zu verteilen, ab zweiten Halbjahr 1953 zum öffentlichen Nachdenken über Kundenwünsche hinsichtlich Erzeugnisqualität und Verkaufskultur. A h n l i c h wie bei Textilien und Schuhen 1953 führte auch die Aufhebung der Reste der Lebensmittelrationierung
im Mai 1958 zu einem raschen A n s t i e g des V e r -
brauchs der nunmehr durchgängig frei erhältlichen Nahrungsgüter. Dabei richtete
sich die Nachfrage vor allem auf die qualitativ hochwertigen
Sortimente. Bei Fetten wurde Ende der 50er Oahre Butter anstelle von Margarine, bei Süßwaren Honig und Konfitüre statt Sirup und Marmelade P
in größeren Mengen a l s bisher verlangt.
Im Falle der Nährmittel, von
Brot und Hülsenfrüchten ging der Pro-Kopf-Verbrauch in der zweiten Hälfte der 50er Oahre bereits zurück, während der Konsum von Genußmitteln stetig weiter anstieg. Bei Textilien und Schuhen verlangte die B e v ö l k e 7 8
178
Vgl. H. Barthel, Probleme und Ergebnisse der marxistisch-leninistisch en Sozialpolitik in der Obergangsperiode vom Kapitalismus zum Sozialismus, in: Die DDR in der Obergangsperiode, Berlin 1979, S. 139. Vgl. G. Winkler, Betrachtungen zur Entwicklung der Nahrungsmittelversorgung, Habilschrift, Leipzig 1961, S. 259.
rung neben hoher Qualität zunehmend modische Sortimente, w a s dazu
führ-
te, daß sich auf Konferenzen der Textilindustrie im April 1959 und im Mai 1960 die Auffassung durchzusetzen begann, daß die Mode auch im S o zialismus ihre Berechtigung
habe.
Der größte Umsatzanstieg wurde jedoch während der zweiten Hälfte der 50er Jahre beim Verkauf langlebiger industrieller Konsumgüter e r z i e l t . Auf diesem Gebiet ging es nicht nur um das Aufholen eines durch Krieg und Nachkrieg jahrelang zurückgestauteh B e d a r f s wie im Falle des R u n d funkgerätes, sondern auch um die Befriedigung n e u e r Bedürfnisse nach Waschmaschinen, Kühlschränken und Fernsehern. Die Zulassung von T e i l zahlungsgeschäften hatte bereits 1953 gewisse Voraussetzungen
geschaf-
fen, um breiteren Bevölkerungsschichten den Erwerb industrieller
Konsum-
güter zu ermöglichen. In der zweiten Hälfte der 50er Jahre wurden
diese
Möglichkeiten zunehmend genutzt, stimuliert teilweise noch durch w e i t e re HO-Preissenkungen, die erst Ende der 50er Jahre aufhörten,
wesentli-
ches Element der Preispolitik zu sein. Für den Zeitraum 1956 - 1960 war, bezogen auf alle Konsumgüter, noch einmal eine Senkung des P r e i s n i v e a u s um ein A c h t e l zu verzeichnen. Noch gehörten allerdings Kühlschrank
und
Waschmaschine nicht zur Standardausrüstung der Neubauwohnungen, die seit 1953 zum Teil durch die im gleichen Jahr gegründeten baugenossenschaften
Arbeiterwohnungs-
(AWG) erstmals nach dem Kriege im größeren
Umfang
errichtet wurden* Die Ausstattung mit langlebigen Konsumgütern änderte sich in den 60er Jahren. Bis 1965 waren ein Viertel aller Haushalte mit
Kühlschrän-
ken und Waschmaschinen versorgt, 1970 bereits mehr als die H ä l f t e . N o c h schneller vollzog sich die Ausstattung der Haushalte mit
Fernsehgeräten.
1965 waren Jeder zweite und 1970 bereits drei von vier Haushalten einem Fernseher ausgestattet. Ein kleiner P r o z e n t s a t z von ihnen
mit
konnte
seit 1969 bereits "in Farbe" empfangen» Wenn auch die Motorisierung den 60er Jahren rasch zunahm - bei Krafträdern konnte der Bedarf bald voll befriedigt werden - blieb der B e s i t z eines
in
bereits
Personenkraftwagens
(PKW) noch die Ausnahme: 1965 verfügte noch nicht jeder zehnte,
1970
jeder sechste Haushalt über einen "Trabant" oder "Wartburg", die seit 1964 bzw. 1966 dem Käufer mit einer gegenüber den A u s g a n g s m o d e l l e n
der
Jahre 1955 bzw. 1956 beträchtlich verbesserten Leistung und stark v e r änderten Karosserie angeboten wurden. Im Unterschied zur Entwicklung bei industriellen Konsumgütern,
deren
Gebrauch von der zweiten Hälfte der 50er bis zum Ende der 60er J a h r e (und darüber hinaus) fast ununterbrochen anstieg, setzte sich in der ersten Hälfte der 60er Jahre der Zuwachs des P r o - K o p f - V e r b r a u c h s an N a h rungs- und Genußmitteln nicht bzw. nur in vermindertem Maße fort. U n günstige Witterungsbedingungen z u Beginn der 60er Jahre und A n f a n g s schwierigkeiten, die Arbeit in den seit 1960 fast durchgängig schaftlich betriebenen Landwirtschaftsbetrieben
genossen-«
effektiv zu o r g a n i s i e -
ren, führten einige Jahre lang zur Verringerung der
landwirtschaftli-
chen Produktion. Der Bevölkerungsbedarf konnte zeitweise nicht a u s r e i -
179
chend befriedigt werden. Bei Butter mußte für einige Zeit erneut auf q VerteiluVigeverfahren der 50er Jahre zurückgegriffen werden. Der Verbrauch an Margarine stieg in der ersten Hälfte der 60er CJahre noch einmal an. Die Veränderung des Pro-Kopf-Verbrauchs in Kilogramm (kg) betrug: Tabelle 1: Nahrungsmittel Fleisch und Fleischerzeugnisse Butter Margarine Trinkvollmilch
Veränderung des Pro-Kopf-Verbrauchs in kg 1951-1955 1956-1960 1961-1965 1966-1970 + + + +
22,9 4,1 7,4 16,4
+ 10,0 + 4,0 0,1 + 5 , 1
+ + -
3,7 1,0 1,6 1,4
+ + +
7,4 2,1 0,9 4,4
Mitte der 60er Jahre hatte sich die sozialistische Landwirtschaft konsolidiert. Der Konsum von hochwertigen Erzeugnissen der Tierproduktion stieg wieder rascher und erreichte 1970 nun auch bei Butter und Trinkmilch annähernd den Sättigungsgrad. Beim Verbrauch von Textilien setzten sich in den 60er Jahren zunehmend synthetische Fasern durch. Für den Verkauf hochmodischer Bekleidungserzeugnisse entstand seit 1962 ein Netz von Exquisitläden. Im Unterschied zu anderen Bereichen erhöhte sich die Versorgung mit Wohnungen während der 60er Jahre nicht. Die Zahl der Jährlich fertiggestellten Wohnungen lag sowohl in der ersten wie auch der zweiten Hälfte der 60er Jahre unter dem Ende der 50er Jahre bereits einmal erreichten Niveau. Auch die neu errichteten Wohnungen wurden den Werktätigen überwiegend zu Quadratmeterpreisen vermietet, die nicht baukostendeckend waren. Der sozialistische Staat bestritt die Differenz aus dem Staatshaushalt, aus dessen Fonds auch überwiegend die wachsenden Ausgaben für Bildung, Kultur, Gesundheit und Sozialwesen sowie Sozialversicherung gedeckt wurden. Unter diesen Ausgaben waren seit der Gründung der DDR die Zuschüsse für die Sozialversicherung die bedeutendsten. Mit der Schaffung einer einheitlichen Sozialversicherung für Arbeiter und Angestellte im Januar 1947 und der Übertragung ihrer Leitung und Kontrolle an die Gewerkschaften im Mai 1951 wurden Forderungen aus dem Kampf der deutschen Arbeiterklasse unter dem Kapitalismus in der DDR erstmals erfüllt. Im nach dem zweiten Weltkrieg wieder auf- bzw. ausgebauten Gesundheitsund Sozialwesen galt, wie es die gesundheitspolitische Richtlinie der SED vom März 1949 betonte, der verbesserten Betreuung von Mutter und Kind besondere Aufmerksamkeit. Stand beim Gesetz über den Mutter- und Kinderschutz vom September 1950 bei der Zahlung eines monatlichen Kindergeldes an kinderreiche Familien bzw. der Gewährung eines Schwangerschafts- und Wochenurlaubs noch der Beitrag zum sozialen Ausgleich im
9
180
Vgl. S. Prokop, Obergang zum Sozialismus in der DDR 1958 - 1963, Berlin 1986, S. 216.
Vordergrund, so war die Erhöhung des Kindergeldes und der G e b u r t e n b e i hilfen im Mai 1958 bereits Ausdruck der Verbindung
sozialpolitischer
Maßnahmen mit bevölkerungspolitischen Zielsetzungen, um einem Rückgang der Geburten entgegenzuwirken. Im Jahre 1963 wurden
Schwangerschafts-
und Wochenurlaub von sechs auf elf Wochen v e r l ä n g e r t . Diese Maßnahme
be-
rücksichtigte, daß sich vom Ende der 4 0 e r bis zum Beginn der 60er Jahre im Leben der Frauen in der OOR ganz wesentliche Veränderungen
vollzogen
hatten. Waren diese 1950 noch überwiegend Hausfrauen, so stand die M e h r heit der Frauen in der DDR 1963 bereits voll im B e r u f s l e b e n . D e r mit z u nehmender beruflicher Tätigkeit der Frau deutlich w e r d e n d e n T e n d e n z zur Einschränkung der Familiengröße sollte durch
Unterstützungsmaßnahmen
für Familien mit drei bzw. vier Kindern vom M a i und J u l i 1967 sowie O k tober 1969 begegnet werden. A l l e r d i n g s e r w i e s sich diese
Stimulierung
als unzureichend, die Mitte der 60er Jahre einsetzende T e n d e n z zur ra10 sehen Verringerung der Geburtlichkeit in der DDR a u f z u h a l t e n . Zusammen mit dem Sozialwesen wurde in der DDR das G e s u n d h e i t e w e e e n ausgebaut. B e r e i t s im Jahre 1947 begann die Einrichtung von
Poliklini-
ken und A m b u l a t o r i e n . Zwischen 1950 und 1970 erhöhte sich die Zahl d e r Polikliniken auf das 2,6fache, der A m b u l a t o r i e n auf das 2 , 2 f a c h e . B e sondere Aufmerksamkeit galt der gesundheitlichen Fürsorge in den B e trieben. Die Zahl der Betriebspolikliniken nahm zwischen 1950 und 1970 auf das 2,2fache zu. D e r unter dem K a p i t a l i s m u s typischen
Vernachlässi-
gung der medizinischen Betreuung auf dem Lande wurde durch die E i n r i c h tung von Landambulatorien begegnet, deren Zahl sich vom Ende der 4 0 e r bis Ende der 60er Jahre verdreifachte. Die A u s b i l d u n g von Ä r z t e n w u r d e erweitert. A l l e r d i n g s führte eine gezielte A b w e r b u n g s p o l i t i k der B R D dazu, daß bis zur Schließung der offenen Grenze in Berlin ein
beträcht-
licher Teil der neu ausgebildeten Arzte die Republik v e r l i e ß . Erst in den 60er Jahren stieg die Zahl der praktizierenden Ä r z t e in der D D R kräftig an. Im Bereich des Bildungswesens waren nach dem zweiten Weltkrieg auf dem Gebiet der DDR bedeutende Aufgaben zu lösen. Im Ergebnis der 1946 durchgeführten demokratischen Schulreform wurde das bürgerliche B i l dungsprivileg gebrochen. Die neugeschaffene Einheitsschule mit ihrer achtklassigen Grundschulausbildung gewährte allen Kindern
ungeachtet
ihrer sozialen Herkunft das gleiche Recht auf Bildung. A u f den im Februar 1946 geschaffenen Vorstudienanstalten
(ABF) hatten A r b e i t e r - und
Bauernkinder die Möglichkeit, sich auf ein Hochschulstudium
vorzuberei-
ten. In der ersten Hälfte der 50er Jahre wurde zur Erfüllung der ö k o n o mischen und wissenschaftlich-technischen Aufgaben des ersten planes eine Reihe neuer technischer Hochschulen in Ilmenau,
FünfjahrDresden,
Berlin und Magdeburg geschaffen. Entsprechend einem Beschluß des Z e n tralkomitees der SED vom Januar 1959 über die sozialistische lung des Schulwesens der DDR begann Ende der 50er Jahre die 10
EntwickEinführung
Vgl. Kind und Gesellschaft, Berlin 1987, S. 36. 181
der zehnklassigen allgemeinbildenden polytechnischen Oberschule. Auf den A u f b a u des neuen Schulsystems wurden während der 60er Oahre che Mittel konzentriert. Die Ausgaben für Bildung, Kultur,
beträchtliGesundheits-
und Sozialwesen sowie Sozialversicherung wuchsen in Mark -pro Einwohner wie folgt an: Tabelle 2: Zuwachs der Ausgaben je Einwohner (in Mark je Monat) 1951-1955
1956-1960
1961-1965
1966-1970
Bildungswesen
+
6,00
+
6,40
+
3,80
+
7,10
Kultur
+
0,40
+
1,30
+
0,80
+
2,40
Sozialwesen
+
3,30
+
10,90
+
3,40
+
4,80
Sozialversicherung
+
8,70
+
17,00
+
11,40
+
15,40
x
Gesundheits- und
Die Zahl der Lehrkräfte stieg zwischen 1960 und 1965 doppelt so schnell wie im Jahrzehnt davor. In der zweiten Hälfte der 60er Oahre dominierte der A u s b a u der Erwachsenenqualifizierung
und die Umgestaltung des Hoch-
schulwesens entsprechend den damaligen Anforderungen von Wissenschaft und Technik. Die Beseitigung der bürgerlichen Bildungsschranken, die Durchsetzung des Prinzips "Bildung für alle" führte auch zu einem stärkeren
Interes-
se breiter Kreise der Bevölkerung für das Kulturleben. Die Zahl der Theaterbesucher lag in der zweiten Hälfte der 50er Oahre um ein Drittel höher als im Gründungsjahr der Republik. Bedeutende Sprach- und M u s i k theater, die im zweiten Weltkrieg zerstört worden waren, wurden
wieder
aufgebaut. So konnten im September 1955 die Deutsche Staatsoper in B e r lin und im O k t o b e r 1960 die Leipziger O p e r neu eröffnet werden. Andere Bühnen wurden grundlegend rekonstruiert und modernisiert wie A n f a n g der 60er Oahre das Deutsche Theater in Berlin. Rascher noch als die Zahl der Theaterbesucher stiegen die Kinobesucher. 1957 waren es pro Einwohner doppelt so viel wie im Oahre
1949.
Seit der zweiten Hälfte der 50er Oahre war die Zahl der Theaterbesucher leicht rückläufig. Die Zahl der Kinobesucher ging gegenüber dem im Oahre 1957 erreichten Höchststand mit der Ausbreitung des Fernsehens bis 1970 auf weniger als ein Drittel zurück. Dagegen stieg die Zahl der Entleihungen in den Bibliotheken auch in den 60er Oahren w e i t e r an. Die B u c h - und Broschürenproduktion hatte sich 1970 gegenüber dem G r ü n d u n g s 11 jähr der Republik mehr als verdreifacht. Seit dem VIII. Parteitag
(1971) bis Ende der 80er Oahre
Trotz der seit Gründung der DDR bis Ende der 60er Oahre erreichten
Er-
folge waren, wie E. Honecker auf dem V I I I . Parteitag feststellte,
"die
ungenügend bewältigten Aufgaben, die verbliebenen Schwierigkeiten
und
+ 11
182
Errechnet nach Angaben von Tabelle 6, im Tabellenanhang, S. 200. Vgl. Statistisches Oahrbuch der D D R 1986, a.a.O., S. 59, 61.
Ärgernisse" nicht zu ü b e r s e h e n . 1 2 Im Verlauf des 1970
abgeschlossenen
Fünfjahrplanes traten neue Entwicklungsprobleme auf, und es machten sich einige Disproportionen bemerkbar. Bezüglich des L e b e n s n i v e a u s gab es Lücken in der Versorgung und im W o h n u n g s b a u . Wesentliche Veränderungen wurden nach dem V I I I . Parteitag auch auf dem Gebiet der Einkommenspolitik eingeleitet. D a s gilt sowohl für die Lohn- und Prämienpolitik als auch für die Geldeinnahmen der Bevölkerunq aus gesellschaftlichen Fonds, die für sozialpolitische Zwecke
eingesetzt
wurden. Im Ergebnis der Einkommenspolitik w a r der Zuwachs der N e t t o g e l d e i n nahmen der Bevölkerung im Zeitraum von 1970 - 1985 w e s e n t l i c h als in den vorangegangenen sich die Nettogeldeinnahmen höht:'1' 1955 - 1 9 2 , —
größer
fünfzehn fahren. Pro Kopf und Monat haben (in Mark) von 1955 bis 1985 wie folgt er-
M, 1970 - 383,-- M, 1985 - 709,-- M, Z u w a c h e 7 0 / 5 5
= 1 9 1 , — M, Zuwachs 85/70 = 3 2 6 , - - M . Bei den Arbeltseinkommen der Arbeiter und A n g e s t e l l t e n galt es, für die in den 50er und 60er Oahren entstandenen Probleme bei der Entwicklung der Löhne und Prämien qualitativ neue Lösungen zu finden. Ein Hauptproblem bestand darin, daß der Tariflohn im V e r h ä l t n i s zu den M e h r l e i stungslöhnen oft nur noch eine verhältnismäßig geringe Rolle
spielte.
Der Anteil de3 T a r i f l o h n e s am Effektivlohn betrug bei vielen
Produk-
tionsarbeitern nur etwa 50 Prozent. Die ursprünglich auf dem 8. Kongreß des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundss
(FDGB) im Oahre 1972 gleich-
zeitig vorgesehene Einführung neuer Tariflöhne konnte nicht
kurzfristig
realisiert werden, weil die Lösung der angestauten Lohnprobleme
eine
zweistellige Milliardensumme erfordert hätte. In den folgenden Oahren wurde daher zur schrittweisen Einführung der Grundlöhn e
(Produktivlöhne)
in Abhängigkeit von der Leistung übergegangen, die eine Vorstufe neue Tariflöhne
für
darstellen.
Die Grundlöhne erreichen etwa 70 bis 90 Prozent des Effektivlohnes; sie gewährleisten eine stärkere Leistungsstimulierung, weil damit die Bezugs- und Berechnungsbasis für die Mehrleistungslöhne höher w i r d . B e i gleichem Grad der Normübererfüllung
steigt dadurch der M e h r l e i s t u n g s -
lohn. Die Grundlöhne sind jedoch noch keine neuen T a r i f l ö h n e . A l s B e r e c h nungsbasis für die Lohnsteuern sowie die A u s g l e i c h s z a h l u n g e n
und Z u -
schläge behalten die alten Tariflöhne ihre G ü l t i g k e i t . Eine weitere Grundlinie der Lohnpolitik w a r die weitere Erhöhung staatlichen Mindestlohnes. Der Mindestlohn wurde 1971 auf 3 5 0 , — 1976 n o c h m a l s auf 4 0 0 , —
M erhöht, wobei die jeweils angrenzenden
ren Einkommen angehoben wurden. Gleichzeitig wurden in diesem
des
M und unte-
Zusammen-
hang die unteren Lohngruppen 1 und 2 abgeschafft. 12 +
E. Honecker, Bericht des ZK der SED an den VIII. Parteitag der SED, i m Protokoll der Verhandlungen des V I I I . Parteitages, Berlin 1971, S. 61. Vgl. Tabelle 4, im Tabellenanhang, S. 198. 183
Anfang der 70er Jahre wurde die Anwendung der neuen Grundlöhne in 42 Betrieben zur Sammlung weiterer Erfahrungen erprobt. Im I. Quartal 1975 traten durch die verechiedenen lohnpolitiechen Maßnahmen für etwa eine halbe Million Beschäftigte Lohnerhöhungen um 5 0 , — bis 1 0 0 , — M in Kraft. Im Zeitraum von 1976 bis 1981 wurden die neuen Grundlöhne in breiterem Maßstab - etwa für eine viertel Million von Produktionsarbeitern eingeführt. In diesem Zusammenhang wurden in den entsprechenden Betrieben schrittweise die Gehälter der Meister, Hoch- und Fachschulkeder in Abhängigkeit von den wachsenden Leistungen erhöht, wodurch das gemeinsame Interesse aller Werktätigen an der Leistungssteigerung in der Produktion gefördert wurde. Im Jahre 1986 wurden für weitere 1,4 Millionen Werktätige leistungsorientierte Lohnmaßnahmen wirksam. Auch in der Prämiengestaltung gab es Anfang der 70er Jahre eine wesentliche Veränderung. Im Jahre 1972 wurde eine neue Prämienordnung 1 ^ beschlossen, deren Gültigkeit sich bis 1982 erstreckte. Damit wurden ungerechtfertigte Differenzierungen zwischen den Betrieben abgebaut, insbesondere die Benachteiligung der Betriebe mit angespannten Plänen, die nur noch geringe Möglichkeiten hatten, ihren Prämienfonds zu erhöhen. Im Jahre 1980 wurde erstmals in allen nicht haushaltsgeplanten Betrieben eine Jahresendprämie gezahlt. Eine neue Prämienordnung 1 * für Betriebe mit wirtschaftlicher Rechnungsführung trat im Januar 1983 in Kraft. Für die Werktätigen wurde ein bestimmter Grundbetrag eingeführt, der nicht von der Ober- oder Untererfüllung betrieblicher Leistungskennziffern abhängig ist. Zusätzlich zum Grundbetrag können die Betriebe weitere Prämienmittel bis zu 2 0 0 , — M je Werktätigen bilden, wenn bestimmte Planziele bei der Planausarbeitung bzw. Plandurchführung überboten bzw. übererfüllt werden. Im Ergebnis der Lohn- und Prämienentwicklung erhöhte sich das durchschnittliche monatliche Arbeitseinkommen der vollbeschäftigten Arbeiter und Angestsllten in den vergangenen fünfzehn Jahren wie folgt« 1 5 1970 - 7 5 5 . — M, 1985 - 1.130,-- M, Zuwachs absolut 85/70 - 3 7 5 , — M. Der Zuwachs des monatlichen Durchschnittslohnes schwankte seit 19?0 von Jahr zu Jahr und war im Jahre 1981 mit 1 5 , — M am niedrigsten und mit 4 0 , — M im Jahre 1986 am höchsten. Die konsequente Durchsetzung des Leistungsprinzips durch die Lohnund Prämienpolitik bleibt auch zukünftig eine ständige Aufgabe. Zeitweilig immer wieder neu entstehende Disproportionen können bei stabilen Preisen für Konsumgüter und Dienstleistungen nur im Rahmen des volks13
14 15 184
Vgl. Verordnung über die Planung, Bildung und Verwendung des Prämienfonds und des Kultur- und Sozialfonds für volkseigene Betriebe im Jahr 1972 vom 12. Januar 1972, ins Gesetzblatt der DDR, Teil» II, Nr. 5, 1. Februar 1972, S. 49. Vgl. Verordnung über die Planung, Bildung und Verwendung des Prämienfonds für volkseigene Betriebe vom 9. September 1982, ins Gesetzblatt der DDR, Teil I, Nr. 34, 27. September 1982, S. 595. Statistisches Jahrbuch der DDR 1987, Berlin 1987, S. 51.
wirtschaftlich möglichen realen Zuwachses der A r b e i t s e i n k o m m e n siert werden. A u s diesem Grunde wird in der Direktive zum
reali-
Fünfjahrplan
1986 bis 1 9 9 0 1 6 hervorgehoben, daß auch künftig das bewährte
Prinzip
verwirklicht wird, daß jede Lohnerhöhung durch höhere Leistungen
begrün-
det sein muß. In diesem Zusammenhang wird ferner betont, daß sich "die leistungsorientierte Lohnpolitik in Gestalt von P r o d u k t i v l ö h n e n in V e r bindung mit der wissenschaftlichen A r b e i t s o r g a n i s a t i o n als w i r k s a m s t e Form der Anwendung des Leistungsprinzips" erwiesen hat. Wesentliche Bedeutung in der Sozialpolitik hatte in den 7 0 e r Oahren im Rahmen des starken Zuwachses der Nettogeldeinnahmen der B e v ö l k e r u n g die Erhöhung der Geldeinnahmen aus gesellschaftlichen Fonds,
besonders
in Form von Erhöhung der Renten und der fianziellen Zuwendungen für Familien mit Kindern. In den 70er Jahren wurden mehrere Rentenerhöhungen d u r c h g e f ü h r t . Im Oanuar 1971 wurden die Renten für 2,3 Millionen B ü r g e r angehoben, die freiwillige Zusatzrentenversicherung
(FZR) der Werktätigen
verbessert
und die Leistungen der Sozialversicherung im Krankheitsfalle
erweitert.
Im September 1972 wurden für annähernd 3,4 M i l l i o n e n B ü r g e r die R e n ten sowie die Sozialfürsorgesätze erhöht. V o r dem 1. Ouli 1968
festge-
setzte Renten wurden nach den Grundsätzen des neuen R e n t e n r e c h t s rechnet bzw. prozentual
umge-
angehoben.
Im Dezember 1976 wurden abermals die Renten für 3,3 Millionen
Bürger
erhöht. Die Mindestrenten wurden in A b h ä n g i g k e i t von der A n z a h l der A r beitsjahre für A l t e r s - und Invalidenrentner angehoben. Ferner
stiegen
die Ehegattenzuschläge und auch die Unterstützungssätze der S o z i a l f ü r sorge für alleinstehende
Bürger.
Die nächste Rentenerhöhung erfolgte im D e z e m b e r 1984. D a b e i kamen über 2,2 Millionen Rentner in den G e n u ß einer um monatlich 3 0 , —
M hö-
heren Rente. Für Frauen, die drei und mehr Kinder geboren haben, wurden weitere differenzierte Rentenerhöhungen
wirksam.
Im Ergebnis der mehrfachen Rentenerhöhungen sind in den vergangenen 17 fünfzehn Oahren die Altersrenten wie folgt gestiegen: (in Mark) 1970 Altersrente Altersrente plus FZR
1980
1985
Zuwachs absolut 85/70
85/80
199
321
377
178
56
-
395
471
-
76
Die Entwicklung der Renten zeigt, daß es notwendig war, in mehr oder weniger großen Zeitabständen Rentenerhöhungen durchzuführen, um eine ständige Angleichung der Renten an das wachsende allgemeine
Lebensni-
veau zu erreichen. Vielfach wurden in der DDR Rentenerhöhungen zu B e ginn eines Fünfjahrplanes durchgeführt. Im Ergebnis der R e n t e n e r h ö h u n gen konnte erreicht werden, daß sich das V e r h ä l t n i s der d u r c h s c h n i t t l i 16 Vgl. Direktive des XI. Parteitages der SED zum Fünfjahrplan für die Entwicklung der Volkswirtschaft der D D R in den Oahren 1986 - 1990, ins Neues Deutschland vom 23. A p r i l 1986, S. 8. 17 Vgl. Statistische Oahrbücher der DDR von 1971, 1981, 1986, B e r l i n 1971, 1981, 1986.
185
chen Altersrente zu den Pro-Kopf-Nettoelnkommen
der Arbeiter- und A n g e -
stellten-Haushalte zugunsten der Renten veränderte: Tabelle 3t Entwicklung des A n t e i l s der Renteneinkommen am 18 der A r b e i t e r und Angestellten pro Kopf Jahr
Haushaltsnettoeinkommen
Haushalts-
jü Haushalts-
0 Haushalts-
Alters-
nettoein-
größe
nettoeinkom-
rente
Anteil
men pro Kopf
nahmen pro Monat 1.031,--
2,97
1974
1.253,--
3,02
1980
1.490,--
2,91
1985
1.746,--
2,87
1970
347,—
199.--
57,3
415,--
256,—
61,7
512,--
321,—
62,7
608,—
377,—
62,0
Rechnet man zur Altersrente noch die FZ-Rente dazu, dann erhöht sich diessr A n t e i l im Jahre 1980 auf 77,5 Prozent, im Jahre 1985 betrug der Anteil 77,1 Prozent. A u s diessr Tabelle geht hervor, daß zur A n g l e i chung der Renten an das allgsmsins Lebensniveau der A r b e i t e r - und A n g e stellten-Haushalte in mehr oder «veniger großen Zeitabschnitten maßnahmen notwendig
Renten-
sind«
Bei der konkreten Festlegung der Rentenhöhe für die einzelnen
Bürger
spielt entsprechend den gültigen rechtlichen Regelungen die Zugehörigkeit zu einer bestimmtsn Berufsgruppe, die Höhe des früheren
persönli-
chen Arbeitseinkommens, die Dauer der Arbeitsjahre und die Zugehörigkeit zur FZR eine wesentliche
Rolle.
Die häufigen Rentenerhöhungen besonders zu Beginn der 70er Jahre stellen auch stets neue Anforderungen an die Weiterentwicklung der Sozialversicherung. "Die für die D D R typische Verbindung von Pflicht- und freiwilliger Sozialversicherung
(seit 1971 - die Autoren) ist eine den
hier gegebenen Verhältnissen entsprechende schöpferische A n w e n d u n g der Grundmethode der Bildung und Verteilung von Sozialversicherungsfonds Sozialismus und birgt alle Entwicklungsmöglichkeiten
im
in sich, um die
Sozialversicherung ständig den Erfordernissen und den Möglichkeiten der weiteren Gestaltung der entwickelten sozialistischen 19 in der DDR anzupassen."
bei
Geeellechaft
Eine wesentliche Rolle spielte seit Beginn der 70er Jahre auch die Erhöhung der Geldeinnahmen der Familien mit Kindern. Im einzelnen waren es folgende einkommenswirksame sozialpolitische
Maßnahmen:
- Erstmalig wurde im April 1972 der zinslose Kredit für junge Ehepaare in Höhe von 5.000,-- M eingeführt. Damals w a r dis Kreditgewährung noch an eine Einkommensgrenze von 1 . 4 0 0 , —
M und an eine Altersgrenze
der Eheschließenden von sechsundzwanzig Jahren gebunden. Der zinslose 18 19
1R6
Statistisches Jahrbuch der DDR 1987, a.a.O., S. 278. Vgl. Sozialpolitik, (Hrsg.) G . Manz, G. Winkler, Berlin 1985, S.
226.
Kredit hatte eine Tllgungsfriet von acht Oahren, und die Rückzahlung wurde in Abhängigkeit von der Zahl der Kinder teilweise e r l a s s e n . Im September 1981 wurde die Einkommensgrenze aufgehoben und die
Inanspruch-
nahme auch bei einer Zweitehe ermöglicht, sofern er noch-nicht
während
der ersten Ehe beansprucht wurde» Im M a l 1986 wurde die A l t e r s g r e n z e für die Eheschließenden von sechsundzwanzig auf dreißig Dahre setzt. Die Kreditsumme wurde von 5 . 0 0 0 , —
heraufge-
auf 7 . 0 0 0 , — M erhöht und die
Tilgungsfrist auf elf Jahre verlängert. B e i Geburt von Kindern sich die zu tilgende Kreditsumme beim ersten Kind um 1 . 0 0 0 , — ten Kind um 1 . 5 0 0 , —
und beim dritten Kind um 2 . 5 0 0 , —
reduziert beim zwei-
M.
- Die Frau erhält bei Geburt jedes Kindes seit A p r i l 1972 eine e i n malige Beihilfe von 1 . 0 0 0 , — M. Die staatliche Geburtenbeihilfe 1950 geetaffelt nach der Ordnungszahl der Geburt (von 5 0 , —
wurde
M beim e r -
sten und 5 0 0 , — M beim fünften Kind) eingeführt und 1958 erhöht (in der Spanne von 5 0 0 , —
bis 1 . 0 0 0 , —
M).
- Seit M a i 1987 beträgt das staatliche Kindergeld für d a s erste Kind 5 0 , — M, für das zweite Kind 1 0 0 , — tere Kind 1 5 0 , —
M und für d a s dritte und j e d e s w e i -
M . D a s staatliche Kindergeld w a r 1950, 1958, 1967 und
1969 mehrmals erhöht worden und seit 1970 besonders im Jahre 1 9 8 1 . In diesem Oahr wurde für jedes dritte und weitere Kind ein Kindergeld von 1 0 0 , — M festgelegt. D u r c h die abgestufte Gewährung des K i n d e r g e l d e s nach der Zahl der Kinder sollen vor allem die Differenzierungen haltsnettoeinkommen abgebaut werden, die sich nicht aus dem
im H a u s -
unterschied-
lichen Arbeitseinkommen in Abhängigkeit von der Arbeitsleistung
erge-
ben, sondern aus der unterschiedlichen Zahl der in der Familie
lebenden
Kinder. - Zu den einkommenswirksamen
sozialpolitischen Maßnahmen
für Fami-
lien mit Kindern sind auch die bezahlten Freistellungen der M ü t t e r
sechs
Wochen vor der Geburt und zwanzig Wochen nach der Geburt, die monatliche Mütterunterstützung bei Inanspruchnahme einer Freistellung w ä h r e n d ersten Lebensjahres des Kindes, die A r b e i t s z e i t v e r k ü r z u n g e n
des
und der Z u -
satzurlaub für berufstätige Mütter mit zwei bzw. drei und mehr Kindern ohne Lohnminderung, die Regelungen im Krankheitsfall des Kindes
sowie
die Leistungen im Zusammenhang mit der A l t e r s r e n t e der Mutter zu zählen» Diese zur Zeit gültigen Regelungen wurden systematisch seit Bestehen der DDR geschaffen. Im April 1972 wurde der S c h w a n g e r s c h a f t s - und W o chenurlaub von vierzehn auf achtzehn Wochen verlängert und im M a i 1976 erfolgte eine nochmalige Verlängerung auf sechsundzwanzig Wochen
bei
Zahlung des Nettoverdienstes sowie der Einführung des B a b y j a h r e s nach der Geburt des zweiten und weiterer Kinder. 20
20
Vgl. Gemeinsamer Beschluß des ZK der SED, des B u n d e s v o r s t a n d e s des FDGB und des Ministerrates der DDR über sozialpolitische Maßnahmen in Durchführung der auf dem VIII. Parteitag beschlossenen H a u p t a u f gabe des Fünfjahrplanes, in: N e u e s Deutschland vom 28. A p r i l 1972, S. 3; vgl. Gemeinsamer Beschluß des ZK der SED, des B u n d e s v o r s t a n des des FDGB und des Ministerrates über die weitere planmäßige V e r besserung der A r b e i t s - und Lebensbedingungen der W e r k t ä t i g e n im Zeitraum 1976 - 1980, ins Neues Deutschland vom 27. Mai 1976. 187
Insbesondere die sozialpolitischen Maßnahmen im Oahre 1976 trugen dazu bei, das zeitweilige Geburtentief vom Oahre 1974 wieder auszugleichen. Die sozialpolitischen Maßnahmen zur Geburtenförderung zeigen
besonders
in den ersten Jahren ihrer Einführung eine starke Wirkun'g; sie schwächt sich aber, wie auch internationale Erfahrungen zeigen, wieder a b . Zur Beibehaltung e i n e s geburtenfreundlichen sozialen Klimas und zur w e i t e ren Förderung der sozialen Sicherheit der Familien mit Kindern wurde im Mai 1981 neben der Erhöhung des Kindergeldes auch die einjährige
be-
zahlte Freistellung der Mütter bereits bei der Geburt des ersten Kindes ermöglicht. Auf dem V I I I . Parteitag der SED wurden auch Maßnahmen zur weiteren Verbesserung der Versorgung mit Konsumgütern und Dienstleistungen
als
besonders dringlich und wesentlich bezeichnet, weil die Lückenhaftigkeit und Unbeständigkeit auf diesem Gebiet von vielen Werktätigen zu Recht bemängelt wurde. Davon ausgehend wurde die Aufgabe gestellt,
"die
Produktion der Konsumgüterindustrie stärker zu entwickeln... In jedem B e trieb, in jedem Zweig ist zu prüfen, welcher Beitrag dazu geleistet 21 werden kann." Die Verwirklichung dieser Aufgabenstellung spiegelt sich in der starken Erhöhung des Einzelhandelsumsatzes pro Kopf der Bevölkerung Zeitraum von 1970 - 1985 wider. Dieser Entwicklung liegt eine chende Erhöhung der Nettogeldeinnahmen zugrunde, von denen gemäß etwa 80 Prozent über den Einzelhandelsumsatz
im
entsprs-
erfahrungs-
realisiert w e r d e n .
Der Einzelhandelsumsatz pro Kopf und Monat erhöhte sich im Zeitraum von 1955 - 1985 wie folgt: (in M a r k ) + Zuwachs
absolut
1955
1970
1985
70/55
85/70
147,—
313,--
567,--
166,—
254,—
Daraus geht hervor, daß der Einzelhandelsumsatz pro Kopf der B e v ö l k e rung im Zeitraum von 1970 - 1985 einen wesentlich größeren absoluten Zuwachs zu verzeichnen hatte als in den vorangegangenen fünfzehn fahren. Dabei konnte der Anteil der Industriewaren am Einzelhandelsumsatz von 44 Prozent im Oahre 1970 auf 50 Prozent im Oahre 1985 erhöht werden. Eine nach wie vor große Rolle im Zuwachs und im Anteil spielen auch im internationalen Vergleich die Nahrungs- und Genußmittel. Im Pro-KopfVerbrauch vieler Nahrungs- und Genußmittel konnten internationale zenwerte erreicht werden, so zum Beispiel beim Fleischverbrauch
Spit-
mit
97,0 kg im Oahre 1986. Damit wurde ernährungsphysiologisch bereits eine Sättigungsgrenze erreicht. Zukünftig erfordert dies vor allem eine höhere Veredlung der Nahrungsmittel und eine Erweiterung des A n g e b o t s von Obst und Gemüse. Bedenklich ist der erreichte Pro-Kopf-Verbrauch bei alkoholischen Getränken mit 10,5 Liter pro Kopf (100 Prozent Alkohol 21 + 188
gerechnet)
E. Honecker, Bericht des ZK an den VIII. Parteitag der SED, in: Protokoll der Verhandlungen des V I I I . Parteitages der SED, a.a.O., S. 64. Vgl. Tabelle 4, im Tabellenanhang, S. 198.
im Oahre 1986. Von genereller Bedeutung ist jedoch die noch
schnellere
Erweiterung des Industriewarenanteils am E i n z e l h a n d e l s u m s a t z durch ein attraktives Angebot an Konsumgütern. Eine wesentliche Rolle bei der Erreichung des hohen P r o - K o p f - V e r brauchs bei N a h r u n g s - und Genußmitteln spielten die Entwicklung d e r L a n d wirtschaft und Nahrungsgüterproduktion
und die B e i b e h a l t u n g d e r stabi-
len Preise für Nahrungsmittel des Grundbedarfs bei gleichzeitiger
Er-
weiterung des Angebots von Nahrungs- und Genußmitteln in mittleren höheren
und
Preisklassen.
Für den Nahrungs- und Genußmittelbereich entstanden 1976 D e l i k a t l ä den für die Versorgung der Bevölkerung mit Waren h ö c h s t e r Q u a l i t ä t . Im Oahre 1977 wurde das Netz der Delikatläden w e i t e r ausgebaut. D a m i t w u r de in jedem Kreis ein Angebot von Waren der höheren Preisklasse
ge-
schaffen. Im Oahre 1986 gab es eine weitere stärkere O r i e n t i e r u n g
auf
Delikaterzeugnisse. D e r Einzelhandelsumsatz bei Delikat stieg In diesem Oahr auf 9,6 Prozent. A u c h auf diesem hohen Verbrauchsniveau konnte nach 1970 stets eine stabile Versorgung mit Grundnahrungsmitteln gesichert werden, w a s gelegentliche Störungen in besonderen Situationen nicht a u s s c h l o ß . So gab es zum Beispiel im Oahre 1982, infolge der komplizierten B e d i n g u n g e n in der landwirtschaftlichen Produktion, Rhythmusstörungen bei der V e r s o r 22 gung mit Grundnahrungsmitteln, die aber kurzfristig behoben w u r d e n . Der Einzelhandelsumsatz pro Kopf und Monat stieg bei von 1 3 8 , — M im Oahre 1970 auf 2 8 2 , —
Industriewaren
M im Oahre 1985. G r u n d l a g e
für
den hohen Zuwachs der Industriewaren w a r die seit Anfang der 7 0 e r Oahre forcierte Konsumgüterproduktion in allen Bereichen der Industrie, in den Produktionsmitteln herstellenden B e t r i e b e n . Insbesondere die Nutzung des wissenschaftlich-technischen
auch
führte
Fortschritts zu einem G e -
nerationswechsel bei vielen technischen Konsumgütern. T r o t z der w a c h senden Warenbereitstellung von Industriewaren w a r es, wie aus den M i t teilungen der Staatlichen Zentralverwaltung
für Statistik
die Erfüllung der Volkswirtschaftspläne hervorgeht, in den
(SZS)
über
einzelnen
Oahren in unterschiedlichem Maße möglich, den wachsenden und immer differenzierter werdenden Bedarf an gefragten neuen technischen gütern, an Konsumgütern in allen Preisgruppen
Konsum-
(oberen, mittleren
und
unteren), an Ersatzteilen und tausend kleinen Dingen sowie an modisch attraktiven Erzeugnissen zu befriedigen. Zur besseren Versorgung mit Waren in den höheren Q u a l i t ä t s -
und
Preisgruppen trug der ab 1977 verstärkte A u s b a u des N e t z e s der Exquisitläden bei. Auch das seit Dezember 1973 weiter ausgebaute N e t z der Intershopläden sowie die A n - und V e r k a u f s - G e s c h ä f t e wurden für die Bevölkerung zu einer zusätzlichen
Einkaufsquelle.
Wesentlich zur Verbesserung der V e r s o r g u n g mit Konsumgütern 22
diente
Vgl. Mitteilungen der SZS über die Durchführung des V o l k s w i r t schaftsplanes 1982, S . 5.
189
die im Oahre 1979 erfolgte Gründung des Kombinats Haushaltsgeräte
Karl-
Marx-Stadt. D a s Kombinat ist mit 26.000 Beschäftigten der größte Hersteller von Haushalts- und Wirtschaftswaren mit einem Viertel des B i n nenhandelsumsatzes dieser Warengruppe. O a s Sortiment umfaßt H a u s h a l t s großgeräte, thermische Wasseraufbereitungsgeräte,
Wirtschaftswaren,
Haushaltskühlschränke, Gefrierschränke, Waschmaschinen und Waschvollautomaten. In den ¿Jahren 1982 und 1983 kam es zu einem leichten absoluten gang beim Einzelhandelsumsatz von
Rück-
Industriewaren.
Im November 1983 wurde auf dem 7. Plenum des Z K der SED als Leitlinie fixiert, daß bis 1985 5 Prozent der Produktion der Produktionsmittel herstellenden Kombinate auf Konsumgüter für die Bevölkerung entfal23 len sollen. Im Zeitraum von 1983 bis 1986 nahm der Einzelumsatz bei Industriewaren wieder stark zu, auch im Verhältnis zum Einzelhandelsumsatz der Nahrungs- und Genußmittel. Im Oahre 1986 überschritt der Einzelhandelsumsatz bei Industriewaren erstmalig die 50-Prozent-Grenze, eine Zielstellung, die ursprünglich schon 1980 erreicht werden Im Ergebnis des insgesamt starken A n s t i e g s der
sollte.
Einzelhandelsumsätze
bei Industriewaren hat sich der Ausstattungebestand Je hundert 24 Haushalte der Bevölkerung im Zeitraum 1970 bis 1985 wesentlich erhöht. Besonders ausgeprägt ist das bei PKW. D e r Ausstattungsbestand
pro
hundert Haushalte stieg von 15,6 Prozent im Oahre 1970 auf 4-8,2 Prozent im Oahre 1985. Daraus läßt sich ein absoluter Ausstattungsbestand
von
rund 3,3 Millionen PKW in den Haushalten berechnen. Dieser hohe A u s s t a t tungsbestand wurde mit einer jährlichen Warenbereitstellung von 105,7 Tausend PKW 1970 und 149,4 Tausend P K W im Oahre 1985 erreicht, wobei die Warenbereitstellung in den einzelnen Oahren stark schwankte und im Oahre 1982 zwischenzeitlich auf 116,8 Tausend zurückgefallen war. Dieser relativ hohe Bestand an PKW im Verhältnis zur jährlichen
Warenbe-
reitstellung führt zu langen Bestellzeiten, einer langen Nutzungsdauer mit einem entsprechend hohen Ersatzteilbedarf und zu überhöhten G e brauchtwagenpreisen. Bei P K W wurden in den 70er Oahren die im Detail Modelle des Trabant und Wartburg angeboten. Die
weiterentwickelten
Sortimentserweiterung
bei PKW erfolgte besonders seit Bsginn bis Ende der 70er Oahre durch Import-PKW) Polski-Fiat, Moskwitsch, Saporoshez, Shiguli/Lada,
Skoda,
Dacia, Volkswagen und anderen. Mit dem wachsenden Ausstattungsbestand an P K W stieg auch der V e r brauch an Motorbenzin von 1975 bis 1985 etwa um das Doppelte. Die bedeutende Erhöhung des Ausstattungsbestandes an PKW hatte auch wesentliche Veränderungen im Freizeitverhalten, besonders in der N a h e r holung am Wochenende und bei der Urlaubsgestaltung zur Folge. Nicht zu23 24
190
V g l . Neues Deutschland vom 26./27. November 1983, S. 4 . Vgl. Statistisches Oahrbuch der DDR 1987, a.a.O., S. 283.
letzt darauf dürfte es zurückzuführen sein, daß die Zahl der Urlauber im Ostseebezirk von 1970 bis 1986 auf das l,8fache und der Bedarf nach Reisen mit dem eigenen PKW ins Ausland gestiegen
ist.
Im Oahre 1970 waren fast drei Viertel der Haushalte mit Fernsehern ausgestattet, im Jahre 1985 waren es bereits 117,6 Fernseher pro hundert Haushalte. 1970 wurden zunehmend Farbfernseher gekauft. Ihre Zahl erhöhte sich zunächst langsam von 0,2 Prozent der Haushalte im Oahre 1970 auf 16,8 Prozent im Oahre 1980. Bis zum Oahre 1985 wurde ein Ausstattungsbestand von 38,4 Prozent der Haushalte erzielt. Im Oahre 1976 erreichte die Warenbereitstellung fernsehempfängern
für den Binnenhandel an Schwarzweiß-
(S/W-) ihren absoluten Höhepunkt und fällt seit die-
ser Zeit stark ab. Seit dem Oahre 1980 ist sie bei
Farbfernsehempfängern
größer als bei S/W-Fernsehempfängern und erreichte 1985 71,6 Prozent. Mit Haushaltskälteschränken und -Waschmaschinen, also langlebigen Konsumgütern, die besonders der Erleichterung der Hausarbeit dienen, waren 1970 bereits über die Hälfte der Haushalte ausgestattet und im Oahre 1985 wurde die Ausstattung aller Haushalte erreicht;
Unterschie-
de bestehen im technischen Niveau der Geräteausstattung. Bei Haushaltskälteschränken setzte nach dem Oahre 1970 mit zunächst 0,5 Prozent der Haushalte die ergänzende Ausstattung mit Gefrierschränken ein. Diese stieg bis 1980 auf 12,5 Prozent, und 1985 wurden 28,7 Prozent erreicht, 1986 waren es bereits 33,4 Prozent. In diesem Oahr konnte eine Warenbereitstellung bei Gefrierschränken von 52,6 Prozent der Haushaltskälteschränke insgesamt] das heißt ein Bereitstellungsverhältnis von 1 : 1 erreicht werden. Mit Haushaltswaschmaschinen war 1970 über die Hälfte der Haushalte ausgestattet, 1985 wurde im Prinzip die Ausstattung aller Haushalte erreicht. Die Warenbereitstellung hat sich auf einem gleichbleibenden veau von 300 bis 400 Tausend Stück mit den Schwankungen
Ni-
eingependelt,
wie sie bei den wirksamwerdenden Zyklen der Ersatzbeschaffung bei langlebigen Konsumgütern in Verbindung mit dem Angebot
weiterentwickelter
Modelle üblich sind. Der Anteil an vollautomatischen Waschmaschinen
hat
sich bei der Warenbereitstellung ständig erhöht. Besonders Ende der 70er Oahre konnten weitere neue und weiterentwikkelte Erzeugnisse, die den höheren Ansprüchen an den Gebrauchswert
und
das technische Niveau besser gerecht werden, angeboten werden. Dazu gehören unter anderem: Kassettenrekorder, Kompaktküchenmaschinen, und Teeautomaten, Spiegelreflexkameras, Schlagbohrmaschinen,
Kaffee-
Quarzuhren,
Bodenstaubsauger. Der starke Zuwachs des wertmäßigen Einzelhandelsumsatzes bei Schuhen und Textil-Bekleidung im Zeitraum 1970 bis 1985 ist in starkem Maße auf einen größeren Umsatz an Waren in mittleren und oberen Preisgruppen zurückzuführen (vglo Tabelle 4, Tabellenanhang, S.19S). Wie aus der Warenbereitstellung an Straßenschuhen und wichtigen Textil- und Bekleidungs25 erzeugnissen im gleichen Zeitraum hervorgeht , ist der mengenmäßige 25 Vgl. Statistisches Oahrbuch der DDR 1987, a.a.O., S. 233. 191
Umsatz oft konstant geblieben bzw. gesunken. In der Direktive und im Gesetz zum Fünfjahrplan ist bis 1990 vorgesehen, die Produktion weiterentwickelter Konsumgüter in etwa auf das 26 l,5fache z u steigern. Dabei steht besonders die Aufgabe, die Schlüsseltechnologien
für die Konsumgüterproduktion zu nutzen. Besonders ge-
steigert werden soll die Konsumgüterproduktion nik/Elektronik,
im Bereich
Elektrotech-
insbesondere durch Nutzung der Mikroelektronik
Vorbereitung einer neuen Generation von Erzeugnissen Digital-Plattenspielern,
Kleincomputern,
für die
(Videorekordern,
Kameras).
Mit der wachsenden Ausstattung der Haushalte mit Konsumgütern
stieg
auch der Bedarf an Dienstleistungen und Reparaturen für die Bevölkerung (Kraftfahrzeugreparaturen,
Reparaturleistungen
für Möbel und Polsterwa-
ren, Schirmreparaturen, Reparaturen elektrischer Haushaltsgeräte,
che-
mische Reinigungs- und Wäschereileistungen, Schuhmacher-, Friseur- und Fotoleistungen). Im Oanuar 1976 erfolgte die Schlüsselübergabe
für das
erste Berliner "Haus der Dienste", das als Prototyp für Neubaugebiete in der gesamten DDR diente. D a s Netz der Annahmestellen wurde
systema-
tisch erweitert. Ein überhöhter Bedarf bei Dienstleistungen trat dann auf, wenn die Warenbereitstellung bzw. Aussonderungsrate
immer
veralte-
ter Konsumgüter zu niedrig war (zum Beispiel PKW) bzw. wenn in größerem Umfange Waren der mittleren oder oberen Preisgruppe bereitgestellt den (zum Beispiel
wur-
Schuhe).
Ein A u s d r u c k des gestiegenen Lebensniveaus ist auch die Tatsache, daß die Sparguthaben pro Kopf der Bevölkerung von durchschnittlich 3,2 Tausend M im Oahre 1970 auf 7,5 Tausend M im Oahre 1985 bei
unterschied-
licher Verteilung auf die einzelnen Einkommensgruppen der Bevölkerung gestiegen sind. Darin spiegeln sich unterschiedliche Motive wider: persönliche Vorsorge für das Alter, Sparen für die Anschaffung ger Konsumgüter,
langfristi-
teilweise aber auch zeitweilig nicht realisierbare
Ein-
kommen. Diese Sparguthaben ermöglichten zum Beispiel im Jahre 1985 ein durchschnittliches jährliches Zinseinkommen pro Kopf von über 2 4 0 , —
M.
Eine außergewöhnliche Steigerung weisen von 1971 - 1985 die Zuwendungen für die Sicherung stabiler Preise für Waren des G r u n d b e d a r f s und Tarife für die Bevölkerung auf. Sie sind in diesem Zeitraum von 41,6 M auf 203,4 M pro Kopf und Monat gestiegen. Auf dem V I I I . Parteitag der SED wurde beschlossen,"daß die Versorgung der Bevölkerung auf der Grund27 läge stabiler Einzelhandelsverkaufspreise erfolgt". Im Fünfjahrplan 1971 bis 1975 wurde daher festgelegt, daß keine Verbraucherpreise
für Konsum-
güter erhöht werden dürfen. So wurden zum Beispiel 1975 auf 1 0 0 , —
M
Nahrungsmittel, die durch die Bevölkerung gekauft wurden, 26,90 M Zuwendungen aus gesellschaftlichen Fonds bereitgestellt,
26 27
192
um die bestehenden
Vgl. Direktive des X I . Parteitages der SED zum Fünfjahrplan für die Entwicklung der Volkswirtschaft der DDR in den Jahren 1986 - 1990, in: a.a.O., S. 6. Dokumente des VIII. Parteitages der SED, Berlin 1973, S. 25.
niedrigen Verbraucherpreise aufrechterhalten zu k ö n n e n . 2 8 A u c h im Z u sammenhang mit der Veränderung der Industriepreiee
für Energie,
Roh-
stoffe, Materialien und andere ausgewählte Erzeugnisse im Oahre
1976
wurde festgelegt, daß dabei keine Auswirkungen auf die V e r b r a u c h e r p r e i 29 se der Bevölkerung entstehen. Auch 1977 wurde darauf orientiert, im Interesse einer Atmosphäre der sozialen Sicherheit "die V e r b r a u c h e r p r e i se für unsere Bevölkerung unabhängig von der Preisentwicklung auf dem Weltmarkt zu gestalten. D e r nicht unbeträchtliche Einfluß
steigender
Weltmarktpreise auf unsere Bilanzen muß letzten Endes durch höhere gesamtwirtschaftliche Effektivität ausgeglichen
werden".^
Auch im Zusammenhang mit den ab 1986 geltenden neuen A g r a r p r e i s e n wurde festgelegt, daß sich daraus keine Auswirkungen auf die V e r b r a u cherpreise für die Bevölkerung ergeben dürfen. Allein im Zeitraum von 1985 bis 1986 erhöhten sich die Zuwendungen für die Sicherung Verbraucherpreise von 203,4 M auf 2 4 0 , —
stabiler
M, woran die A g r a r p r e i s e
einen
wesentlichen A n t e i l haben. Die Direktive zum Fünfjahrplan von 1986 - 1990 legt generell
fest,
daß in diesem Zeitraum die Politik der stabilen Verbraucherpreise 31 Waren des Grundbedarfs planmäßig durchzuführen ist.
für
Bisher wurde nur die Entwicklung der Geldeinnahmen der B e v ö l k e r u n g und des bezahlten Verbrauchs an Konsumgütern und Dienstleistungen
dar-
gestellt. Teil des Realeinkommens der Bevölkerung ist auch der unbezahlte Verbrauch, der in Form der ganz oder teilweise
unentgeltlichen
Inanspruchnahme der Leistungen der Wohnungswirtschaft
und der sozial-
kulturellen Leistungen
(Bildungswesen, Gesundheits- und Sozialwesen,
Kultur, Sport und Erholung)
entsteht.
Wie die Entwicklung der Ausgaben der sozial-kulturellen B e r e i c h e pro Monat und pro Kopf der Bevölkerung im Zeitraum von 1950 bis 1986 zeigt (vgl.Tabelle 6),
ist eine starke A u s g a b e n d y n a m i k
festzustellen. D a s zei-
gen die hohen finanziellen Leistungen des Staates für die Sicherung sozialen Grundrechte der Bürger; sie haben sich in den meisten
der
Fällen
verzehnfacht. In der Ausgabenentwicklung spiegelt sich jedoch nicht nur die Erhöhung des quantitativen Leistungsniveaus w i d e r - dieses ist weise konstant geblieben bzw. zurückgegangen
teil-
sondern auch die A u s w e i -
tung der Leistungen (zum Beispiel Schaffung von Kindereinrichtungen,
von
Intensivstationen in Krankenhäusern, der Verlängerung der Schulpflicht) und die Erhöhung der Qualität der Leistungen 28 29 30
31
(zum Beispiel A u s b i l d u n g s -
Vgl. E. Honecker, Zur Durchführung der Parteiwahlen 1975/76, 15. Tagung des ZK der SED vom 2./3. Oktober 1975, Berlin 1975, S. 23. Vgl. G . Grüneberg, Bericht des Politbüros an die 14. Tagung des ZK der SED vom 5. Ouni 1975, Berlin 1975, S. 4 5 . E. Honecker, A u s dem Referat auf der Beratung des S e k r e t a r i a t s des ZK mit den 1. Kreissekretären der Kreisleitungen vom 25. Februar 1977, in: E. Honecker, Reden und Aufsätze, B d . 5, Berlin 1978, S.
228.
Vgl. Direktive des X I . Parteitages der SED zum Fünfjahrplan für die Entwicklung der Volkswirtschaft der D D R in den Jahren 1986 - 1990, a.a.O., S. 8. 193
niveau) und des Betreuungsniveaus für die Nutzer (zum Beispiel Schulspeisung), die Verbesserung der A r b e i t s - und Lebensbedingungen der B e schäftigten in diesen Bereichen sowie die Erhöhung der Preise für M a terial, Energie und produktive Dienstleistungen. Mehr oder weniger proportional zu diesen Ausgaben entwickeln sich die Zuwendungen
(Ausgaben
minus Einnahmen von der Bevölkerung) bzw. der unbezahlte Verbrauch aus diesen Bereichen im Realeinkommen der Arbeiter- und A n g e s t e l l t e n h a u s halte. Der unbezahlte Verbrauch der Bevölkerung ist als Bestandteil der Bilanz der Realeinkommen der Arbeiter- und Angestelltenhaushalte 32 wiesen. Er entwickelte sich wie folgt:
ausge-
Unbezahlter Verbrauch pro Kopf der Bevölkerung (in Mark) Zuwachs absolut 1970
1985
93,—
243,—
1985/70 150,--
Dieser absolute Zuwachs des unbezahlten Verbrauchs pro Kopf der Bevölkerung ist einmal auf das in diesem Zeitraum realisierte programm sowie die Erweiterung bzw. Modernisierung und
Wohnungsbau-
Rekonstruktion
der Kapazitäten der sozial-kulturellen Einrichtungen und zum anderen auf die unmittelbaren Maßnahmen zur Verbesserung der Betreuung
sozial-kulturellen
zurückzuführen.
Wesentlichen A n t e i l an diesem Zuwachs des unbezahlten Verbrauchs in den A r b e i t e r - und Angestelltenhaushalten hatten die
unentgeltlichen
Leistungen für Wohnungsbau und - e r h a l t u n g . Diese sind von 1970 bis 1986 um das 6,9fache
gestiegen.33
In diesem Zeitraum wurden insgesamt 1,7 Millionen Wohnungen neu gebaut und 0,9 Millionen Wohnungen modernisiert. O e r Wohnungsbestand höhte sich dabei von 6,0 auf 6,9 Millionen
er-
Wohnungen.34
Durch diese Erweiterung des Wohnungsbestandes, den Ersatzneubau
(aus
volkswirtschaftlicher Sicht), die Modernisierung vorhandener Wohnungen ist infolge der niedrigen und stabilen Mieten der unbezahlte Verbrauch der Bevölkerung von Leistungen der Wohnungswirtschaft entsprechend gestiegen. Eine große Rolle im Wohnungsbau der 70er und 80er Oahre spielte die extensive Erweiterung, der A u f b a u ganzer Stadtgebiete. Eine wichtige Etappe bei der Realisierung des Wohnungsbauprogramms leitete der Politbürobeschluß über die weitere Ausgestaltung der Hauptstadt d e r DDR Berlin vom März 1976 e i n . Darin enthalten war auch die Festlegung für den Aufbau des Neubaugebietes Mahrzahn bis 1 9 8 5 . Der Beschluß orientierte auf beispielhafte Leistungen in Städtebau und A r c h i tektur und auf eine hohe Qualität der Wohnungen und der
Wohngebiete.
Im Juni 1976 erfolgte die Grundsteinlegung für das zweitgrößte Woh-
32 33 34 194
Vgl. Statistisches Jahrbuch der DDR 1987, a.a.O., S. 278. Vgl. ebenda. Vgl. ebenda, S. 168/170.
nungsbauvorhaben der DDR in Leipzig-Grünau und im Februar 1980 für ein neues Wohngebiet im Südosten Erfurts, um nur die wichtigsten zu nennen. Ergänzt wurden diese Maßnahmen des staatlichen W o h n u n g s b a u s
durch
gesetzliche Regelungen zum Eigenheimbau. Im Februar 1970 wurde vom M i nisterrat eine Verordnung zur Finanzierung von Eigenheimen die besondere Vergünstigungen
erlassen,
für kinderreiche Familien v o r s i e h t . Im
Ouni 1976 wurden weitere Maßnahmen zur Förderung des
genossenschaftli-
chen und privaten Wohnungsbaus auf dem Lande sowie zur Vorbereitung Durchführung des Eigenheimbaus überhaupt
und
beschlossen.
Bis 1990 soll die Wohnungsfrage als soziales Problem in der D D R gelöst werden. Dazu ist im Zeitraum von 1986 - 1990 der Neubau bzw. die Modernisierung von insgesamt einer Million Wohnungen v o r g e s e h e n . Die AWG ist mit cirka 4 2 - 4 5 Prozent und der Eigenheimbau mit 10 Prozent 35 am Wohnungsneubau beteiligt. Die unentgeltlichen Leistungen für Volksbildung und Kultur sind in einem A r b e i t e r - und Angestelltenhaushalt von 1970 bis 1986 um das 2,5fache gestiegen. Die Schülerzahl ist im gleichen Zeitraum von 2,7 M i l lionen auf 2,0 Millionen zurückgegangen und die Zahl der v o l l b e s c h ä f tigten Lehrkräfte hat von 137,9 Tausend auf 170,3 Tausend
zugenommen.^®
Das führte zu einer Verringerung der A n z a h l der Schüler für eine vollbeschäftigte Lehrkraft von 19,3 aut 12,0. A u c h die Zahl der Schüler je Klasse ist dadurch von 26,8 auf 19,9 zurückgegangen. Mit der V e r r i n g e rung der Klassenfrequenz wurden wichtige Voraussetzungen
für eine Er-
höhung der Qualität des Unterrichts geschaffen; gestiegen sind aber auch die Ausgaben pro Schüler. Im Bildungswesen wurden die materiellen und personellen
Bedingungen
für die Ausbildung ständig verbessert, so zum Beispiel durch die S c h a f fung von Unterrichtsräumen und Schulsporthallen. Im Jahre 1974 wurde das Fach "Produktive Arbeit" in den polytechnischen Oberschulen
einge-
führt. Im September 1976 traten verschiedene Verbesserungen im B e r e i c h der Volksbildung in Kraft: günstigere Regelungen für die A l t e r s v e r s o r g u n g , Senkung der wöchentlichen Pflichtstundenzahl. Im üahre 1984 nahmen 82 Prozent der Schüler am Schulessen und 71 Prozent an der T r i n k m i l c h v e r sorgung
teil.
Die Leistungen für die unentgeltliche gesundheitlich-soziale ung in A r b e i t e r - und Angestelltenhaushalten
Betreu-
sind von 1970 - 1986 um das
2,4fache gestiegen. In diesem Zeitraum ist die Bettenzahl in K r a n k e n häusern auf 89 Prozent gegenüber der von 1970 zurückgegangen; erhöht hat sich aber die Qualität der Betreuung unter anderem durch eine; Erhöhung der Zahl der Ärzte um das l,4fache. Erhöht hat sich auch die Zahl der Konsultationen. 35 36
Vgl. G e s e t z über den Fünfjahrplan für die Entwicklung der V o l k s wirtschaft der DDR 1986 bis 1990 vom 27. November 1986, in: N e u e s Deutschland vom 28. November 1986. Vgl. Statistisches Oahrbuch der D D R 1987, a.a.O., S. 296. 195
Wesentlich für die Verbesserung der gesundheitlichen Betreuung der B e völkerung ist die bedarfsgerechte Bereitstellung medizinischer A u s r ü stungen, Materialien und Medikamente. Wichtige Etappen bei der Verbesserung der gesundheitlichen
Betreuung
der Bevölkerung waren: Im Jahre 1972 wurden umfangreiche Maßnahmen zur Erweiterung der V o r sorge- und Reihenuntersuchungen, zum Ausbau des Gesundheitsschutzes Mütter, Kinder und Jugendliche und zur umfassenderen schen Betreuung der Werktätigen
für
arbeitsmedizini-
durchgeführt.
Im September 1973 wurde ein B e s c h l u ß über die weitere
Verbesserung
der medizinischen Betreuung der Bevölkerung und der A r b e i t s - und Lebensbedingungen der Mitarbeiter des Gesurdheits- und Sozialwesens
gefaßt,
in dem auch die Neueinrichtung von Polikliniken und Ambulatorien,
vor-
beugender Gesundheitsschutz, besonders für Frauen, und die medizinische Betreuung im höheren Lebensalter vorgesehen waren. Im Jahre 1976 war der Baubeginn für eine A n z a h l größerer Gesundheitseinrichtungen wie zum Beispiel der ersten Baustufe des Neubaus der C h a rité, des Bezirkskrankenhauses Karl-Marx-Stadt, der Poliklinik Magdeburg. Im Jahre 1978 trat die Verordnung über das Betriebsgesundheitswesen in Kraft, wodurch wesentliche Bestimmungen des Arbeitsgesetzbuches
ver-
wirklicht w u r d e n . Bis 1990 ist vorgesehen, insbesondere in Neubau- und schen Rekonstruktionsgebieten,
innerstädti-
die ambulante medizinische
Betreuung
durch Bereitstellung von 2700 ärztlichen und zahnärztlichen zen zu v e r b e e s e r n .
Arbeitsplät-
Die Rekonstruktion der Charité und anderer Kranken-
häuser soll abgeschlossen
werden.
Im Mittelpunkt steht die Erhöhung der Qualität und Effektivität Arbeit im Gesundheits- und Sozialwesen: der vorbeugende
der
Gesundheits-
schutz, die Verbesserung des Arbeitsschutzes sowie die Gewährleistung der ambulanten und stationären Grundbetreuung
für alle Bürger auf hohem
Niveau. Die Zuwendungen für die Erholung und die Befriedigung
geistig-kultu-
reller Bedürfnisse und die sportliche Betätigung sind von 1971 bis 1986 um das 3,2fache g e s t i e g e n . ^ Das war nur bei einigen kulturellen
Ein-
richtungen, so zum Beispiel bei Kultur- und Klubhäusern mit einem A n stieg der Besucher verbunden (um das 2,0fache), bei Theatern und Filmtheatern ist dagegen die Besucherzahl auf 79 bzw. 78 Prozent
zurückge-
gangen . In den 70er und 80er Jahren erfolgte die Errichtung bzw. Wiedererrichtung bedeutender Kulturbauten: der Palast der Republik (1976), das neue Gewandhaus Leipzig (1981), das Haus der Kultur Gera (1981), die Rekonstruktion des Deutschen Theaters (1983), der
Friedrichstadtpalast
in Berlin (1984), der Wiederaufbau des Schauspielhauses Berlin 37 196
Vgl. ebenda, S. 267.
(1984),
und der Semper-Oper Dresden (1985)« Bis 1990 ist vorgesehen«
die R e k o n -
struktion und den Wiederaufbau kulturhistorisch w e r t v o l l e r G e b ä u d e
und
Ensembles fortzusetzen sowie durch ausgewählte M o d e r n i s i e r u n g s - und R e konstruktionsmaßnahmen die vorhandene materiell-technische B a s i s der Kultur zu erhalten und schrittweise weiter
auszubauen.
Auch die Zahl der von den Gewerkschaften und Betrieben
angebotenen
Ferienreisen konnte erhöht werden: von 2,3 Millionen im Jahre 1970 auf 5,1 Millionen im Jahre 1986. Ein wesentlicher A u s g a n g s p u n k t
für diese
Entwicklung w a r der Beschluß des Bundesvorstandes des FDGB und des M i nisterrates vom M ä r z 1972, durch Neubau und Modernisierung von F e r i e n heimen sowie die Nutzung von Plätzen in Interhotels die Zahl der j ä h r lichen Erholungsreisen des FDGB wesentlich zu erhöhen. B i s 1990 sollen die Urlaubsreisen in Einrichtungen d e s Feriendienstes der G e w e r k s c h a f 38 ten und der Betriebe auf jährlich 5,2 Millionen Reisen erhöht w e r d e n . Die Entwicklung des Einkommens und des V e r b r a u c h s der Bevölkerung seit Gründung der D D R verlief insgesamt in einer gleichmäßig
ansteigen-
den Entwicklung, wobei der absolute Z u w a c h s im Zeitraum 1970 bis 1985 höher war als im Zeitraum von 1955 bis 1 9 7 0 . + Die unmittelbare W i r k u n g von Beschlüssen und sozialpolitischen Maßnahmen bzw. besonderer
ökono-
mischer Bedingungen in bestimmten Zeitabschnitten zeigen sich erst, wenn der absolute Zuwachs des Einkommens und des V e r b r a u c h s in den einzelnen Jahren gesondert ausgewiesen w i r d . + Im Verlauf dieser Kurve zeigen sich deutlich die Wirkungen der Beschlüsse und
sozialpolitischen
Maßnahmen auf den Einkommenszuwachs in den einzelnen Perioden während der 40jährigen Entwicklung der DDR. In den 50er und 60er Jahren war der Einkommenszuwachs sehr unterschiedlich, Mitte der 70er Jahre sehr a u s geglichen und nach einem leichten Rückgang zu Beginn der 80er Jahre ist bis zum Jahre 1986 wieder ein starker Anstieg festzustellen. In den 50er und 60er Jahren war das Jahr 1959 ein besonderer Höhepunkt und das Jahr 1962 (Produktionsaufgebot)
ein besonderer Tiefpunkt in der E i n k o m -
mensentwicklung. Im Ergebnis der sozialpolitischen Maßnahmen war in den 70er Jahren der Zuwachs der Nettogeldeinnahmen im Jahre 1973 und im J a h re 1977 besonders hoch. Dieser Rückblick über vierzig Jahre Entwicklung des Lebensniveaus der Bevölkerung macht deutlich, welche Erfolge
erzielt
wurden und welche Probleme bei der Weiterführung der Hauptaufgabe
bis
zum Jahre 2000 und darüber hinaus zu lösen sind. Es hat sich gezeigt, daß die Durchsetzung des Leistungsprinzips, die weitere A u s g e s t a l t u n g der sozialen Sicherheit, die ständige Erneuerung und Erweiterung Sortiments der Konsumgüterproduktion
des
sowie der weitere A u s b a u der sozia-
len Infrastruktur Aufgaben darstellen, die unter den sich immer
schnel-
ler verändernden technischen, ökonomischen und gesellschaftlichen dingungen qualitativ neue Anforderungen an ihre Lösung 38 + +
Be-
stellen.
Vgl. Gesetz über den Fünfjahrplan für die Entwicklung der V o l k s wirtschaft der D D R 1986 - 1990 vom 27. November 1986, in: a.a.O., S. 14. Vgl. Grafik 1, im Tabellenanhang, S. 201. Vgl. Grafik 2, im Tabellenanhang, S. 201. 197
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Graphik 2: Entwicklung der durchschnittlichen m o n a t l i c h e n P r o - K o p f Einkommen von 1949 - 1986
3b. f. Soziologie und Sozialpolitik
Gerlinde
1989
Petzoldt
Zeitverhalten in der DDR als Gegenstand wissenschaftlicher
Forschung
1. Vom Umgang mit der Zeit In der DDR wird gegenwärtig darüber reflektiert, welches
(übereinstim-
mende und differenzierte) Zeitregime und - b e w u ß t s e i n die Angehörigen der einzelnen Klassen, Schichten und sozial-demographischen Gruppen entwickeln müßten, um ihre Funktion in der Gesellschaft besser erfüllen zu können. W i s s e n s c h a f t l e r und Publizisten fragen danach, wie der Lebensrhythmus von Spitzenkräften in Wirtschaft und Wissenschaft sollte. Diskutiert wird auch, ob der gegenwärtige stabile
aussehen Lebensrhythmus
und die bestehenden Strukturen der Zeitverhältnisse den Anforderungen
ent-
sprechen, die die intensiv erweiterte Reproduktion an die arbeitenden Menschen stellt und stellen wird. Unduldsamkeit gegenüber Zeitverschwendung
in der Arbeit wie im Le-
ben außer der Arbeit, gegenüber mangelnder Arbeitsorganisation,
eigen-
mächtig veränderten Zeitplänen der Dienstleistungseinrichtungen,
Ver-
gleiche d e r eigenen zeitlichen Lebensbedingungen mit denen anderer, Freude am Tempo und Abwechslung zeugen davon, daß die
individuelle
Zeitkalkulation, das entwickelte Wertbewußtsein gegenüber der Zeit allgemein immer mehr geltend gemacht werden. Wenn im Ergebnis
soziologi-
scher Forschungen in der DDR hervorgehoben wird, daß "vor allem jene Bedürfnisse deutlicher (massenhafter, intensiver) hervortreten,
die
sich auf die unmittelbaren Entwicklungsbedingungen der Persönlichkeit" beziehen, so trifft das in besonderem Maße auf die Bedürfnisse im Umgang mit der Zeit zu. "Als Moment dieser Entwicklung ist eine verstärkte Sensibilität für den Wert
'Zeit' beobachtbar - eine Tendenz, die
einmündet in eine Intensivierung der individuellen Lebensweise, in das Bestreben, in einer Zeiteinheit möglichst viele Bedürfnisse zu befriedigen und ein Höchstmaß an Lebensgenuß zu erreichen."
Zugleich zeigt
sich eine Tendenz des "Absitzens" von Aufgaben, denen sich die Menschen nicht entziehen können, die aber für sie nicht bedeutsam sind. Die demokratische Forderung, Zeit effektiv nutzen zu können, auf Lebensverhältnisse,
reagiert auch
die den individuellen Bedürfnissen
chen, die die ja nicht zufälligen Zeitpläne der Menschen D a s Interesse am Umgang mit der Zeit war - in jeweils 1
widerspre-
durchkreuzen. spezifischer
R. Weidig, Soziologische Forschung in der DDR - eine Bilanz, Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 7/1986, S. 586.
202
in:
Form - von A n f a n g an eine der zentralen Fragen der A r b e i t e r b e w e g u n g . Seit dem Beginn sozialistiechen Gesellschaftsaufbaus ist sie ein Kardinalproblemj Höhere Produktivität ist effektivere Z e i t n u t z u n g . Mit dem Übergang zur intensiv erweiterten Reproduktion nehmen die v e r s c h i e d e n e n 2 Aspekte dieses Problems an Bedeutung zu. Es wird immer dringlicher, ein wissenschaftlich begründetes Konzept des Sozialismus über seine gesellschaftlich notwendigen Zeitverhältnisse zu entwerfen und d u r c h z u setzen, das die Reproduktion des gesamten gessllschaftlichen Lebens zum Inhalt hat. D a z u wäre es notwendig, den Horizont w i s s e n s c h a f t l i c h e r tersuchungen von Zeitverhältnissen zu erweitern. V o r allem die
Un-
sozial
vermittelte individuelle Lebenstetigkeit ist einzubeziehen, wenn davon ausgegangen wird, daß die "Gesellschaft als historisch-konkretes von Verhältnissen... fortlaufend im Verhalten der Individuen ziert w e r d e n " 3
System
reprodu-
muß.
gesellschaftlicher Umgang mit der Zeit erschöpft sich nicht n u r darin, wie Zeit in der gesellschaftlich organisierten Produktion wird, sondern ist auch Resultat des Z e i t v e r h a l t e n s sozialer 4 Schäften, in denen sich individuelles Leben realisiert.
genutzt
tiemein-
Zwischen den
sich geschichtlich verändernden Reaktionsweisen und - p l a n e n im Umgang mit der Zeit besteht ein Zusammenhang, der dem Ganzen eine Richtung gibt, es als Lernprozeß und Resultat menschlicher Aktivität
erscheinen
läßt. A l s Korrelat zur A b f o l g e der Gesellschaftsformationen,
die l e t z t -
lich die Ursachen für den Wandel d e s Z e i t v e r h a l t e n s und seine beschreiben und in der alle historischen A b l ä u f e aufeinander
Richtung bezogen
sind, entfaltet sich "soziale Zeit" auch im individuellen
Zeitverhalten
und - b e w u ß t s e i n . Zeit wird zu einem "Orientierungsmittel"
in bezug
sich mit unterschiedlicher Qualität bewegender Systeme
auf
kosmischer,
weltgeschichtlicher oder individueller A r t . Sie wird zum "Mittel der Regulierung menschlichen Verhaltens und Empfindens"
mit einem
hohen
Symbolwert. Zeitverhalten ist so auch Ausdruck des sich wandelnden
Zeitverständ-
nisses. Darin eingeschlossen sind wertende Aspekte, mit denen die Menschen ihre Lebensweise steuern. Diese komplizierten Zusammenhänge Vorgänge werden bisher in der DDR, gemessen an den
und
gesellschaftlichen
Erfordernissen, nur unzureichend abgebildet, obwohl sie seit Beginn sozialistischen A u f b a u s in verschiedener Optik immer wieder
des
wissenschaft-
lich und politisch thematisiert wurden. Von Philosophen unseres Landes wurde die "kosmisch-physikalische Z e i t d i m e n s i o n " ^ bisher w e s e n t l i c h 2 3 4
5 6
in-
Vgl. H.-O. Beyer, "...darin löst sich schließlich alle Ö k o n o m i e auf", ins Einheit, 6/1987, S. 503-506. I. Dölling, Individuum und Kultur, Berlin 1986, S. 34. Unter Zeitverhalten werden deshalb die historisch entstandenen Reaktionsweisen unterschiedlich dimensionierter gesellschaftlicher Subjekte auf die Zwänge und Möglichkeiten zum Umgang mit der Zeit unter jeweils verschiedenen Produktionsverhältnissen verstanden. N. Elias, Über die Zeit, Frankfurt a. Main 1984, S. XLV. H. Hörz, Zeit in der philosophischen Diskussion, in: Deutsche Z e i t schrift für Philosophie, 3/1987, S. 200.
203
terislver untersucht als ihre "kulturelle Dimension", die "die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft, die Gestaltung der Zeit durch den Menechen unter konkret-historischen Bedingungen"^ erfaßt. Wirtschaftswissenschaftler haben sich vor allein den Zeitverhältnissen und Zeitstrukturen des ökonomisch bedingten gesellechaftlichen, arbeitsteiligen Reproduktionsprozesses zugewandt. Weniger wurde bisher untersucht, wie die individuellen Muster beschaffen sind, nach denen die Menschen heute ihre Lebenszeit etrukturieren, erleben und mit den geeellschaftlich vorgegebenen vermitteln. Unzureichend sind wir über die Historizität und Entwicklungstendenz diesee Prozesses informiert, ebenso über die Art und Weise, wis die Menschen die der Arbeit und der arbeitsfreien Zeit angehörenden Lebenebereiche miteinander vermitteln. Doch sind dies alles Vorgänge und Probleme, die, das zeigt schon eine oberflächliche Beobachtung des Lebens, Menschen in der DDR tagtäglich bewegen. 2. Kulturwissenschaftliches Interesse am Zeitverhalten Weil die marxistisch-leninietische Kulturwissenschaft sich vornehmlich mit den aneignenden individuellen Verhaltensweisen, mit den Lebensformen und der sozialen Qualität der Lebensbedingungen beschäftigt, mußte sie sich auch dem Umgang mit der Zeit zuwenden. Wurde doch immer deutlicher, daß er einer der Gradmesser für die soziale und kulturelle Organisiertheit einer Gesellschaft ist. Auf theoretische Fragen der kulturellen Dimension von Zeit wurde in verschiedenen Zusammenhängen eingegangen. So auf der Ebene einer allgemeinen Kulturgeschichte, die "das Wechselverhältnis zwischen Ge9ellschaftsfortschritt und Entwicklung der g Individuen vom Abschluß der Anthropogenese bis in die Gegenwart" zum Gegenstand hat. Es wurde das Verhältnis von Reichtum und freier Zeit untersucht und die Veränderung von Zeitregimes als Ausdruck einer umfassender werdenden Vergesellschaftung der Individuen als Bestandteil g der "grundlegenden sozialen Organisationsformen des Zusammenlebens" der Menschen gefaßt. Bei der kulturwissenschaftlichen Untersuchung einzelner Gesellschaften wurde am Beispiel der Lebensweise des Proletariats gezeigt, wie eine eigene Zeitstrategie als Moment der Klassenkultur entstand. Zugleich wurde gefragt, welche Traditionen des Umgangs mit der Zeit und des Zeitverständnisses aus anderen Klassen und Gesellschaften darin aufgehoben s i n d . ^ Das sind wichtige Vorleistungen, um Zeit- und Freizeitverhalten in sozialistischen Gesellschaften in ihrem Gewordensein abbilden zu können. Wenn im folgenden Abschnitt Untersuchungsfelder von Freizeitforschungen in der DDR dargestellt werden, dient das demselben Ziel. Für Kulturwissenschaftler ist es von Interesse, welche Auffassungen und Methoden von Gesellschaftswissenschaftlern anderer Disziplinen erarbeitet wurden und 7 8 9 10 204
Ebenda. D. Mühlberg, Woher wissen wir, was Kultur ist, Berlin 1983, S. 215. Ebenda, S. 218 Vgl. Arbeiterleben um 1900,(Hrsg.) D. Mühlberg, Berlin 1983.
werden, um das Wesen des Umgangs mit der Zeit in sozialistischen
Ge-
sellschaften zu formulieren. In solchem Zusammenhang werden stets kulturelle Leitbilder und Ziele diskutiert. Zugleich vermitteln sie Bezüge zu gesellschaftspolitischen
Grundsätzen.
Bei der folgenden Darstellung wird "Freizeit" a l s einer jener B e griffe von hohem Symbolwert in den Mittelpunkt gestellt, weil, wie die nähere Betrachtung zeigt, durch ihn tatsächlich die Vielfalt
dialekti-
scher Beziehungen zwischen Individuum und Gesellschaft gefaßt ist. In 11 ihm erscheint in jeweils ganz bestimmter Wertung das K u l t u r i d e a l . Wie Freizeit historisch jeweils angesehen wurde, gibt A u s k u n f t darüber, die Arbeiterbewegung vor allem unter sozialistischen V e r h ä l t n i s s e n konstruktives Verhältnis zur Selbstbestimmtheit
individuellen
der arbeitenden Menschen gewinnt und in ihrer "kulturellen
wie ein
Lebens
Kompetenz"
den Reichtum der neuen Gesellschaft verstehen lernt. A n der Art, wie der Freizeitbegriff in Wissenschaft und Politik verwendet wird, w i r d sichtbar, ob Kultur von Spezialisten "verbreitet" werden soll oder als notwendiges Ergebnis menschlicher Lebenstätigkeit betrachtet Jedoch ist damit nur ein Aspekt kulturwissenschaftlichen
wird. Interesses
an der Freizeit berührt. Seine Untersuchung ist in die A b s i c h t
einge-
ordnet, Probleme sozialistischer Lebensweise in der Freizeit
wesentlich
umfassender abzubilden. Auf der w i s s e n s c h a f t l i c h e n K o n f e r e n z
"Freizeit
als Lebensraum arbeitender Menschen im S o z i a l i s m u s - ihr Platz in der 12 Freizeitkultur des 20. Jahrhunderts" wurden aus k u l t u r w i s s e n s c h a f t licher Sicht folgende A u s g a n g s p o s i t i o n e n
formuliert: Ü b e r l e g u n g e n
zum
Leben außer der A r b e i t müssen bei der gesellschaftlichen P r o d u k t i o n
an-
setzen und fragen, welche Folgen aus dem Wandel der A r b e i t s b e d i n g u n g e n in der wissenschaftlich-technischen
Revolution für
Persönlichkeitsent-
wicklung und Lebensweise der Werktätigen entstehen und entstehen
kön-
nen. E s ist weiterhin zu fragen, welche Folgen von der w i s s e n s c h a f t l i c h technischen und ökonomischen Entwicklung für die O r g a n i s a t i o n des Le-. bens außer der Arbeit (Konsumtion, Kommunikation, Zeitregime) und welcher A r t die fördernden, hemmenden oder ausgleichenden kungen des Lebens außer der Arbeit auf die gesellschaftliche
ausgehen RückwirProduktion
11
Über den Begriff der Freizeit gibt es in der Literatur u n t e r s c h i e d liche A u f f a s s u n g e n . Im vorliegenden Beitrag wird Freizeit a l s individuell freie Zeit arbeitender Menschen verstanden, die als Folge gesellschaftlicher Zeitökonomie e n t s t e h t . Sie ist inhaltlich durch die Arbeit und die darüber hinausgehenden kulturellen B e d ü r f n i s s e bestimmt. Für die Betrachtung der Lebensweise im S o z i a l i s m u s wie die Untersuchung von gesellschaftspolitischen Konzeptionen für die . Freizeit und die Freizeitforschung selbst ist es v/ichtig, sich die historische Dimension des Freizeitbegriffs und die E n t s t e h u n g s b e dingungen der Freizeit zu v e r g e g e n w ä r t i g e n . Vgl. dazu A r b e i t e r l e b e n um 1900,(Hrsg.) D. Mühlberg, a.a.O., S. 56-60 und 123-176 sowie Zur historischen A u s b i l d u n g sozialistischer F r e i z e i t k u l t u r . Teil I: Zelt im Kapitalismus und proletarische Freizeitkultur, in: M i t t e i lungen aus der kulturwissenschaftlichen Forschung, Nr. 22, Berlin 1988, S. 9 - 1 8 . 12 Vgl. G . Petzoldt, Arbeitsberatung "Freizeit als Lebensraum a r b e i t e n der Menschen im Sozialismus - ihr Platz in der F r e i z e i t k u l t u r des 20. Jahrhunderts", in: Weimarer Beiträge, 7/1987, S. 1195-1198. 205
sind. Weiterhin ist davon auszugehen, daß nicht nur das gesellschaftliche Interesse bei den Erfordernissen der Produktion ansetzt und die vorrangige Förderung der sozialistischen Arbeitskultur verlangt. Auch aus individueller Sicht der Werktätigen überwiegt die Arbeitsorientierung des Lebens. Dennoch ist nicht zu übersehen, daß in den letzten ¿Jahrzehnten mit der quantitativen Ausdehnung und der qualitativen Ausgestaltung der Freizeit ein relativ selbständiger Lebensbereich entstanden ist. Er enthält mehr als die Erholung von der Arbeit und die Vorbereitung auf neue körperliche und geistige Anstrengungen. Wir beobachten hier als Zeichen sozialistischer Lebensweise spezifische individuelle Zielsetzungen, selbstbestimmte praktische und geistige Tätigkeiten über den beruflichen Horizont hinaus: Spiel, Muße und Geselligkeit. Das alles sind individuell wie gesellschaftlich - positiv bewertete und zunehmend kulturell gestaltete Verhaltensweisen in der freien Zeit. Alle bilden sich zwar in vielfältiger Abhängigkeit von Arbeit und Beruf, vor allem von der objektiven wie subjektiven Arbeitskultur. Sie machen für sich allein nicht den Lebenssinn aus, aber bestimmen die sozialistische Lebensweise arbeitender Menschen in steigendem Maße mit. Weil größere Vielfalt und wachsender Reichtum dieser Beziehungen zu den Hauptzielen sozialistischen Gesellschaftsaufbaus gehören, gebührt ihnen eine größere wissenschaftliche Aufmerksamkeit. Vielleicht ist es sogar sinnvol],, in Analogie zum Begriff der "sozialistischen Arbeitskultur" hier von "sozialistischer Freizeitkultur" zu sprechen. Dem Wechselverhältnis von gesellschaftlicher Produktion und Freizeitbereich sowie den "inneren" Bildungsprozessen von Freizeitkultur im Sozialismus nachzugehen wird in Zukunft zu den wichtigen Aufgaben kulturwissenschaftlicher Forschung gehören. 1 3 3. Untersuchungsfelder von Freizeitforschung Forschungsergebnisse zu diesem Thema können hier nur zusammenfassend 14 dargestellt werden. Entsprechend der gestellten Aufgabe, Menschenbilder und Kulturideale in Überlegungen zur Freizeit aufzuspüren, wurden auch bei weitem nicht alle Untersuchungen zur Freizeit ausgewertet. Hier sollten einige theoretische Ausgangspositionen erfaßt werden, die den Blick der Wissenschaftler auf die Freizeit bestimmt haben und dies in ihrer Beziehung zum jeweiligen politischen, ökonomischen und sozialen Entwicklungsstand. Das Leben Werktätiger außer der täglichen Arbeit wurde nach dem Ende des Bürgerkrieges in der jungen Sowjetunion Thema umfassenden sozial13 Vgl. dazu "Ziele der wissenschaftlichen Arbeitsberatung 'Freizeit als Lebensraum arbeitender Menschen im Sozialismus - ihr Platz in der Freizeitkultur des 20. Jahrhunderts'", August 1986, S. 2-3, unveröffentlichtes Material. 14 Ausführlicher: G. Petzoldt, Zeitverhalten in der sozialistischen Gesellschaft als Gegenstand wissenschaftlicher Forschung in der UdSSR und der DDR, Dissertation B, Berlin 1986.
206
wissenschaftlichen Nachdenkens und Forschens. Wie überhaupt sozialwissenschaftliche Forschungen zu vielen Fragen der Gestaltung der neuen Gesellschaft notwendig waren. Dabei wurden auch Erkenntnisse der bürgerlichen Sozialwissenschaft in hohem Maße einbezogen. Die Zeitnutzung wichtiger sozialer Gruppen wurde beobachtet, um Angaben über deren Lebensgestaltung zu erhalten und wissenschaftlich auf15 arbeiten zu können. In der Zeitschrift "Vremja" schrieb der Soziologe L. Byzovt "Die Beobachtung und Kontrolle der Zeit, über die bei uns jetzt soviel gesprochen und geschrieben wird, ist eine charakteristische Besonderheit unserer historischen Situation und hat ihren Ausgangspunkt in Amerika. Alle wissen, daß die Zeitmessung und die 'Fotografie des Arbeitstages' von uns bei Taylor entlehnt wurde und daß diese Verfahren in der wissenschaftlichen Arbeitsorganisation genutzt werden... Wesentlich weniger ist wahrscheinlich bekannt, daß eine andere Methode der Zeitbeobachtung, das sogenannte 'Zeitbudget', auch aus Amerika kommt. Soviel uns bekannt ist, benutzte der amerikanische Soziologe Hiddings diesen Begriff zuerst, als er seine Hörer veranlaßte, als praktische Obung Massenbeobachtungen über das Verhalten verschiedener Personen im Verlauf mehrerer Tage mit dem Ziel durchzuführen, verschiedene Lebens- und Verhaltensweisen in Abhängigkeit von der Zugehörigkeit des beobachteten Subjekts zu der einen oder anderen sozialen Schicht zu bestimmen. Im Oahre 1921 hat ^ine kleine Gruppe Moskauer Soziologen, zu der auch der Autor dieses Artikels gehört, versucht, dieses Beispiel 16 anzuwenden." Es ging um die Berechnung und Berechenbarkeit des Lebens arbeitender Menschen als Voraussetzung für eine hohe Arbeitsproduktivität und eine von der Gesellschaft wie den Individuen zu leistende effektive Organisation der Lebensweise. Von dieser Seite, von der gesellschaftlichen Aufgabe her, Verantwortung für den gesellschaftlichen und individuellen "Zeithaushalf wahrzunehmen, näherte sich auch der Dkonom und Soziologe S. G. Strumilin der Zeitbudgetmethode, die. durch ihn später populär wurde. Er stellte sie in den Dienst von Bemühungen, das vorherrschende, an vorindustriellen Mustern orientierte Verhalten zu überwinden, das "zeitlos" war. Es sollte durch eine zeitrationelle Lebensweise ersetzt werden, die als 17 Zeichen von Kultur verstanden wurde. Die von Strumilin beobachteten Verhaltensweisen der Menschen bewertete er deshalb danach, wie sie der Reproduktion der Arbeitskraft oder der Entwicklung des Arbeiters als Arbeitenden dienten. Allen Umgang mit der Zeit, der dieser Funktion widersprach, lehnte er ebenso ab wie "Zeitvergessenheit". "Der Mußeetunden sind vorläufig noch sehr wenige. Aber wenn aus ihnen 15 16 17
Die "Vremja" war die Zeitschrift der "Zeltliga", einer 1923 gegründeten Gesellschaft, die erzieherisch und propagandistisch für einen rationellen Umgang mit der Zeit in und außerhalb der Arbeit wirkte. L. Byzov, Bjudzet vremeni, in: Vremja, 2/1923, S. 42. Vgl. dazu G. Petzoldt, Zeitliga und Chronokarte. Erinnerungen an ein frühes Konzept sozialistischen Umgangs mit der Zeit, in: Weimarer Beiträge, 7/1987. 207
eine ganze Reihe sehr zweifelhafter Zeitaufwendungen für das Kartenspiel, leeres Geschwätz und Klatsch mit Klatschbasen, für berauschende Zecherei in Bierhallen und Schenken, für den Kampf gegen das Gähnen... in unseren Kirchen... verdrängt würden, verbliebe Zeit für lebendigen Streit und Gespräche in den Arbeiterklubs und für Exkursionen in unsere 18
besten Galerien und Museen und für vieles andere...".
Die Quantität
und Qualität der arbeitsfreien Zeit, die unentwickelten Bedürfnisse vieler arbeitender Menschen sowie die Notwendigkeit, arbeitsfreie Zeit ganz in den Dienst effektiverer Arbelt zu stellen, bestimmten Absichten und Methoden der "Zeit'-forschung. Sowjetische Wissenschaftler scheiden drei Etappen von Zeitbudgetuntersuchungen
unter-
tn ihrem Land. Die
erste Etappe wird allgemein mit dem Namen Strumilins verbunden, doch gab es eine große Vielfalt von Arbeiten unterschiedlicher Reichweite und Differenziertheit zur Lebensweise von Arbeiter- und Bauernfamilien ebenso wie zum Zeitbudget von Studenten, Parteifunktionären oder Ärzten. Die zweite Etappe setzte mit der umfassenden Industrialisierung
ein.
"Für die Kenntnis der Veränderungen, die im Leben des sowjetischen Volkes stattfanden und die aktive Einflußnahme darauf wurden Anfang der 19 dreißiger CJahre eine Reihe von Zeitbudgetuntersuchungen durchgeführt." Die Zeitbudgetforschung wurde "auf eine dauerhafte staatliche Grundlage 20 gestellt". Für die Zeit zwischen Ende der dreißiger Jahre bis zum Ende der fünfziger Oahre sind in der Literatur keine Angaben über A n a lysen des Zeitbudgets gefunden worden. Der Beginn der dritten Etappe wird mit der Wiederveröffentlichung von Arbeiten Strumilins im Jahr 21 1957 angegeben. Die Motive dafür lagen, ähnlich wie in der DDR, in den neuen Aufgaben, die im Zusammenhang mit der Gestaltung des sich entwickelnden Sozialismus an die Gesellschaftswissenschaften
gestellt
wurden. Bibliographien verzeichnen eine Fülle von Untersuchungen zum Zeitbudget und zur Freizeit in den sechziger und siebziger üahren. Neben der Zeitnutzung im Produktionsprozeß, den Zeitbudgets der Klassen und sozialdemographischen Gruppen (wie der werktätigen Mütter) werden seit dem Ende der sechziger Oahre auch die Zeitbilanzen von Territorien untersucht, um Einfluß auf die gesellschaftliche Verteilung der Zeit neh18 19 20 21
208
S. G. Strumilin, Izbrannye proizvedenija, tom 3, Moskva 1964, S.
202.
V. I. Bolgov, VneraboSee v r e m j a i uroven' £izni t r u d j a S i S i c h s j a , Novosibirsk 1964, S. 5. V. G. Krjazev, VneraboEee vremja i sfera absluzivanija, Moskva 1966, S. 34. Die in der Sowjetunion erworbenen Erfahrungen bildeten auch eine wichtige Grundlage für Zeitbudgetuntersuchungen in der DDR. Dazu trua vor allem die Zusammenarbeit während der von der UNESCO Mitte der sechziger Oahre veraniabten internationalen Zeitbudgeterhebung bei. Vgl. dazu unter anderem: V. D . Patrusev, Bj^udzet vremeni gorodskogo naselenija socialisticeskich i kapitalistlceskich stran, in: Filosotskie nauki, 5/1968, S. 53-61 und G. Lippold, Eine Zeitbudgetuntersuchung für die Lebensstandardforschung, in: Wirtschaftswissenschaft 12/1968, S. 2026-2044.
men zu können. Ökonomen und Soziologen, die Freizeit als Teil der L e bensweise arbeitender Menschen fassen, analysieren den Zusammenhang zwischen einer eich entfaltenden gesellschaftlichen und Zeitökonomie
individuellen
(sowie deren Voraussetzungen) einerseits und dem Wesen der
Freizeit und des Lebens außer der A r b e i t andererseits. A u f dieser
theo-
retischen B a s i s konnten differenzierte Erkenntnisse über das Zeitverhalten der Werktätigen und seins Ursachen zusammengetragen
werden.
In der DDR bzw. in der Sowjetischen Besatzungszone folgte der Z e i t rhythmus der Lebensweise nach 1945 der historischen Tradition e i n e s entwickelten Industrielandes mit einei
u x ^ i p i i m e r t s n A r o e i t e r k l a s s e . Zu
beobachtende gegenläufige Tendenzen, die Folge des Krieges waren,
kön-
nen diesen Ausgangspunkt nur relativieren. Dis Zeitdisziplin und die entwickelten Bedürfnisse der A r b e i t e r k l a s s e in der D D R waren eine w i c h tige Voraussetzung, das Leben schnell normalisieren zu können. Mit B e endigung des A u f b a u s der Grundlagen des Sozialismus um 1960 hatte die polltische, ökonomische und soziale Situation so weit
sich
gefestigt,
daß sich neue Bedingungen für das Leben außer der A r b e i t ergaben. D u r c h eine wachsende Vergesellschaftung der individuellen Reproduktion, besserte Bereitstellung von Waren und D i e n s t l e i s t u n g e n
(auch
ver-
epeziell
für die Freizeit im engeren Sinn), den O b e r g a n g zur fünftägigen A r b e i t s woche, die Verlängerung des Urlaubs und allmähliche Verkürzung
der
wöchentlichen Arbeitszeit wurden in den folgenden Jahren w e s e n t l i c h e Grundlagen für massenhafte Veränderungen in der Lebensweise
geschaffen.
Die Werktätigen wählten nun zunehmend selbständig aus den immer umfangreicheren und differenzierteren gesellschaftlichen A n g e b o t e n aus. D i e s war verbunden mit einem wachsenden Wertbewußtsein gegenüber der Zeit und dem Bedürfnis, selbst über den Umgang mit der Zeit außer der A r b e i t entscheiden zu können. Mit diesem B e d ü r f n i s wurde und wird g e s e l l schaftlich gerechnet, wenn Leistung in der A r b e i t mit
arbeitsfreier
Zeit und entsprechenden Nutzungsmöglichkeiten belohnt w i r d . Die arbeitsfreie Zeit verteilte sich für fast alle Werktätigen einem relativ einheitlichen Raster, in das die A k t i v i t ä t e n
nach
eingeordnet
wurden. Es entstand der noch heute gültige Lebensrhythmus mit
"Freizei-
ten" unterschiedlichen Charakters: Feierabend, Urlaub, W o c h e n e n d e . nerhalb dieses Rahmens, verbunden mit entsprechenden Bewertungen auf der B a s i s einer bestimmten materiellen A u s s t a t t u n g ,
In-
und
entwickelten
sich Nutzungsvorstellungen und Inhalte, die in den siebziger und a c h t ziger fahren relativ stabil blieben. Untersuchungen zur Freizeit
und
zum Freizeitverhalten wurden durch eine politische, ideologische
und
wissenschaftliche N e u - bzw. Umbewertung von Funktion und C h a r a k t e r der Freizeit in sozialistischen Gesellechaften ausgelöst. D a f ü r gibt e s mehrere G r ü n d e . A m Ende der fünfziger Oahre stand eine Phase der G e s e l l schaftsentwicklung bevor, In der sich "der Sozialismus auf seiner eigenen 22 Grundlage" entfaltete. 22
Mit anderen Worten, nachdem die
sozialöko—
Die sozialistische Gesellschaft der Gegenwart, Berlin 1984, S. 60. 209
nomleche Basis geschaffen und die Kriegsfolgen im wesentlichen überwunden waren, wurden die Gesellschaftswissenschaftler aufgefordert, nach der sozialen Ausgestaltung dieser neuen Bedingungen zu fragen. Die Lebensweise der Menschen war hier eingeschlossen. Das Hauptinteresse richtete sich auf die Voraussetzungen, an die die Sicherung und Beschleunigung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts gebunden ist. Das hieß, sich vor allem den Produzenten, den arbeitenden Menschen zuzuwenden, ihre Reproduktionsbedingungen und Bedürfnisse zu untersuchen. ' ' Freizeit wurde in diesem Zusammenhang zunehmend Thema öffentlichen Meinungsaustauschs, Gegenstand wissenschaftlicher Forschung und kulturpolitischer Aufmerksamkeit. Es ging gesellschaftlich wie individuell um neue Strategien in der Verteilung, im Umgang mit der Zeit - ein Vorgang, der heute neue Akzente bekommt. Oeshalb ist es nicht zufällig, daß gerade die Zeitschrift der internationalen Arbeiterbewegung "Probleme des Friedens und des Sozialismus" in ihrer theoretischen Beilage komplexe Untersuchungen zur Freizeit in Bulgarien, Ungarn, Polen und der Sowjetunion anregte, die nach einem gemeinsamen Programm 1963/64 durchgeführt wurden und einen ersten Oberblick über das Freizeitverhalten und seine Einflußfaktoren brachten. Freizeitforschung entstand also als äestandteil wissenschaftlicher Beschäftigung mit der Lebensweise arbeitender Menschen. Kulturwissenschaftliche Erkenntnisse über das Verhältnis von Arbeit und Freizeit im Sozialismus und seine kulturellen Folgen sowie die kul-tursoziologische Freizeitforschung haben dazu beigetragen, Gestalt und Funktion von Freizeit wissenschaftlich zu erfassen. Kulturwissenschaftler beschäftigten sich seit Beginn der sechziger üahre mit den kulturellen Voraussetzungen und Folgen der wissenschaftlich-technischen Revolution im Sozialismus. Es entstanden Fragen, wie sich die durch den wissenschaftlich-technischen Fortschritt veränderte Arbeit auf die Lebensweise der Menschen auswirkt, welche neuen Anforderungen sich an die Produzenten wie an die Kulturarbeit ergeben. Dahinter stand die Einsicht, daß der umfassende Aufbau des Sozialismus davon abhängt, wie es gelingt, die Beziehungen zwischen individueller Lebenstätigkeit und gesellschaftlicher Entwicklung auf neue Weise zu regeln. Es zeigte sich immer deutlicher, daß mit der wissenschaftlich-technischen Revolution nicht nur Charakter und Bedingungen der Arbeit tiefgreifend verändert werden, sondern daß ein neuer "Kulturzustand" der Produzenten notwendig und möglich wird. Er wurde tendenziell begriffen als die Lebensweise arbeitender Menschen, deren eigene Logik zunehmend auszuprägen ist. Auf der Basis eines theoretischen Konzepts über die Einheit des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses wurden die sozialen Räume in der arbeitsfreien Zeit auf ihre tatsächlichen Funktionen hin befragt. Die sich entfaltende kulturwissenschaftliche Diskussion über das Verhältnis von Arbeit und Freizeit bzw. Arbeit und Kultur machte deutlich, wie gerade der Gebrauch oder die Ablehnung des Freizeitbegriffs zur Klärung der Frage beitrug, welche Merkmale die Lebensweise industriell 210
arbeitender Menschen in der DDR unter den Bedingungen der w i s s e n s c h a f t lich-technischen Revolution kennzeichnen und wie darauf
gesellschafts-
politisch zu reagieren ist. "Der Streit, was denn Freizeit im Sozialismus eigentlich sei, was alles zur Freizeit gehöre und was nicht,
ist
dabei eine Form", in der man sich "über den Inhalt sozialistischer 23 bensweise" verständigte. Kultursoziologische Freizeitforschung hat diesen Prozeß
befördert
und von ihm p r o f i t i e r t . 2 4 Ihr lag und liegt ein "komplexer", Freizeitbegriff zugrunde; denn "die Mehrzahl aller
Le-
"weiter"
Freizeittätigkeiten
sind auch mit notwendigen Erfordernissen der gesellschaftlichen
und be-
ruflichen Arbeit verbunden wie Bildung und Qualifizierung, 25 Reproduktion der Arbeitskraft, geistiger und körperlicher A u s g l e i c h . . . " . Mit diesem Freizeitbegriff
ist also nicht beabsichtigt, die reine frei v e r f ü g -
bare Zeit abzubilden, die ganz individuellen Bedürfnissen gemäß verwendet werden kann. Die in den letzten zwanzig Jahren in
sozialistischen,
aber auch kapitalistischen Ländern zum V e r s t ä n d n i s von Freizeit
geführ-
te Diskussion hat gezeigt, daß dies nicht möglich ist. Die kulturwissenschaftlichen Arbeiten decken arbeitsteilig nur ein, wenn auch wichtiges Feld der Freizeitforschung in der D D R ab. A n d e r e r seits bedarf die Kulturwissenschaft aufgrund ihrer bisher
entwickelten
Arbeitsweise der Ergebnisse anderer Wissenschaften, um ihr synthetisches Konzept der Freizeitkultur w e i t e r zu entwickeln. Sie war und ist deshalb in besonderem Maße an wissenschaftlicher Kooperation siert. Auf welche Bereiche der DDR-Freizeitforschung
interes-
konnte sie sich
bisher beziehen? Im Jahre 1970 wurde resümiert: "Sie ist zum Problem geworden - unsere Freizeit - vor Jahren w e d e r im öffentlichen
Leben
noch in der wissenschaftlichen Literatur besonders diskutiert. Heute ist sie Gegenstand allgemeiner Aufmerksamkeit, die politische
Ökonomie
des Sozialismus bezieht die Freizeit in den W i r k u n g s b e r e i c h des G e setzes der Ökonomie der Zeit ein, Soziologie, Zeitbudgetforschung,
Sta-
tistik, Jugendforschung, Medizin, Pädagogik, Sportwissenschaft und G e 26 sellschaftsprognostik nehmen sich ihrer an...'". 23 24
25 26
D . Mühlberg, Freizeit und Persönlichkeitsentwicklung im Sozialismus, Lehrbrief 19, Berlin 1974, S. 16. Kultursoziologische Untersuchungen zum Freizeitverhalten wurden zu den ästhetischen Interessen und U n t e r h a l t u n g s b e d ü r f n i s s e n von B e schäftigten in der Industrie, zur Wirksamkeit von Klub- und K u l t u r häusern in den Territorien, zu den künstlerischen Interessen von Erwachsenen und Jugendlichen, zu den Kulturbedürfnissen von U r l a u bern, zum Zusammenhang von Kulturniveau, Lebensstil und W o h n v e r h a l ten verschiedener Familientypen, zu den Einflußfaktoren auf die Entwicklung kultureller Bedürfnisse in der A r b e i t e r k l a s s e und zu deren Gebrauch von Massenmedien durchgeführt. Zu erwähnen sind w e i terhin Analysen von Kulturbedürfnissen der Intelligenz und der Jugend und die Beteiligung an der UNESCO-Studie zu kulturellen B e dürfnissen und Ansprüchen des Volkes. Seit Mitte der sechziger J a h re wird durch Rundfunk- bzw. Fernsehsoziologie das M e d i e n v e r h a l t e n kontinuierlich untersucht. Literatur- und Lesersoziologie b e s c h ä f tigen sich mit dem Leseverhalten. H. Hanke, Freizeit in der DDR, Berlin 1979, S. 72. Kultur und Freizeit, Berlin 1971, S. 5. 211
Die genannten Wissenschaftsdisziplinen, die um 1960 Freizeit zu einem ihrer Forschungsgegenstände gemacht haben, sind aus
kulturwissenschaft-
licher Sicht von größtem Interesse: einmal, weil sie Material getragen haben, das über Lebensmöglichkeiten
zusammen-
und Verhaltensweisen
von
Menschen in unterschiedlicher Weise Auskunft gibt, aber auch, weil die meisten von ihnen, wie bereits erwähnt, ein bestimmtes Menschenbild eine Vorstellung von den Wegen zugrunde gelegt oder entwickelt wie dieses Menschenbild verwirklicht werden
und
haben,
könnte.
Fast alle erwähnten Wissenschaftsdisziplinen haben eine längere T r a dition in der Beschäftigung mit Freizeit. In der DDR wurden ihre historischen Bezüge jedoch bisher kaum aufgearbeitet. A l s die Freizeitforschung sich hier wieder etablierte, haben sich nur wenige auf diese Traditionen berufen, sich zur Herkunft der Theorien, Begriffe und Methoden oder zur Geschichtlichkeit der Freizeit selbst geäußert, was aber nicht heißen muß, daß sie keine Rolle gespielt hätten. Ein Blick auf die Veröffentlichungen,
in denen das Leben außer der Arbeit
sprochen wurde, zeigt, daß von Medizinern
ange-
(Sozial- und A r b e i t s h y g i e n i -
kern) wichtige A n s t ö ß e zur öffentlichen und wissenschaftlichen tigung mit der Lebensweise in der Freizeit ausgingen. Sie
Beschäf-
interessierte
vor allem die Erholungsfunktion der Freizeit - eine Reaktion darauf, daß auch unter sozialistischen Bedingungen Arbeit kein Spiel,
sondern
anstrengende Tätigkeit ist, die ermüdet und die eine Reproduktion der Arbeitskraft notwendig macht. Vielfach wurde dabei ein Modell von "richtiger" Erholung vertreten, das durch eine kritische Haltung zu den Folgen industrialisierter Arbeit und deren Auswirkungen auf die Freizeit ("Vergnügungssucht") geprägt ist. Es orientierte sich an den Normen handwerklich-bäuerlichen bzw. bürgerlichen A l l t a g s v e r h a l t e n s .
Eben-
so wie einige Gesellschaftstheoretiker erwarteten sie von der sozialistischen Gesellschaft, diese werde und solle als Alternative ein antioder vorkapitalistisches Freizeitkonzept durchsetzen, durch das die 27 "Einheit" des Lebens wieder hergestellt wird. Wachsender Reichtum an materiellen Mitteln und Zeit sollte eine Lebensweise fördern, in der alle Tätigkeiten dem Ideal der zum Selbstzweck gewordenen,
körperlich
und geistig vollkommenen Persönlichkeit dienen. Dieses Grundmuster taucht in Variationen immer wieder in der Diskussion um die Frage nach dem sozialistischen Gehalt von Freizeit auf. In ihrer Tradition
standen
wohl auch Untersuchungen zur Urlaubsfreizeit, die an der Deutschen Hochschule für Körperkultur und Sport durchgeführt wurden, üedoch lag ihnen ebenso die Auffassung zugrunde, "daß Einstellungen und Verhaltensweisen zum bzw. im Arbeitsprozeß für optimale
Schlußfolgerungen
nicht isoliert, sondern mit der Freizeit als Einheit betrachtet und 28 untersucht werden müssen." Seit Beginn der achtziger Jahre wird von 27 28
212
Exemplarisch sind hierfür die Äußerungen von R. Neubert, in: Freizeit, Dresden 1930 und in: Das Geheimnis froher Menschen, Leipzig 1961. E. Buggel, Die Urlaubsfreizeit und ihr Beziehungsgefüge im Lebensvollzug erwachsener Menschen, Habilitationsschrift, Leipzig 1967,
Soziologen dieser Hochschule analysiert, welche Bedeutung sportliche Freizeitbetätigungen im Leben der Bewohner einer Großstadt haben, welche Bedürfnisse und Widersprüche den Wunsch nach Sporttreiben hervorbringen bzw. behindern. Im Gegensatz zu den meisten europäischen Ländern, wo die pädagogische Tradition für Freizeitforschungen auch unter Erwachsenen bestimmend ist, gab und gibt es in der DDR von pädagogischer Seite her vor allem Ansätze, die Freizeit von Kindern und Jugendlichen zu untersuchen und Gestaltungskonzepte zu entwickeln, letzteres besonders für aus unterschiedlichen Gründen in Heimen lebenden ¿Jugendlichen. Ein erstes Projekt zur Freizeit der Schuljugend wurde Mitte der sechziger Oahre an der Deutschen Hochschule für Körperkultur und Sport durchgeführt. Dieses Forschungsprojekt war Bestandteil der sich entfaltenden ¿Jugendforschung. Die Freizeit der 3ugend gehört seitdem zu den vielfältig und kontinuierlich erforschten Bereichen des Freizeitverhaltens in der 29 DDR. Ein weiterer, sich seit den sechziger Oahren ausprägender Zweig der Freizeitforschung entstand mit dem Bestreben der wirtschaftsleitenden Institutionen des Staates, neben der Produktion auch die Entwicklung des Lebensstandards zu planen und dadurch besser abzusichern. Wissenschaftler verschiedener ökonomischer Disziplinen untersuchen seitdem die Entwicklung von Konsumtion und Lebensniveau sowie Veränderungen, die sich in den Formen der Befriedigung konsumtiver Bedürfnisse vollziehen. Dies hat jeweils auch einen "zeitlichen" Aspekt. Dabei wurden Vorstellungen entwickelt, was Rationalität des Zeitverhaltens im Leben außer der Arbeit sein könnte und wie sie zu erreichen ist. Um hierfür Kriterien zu gewinnen, mußte der gesamte Lebensprozeß der Menschen ins Auge gefaßt werden und alle Bereiche, durch die er in Form von Waren und Dienstleistungen beeinflußt wird. Daraus ergab sich ein Dialog mit Kulturwissenschaftlern über Ziele und Gestalt gesellschaftlichen Einwirkens auf das Leben in der Freizeit, in den die fortdauernde Diskussion, wie Freizeit zu definieren sei, eingeschlossen
ist.
Neben regelmäßig durchgeführten, für die DDR repräsentativen Zeitbudgeterhebungen unter erwachsenen Berufstätigen, in denen Verhaltensweisen in der Freizeit detailliert nachgewiesen sind, werden seit über zwanzig Oahren vom Institut für Marktforschung Analysen zur Freizeit erarbeitet, die in der DDR einmalig sind. Durch Wiederholungsuntersuchungen
ist es gegenwärtig möglich, Ver-
änderungen im Bereich des individuellen Tourismus, in den Wasch- und Einkaufsgewohnheiten, im Besitz von Freizeit-Konsumgütern Art, in den Ausstattungsstrategien
vielfältiger
für die Wohnung, in der Motorisie-
rung, in der Nutzung von Gaststätten usw. nachzuzeichnen und so Erkennt29
Eine ausführliche Darstellung ist wegen der Fülle des Verstreuten Materials nicht möglich. Vgl. dazu die Bibliographie von V. Saupe, Sozialpsychologische Forschung zum Freizeitverhalten, in: Mitteilungen aus der kulturwissenschaftlichen Forschung, Nr. 19, Berlin 1986, S. 93-103. 213
nisse über die Entwicklung des Alltagsverhaltens zusammenzutragen, die bisher kaum übergreifend genutzt wurden. Insgesamt ist festzuhalten, daß sich die Freizeitforschung nicht zentralisiert und kontinuierlich entwickelt hat, sondern von jeweils vorhandenen Forschungskapazitäten, wissenschaftlichen Traditionen oder aktuellen gesellschaftspolitischen Anforderungen in den unterschiedlichsten Wissenschaftsdisziplinen abhängig war und i s t . 3 0 Eine selbständige, alle Ansätze zusammenführende "Freizeitwissenschaft" hat sich nicht herausgebildet. Mehr noch, Ansätze interdisziplinärer Zusammenarbeit in der Mitte der sechziger Oahre wurden nicht weitergeführt. Ebenso vielfältige, teilweise zufällige Ursachen gibt es für die Wahl der Methoden. Manche wurden erprobt und nicht systematisch weiterentwickelt, wodurch die Vergleichbarkeit der Ergebnisse eingeschränkt ist, andere sind fester Bestandteil konkreter sozialwissenschaftlicher Untersuchungen geworden. Gegenwärtig ist zu beobachten, daß sich die Freizeitkultur in der DDR immer weiter differenziert. Dadurch wächst das Interesse, Freizeitbereiche, die bisher nebeneinander bestehen (Jugendarbeit, Freizeit- und Erholungssport, Feriendienst des FDGB, Reisen und Tourismus, Wohngebietsplanung, Unterhaltungsangebot, Altenbetreuung, Kunstverbreitung) in Zukunft zu koordinieren. Dazu gehören auch übergreifende wissenschaftliche Untersuchungen. Kulturwissenschaft kann und will daran Anteil haben, ist aber weiterhin auf die Ergebnisse empirischer Wissenschaften angewiesen. Dabei hat sich gezeigt, daß kulturwissenschaftliche Fragestellungen in der Vermittlung von Theorie und Empirie sozialistischer Lebensweise produktiv sein können.
30
214
Die Ergebnisse der konkret-soziologischen Untersuchungen zum Verhältnis von Arbeits- und Freizeitverhalten, zum Freizeitverhalten in den Familien und im Wohngebiet wurden hier nicht berücksichtigt. Sie bedürfen einer eigenständigen Darstellung.
Jb. f. Soziologie und Sozialpolitik
1989
Siegfried Grundmann Zur Entwicklung der territorialsoziologischen
Forschung in d e r D D R -
Versuch einer B i l a n z
Die territorialsoziologische Forschung gehört zu Jenen Richtungen
der
soziologischen Forschung in der Deutschen Demokratischen Republik
(DDR),
die in den vergangenen zwanzig Jahren einen beachtlichen
Erkenntnisge-
winn verbuchen konnte, mit großem Erfolg praxiswirksam geworden ist und sowohl in der DDR als auch im Ausland viel Anerkennung gefunden Sie hat mittlerweile ein relativ in sich geschlossenes
hat.
theoretisches
Konzept entwickelt, die Spezifik ihres G e g e n s t a n d e s definiert und sich damit als Zweig der marxistisch-leninistischen Soziologie in der D D R profiliert. Die "Territorialsoziologie"
kann wie folgt definiert werden: Die T e r -
ritorialsoziologie ist ein Zweig der Soziologie. O b j e k t e der T e r r i t o rialsoziologie, die zugleich spezifische Gebiete der Forschung tuieren, sind vor allem: die T e r r i t o r i a l s t r u k t u r
konsti-
(Siedlungsstruktur,
Re-
gionen und Gebietstypen), die Standortverteilung der Produktivkräfte, Stadt-Land-Beziehungen,
Stadt, Dorf, die sozialräumliche Struktur von
Städten, Verkehr, Migration und andere Formen von territorialer M o b i l i tät. Die Territorialsoziologie hat zum Gegenstand die
räumlich-zeit-
lichen Aspekte des V e r h a l t e n s und der Beziehungen sozialer Subjekte
(Be-
völkerung, Klassen, Schichten, Gruppen und Individuen) bei B e r ü c k s i c h t i gung ihrer allgemeinen sowie der territorial spezifischen gungen. Dabei wird auch die Bevölkerung in q u a l i t a t i v Gebieten (Gebietstypen) sowie Siedlungen
Lebensbedin-
unterschiedlichen
(Siedlungstypen) und W o h n g e b i e -
ten (Neubaugebiete, innerstädtische Wohngebiete usw.) als besondere, durch spezifische Verhaltensweisen und Beziehungen
(so zum Beispiel
durch eine städtische oder ländliche Lebensweise), spezifische dingungen und eine spezifische sozialdemographische Struktur zeichnete soziale Gruppe
Lebensbe-
gekenn-
verstanden.*
Die Anfänge der territorialsoziologischen
Forschung reichen
zurück
bis zum Ende der 60er Jahre. Initiatoren solcher Forschungen waren zunächst
nichtprofessionelle
"Soziologen". Aber wer war damals schon "Soziologe" von B e r u f ? Im übrigen haben auch später "NichtSoziologen" beachtenswerte 1
territorialsoziolo-
Vgl. auch S. Grundmann, Definition des S t i c h w o r t e s " T e r r i t o r i a l s o z i o logie" in der neuen Ausgabe des W ö r t e r b u c h e s der m a r x i s t i s c h - l e n i nistischen Soziologie (im Druck).
215
gische Forschungen durchgeführt.
2
Dem Wesen nach "soziologisch" waren
zum Beispiel viele Beiträge zur damals sogenannten
"Gesellschaftspro-
gnose", darunter der "Klassenprognose" von Bezirken, Kreisen und Großstädten. Besondere Erwähnung verdienen die unter der Leitung von F. Staurenbiel durchgeführten kultureoziologischen Forschungen am damaligen Institut für Gesellschaftswissenschaften
beim Zentralkomitee
(ZK)
der Soziallstischen Einheitspartei D e u t s c h l a n d s (SED) - Lehrstuhl
für
Kultur- und Kunstwissenschaften - sowie die unter Leitung von A . Schwandt durchgeführten Untersuchungen der Gruppe
"Städtebausoziologie"
am Institut für Städtebau und A r c h i t e k t u r (ISA) der Bauakademie der DDR.3 Wichtige Akzente für die weitere Forschung auf diesem Gebiet wurden gesetzt mit dem Beitrag von M. Krüger (Universität Rostock) über "Soziologische A s p s k t e der Gesellschafteprognose
in einem regionalen Gebiet"
auf den "Tagen der marxistisch-leninistischen Soziologie in der DDR" (1. Soziologiekongreß) im November 1969. Auf Grund eines V e r g l e i c h s von Territorien wurde nachgewiesen, daß sich aus soziologischen
Besonder-
heiten von Territorien spezifische Aufgaben für die ökonomische und soziale Politik e r g e b e n . 4 Und eben diese vergleichende Analyse war seitdem ein Kernstück territorialsoziologischer Forschungen.
(Erst durch
diesen Vergleich werden Forschungen in einem Territorium - jede
sozio-
logische Forschung ist Forschung in einem bestimmten Territoriuml - zu "territorialen" Forschungen.) D i e s e s Konzept lag auch der 1974 an der Akademie
(damals noch Institut) für Gesellschaftswissenschaften
beim
ZK der SED verteidigten Dissertation von G.. Weber und K.-H. Ladegast über "Entwicklungstendenzen der territorialen Sozialstruktur der B e völkerung in der Deutschen Demokratischen Republik"
oder auch dem B e i -
trag von E. Stabenow über "Entwicklungstendenzen im Siedlungsgefüge 2
3
4
5
216
So waren zum Beispiel die Untersuchungen des Geographen G . Bose zur Sozialstruktur von Migranten dem Wesen nach soziologische U n t e r suchungen. Migrationsforschung wird spätestens dann soziologisch, wenn die Sozialstruktur der Population sowie Motive und Gründe der Wanderung analysiert wsrden. Vgl. G. Bose, Ergebnisse und Tendenzen der Binnenwanderung in der DDR im Zeitraum 1953-1976, in: Beiträge zur Demographie, 4/1980. Die Gruppe "Städtebausoziologie" im ISA entstand Ende der 60er Oahre und wurde 1979 aufgelöst. Eine neue Etappe intensiver städtebausoziologischer Forschung am ISA der Bauakademie der DDR begann 1987 mit der Bildung der Abteilung Städtebausoziologie. M. Krüger, Soziologische Aspekte der Gesellschaftsprognose in einem regionalen Gebiet, in: Soziologie im Sozialismus. Materialien der "Tage der marxistisch-lsninlstischen Soziologie in der DDR", Berlin 1970, S. 185-190j Vgl. dazu auch die Beiträge von F. Staufenbiel, S. 285, H . Henselmann, S. 303, S. Macetti, S. 308, B . Flierl, S. 309, A . Schwandt, S. 310, und andere auf dem - später so bezeichneten "1. Soziologiekongreß", ebenda. K.-H. Ladegast, G . Weber, Entwicklungstendenzen der territorialen Sozialstruktur der Bevölkerung in der Deutschen Demokratischen Republik, Dissertation, Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED, Berlin 1974; Vgl. auch, K.-H. Ladegast, Entwicklungstendenzen der territorialen Sozialstruktur der Bevölkerung in der Deutschen Demokratischen Republik, in: Inform. Soziol. Forsch. DDR, Berlin 10(1975)1, S. 24.
agrarisch strukturierter Gebiete der DDR" aus dem Jahre 1973 z u g r u n d e . 6 D e r erwähnte Diskussionsbeitrag von M . Krüger verdient auch darum a u s heutiger Sicht besonderes Interesse, weil damals - bedingt durch die Logik des Gegenstandes - die meisten Themenkomplexe genannt oder w e n i g stens angedeutet wurden, die in der späteren
territorialsoziologischen
Forschung eine wesentliche Rolle gespielt haben:
Stadt-Land-Beziehungen,
Standortverteilung der Produktivkräfte, Steuerung von
Migrationsprozes-
sen, sozialräumliche Struktur von Städten unter dem besonderen A s p e k t der Wege-Zeit-Beziehungen von Arbeitsetelle und Wohnung,
Veränderungen
in der sozial-demographischen Struktur von Neubaugebieten Am Beginn der 70er 3ahre bereits konnte die
usw.
territorialsoziologische
Forschung einen beachtlichen Erkenntnisgewinn verzeichnen; trotzdem w a r die Praxiswirksainkeit zunächst noch sehr begrenzt. So waren zum B e i s p i e l die sozialen Probleme langer und sich w e i t e r verlängernder A r b e i t s w e g e zeiten auf Grund der von 1973 bis 1974 am Institut für marxistischleninistische Soziologie der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK durchgeführten Untersuchungen hinreichend klar b e s t i m m b a r . ^ D a von wurde in soziologischen Gutachten zur Standortwahl von N e u b a u g e b i e Q
ten Gebrauch gemacht.
Trotzdem verging noch viel Zeit bis zur B e r ü c k -
sichtigung dieser Erkenntnisse in gesamtgesellschaftlich
bedeutsamen
Beschlüssen und Dokumenten. Dafür gibt es zwei wesentliche
Gründe.
Erstens befand sich die territorialsoziologische Forschung - wie
eigent-
lich die Soziologie in der DDR überhaupt - noch in der A u f b a u p h a s e . Eine gewisse "kritische Masse" von Erkenntnissen w a r noch zu schaffen, bis auch die an sich wichtigen Erkenntnisse zu spezifischen Fragen in der Praxis, darunter in der Volkswirtechaftsplanung, tung finden konnten. Im übrigen wurden die Ergebnisse
die nötige B e a c h territorialsozio-
logischer Forschungen erst in wenigen Arbeiten und meistens nur in Fachzeitschriften publiziert. Zweitens w a r o b j e k t i v zwar ein w a c h s e n d e r Bedarf an soziologischen Erkenntnissen vorhanden, aber es brauchte viel Zeit, bis sich die Erkenntnis von der Notwendigkeit der B e r ü c k s i c h t i gung soziologischer Forschungsergebnisse gegen eng verstandene
wirt-
schaftliche Interessen durchsetzen konnte. So ist zu erklären, daß das auf dem VIII. Parteitag der SED konzipierte Kernstück des eozialpolitischen P r o g r a m m s der SED - das Wohnungsbauprogramm - zumindest in den 70er Oahren ohne die ausdrückliche Beachtung soziologischer 6 7
8
Forschungs-
E. Stabenow, Entwicklungstendenzen im Siedlungsgefüge agrarisch strukturierter Gebiete der DDR, in: Wirtschaftswissenschaft, 10/1973, S. 1492-1508. Vgl. Darstellung von Ergebnissen der 1973/1974 vom Lehrstuhl für marxistisch-leninistische Soziologie am Institut für G e s e l l s c h a f t s wissenschaften beim ZK der SED in der zentralgeleiteten sozialistischen Industrie der DDR durchgeführten Sozialstruktur-Untersuchung, in: S. Grundmann, Sozialstruktur und Standortverteilung der Produktivkräfte, hg. von der A k a d e m i e für G e s e l l s c h a f t s w i s s e n schaften beim ZK der SED, Berlin 1983, S. 78. Zum Beispiel in einem von F. Staufenbiel, B . Flierl, S. Grundmann und anderen 1974 ausgearbeiteten soziologischen Gutachten zu den Planungen des neuen Stadtteiles in B e r l i n - B i e s d o r f / M a r z a h n .
217
ergebnisse realisiert werden mußte. Ein gewisser Mangel territorialsoziologischer Forschung am Beginn der 70er Jahre bestand auch darin, daß Fragen der Produktivkraftentwicklung - also auch der Standortverteilung der Produktivkräfte - zunächst eine vergleichsweise geringe Rolle spielten.
Korrespondierend
dazu wurde die territorialsoziologische Forschung lange Zeit setzt mit Forschungen zur Nichtproduktionssphärej
gleichge-
begrifflich äußerte
sich das unter anderem in der Gegenüberstellung von "Betrieb" und "Territorium" . A b s c h l u ß dieser Anfangsetappe und Beginn einer neuen Etappe der territorialsoziologischen Forschung war der 2. Kongreß der marxistischleninistischen Soziologie in der D D R im Mai 1974. Der Beginn dieser neuen Etappe bildet sachlich und im Prinzip auch zeitlich eine Einheit mit dem IX. Parteitag der SED und der Konferenz der Gesellschaftswissenschaftler der DDR im Oahre 1976. Die erbrachten Leistungen dort eine hohe Wertschätzung. Gleichzeitig wurden wichtige
erfuhren
Erwartungen
und Ziele formuliert. Im Referat von K. Hager auf der Konferenz der G e sellschaftswissenschaftler heißt e s unter anderem: "Die Erforschung der Zusammenhänge zwischen Intensivierung, Bevölkerungsentwicklung,
Terri-
torialstruktur, Urbanisierung und Infrastruktur wird zum V e r s t ä n d n i s der Erfordernisse einer proportionalen, komplexen Entwicklung der G e biete beitragen. Die Verwirklichung des langfristigen Programms zur Entwicklung der Hauptstadt der DDR, Berlin, stellt hohe Ansprüche an die Soziologen der A k a d e m i e der Wissenschaften der DDR, der Akademie Gesellschaftswissenschaften
für
beim Zentralkomitee der SED, der Humboldt-
Universität und andere Einrichtungen. Es geht darum, durch G e m e i n s c h a f t s arbeit effektive Lösungen zur planmäßigen Verbindung der politischen, 9 wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung auszuarbeiten." D i e s e s Interesse ist zu erklären aus dem Mitte der 70er Oahre erreichten Niveau und den Erfordernissen der gesellschaftlichen
Entwick-
lung. Die stärkere Beachtung der territorialen Struktur sowie der territorial spezifischen Bedingungen und Erfordernisse war möglich und notwendig geworden. D a s war eine Voraussetzung für die weitere Verwirklichung der vom V I I I . Parteitag im Oahre 1971 begründeten Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik. Die Zielstellung der weiteren Verbesserung der A r b e i t s - und Lebensbedingungen und des weiteren A b b a u s sozialer Unterschiede sowie der Intensivierung der Produktion und überhaupt aller Bereiche der gesellschaftlichen Arbeit war wesensgleich mit der Setzung spezifischer Akzente der Wirtschafts- und Sozialpolitik in den verschiedenen Bezirken und Kreisen, Städten und Gemeinden. D a s fand seinen Ausdruck auch in der Aufnahme eines umfangreichen
Abschnittes
"Standortverteilung der Produktivkräfte und die Entwicklung in den B e -
9
218
K. Hager, D e r IX. Parteitag u n ^ d i e Gesellschaftswissenschaften, ins Der IX. Parteitag der SED und die Gesellschaftswissenschaften, Berlin 1977, S. 3 4 .
zirken" in der Direktive des IX. Parteitages zum Fünfjahrplan 1976 bis 1980. 10 Die langfristig grundlegenden Aufgaben auch zur Entwicklung der Territorien, darunter von Stadt und Land sowie der Städte und Gemeinden, wurden zusammengefaßt im vom IX. Parteitag der SED beschlossenen neuen 11 Parteiprogramm. Die Oahre zwischen dem 2. Kongreß (1974) und dem 3. Kongreß (1980) der marxistisch-leninistischen Soziologie in der DDR waren für die territorialsoziologischen Forschungen im wahrsten Sinne des Wortes eine "Gründerzeit", Territoriale Fragestellungen wurden in das Programm von faktisch allen Institutionen der soziologischen Forschung aufgenommen. Gegründet wurden die Problemräte "Lebensweise und Territorium" (Gründung 1974 unter der Leitung von P. Voigt) und "Kulturbedürfni.sse und Stadtgestaltung" (Leitung: F. Staufenbiel) beim Wissenschaftlichen Rat für die Soziologische Forschung in der ODR. An der Humboldt-Universität zu Berlin konstituierte sich die Arbeitsgemeinschaft "Entwicklung der sozialistischen Lebensweise in der Hauptstadt der DDR" (Leitung: G. Aßmann). Ausdruck der Erkenntnis von der Notwendigkeit der marxistischleninistischen Soziologie als auch der Anerkennung für erbrachte Leistungen war die Aufnahme von Soziologen in bereits bestehende interdisziplinäre Arbeitsgruppen wie zum Beispiel in den 1977 gebildeten Arbeitskreis Territorialforschung (Leiter: W. Ostwald) bei der Staatlichen Plankommission. Eine beachtliche Rolle bei der Anwendung und Propagierung sowie bei der Gewinnung neuer Erkenntnisse spielte Ende der 70er Oahre die Mitarbeit von S. Grundmann in einer Arbeitsgruppe der Bezirksleitung Dresden der SED, die sich mit der komplexen Leitung und Planung der gesellschaftlichen Entwicklung im Kreis Riesa befaßte (Leitung der Arbeitsgruppe: H. Modrow, 1. Sekretär der Bezirksleitung 12 Dresden der SED). Zahlreiche wissenschaftliche Tagungen befaßten sich mit Ergebnissen und Problemen der territorialsoziologischen Forschung, darunter: die Tagung des Wissenschaftlichen Rates für die Soziologische Forschung in der DDR im Oahre 1977 über "Territoriale Probleme der Annäherung der Klassen und Schichten unter dem Aspekt der Entfaltung der sozialistischen Lebensweise", das Erste Internationale Wisssnschaftliche Symposium der Universität Rostock über 13 "Leitung und Planung sozialer Prozesse in der Stadt" im Oktober 1975 , die Internationale Wis10
11 12
13
Vgl. Direktive des IX. Parteitages der SED zum Fünfjahrplan für die Entwicklung der Volkswirtschaft der DDR in den Jahren 1976 - 1980, Berlin 1976, Abschnitt XI: Standortverteilung der Produktivkräfte und die Entwicklung in den Bezirken. Vgl. Programm der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Berlin 1976. H. Modrow, Der Fünfjahrplan des Kreises und die Verwirklichung der Hauptaufgabe, in: Einheit, 3/1978, S. 272; vgl. S. Grundmann, Das Territorium - Gegenstand soziologischer Forschung, Berlin 1981, S. 48. I. internationales wissenschaftliches Symposium der Universität Rostock zur "Leitung und Planung sozialer Prozesse in der Stadt" Oktober 1975. Teil 1 - 3 , hg. von der Wilhelm-Pieck-Universität, Rostock 1976. 219
senschaftliche Konferenz "Sozialstruktur - Territorium - Lebensweise" im Januar 1977 an der Technischen Hochschule K a r l - M a r x - S t a d t 1 4 und das von der Bezirksleitung Dresden der SED, d e r Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED und dem Zentralinstitut
für Sozialisti-
sche Wirtschaftsführung beim ZK der SED im Oktober 1978 veranstaltete "Symposium zur ökonomischen und sozialen Entwicklung des Kreises Riesa". Höhepunkt und zugleich A b s c h l u ß dieser Entwicklungsetappe der territorialsoziologischen Forschung war der 3. Kongreß der marxistischleninistischen Soziologie in der DDR im M ä r z 1980. Auf keinem Kongreß der marxistisch-lsnlnistischen Soziologie haben bishsr territoriale
Fra-
gen eine so große Rolle gespielt wie auf diesem. D a s ist teilweise aus dem Thema des Kongresses - "Lebensweise und Sozialstruktur"
v o r al-
lem aber aus der Publizität des Gegenstandes, der Neuartigkeit des Forschungsansatzes und den in kurzer Zeit erzielten Erfolgen zu erklären. Zur Problematik sprachen im Plenum des Kongresses H . Modrow, P. Voigt, G . Aßmann, W . Ostwald und K. K r a m b a c h . 1 5 Die "soziale Entwicklung dsr Stadt und sozialistische Lebensweise" war T h e m a einer Arbeitsgruppe ter Leitung von P . Voigtj mit der "Entwicklung der Sozialstruktur
un-
und
der sozialistischen Lebensweise auf dem Lande" befaßte sich eine A r beitsgruppe unter der Leitung von 0 . Müller. D a s Rundtischgespräch 2 zum T h e m a "Territorium, Sozialstruktur und Lebensweise. Leitung und Planung sozialer Prozesse in Kreisen und Bezirken" wurde von S. G r u n d mann geleitet. D e r damalige Erkenntnisstand kann wie folgt zusammengefaßt
Werdens
Raum und Zeit sind die allgemeinsten Existenzformen der Materie - also 1 fi
auch der Gesellschaft.
Also ist auch der Betrieb ein Element d e s T e r -
ritoriums - ebenso wie das Wohngebiet und andere territoriale G l i e d e rungen. Die räumliche Dimension des gesellschaftlichen Lebens ist für die soziologische Forschung vor allem darum von Interesse, weil die Oberwindung räumlicher Distanzen einen mehr oder weniger großen - sozialstrukturell differenzierten - Aufwand an Zeit, Kraft und Mitteln voraussetzt. Die Mittel zur Befriedigung materieller und geistig-kultureller Bedürfnisse müssen mit einem vertretbaren A u f w a n d erreichbar und nutzbar sein, sich somit in akzeptabler Nähe zur Wohnung, dem W o h n 14
15
16
220
Internationale wissenschaftliche Konferenz "Sozialstruktur - T e r ritorium - Lebensweise", 26. bis 28. Danuar 1977, Teil 1 und 2, (Hrsg.) Der Rektor der Technischen Hochschule Karl-Marx-Stadt, 1977. Lebensweise und Sozialstruktur, Materialien des 3 . Konaresses der marxistisch-leninistischen Soziologie in der DDR, 25. bis 27. März 1980, Berlin 1981, S. 177, 184, 189, 195; Ebenda, S. 254, S. 222, S. 330. Dieser Gedanke war der konzeptionelle Ausgangspunkt bereits des Diskussionsbeitrages von S. Grundmann auf dem II. Kongreß der marxistisch-leninistischen Soziologie im Dahre 1974. V g l . Soziologische Probleme der Klassenentwicklung in der DDR. Materialien vom II. Kongreß der marxistisch-leninistischen Soziologie in der DDR, 15. - 17. Mai 1974, Berlin 1975, S. 171. Diese Überlegung w a r damals aber noch so neu, ungewohnt und anscheinend zu abstrakt, so daß sie in die Publikation des Diskussionsbeitrages nicht aufgenommen wurde.
gebiet bzw. Wohnort der Bürger befinden. Die territoriale von Produktivkräften und Bevölkerung ist ebenso wie die
Konzentretion
territoriale
Kooperation und Arbeitsteilung Bedingung und A s p e k t einer effektiven Ökonomie und eines hohen Lebensniveaus. D e r zur O b e r w i n d u n g
räumlicher
Distanzen erforderliche A u f w a n d Jedoch begrenzt das A u s m a ß von
terri-
torialer Kooperation und Arbeitsteilung; die Befriedigung der m a t e r i e l len und geietig-kulturellen Bedürfnisse insbesondere verlangt eine komplexe infrastrukturelle Ausstattung des von den Menschen täglich n u t z baren bzw. genutzten U m f e l d e s der Wohnung. Niveauunterschiede lich der Befriedigung materieller und geistig-kultureller
hinsicht-
BedOrfnieee
sind wesensgleich mit sozialen Unterschieden) die schrittweise
Verrin-
gerung solcher Unterschiede ist ein grundlegendes Ziel d e r g e s e l l s c h a f t lichen Entwicklung. Beachtung verdienen dabei besonders die noch b e stehenden sozialen Unterschiede zwischen Stadt und Land, b e s o n d e r s in der DDR aber auch die sozialen Unterschiede zwischen Regionen
sowie
zwischen Städten. Demgegenüber können und sollten Besonderheiten
zwi-
schen Territorien, die in diesem Sinne keine Niveauunterschiede
impli-
zieren, sondern nur ein Anderssein der Lebensbedingungen und der L e b e n s weise beinhalten, weiterbeetehen und gegebenenfalls sogar vertieft w e r den. Demzufolge sind die Besonderheiten des ökonomischen Profils,
der
Sozialstruktur und Lebensweise von Bezirken, Kreisen sowie von S i e d l u n gen, besonders von Städten, unterschiedlichen T y p s und
unterschiedlicher
Größe immer mehr als spezifische P o t e n z des gesellschaftlichen 17 schritte zu begreifen und zu nutzen.
Fort-
Diese Position wurde ausführlicher entwickelt in der P u b l i k a t i o n
über
"Das Territorium - Gegenstand soziologischer Forschung", deren M i8 anuskript wenige Wochen nach dem 3 . Soziologiekongreß abgeschlossen w u r d e . Wesentliche Orientierungen und Impulse für die
territorialsoziolo-
gische Forschung in den 80er Jahren gab der X . Parteitag der SED im O a h re 1981. Wesentliche territorial relevante Zielsetzungen des P a r t e i t a g e s waren unter anderem: die weitere Verringerung der wesentlichen
Unter-
schiede zwischen Stadt und Land, die V e r t i e f u n g der intensiv e r w e i t e r ten Reproduktion, die Fortsetzung des W o h n u n g s b a u p r o g r a m m s bei v e r stärkter Orientierung auf den innerstädtischen W o h n u n g s b a u und die M o dernisierung, die Gewährleistung einer höheren Stabilität 19 der D ö r f e r , die Verbesserung der Dienstleistungen in den T e r r i t o r i e n . Im B e r i c h t des Zentralkomitees an den X . Parteitag wurde festgestellt: "Ohne Z w e i fel erhält die Leitung und Planung der territorialen Entwicklung 17
18 19
zuneh-
Vgl. S. Grundmann, Rundtischgespräch 2 . Territorium, S o z i a l s t r u k tur und Lebensweise. Leitung und Planung sozialer Prozesse in Kreisen und Bezirken, int Lebensweise und Sozialstruktur, M a t e r i a lien des III. Kongresses der marxistisch-leninistischen Soziologie in der DDR, 25. bis 27. März 1980, a.a.O., S. 330. Vgl. S. Grundmann, Das Territorium - Gegenstand soziologischer F o n schung, a.a.O. E. Honecker, Bericht des Z e n t r a l k o m i t e e s der Sozialistischen E i n heitspartei D e u t s c h l a n d s an den X . Parteitag der SED, Berlin 1981, S. 39, 58, 60, 67, 68, 74, 77, 79, 91, 112, 117, 137. 221
mend Bedeutung für die weitere Intensivierung d e s volkswirtschaftlichen Reproduktionsprozesses. V o r allem geht es darum, im jeweiligen T e r r i t o rium ein richtiges Verhältnis zwischen der Arbeit, den Bildungsmöglichkeiten, den Wohn- und Erholungsbedingungen, d e r B e t r e u u n g und Versorgung der Bürger zu sichern. Oedes Staatsorgan, gleich welcher Ebene, muß beachten, daß alle Entscheidungen in den Bezirken, Kreisen,
Städten
und Gemeinden, besonders Investitionsentscheidungen, langfristige W i r kungen auslösen. D a h e r müssen sie stets auch auf die Erforderniese
spä-
terer Entwicklungsphasen ausgerichtet sein* Die Werktätigen, die hohe Leistungen vollbringen, erwarten eine planmäßige Entwicklung des H a n dels und der Versorgung, der Dienstleistungen, der Wohnungewirtschaft, des Berufsverkehrs, der Kultur und des Sports, der gesundheitlichen und 20 sozialen Betreuung im Territorium..." Die 80er Oahre sind gekennzeichnet durch ein wesentlich höheres N i veau der Verallgemeinerung von Forschungsergebnissen und die P r o f i l i e rung der Territorialsoziologie als Zweig der marxistisch-leninistischen Soziologie, durch eine größere Komplexität und überhaupt Solidität der empirischen Untersuchungen sowie durch eine erheblich größere P r a x i s wirksamkeit der Forschung. "Gründerjahre" jedoch wie die zweite Hälfte der 70er Jahre sind die 80er Oahre nicht gewesen. Im Gegenteil: Es gab weniger wissenschaftliche Veranstaltungen zum Thema. Die Darstellung und Diskussion von Forschungsergebnissen erfolgte weitgehend im Rahmen der bereits bestehenden Wissenschaftlichen Räte, Problemräte und A r beitsgruppen, also des Wissenschaftlichen Rates für die Soziologische 21 Forschung in der DDR
, der Problemräte "Lebensweise und Territorium",
"Kulturbedürfnisse und Stadtgestaltung" und "Agrarsoziologie, Land" sowie unter Beteiligung von Soziologen
Stadt-
(S. Grundmann, 0 . Müller,
I. Schmidt) im Wissenschaftlichen Rat für Fragen der Standortverteilung der Produktivkräfte in der DDR sowie in den dazu gehörigen A r b e i t s k r e i sen "Siedlungsstruktur" 20 21
222
und "Demographie". Es gibt leider auch Erschei-
Ebenda, S. 117, 118. Tagung des Wissenschaftlichen Rates für Soziologische Forschung in der DDR am 24. Oktober 1985 "Territoriale Bedingungen und Faktoren zur Entfaltung der sozialistischen Lebensweise", int Inform. Soziol. Forsch. DDR, Berlin 21(1985)5, sowie Gemeinsame Tagung des W i s s e n schaftlichen Rates für Soziologische Forschung und d e s ISA der B a u akademie der DDR (24. Ouni 1987, Bauhaus Dessau), in: Inform. Soziol. Forsch. DDR, Berlin 23(1987)3. Die einzigen größeren, nicht als Tagungen des Rates für die Soziologische Forschung oder als Problemratstagungen durchgeführten B e r a tungen zu territorialsoziologischen Fragen waren das gemeinsam vom Problemrat "Lebensweise und Territorium" und der Wilhelm-Pieck-Universität Rostock - Sektion Marxismus-Leninismus - durchgeführte II. Internationale Wissenschaftliche Symposium "Leitung und Planung sozialer Prozesse im Territorium" im Oktober 1980 und das III. Internationale Symposium zum Thema im November 1985 in Rostock. Vgl. Leitung und Planung sozialer Prozesse im Territorium. II. Internation a l e s Wissenschaftliches Symposium am 29./30. Oktober 1980 in Rostock, hg. von der Wilhelm-Pieck-Universität Rostock 1981; L e i tung und Planung sozialer Prozesse im Territorium. III. Internationales Wissenschaftliches Symposium am 20./21. November 1985 in Rostock, hg. von der Wilhelm-Pieck-Universität Rostock 1986.
nungen einer Verringerung des verfügbaren F o r s c h u n g s p o t e n t i a l s . Um so mehr profiliert hat sich die territorialsoziologische
Forschung an der
Hochschule für A r c h i t e k t u r und Bauwesen Weimar, an der A k a d e m i e für G e sellschaftswissenschaften
beim ZK der SED und der
Karl-Marx-Universität
Leipzig. Eine Bereicherung erfuhr die Forschung durch die Schaffung Abteilung "Städtebauprognose"
der
(Leitung: B. Hunger) im ISA d e r B a u a k a d e -
mie der D D R im Oahre 1987, durch die Einsetzung von R. Kuhn als D i r e k tor des B a u h a u s e s Dessau und durch den Beginn Forschungen
verkehrssoziologischer
(Leitung: M . Rochlitz) an der Hochschule für V e r k e h r s w e s e n
Dresden. Die weiterhin wachsende Wertschätzung der
territorialsoziolo-
gischen Forschung in der gesellschaftlichen Praxis kommt zum A u s d r u c k zum Beispiel in der Erarbeitung von Studien zu Fragen d e s W o h n u n g s - und Städtebaus in Vorbereitung des XI. P a r t e i t a g e s der SED sowie von
ande-
ren Expertisen durch Soziologen bzw. unter Beteiligung von Soziologen und in der Einbeziehung von Soziologen in Beratungen, Konferenzen usw. 22 von anderen Institutionen. In d e r B e t e i l i g u n g von Soziologen am "Pro23 jekt Turin International" , der Teilnahme am X I . W e l t k o n g r e ß für S o ziologie im Jahre 1986 und der dort erfolgten Aufnahme in das R e s e a r c h Comitee "Social ecology", der häufigeren Teilnahme an W i s s e n s c h a f t lichen Veranstaltungen in anderen Ländern und der Einbeziehung in i n t e r nationale Forschungs- und Buchprojekte äußert sich die zunehmende
inter-
nationale Resonanz und Anerkennung der geleisteten A r b e i t . Bücher, die nach dem 3 . Kongreß der marxistisch-leninistischen logie im Oahre 1980 von Soziologen bzw. unter Beteiligung von gen zu Fragen der territorialsoziologischen
Forschung
veröffentlicht
wurden, waren: "Das Territorium - G e g e n s t a n d eoziologischer (S. Grundmann, Berlin 1981), "Stadt und Land in der DDR, Bilanz, Perspektiven"
Sozio-
Soziolo-
Forschung"
Entwicklung,
(Autorenkollektiv unter der Leitung von K.
Groschoff, Berlin 1984. Beteiligung der Soziologen S. Grundmann, Krambach, 0. M ü l l e r ) 2 4 , "Arbeiten und Wohnen in der Stadt" länder, Berlin 1984), "Die Stadt"
(S. Grundmann, Berlin 1984),
Genossenschaftsbauern in den achtziger Oahren"
K.
(L. N i e d e r "Die
(Autorenkollektiv
unter
der Leitung von K. Krambach, Berlin 1984), "Wie lebt man auf dem Dorf?" (Autorenkollektiv unter der Leitung von K. Krambach, Berlin 1985),
"Lö-
sung der Wohnungsfrage als soziales Problem in ihrem Einfluß auf L e b e n s weise und Stadtgestaltung"
(R. Kuhn, W e i m a r 1985), "Zwischen A l e x
Marzahn. Studie zur Lebensweise in Berlin"
Leitung von G. Aßmann, G . Winkler), und "Wohnortwechsel.
22 23
24
und
(Autorenkollektiv unter d e r Volkswirtschaft-
So wurden Soziologen einbezogen zum Beispiel in die V o r b e r e i t u n g und Durchführung des 5. Symposiums Stadtverkehr am 9. und 10. D e z e m ber 1987. Ausführlicher dazu: S. Grundmann, Vorwort zu Materialien zur S t a d t entwicklung in kapitalistischen und sozialistischen Ländern, hg. von der Akademie für Gesellschaftswissensc.haften beim Z e n t r a l k o m i tee der SED, Berlin 1984, S. 5 - 1 2 . Eine russischsprachige Ausgabe des B u c h e s erschien 1988 im V e r l a g ' "Progress" (Moskau). 223
liehe und soziale Aspekte der Migration" (S. Grundmann, I. Schmidt, Berlin 1988), "Wie DDR-Bürger wohnen" (A. Kahl 1988). Empirische Untersuchungen, die in dieser Zeit erheblich zum Erkenntnisfortschritt beitrugen, waren unter anderem die über "Wohnen 80 - Marzahn. Zur Entwicklung der Neubaugebiete der Hauptstadt der DDR, Berlin" (Leitung: L. Niederländer), über "Sozialstruktur und Lebensweise in Städten" (in den fahren 1980 bis 1984 unter der Leitung von S. Grundmann), die unter der Leitung von F. Staufenbiel durchgeführten wohn- und stadteoziologischen Forschungen in mehreren Städten der DDR (Gotha, Erfurt, Rostock, Eisenach usw.), die Untersuchung "Sozialstruktur und Lebensweise in Städten und Dörfern" (in den Oahren 1987/1988 unter der Leitung von S. Grundmann und K. Krambach). Es wurden zahlreiche Dissertationen zu Fragen der territorialsoziologischen Forschung verteidigt. Mit Fragen der territorialsoziologischen Forschung befaßten sich auf dem 4. Kongreß der marxistisch-leninistischen Soziologie in der DDR im Oahre 1985 die Arbeitsgruppen "Genossenschaftsbauern und Dorf - ökonomisches Wachstum und sozialer Fortschritt auf dem Lande" (Leitung: K. Krambach) und "Siedlungestruktur - Lösung der Wohnungsfrage als soziales und volkswlrtschaft25 liches Problem" (Leitung: S. Grundmann). Es gab in den letzten Oahren einen erheblichen Erkenntniszuwachs auf dem Gebiet der territorialsoziologischen Forschung. Dabei sind nicht alle im Ergebnis von soziologischen Erhebungen gemachten Verallgemeinsrungen gänzlich neu. Aber das muß kein Mangel sein. Wiederholungen sind vielmehr ein Hinweis darauf, daß es Gesetzmäßigkeiten hinsichtlich der räumlich-zeitlichen Aspekte der Beziehungen und des Verhaltens sozialer Subjekte gibt und eben diese Gesetzmäßigkeiten mittlerweile hinreichend klar bestimmt werden können. Auf Grund der vorliegenden Forschungsergebnisse kann das theoretische Konzept der territorial-soziologischen Forschung wie folgt umrisj 26 sen werden. Die Territorialsoziologie geht aus von der dialektisch-materialistischen Erkenntnis, daß Raum und Zeit als die allgemeinsten Existenzformen der Materie zugleich die allgemeinsten Existenzformen der Gesellschaft, also auch von sozialen Klassen, Schichten, Gruppen und Individuen, sind. Der "soziale Raum" ist zunächst zwar in der gleichen Weise beschreibbar und meßbar wie der physikalische Raum. Aber die Dimensionen des Raumes sind im gesellschaftlichen Leben nicht gleichwertig. Der Mensch ist als soziales Wesen zugleich Teil der Natur - ein biosoziales. 25
Vgl. Soziale Triebkräfte ökonomischen Wachstums. Materialien des 4. Kongresses der marxistisch-leninistischen Soziologie in der DDR, 26. bis 28. März 1985. Berlin 1986, S. 233, S. 322. 26 Es handelt sich hierbei um eine Darstellung aus der Sicht des Au' tors, - in der Oberzeugung allerdings» daß diesbezüglich unter den Vertretern der Territorialsoziologie in der DDR weitgehend ein Konsens bestehen könnte. Zur Bilanz und Grundpositionen vgl. K. Lohr, U. Meier, I. Schmidt, Grundzüga soziologischer Forschungsergebnisse in der DDR (Literaturbericht), in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 7/1986.
224
Wesen. D a s gesellschaftliche Leben ist gebunden an die O b e r f l ä c h e
des
Planeten. Eben darum zählt die Bewegung in der Horizontalen mehr bzw. anders als die Bewegung in der Vertikalen. D a s Territorium ist die O k o sphäre unseres Planeten in ihrer räumlich-flächenhaften Gestalt. Die B e wegung von Menschen, materiellen Gegenständen und Informationen im Raum erschließt nicht das Wesen sozialer Beziehungen und der sozialen wicklung, ohne diese Jedoch wären soziale 3eziehungen und die Entwicklung nicht möglich. Die Beziehungen und d a s Verhalten
Ent-
soziale sozialer
Subjekte haben immer auch einen räumlichen A s p e k t . D e r räumlichs A s p e k t des gesellschaftlichen Lebens ist darum ein sozial bedeutsames
Faktum,
weil die Oberbrückung und Oberwindung räumlicher Distanzen einen mehr oder weniger großen A u f w a n d an Mitteln, Kraft und Zeit v o r a u s s e t z t . Obereinstimmend damit sind die Möglichkeiten der A n e i g n u n g von
räumlich
ungleichmäßig verteilten Lebensbedingungen unterschiedlich groß, schiedlich groß auch die Möglichkeit einer sinnvollen
unter-
territorialen
Arbeitsteilung. Infolge der Entwicklung der T r a n s p o r t - und K o m m u n i k a tionsmittel können räumliche Distanzen in einer Weise verschoben w e r 27 28 , "die nicht den natürlichen Entfernungen entspricht" j e s wird
den
die "Geschwindigkeit der Raumbewegung beschleunigt und damit die räum29 liehe Entfernung zeitlich verkürzt". A u s ökonomischen, technischen, sozialen und biologischen Gründen werden räumliche Distanzen aber n i e mals zu einer sozial bedeutungslosen Größe - auch nicht im Resultat der massenhaften Anwendung von Hochtechnologien unserer Z e i t . A u c h darum ist die zuweilen prognostizierte A u f l ö s u n g kompakter Siedlungen und besonders von Großstädten weder möglich noch w ü n s c h e n s w e r t . Die
räumliche
Gliederung der Gesellschaft in sozial und ökonomisch hinreichend
deut-
lich unterscheidbare Regionen, Siedlungen - darunter Städte bzw. D ö r f e r unterschiedlichen Typs - , aber auch Wohngebiete usw. bleibt eine B e d i n gung und ein Erfordernis des gesellschaftlichen
Lebens.
Der Aufwand zur Oberwindung räumlicher Distanzen und die
räumliche
Struktur des gesellschaftlichen Lebens werden aber nicht n u r durch d a s allgemeine Entwicklungsniveau der Gesellschaft und besonders der P r o duktivkräfte, sondern wesentlich auch durch die Beschaffenheit der v e r schiedenen sozialen Subjekte bestimmt: die Spezifik der B e d ü r f n i s s e Interessen, die familiäre Situation, das A l t e r und die Gesundheit, Vermögenslage, der B e s i t z oder Nichtbesitz eines
Personenkraftwagens,
Wohnbedingungen usw. Der "soziale Raum" ist folglich der von
sozialen
Subjekten in spezifischer Weise erlebte, genutzte und gestaltete 27
28 29
und die
Raum.
Das Problem der biologisch bedingten sowie der die G e s e l l s c h a f t s f o r mationen übergreifenden und der formationsspezifischen G e s t a l t - und Raumansprüche wird in der DDR-Soziologie e r s t m a l s ausführlicher b e handelt in: B. Hunger, Raum- und Gestaltansprüche aus soziologischer Sicht in ihrem Einfluß auf Städtebau und Architektur, D i s s e r t a t i o n B, Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED, Berlin 1988. K. Marx, D a s Kapital. Zweiter Band, in: MEW, B d . 24, Berlin 1963, S. 252. Ebenda) S. 253.
225
Derselbe Raum hat für unterschiedliche soziale Subjekte eine
unter-
schiedliche Struktur und Bedeutung. Die Stadt wird von einem älteren Bürger anders erlebt als von einem Jugendlichen, von einem B ü r g e r mit hoher Qualifikation ganz anders als von einem U n - oder A n g e l e r n t e n . D e r öffentliche Raum hat viele Nutzer mit oft sehr verschiedenen
Interessen.
Die Lösung der Probleme des innerstädtischen V e r k e h r s wie Oberhaupt die optimale Flächennutzung verlangt um so mehr nach Lösungen, die in der bestmöglichen Weise den Interessen aller Nutzer entsprechen. A u s der Spezifik der Bedürfnisse und Interessen folgt, daß die Menschen die B e dingungen für die Befriedigung ihrer materiellen und
geistig-kulturel-
len Interessen in größerer Nähe zur Wohnung haben möchten,! je weniger eine Einrichtung des Dienstleistungssektors genutzt wird, um so größer ist die akzeptierte räumlich-zeitliche Distanz. A l s Belastung Arbeitswegezeiten sind eine wichtige Ursache hoher
empfundene
Fluktuationsquoten
und einer unzureichend effektiven Nutzung des vorhandenen
Qualifika-
tionspotentials. A u s der Spezifik der Bedürfnisse und Interessen
folgt
andererseits, daß die Menschen dort wohnen möchten, wo diese mit dem geringsten A u f w a n d befriedigt werden können. Nicht zuletzt darum hat die Standortwahl des Wohnungsbaus großen Einfluß auf Lebensniveau und Lebensweise; sie ist gleichzeitig von großer Bedeutung für die Lösung volkswirtschaftlicher
Aufgaben.
Räumliche Nähe ist zwar keine hinreichende, aber eine notwendige Voraussetzung von sozialer Nähe. Entscheidend ist die Gemeinsamkeit
bzw.
Vereinbarkeit der Werte und der Lebensziele, mindestsns: soziale Toleranz. D a s vorausgesetzt,wird intensive Kommunikation, angefangen von gutnachbarlichen Beziehungen bis zu freundschaftlichen Bindungen, massenhaftem Umfange erst unter der Bedingung relativ kurzer zeitlicher Distanzen
in
räumlich-
realisiert. Auf diese Weise entsteht die soziale
Gemeinschaft im Wohnhaus oder Wohngebiet oder auch im Wohnort. Umgekehrt ist die Aufrechterhaltung
sozialer Beziehungen im Falle eines
Wechsels der Wohnung bzw. des Wohnortes in der bisherigen Weise und Intensität in der Regel nicht mehr möglich. In einer solchen Situation befinden sich viele Bewohner von Neubaugebieten - insbesondere dann, wenn es sich um Migranten bzw. um Neubaugebiete auf extensivem
Standort
handelt. Die soziale Integration in die neue Umwelt ist eine Funktion der Zeit. Räumliche Nähe (räumliche Dichte) ist nur dann lästig und ein Hemmnis der Persönlichkeitsentwicklung, wenn sie keine Möglichkeiten der Entspannung und Besinnung, der Ruhe und der Muße läßt. Ansonsten ist die räumliche Nähe von Menschen mit gleichen oder vereinbarenden, unterschiedlichen, aber nicht konträren Werten und Lebenszielen tuend und eine Voraussetzung
wohl-
für die Entfaltung der sozialistischen
Le-
bensweise. Dementsprechend besteht die Aufgabe des Architekten und des Städtebauers nicht in der schrittweisen Aufhebung,
sondern in der
menschlichen Gestaltung von baulicher Dichte, in der sinnvollen
Konzen-
tration bzw. Verteilung von Wohnungen unterschiedlichen Typs, von sozialer und technischer Infrastruktur, von Wohnungen und Arbeitsplätzen,
226
von gebauter Umwelt und Natur. Wesentliche A s p e k t e der Lebensweise w e r den zwar nicht primär durch die materiell-gegenständlichen
Bedingungen
im Territorium, sondern vielmehr durch die territoriale Spezifik
der
Sozialstruktur bestimmt; auf zahlreiche wichtige A s p e k t e der L e b e n s weise jedoch haben die materiellen Bedingungen d e s Territoriums,
dar-
unter die Lsistungen von Städtebau und Architektur, einen sehr großen Einfluß. Die Existenz und Reproduktion von Siedlungen sowie von anderen W i r t schafts- und Sozialräumen, die Reproduktion der Produktivkräfte
vorran-
gig an den schon vorhandenen Standorten ist ein Beleg dafür, d a ß d a s g e sellschaftliche Leben territorial gebunden ist. Die tsrritoriale
Bedin-
gung wird durch die verschiedenen Formen von territorialer M o b i l i t ä t relativiert, aber nicht aufgehoben. Die Entwicklung des V e r k e h r s w e s e n e und der Kommunikation und die räumliche Reichweite von territorialer M o bilität bestimmen nur die Größe des R a u m s sozialer Bindung. Faktoren der territorialen Bindung des R e p r o d u k t i o n s p r o z e s s e s und w e sentlich darauf beruhend auch der anderen A s p e k t e und Bereiche d e s gesellschaftlichen Lebens sind vor allem erstens die Beschaffenheit territoriale Verteilung natürlicher Ressourcen. D e r
und
Produktionsprozeß
ist und bleibt ein Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur - mehr oder weniger eng gebunden an die Standorte natürlicher Ressourcen. B e s t i m mend ist z w e i t e n s die Beschaffenheit und territoriale Verteilung
der
territorial immobilen Resultate des Stoffwechsels zwischen M e n s c h und Natur: Gebäude, Straßen, Siedlungen, Siedlungsnetz. Die Masse und Langlebigkeit des in der Infrastruktur verankerten Reichtums erzeugen nicht nur territoriale Bindungen; daraus erklärt sich zugleich die K o n s i s t e n z der gesamten Territorialstruktur. Die dritte und in engerem Sinne logische Determinante ist die vorhandsne territoriale
eozio-
Bevölkerungestruk-
tur sowie die Spezifik der Sozialstruktur, der Bedürfnisse und Interessen, der Lebensweise in Siedlungen und Gebieten unterschiedlichen
Typs.
Die für verschiedene Territorien charakteristischen Merkmale der B e z i e hungen und des Verhaltens sozialer Subjekte tendieren zur R e p r o d u k t i o n . Dadurch wird insbesondere die Reproduktion an den schon Standorten
vorhandenen
begünstigt.
Insofern die vorhandene Territorialstruktur dadurch nicht
aufgehoben,
sondern vielmehr reproduziert wird, ist die territoriale Mobilität
eo-
zialer Subjekte eine Erscheinungsform und zugleich eine V o r a u s s e t z u n g von territorialer Bindung. Territoriale Mobilität im A l l t a g
(Arbeits-
pendelwanderung, Reisen) ist partiell ein Ersatz für Migration;
umge-
kehrt ist die Behinderung von territorialer Mobilität im A l l t a g
eine
Ursache migrationeller Mobilität bzw. von Migrationsverlusten. Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur impliziert nicht nur die liche Bewegung von Gegenständen und Informationen,
Der räum-
sondern auch von M e n -
schen. Die Entwicklung der Produktivkräfte und besonders des V e r k e h r s wesens hat entscheidend zur Aneignung von räumlich weit entfernten
Le-
bensbedingungen und damit zur Entfaltung von territorialer M o b i l i t ä t 227
beigetragen. Territoriale Mobilität ist insofern Ausdruck und in gewisser Weise sogar ein Gradmesser von Kultur. Damit hängt zusammen, daß die territoriale Mobilität von Menschen mit einem hohen
Qualifikations-
und Bildungsniveau in der Regel auch überdurchschnittlich hoch ist. Territoriale Mobilität ist unter bestimmten Umständen aber auch ein G r a d messer sozialer Probleme wie zum Beispiel von unzulänglichen
Bedingungen
für die Befriedigung materieller und geistiger Bedürf lisse im Umfeld der Wohnung und überhaupt von ernsthaften Mängeln im Entwicklungsniveau des Dienstleistungssektors. Insbesondere in Form von migrationeller M o b i l i tät und mehr noch von negativen Salden der Migration kann
territoriale
Mobilität eine Reaktion auf unzulängliche Lebensbedingungen sein. D e m zufolge kann tendenziell die Einschränkung von territorialer Mobilität ein Ausdruck verbesserter Lebensbedingungen und überhaupt des gesellschaftlichen Fortschritts sein. Die massenhafte Anwendung der Hochtechnologien unserer Zeit könnte die Begrenzung von territorialer Mobilität begünstigen. D a s eigentliche soziale und volkswirtschaftliche Problem ist nicht die hohe migrationelle Mobilität der Bevölkerung - auch nicht die überdurchschnittlich hohe migrationelle Mobilität der Bevölkerung in kleinen Siedlungen. Ein Problem sind vielmehr die hohen Migrations- und damit zusammenhängenden Bevölkerungsverluste der Dörfer in den agrarisch strukturierten Gebieten der DDR, der Kleinstädte im Süden der DDR sowie des Ballungsgebietes Halle-Leipzig-Bitterfeld. Familiäre Gründe
sind
von den Ursachenkomplexen "Wohnung" und "Arbeit" in der DDR die wesentliche Ursache von migrationeller Mobilität. Demgegenüber ist der Faktor "Wohnung" vor dem Faktor "Arbeit" die entscheidende Ursache für Migrationsgewinne bzw. Migrationsverluste, wobei allerdings auch zwischen dem Migrationsverhalten
sozialer Gruppen und Wanderungen über kurze und
Wanderungen über lange Distanzen zu unterscheiden ist. Tendenziell w a n deln sich der Stellenwert und die Struktur einzelner
Migrationsursachen.
Einen immer größeren Einfluß erlangt die Beschaffenheit der sozialen, baulich-räumlichen und der natürlichen Umwelt, - darunter die Attraktivität des Wohngebietes sowie des Wohnortes, die Belastung der natürlichen Umwelt durch Abgase, Lärm usw. Die Migrations- und B e v ö l k e r u n g s verluste von Siedlungen und Gebieten werden begünstigt und in gewisser Weise sogar verursacht durch die bedeutende Erweiterung des Wohnungsbestandes und Schaffung zusätzlicher Arbeitsplätze auf wenigen
Standorten,
darunter in der Hauptstadt und in anderen Großstädten. Demzufolge das wichtigste Instrument zur Steuerung der Migration die
ist
beschleunigte
Verbesserung der Lebensbedingungen in Siedlungen und Gebieten mit bisher hohen Migrationsverlusten und die konsequente Durchsetzung der intensiven erweiterten Reproduktion in Territorien mit bisher hohen Migrationsgewinnen. Dabei ist zu berücksichtigen, daß an den bisher bevorzugten Zielorten der Migration neue Bindungen entstanden sind und darum extensive Entwicklungen, zusätzlicher Erweiterungswohnungsbau nicht ganz zu umgehen
228
sind.
usw.,
Ein grundlegendes Ziel der territorialen Entwicklung in der
soziali-
stischen Gesellschaft ist in Verbindung mit der Verbesserung der Lebensbedingungen in allen Territorien die schrittweise Verringerung zialer Unterschiede im Sinne von Niveauunterschieden hinsichtlich
soder
Bedingungen für die Befriedigung materieller und- g e i s t i g - k u l t u r e l l e r Bedürfnisse und der Persönlichkeitsentwicklung. Es handelt sich d a b e i einerseits um die sozialen Unterschiede zwischen Stadt und Land. M i n d e stens ebenso bedeutsam ist mittlerweile jedoch in der D D R der soziale Unterschied zwischen Städten unterschiedlichen Typs, darunter zwischen Großstädten und den bisher weniger im Z e n t r u m der Aufmerksamkeit
stehen-
den Kleinstädten, darüber hinaus auch der soziale U n t e r s c h i e d zwischen den sich in vieler Beziehung überdurchschnittlich
rasch entwickelnden
Standorten der Produktion von Schlüsseltechnologien
und anderen G e b i e -
ten. Gesellschaftliche Relevanz haben auch die Unterschiede im E n t w i c k lungsniveau vieler Wohnbezirke in Großstädten. Die sozialen
Unterschie-
de zwischen Territorien werden verstärkt durch die selektiven
Wirkungen
der Migration - einschließlich der innerstädtischen Umzüge. T e r r i t o r i a le Unterschiede im Niveau der Bedingungen für die B e f r i e d i g u n g
materiel-
ler und geistig-kultureller Bedürfnisse bewirken so eine territorial gleichmäßige Verteilung sozialer Gruppen, darunter die
un-
Konzentration
von Bürgern mit einem niedrigen Q u a l i f i k a t i o n s n i v e a u und wenig
entwik-
kelten geistig-kulturellen Bedürfnissen in Gebieten mit einem h o h e n V e r schleiß der Bausubstanz. Andere Ursachen der territorial
ungleichmäßi-
gen Verteilung sozialer Gruppen sind funktioneller A r t : das ökonomische Profil von Siedlungen und Gebieten,
spezifische
Wegezeit-Relationen
(insbesondere Arbeitswegezeiten), der M e c h a n i s m u s der Vergabe und des Bezugs von Wohnungen. Die bevorzugte Vergabe von freigewordenen
bzw.
eben fertiggestellten Wohnungen an Ehepaare bzw. B ü r g e r jüngeren A l t e r s bewirkt nicht nur Besonderheiten der demographischen,
sondern auch der
sozialen Struktur von großen Neubauwohngebieten, darunter die m a s s e n hafte Ansiedlung von Bürgern mit einem hohen Qualifikations-, mens- und Anspruchsniveau. Damit verbunden entstehen
langanhaltende
"demographische Wellen", einschließlich einer wellenartigen chung der Infrastruktur, dem wellenartigen Auftreten von Wünschen von Jugendlichen, der Häufung von Ehescheidungen zogenen Neubaugebieten
Einkom-
Beanspru-
spezifischen in frisch be-
usw.
Es gibt soziologisch zwei grundlegende Typen territorialer
Unterschiede:
erstens "soziale Unterschiede" im Sinne von Niveauunterschieden, tens "soziale Besonderheiten" im Sinne eines auf im Prinzip
zwei-
gleichem
Niveau befindlichen A n d e r s s e i n s der Lebensbedingungen, der S o z i a l s t r u k tur, der Bedürfnisse, der Werte und der Lebensweise. Während viel zu tun ist, damit in möglichst kurzer Zeit die sozialen Unterschiede schen Stadt und Land und in Verbindung damit auch die negativen
zwi-
Wirkun-
gen hoher Migrationsverluste überwunden werden, ist die Beseitigung sämtlicher Unterschiede, also auch der "städtischen Lebensweise"
einer-
seits und der "ländlichen Lebensweise" andererseits, der U n t e r s c h i e d
229
zwischen Industrie und Landwirtschaft usw. kein Ziel der
gesellschaft-
lichen Entwicklung. Ebensowenig steht die Beseitigung des hohen Konzentrationsgrades von Forschungsinstituten, Universitäten,
Institutionen
der Leitung, von Orchestern usw. in der Hauptstadt und anderen G r o ß städten zur Diskussion. Notwendig ist vielmehr die effektivere
Nutzung
des in Gebieten und Siedlungen unterschiedlichen T y p s vorhandenen
öko-
nomischen, geistigen und kulturellen Potentials. Die individuelle
Eigen-
art im Sinne des "Andersseins" der Lebensbedingungen, der baulichen
und
sozialen Umwelt, der Lebensweise von Gebieten, Siedlungen, von Wohn- und Industriegebieten ist nicht nur zu erhalten oder entsprechend neuen Erfordernissen umzugestalten; die individuelle Eigenart vieler Siedlungen, Wohngebiete usw. ist vielmehr erst noch zu schaffen bzw. weiter zu entfalten. Im Sinne des "Andersseins*
der Lebensbedingungen, der Lebens-
weise usw. sind territoriale Unterschiede Bestandteil des Reichtums und eine Errungenschaft der sozialistischen
230
Gesellschaft.
Ob. f. Soziologie und Sozialpolitik 1989
Ingrid und Manfred Lötsch Kontinuität und Wandel in der Sozialstrukturforschung der DDR
Sozialstrukturforschung ist ein weites Feld. Im umfassenderen Sinne gehören zu ihr wesentliche Aspekte der agrarsoziologischen Forschung, der Territorialsoziologie, der Bildungssoziologie usw; im Grunde ist kein Teilgebiet der Soziologie zu benennen, in dem sozialstrukturelle Gesichtspunkte keine Rolle spielten. Es ist kaum möglich, dieser Breite in einem notwendigerweise knapp zu haltenden Beitrag gerecht zu werden. Ferner wäre, wenn wenigstens eine theorie- und
forschungsgeschicht-
liche Skizze gegeben werden sollte, ein Zeitraum von fast zwei Jahrzehnten zu erfassen. Dies ist an dieser Stelle nicht möglich. Unser Ver such eines Rückblicks versteht sich daher nicht als Geschichtsschreibung. Soziologische Sozialstrukturforschung im engeren Sinne begann in der DDR mit dem Ende der sechziger Oahre. Einer Voruntersuchung in einem Magdeburger Großbetrieb folgte die bislang umfangreichste, für die Arbeiterklasse in der zentralgeleiteten Industrie der DDR repräsentative 2 Erhebung. Ihr schloß sich eine im Umfang kleinere, in der Fragestel1
2
Vgl. M. Lötsch, Sozialstruktur, besonders die Entwicklung der Arbeiterklasse und des Verhältnisses von Arbeiterklasse und Intelligenz im entwickelten gesellschaftlichen System des Sozialismus in der DDR Bericht der Arbeitsgruppe 7, in: Soziologie im Sozialismus, Berlin 1970, S. 402 (Schriftenreihe Soziologie); Hg. Meyer, Ober den soziologischen Charakter sozialstruktureller Fragestellungen, ebenda; M. Lötsch, Über die Entwicklung der Klassenstruktur und der Struktur de Arbeiterklasse beim Aufbau der entwickelten sozialistischen Gesellschaft, ins Zur Sozialstruktur der sozialistischen Gesellschaft, Ber lin 1974, S. 26 (Schriftenreihe Soziologie); Hg. Meyer, Theoretische Probleme und empirische Ergebnisse soziologischer Untersuchungen der Struktur der Arbeiterklasse, in: ebenda, S. 55. Die Ergebnisse sind vorgestellt in: ebenda; Über die soziale Struktur der Arbeiterklasse. Ergebnisse einer repräsentativen soziologischen Untersuchung in der zentralgeleiteten Industrie der DDR, SU 73 Teil I - III, Berlin (Leitung: M. Lötsch, Hg. Meyer, H. Röder), Forschungsbericht der Fachrichtung Sozialstruktur im Institut für marxistisch-leninistische Soziologie der Akademie für Gesellschaftswissenschaften (AfG) beim ZK der SED, Abteilung Soziologie im Zentralinstitut für Philosophie der Akademie der Wissenschaften der DDR und des VVissenschaftsbereichs Soziologie der Technischen Hochschule Karl Marx-Stadt; M. Lötsch, C'ber die soziale Struktur der Arbeiterklasse. Einige Schwerpunkte und Probleme der soziologischen Forschung, in: Soziologische Probleme der Klassenentwicklung in der DDR. Materialien vom II. Kongreß der marxistisch-leninistischen Soziologie in de DDR, 15. - 17. Mai 1974, Berlin 1975, S. 89-110 (Schriftenreihe Soziologie); M. Zimek, Die Produktionsarbeiter - soziale Hauptgruppierung der Arbeiterklasse, in: ebenda, S. 111-117; I. Lötsch, Zur rationellen Nutzung des vorhandenen Qualifikationspotentials bei der Leitung und Planung sozialer Prozesse, in: ebenda, S. 163-170. 231
lung jedoch komplexere Untersuchung zur Annäherung der Klassen und Schichten^ an, gefolgt von einer internationalen
Gemeinschaftsuntersu-
chung in sechs sozialistischen Ländern (Bulgarien, in der CSSR, DDR, in Polen, in der UdSSR und in Ungarn) zur Annäherung von Arbeiterklasse und I n t e l l i g e n z 4 . Nach dieser "Entwicklung in die Breite" wurde eine Vielzahl von Fallstudien zur Entwicklung spezifischer sozialer Gruppen durchgeführt. Wir wollen hier keine Zusammenfassung dieser Ergebnisse geben, sondern wählen einen anderen A n s a t z . Ergebnisse und Erfahrungen der Sozialstrukturforschung bestehen nicht nur aus empirischen sie enthalten theoretisch und methodologisch
Befunden;
Verallgemeinerungsfähiges.
Wir wollen daher versuchen, einige übergreifende Gesichtspunkte der Entwicklung der Sozialstrukturforschung in der DDR unter einem
spezifischen
Blickwinkel zu reflektieren: im Hinblick auf ihre Tragfähigkeit tuelle und vorhersehbare Klassenanalyse und
für ak-
Fragestellungen.
Funktionsgruppenprinzip
A l s die erste Forschungskonzeption
für die erwähnte Untersuchung
zur
Struktur der Arbeiterklasse verteidigt werden sollte, hatten wir es mit einer bemerkenswerten Gegenfrage zu tun: Welchen Sinn wir darin
sähen,
die ihrem Wesen nach einheitliche Arbeiterklasse "aufzugliedern"? Heute, da Einsichten in die Vielschichtigkeit sozialer Strukturierungen soziologischen Grundwissen gehören, mag eine solche Fragestellung
zum ver-
wunderlich erscheinen; damals, am Ende der sechziger Jahre, stand sie in einem durchaus verständlichen Kontext. In der bürgerlichen
Soziolo-
gie w'ar der "Abschied von Klassenanalysen" zum bestimmenden Prinzip geworden. Von Th. Geiger über 3t. Warner bis E. K. Scheuch war die Konzeption der sozialen Stratifikation von Anfang an als Versuch entwickelt worden, der marxistischen Klassenanalyse einen völlig anderen
Grundan-
satz entgegenzustellen. Moderne Gesellschaften, so etwa die Leitidee, wären mit einem Klassenmodell, dem man obendrein theoretischen nismus unterstellte, nicht mehr beschreibbar; nicht Klassen, vielfältige Schichtungen bestimmten das Bild heutiger
Reduktio-
sondern
Sozialstrukturen.
Da in jener Zeit die marxistische Soziologie der DDR sozusagen in ihrer Gesamtheit noch auf dem Wege zu ihrer eigenen Identität war, lag die Frage nahe, ob die Suche nach "inneren Differenzierungen der Arbeiterklasse" nicht auf eine Übernahme stratifikationstheoretischer Ansätze
hinausliefe.
Damit war auf dem Wege produktiven Meinungsstreits, der im übrigen 3
4
232
Annäherung der Klassen und Schichten bei der weiteren Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft in der DDR. Ergebnisse einer soziologischen Untersuchung. U 77, Teil I - X, Berlin 1978 - 1980, Forschungsbericht der AfG beim ZK der SED, Institut für marxistisch-leninistische Soziologie. Dieser Untersuchung ging eine Gemeinschaftspublikation zum 9. Weltkongreß für Soziologie 1978 in Uppsala voraus: Autorenkollektiv, Die Intelligenz in der sozialistischen Gesellschaft, Berlin 1980, (Schriftenreihe Soziologie); Vgl. auch M. Lötsch, G. Wörner, Materielle Lebensbedingungen und Annäherungsprozesse. Theoretischmethodologische Überlegungen, in: Jahrbuch für Soziologie und Sozialpolitik 1983, Berlin 1983, S. 161-175.
die soziologische Beschäftigung mit sozialen Strukturen von ihren A n fängen bis zur Gegenwart wie ein Schatten begleitet, die Frage zunächst einmal richtig und herausfordernd gestellt: Wie verhalten sich o b j e k t i v Einheitlichkeit und Strukturiertheit der Klasse z u e i n a n d e r - und w i e sind theoretisch-methodologisch beide Aspekte zu einer Synthese zu bringen? Diesem herausfordernd formulierten Problem w ä r e mit einer empirischen Beschreibung vielschichtiger Differenzierungen,
im Inhalt und in den B e -
dingungen der Arbeit, in Bildung und Qualifikation,
im Einkommen und in
materiellen Lebensbedingungen und schließlich im sozialen Verhalten, nicht zu entsprechen gewesen. "Einheitlichkeit" und
"Differenziertheit"
sind nicht a l s autonome Gegenpole zu denken, sondern als miteinander zusammenhängende Klasseneigenschaften, deren Vermittlung es theoretisch herzustellen und methodologisch operationalisierbar zu machen
galt.
Die Auflösung ist aus heutiger Sicht (es erforderte erhebliche D e b a t ten, bis der Funktionsgruppenansatz allgemein akzeptierten Eingang in das soziologische Denken fand) verblüffend einfach. D a s Wesentliche Einheitlichkeit der Klasse ist nicht die für die gesamte Klasse Gemeinsamkeit von Merkmalen oder Eigenschaften,
sondern die
der
gültige
einheitliche
Klassenfunktion, die nicht durch Differenzierungen aufgelöst,
sondern
durch klasseninnere Arbeitsteilung hergestellt wird. Im Unterschied zu statistischen Gruppen, die zunächst nichts anderes gemeinsam haben als das jeweilige als "gruppenbildend" definierte Merkmal, bestimmen
sich
Funktionsgruppen durch die ihr wesenseigene Teilfunktion im Ganzen gesellschaftlichen Funktion der Klasse: nach ihrer unmittelbaren
der
oder
vermittelten Beziehung zun materiellen Arbeitsprozeß, nach ihrer Funktion im gesamtgesellschaftlichen Gefüge von A r b e i t s t e i l u n g . Ebenso wie "das G e s e t z der Arbeitsteilung"
(F. Engels) den Zugang liefert zum V e r -
ständnis von Klassenstrukturen, liefert es den Zugang zum V e r s t ä n d n i s klasseninnerer5 Strukturen und Differenzierungen. Zwischen 1969 und 1973 ausgearbeitet
, hat sich der Funktionsgruppenansatz seither in allen
Sozialstrukturuntersuchungen
als tragfähig erwiesen; dies vor allem in
folgender Hinsicht. 1. Er erklärt den objektiven und theoretisch-methodologischen
5
Zusam-
M. Lötsch, Sozialstruktur, besonders die Entwicklung der A r b e i t e r klasse und des Verhältnisses von A r b e i t e r k l a s s e und Intelligenz im entwickelten gesellschaftlichen System des Sozialismus in der DDR, Bericht der Arbeitsgruppe 7, in: Soziologie im Sozialismus, a.a.O., S. 408/409 (Schriftenreihe Soziologie); Hg. Meyer, Theoretische Probleme und empirische Ergebnisse soziologischer Untersuchungen der Struktur der Arbeiterklasse, in: Zur Sozialstruktur der sozialistischen Gesellschaft, a.a.O., S. 74 (Schriftenreihe Soziologie); M. Lötsch, Theoretisch-methodologische Probleme der Analyse der sozialen Struktur der Arbeiterklasse und der Auseinandersetzung mit bürgerlichen und revisionistischen Sozialstrukturkonzeptionen, in: G e sellschaftliche Arbeitsteilung und Sozialstruktur, Thematische Informationen und Dokumentation (TID) der AfG, Reihe A, 1/1976, 3. 5.
233
menhang zwischen "Klasse" und D i f f e r e n z i e r t h e i t " 6 . Während die Beschreibung von Stratifikationen Differenzierungen gegen die Klasse macht und bestenfalls bei der Ortung konsistenter
geltend
"Stratefikationsdomi-
nanten" ankommt, führt der A n s a t z "Arbeitsteilung und Funktionsgruppen" an der Oberfläche der Erscheinungen
feststellbare Merkmale der sozialen
Differenziertheit auf ihre letztliche Determinante zurück. Unterschiede zwischen "körperlicher und geistiger Arbeit", nach Bildung und Qualifikation usw. sind keine autonomen Faktoren sozialer Schichtung, gesetzmäßig mit der spezifischen Funktion der Arbeitsteilung
sondern
zusammen-
hängende Eigenschaften von Funktionsgruppen. Der
Funktionsgruppenansatz
führt zur Beantwortung einer Frage, über die die
Stratifikationsanalyse
nie so recht hinausgekommen ist: eben der Frage nach der Differenzierung sdetenninaiit£. Funkttonsgruppen erweisen sich als die
"zentrierende
Achse", um die herum, letztlich determiniert durch den jeweiligen
Ent-
wicklungsstand der von der betreffenden Gruppe in Bewegung
gesetzten
Produktivkräfte, vielfältige, als Differenzierungsmerkmale
erscheinende,
konkretere Eigenschaften angeordnet sind. Will man herausfinden, diese Eigenschaften verändert werden können, zum Beispiel
wie
Reduzierung
wesentlicher Unterschiede zwischen körperlicher und geistiger Arbeit, müssen die im Gefüge der gesellschaftlichen Arbeitsteilung ten Determinierungen bestimmt werden - was den
angesiedel-
Funktionsgruppenansatz
zu einer zutiefst praktischen Sache werden läßt. 2. D a s Konzept führt zur Ortung real handelnder Subjekte zwischen den Ebenen "Gesellschaft und Klassen" einerseits und "Individuum und kleine Gruppe" andererseits. W a s Schichtungen im Sinne des Konzepts der sozialen Stratifikation von Funktionsgruppen unterscheidet, ist ein entscheidender Umstand: Die Inhaber eines gleichen (konsistenten) Status verhalten sich bestenfalls separat, nicht aber
sozialen
systemnotwendig
zu anderen Statusgruppen. Statistische Gruppen, die auf der Grundlage bestimmter gruppenbildender Merkmale bestimmt werden, "verhalten" ebenfalls nicht - auch wenn statistische Analysen bestimmte nen zwischen Struktur- und Verhaltensdaten
sich
Korrelatio-
herstellen.
Während die Stratifikationsanalyse den Begriff "Struktur", sofern sie ihn überhaupt verwendet, als Korrelat des Begriffs "Ordnung"
versteht,
das heißt als Begriff, der ein bestimmtes Ordnungsgefüge sozialer Differenzierungen abbildet, definiert der Funktionsgruppenansatz den Begriff "Struktur" als Korrelat des Begriffs "System": Funktionsgruppen
verhal-
ten sich zueinander, weil die übergreifende Klassenfunktion nur durch das Ineinandergreifen der Träger arbeitsteiliger Teilfunktionen
herge-
stellt werden kann. Da es die Soziologie letztlich immer mit den Gesetzmäßigkeiten und Bedingungen des Verhaltens sozialer Subjekte zu tun hat, erweist sich das Funktionsgruppenkonzept als entscheidend nicht nur für
6
M. Lötsch, Hg. Meyer, Sozialstrukturforschung und Leitung sozialer Prozesse, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 2/1974, S. 167, insbesondere S. 171.
234
sozialstrukturelle,
sondern für soziologische Fragestellungen
überhaupt.
3. Was Ende der sechziger/Anfang der siebziger Jahre noch nicht im vollen Umfang abzusehen war, wird heute immer deutlicher: der A n s a t z ist für wesentliche und an Bedeutung zunehmende Theoriedebatten von legender Bedeutung. Unter den Bedingungen der
grund-
wissenschaftlich-techni-
schen Revolution steht die marxistische Klassentheorie vor vielen neuen Fragen; die Ausarbeitung einer soziologischen Theorie der
Intelligenz
wird immer dringlicher. Viele in der Vergangenheit entwickelte lungen, wie die von einer schnellen Aufhebung des sozialen
Vorstel-
Sonderstatus
der Intelligenz, halten heutigen und vorhersehbaren Bedingungen
nicht
stand; auf die Frage, welche Wandlungen im Wesen der A r b e i t e r k l a s s e
und
im Verhältnis von Arbeiterklasse und Intelligenz vor sich gehen werden, stehen viele Antworten noch aus. A n a l o g e s gilt für viele und substantielle Klassen- und Intelligenzdiskussionen hinsichtlich der kapitalistischen Gesellschaft: Führt die Ausweitung des Phänomens der intellektuellen Lohnarbeit zur "Proletarisierung" der Intelligenz,
for-
miert sich die Intelligenz als Moment "neuer Mittelschichten" - o d e r muß auf die Frage, was Intelligenz in der heutigen kapitalistischen
Gesell-
schaft sei, eine völlig andere Antwort gegeben w e r d e n ? D a s sind Themen gesonderter A r b e i t e n . Hier ist nur eines w i c h t i g : D a s noch immer verbreitete Verfahren, die soziale Schicht der Intelligenz über abgeleitete Eigenschaften
(wie "kompliziertere geistige Arbeit" und "höhere Bildung"
und "Quafifikation",
im vereinfachten Extrem als "Gesamtheit von P e r s o -
nen mit Fach- und Kochschulausbildung) zu bestimmen, erfaßt das Wesen dieser Schicht nicht. Der A n s a t z liegt in der gesellschaftlichen
Funk-
tion der Intelligenz, die sich als "Entwicklung, unmittelbare A n w e n d u n g und Verbreitung von Wissenschaft (und Kunst)" definieren läßt, der spezifische Eigenschaften
(Ausbildung usw.) als Bedingungen
für die B e w ä l -
tigung dieser Funktion in ihrer konkreten Ausprägung historisch
verän-
derlich zugeordnet sind und das jeweilige soziale Profil dieser Schicht ausmachen. N u r so ist letztlich zu klären, warum die A u s p r ä g u n g
sozia-
ler Besonderheiten der Intelligenz gesetzmäßig ist: eben weil sich die Spezifik der gesellschaftlichen
Funktion gegenüber der der A r b e i t e r k l a s -
se nicht verwischt, sondern ausprägt. Jede soziologische T h e o r i e
sozia-
ler Subjekte muß von ihrer Funktion im gesellschaftlichen Ganzen
aus-
gehen; es w a r die Startphase der empirischen
Sozialstrukturforschung,
in der dieses tragfähige Konzept, wie unreif in seinen Anfängen auch immer, geboren wurde. 4 . Schließlich ist der Funktionsgruppenansatz nichts anderes als eine konkrete Nutzanwendung des übergreifenden A n s a t z e s jeder wirklichen Strukturanalyse: des Struktur-Funktions-Paradigmas. Strukturen
sind
nicht einfach Ordnungsgefüge von Merkmalen sozialer Differenziertheit, sondern stabile, dauerhafte, sich reproduzierende und entwickelnde ziehungen
(Verhältnisse) zwischen den Elementen eines sozialen
aber nicht zwischen allen denkbaren Elementen gleichermaßen, nen, die für übergreifende Systemfunktionen
Be-
Systems,
sondern
je-
relevant sind. Eben diese
235
Überlegungen waren e9, die zur Bestimmung der relevanten Elemente
"Funk-
tionegruppen" zwischen den Systemelementen "Klassen" einerseits und "kleinere Gruppen"
(oder gar Individuen) andererseits führten: Diese
Gruppen sind es, deren Beziehungsgefüge den Kern struktureller Zusammenhänge ausmacht. Was in dieser knappen Skizze als ziemlich logische und kontinuierliche Theorieentwicklung erscheinen mag, war in der lebendigen Wirklichkeit ein Prozeß voller leidenschaftlicher Diskussionen,
be-
stimmt durch Fortschritte und zeitweilige Rückschläge. Die für einen bestimmten Abschnitt der sechziger Oahre charakteristische
Hypertrophie-
rung systemtheoretischer Überlegungen ging an der Ausarbeitung
sozial-
struktureller Konzepte ebensowenig spurlos vorüber wie die nachfolgende Tendenz, solche Überlegungen ziemlich pauschal abzubrechen. Heute ist es höchste Zeit, den rationellen Kern damaliger Überlegungen, neuen B e dingungen entsprechend, wieder aufzugreifen: Strukturanalyse ist Systemanalyse. D a s gilt für die Bestimmung der relevanten strukturellen Elemente, geht aber, da dies recht eigentlich eine Angelegenheit des Vorfeldes von Strukturforschung ist, weit darüber hinaus: Die letztlich entscheidende Frage, wie sich soziale Strukturen entwickeln sollen, welche Veränderungen gegebener Strukturen mithin anzustreben sind, läßt sich nur beantworten, wenn die übergreifenden Systemfunktionen,
denen
gegebene Strukturen entsprechen oder nicht entsprechen können, den übergeordneten Bezugspunkt jeder Strukturanalyse abgeben. W i r kommen darauf später zurück. Klassenanalyse und
"Zuordnungsprobleme"
Daß die Arbeiterklasse im Zentrum der Sozialstrukturforschung zu stehen hat, war von allem Anfang an eine gesicherte P r ä m i s s e . 7 A u s ihr ergab sich logischerweise die Frage, wie diese Klasse nicht nur qualitativ hinsichtlich ihrer wesentlichen Klasseneigenschaften,
sondern eben auch
operational-quantitativ zu bestimmen sei; mit dem Vorhaben, eine für die Klasse repräsentative Untersuchung anzugehen, kam ein weiterer praktischer Grund für leidenschaftliche
und langwierige Diskussionen
hinzu.
Wenn der heutige Leser der damals produzierten Texte bereit ist, über das eine oder andere formal oder wohl auch scholastisch anmutende A r g u 7
8
Vgl. M . Lötsch, Sozialstruktur, besonders die Entwicklung der A r b e i terklasse und des Verhältnisses von Arbeiterklasse und Intelligenz im entwickelten gesellschaftlichen System des Sozialismus in der DDR, Bericht der Arbeitsgruppe 7, in: Soziologie im Sozialismus, a.a.O., (Schriftenreihe Soziologie); M. Lötsch, R. Weidig, Soziologische Probleme der Entwicklung der Arbeiterklasse bei der Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 5/1972, S. 604; R. Weidig, Grundfragen und Aufgaben der marxistisch-leninistischen Soziologie bei der Analyse der Struktur der Arbeiterklasse, Beitrag auf dem internationalen Colloquiuni zu Fragen der Sozialstruktur, in: Zur Sozialstruktur der sozialistischen Gesellschaft, a.a.O., S. 12 (Schriftenreihe Soziologie); S. Grundmann, M . Lötsch, R. Weidig, Zur Entwicklung der Arbeiterklasse und ihrer Struktur, Berlin 1976 (Schriftenreihe Soziologie). Vgl. alle Beiträge in: Zur Sozialstruktur der sozialistischen Gesellschaft, a.a.O. (Schriftenreihe Soziologie).
236
ment h i n w e g z u s e h e n , w i r d er die R e l e v a n z der d i s k u t i e r t e n P r o b l e m e , n i g e r der g e g e b e n e n A n t w o r t v e r s u c h e ,
leicht
1. D a s V e r h ä l t n i s von A r b e i t e r k l a s s e
we-
erkennen:
und I n t e l l i g e n z b e d u r f t e
der
Klärung, w e i l die W i r k l i c h k e i t der f ü n f z i g e r und s e c h z i g e r O a h r e
viele
neue Fragen h e r v o r g e b r a c h t hatte: W e l c h e Rolle spielen b e s t i m m t e
Gruppen
d e r I n t e l l i g e n z im M e c h a n i s m u s der führenden Rolle d e r A r b e i t e r k l a s s e , v o r allem im H i n b l i c k auf die p o l i t i s c h e n A s p e k t e der
gesellschaftlichen
Funktion der K l a s s e ? W e l c h e K o n s e q u e n z e n hat die sich a n b a h n e n d e gration" von W i s s e n s c h a f t
"Inte-
und P r o d u k t i o n ? W i e muß die g r u n d l e g e n d e
ziehung z w i s c h e n A r b e i t e r k l a s s e und I n t e l l i g e n z d e f i n i e r t w e r d e n ,
Bewenn
die neue, a u s s o z i a l i s t i s c h e n B e d i n g u n g e n h e r v o r g e g a n g e n e
Intelligenz
immer m e h r das G e s a m t b i l d der Schicht p r ä g t ? U n d auf der
praktischeren
E b e n e : V e r l i e r t ein A r b e i t e r , wenn er ein H o c h s c h u l s t u d i u m
absolviert,
seine " K l a s s e n z u g e h ö r i g k e i t " ? Wenn bei b e s t i m m t e n E n t s c h e i d u n g e n
die
"soziale H e r k u n f t " b e r ü c k s i c h t i g t w e r d e n soll - w i e ist diese dann
zu
b e s t i m m e n ? Wen soll und darf ein S a m p l e umfassen, w e n n e s die A r b e i t e r klasse a b b i l d e n will:' nur A r b e i t e r o d e r a u c h I n g e n i e u r e ? W i e g r o ß die A r b e i t e r k l a s s e , w e r gehört zu ihr, w i e läßt sie sich a u c h tiv-statistisch
ist
quantita-
erfassen?
2. Fragen d i e s e s T y p s w a r e n mit t r a d i t i o n e l l e n M o d e l l e n n i c h t zu klären« D a s b i s d a h i n d o m i n i e r e n d e ,
N a c h d r u c k v e r t r e t e n e , B e z u g s s y s t e m " v o r w i e g e n d k ö r p e r l i c h e und gend k o m p l i z i e r t e r e g e i s t i g e A r b e i t "
mehr
und in v i e l e n D i s k u s s i o n e n
führte zu a u g e n s c h e i n l i c h e n
n i g k e i t e n : die B e s t i m m u n g der A r b e i t e r k l a s s e a l s " v o r w i e g e n d
mit
vorwieUnsin-
körperlich
tätige K l a s s e " w u r d e o f f e n b a r vielen n e u e n E n t w i c k l u n g e n n i c h t m e h r recht; eine s t a t i s t i s c h - a l t e r n a t i v e A b g r e n z u n g a l l e r P e r s o n e n mit und H o c h s c h u l b i l d u n g , w a s a l s h i n r e i c h e n d e x a k t e s K r i t e r i u m stimmung der I n t e l l i g e n z galt, von d e r A r b e i t e r k l a s s e sehbaren t h e o r e t i s c h e n
und p r a k t i s c h e n U n s t i m m i g k e i t e n
ge-
Fach-
für die
führte zu
Be-
unüber-
usw.
3 . D i e in den V o r d e r g r u n d tretende Idee, die A n n ä h e r u n g von A r b e i t e r klasse und I n t e l l i g e n z sei ihrem W e s e n n a c h e i n e " A n n ä h e r u n g d e r l i g e n z an die A r b e i t e r k l a s s e " ,
Intel-
führte, v e r s t ä r k t d u r c h e n t s p r e c h e n d e
sitionen in der i n t e r n a t i o n a l e n m a r x i s t i s c h e n L i t e r a t u r , zur S u c h e Belegen
für einen b e g i n n e n d e n O b e r g a n g
"von der A n n ä h e r u n g zur
zung" - was, im U n t e r s c h i e d zu den unter 1. und 2. g e n a n n t e n
Po-
nach
Verschmel-
Fragen,
h i n t e r denen sich reale P r o b l e m e v e r b a r g e n , m a n c h e n a u s W u n s c h d e n k e n n ä h r t e n I r r a t i o n a l i s m u s in die D e b a t t e n
ge-
hineintrug.
D a s und v i e l e s andere waren die H i n t e r g r ü n d e
für l e b h a f t e
Diskussio-
nen, wie sie in d i e s e r H e f t i g k e i t seitdem, g e n a u g e n o m m e n , n i c h t geführt w o r d e n sind. Im Kern waren es z w e i G r u n d p o s i t i o n e n ,
mehr
die in d i e -
sen D i s k u s s i o n e n a u f e i n a n d e r t r a f e n 9 : W ä h r e n d die V e r t r e t e r der e i n e n stimmte Teile der I n t e l l i g e n z ( p o l i t i s c h - a d m i n i s t r a t i v e 9
und
be-
Produktions-'
M. Lötsch, R. W e i d i g , Probleme d e r B e z i e h u n g e n z w i s c h e n A r b e i t e r k l a s se und I n t e l l i g e n z bei der G e s t a l t u n g der e n t w i c k e l t e n s o z i a l i s t i sch en G e s e l l s c h a f t (The sen) # in: D e u t s c h e ZGitschrift für P h i l o s o p h i e , S/1973, S. 9 4 7 . 237
Intelligenz) mehr oder weniger konsequent als Teil der Arbeiterklasse definierten, betonten die Vertreter des anderen Standpunktes den für die gesamte Intelligenz gültigen besonderen Schichtcharakter. Im Hinblick auf die A r b e i t e r k l a s s e verstanden sich beide Positionen als "weitere" und "engere" Bestimmung des Umfangs der Klasse. Details damaliger A r g u mentationen sind heute nicht mehr sehr interessant; wichtig sind zwei Punktes der herausgebildete Konsensus und die offengebliebenen
Fragen.
Auf der einen Seite gilt es heute mit weitgehender Obereinstimmung als sicher, daß Arbeiterklasse und Intelligenz weit davon entfernt miteinander zu "verschmelzen". Wenn heute der besondere
sind,
Schichtcharakter
der Intelligenz einhellig hervorgehoben wird, auch von Autoren, die da10 , mals eher die "weite" Auffassung von der Arbeiterklasse vertraten dann ist dies nicht nur theoretischer Einsicht geschuldet, sondern greifenden gesellschaftlichen Erfordernissen: Es sind objektive mäßigkeiten der wissenschaftlich-technischen
über-
Gesetz-
Revolution, die zur A u s p r ä -
gung der spezifischen Funktion der Intelligenz und ihrer damit einhergehenden sozialen Besonderheiten Einsichten
führen und entsprechende
theoretische
erzwingen.
Auf der anderen Seite wurde etwa in der Mitte der siebziger üahre die Diskussion eher abgebrochen als beendet, was zur Folge hatte, daß einige durchaus relevante Fragen bis heute nicht hinreichend
beantwortet
sind«11 - Die bereits in der damaligen Diskussion herausgearbeitete
Unter-
scheidung zwischen strukturellen Funktions- und Ordnungsmodellen
wird
nicht konsequent durchgehalten. Ausdruck dieser Verquickung ist die immer wieder auftretende Annahme, das Modell: Arbeiterklasse + Klasse der Genossenschaftsbauern + soziale Schicht der Intelligenz + Handwerker und Gewerbetreibende könne als Klassifikationsmodell angesehen werden, in dem jedes Individuum statistisch abgrenzbar einer dieser Gruppierungen zuzuordnen wäre und das in der Summe auf 100 aufginge. Die
theore-
tische Betonung der Existenz von "Obergangszonen" zwischen diesen Gruppierungen, vor allem zwischen Arbeiterklasse und Intelligenz, und statistische Zählversuche stimmen nicht
überein.
- Während es in der damaligen Diskussion vor allem darum ging, w e r zur A r b e i t e r k l a s s e gehöre, konzentrieren sich heute die Diskussionen eher auf die genauere Bestimmung der Intelligenz. D a s Spektrum der anzutreffenden Standpunkte
reicht von der Gleichsetzung von
"Intelligenz"
mit "Gesamtheit der Personen mit Fach- und Hochschulabschluß" bis zu B e stimmungen, die sehr konsequent von der "eigentlichen tion" 10 11
238
Intelligenzfunk-
(Entwicklung, unmittelbare Anwendung und Verbreitung von Wissen-
Vgl. M. Lötsch, Abschnitt Intelligenz, in: Sozialstruktur der DDR, Berlin 1988. I. Lötsch, Zur sozialen Zugehörigkeit der wirtschaftlich Tätigen. Ergebnisse der Volks-, Berufs-, Wohnraum- und Gebäudezählung (VBWGZ) 1981, Teil 4, Berlin 1986 (unveröffentlicht); dieselbe. Zu einigen Problemen der Entwicklung der Sozialstruktur, in: Inform. Soziol. Forsch. DDR, 4/1987, S. 29-32.
Schaft und Kunst) ausgehen. Die quantitativen Größenangaben
schwanken
zwischen 21 Prozent und 11-12 Prozent, w a s schon ein erheblicher U n t e r schied ist. - Merkwürdigerweise wurde weder damals noch wird heute das Problem der sozialstrukturellen Zuordnung der A n g e s t e l l t e n ausdrücklich thematisiert. Die verbreitete Vorstellung, A n g e s t e l l t e gehörten, weil sie sinnvollerweise nicht als Teil der Intelligenz definiert werden können, zur 12 Arbeiterklasse
, erzwingt jedoch eine Reihe von Einwänden. Wenn nicht
von sekundären Merkmalen(wie berufliche Qualifikation
und
"vorwiegend
geistige Arbeit")ausgegangen wird, sondern von den Eigenheiten der gesellschaftlichen Funktion, dann können jene A n g e s t e l l t e n g r u p p e n , außerhalb der materiellen Produktion tätig sind,(staatliche
die
Institutio-
nen, Wissenschaft, Bildungswesen, Gesundheitswesen, Kultur) und deren unmittelbare Bezugsgruppe nicht die A r b e i t e r k l a s s e , sondern die in diesen Bereicher, tätigen Gruppen der Intelligenz sind, nicht mit der B e gründung als "Teil der Arbeiterklasse" definiert werden, daß sie dies wegen ihrer nicht-intelligenzspezifischen Qualifikation wären - wenn man nicht klassenkonstituierende durch sekundäre Kriterien ersetzen
will.
Die Vorstellung geht von der stillschweigend gesetzten A n n a h m e aus,
daß
für die Zuordnung der Angestellten eben nur die beiden
Gruppierungen
"Arbeiterklasse" oder Intelligenz" zur Verfügung ständen, so daß sich die Frage, was diese Teile der Angestellten sozialstrukturell
wirklich
sind, in die merkwürdige Frage transformiert, welche der vorgegebenen Zuordnungsmöglichkeiten
"am wenigsten falsch" sei. Eine mit
grundlegen-
den Prämissen der Klassentheorie übereinstimmende Lösung ergibt
sich
unseres Erachtens jedoch nur, wenn anerkannt wird, daß zwischen den grundlegenden gesellschaftlichen G r u p p i e r u n g e n andere existieren, weder der einen noch der anderen "zuzuordnen"
die
sind. Nicht mit der ma-
teriellen Produktion verbundene Angestellte sind w e d e r A r b e i t e r k l a s s e noch Intelligenz, sondern eine spezifische soziale G r u p p i e r u n g . D i e s übrigens nicht nur hinsichtlich der zentralen klassentheoretischen
Kri-
terien, sondern auch in ihrem gesamten sozialen Habitus. Das gleiche methodologische Grundproblem findet sich übrigens auch in aktuellen
Dis-
kussionen über die sozialstrukturelle Charakterisierung der I n t e l l i g e n z 13 in der heutigen kapitalistischen G e s e l l s c h a f t . Wenn v o r a u s g e s e t z t wird, daß für die "Zuordnung" der Intelligenz n u r Proletariat oder B o u r g e o i s i e oder Mittelschichten zur Verfügung ständen, so daß die Intelligenz
einer
dieser Gruppierungen zugeordnet werden muß, dann bleiben n u r die beiden bekannten "Lösungen": die lohnabhängige Intelligenz ist dann
entweder
"proletarisierte Intelligenz" oder "neue M i t t e l s c h i c h t " . In Wahrheit sie weder das eine noch das andere, sondern eine vorgegebenen
ist
Gruppie-
rungen nicht zuzuordnende besond ere soziale Schicht, deren strukturelle 12 Vgl. Wörterbuch der marxistisch-leninistischen Soziologie, Stichwort Angestellte, Berlin 1977, S. 20-23. 13 M. Lötsch, M. Thomas, Soziologische Kontroversen um die I n t e l l i g e n z heute, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 8/19S7; 0. Kuczynski, Bemühungen um die Soziologie, Berlin 1986', S. 82. 239
Beziehungen zu den Grundklassen nur in einem mehrdimensionalen
Modell
geklärt werden können. A n d e r s gesagt: Das Modell "Klassen und Schichten" ist seinem Wesen nach ein Funktionsmodell; es definiert soziale
kollek-
tive Subjekte im Hinblick auf deren grundlegende Funktion im gesellschaftlichen G a n z e n . In ein Ordnungsmodell ist es nur partiell
transfor-
mierbar: eindeutig zu bestimmen sind immer die Kerngruppen der grundlegenden Subjekte. Ein vollständiges Ordnungsmodell dagegen, das heißt ein Modell, in dem erstens jedes Individuum zweifelsfrei einer Gruppe und nur einer Gruppe zuzuordnen ist und das
zweitens auf 100 aufgeht,
ist auf d i e s e r allgemeineren Ebene prinzipiell nicht möglich. Die Volks-, Berufs-, Wohnraum- und Gebäudezählung
(VBVVGZ) 1 9 8 1 1 4 ging von dieser Ein-
sicht a u s und führte zu einer sinnvollen Abbildung von Gliederungen
in-
nerhalb der Gesamtheit "Arbeiter und A n g e s t e l l t e " . Es scheint an der Zeit zü sein, auf in der damaligen Diskussion offengebliebene der theoretisch begründeten sozialstrukturellen Klassifikation
Probleme zurück-
zukommen. Das Bezugssystem: Gleichheit - Unterschiede - Besonderheiten Wir definierten w e i t e r vorn den übergreifenden A n s a t z jeder Strukturanalyse als "Struktur-Funktions-Paradigma". Da Strukturen Funktionen erfüllen (oder nicht erfüllen), ist immer zu fragen, im Hinblick auf welche Systemfunktionen
(verstanden als Bewegung, mithin Entwicklung
ein-
schließend) Strukturen untersucht werden sollen. Die konzeptionelle wicklung der Sozialstrukturforschung Probien^
ihre Entwicklungsphasen lassen sich als Phasen
cher Antworten auf die gleiche Frage
Ent-
gruppiert sich letztlich um dieses unterschiedli-
bestimmen.
A l s die empirische Sozialstrukturforschung
begann, waren soziale Un-
terschiede im theoretischen Bewußtsein wenig präsent; die Einheitlichkeit der Gesellschaft und in ihr der Arbeiterklasse wurde - zumindest in der G r u n d t e n d e n z - eher überbetont. Vermittelt über den Funktionsgruppenansatz, tur der Arbeiterklasse
skizzierten
führte die erste größere Untersuchung zur Struk(1973) zu vielfältigen Informationen über den Zu-
sammenhang von Arbeiterklasse und Differenziertheit. Obwohl schon in dieser ersten Phase die Einsicht keimhaft aufkam, daß bei der Bewertung vorgefundener Differenzierungen auch Effizienzerfordernisse eine
gewis-
se Rolle spielen (so anhand der ersten Informationen über Widersprüche zwischen erforderlichen und vorhandenen
Qualifikationspotentialen),so
dominierte doch die Bewertung nach dem Zielkriterium "Gleichheit", geleitet aus der als übergreifend gedachten Systemfunktion
ab-
"Annäherung
der Klassen und Schichten und Reduzierung wesentlicher sozialer U n t e r schiede". Ä h n l i c h e s gilt für die Untersuchung zur Annäherung der Klassen und Schichten
(1S77) und für die internationale
Gemeinschaftsuntersu-
chung zur A n n ä h e r u n g von Arbeiterklasse und Intelligenz (1981). Soziale
14
240
Staatliche Zentralverwaltung der VBIVGZ 1981, Berlin.
für Statistik, Methodische Grundlagen
Unterschiede, so etwa d a s dominierende Denkmodell, wurden geortet, hinsichtlich A u s m a ß und Komplexität beschrieben - und als ein G e f ü g e von Zuständen interpretiert, deren zielstrebige Oberwindung als übergreifen15 des Fortschrittskriterium der sozialistischen Gesellschaft galt. In dieser Sichtweise liefen extrapolative Fortsetzungen bisheriger
Entwick-
lungen« - A u f h e b u n g der alten Klassenstruktur, Brechung des B i l d u n g s p r i vilegs, Reduzierung w e s e n t l i c h e r sozialer Unterschiede zwischen
Stadt
und Land, Formierung der Bauernschaft zur sozialistischen Klasse der G e nossenschaftsbauern
usw. - und vereinfachte A n n ä h e r u n g s v o r s t e l l u n g e n
-
beschleunigte Annäherung der Intelligenz an die A r b e i t e r k l a s s e - zusammen. Mit dem sich anbahnenden Übergang vom vorwiegend extensiven
Wirt-
schaftswachstum zur intensiv-erweiterten Reproduktion wurde immer deutlicher, daß das Zielkriterium "Gleichheit" als alleiniges B e w e r t u n g s k r i terium nicht ausreicht. Neue innere Wachstumsbedingungen schärfende globale Auseinandersetzungen
und sich v e r -
um die Bewältigung des w i s s e n -
schaftlich-technischen Fortschritts rückten die Frage nach der W i r k u n g s weise sozialer Strukturen im Gefüge von Triebkräften des W i r t s c h a f t s 1ß Es galt, die T e n d e n z zur A b k o p p l u n g des
W a c h s t u m s in den Mittelpunkt.
Sozialen vom ökonomischen Erfordernis zu überwinden und soziale
Zustän-
de auch danach zu befragen, ob und wie sie geeignet sind, die
Innova-
tionsfähigkeit der sozialistischen G e s e l l s c h a f t z u befördern;
damit
rückte das Zielkriterium "Effizienz" in den V o r d e r g r u n d . Wie so oft, wenn bestimmte konzeptionelle Orientierungen n e u d u r c h 17 dacht werden, zunächst mit gewissen Zuspitzungen und V e r e i n f a c h u n g e n : Mit der These von der "Triebkraftfunktion
sozialer Unterschiede"
der A n s a t z Gefahr, aus einer Einseitigkeit, der V e r a b s o l u t i e r u n g Vereinfachung von Annäherungszielen,
lief und
in eine andere Einseitigkeit,
Verabsolutierung von Effizienzerfordernissen,
der
umzuschlagen. Nicht zu U n -
recht wurde in vielen lebhaften Diskussionen, so innerhalb des P r o b l e m 1 5 Einen guten Oberblick über die damals dominierenden S t a n d p u n k t e gibt S. Grundmann, D a s Wesen der sozialen Unterschiede und ihre schrittweise Verringerung im Prozeß der Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft, in: Gesellschaftliche A r b e i t s t e i l u n g und Sozialstruktur, TID der AFG, Reihe A, 1/1976, S . 182. 16 R. Weidig, Sozialstruktur und Lebensweise bei der G e s t a l t u n g der entwickelten sozialistischen G e s e l l s c h a f t in der DDR, in: L e b e n s weise und Sozialstruktur, Berlin 1981, S. 10-55 (Schriftenreihe Soziologie); M. Lötsch, Annäherung von A r b e i t e r k l a s s e und Intelligenz. Gesetzmäßigkeiten der Reduzierung sozialer Unterschiede zwischen körperlicher und geistiger Arbeit, in: ebenda, S . 2 1 2 - 2 2 1 ; derselbe. Soziale Strukturen als Wachstumsfaktoren und T r i e b k r ä f t e des wissenschaftlich-technischen Fortschritts, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 6/1982, S. 721; derselbe, A r b e i t e r k l a s s e und Intelligenz in der Dialektik von w i s s e n s c h a f t l i c h - t e c h n i s c h e m , ökonomischem und sozialem Fortschritt, in: ebenda, 1/1985, S. 3 1 . Der Triebkraftaspekt war auch Thema des 4 . Kongresses der m a r x i stisch-leninistischen Soziologie der DDR 1985 in B e r l i n . Vgl. R. Weidig, Soziale Triebkräfte ökonomischen Wachstums, in: Soziale Triebkräfte ökonomischen Wachstums, Berlin 1986, S.10-49 (Schriftenreihe Soziologie). 17 Vgl. M . Lötsch, Sozialstruktur und Wirtschaftswachstum, in: W i r t schaftswissenschaft 1/1981. 241
rates "Sozialstruktur", auf die unveränderte Gültigkeit des Zielkriteriums der "Reduzierung sozialer Unterschiede" aufmerksam
gemacht.
A n d e r s als bei der nicht zu Ende geführten Diskussion über Klassifikations- und Zuordnungsprobleme bildete sich - was den Nutzen
lebhaften
Meinungsstreits nachhaltig unterstreicht - relativ rasch ein w e i t g e h e n der Konsensus heraus, dessen Hauptpunkte sich etwa so zusammenfassen 18 . lassen t Erstens bedarf das Zielkriterium "Gleichheit" selbst der genaueren B e stimmung, das heißt der strikten Abgrenzung von "Nivellierung",
"Homo-
genisierung" oder "Uniformität". Gleichheit schließt im marxistischen Verständnis das sozial Besondere, von der Gruppe bis zur Persönlichkeit, nicht aus, sondern wesentlich ein: als Gleichheit der Entwicklungschancen bei Vielfalt der Entwicklungswege. Zweitens sind soziale Unterschiede und Differenzierungen eine derart komplexe Erscheinung, daß ihnen eindimensionale Strategien nicht
gerecht
werden können: Weder die pauschale Forderung nach ihrer "Reduzierung" und schon gar nicht, wie viele Kritiker der These von der
"Triebkraft-
funktion sozialer Unterschiede" vermuteten, die pauschale Forderung nach ihrer "Ausprägung". V o r der Bestimmung differenzierter
gesellschaftli-
cher Strategien muß das Problem selbst in seine qualitativ verschiedenartigen Ebenen"zerlegt" werden; dabei sind zunächst die Bewertungskriterien genauer zu bestimmen: Soziale Unterschiede sind etwas anderes als soziale Besonderheiten; in erstere gehen Niveauunterschiede in Lebenslagen und Lebensbedingungen ein, so daß als erstes Bewertungskriterium das des M a ß e s der Niveauunterschiede gilt. Zusätzlich ist vorauszusetzen, daß Unterschiede
zwi-
schen mittleren und höheren Niveaus eine andere soziale Qualität aufweisen als Unterschiede zwischen unteren und mittleren (und höheren)
Ni-
veaus. Ferner sind vor allem soziale Unterschiede nicht auf eindimensionale Differenzierungen
(Einkommen, Bildung, Qualifikation usw.)
bar, sondern eine komplexe Erscheinung, in die viele Momente
reduzier-
sozialer
Differenziertheit eingehen; daraus ergibt sich a l s zweites Bewertungskriterium das der strukturellen Konsistenz ("Bündelungseffekt"). Hier ist zwischen dem Wesen sozialer Unterschiede und illustrierenden
Darstellun-
gen zu unterscheiden: Während letztere oft nicht umhin können,
bestimmte
grundsätzliche Überlegungen anhand singuj.ärer Beispiele einsichtig zu machen (wie die Darstellung des Erfordernisses funktionaler
Differenzie-
rungen anhand der Durchsetzung des Leistungsprinzips und dementsprechender Belohnungs- und Einkommensunterschiede),muß,
wenn es um die qualita-
tive Bestimmtheit sozialer Unterschiede geht, immer von ihrer Komplexität ausgegangen
werden.
A . Unterhalb der Ebene des im Sozialismus überwundenen 18
Klassengegen-
V g l , I. Lötsch, M . Lötsch, Soziale Strukturen und Triebkräfte: V e r such einer Zwischenbilanz und Weiterführung der Diskussion, in: Oahrbuch für Soziologie und Sozialpolitik 1985, Berlin 1985, S. 159178.
242
satzes ist spezifische soziale Ungleichheit dann möglich, wenn e x treme Niveauunterschiede mit hochgradiger struktureller zusammenfallen
Konsistenz
(Deprivation). Für Differenzierungen dieses T y p s gilt
nur das Zielkriterium "Reduzierung". Mehr noch: Die erfolgreiche V e r wirklichung dieser Strategie ist die unerläßliche V o r a u s s e t z u n g die Möglichkeit und gesellschaftliche A k z e p t a n z der Strategien
für (B)
und (C). B . Das in anderen Arbeiten bereits beschriebene Konzept der
"Transfor-
mation disfunktionaler in funktionale Strukturen" - unterhalb der Ebene "soziale Ungleichheit" - ist differenzierter zu bestimmen. Es enthält zwei wesentlich verschiedene M o m e n t e : B/1: T r a n s f o r m a t i o n disfunktionaler Differenzierungen in funktionale
Differenzierungen;
B/2: Transformation disfunktionaler Nivellierungen in Differenzierungen.
(Einkommensunterschiede,
res Beispiel zu geben, können
funktionale
um nun doch ein
singula-
ebensosehr Erfordernissen d e s L e i -
stungsprinzips widersprechen wie Einkommensnivellierungen. w a s e b e n falls gegen den vereinfachten Vorwurf spricht, es ginge um eine p a u schale "Ausprägung von
Differenzierungen.)
C . Soziale Besonderheiten ohne Niveauunterschiede gehören zu den e r strebenswerten Wesenszügen der S o z i a l s t r u k t u r der Gesellschaft. Die spezifische Funktion im S y s t e m
sozialistischen gesellschaftlicher
Arbeitsteilungen erzeugt nicht n u r funktionale (berufliche usw.) Eigenarten; sie bringt auch wesentliche soziale Besonderheiten Struktur der Gruppe, ihrer Interessen, Verhaltensweisen,
der
Lebensstile
usw. mit sich. Wie erforderlich es ist, die skizzierten Grundtypen sozialer D i f f e r e n zierungen und die ihnen entsprechenden gesellschaftlichen
Strategien
einerseits voneinander zu unterscheiden und andererseits in ihrem gegenseitigen Zusammenhang zu erfassen, mögen zwei aktuelle
Problemlagen
verdeutlichen. Erstens. Die Strategie
(C) ist im allgemeinen gesellschaftlichen
Ver-
ständnis hinsichtlich der sozialen B e s o n d e r h e i t e n der Klasse der G e n o s senschaf tsba uern und des Dorfes weitaus a k z e p t i e r t e r als hinsichtlich der sozialen Besonderhelten der Intelligenz. D a s hat teils h i s t o r i s c h e Gründe, der Status der Bauernschaft als B ü n d n i s p a r t n e r der A r b e i t e r k l a s se ist - historisch gesehen - nicht der gleiche wie der der Intelligenz, hat zugleich aber wesentlich mit unserem Problem zu tun: W ä h r e n d die Ausprägung sozialer Besonderheiten der Bauernschaft und der ländlichen Lebensweise keineswegs zwangsläufig mit der A u s p r ä g u n g sozialer D i f f e renzierungen
(vom Typ B/2) zusammenfällt, schließt das gleiche Ziel im
Hinblick auf die Intelligenz die erweiterte Reproduktion b e s t i m m t e r N i veauunterschiede, oder die O b e r w i n d u n g d i s f u n k t i o n a l e r ein: in der konzentrierten Formierung einer kreativen der wissenschaftlichen
Nivellierungen, Leistungsspitze
Intelligenz, mit' der D u r c h s e t z u n g des
Leistungs-
prinzips, in der Herausbildung w i s s e n s c h a f t s s p e z i f i s c h e r L e b e n s - und Reproduktionsbedingungen
usw. Es sind objektive Gründe und
keineswegs
243
nur theoretische Mißverständnisse, die das T h e m a "soziale B e s o n d e r h e i ten der Intelligenz" diffiziler und sensibler machen. Zweitens. In jüngster Zeit wird immer deutlicher, daß Vorschläge, die die Ausprägung sozialer Besonderheiten der Intelligenz betreffen, von anderen Seiten außerhalb unserer eigenen Reihen mit besonderer A u f m e r k samkeit verfolgt und auf bemerkenswerte Weise kommentiert werden. Die Grundtendenz der Argumentation (von Konservativen und Neoliberalen mit einer gewissen hämischen Schadenfreude, von linken Kräften mit freundlicher Besorgnis) läuft darauf hinaus, in entsprechenden
theoretischen
Vorschlägen und praktischen Bestrebungen eine Kopie westlicher elitärer Konzepte z u vermuten: Leistungsprinzip und Spezialschulen,
Sonderstu-
dienpläne und differenzierte Bildungswege, Anstrengungen zur Begabtenförderung usw. werden als "Wege zur Elitebildung" interpretiert - und gründlich
mißveretanden.
W a s die, längst noch nicht den objektiven Erfordernissen der w i s s e n schaftlich-technischen Revolution voll gerecht werdende Formierung einer kreativen Leistungsspitze der Intelligenz von elitären
Entwicklun-
gen unterscheidet, ist nicht der Prozeß an sich, sondern der gesellschaftliche Kontext, Harvard und Stanford, um ein simples Beispiel zu geben, sind nicht elitäre Bildungseinrichtungen wegen des dort herrschenden hohen wissenschaftlichen Niveaus der Lehre und Forschung,
son-
dern wegen der Monopolisierung der Zugangswege (Studiengebühren in der Größenordnung von 15 0 0 0 Dollar jährlich) und wegen ihres
tiefgreifen-
den Kontrastes zu einem allgemeinen Bildungssystem, das für große Teile des V o l k e s nur sehr bescheidene Niveaus produziert: beispielsweise
ste-
hen die USA in einer globalen Rangreihe der Alphabetisierung auf dem 49. Platz, etwa in der Nachbarschaft von
Schwellenländern.
Die Alternative z u "Elitebildung" heißt nicht "Verzicht auf die H e r ausbildung von Spitzenkadern". Die Lösung liegt auf dem anderen Ende der Skala sozialsr Differenzierungen: sie heißt konsequente Verhinderung von Segmentierung und A u s g r e n z u n g . Lösung der Wohnungsfrage als soziales Problem, weitere Reduzierung körperlich schwerer und physisch
gefährden-
der Arbeit, Reduzierung geistig anspruchsloser Arbeit, Anhebung Einkommensniveaus,
im allgemeinsten Sinne die konsequente
unterer
Verwirklichung
der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik sind unerläßliche V o r a u s setzungen, um funktionale soziale Unterschiede und progressive Besonderheiten als Momente der Einheit von
soziale
wissenschaftlich-technischem,
ökonomischem und sozialem Fortschritt zu entwickeln und um jene Strukturen hervorzubringen, die triebkraftfördernd wirken und gleichzeitig eine historisch überzeugende Alternative zu Segmentierungsstrategien kapitalistischen Welt darstellen. Die Strategien
der
(A), (B) und (C) bil-
den eine Einheit. Die Sozialstrukturforschung
rückt somit im Maße ihrer empirischen
und theoretischen Entwicklung immer näher an Problemkreise heran, denen konzeptionell-strategische Bedeutung zukommt. D a s bringt
zwangsläufig
höhere Anforderungen mit sich, nicht zuletzt auf der Ebene der T h e o r i e 244
bildung. Die Ausarbeitung einer möglichst geschlossenen Theorie d e r S o zialstruktur wird zu einem dringenden Erfordernis: als Moment der a l l g e meinen soziologischen Theorie und, darüber hinaus, als Moment der T h e o rie der entwickelten sozialistischsn Gesellschaft
insgesamt.
Strukturgesetze und Theoriebildung In der bisherigen Entwicklung der Sozialstrukturforschung
dominierte
hinsichtlich der Theoriebildung der methodologisch-heuristische
Weg:
Theoriebildung vollzog sich überwiegend über die Ebenen: Bestimmung gesellschaftlichen P r o b l e m s - Erarbeitung
des
theoretisch-methodologischer
Ansätze für konkrete Forschungsprojekte - Operationalisierung d i e s e r A n sätze - Durchführung konkreter Untersuchungen - Verallgemeinerungen der Ebene der konkreten
auf
Untersuchungen.
D i e s e r Weg der Theoriebildung wird auch weiterhin wichtig
bleiben. macht
A b e r der gegenwärtige Entwicklungslauf der Sozialstrukturforschung
es erforderlich und möglich, einen neuen Schritt zu gehen: die Suche nach strukturellen Gesetzmäßigkeiten als Kernstück von T h e o r i e b i l d u n g und Wissenschaftsentwicklung. Ein erster Zugang eröffnet sich,
indem
bisherige Erkenntnisse daraufhin überprüft werden, ob sie als G e s e t z e formulierbare allgemeine, wesentliche, innere und notwendige
Zusammen-
hänge enthalten; auf diesem Wege lassen sich zumindest folgende gesetze
Struktur-
bestimmen:
1. Verlagerung der Differenzierungsdominante von der A c h s e
"Eigentum
und Klassen" zur A c h s e "Arbeitsteilung, geistiges Niveau der Arbeit, Bildung und Qualifikation"
(primäre Determination sozialer U n t e r s c h i e d e
nicht mehr durch Klassenzugehörigkeit oder durch die Existenz zweier Formen des sozialistischen Eigentums, sondern durch P l a t z und Funktion im System der gesellschaftlichen A r b e i t s t e i l u n g , wobei gleichzeitig Determinationsfaktor "geistiges Niveau der A r b e i t "
der
differenzierender
wirkt als der Faktor "Unterschiede zwischen vorwiegend körperlicher 19 vorwiegend geistiger Arbeit) . 2. Bündelungseffekt des D i f f e r e n z i e r u n g s f a k t o r s "Qualifikation" dem vom Platz im System der Arbeitsteilung ausgehende
und
(in
Differenzierungen
zusammenlaufen und von dem wesentliche D i f f e r e n z i e r u n g e n / i n
Lebenssti-
len, in der gesellschaftlichen Aktivität und in M o b i l i t ä t s c h a n c e n / a u s gehen)20. 3 . Umschlag von Entwicklungsgesetzen des vorwiegend extensiven tums in Entwicklungsgesetze der intensiv-erweiterten Reproduktion 19 20
Wachs(Sta-
Vgl. M. Lötsch, Körperliche und geistige Arbeit, in: S o z i a l s t r u k t u r der DDR, a.a.O.. I. Lötsch, Sozialstruktur und Qualifikation, in: Forschung der sozialistischen Berufsbildung 4/1979, S. 15; dieselbe, Zur Rolle von Qualifikation und Bildung bei der Erhöhung des N i v e a u s der g e s e l l schaftlichen A k t i v i t ä t und Entwicklung des Leistungsverhaltens, in: Zum Zusammenhang wesentlicher Faktoren für Leistungsverhalten und gesellschaftliche Aktivität, Schriftenreihe des ISS, Soziologie und Sozialpolitik, Beiträge aus der Forschung, 2/1983, S. 3 7 . 245
bilisierung wesentlicher Strukturen/Klassen
und Schichten,
Siedlungs-
struktur, Stadt- und Landbevölkerung, Qualifikationsstrukturen/in 21 herausgebildeten Proportionen) .
den
4 . Zusammenhang von Funktion, Struktur und sozialen Besonderheiten (prinzipielle Determination sozialer Besonderheiten struktureller Elemente/Klassen, Schichten, Funktionsgruppen/durch die 22 spezifische tion im System der gesellschaftlichen Arbeitsteilung) .
Funk-
5. Umschlag von Mobilitätsgesetzen des extensiven W a c h s t u m s in M o b i litätsgesetze unter den Bedingungen der Wirkungsweise des Stabilisierungsgesetzes (hohe intergenerationelle Mobilität in den Kanälen U n - / Angelernter zu höheren Qualifikationsstufen, Arbeiter/Bauern zu Intelligenz bei starkem quantitativem Rückgang niedrigerer
Qualifikations-
stufen einerseits und bei überproportionalem Wachstum der
Intelligenz
andererseits; tendenziell überproportionale Eigenreproduktion in den Polen der Bildungs-/Qualifikationsskala bei Stabilisierung der A u s b i l 23 dungsoutputs in den herausgebildeten Proportionen) 6. Erstes Entwicklungsgesetz der Intelligenz: Stärkung (erweiterte Reproduktion des Wissenschaftspotentials durch innere strukturelle V e r änderungen - durch Erfordernisse der wissenschaftlich-technischen
Revo-
lution diktierte Notwendigkeit der quantitativen Erweiterung des W i s s e n schaftspotentials bei tendenziell einfacher Reproduktion der Intelligenz In ihrer Gesamtheit, vermittelt durch die überproportionale
Kompensa-
tion der absehbaren demographischen Tiefs durch andere Gruppen der In^ n i 2 4 telligenz . 7. Zweites Entwicklungsgesetz der Intelligenz: Ausprägung der vertikalen Differenziertheit
(Formierung des kreativen Kerns oder der Lei-
stungsspitze innerhalb der Gesamtheit der Intelligenz, vor allem der 25 wissenschaftlichen Intelligenz) . 8 . A l l g e m e i n e s Strukturgesetz des Sozialismus: Ausprägung
(a) sozia-
ler Besonderheiten und (b) funktionaler sozialer Unterschiede bei gleichzeitiger Oberwindung disfunktionaler Unterschiede und sozialer 21
22 23 24 25
246
M. Lötsch, D. Wittich, Wissenschaftlich-technischer Fortschritt und Sozialstrukturtheorie, in: Jahrbuch für Soziologie und Sozialpolitik 1982, Berlin 1982, S. 66/67; R. Weidig, Soziale Triebkräfte ökonomischen Wachstums, in: Soziale Triebkräfte ökonomischen W a c h s tums, a.a.O., S. 17. M . Lötsch, Abschnitt Intelligenz, in: Sozialstruktur der DDR, a.a.O. M. Lötsch, 0. Freitag, Sozialstruktur und soziale Mobilität, in: Jahrbuch für Soziologie und Sozialpolitik 1981, Berlin 1981, S. 84. Vgl. M. Lötsch, Allgemeine und spezifische Konsequenzen n e u e r R e produktionsgesetze, in: Ingenieure in der DDR, Berlin 1988 (im Druck). Untersuchungen von Hg. Meyer zur Struktur und Dynamik des Kaderpotentials in der Wissenschaft seit 1980, zum Beispiel: E. Gabel, Hg. Meyer, Theoretische und methodische Fragen der Struktur und Reproduktion von Spitzengruppen des wissenschaftlichen Kaderpotentials, Studien und Forschungsberichte des Instituts für Theorie, G e s c h i c h te und Organisation der Wissenschaft der AdW, 13/1981, Teil III; M . Lötsch, Abschnitt Intelligenz, in: Sozialstruktur der DDR, a.a.O.
Ungleichheit26. Wie leicht zu eehen ist, handelt es sich hier um Gesetze
unterschied-
lichen Typs. D e r erste Typ ließ sich erkennen, indem empirisch bare Trends auf die ihnen immanenten stabilen, wesentlichen,
beobacht-
notwendi-
gen und sich reproduzierenden Zusammenhänge zurückgeführt w e r d e n ; d a s gilt für die unter 1., 2., 3., 5., letztlich auch unter 4 . genannten Strukturgesetze. Demgegenüber sind die unter 6., 7. und 8. aufgeführten Gesetze eines völlig anderen Typs: Es sind
Entwicklungserfordernisse
sozialer Strukturen, die nicht aus beobachtbaren T r e n d s der S t r u k t u r e n t wicklung selbst abgeleitet werden, sondern aus übergreifenden
Erforder-
nissen der Systemfunktion und - e n t w i c k l u n g . Vor diesem Hintergrund de in jüngster Zeit ein A n s a t z entwickelt, der geeignet zu sein auf dem Wege der Gesetzeserkenntnis wesentlich
wur-
scheint,
voranzukommen.
Soziologische Gesetze, so etwa seine Konturen, sind ihrem Wesen nach statistische Gesetze. Die Gesetzesbedingungen erster Ordnung
(dynamischer
Aspekt) drücken einen allgemeinen, wesentlichen und notwendigen
Zusammen-
hang aus, in welchem unter konkret-historischen Systembedingungen
eine
bestimmte Systemmöglichkeit tendenziell zur Systemwirklichkeit w i r d ; das trifft für die unter 6., 7. und 8. formulierten Gesetze zu. Davon
aus-
gehend ist es zweitens erforderlich, die Gesetzesbedingungen zweiter
und
dritter Ordnung (stochastischer und probabilistischer Aspekt) zu b e s t i m men: die Wirkungsweise und Durchsetzungsbedingungen
des G e s e t z e s als Re-
sultierende zufälliger Ereignisse (Stochastik) mit a n g e h b a r e r und p r a k tisch beeinflußbarer Wahrscheinlichkeit
(Probabilistik). 27 Dieser Ansatz, der von H. Röder entwickelt wurde , eröffnet
zumin-
dest zwei grundsätzliche Perspektiven. Er macht erstens deutlich, aus übergreifenden Systemerfordernissen abgeleitete Entwicklungserfordernisse
daß
sozialstrukturelle
zunächst nur ein Möglichkeitsfeld sind, in
dem sich zwei Haupttendenzen kreuzen können: eine, über die sich die erforderliche Entwicklung des Systems einstellt, und andere, die den Fortschritt hemmen und das Entwicklungstempo verlangsamen können. D a s Erfordernis "Stärkung des Wissenschaftspotentials"
kann
durchgesetzt
werden, indem innerhalb der stochastischen Einzelereignisse
(Entwick-
lungswege jedes einzelnen Absolventen) die Wahrscheinlichkeit
erhöht
wird, daß erstens hinreichend viele und z w e i t e n s entsprechend
befähigte
und motivierte Absolventen wissenschaftlich bedeutsame
Entwicklungswege
einschlagen. Gegentendenzen können d a r a u s hervorgehen, daß das ü b e r g r e i fende Erfordernis nicht hinreichend erkannt wird, daß die sozialen M e -
26 27
I. Lötsch, M. Lötsch, Soziale Strukturen und T r i e b k r ä f t e : V e r s u c h einer Zwischenbilanz und Weiterführung der Diskussion, in: J a h r buch für Soziologie und Sozialpolitik 1985, a.a.O., S. 159-178. Vgl. H. Röder, Theoretische Probleme der A n a l y s e und B e w e r t u n g der Dynamik, Stochastik und Probabilistik der Intelligenzentwicklung in der Gegenwart und in den neunziger J a h r e n . Beitrag auf dem 2. bilateralen Colloquium "Wissenschaftlich-technische Revolution und Entwicklung der sozialen Strukturen" 1988 in Gera, in: TID der A f G (im Druck). 247
chanismen, über die Kaderpotentiale in gesellschaftlich erforderliche Richtungen "gelenkt" werden, nicht effektiv wirken, daß andere Wege als attraktiver erscheinen usw. Damit orientiert die Unterscheidung zwischen dem dynamischen, stochastischen und probabilistischen Aspekt soziologischer Gesetze auf den entscheidenden Punkt: auf die Bestimmung jener Wirkungsbedingungen des Gesetzes, von deren Beeinflussung es abhängt, ob sich die dem übergreifenden Systemerfordernissen entsprechenden oder die Gegentendenzen durchsetzen. Eben weil sich die allgemeinen Gesetzesbedingungen nur über das Handeln von Menschen durchsetzen, das heißt über Einzelereignisse, von denen Jedes für sich nicht streng determiniert, sondern eben "zufällig" ist, liegen die gesellschaftlichen Beeinflussungsmöglichkeiten nur im Feld der Wahrscheinlichkeit, mit der aus der Gesamtheit individueller Handlungen und Entscheidungen die gewollte Haupttendenz hervorgeht: in unserem Beispiel durch die Erhöhung der sozialen Attraktivität wissenschaftlicher Arbeit, durch die Beeinflussung gesellschaftlicher Rahmenbedingungen usw. Zweitens scheint es, daß auf diesem Wege Forschungen denkbar werden, aus denen nicht Gesetzeserkenntnisse sozusagen nebenher hervorgehen, sondern die von vornherein darauf abzielen, die Wirkungs- und Durchsetzungsbedingungen von Gesetzen zu erfassen: indem - abgeleitet aus demStruktur-Funktions-Paradigma - die anzustrebende Systemfunktion als dynamische Gesetzesbedingung definiert wird und indem dann die Forschung konzeptionell darauf angelegt wird, die Wahrscheinlichkeiten zu erkunden, über die sich der allgemeine, wesentliche und notwendige Zusammenhang durchzusetzen vermag. In dieser Hinsicht, so scheint es, hat die Sozialstrukturforschung eine entscheidende Entwicklungsetappe noch vor sich.
248
ab. f. Soziologie und Sozialpolitik 1989
Kurt Kranbach Zur Geschichte der Agrareoziologie in der DDR
Die Agrarsoziologie hat in unserem Land schon eine beachtliche Geschichte, aber noch niemand hat sie aufgeschrieben. Auch dieeer Beitrag kann das nicht leisten, soll Jedoch mit einigen Reflexionen, Fakten und Thesen zur Lösung dieeer Aufgabe beitragen. Geetellt wurde sie im Rahmen einer öffentlichen Bilanz der Entwicklung der Agrarsoziologie in der DDR, die Gegenstand einer wissenschaftlichen Tagung des Problemrats "Klasse der Genossenschaftsba usrn/Stadt—Land" Im November 1986 war.* Anlaß gab das zwanzigjährige Bestehen dleeee Problemrats, der aue dem 1966 beim Wissenschaftlichsn Rat für Soziologische Forechung in der 2
DDR gebildeten "Arbeltskrsis Agrarsoziologie" hervorgegangen iet. Was die noch nicht geschriebene Geschichte dieser Teildisziplin betrifft, so ist es an der Zeit, diese wlssenschaftegeschlchtliche Lücke zu schließen - vor allem im Interesse der Agrarsoziologie selbst, dsr systematischen Ausarbeitung ihres Theoriegebäudes und nicht zuletzt als notwendiger Beitrag zur Qualifizierung des Syetems dsr Aus- und Weiterbildung auf diesem Gebiet. Fragen der agrarsozlologischen Aue- und Weiterbildung waren schon frühzeitig Gegenstand der Beratungen des Arbeitskrelses Agrarsoziologie. So befaßte sich dieser bereits auf seiner 2. Tagung im September 1966 3 mit Erfahrungen der agrarsozlologischen Lehre, die an der damaligen Landwirtschaftllch-Gärtneriechen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin und an der Landwirtschaftlichen Fakultät der Karl-Marx-Universltät Leipzig gesammslt wordsn warsn. Die 5. Tagung des A r b e i t s k r e i s e im A Ounl 1967 beriet über eine Lehrkonzeption für agrarsoziologische Vorlesungsreihen an landwirtschaftlichen Fakultäten und Hochschulen. Seither wird agrarsoziologisches Wissen in verechiedensten Formen der Ausund Weiterbildung vermittelt. Noch fehlen Jedoch systematische Darstel1 2
3 4
Vgl. Dialektik von Ökonomischem und Sozialem auf dem Lande - Bilanz und Perspektiven «grarsoziologischer Forschung in der DDR, i m TID der AfG, Reihe B, 68/1988. Vgl. Bericht über die erste Arbeitstagung des Arbeitskreises Agrarsoziologie am 30. Ouni 1966, In: Inform. Soziol. Forech. DDR, 5/1966, S. 3/4j K. Krambach, Wiesenschaftspolitische und theoretische Aspekte der agrarsozlologischen Forschung, int Zeitechrift für Agrarökonomlk, 11/1966, S. 2. Vgl. Mitteilungen des Wissenschaftlichen Rates für Soziologische Forschung in der DDR, ins Inform. Soziol. Forsch. DDR, 6/1966, S. 2. Vgl. ebenda, 6/1967, S. 2. 249
xung des Theoriegebäudes und der Geschichte der A g r a r s o z i o l o g i e . W a s eine eigene Geschichte konstituiert, gründet sich nicht
schlecht-
hin darauf, daß agrarsoziologische Forschung und Lehre seit Jahrzehnten existent ist» Diese ist vielmehr eine - noch systematisch
darzustellen-
de - Geschichte beachtlicher Forechungsresultäte z u r Entwicklung,
Lei-
tung und Planung sozialer Prozesse In der Landwirtschaft und auf dem Lande bei der Gestaltung des Soziallsmus in der D D R und zugleich eine Geschichte der Herausbildung ihres unverwechselbaren thematischen und theoretischen P r o f i l s als Zweig der marxistisch-leninistischen gie, d a s heißt nicht zuletzt eine Geschichte Institutioneller
SozioloEntwick-
lung. deren Spezifik in der engen, interdisziplinären Verflechtung
Ins-
besondere mit den Agrarwissenschaften, vor allem mit der Agrarökonomie besteht. Agrarsoziologie in der DDR hat ihre Traditionen, ihren politischideologischen und theoretischen Standort im Marxismus-Leninismus*
Zahl-
reiche Untersuchungen und theoretische Arbeiten von K. Marx und W. I. Lenin zur A g r a r - und Bauernfrage, zur Oberwindung des antagonistischen Gegensatzes und der wesentlichen Unterschiede zwischen Stadt und Land, zur Theorie und Praxis der sozialistischen Umgestaltung der Landwirtschaft bilden ein spezifisches theoretisches und methodologisches ROstzeug agrarsozlologiecher Forschung. Ebenso geben die Dokumente und Beschlösse, die theoretischen und praktischen Erfahrungen der marxistischleninistischen Partei, des sozialistischen Staates und seiner A g r a r p o litik eine Orientierung fOr ihre wissenschaftliche A r b e i t . So w a r die marxistische Agrarsoziologxe In der DDR als systematisch
betriebene
Forechungsrichtung gewissermaßen ein "Kind" der sozialistischen staltung der Landwirtschaft. Es hatte sich als notwendig und
Umge-
richtig
erwiesen, solche historisch neuen sozialen Prozesse und Probleme wie die Entwicklung der Klasse der Genossenschaftsbauern, dis Verringerung sozialer Unterschiede zwischen Stadt und Land, die Entwicklung der A r beits- und Lebensbedingungen, der Sozialstruktur und der sozialistischen Lebensweise auf dem Lande, die Entwicklung sozialistischer Dörfer, die sozialen Triebkräfte des wissenschaftlich-technischen
und ökonomi-
schen Fortschritts in d e r Landwirtschaft, die Stellung der Frau oder auch der Landjugend in der Landwirtschaft usw. zum speziellen
Gegen-
stand soziologischer Forschungsn zu machen. So ist mit der Gestaltung des Sozialismus auf dem Lande auch der wissenschaftliche
Gegenstand
marxistisch-leninistischer Agrarsoziologis gewachsen. A n d e r e r s e i t s halfen agrarsoziologische Forschungen, R o l l e und Perspektive dieser Forschungsobjekte aufzuhellen und leisteten beachtliche
wissenschaftliche
Beiträge zur Leitung und Planung sozialer Prozesse in der Landwirtschaft und auf dem Lande. Agrarsoziologie wurde in dem Maße, wie das gelang, zum beachteten und geachteten Partner der Praxis. Unsere Agrarsoziologie lebt und wächst in diesem produktiven Verhältnis mit der Praxis, angefangen bei der Problemfindung und Problemerkenntnis, Ober die gemeinsame Analyse neuer Probleme und Varianten ihrer Lösung bis hin zur A n -
250
wendung und Anerkannung der Resultate. Da9 klare Bekenntnis zur Politik der SED und des sozialistischen Staates war nicht nur eine der Wurzeln aktueller gesellschaftlicher Wirksamkeit» ea schloß auch die Bereitschaft ein, sich neuen Fragen gesellschaftsstrategischen' Charaktere zu stellen und nach neuen Antworten suchen zu helfen» Nur dadurch war es möglich, zu solchen Fragen wie den sozialen Potenzen des genossenschaftlichen Eigentums, dar sozialen Reproduktion der Klasse der Genossenschaftsbauern und der Perspektive der Dörfer grundlegende und neue Aussagen beizusteuern. Agrarsoziologie hat in unserem Lande daher auch eine sichere Perspektive, weil eie gebraucht wird, weil und insofern sie brauchbar iat, well und insofern sie nützliche, unverwechselbare, unverzichtbare Resultate für die Praxia der Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft zu liefern vermag. Sie kannte und kennt daher auch keine derartigen Krisen, wie sie von manchen Repräeentanten der Agrarsoziologie westlicher Länder in bezug auf die Lage ihrer Disziplinsn konstatiert, be5 klagt oder kritisiert werden. Wenn die Geschichte der Anfänge, des Neubeginns der Agrarsoziologie in der DDR geachrieben wird, so gehören zu ihren Wurzeln zahlreiche Analysen der Lage und Entwicklung der Bauernschaft sowie anderer sozialer Probleme im Dorf nach 1945, wie wir eie vor allem in Dokumenten der SED und anderen Materialien finden können. Ein aufzuarbeitendes soziologisches Erbe stellen hierbei zum Beispiel die Arbeiten von E. Hoernle, E. Mückenberger und die zahlreiche Literatur zur demokratischen Bodenreform dar.® Eine Fülle von gesellschaftswlssenschaftlichsn Arbeiten mit agrarsoziologischem Gehalt entstanden in den fünfziger Oahren insbesondere zu Fragen der sozialistischen Umgestaltung der Landwirtschaft. Exemplarisch können hierfür erste soziologische Untsrsuchungen zur Bewußtseinsentwicklung der Genossenschaftsbauern, zur Verbindung von gesellschaftlichen und persönlichen Interessen in den landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG), zur Kulturrevolution auf dem Lande^ ge5
6
7
Vgl. F. Kromka, Die Entwicklung der westdeutschen Land- und Agrarsoziologie 1945-1985, in: Ländliche Soziologie deutschsprachiger Länder, Bestandsaufnahme, Standortbeatimmung, Zukunftsaufgaben, in« Schriftenreihe des Bundesministers für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, Reihe A< Angewandte Wissenschaft, 330, MünsterHiltrup 1986, S. 78j E. W. Hofstee, Agrarsoziale Problemlagen als Gegenstand agrarsoziologischer Forschung, Ein historischer Rückblick auf 30 Jahre ländliche Soziologie, int Landwirtschaft. Eins soziale Frage, (Hrsg.) K.-H. Ounghana, D. Zöllner, Münstsr-Hiltrup 1983. Vgl. E. Hosrnle, Ein Leben für die Bauernbefreiung, Berlin 1965s E. Mückenberger, Der Kampf der Sozialistischen Einheitepartei Deutschlands für die Festigung des Bündnisses der Arbeiterklasse mit der werktätigen Bauernschaft, Barlin 1956} derselbe, Perspektive der Landwirtschaft und die Klaassnverhältnisss auf dem Dorf in der Deutschen Demokratiachen Republik, Berlin 1957; G. G. Kotov, Agrarverhältnisse und Bodenreform in Deutschland, Berlin 1959. Vgl. Probleme des historischen Materialismus und dsr marxistischen Sozialforschung, 5 Aufsätze, Berlin 1958.
251
nannt werden. Zu den Pionierleietungen auf dieeem Gebiet gehört eine Kollektivarbeit Ober die komplexe ökononieche und eoziale Entwicklung dee Agrarkreieee S t r a s b u r g . Eine wichtige Quelle etellen Dissertationen dar, die Anfang der sechziger Jahre vorrangig Fragen der Formierung der Klasse der Genoesenechaftsbauern und der Festigung der LPG zum GeQ
genstand hatten « In den siebziger Jahren begann auch eine institutionelle Formierung der Agrarsoziologle durch die Bildung von Arbeltsgruppen unter anderem an den Universitäten Berlin, Leipzig, Rostock, Jena, Greifswald, an den Hoohechulen Bernburg und Meißen sowie durch die Bildung dee Arbeitskreises Agrarsoziologle. A u s historischer Sicht let dabei ein intereseanter Fakt, daß die erste vom Wissenschaftlichen Rat für Soziologische Forschung organisierte größere Gemeinschaftsarbeit zu sozialen und ideologiechen Fragen der Qualifikation der Werktätigen in der Industrie (1965/66) mit den gleichen Frageetellungen auch in der Landwirtechaft vom Inetitut für Agrarökonomik der Friedrlch-Schlller-Universitât und von der damaligen Arbeitegruppe Agrarsoziologle an der Humboldt-Univereltät zu Berlin nechvollzogen wurde. Dabei wurden interessante Erkenntnisse gewonnen, die eowohl Gemeinsames mit der Industrie zeigten - zum Beispiel den Einfluß der konkreten Perspektive des Arbeiteplatzes bzw. der künftigen Arbeiteanforderungen auf die Qualifizierungebereitschaft - als auch spezifieche Einflußfaktoren bei Genossenechaftebauern - zum Beispiel Rolle dee Eigentümerbewußtseine, der Verantwortung der LPG, Einfluß des Wettbewerbs und der Teilnahme an der genossenschaftlichen Demokratie aufdeckten. Im Verlauf der 60er Jahre bildete sich das eigene Profil der Agrarsoziologle weitgehend heraus. Dies läßt sich an den auf den Soziologiekongressen vorgestellten Ergebhissen der agrareoziologiechen
Forschun-
gen detailliert nachzeichnen. Auf allen Kongressen wurde aus der Sicht agrarsoziologischer Forschungsergebnisse in einer selbständigen Arbeitsgruppe zum Gesamtthema des Kongresses diskutiert. So befaßte sich zu zu den "Tagen der marxistisch-leninistischen Soziologie" (1969), dem 1. Kongreß der Soziologen in der DDR, eine Arbeitsgruppe mit Problemen der Entwicklung der gesellschaftlichen Beziehungen und dee soziallsti8 9
252
Vgl. 0. Rühle, Vom Untertan zum Staatsbürger, Berlin 1958. Ale Beispiele seien genannt! H. Schmidt, Probleme der Entwicklung des sozialistischen Bewußtseins der Genossenschaftsbauern, Berlin 1960j E.-K. Freyer, Gegenwartige Probleme der sozialistischen Kulturerbeit in den vollgenossenschaftlichen Dörfern der DDR, Berlin 1961; 3. Sommer, Die Entwicklung der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften von 1952 bis 1960, Berlin 1962; W. Dau, Probleme der Entwicklung und sozialistischen Erziehung der Klasse der Genossenschaftsbauern, Berlin 1961; K. Krambach, Theoretleche Fragen des Zusammenhangs zwischen der Entwicklung der sozialistischen Landarbeit und der Entfaltung der echöpferischen Kräfte der Genossenschaftsbauern, Berlin 1963; D. Gerlach, Zur Formierung der Klasse der Genoesenechaftsbauern in der DDR, Halle 1964; H. Hanke, Zur Veränderung der Lebensweiee der Genossenschaftsbauern aie Prozeß der Kulturrevolution beim umfassenden Aufbau des Sozialismus, Berlin 1965; R. Roee, Probleme der Entwicklung der eozialistlschen Gemeinschaft der Genossenschaftsmitglieder, Berlin 1964.
sehen Bewußtseins der Genossenschaftsbauern.^ Im Zentrum standen Forschungsresultate zu den subjektiven Triebkräften des bewußten Handelns der Genossenschaftsbauern im Kampf um höchste volkswirtschaftliche Effektivität und die Gestaltung der Landwirtschaft auf d e r Grundlage modernster Wiesenschaft und Technik. Einen wichtigen Platz nahmen dabei Untersuchungsergebnisse zur Entwicklung des ökonomischen Denkens und der demokratischen Aktivität der Genossenechaftsbauern ein. Ökonomisches Denken als ein Element des sozialistischen Bewußtseins, so konnte festgestellt werden, entwickelt sich in Wechselwirkung mit politischer Bewußtheit und gesellschaftlichem Verantwortungsbewußtsein als ideelle Fähigkeit und Bereitschaft, ökonomische Zusammenhänge bis hin zum eigenen Arbeitsplatz zu durchdringen und sachkundig, gestützt auf ökonomisches Wissen, die sozialistische Eigentümerfunktion wahrzunehmen* Es wurde herausgearbeitet, daß in der "umfassenden Anwendung der Prinzipien der sozialistischen Betriebewirtschaft und vor allem im allseitig organisierten Wettbewerb ... alle wesentlichen Faktoren sozlallstiecher Bewußtseinsbildung - praktisches Erfahren und bewußtes Gestalten der ökonomischen und geeellechaftlichen Beziehungen, materielle und ideelle Stimuli, wechseleeitige Verantwortung und Hilfe, aktive Teilnahme an der Planung und Leitung und Kontrolle, Kampf um wissenechaftlich-technlschen Höchststand und hohe volkswirtschaftliche Effektivität, planmäßige Qualifizierung, Entfältung des geistig-kulturellen Lebene uew. - im Kom11 plex wirksam" werden. Es wurde die wachsende Rolle der LPG als Form der Wirtschaftsorganisation und der polltischen Organisiertheit der Genossenschaftsbauern sowie der genosssnschaftlichen Demokratie ala spezifische Form der Realisierung der Einheit von Eigentümer und Produzent analysiert. Als ein Kernproblem wurden dabei die Erhöhung der Rolle der Mitgliederversammlung und die Vorbsreitung ihrer Grundsatzentscheidungen in Brigadeversammlungen und anderen Organen der LPG erkannt. Genossenschaftliches Eigentum und Organieierthelt in den LPG wurden als wesentliche klassenspezifischs Determinationsfaktoren genossenschaftsbäuerlicher Aktivität charakterisiert. Mehrere Beiträge beschäftigten sich darüber hinaus mit Ergebnissen aus Untersuchungen über die Entwicklung der geeellechaftlichsn Stellung der Genoessnachaftsbäuerinnen. Die Diskussion trug, wie auch viele der ihr zugrunde liegenden Forschungen, interdisziplinären Charakter. Es wurden Vorschläge zur Vertiefung der Zusammenarbeit von AgrarSoziologen, -Ökonomen, Juristen und Vertretern anderer Disziplinen unterbreitet. Der 2. Soziologiekongreß (1974), untersuchte Fragen des Beitrages der marxistisch-leninistischen Soziologie zur Leitung und Planung eozialer Prozesse und rückte Fragen der Sozialetruktur und der Persönlichkeitsentwicklung in den Mittelpunkt. Die agrarsoziologlsche Arbeits10 11
Vgl. Soziologie im Soziallsmus, Bsrlin 1970, S. 370 (Schriftenreihe Soziologie). Ebenda, S. 374. 253
gruppe diskutierte Probleme der Entwicklung der Klasse der Genossen12 schaftsbauern • E s wurde sichtbar, daß die Forschungen auf dieeem G e biet über Fragen der Bewußtseinsentwicklung hinaus in größerer Komplexität soziale Prozesse erfaßt hatten: Veränderungen im Cherrakter der A r beit und in der sozialen Struktur der Klasse der
Genossenschaftsbauern
und ihren Einfluß auf die Persönlichkeitsentwicklung,
Entwicklungsten-
denzen des kulturell-technischen Niveaus und der Qualifizierungsbereitschaft, Veränderungen in den A r b e i t s - und Lebensbedingungen, die Rolle der LPG, der demokratischen Aktivität und des Wettbewerbs, die Entwicklung der Einstellung zur Arbeit, des Kollektivismus und des gesellschaftlichen Verantwortungsbewußtseins usw. Bedeutsame
Erkenntnisgewin-
ne gab es zur Dialektik von führender Rolle der Arbeiterklasse,
Vertie-
fung des B ü n d n i s s e s und Höherentwicklung der Klasse der Genossenschaftsbauern im Prozeß der sozialen Annäherung, zu Entwicklungstendenzen
der
klasseninneren Struktur wie dem wachsenden A n t e i l von agro- und zootechnisch speziallslsrten Facharbeitern mit zusätzlicher Qualifikation chanisatoren), von Fachkräften mit volkswirtschaftlichen
(Me-
Querschnitts-
berufen, von Fach- und Hochschulkadern oder von Tendenzen der V e r b i n dung von körperlicher und geistiger Arbelt bzw. des Wechsels der Arbeit im Zusammenhang mit industriemäßigen Produktionsmethoden in der Landwirtschaft. Auch zur Gestaltung überechaubarer ökonomischer und sozialer Beziehungen zwischen Arbeltskollektiven, den LPG und ihrer Kooperation, zu den Möglichkeiten sozial stabiler Arbeitskollektive in der Pflanzenproduktion,
zur wechselseitigen Durchdringung von
sozialisti-
schem V s r h ä l t n i s zur A r b e i t und zum genossenschaftlichen Eigentum, von genosssnschaftllcher
(betrieblicher) und kooperativer Verantwortung In
der Bewußtseinsentwicklung der Genossenschaftsbauern wurden Ergebnlese
beachtliche
srreicht.
A u f dem 3. Soziologiekongreß (1980) wurden in der agrarsoziologischsn Arbeitsgruppe Wechselbeziehungen von Sozialetruktur und Lebensweise auf dem Lande d i s k u t i e r t ^ . O e r gewachsene Reifegrad agrarsoziologischer Forschung wurde unter anderem darin deutlich, daß Standpunkte und Lösungsvariantsn zu Fragen dargeboten wurden, die in der Praxis dringend einer Lösung bedurften. Diese Erkenntnisse gehören heute zum anerkannten Bestandteil der agrarsoziologiechen Theorie und Praxis. So wurde die Notwendigkeit begründet, die Klasse der Genossenechaftebauern - im Zusammenhang mit der Stabilisierung und Reproduktion d e s
gesell-
schaftlichen Arbeitsvermögens - als Klasse planmäßig sozial zu reproduzieren. Das erforderte, die systematische Aufnahme neuer Mitglieder in die LPG und die Entwicklung einer jungen Generation von
Genossenschafts-
bauern planmäßig zu fördern. Es wurden die Komplexität und hietorische Reichweite der sozialen Potenzen des genossenschaftlichen 12 13
254
Eigentums
Vgl. Soziologische Probleme der Klasssnentwicklung in der DDR, B e r lin 1975, S. 189 (Schriftenreihe Soziologie). V g l . Lebensweiee und Sozialstruktur, Berlin 1981, S. 222 (Schriftenreihe Soziologie).
herausgearbeitet, die Rolle der Kooperation für die Entwicklung
dieser
Potenzen und die weitere Festigung der LPG gezeigt und erstmalig
die
These formuliert, daß nicht der Abbau, sondern die volle Entfaltung
der
genossenschaftlichen Ordnung diese Potenzen a l s Triebkräfte für den ökonomischen und sozialen Fortschritt freisetzt. Bedeutsame
Erkenntnis-
se konnten zur Komplexität der Gestaltung d e r A r b e i t s - und
Lebensbedin-
gungen a l s Faktoren der planmäßigen Entwicklung der S o z i a l s t r u k t u r
und
Lebensweise dargelegt w e r d e n . Die Entwicklung der S o z i a l s t r u k t u r auf dem Lande wurde nicht nur unter dem A s p e k t d i f f e r e n z i e r e n d e r auf die Lebensweise betrachtet, sondern v o r allem als die
Wirkungen
Entwicklung
Jener sozialen Kräfte, die Träger und aktiver G e s t a l t e r des w i s s e n schaftlich-technischen,
ökonomischen und sozialen Fortschritte in der
Landwirtschaft und der sozialistischen Lebensweise in d e n D ö r f e r n
sind.
Für die Wechselbeziehungen von betrieblichen und territorialen B e d i n gungen, von betrieblicher und staatlicher Leitung und Planung
ökonomi-
scher und sozialer Prozesse wurden entsprechende Konsequenzen
abgelei-
tet* Die Dialektik von Annäherung der Lebensbedingungen auf dem Lande an die der Stadt und Erhaltung der bleibenden Besonderheiten d e s typisch Ländlichen erfuhr besondere
Hervorhebung.
"Soziale Triebkräfte ökonomischen Wachstums" waren Gegenstand 4. Soziologiekongreases
des
(1985). Die agrarsoziologiach orientierte
Ar-
beitsgruppe dieses Kongresses behandelte Fragen d e s Z u s a m m e n h a n g s von 14 ökonomischem Wachstum und sozialem Fortschritt* Deren T ä t i g k e i t w i derspiegelte sowohl ein hohes Maß an Erreichtem a l s auch v i e l f ä l t i g e Aufgabenstellungen
im Zusammenhang mit der Orientierung d e s X . P a r t e i -
tages der SED auf die immer bessere Nutzung d e r Potenzen d e s g e n o e s e n schaftlichen Eigentums, die Festigung d e r LPG auf dem Wege der K o o p e ration, die weitere Stärkung der Klasse d e r G e n o s s e n s c h a f t s b a u e r n
und
die Auegestaltung der Potenzen und Perspektiven der D ö r f e r . Ein e n t scheidender Ausgangspunkt war die A n a l y s e d e r umfassenden
Intensivie-
rung in der Landwirtschaft unter uneeren B e d i n g u n g e n . Sie macht auch eine erweiterte Reproduktion des genossenschaftlichen E i g e n t u m s n o t wendig - sowohl im Hinblick auf die effektive Nutzung seiner m a t e r i e l len Ressourcen und seiner Rolle a l s Entwicklungsform a g r a r e r P r o d u k t i v kräfte wie auch in seiner Rolle als sozialökonomische G r u n d l a g e
der
Existenz und Perspektiven der Klasse d e r G e n o s s e n s c h a f t s b a u e r n .
Aus-
schöpfung der sozialen Triebkräfte des genossenschaftlichen erfordert - so wurde herausgearbeitet - , historisch bewährte
Eigentums Organisa-
tionsstrukturen langfristig zu nutzen, die Kooperation auf die
Festi-
gung der LPG und die enge Verflechtung von Pflanzen- und T i e r p r o d u k t i o n zu richten sowie die ökonomische und soziale Wirksamkeit der v i e l f ä l t i gen Formen der demokratischen Aktivität zu erhöhen, indem sie auf die breite Einführung des wissenschaftlich-technischen 14
Fortschritts
(WTF),
Vgl, Soziale Triebkräfte ökonomischen Wachstums, Berlin 1986, S. 156 (Schriftenreihe Soziologie), 255
die bessere Nutzung der Naturressourcen, die Beherrschung der ökonomischen Gesetze und auf die neuen Erfordernisse der Intensivierung gerichtet werden« Gute bäuerliche Erfahrungen und Traditionen Im Verhältnis zur Arbeit, zu den Besonderheiten der Agrarproduktion und zum genossenschaftlichen Eigentum erlangen ein größeres Gewicht. Wichtige Meohanismsn ihres Wirksamwerdens, ihrer Reproduktion und ihrer Obertragung auf die junge Generation sind ein gutes Funktionieren der sozialistischen Betriebswirtschaft und der genossenschaftlichen Demokratie, stabile Arbeitskollektive, die breite Einbeziehung der Genossenschaftsbauern In die Arbeit mit Höchstleistungs- und Höchstertragskonzeptionen sowie die Verbindung des materiellen Interesses und der persönlichen Verantwortung mit dem Ringen um höchste Effektivität und ökonomische Umsetzung des WTF. Leitungsrelevante Forschungsergebnisse wurden auch zur sozialsn Reproduktion der Klasse der Genossenschaftsbauern vorgelegt. Die frOhere Tendenz ihrer sich auf zahlenmäßig immer kleinerer Stufe reproduzierenden Mitglieder hat aufgehört zu wirken. Umfassende Intensivierung erfordert, solchen qualitativen Aspekten der sozialsn Reproduktion immer mehr Augenmerk zu schenken wie den Fähigkeiten zur umfassenden Nutzung und Mitgestaltung des WTF, zur engeren Verbindung von Produktionserfahrungen und Wissenschaft, von Spezialisierung und Disponibilität, der Rolle der Kooperation und der Dorfentwicklung als Faktoren der Klassenreproduktion sowie den Fragen der Reproduktion verschiedener sozialer Gruppen innerhalb der Klasse. Soziale Herkunft, Rolle der genossenschaftsbäuerlichen Familien, Dorfverbundenheit und Seßhaftigkeit wurden in ihrem Einfluß auf die soziale Reproduktion analysiert. Erstmalig nahmen Fragen der Dorfentwicklung in ihrer Komplexität einen breiten Raum ein. So wurde die Notwendigkeit begründet, die Potenzen des Dorfes als ländliche Siedlung und soziale Gemeinechaft der dort arbeitenden und wohnenden Menschen umfassend für das ökonomische Wachstum und dsn sozialen Fortschritt zu nutzen und für Jeden Ort, auch für die kleinen Dörfer, die Frage nach ihrer Perspektive konkret zu beantworten. Das schließt ein, für Jedes Dorf - im Verband mit anderen Dörfern und Städten des jeweiligen Territoriums - sin günstiges Verhältnis zwischen Arbeit, Bildungsmöglichkeiten, Versorgung und Bstreuung sowie regem kulturellem und sportlichsm Leben zu gewährleisten. Es wurdsn Erkenntnisse und Erfahrungen zur planmäßigen Gestaltung territorialer Mobllltätsprozssss, zu Ursachen der Migration und Faktoren der Seßhaftigkeit in bezug auf unterschiedliche Territorien und Dorftypen dargelegt. Aus der Praxis des Bezirkes Neubrandenburg wurden Erfahrungen verallgemeinert, wie, gestützt auf die Entwicklungskonzeptionen der LPG, Volkseigenen Güter (VEG) und ihrer Kooperationen, komplexe Entwicklungskonzeptionen für Gemeindeverbände bzw. Gemeinden und auf deren Grundlage Ortsgestaltungskonzeptionen für Jedes Dorf ausgearbeitet wurden und die Gemeinschaftsarbsit zwischen Betrieben und Dörfern entwickelt wurde. An diessr Stelle erscheinen zwei allgemeine Feststellungen angebracht. 256
Erstens ist dls Geschichte der Agrarsoziologie in der DDR mit der G e schichte der DDR eng verwobeni als Neubeginn einer Disziplin auf marxistischer Grundlage und Tradition in ihren am Sozialismus orientierten, von seinen Entwlcklungsproblemen auf dem Lande in der DDR bestimmten, Ziel- und Themenstellungen und nicht zuletzt hinsichtlich der Resultate für Gesellschaftsstrategie und Gestaltung des sozialen Fortschritte auf dem Lande* Dynamik und Perlodisierung der Entwicklung der Agrarsoziologie können alao in der hlstorlschsn Darstellung weltgehend der D D R - G e schichts folgen« Zweitens ist die Geschichte der Agrarsoziologie - wie das für andere Zweigdisziplinen auch üblich Ist - sowohl Bestandteil der Entwicklung der Soziologie ale Ganzes als auch eng verflochten mit solchen Wissenschaftsdisziplinen, die den gleichen Objektbereich haben - in unserem Fall Landwirtschaft, Land, Bauern, Dorf, usw. Letzteree wird besonders deutlich an der institutionellen Entwicklung, A r b e i t s teilung und Kooperation, wie sis sich in der Agrarsoziologie der DDR 15 vollzogen hat. Einen wichtigen Platz nahm und nimmt hierbei der Problemrat der Genossenschaftsbauern/Stadt-Land"
"Klaeee
ein. 1966 als "Arbeitskreis A g r a r -
soziologie" entstanden, war er zunächst - und das ist bis heute so geblieben - eine Form der wechselseitigen Information zwlechen
interdis-
ziplinären Akteuren verschiedenster Sozialforschungen in der Landwirtschaft und auf dem Lande. Er wurde bald zu einem Forum der kollektiven und kameradschaftlichen Diskussion von neuen Problemen,
Forschungskon-
zeptionen und Ergebnissen, der Abstimmung von Forschungsvorhaben
und
der Kooperation - somit zu einer Art wissenschaftlicher Heimat der auf diesem Gebiet Forschenden. Erete gemeinsame Untersuchungen, nach Inhalt und Zielstellung typisch für die künftige Entwicklung der Agrarsoziologie, waren die Erarbeitung eines Materials aus Forschungsresultatent "Beiträge des Arbeitskreises Agrarsoziologie zur Vorbereitung dee X . Deutschen Bauernkongresses"
(Mai 1968) und die Organisation einer wis-
senschaftlichen Tagung im Rahmen der "agra 68", der Landwirtschaftsausstellung in Leipzig Markkleeberg, auf der Ergebnisse
agrarsoziologischer
Forechungen mit Leitungskadern aus LPG und zentralen Organen beraten 16 wurden. Seit 1966 fanden mehr als fünfzig Arbeitstagungen des Problemrats statt, darunter mehrere mit dem Charakter wisaenschaftlicher K o l loquiens so zum Beispiel 1977 zu Fragen des Verhältnisses von körper17 licher und geistiger Arbeit in der Landwirtschaft odsr 1979 anläßlich des 30. 3ahreetages der DDR zur Entwicklung der Klasee .¿Jer Genossen15
16
17
Vgl. dazu Dialektik von Ökonomischem und Sozialem - Bilanz und Perspektiven agraraozlologischer Forschungen in der DDR, int a.a.O.] Bibliographie Soziologie, (Hrsg.) Zentralstelle für soziologische Information und Dokumentation Berlin, Lieferung 7/8 - 1986. Vgl. Probleme und Ergebnisse agrarsoziologischer Forschung zur Bewußtseinsentwicklung der Genossenschaftsbauern bei der Gestaltung der sozialistischen Betriebswirtschaft und Kooperation, Berlin 1969 (Schriftenreihe Soziologie). Vgl. Bericht, ins Inform. Sozlol. Forsch. DDR, 6/1977. 257
schaftsbauern
18
, 1984 zur Entwicklung des Dorfes
Heute setzt sich der Problemrat "Klasse der
19
.
Genossenschaftsbauern/
Stadt-Land" zusammen aus Vertretern von Partei- und Staatsorganen, Akademie für Gesellschaftswissenschaften
der
(AfG), der Parteihochschule
Marx" und des Instituts des ZK der SED für sozialistische
"Karl
Wirtschafts-
führung und gesellschaftliche Entwicklung in der Landwirtschaft beim ZK der SED, der Akademie der Wissenschaften, der Bauakademie und der Akademie der Landwirtschaftswissenschaften
der DDR, des Instituts für Internationa-
le Politik und Wirtschaft der DDR, des Zentralinstituts für Jugendforschung, der Universitäten von Berlin, Greifswald, Halle-Wittenberg,
Leip-
zig und Rostock, der Technischen Universität Dresden, der Hochschule Landwirtschaft und Nahrungsgüterwirtschaft
für landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften Ingenieurhochschule
für
in Bernburg, der Hochschule in Meißen und der
Berlin-Wartenberg.
Der Problemrat ist für die verbindliche Koordinierung der Forschungen zur Klasse der Genossenschaftsbauern
und zum Dorf verantwortlich.
Einen
hervorragenden Platz nehmen soziologische Forschungen ein, die im Bereich der Agrarökonomie angesiedelt sind. So ist der Wissenschaftsbereich A g r a r ökonomie an der Karl-Marx-Universität Leipzig mit Forschungen und Konferenzen zur Lage der Frau in der Landwirtschaft und zur Entwicklung der Arbeits- und Lebensbedingungen hervorgetreten. Die letztere Thematik wird seit mehr als zehn Oahren in einem interdisziplinären Projekt
"Intensi-
vierung der Landwirtschaft und des Gartenbaus in der DDR und die Entwicklung der A r b e i t s - und Lebensbedingungen" bearbeitet, an dem mehrere Uni20 versitäten und Hochschulen mitwirken. Mit der Leitung und Planung dieser Prozesse, vor allem hinsichtlich der materiellen Arbeitsbedingungen,
der
Betreuungsbedingungen
und der Kollektiventwicklung befassen sich 21 auch die Agrarökonomen an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Langjährige Forschungsergebnisse zur Entwicklung des gesellschaftlichen Arbeitsvermögens, der Arbeits- und Lebensbedingungen, der Entwicklung der Genossenschaftsbäuerinnen
und Arbeiterinnen in der Land-
wirtschaft sowie kpmplexe Analysen zur Entwicklung der Klasse der G e nossenschaftsbauern liegen auch aus dem Institut für Agrarökonomie 18 19 20
21
258
der
Vgl. Die Entwicklung der Klasse der Genossenschaftsbauern im Prozeß der weiteren Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft, ins ebenda, 6/1979. Vgl. Das sozialistische Dorf, Sozialstruktur und Lebensweise, int TID der AfG, Reihe B, 47/1985. Vgl. Die Frau in der Landwirtschaft, (Hrsg.) Karl-Marx-Universität Leipzig, Sektion Tierproduktion und Veterinärmedizin, Fachgruppe Agrarökonomie, Leipzig 1975; Autorenkollektiv unter Leitung von G. Winkler, K. Fleischer, Die A r b e i t s - und Lebensbedingungen in der sozialistischen Landwirtschaft der DDR, Berlin 1986. Vgl. W . Isbaner, R. Herrmann, W. Baumgart, Zur Planung sozialer Prozesse in den Betrieben der Pflanzenproduktion, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Mathematisch-Naturwissenschaftliche Reihe, 28(1979)4; W. Isbaner, P. Hunold, Die Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik und die weitere Gestaltung der Arbeits- und Lebensbedingungen, ins Kongreßund Tagungsberichte der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, 49/1985.
Akademie der Landwirtschaftswissenschaften vor. Zu agrarsoziologischen Problemen wurde in starkem Maße durch Sektionen für Marxismus-Leninismus an Universitäten und Hochschulen geforscht. Umfangreiche Forschungen wurden an der Sektion der Rostöcker Universität vor allem zur Entwicklung der Arbeits- und Lebensbedingungen und der 22 sozialistischen Lebensweise im Dorf durchgeführt. An der Universität Greifswald hat diese Sektion Forschungen zur Stadt-Land-Problematik in den Nordbezirken, zur sozialen Struktur auf dem Lande, zur Rolle der Frau in der Landwirtschaft und der Familie auf dem Lande durchgeführt. Von den Sektionen Marxismus-Leninismus an den landwirtschaftlichen Hochschulen in Bernburg und Meißen liegen bedeutsame Forschungsergebnisse zur Entwicklung des Eigentümerbewußtseins und der genossenschaftlichen Demokratie vor. An der Hochschule für Landtechnik in Berlin-Wartenberg wurden, wie auch an der Parteihochschule "Karl Marx" beim ZK der SED, Fragen zur Entwicklung der Klasse der Genossenschaftsbauern vor allem im Zusammenhang mit dem wissenschaftlich-technischen Fortschritt untersucht. Mit dem landwirtschaftlichen Berufsnachwuchs und der Landjugend haben sich mehrere Institutionen befaßt, seit 1977 vor allem die Abteilung Landjugend am Zentralinstitut für Jugendforschung Leipzig. 2 3 Einen wichtigen Anteil an der Geschichte der Agrareoziologie hat der Forschungsbereich Agrarsoziologie am Institut für Marxistisch-Leninistische Soziologie der AfG beim ZK der SED. Am Beispiel der Forschungen zur Klasss dar Genossenschaftsbauern soll ansatzweise gezeigt werden, wie konkrete Forschung mit wachsender Theorieentwicklung einherging und wie dieser Zusammenhang auch bei der Analyse der Entwicklung und des Beitrages aller Institutionen, die agrarsoziologische Forschungen betreiben, für die Geschichts der Agrarsoziologie in der DDR aufgearbeitet werden müßte. Am Anfang dominierten Untersuchungen zur Bewußtseinsentwicklung, so zum Zusammenhang von genossenschaftlicher Organisiertheit, genossenschaftlicher Aneignung, ökonomischem Denken und demokratischer Aktivität. 2 4 Darauf aufbauend wurden in größerer Komplexität politische, ökonomische, moralische und andere Aspekte der Bewußtseinsentwicklung der 22 Vgl. R. Barthelmann, Theoretische Probleme der Erforschung und Entwicklung der sozialistischen Lebensweise auf dem Lande, Rostock 1979j H. Sebastian, Zu Problemen der politischen Organi'siertheit der Klasss der Genossenschaftsbauern, ins Ebenda. 23 Vgl. W. Holzweißig, Probleme der Entwicklung Jugendlicher in der Landwirtschaft der DDR, in» Inform. Soziol. Forsch. DDR, 3/1978j H. Süße, Landjugend, in: Jugend konkret, Berlin 1984; K. Böhme, Die weitere Stärkung der Klasse der Genoseenschaftsbauern: Gewinnung und Ausbildung des Nachwuchses, Berlin 1983; Die Genossenschaftsbauern in den achtziger Jahren, Berlin 1984 (Schriftenreihe Soziologie); Wie lebt man auf dem Dorf?, Berlin 1985 (Schriftenreihe Soziologie). 24 Vgl. Probleme agrarsoziologischer Forechung, Berlin 1969 (Schriftenreihe Soziologie); Diese Forschungen setzten Untersuchungsn fort, die von der damaligen Arbeitsgrupps Agrarsoziologie am Institut für Agrarökonomie der Humboldt-Universität zu Berlin begonnen worden waren. 259
Genossenschaftsbauern vor allem in Hinblick auf Inhalte, Formen und 25 Reichweiten des Verantwortungebewußtseins, analysiert. Eine zweite Etappe w a r gekennzeichnet durch die komplexe Erfassung
wesentlicher
Grundlagen und Seiten der Entwicklung der Klasse der Genossenschaftsbauern aus historischer, aktueller und perspektivischer Sicht. A u s g e hend vom Platz dieser Klasse im System der sozialietischen
Volkswirt-
schaft und im B ü n d n i s mit der Arbeiterklasse, wurden Bedingungen Tendenzen ihrer weiteren Entwicklung unter dem Einfluß
und
industriemäßiger
Produktionsmethoden untersuchti die Veränderungen im C h a r a k t e r und im Inhalt der Arbeit, in der Sozialetruktur, die Entwicklung des materiellen und kulturellen Lebensniveaus, des sozialistischen Bewußtseins,
die
Wechselbeziehungen von BQndnis, qualitativem Wachstum, sozialer Reproduktion und sozialer Annäherung der Klassen. In einer dritten Etappe rückten Grundfragen der historischen Perspektive der Klasse der Genossenschaftsbauern bei der weiteren Geetaltung der entwickelten eozialistischsn Gesellschaft, insbesondere im Zusammenhang mit dem Obergang zur umfaesenden Intensivierung, in den V o r d e r 27 grund. Neue theoretische Erkenntnisse wurden hierbei in bezug aur den Zusammenhang zwischen der materiellen Bedingtheit der Perspektive der Klasse der Genosssnschaftsbauern,
ihrer Rolle ale Subjekt des Sozialismus und
ihrer sozialen Reproduktion als Klasse gewonnen. Die historisch w e i t reichende Rolle und Perspektive der Klasse der Genossenschaftsbauern und dae Erfordernis ihrer sozialen Reproduktion bei der weiteren Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft sind materiell determiniert durch die historischen Potenzen des genossenschaftlichen gentums in der Landwirtschaft. Es bildst die sozialökonomische grundlage der Klasse der Genossenechaftsbausrn
Ei-
Existsnz-
und hat als die in der
Landwirtschaft der DDR überwiegende Form des sozialistischen
Eigentums
seine bedeutenden Möglichkeiten für die Entwicklung des wisssnschaftlichen, ökonomischen und sozialen Fortschritts auf dem Lande historisch unter B e w e i s gestellt. Auf eeiner Bais und im feeten Bündnis mit der Arbeiterklasse hat die Klasse der Genossenschaftsbauern bedeutende
Fähig-
keiten und Leistungen als Hauptproduktivkraft der Agrarproduktion,
als
Gestalter sozialistischsr Produktionsverhältnisse
in der Lendwirtschaft
und der sozialistischen Lebensweise im Dorf hervorgebracht. Sie wurde zum schöpferischen Sub.lekt der Gesellschaft und leistet mit ihrem
spe-
zifischen sozialen Profil einen eigenen und unverzichtbaren Beitrag z u r Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft. Ebsnso wurde die Erkenntnis vertieft, daß der historisch gssetzmäßige und langwierige Prozeß der sozialen Annäherung der Klasssn und Schichten eng v e r 25 26 27
260
V g l . Autorenkollektiv, Genossenschaftsbauern - Verantwortung - B e wußtsein, Berlin 1973 (Schriftenreihe Soziologie). Vgl. Autorenkollektiv, Leitung K. Krambach, Genosssnschaftsbauern gestern - heute - morgen. Berlin 1977. Vgl. Die Genossenschaftsbauern in den achtziger Jahren, Berlin 1984 (Schriftenreihe Soziologie).
flochten ist mit der Entfaltung solcher qualitativer Wachstumsfaktoren wie der Reproduktion von klassen- bzw. schichtspezifiechen Besonderheiten in den Existenzbedingungen, von Eigentümlichkeiten des sozialen Profils usw. Diese soziale Reproduktion wurde in bezug auf die Klasse der Genossenschaftsbauern als ein komplexer Prozeß definiert, der vor allem drei Komponenten umfaßti Das ist erstens die Reproduktion klassenspezifischer Existenzbedingungen und Formen, das heißt insbesondere die erweiterte Reproduktion des genossenschaftlichen Eigentums und die weitere Festigung der LPG als ökonomische Grundeinheiten der Volkswirtschaft, ihrer politisch-sozialen Gemeinschaften und spezifischen Organisationsformisn der Klasse, im weiteren Sinne aber auch die Reproduktion solcher klassentypischer Existenzformen wie der dörflichen Existenzweise und der genossenschaftsbäuerlichen Familie, die unverzichtbare Funktionen im sozialen Reproduktionsprozeß dieser Klasse haben. Zweitens umfaßt dieser Prozeß die Reproduktion klassentypischer bäuerlicher Traditionen, Erfahrungen und sozialer Eigenschaften im Verhältnis zur Natur, zu den Besonderheiten der Arbeit in der Landwirtschaft, zum genossenschaftlichen Eigentum und zum Leben im Dorf ale Bestandteil oder Ausdrucksform sozialistischer Denk- und Verhaltensweisen bzw. spezifischer Fähigkeiten als genossenschaftliche Produzenten und Eigentümer. Drittens die personelle Reproduktion der Klasse mittels der planmäßigen Aufnahme 28 neuer berufstätiger Mitglieder in die LPG. Damit wurde ein Beitrag zur soziologischen Theorie insgesamt, zur Aufdeckung der Dialektik von sozialer Annäherung und sozialer Reproduktion, zum Verständnis sozialistischer Klassen und Schichten als soziale Subjekte, zu den Besonderheiten der Klasse der Genossenschaftsbauern in der Sozialstruktur der sozialistischen Gesellschaft geleistet. Auf der Grundlage der Analyse des Zusammenhangs zwischen umfassender Intensivierung, Reproduktion der Klasse der Genossenschaftsbauern und der Dorfentwicklung konnte ein Beitrag zu der heute als gesichert geltenden Erkenntnis von der historisch bleibenden Rolle des Dorfes als räumlich-soziale, von der Stadt unterschiedene Existenzform auf dem Lande geleistet werden. In dem Maße, wie es gelang, wesentliche Unterschiede (das heißt solche, die soziale Ungleichheit bedeuten) zwischen Stadt und Land schrittweise zu verringern, wurden nicht nur die sozialen Gemeinsamkeiten von Stadt und Land verstärkt, sondern es traten auch historisch bleibende Funktionen und soziale Besonderheiten deutlicher hervor. Eine wichtige Konsequenz der Forschungen zu den Potenzen und Perspektiven der Dörfer, zu ihrer sozialen Stabilität und Reproduktion war die Erkenntnis, daß das Verständnis des Dorfes als Gemeinschaft einen Knotenpunkt weiterer soziologischer Forschungen auf diesem Gebiet darstellt. In der Praxis ist - als Erfordernis einer stabilen Dorfentwicklung und der umfassenden Erschließung der sozialen Potenzen des Dorfes 28
Ebenda, S. 51. 261
die E n t w i c k l u n g und F e s t i g u n g d e r s o z i a l i s t i s c h e n
Dorfgemeinschaften
eine e r s t r a n g i g e Z i e l g r ö ß e a g r a r - und k o m m u n a l p o l i t i s c h e r
Führungstätig-
keit g e w o r d e n . Die P e r s p e k t i v e j e d e s D o r f e s l e i t e t sich ab a u s
sei-
nen h i s t o r i s c h g e w a c h s e n e n und e n t w i c k l u n g s f ä h i g e n P o t e n z e n
fQr die V e r -
w i r k l i c h u n g der. E i n h e i t von W i r t s c h a f t e - und S o z i a l p o l i t i k ,
insbeson-
dere für die u m f a s s e n d e I n t e n s i v i e r u n g , die w e i t e r e V e r b e s s e r u n g Lebensbedingungen
und die E n t f a l t u n g d e r s o z i a l i s t i s c h s n
seiner Bürger. Die Entfaltung seiner Potenzen wiederum hängt
maßgeblich
von d e r s o z i a l e n S t a b i l i t ä t d e s j e w e i l i g e n D o r f e s a b . Sie w u r d e niert als eine qualitative Beschaffenheit,
die d u r c h ein
der
Lebensweise defi-
ausgewogenes
V e r h ä l t n i s j e n e r F a k t o r e n b e s t i m m t w i r d , die d a u e r h a f t d a s
Funktionie-
ren und die s o z i a l e R e p r o d u k t i o n d e s j e w e i l i g e n D o r f e s in s e i n e r heit von l ä n d l i c h e r S i e d l u n g und s o z i a l e r G e m e i n s c h a f t
Ein-
gewährleisten.
Wichtige, miteinander verflochtene Komponenten dieser Stabilität,
ter-
ritorial und ö r t l i c h d i f f e r e n z i e r t ,
bzw.
sind v o r a l l e m : die E r h a l t u n g
A u s g e s t a l t u n g dee A r b e i t s p l a t z a n g e b o t e s
im D o r f b z w . in g ü n s t i g e r
Ent-
fernung] die G e w ä h r l e i s t u n g j e n e r m a t e r i e l l e n E x i s t e n z b e d i n g u n g e n , für d i e a l l t ä g l i c h e B e f r i e d i g u n g von G r u n d b e d ü r f n i s s e n , munikation, das gesellschaftliche
die
die soziale
f o r d e r l i c h sind; die z a h l e n m ä ß i g e S t a b i l i s i e r u n g d e r
Wohnbevölkerung
und die p l a n m ä ß i g e R e p r o d u k t i o n
demographischen
ihrer erforderlichen
s o z i a l e n S t r u k t u r ; die stabile E n t w i c k l u n g der D o r f g e m e i n s c h a f t , sellschaftlichen zialer
Kom-
und k u l t u r e l l e Leben in J e d e m D o r f
und k u l t u r e l l e n Lebens, d e s D o r f e s a l s
erund
des ge-
politisch-so-
Gemeinschaft.
D i e s o z i a l e R e p r o d u k t i o n d e s D o r f e s im S t a d t - L a n d - V e r h ä l t n i s d u r c h die d i a l e k t i s c h e V e r f l e c h t u n g von w e i t e r e r A u s p r ä g u n g Gemeinsamkeiten
und w e i t e r e r V e r r i n g e r u n g
sozialer Unterschiede
Stadt und Land e i n e r s e i t s und d e r A u s g e s t a l t u n g
bleibender
zwischen
Besonderhei-
ten d e r s o z i a l i s t i s c h e n L e b e n s w e i s e auf d e m L a n d e a n d e r e r s e i t s z e i c h n e t . Die A n n ä h e r u n g d e r L e b e n s b e d i n g u n g e n
wird
sozialer
gekenn-
d e s D o r f e s an die d e r
Stadt kann d e m z u f o l g e n i c h t b e d e u t e n , d a s D o r f z u r S t a d t z u machen, dern die sozial u n g l e i c h e n L e b e n s b e d i n g u n g e n a l l m ä h l i c h z u und z u g l e i c h die p r o g r e s s i v e n ,
erhaltenswerten Besonderheiten
tümlichkeiten, d ö r f l i c h e n Lebens, e i n s c h l i e ß l i c h d e s l ä n d l i c h e n ters d e s D o r f e s und s e i n e r E i g e n a r t e n a l s d ö r f l i c h e soziale
son-
überwinden und
Eigen-
Charak-
Gemeinschaft
zu r e p r o d u z i e r e n . D a v o n a u s g e h e n d hat sich z u n ä c h s t a l s A n s a t z
bewährt,
das Dorf a l s E i n h e i t von S i e d l u n g und G e m e i n s c h a f t z u fassen, d a s h e i ß t in s e i n e r m a t e r i e l l - g e g e n s t ä n d l i c h e n
G e s t a l t und seinen
Standortfunktio-
nen a l s l ä n d l i c h e S i e d l u n g und a l s A n s i e d l u n g von M e n s c h e n , a l s e i n e spezifische sozialen
räumlich-soziale Existenzform 29 Gemeinschaft.
Mit d i e s e n E r k e n n t n i s s e n lektik von G e m e i n s a m k e i t e n , 29
262
in G e s t a l t e i n e r
konnte d a s s o z i o l o g i s c h e W i s s e n sozialen U n t e r s c h i e d e n
(dörflichen)
um die D i a -
und b l e i b e n d e n
Be-
V g l . Wie lebt man auf dem Dorf?, a . a . O . , S. 9 ( S c h r i f t e n r e i h e ziologie) .
So-
Bonderhelten im Verhältnis von Stadt und Land, Städten und Dörfern bereichert werden. Damit sind auch einige wesentliche Richtungen angedeutet, in denen - ausgehend von den in der Entwicklung der vielfältigen agrarsoziologischen Forschungen gewonnenen Erkenntnissen - die weitere Ausarbeitung des Theoriegebäudes der marxistischen Agrarsoziologie vorgenommen werden kann. Die Geschichte der Agrarsoziologie beinhaltet auch internationale Aspekte. Die Zusammenarbeit mit agrarsoziologisch forschenden Einrichtungen in sozialistischen Bruderländern hat sich in vielfältigen Formen entwickelt. Dabei spielt die multilaterale Arbeitsgruppe "Bauernschaft und D o r f , d i e 1981 gebildet wurde,eine wichtige Rolle. Für die Koordination ihrer Tätigkeit ist die DDR verantwortlich. Ale erstes gemeinsames Resultat erschien ein Sammelband zum Thema "Die Sozialetruktur auf dem Lande in sozialistischen Ländern Europas". Gegenwärtig wird eine gemeinsame Publikation über "Das Dorf in sozialistischen Ländern Europas" vorbereitet. Seit 1971 sind Agrarsoziologen der DDR In Ruralprojekten des Wiener Zentrums wirksam geworden. Seit 1976 nahmen DDRDelegationen aktiv an drei Weltkongressen der ländlichen Soziologie (Torun 1976 3 0 , Mexiko 1980, Manila 1984), die von der Weltorganisation der Agrarsoziologen - International Rural Sociological Association veranstaltet wurden, sowie an fünf von der Europäischen Gesellschaft für ländliche Soziologie organisierten europäischen Kongressen teil.
30
Vgl. Beiträge zum IV. Weltkongreß für Agrarsoziologie, Berlin 1976, in: Inform. Soziol. Forsch. DDR, Sonderhefte 1, 2, 3/1976. 263
Ob. f. Soziologie und Sozialpolitik 1989
Werner Gerth Zur Geschichte der marxistischen soziologischen Jugendforschung in der DD R
Eine marxistische Jugendforschung gibt es in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) seit etwa fünfunddreißig Jahren. Geht man von der Gründung des Zentralinstitute für Jugendforschung (ZI3) in unserer Republik aus, läßt sich der Beginn auf den Tag genau bestimmen: Auf Anordnung des Ministerrates der DDR vom 22. Juni 1966 entstand das ZIJ beim Amt für Jugendfragen des Ministerrates der DDR mit Sitz in Leipzig. Die Institutionalisierung der Jugendforschung war Jedoch das Resultat von gesellschaftlich-politischen und wissenschaftlichen Entwicklungsprozessen, die schon geraume Zeit vorher begonnen hatten. Die Herausbildung einer marxistischen Jugendforschung in der DDR ist eng'verbunden mit der gesamten gesellschaftlichen Entwicklung in unserer Republik. Ausgehend von den Lehren der Klassiker des Marxismus-Leninismus und der jugendpolitischen Erfahrungen, die die deutsche sowie internationale Arbeiterbewegung in ihren jahrzehntelangen Klassenkämpfen gewonnen hat, hat die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) von Beginn an ihre Jugendpolitik als Bestandteil ihrer Gesamtpolitik entwickelt. Die Jugend wurde stets in die Erfüllung der politischen, ideologischen, ökonomischen und geistig-kulturellen Aufgaben bei der Errichtung der neuen Gesellschaftsordnung aktiv einbezogen. Das zeigte sich schon bei der antifaschistisch-demokratischen Umgestaltung nach der Befreiung unseres Volkes vom Faschismus und setzte sich mit zunehmend größeren und anspruchsvolleren Aufgaben beim Aufbau des Sozialismus sowie bis in die Gegenwart bei der Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft fort. "Der Jugend Vertrauen zu schenken und Verantwortung zu übertragen" wurde zum Grundprinzip sozialistischer Jugendpolitik, und in dem auf dem IX. Parteitag der SED beschlossenen "Programm der SED" erneut nachdrücklich hervorgehoben. Die besondere Förderung der Jugend ist dementsprechend auch verfassungsrechtlich 2 fixiert. Seit 1950 gibt es spezielle Jugendgesetze, die die Teilnahme der Jugend an der Leitung, Planung und Gestaltung der gesellschaftlichen Entwicklungsprozesse, ihre konkrete Förderung sowie die daraus 1 2
264
Vgl. Programm der SED, Berlin 1976, S. 54. Vgl. Verfassung der DDR in der Fassung vom 7. Oktober 1974, Artikel 20, Absatz 3.
erwachsenden Rechte und Pflichten sowohl für den Staat als auch für die Jugend gesetzlich
festlegen.^
Die mit den gesellschaftlichen Entwicklungsetappen unseres S t a a t e s wachsenden Ansprüche an die sozialistische Jugendpolitik
erforderten
objektiv ihre immer stärkere und differenziertere wissenschaftliche gründung, erhoben die Forderung nach einer
Be-
marxistisch-leninistisch
fundierten wissenschaftlichen Erforschung der
Entwicklungsbedingungen
und - p r o z e s s e der Ougend. Erste A k t i v i t ä t e n entstanden in den sich forgewis-
mierenden marxistisch-leninistischen Gesellschaftswissenschaften sermaßen "wissenschaftsintern" in Form der Auseinandersetzung mit tionären bürgerlichen Auffassungen über die Jugend. Verschiedene
reakVer-
treter dieser Richtungen, vor allem Psychologen und Pädagogen, die sich nicht profaschistisch artikuliert und betätigt hatten, lehrten
ihre
Schulmeinungen kaum verändert an den Universitäten und Hochschulen unserer Republik teilweise noch bis Ende der 50er J a h r e . Sie
beeinfluß-
ten dementsprechend das Jugendpsychologische Denken an diesen
Einrich-
tungen noch etliche Zeit nach Gründung unseres Staates. (So lehrten 0 . Kroh bis 1948 in Berlin, A . Petzelt und T h . Litt in Leipzig, F. S a n d e r bis 1948 in Potsdam, K. Gottschaidt bis 1962 in Berlin, H. M i e s k e s bis 1957 in Jena.) Gleichzeitig begannen aber junge marxistische W i s s e n schaftler, vor allem Philosophen, Psychologen und Pädagogen
bereits
Mitte der 50er Jahre - später dann auch Soziologen - mit Hilfe der E r fahrungen der Sowjetwissenschaft auf der G r u n d l a g e des dialektischen und historischen Materialismus diese Theorien und Lehrmeinungen tisch zu prüfen, zurückzuweisen und neue
kri-
theoretisch-methodologische
Ansätze und Konzepte zu entwickeln und zur Diskussion zu stellen. IV. Friedrich und A . Kossakowski charakterisierten 1962 die Situation in der Psychologie, die bis Ende der 50er Jahre - jedoch nicht n u r in der Psychologie - typisch war, wie folgt: "Die verhältnismäßig geringe A n zahl von meist jüngeren Psychologen, die bestrebt waren, von den m a r x i stischen Positionen auszugehen, hatten damals den Kampf in breitester Front zu führen ... Es wurden zwar Grundsatzdiskussionen geführt,
aber
oft lediglich auf abstrakter Basis und ohne differenzierte K e n n t n i s der neuen Jugendwirklichkeit. Kleinere Untersuchungen, die in dieser Zeit in verschiedenen Lehrerbildungseinrichtungen
durchgeführt wurden, w a r e n
meist methodisch unvollkommen, griffen nicht immer erzieherisch vante Fragen auf oder waren aus anderen Gründen nicht
rele-
publikumsreif"
Dennoch waren das wichtige und richtige Schritte auf dem Weg der H e r ausbildung einer marxistischen J u g e n d f o r s c h u n g .
Theoretisch-empirische
Studien entstanden zuerst auf dem Gebiet der Kollektiverziehung,
die
erziehungstheoretisch besonders relevant war. Der Einfluß, der von der sozialistischen Umgestaltung unseres S c h u l w e s e n s in den Jahren 1955 bis 3 4
D a s erste "Jugendgesetz" datiert vom .8. Februar 1950, das zweite vom 4 . Mai 1964. Gegenwärtig ist das G e s e t z vom 28. Januar 1974 g ü l tig. VV. Friedrich, A . Kossakowski, Zur Psychologie des Jugendalters, B e r lin 1962, S. 4 9 .
265
1962 und von den Erfahrungen der sowjetischen Pädagogik, vor allem der Werke A. S. Makarenkos ausging, fand hier seinen Niederschlag. Es entstanden Arbeiten zur Kollektiverziehung vorwiegend im Bereich der Schulpädagogik, zw Methodik der Kollektiverziehung in der Heimerziehung (Eberhard Mannschatz), zur Methode des "Systems der Perspektiven" für die Kollektive (Hans Berger), zu den Wechselbeziehungen von Freie Deutsche Jugend (FDJ) und Schülerkollektiv (Manfred Wutzier), zur "Rolle der Traditionen" (Hans-Erich Günther), zum Verhältnis von Jüngeren und älteren Schülern (Kurt Franz) und viele andere. Aber auch andere Wissenschaftsdisziplinen wandten sich zunehmend den Entwicklungsprozessen und -bedingungen Jugendlicher in unserer Republik zu: So auf sexualpsychologischem und -pädagogischem Gebiet Rolf Borrmann (1962) und Heinz Grassel (1966), zur Jugendkriminologie Horst Luther (1959), Richard Hartmann (1963) und Harald Winter (1963), zu medizinisch-sozialhygienischen Fragen Hildegard Marcusson (1961) und Kurt Winter (1962) sowie zur Akzeleration Kurt Winter (1962), Klaus-Dieter Wagner (1963) und von Seiten der Psychologie A. Kossakowski (1965) zu psychischen Veränderungen in der Pubertät. Hier sind auch die ersten Arbeiten des Psychologsn W. Friedrich zu nennen, die sich mit der "Psychologie der Berufsschuljugend" (1961) und der "Strebensthematik im Kindes- und Jugendalter" (1962) befaßten. Eine erste profilierende Wirkung für die Entwicklung einer marxistischen Jugendforschung übte die Publikation "Zur Psychologie des Jugendalters" (1962) der beiden genannten Psychologen Friedrich und Kossakowski aus. Diess Arbeit, unter dem Einfluß der Orientierungen des V. Parteitages der SED (1958) und des Kommuniques des Politbüros des Zentralkomitees der SED zu Problemen der Jugend (1961) entstanden, war ein Versuch, auf marxistischer Basis "eine kritische Auseinandersetzung mit verschiedenen Richtungen der bürgerlichen Jugendpsychologie und Jugendsoziologie" zu beginnen und eine erste Darstellung "zum Bild unserer 5 Gegenwartsjugend" zu geben. Ihre Absicht war darüber hinaus, einen "Beitrag zur Diskussion um theoretische Grundfragen einer Jugendpsychologie", die sie "als Teil einer umfassenden marxistischen Jugendforschung ansehen", zu leisten. 6 Gerade die interdisziplinäre Orientierung, die sich auch in der gesamten Anlage der Arbeit widerspiegelte, hatte eine nicht zu unterschätzende Bedeutung für die Herausbildung der marxistischen Jugendforschung in der DDR. Aber auch Vertreter der sich formierenden marxistischen Soziologie meldeten sich zu Fragen der Jugend und der Jugendforschung zu V/ort. Im Rahmen der Forschungsgruppe "Soziologie und Gesellschaft" am Institut für Politische Ökonomie der Humboldt-Universität zu Berlin begannen unter Leitung von Kurt Braunreuther 1961 konkrete empirische Untersuchungen vorwiegend in der Berliner (Elektro-)Industrie sowie in der sozia5 6 266
Ebpnda, S. 8. Ebenda.
listischen Landwirtschaft, bei denen besonders auch Fragen der E n t w i c k lung junger Menschen untersucht wurden wie zum Beispiel die Stellung der Jugendlichen zur betrieblichen Praxis, zur Berufsausbildung,
zur
Qualifizierung und weiteren beruflichen Perspektive, das V e r h ä l t n i s der Jugend zur neuen Technik, Probleme der Qualifizierung junger Produktionsarbeiter und der Jungen technischen Intelligenz bei der Erreichung wissenschaftlich-technischer Höchstleistungen, Aufgaben bei der Q u a l i fizierung der Landjugend sowie bei der Entwicklung der jungen
Landleh-
rer, Fragen der Fluktuation besonders junger Frauen und Mädchen. An den Universitäten und Hochschulen selbst wurden soziologische
Untersuchun-
gen unter den Studenten b e g o n n e n . 7 S. Ranach, Mitglied der Forschungsgruppe "Soziologie und Gesellschaft", machte 1962 als erster den V e r such, eine marxistische Soziologie der Jugend als den "Zweig der G e sellschaftswissenschaften"
zu bestimmen, "der den Gesamtkomplex d e r auf
die Jugend, bzw. auf Teilfragen der Jugend, zutreffenden Tatsachen
be-
trachtet, allgemeine und spezielle Gesetzmäßigkeiten in der Entwicklung, der Rolle und den Beziehungen der Jugendlichen in der Gesellschaft
auf-
deckt und untersucht und sich dabei auf den Marxismus-Leninismus Q stützt." Einen Höhepunkt erreichten die soziologischen Forschungen
zur
Jugend in den Jahren 1962/1963. Das wird auch durch eine mehrtägige A r beitstagung im August 1963 "Jugend und neue Technik" der Forschungsgruppe unterstrichen. Eine Reihe dieser wissenschaftlichen
Erkenntnis-
se disnte unmittelbar der Vorbereitung des Kommuniques des P o l i t b ü r o s des Zentralkomitees (ZK) der SED "Der Jugend Vertrauen und V e r a n t w o r tung"
(1963).
In den folgenden Jahren wurde jedoch v o r allem die empirische wendung der marxistisch-leninistischen
Zu-
Soziologie zu Fragen der J u g e n d
vernachlässigt. Und so resümierte Ransch 1965: "Seit einigen Jahren
ist
in der DDR die Diskussion über die Soziologie und über Jugendforschung im Gange, aber dieg Soziologen haben sich bisher kaum zur J u g e n d f o r schung geäußert." Er vertritt abermals die Auffassung, daß "die soziologische Jugendforschung oder die Jugendsoziologie ein sehr w e s e n t l i c h e r 10 Bestandteil der Jugendforschung (ist)." Dennoch blieb auch in d e r zweiten Hälfte der 60er Jahre vor allem der empirische Beitrag der marxistischen Soziologie zur "Untersuchung der Gesetzmäßigkeiten in der Rolle und Entwicklung der Verhaltensweisen und den Beziehungen der J u gendlichen in der Gesellschaft im Zusammenhang mit ihrer Stellung im Produktionsprozeß" 11 gering. 7
Vgl. Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt-Universität zu B e r lin, Gesellschafts- und Sprachwissenschaftliche Reihe, XIII (1964), Sonderband Soziologie, Teil 1; M . Puschmann, Ü b e r die Tätigkeit der Forschungsgruppe 'Soziologie und Gesellschaft', in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt-Universität zu Berlin, Gesellschafts- und Sprachwissenschaftliche Reihe, XIII, 2/3/1964, S. 380. 8 S. Ransch, Die bürgerliche westdeutsche Jugendsoziologie - ein Feind der Jugend, in: Wirtschaftswissenschaft, 7/1962, S. 1055. 9 S. Ransch, Entwicklungsfragen der soziologischen Jugendforschung, in: Soziologie und Praxis, Berlin 1965, S. 174. 10 Ebenda. S. 175. 11 Ebenda, S. 175. 267
Dafür gab es zwei wesentliche objektive Gründe. Einmal konnte die aus der Psychologie und Pädagogik resultierende Richtung der marxistischen ¿Jugendforschung bei aller kritischen D i s t a n z an langjährige
Forschungs-
traditionen im Bereich der Kinder und Jugendlichen durch die bürgerliche Wissenschaft anknüpfen und - gesellschaftlich gefördert - ihren Weg 12 rasch und eigenständig fortsetzen. Kinder und auch Jugendliche waren in den bürgerlichen Wissenschaften der Vergangenheit schon immer viel stärker die Domäne von Psychologie und Pädagogik als der Soziologie
ge-
wesen, w a s vor allem mit ihren theoretischen Gegenstandsbestimmungen sammenhing. Zum anderen w a r die entstehende
zu-
marxistisch-leninistische
Soziologie in dieser Zeit erklärlicherweisje in kritischer A u s e i n a n d e r 13 Setzung mit der bürgerlichen Soziologie sowie in enger Wechselwirkung mit allmählich zunehmenden empirischen Forschungsarbeiten der verschiedenen soziologischen Zweigdisziplinen vorrangig um die Bestimmung
theo-
retischer Grundpositionen bemüht. Die theoretische und empirische Zuwendung zu weiteren Teilsystemen, Lebensbereichen oder besonderen
sozia-
len Gruppen war in dieser Situation für die Soziologie in der DDR schwierig. Diese Bedingungen bestimmten nachhaltig den weiteren Verlauf der Herausbildung der marxistisch-leninistischen
Jugendforschung.
D a s Jahr 1964 eröffnete den Wissenschaftlern, die von verschiedenen Disziplinen her, vor allem Jedoch von der Psychologie und der Pädagogik, Jugendprobleme erforschten, neue Perspektiven. Ausgehend von der großen Bedeutung einer wissenschaftlich noch stärker fundierten
Jugendpolitik
beim umfassenden A u f b a u des S o z i a l i s m u s * 4 beschloß der Ministerrat DDR am 29. Februar 1964 die Bildung eines "Wissenschaftlichen
der
Beirates
für Jugendforschung" beim Amt für Jugendfragen, dem Vertreter der verschiedensten gesellschaftswissenschaftlichen Disziplinen sowie der pädagogischen und gesellschaftlichen Praxis angehörten. Er hatte die A u f gabe, die komplexe Untersuchung der Probleme der jungen Generation durch wissenschaftliche Einrichtungen der DDR anzuregen, zu fördern, zu koordinieren und zu unterstützen. Die Arbeit des Beirates erfolgte wohl in Plenarsitzungen, in denen vorrangig inhaltlich-theoretische
sound
Kooperationsfragen beraten wurden, als auch besonders in den A r b e i t s g e meinschaften, in denen die unmittelbare theoretisch-empirische
12
13 14
268
For-
So erschien zum Beispiel die erste Auflage der "Kinderpsychologie" der jungen marxistischen Psychologen G. Clauss und H. Hiebsch bereits im Jahre 1957, allerdings stellenweise noch an bestimmten A u f fassungen und Lehrmeinungen der bürgerlichen Psychologie orientiert. Die in dieser Hinsicht gründlich überarbeitete zweite Auflage lag 1960 vor. K. Braunreuther, Zur Kritik der bürgerlichen Soziologie in Westdeutschland, Berlin 1962. Vgl. das auf dem VI. Parteitag der SED 1963 bestätigte "Programm der SED" sowie das Kommunique des Politbüros des ZK der SED "Der Jugend Vertrauen und Verantwortung" vom 21. September 1963.
schungsarbeit s t a t t f a n d . 1 5 In Symposien und wissenschaftlichen tagungen, zum Teil mit internationaler Beteiligung aus dem schen Ausland, sowie in dem Informationsbulletin
Arbeits-
sozialisti-
"Jugendforschung"
wur-
den die gewonnenen Forschungsergebnisse vorgestellt und unter theoretisch-methodologischen Gesichtspunkten diskutiert und für die
soziali-
stische Jugendpolitik verallgemeinert. So wurden in den der Gründung B e i r a t e s folgenden zwei Jahren die wissenschaftlichen Kräfte
dener Disziplinen, die sich mit der Erforschung unterschiedlicher bleme der Jugend befaßten, inhaltlich und
des
verschiePro-
organisatorisch-methodisch
stärker zusammengeführt. Dies wirkte sich auf die theoretische und e m pirische Entwicklung der Jugendforschung und ihre jugendpolitische
Wirk-
samkeit günstig aus. Gleichzeitig wurde aber auch immer deutlicher, die schnell anwachsenden Planungs-, Koordinierungs- und
daß
Informations-
aufgaben nicht mehr optimal von einem nebenamtlichen Gremium gelöst w e r den konnten. E s wurde nötig, eine größere Zahl w i s s e n s c h a f t l i c h e r
Kräf-
te aus verschiedenen Disziplinen an einer selbständigen Einrichtung konzentrieren. So wurde 1966 das Zentralinstitut
zu
für Jugendforschung
ge-
gründet. Zum Direktor des Instituts wurde W. Friedrich berufen. D a m i t begann eine neue Etappe der Jugendforschung in der D D R . D a s Z I J ist nach seinem Statut, das 1973 aufgrund der w e i t e r f ü h r e n den jugendpolitischen Anforderungen nach dem VIII. Parteitag der SED 1 fi präzisiert wurde , "eine staatliche wissenschaftliche Einrichtung zur Entwicklung der marxistisch-leninistischen Jugendforschung in der D D R und zur Erarbeitung wissenschaftlicher Grundlagen für die
sozialisti-
sche Jugendpolitik". Es "erforscht Bedingungen und G e s e t z m ä ß i g k e i t e n Persönlichkeitsentwicklung,
der
vor allem der sozialistischen Erziehung
im
Jugendalter", wobei "theoretische und empirische Forschungen zur sozialistischen Persönlichkeitsentwicklung
der Jugend im A l t e r von v i e r z e h n
bis fünfundzwanzig Jahren, insbesondere der A r b e i t e r j u g e n d , der S t u d e n ten und der jungen Intelligenz" im Mittelpunkt stehen. D a r ü b e r hinaus hat das Institut Forschungsarbeiten zu Problemen der J u g e n d e n t w i c k l u n g und Jugenderziehung in anderen wissenschaftlichen Einrichtungen zu stimulieren und zu koordinieren, wofür der wissenschaftliche Beirat
für
Jugendforschung, der 1973 in den "Wissenschaftlichen Rat für J u g e n d f o r schung" umgewandelt wurde, mit eine wichtige Verantwortung In einer arbeitsreichen Aufbauphase wurde bis 1970 ein
trägt. interdiszipli-
när zusammengesetztes Wissenschaftlerkollektiv geschaffen, bei dem zu 15
16
Unter anderem hatten sich etwa ab 1963 folgende A r b e i t s g e m e i n s c h a f ten herausgebildet: "Jugend und WTF" (Karl-Marx-Universität Leipzig), "Jugendkriminologie" (Humboldt-Universität zu Berlin), "Geschichte der deutschen Jugendbewegung" (Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald), "Freizeitbetätiguna und Freizeitlenkung der J u gend" (Deutsche Hochschule für Körperkultur und Sport Leipzig) sowie etliche weitere an verschiedenen Pädagogischen Hochschulen bzw. Pädagogischen Fakultäten der Universitäten, zum Teil den P r o blemen der Studenten gewidmet. A n o r d n u n g über das Statut des Z e n t r a l i n s t i t u t s für Jugendforschung, Gesetzblatt der DDR, Teil I, Nr. 35, 2. August 1973, S. 372. 269
Beginn allerdings Psychologen und Pädagogen überwogen. In den 70er Jahren kamen - wenn auch nicht mehr in dem bisherigen Umfang — weitere, oft jüngere Wissenschaftler senschaftsdisziplinen
sowie in stärkerem Maße solche aus anderen W i s -
(Philosophie, Wirtschaftswissenschaft,
Berufsaus-
bildung, Kulturwissenschaft, ¿Journalistik und andere) an das Institut. Neben sofort begonnenen empirischen Untersuchungen nahmen in steter Wechselwirkung auch theoretische und methodologische Arbeiten
breiten
Raum ein. Letztere orientierten sich zu Anfang stark an der Jugendpsychologie, bedingt durch die vielfältigen theoretischen und empirischen
Erkennt-
nisse der Jugendpsychologie und ihre allgemeine gesellschaftliche
Aner-
kennung sowie auch durch die Ausbildungsrichtung der Mehrzahl der Wissenschaftler des Instituts. D a s Grundmodell der Jugendtheoretischen A r beiten waren die Auffassungen zur Jugend und zur
Persönlichkeitsentwick17 lung Jugendlicher, die Friedrich in seinem Buch "Jugend heute" darge-
legt hatte. Damit war auch methodologisch das Herangehen an die empirische A n a l y s e der Bedingungen und Prozesse der
Persönlichkeitsentwick-
lung im Jugendalter umrissen. Entwicklungs- und methodische Instrumentarien ü b e r w o g e n . B e i
sozialpsychologische
aller Beachtung
differen-
zierender Merkmale wie Klassenzugehörigkeit, Alter, Geschlecht, B i l dungsgrad, Beruf, Territorium für die Entwicklung der jungen
Persönlich-
keit wurde letztlich die Jugend, ausgehend vom Individuum, vom Jugendlichen her analysiert und verallgemeinert, als Entwicklungsetappe "erwachsenen" Persönlichkeit aufgefaßt. D a s ist natürlich nicht
zur
falsch,
jedoch nur ein Analyseaspekt, und führt bei Verabsolutierung zu ungenügenden Erkenntnissen für die wissenschaftliche Fundierung
sozialisti-
scher Jugendpolitik. D a s Verhältnis von Jugend und Gesellschaft
fand
theoretisch nicht genügend Berücksichtigung. A l l e r d i n g s gab es zunächst auch - wie schon erwähnt - kaum soziologische Veröffentlichungen
zu
Problemen der Jugend und Jugendentwicklung. Einseitigkeiten und Mängel bei der Herausarbeitung einer gesellschaftsbezogenen Jugendtheorie
wa-
ren die Folge. Anfang der 70er Jahre setzten in der marxistisch-leninistischen gendforschung verstärkte Bemühungen zur Weiterentwicklung der schen Positionen sowohl im Hinblick auf die Bestimmung der
"Persönlich-
keit" und ihre Entwicklung als auch auf die Bestimmung der "Jugend" des "Jugendalters" ein. Im Ergebnis dieser Etappe intensiver theoretischer und methodologisch-methodischer Arbeit wurden zu einer marxistischen Persönlichkeitstheorie
Ju-
theoretiund
inhaltlichStandpunkte
sowie zu damit im Zusam-
menhang stehenden methodologischen Grundfragen in dem Werk "Der sozial19 wissenschaftliche Forschungsprozeß" vorgestellt. In Obereinstimmung 17 18 19
270
iV. Friedrich, Jugend heute. Theoretische Probleme, empirische Daten, pädagogische Konsequenzen, Berlin 1966. Vgl. Methoden der marxistisch-leninistischen Sozialforschung, (Hrsg.) 17. Friedrich, Berlin 1970. W. Friedrich, tt. Hennig, Der sozialwissenschaftliche Forschungsprozeß, Berlin 1975.
mit Aussagen der marxistischen S o z i o l o g i e ^ wird Persönlichkeit als "soziale Charakteristik des Menschen" verstanden, als "angeeignete Gesell21 schaft".
D a r a u s folgt, daß die durch die Forschungstätigkeit zu ge-
winnenden Aussagen einen Erkenntniszuwachs über die Entwicklung der P e r sönlichkeit nur erbringen können, wenn sie den Bezug zum Sozialen
haben,
wenn sie das dialektische Wechselverhältnis zwischen Persönlichkeit Gesellschaft berücksichtigen und dabei sowohl die determinierenden flüsse der Gesellschaft als auch die aktive,
und Ein-
gesellschaftsgestaltende
Funktion der Persönlichkeit zu erfassen suchen. Von dieser G r22 undposition ausgehend, sind in dem Buch "Ougend und Jugendforschung" theoretische und methodologische Fragen der Jugendforschung insofern
prinzi-
piell neu aufgeworfen worden, indem Ougend als Teilpopulation der B e völkerung, als eine nach sozialdemographischen Kriterien bestimmte G r u p pe der Gesellschaft gekennzeichnet wird. D a s bedeutet, daß liche Stellung und Funktion der Jugend, ihre Lebensweise, ung, ihre Wertorientierungen
gesellschaftWeltanschau-
und Lebensprinzipien, ihre typischen D e n k -
und Verhaltensweisen können nur im Kontext der objektiven
gesellschaft-
lichen Bedingungen beschrieben und erklärt werden, daß die konkrethistorischen Verhältnisse, das Sein, und damit auch das Bewußtsein,
das
Denken, Fühlen und Verhalten der Ougend determinieren. Und nur so kann der Ougendbegriff eine Grundlage für jugendpolitische A k t i v i t ä t e n
sein.
Diese theoretischen Überlegungen deckten sich mit ähnlichen A u f f a s s u n gen und Konzepten verschiedener Sozialwissenschaftler, 23 und äoziologen der sozialistischen Länder.
Ougendforscher
Für die Entwicklung der theoretischen Positionen einer
marxistisch-
leninistischen Ougendforschung spielten gleichzeitig auch kritische A u s einandersetzungen mit bürgerlichen jugendpsychologischen
und - s o z i o l o g i -
schen Konzeptionen eine große Rolle. Mitte bis Ende der 70er Oahre stand von Mitarbeitern des ZIO in Kooperation mit weiteren
ent-
marxisti-
schen Wissenschaftlern eine Reihe von Publikationen, die vom
Standpunkt
des Marxismus-Leninismus kritisch biologisch und psychoanalytisch
orien-
tierte Auffassungen zur 25 O u g e n d e n t w i c k l u n g 2 4 , rollentheoretische und behavioristische Konzepte , bürgerliche theoretische A n s ä t z e in der Krea20
21 22 23
24 25
Vgl. E. Hahn, Historischer Materialismus und marxistische Soziologie, Berlin 1968; F. Adler, A . Kretzschmar, Sozialistische P e r s ö n lichkeitsentwicklung und soziologische Forschung, in: Deutsche Z e i t schrift für Philosophie, 2/1974, S. 154. IV, Friedrich, VI. Hennig, Der sozialwissenschaftliche F o r s c h u n g s p r o zeß, a.a.O., S. 115. W. Friedrich, Ougend und Jugendforschung, Berlin 1976. D. Holda, A . Matejovsky, Uvod do marxistickS sociologie mlädeze, in: Sociologicky casopis, 4/1974, S. 344-355; V. N. Borjaz, Issledovanie molodezi v sovremennoj sovetskoj sociologiceskoj literature, in: Molodez; Leningrad 1973, S. 26-69; S. N. Ikonnikova, M o l o d e z ' v socialnoj strukture razvitogo socialisticeskogo obscestva, Moskva 1974. Kritik der Psychoanalyse und b i o l o g i s t i s c h e r Konzeptionen, (Hrsg.) VI. Friedrich, Berlin 1977. W. Friedrich, K.-P. Noack, S. Bönisch, L. Bisky, Zur Kritik des B e haviorismus, Berlin 1978.
271
tivitäts-,26 B e g a b u n g s - 2 7 und M a s s e n k o m m u n i k a t i o n s f o r s c h u n g 2 ®
usw. auf-
arbeiteten. Soziologische Sichtweisen und Erkenntnisse fanden somit im Herangehen an empirische Analysen und in der theoretischen wie politischen Verallgemeinerung der Ergebnisse der Jugendforschung weitgehend führten jedoch nicht zur Ausbildung einer selbständigen
Eingang,
Jugendsoziolo-
gie. Sozialstrukturelle und tätigkeits- bzw. lebenslagenspezifische
Kri-
terien der Jugend bildeten seit etwa Mitte der 70er Jahre wesentliche Orientierungslinien bei der Konzipierung und Auswertung von Untersuchungen der Jugendforschung. Darüber hinaus wurden in dieser theoretisch-konzeptionellen die grundlegenden methodologischen Prinzipien der stischen Jugendforschung
Etappe
marxistisch-lenini-
herausgearbeitet:
1. D a s konkret-historische Herangehen an die Erforschung der Jugend. Die Jugendforschung
folgt hier konsequent den Auffassungen des histori-
schen Materialismus, der Dialektik von Gesellschaft und Persönlichkeit, den Aussagen von der gesellschaftlichen Determination der Persönlichkeit, wie sie K. Marx und F. Engels begründet hatten. Stets ist die Jugend in ihrer konkret-historischen Existenzweise und Tätigkeit, und davon abgeleitet, in ihren konkreten Denk-, Wertungs- und Verhaltensweisen zu betrachten. D a s gilt für alle Schichten der Ougend. Da sich in unserer Gesellschaft ständig tiefgreifende ökonomische, soziale,
geistig-
kulturelle W a n d l u n g s - und Entwicklungsprozesse vollziehen, drückt
sich
das notwendigerweise auch in den Entwicklungsprozessen der Jugend aus als Widerspiegelungen des gesellschaftlichen Seins, einschließlich baler Prozesse und Einflüsse. Ihre weltanschaulich-ideologischen, lischen, kulturell-ästhetischen Wertorientierungen
glomora-
und Ansprüche ver-
ändern sich zum Teil in relativ kurzen Zeitabständen, erfahren neue Inhalte, werden von veränderten Motiven und Motivstrukturen
getragen.
Kollektiv-, Partner-, Familien- oder Medienbeziehungen wandeln sich und bekommen als Persönlichkeitsdeterminanten
ein anderes Gewicht. D a s ist
bei der Konzipierung, bei der Erarbeitung der Analyseinstrumente bei der Interpretation und theoretischen bzw. jugendpolitischen gemeinerung der Ergebnisse entscheidende
sowie Verall-
Grundlage.
2. D a s differenzierte Herangehen an die Jugend. Aussagen und Erkenntnisse über die Jugend sind theoretisch wie praktisch richtig und notwendig, dürfen aber nicht verabsolutiert werden. Die
Jugendforschung
wäre nicht genügend aussagekräftig, wenn sie nicht vom Allgemeinen
zum
Besonderen vordringen würde, von globalen Einschätzungen der Jugend und der Herausarbeitung ihrer Einheitlichkeit nicht zur Mannigfaltigkeit
des
Spezifischen in ihren Existenz- und Tätigkeitsformen. Jugend ist weder psychisch noch sozial eine homogene Gruppe. Das betrifft zum einen die 26 27 28
272
G . Mehlhorn, H.-G. Mehlhorn, Zur Kritik der bürgerlichen Kreativitätsforschung, Berlin 1977. VV. Friedrich, Zur Kritik bürgerlicher Begabungstheorien, Berlin 1979. L. Bisky, Zur Kritik der bürgerlichen Massenkommunikationsforschung, Berlin 1976.
A l t e r s u n t e r s c h i e d e . Die Erfahrungswelt eines 25Jährigen
Facharbeiters,
seine Tätigkeit, seine gesellschaftliche Funktion und soziale Lage,
und
somit sein Denken, Handeln, seine Interessen, VVertorientierungen und M o tive sind in vielem bedeutend anders als bei einem 15jährigen
Oberschü-
ler. Oberhaupt sind etwa zehn Jahre A l t e r s d i f f e r e n z bei jungen Menschen von wesentlich größerer Bedeutung als zum Beispiel zwischen 4 0 - und 50jährigen; letztere sind psychisch und sozial im Vergleich viel h o m o g e ner. Hier liegen jedoch bei den jungen Menschen nicht einfach
rasche
biologische oder psychische "Reifungsprozesse" zugrunde, sondern die bei ihnen zu beobachtenden Denk- und Verhaltensentwicklungen zial determinierte Phänomene, Resultat der konkreten
sind so-
gesellschaftlichen
Klassenlage, der Tätigkeit und Lebensweise. D e s h a l b sind entscheidende Differenzierungen in der marxistisch-leninistischen ¿Jugendforschung
zu-
nächst die nach der Zugehörigkeit zu den sozialen Klassen und Schichten, nach der hauptsächlichen Tätigkeit wie zum Beispiel Schüler,
Lehrling,
junger Arbeiter, junger Angestellter, junger Genossenschaftsbauer,
Stu-
dent, junge Intelligenz eng verknüpft mit dem B i l d u n g s s t a t u s und der beruflichen Qualifikation, aber dann auch nach dem Geschlecht, der sozialen Herkunft, dem Territorium (Stadt-, Landbewohner),
Familienstand
usw., da sich hier ebenfalls spezifische Einflüsse der Lebensweise 29 Denken und Verhalten der Jungen Menschen w i d e r s p i e g e l n .
im
3 . Das persönlichkeitszentrierte Herangehen an die Jugend. Zum differenzierten Herangehen gehört auch die Beachtung der individuellen wicklung. D e r junge Mensch besitzt immer schon eine vieljährige, zielle Lebensgeschichte und damit bestimmte,
Ent-
spe-
relativ ausgebildete,
Per-
sönlichkeitsstrukturen. Wesentliche Determinationsprozesse erfolgen
be-
kanntlich in der Kindheit, im Vorschul- und Schulalter. D a b e i spielt die Familie eine große Rolle. Wenn also das Denken, Fühlen und V e r h a l ten von Jugendlichen erklärt und erzieherisch optimal
weiterentwickelt
werden soll, sind Erkenntnisse darüber notwendig, wie und w o d u r c h die bisherigen D e n k - und Verhaltensweisen zustande gekommen sind. Für die Erfassung solcher Entwicklungsbedingungen vallstudien
und - p r o z e s s e besitzen
Inter-
(Längsschnittstudien) besondere Bedeutung. Mit ihnen
können
in beträchtlichem Maße sowohl jugendtypische als auch individuelle wicklungslinien im Denken, Fühlen und Verhalten der Jugendlichen die mit ihnen korrespondierenden objektiven und subjektiven
Ent-
sowie
Bedingungen
und Zusammenhänge aufgedeckt werden. Am ZIJ wurden seit 1968 mehrfach solche Studien, die über mehrere Jahre, teilweise über ein Jahrzehnt fortgeführt wurden,
vorgenommen.^
4. Das komplexe methodische Herangehen. In der
marxistisch-leninisti-
schen Jugendforschung ist aufgrund der Komplexität sozialer und p s y c h i 29 30
Vgl. als Resultat eines solchen Forschungsprinzips IV. Friedrich, W. Gerth, Jugend konkret, Berlin 1934. Vgl. als Erqebnisso dieses Herangehens ;V. Friedrich, H. Müller, Z u r Psychologie der 12- bis 22jährigen (Resultate einer I n t e r v a l l s t u die), Berlin 19S0; K. Starke, Jugend im Studium (Zur P e r s ö n l i c h keitsentwicklung von Hochschulstudenten), Berlin 1979. 273
scher Erscheinungen bei der Persönlichkeitsentwicklung
Jugendlicher,
ihrer multivariablen Determination, auch ein komplexes methodisches Instrumentarium notwendig. Ein einseitiges methodisches Herangehen
begün-
stigt einseitige Diagnosen und Konzeptionen. Entscheidend ist jedoch nicht einfache Pluralität von Methoden, sondern das komplementäre
Zu-
sammenwirken, ihre wechselseitige Ergänzung mit dem Ziel einer umfassenderen und detaillierteren Erkenntnis der verschiedenen Seiten, A s p e k te und Akzente des Forschungsgegenstandes "Jugend", Jede Methode wird dabei in ihrer spezifischen Funktion, das heißt in ihrer Relativität
ge-
wertet. Sowohl quantitative als auch qualitative Methoden finden A n w e n dung, keine sollte diskreditiert noch privilegiert werden. Welche M e thoden eingesetzt werden, begründet sich durch das spezielle Ziel und den Inhalt der Untersuchung, ist Ergebnis ihrer theoretischen
Konzeption.
So werden natürlich unterschiedliche Methoden eingesetzt bei einer operativen Studie, die die Positionen junger Menschen zu einem relativ aktuellen Sachverhalt erkunden soll (hier ist oft das schriftliche
In-
terview ausreichend angemessen), oder bei einer Untersuchung, die v o r nehmlich der Grundlagenforschung zur Aufdeckung wichtiger
Determinanten
oder gesetzmäßiger Zusammenhänge, zum Beispiel bei der Herausbildung, Festigung und Veränderung von Wertorientierungen
dient.
Diese methodologischen Prinzipien bestimmen grundlegend die Forschungsarbeiten der marxistisch-leninistischen Jugendforschung, sondere am ZIJ. Ihre wissenschaftlich-theoretische wegs abgeschlossen. Sie sind nicht etwa nur für die schen Forschungen festgeschrieben,
insbe-
Fundierung ist keinesempirisch-prakti-
sondern stimulieren auch die w e i t e -
ren theoretisch-konzeptionellen A r b e i t e n . So zeigten sich zum Beispiel mit Beginn der 80er Jahre hinsichtlich der Entwicklung des persönlichkeitszentrierten Prinzips in den jugendtheoretischen Konzepten am Z I J neue, weiterführende Akzente, indem auf eine weitere Vertiefung der Persönlichkeitsforschung verwiesen wurde. Die Bedingungen der Entwicklung der einzelnen Persönlichkeit, Individualität, waren durch die vorrangige Orientierung auf
ihrer
soziologi-
sche Herangehensweisen nicht in gleichem Maße theoretisch-empirisch
ana-
lysiert worden. Friedrich hob deshalb 1983 hervor: "Wir brauchen eine stärkere Repräsentanz der Individuen, ihrer Biographie und Psychologie in der Jugendforschung. D a s erfordert neue Ansätze im Denken, in der Konzeption von Untersuchungen,
in der Suche und Anwendung
kasuistisch-
biographischer Methoden, des sozialpsychologischen Denkens
allgemein."^1
Heute kann man demzufolge das theoretische und empirische Herangehen marxistisch-leninistischen Jugendforschung an den
Forschungsgegenstand
"Jugend" als soziologisch fundierte Sozialpsychologie
kennzeichnen.
Deutlich wird, daß sich die marxistisch-leninistische
Jugendforschung
in den 70er Jahren als eine eigenständige, interdisziplinäre 31
274
der
Wissen-
Methodologische und theoretische Fragen der Jugendforschung, 5. Leipziger Kolloquium der Jugendforscher 1983, Leipzig 1983, S. 18.
schaftsrichtung mit klar definierten - w a s nicht heißt abgeschlossenen
-
jugendtheoretischen Positionen entwickelt und etabliert hat. D a s ist nicht nur von den zentralen Leitungen von Gesellschaft und Staat anerkannt, die die Verantwortung für die Konzipierung und Verwirklichung
so-
zialistischer Jugendpolitik tragen, sondern gleichermaßen auch von den Gesellschaftswissenschaften
in der D D R sowie in den sozialistischen
derländern. In den "Grundlagen der marxistisch-leninistischen
gie" wird bei der Erörterung der zweigsoziologischen Richtungen gehoben: "Zur Erforschung der Probleme der heranwachsenden hat sich in der D D R eine besondere wissenschaftliche
Bru-
Soziolohervor-
Generation
Arbeitsrichtung
entwickelt: die Jugendforschung. ... Die Jugendforschung ist eine interdisziplinäre Richtung innerhalb der marxistisch-leninistischen sellschaftswissenschaften. Sie integriert jedoch neben
Ge-
philosophischen,
psychologischen und erziehungswissenschaftlichen Aspekten in starkem 32 Maße solche der Soziologie." Allein am Zentralinstitut
für Jugendforschung wurden in den z w e i u n d -
zwanzig Jahren seit seiner Gründung über zweihundert größere Studien wie etwa weitere zweihundert mittlere und kleinere Untersuchungen
so-
durch-
geführt. In vielen Fällen ist großer Wert auf die Vergleichbarkeit
der
Daten gelegt worden, so daß inzwischen ein beträchtlicher Fundus an D a ten über Entwicklungsbedingungen
und - p r o z e s s e der
verschiedensten
Schichten der Jugend über zwei Jahrzehnte existiert, der vielfältige Möglichkeiten zu sekundäranalytischen A u s w e r t u n g e n bietet. Diese
fanden
ihren Niederschlag in ca. einhundert Publikationen zu j u g e n d t h e o r e t i schen Fragen sowie zu den verschiedenen Bereichen des Lebens und der Entwicklung junger Menschen. Grundlage dieser Forschungs- und P u b l i k a tionsarbeiten waren auch die von Beginn an gepflegten und langjährig folgreich fortgesetzten kooperativen Beziehungen zu anderen
er-
wissenschaft-
lichen Einrichtungen und Forschungsgruppen wie zum Beispiel zu den P ä d a g o gen, Psychologen und Soziologen der A k a d e m i e der Pädagogischen
Wissen-
schaften, zu den Psychologen der Karl-Marx-Universität Leipzig und der Friedrich-Schiller-Universität Zentralinstituts
Jena, zu den A r b e i t s w i s s e n s c h a f t l e r n
des
für Arbeit Dresden, zu den Berufspädagogen des Z e n t r a l -
instituts für Berufsbildung Berlin sowie der Technischen
Universität
Dresden und der Humboldt-Universität zu Berlin, zur Pädagogischen schule Zwickau, zu den Historikern der IVilhelm-Pieck-Universität
HochRostock
und zu den Gruppen der Studentenforschung an der V e r k e h r s h o c h s c h u l e Dresden, der Technischen Universität Dresden, der
Karl-Marx-Universit.ät
Leipzig, der Mar'tin-Luther-Universität Halle und der H o c h s c h u l e
für
Chemie Merseburg. Besonders enge Kontakte entwickelten sich zu den soziologischen Forschungseinrichtungen wie zum Beispiel dem Institut
für
marxistisch-leninistische Soziologie an der A k a d e m i e für G e s e l l s c h a f t s wissenschaften beim ZK der SED, dem Institut für Soziologie und S o z i a l 32
Grundlagen der marxistisch-leninistischen Soziologie, Aßmann, R. Stollberg, Berlin 1977, S. 4 6 .
(Hrsg.) G .
275
Politik der Akademie der Wissenschaften der DDR und den Forschungsbereichen "Soziologie" an den Universitäten in Halle, Leipzig, Berlin, Rostock sowie dem Institut für Hochschulbildung. Die meisten der genannten Institutionen sind im Wissenschaftlichen Rat für Jugendforschung vertreten, und umgekehrt sind Mitarbeiter des Zentralinstituts für Jugendforschung in zahlreichen wissenschaftlichen Räten und Beiräten dieser wissenschaftlichen Einrichtungen Mitglied. Diese vielfältigen wissenschaftlichen Kontakte haben sich für die theoretischen und empirischen Forschungen zur sozialistischen Persönlichkeitsentwicklung Junger Menschen in der DDR sowohl für das Zentralinstitut als auch für die aufgeführten Partner als sehr nützlich erwiesen. Sie haben besonders die soziologische Orientierung und Fundierung der Jugendforschung begünstigt und umgekehrt zur Präzisierung theoretischer Fragestellungen und Konzepte zur Sozialisation, zur Persönlichkeitsentwicklung im Jugendalter in der marxistisch-leninistischen Soziologie beigetragen. Eine spezielle Ougendsoziologie als soziologische Zweigdisziplin hat sich unter diesen Bedingungen innerhalb der Soziologie der DDR nicht institutionalisiert. Fragen der Arbeits- und Lebensweise junger Menschen werden jedoch von den Instituten und Forschungsbereichen der marxistisch-leninistischen Soziologie entsprechend ihrer Spezialisierung und Profilierung mitanalysiert und theoretisch verallgemeinert.
276
Ob. f. Soziologie und Sozialpolitik 1989
Gutta Gysi und Rainer Schubert Zu einigen methodischen Problemen empirisch-soziologischer schung - Rückschau und Ausblick
Familienfor-
Familienforsohung retrospektiv Wenngleich dieser methodisch-methodologische Rückblick auf die familiensoziologische Forschung gerichtet ist, läßt er sich doch nicht darauf beschränken. Denn die Familiensoziologie hat nicht nur ihren festen Platz in der Gegenstandsbestimmung der Soziologie, sie bedient sich auch im wesentlichen der gleichen Methoden wie andere soziologische Teildisziplinen. Insofern dürfte eine methodisch-methodologische Sicht auf die Familienforschung eine Reihe von Parallelen zu Forschungen auf anderen Gebieten der Soziologie erkennen lassen. Andererseits weist die familiensoziologische Forschung einige Spezifika auf, die sich in ihrem Methodenapparat niederschlagen. Als Intimgruppe besondsrer Art gestaltet die Familie ihre Lebensweise zu großen Teilen unter Ausschluß der Öffentlichkeit und schützt ihren Intimbereich weitgehend vor Einblicken durch Außenstehende. Empirische Familienforschung aber, gleich welcher Art und relativ unabhängig vom methodischen Zugang, reicht immer in irgendeiner Weise in dieses Intimgefüge hinein. Von daher bedarf es nicht nur besonderer Feinfühligkeit der Befrager selbst, um - bei vorwiegend interaktiv-kommunikativem Vorgehen - die allgemeine "Hemmschwelle" zu überwinden; es machen sich auch spezifische Zugänge, Indikatoren und Methoden in der Familienforschung erforderlich. Darüber jedoch wird in der Literatur noch wenig reflektiert. Man kann sich über inhaltliche familiensoziologische Ergebnisse zwar zunehmend besser in der Literatur informieren, um von den verwendeten Erhebungsverfahren wenigstens punktuell Kenntnis zu erlangen, muß man dagegen schon "vom Fach" sein. Daß bis heute eine generelle Methodendiskussion in der Familiensoziologie ausblieb, ist Ausdruck des Entwicklungsstandes dieser Teildisziplin. Zwar darf man die Familiensoziologie, historisch gesehen, durchaus zu jenen Gebieten zählen, auf denen soziologische Forschung ihre Anfänge nahm, doch hat sie bis heute in unserem soziologischen Forschungsgeschehen einen eher bescheidenen Platz inne. Diese Forschungspraxis steht in einem gewissen Widerspruch zum Leben selbst - zum Stellenwert der Familie für die Gesellschaft und für den Lebensentwurf jedes einzelnen Menschen. Die Familie ist, wie das Programm der SED hervorhebt, zusammen mit der Arbeit, dem Arbeitskollektiv jener Lebensbereich, in dem 277
sich die Lebensweise unserer Gesellschaft in entscheidendem Maße völlig zieht. Sie ist jene Gruppe, an die eine Vielzahl sozialpolitischer Leistungen und Maßnahmen adressiert ist, in der sich aber zugleich auch viele Widersprüche der gesellschaftlichen Entwicklung offenbaren. A l s Zweigs,oziologie
relativ spät etabliert, war die Familienforschung
DDR zunächst in anderen Wissenschaftsdisziplinen
der
beheimatet und wird
auch heute noch von der pädagogischen, psychologischen,
rechtswissen-
schaftlichen und medizinischen, von der Frauen- und Jugendforschung flankiert. So wurde Familienforschung langzeitlich als mehr oder minder deutlich gesetzter Akzent, weniger als*eigener Forschungsgegenstand von anderen Disziplinen realisiert. Dabei blieben zentrale
familiensoziolo-
gische Fragestellungen, blieb die Ausarbeitung von Grundpositionen Familienentwicklung in unserer Gesellschaft notgedrungen Erst durch das Zentralinstitut
für Jugendforschung
der
ausgeklammert.
(ZIJ) und nach und
nach durch verschiedene Projekte an den Universitäten sowie an der A k a demie der Pädagogischen Wissenschaften der DDR, seit 1978 denn auch am Institut für Soziologie und Sozialpolitik der Akademie der Wissenschaften der DDR, gewann die Familiensoziologie
selbständigen Boden. Diese
zögerliche Entwicklung, die insgesamt nicht eben üppige Besetzung der Forschungsstellen und ihr unzureichendes Kooperieren mögen erklären, weshalb so manche Grundfrage der Familienentwicklurig in unserem Land trotz unbestrittener Bedeutsamkeit - bis heute ohne
wissenschaftliche
Antwort bleiben mußte. Soweit überschaubar, bediente man sich auch in der empirischen Familienforschung zur Datengewinnung bisher vor allem der in der Soziologie bevorzugten standardisierten
schriftlichen
Befra-
gung, strebte große Samples an und versuchte nach Möglichkeit, das G ü tezeichen "DDR-repräsentativ" zu erlangen. Das entsprang im wesentlichen der Notwendigkeit,
sich mittels breit und zahlenmäßig groß ange-
legter empirischer Untersuchungen einen möglichst schnellen und komplexen Oberblick über wesentliche Seiten der Familienentwicklung
zu
verschaffen und dabei die erforderlichen methodischen und organisatorischen Erfahrungen zu sammeln. Es galt, die vorhandenen
großräumigen
Lücken im familiensoziologischen Theoriegebäude zu orten und schrittweise zu schließen. Gleichzeitig waren der gesellschaftlichen vieldimensionale Auskünfte über die Lebensweise großer
Praxis
Familiengruppen
in unserem Lande zu geben und familienpolitische Entscheidungen zu fundieren. Für eine eigenständige methodisch-methodologische Arbeit wie gl,eichérmaBen für Experimente in punkto Verfahrensentwicklung und - a n « wendung blieb dabei entschieden zu wenig Raum, zumal allein die A u s a r beitung familienspezifischer Indikatoren vielfach einen Vorstoß ins Neuland bedeutete und hohen Aufwand erforderte. Unseres Erachtens ist die Bedeutung dieses A s p e k t s lange Zeit unterschätzt worden und wird es wohl heute noch,obwohl es einige Fortschritte im - alles in allem 1
278
Vgl. Programm der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, lin 1986, S. 53.
Ber-
nur geringen - Potential der Familienforschung gibt, die ohne weiteres als Beitrag der Familiensoziologen zur Methodenentwicklung gewürdigt werden können. So versucht das ZI3 seit nunmehr über zehn Oahren,
Familienentwick2
lung über Längsschnittuntersuchungen (Ehe-Intervallstudie ) zu erfassen. Intervallstudien dieser Art tragen dem Umstand Rechnung, daß es sich bei Partnerschaft, Ehe und Familie um prozessuale Zustände handelt, die überdies eine wachsende Dynamik offenbaren. So verspricht eine Längsschnittanalyse ein tieferes Eindringen in das jeweilige Problem und ist - sofern ein genügend langer Beobachtungszeitraum garantiert wird grundsätzlich hervorragend geeignet, Trends und Wandlungen abzubilden. Mit dieser Methode ließe sich potentiell sogar Familienleben und Partnerschaft über verschiedene Phasen des Familienzyklus hinweg beobachten, der ja zugleich Teil des menschlichen Lebenszyklus ist und von daher vielerlei Auskünfte über Lebensläufe zu geben vermag. Bei einem solchen Unterfangen muß eine Reihe von Problemen, zum Beispiel des Populationsschwundes oder des Alterns der Indikatoren, praktisch gelöst werden. Zweifellos benötigen wir in Zukunft Methoden und Forschungsstrategien, die zum Beispiel als Netz von Intervallstudien die Beobachtung von Prozeßverläufen gerade auch in bezug auf die Lebensweise der Familien erlauben. Die meisten Einrichtungen bevorzugen Querschnittserhebungen, deren Grenzen bekannt sind, die aber keinesfalls nur unter dem Blickwinkel von Nachteilen gesehen werden können. Neben dem geringeren Aufwand gestatten sie vor allem, mit einem differenzierteren und beweglicheren Indikatorensystem zu arbeiten - ein Vorteil, der angesichts der erheblichen Veränderungen im Partnerbereich und Familienleben, das heißt in den Lebensbedingungen, Wertorientierungen und Bedürfnissen, in der Problemlage, im Geschlechterverhalten und in den Familienformen zu Buche schlägt. Und natürlich lassen sich auch mit Querschnittserhebungen Entwicklungen in Populationen deutlich machen. Längs- wie Querschnittserhebungen gewinnen ganz entschieden an Aussagekraft, wenn sie mit beiden Partnern, also mit Paaren und nicht mit einzelnen Frauen und Männern als Vertreter ihrer Familie durchgeführt werden. Unter den Familienforschern zeichnet sich in den letzten CJahren zudem ein deutliches Bemühen ab, die begrenzte Reichweite ihrer teil- bzw. vollstandardisierten schriftlichen Befragungen durch Fallstudien, Gruppendiskussionen, Expertenbefragungen, Dokumentenanalysen und andere zu ergänzen. Eigene Erfahrungen, vor allem mit der Paarbefragung Ob nun mit Längs- oder Querschnittsanalysen gearbeitet wird - die fami2
Vgl. A. Pinther, Die "Ehe-Intervallstudie des Zentralinstituts für Ougendforschung - Bemerkungen zu Inhalt und Methode", in: Informationen des Wissenschaftlichen Rates "Die Frau in der sozialistlscnen uesellschaft", 3/1983, S. 3-6, derselbe, "Bemerkungen zur EheIntervallstudie des Zentralinstituts für Jugendforschung", in: Informationen des Wissenschaftlichen Rates "Die Frau in der sozialistischen Gesellschaft", 2/1986, S. 41-47. 279
liensoziologisch forschenden Einrichtungen befragen Frauen und Männer derzeit durchgängig nach dem "Vertreterprinzip" und nicht als Ehepaare.' 5 Paare zu untersuchen,ist in der Familiensoziologie bisher so gut wie nicht üblich. A l s w i r zu Beginn der 80er Jahre in unserem Institut vor der Aufgabe standen, mit einer ersten größeren empirischen Untersuchung
möglichst
viele Auskünfte über die familiale Lebensweise der zweiten Generation (20 bis, 4 0 CJahre) zu geben, also im Ergebnis zu sagen, wie einheitlich und wie differenziert,
unter welchen objektiven und subjektiven B e d i n -
gungen sich Partnerschaft und Familienleben in unserer Gesellschaft vollziehen, w a s Frauen und Männer mit diesem Lebensbereich an Erwartungen verbinden und ob ihre Ansprüche realisierbar sind, wie Familien ihre Funktionen erfüllen, aber auch, welche Alltagsproblemlage in den bestehenden Ehen anzutreffen ist usw., stand im Zusammenhang mit dem inhaltlichen Auftrag eben auch diese Frage zur Entscheidung: Frauen und Männer entweder als Familienvertreter oder als.Ehepaare zu befragen. Obwohl der Aufwand zunächst ungewohnt hoch erschien und auch über die rechentechnische Seite der Auswertung eingangs einige Unklarheit h e r r s c h t e 4 , haben w i r uns zu einer ersten Paaruntersuchung
entschlos-
sen. Entscheidend dafür war, daß w i r nicht n u r die Durchschnittswerte (Verteilungen) verheirateter Frauen und Männer miteinander vergleichen und innerhalb jeder Gruppe nach Zusammenhängen zwischen einzelnen M e r k malen fragen wollten. Derartige Informationen liefert die Vertreterbefragung am rationellsten. W i r wollten mehr, nämlich außerdem die Grade der Nicht-/Obereinstimmung
konkreter Paare in bezug auf die
interessieren-
den Sachverhalte ermitteln und ihre Relevanz hinterfragen. Mittels eines geteilten Indikatorensystems wurden beide, Frau und Mann, in ihrer häuslichen Umgebung befragt. Die zwischen den Partnern unstrittigen
"harten"
Daten (zum Beispiel Alter, Geschlecht, Kinderzahl, Bildungs- und Q u a l i fikationsniveau) wurden in einem Haushaltsbogen untergebracht, den beide gemeinsam in Abwesenheit des Soziologen beantworten konnten. Wa.r A u s kunftswilligkeit bei beiden Partnern hergestellt, wurde ein zweites A u f suchen der Familie vereinbart. D a s diente der nunmehr getrennten W e i t e r befragung Jedes Probanden mit dem sogenannten Partnerbogen, den das Paar vorher nicht kannte. Zu diesem Zeitpunkt hatten Frau und Mann mittels des Haushaltsbogens nicht nur ein gewisses Maß an Obung
gewonnen,
sie waren meist auch neugierig und eingestellt auf die Fortsetzung
3 4
280
der
Vgl. Pinther, Bemerkungen zur Ehe-Intervallstudie des Zentralinstituts für ¿Jugendforschung, a.a.O., S. 4 2 . Es ergaben sich einige organisatorische Probleme bei der Aggregation der Dateien; prinzipielle Schwierigkeiten rechentechnischer Art bei der Erzeugung der Datei "Familie" sind nicht erkennbar, das Vergleichen der Antworten von Frau und Mann in jedem konkreten Paar ist lediglich ein spezieller Fall des Bildens synthetischer Variabler. Nicht abgeschlossen - und deshalb hier noch ausgespart - ist die komplexe methodenkritische, methodologische und inhaltliche A u f a r beitung der Bildung und Verwertung dieser synthetischen Datei "Familie".
Befragung. D e r Partnerbogen enthielt Fragen, deren gleichgerichtete differenzierte Beantwortung interessierte jeweiligen Wertorientierungen
oder
(zum Beispiel Fragen nach den
und Bedürfnissen, nach der häuslichen A r -
beitsteilung, der Ehezufriedenheit, nach Konflikten,
Scheidungserwägun-
gen usy.). Um zu garantieren, daß die Beantwortung des P a r t n e r b o g e n s abhängig voneinander erfolgte und um gleichzeitig zu demonstrieren, keiner der Partner Informationen Ober die A n t w o r t e n des anderen konnte - eine Garantie, die unbedingt in Oberzeugender Weise
undaß
erlangen
gegeben
werden muß, um eine einigermaßen wahrheitsgemäße Beantwortung zu e r r e i chen - wurden beide räumlich separiert. Dazu muß der B e f r a g e r n a t ü r l i c h während des gesamten Beantwortungszeitraumes anwesend sein. Das auf d i e se Weise gewonnene empirische Gesamtmaterial über die Familie
bestand
demnach aus einem Haushalts- und zwei Partnerbogen. Die mit dieser Paarbefragung erzielten Ergebnisse haben den für die Vorbereitung, Durchführung und Auswertung der Untersuchung erforderlichen
Aufwand
ohne jede Einschränkung gerechtfertigt. D r e i generelle Vorteile sind zusammenfassend zu nennen: Erstens geben uns Paarbefragungen die Möglichkeit - Obereinstimmungen und Abweichungen der Partner in allen ten Zusammenhängen
untersuch-
festzustellen,
- Partnerverhalten als deutlich aufeinander b e z o g e n e s Verhalten von Frau und Mann
aufzudecken,
- die Wirkungen der von Frau und Mann im gesellschaftlichen
Arbeits-
prozeß bezogenen sozialsn Positionen auf die verschiedenen Seiten
ihrer
Lebensweise zu untersuchen, sozialtypische Besonderheiten in homogenen und heterogenen
Fami-
lien zu ermitteln, - geschlechtstypisches Verhalten in seiner konkreten
paarbezogenen
Modifikation sichtbar zu machen, - Problemlagen bei Paaren tiefgehender aufzuspüren, da allein
schon
da6 Wissen des einen P a r t n e r s um die Befragung des anderen zu einem Mehr an Informationsabgabe
veranlaßt.
Zweitens wird durch Paargntersuchungen
unter Aufsicht ein
entschei-
dender Mangel ausgeräumt, der sich bei der B e f r a g u n g nur eines P a r t n e r s zwangsläufig dann einstellt, wenn der Bogen mit nach Hause gegeben wird. D a s geschieht nicht selten und dazu werden wir in Zukunft, um einen A u s fall von Arbeitszeit zu vermeiden, voraussichtlich immer häufiger
ge-
zwungen sein. In diesem Fall ist kaum zu verhindern, daß'der andere Partner daran partizipiert. So schlägt sich im E n d e r g e b n i s im Fragebogen häufig eine "Familienmeinung", das heißt, die gemeinsame
Auffassung
beider - und zwar auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner - nieder. D a s mag bei mancher Thematik vielleicht erwünscht sein, hinsichtlich der Einschätzung der Partnerbeziehungen jedoch zeichnet sich ein
ausgesprochen
allgemeines, geschlechtsindifferentes und konfliktarmes Bild ab. Drittens erweist sich eine Partner- und Familienbefragung
in der
Wohnung als sehr günstig. D a s Paar steht meist weniger unter Zeitdruck,
281
verhält sich in der gewohnten Umgebung sicherer und ist
entsprechenden
Fragen gegenüber eingestimmter und aufgeschlossener. Der schwerwiegendste - im großen und ganzen aber wohl auch einzige - Einwand gegen Paarbefragungen betrifft den hohen zeitlichen Aufwand. In der Tat dauerte das Beaufsichtigen des Beantwortungsvorganges in unserer Untersuchung im Durchschnitt zwischen einer und anderthalb Stunden. Das ist erfahrungsgemäß aber weniger Zeitaufwand, als für ein vergleichbares Interview benötigt wird, zumal in unserem Fall stets zwei Personen
be-
fragt werden konnten. Falls sich diese Befragungen als Klausur von G r u p pen organisieren ließen, was zumindest teilweise möglich
erscheint,
könnte er sogar erheblich verringert werden. Die wichtigste personelle Voraussetzung von Paarbefragungen
betrifft
die Verfügbarkeit geschulter und sensibler Befrager. Kollegen, die Paare für eine solche Befragung gewinnen wollen, die den Prozeß des A u s f ü l lens der Bögen überwachen und erst recht die Interviewer müssen mit der Thematik eng vertraut sein und großes Fingerspitzengefühl
entwickeln.
Wird der Soziologe als anonyme Vertrauensperson angenommen, kommen in Gesprächen nicht selten Probleme zur Sprache, die der Proband Personen aus seinem Freundes- und Verwandtenkreis nicht unbedingt würde. Wurden Tiefeninterviews angeschlossen,
anvertrauen
fanden wir in aller Regel
ein zum Gespräch bereites Paar, das auch über die bereits
gestellten
Fragen weitergehend zu reden wünschte. Angeregt durch unsere Anliegen, kam dabei anschließend so manches Paar miteineiner ins Gespräch,
oft-
mals über schon lange aufgeschobene Partnerprobleme. Die zu ausgewählten Problemstellungen
(zum Beispiel zur Sozialisation und den Modalitä-
ten häuslicher Arbeitsteilung, zu Problemen, Konflikten und deren Lösungsmechanismen) mit einem Teil der Paare - ebenfalls getrennt - durchgeführten Tiefeninterviews wurden dem Fragebogenmaterial beigefügt, daß sich ein ziemlich gutes Bild über die Familienbeziehungen
konstru-
ieren ließ. Der Vollständigkeit halber soll noch erwähnt werden, die mit unverheirateten Jugendlichen durchgeführten
so
daß
Gruppendiskussionen
(mit schriftlichem Frageteil) zu Wertori'entierungen und Erwartungen an Partnerschaft und Familienleben Vergleiche zwischen den Generationen ermöglichten und damit Hinweise auf mögliche Entwicklungen Künftige Schwerpunkte der
erbrachten.
Familienforschung
Von der soziologischen Forschung wird heute erwartet, daß sie die mit der wissenschaftlich-technischen
Entwicklung einhergehenden
Veränderun-
gen in der Lebensweise mehr und mehr aufgreift, um fundierte Analysen zur Leitung und Planung sozialer Prozesse beizusteuern. Da6ei sina Prognosen über die verschiedenen Seiten der sozialen Entwicklung in zunehmendem Maße notwendig und gefragt. Anforderungen dieser Art sich nicht nur an einzelne, gewissermaßen "auserwählte"
richten
Forschungspro-
jekte und - b e r e i c h e , sondern verpflichten das gesamte soziologische
Po-
tential, berühren alle Themen und Projekte, inhaltliche Teilgebiete wie (allgemeine) methodologische Forschung. Der Prognose, Erkundung von Pro-
282
zeßverläufen und die Erforschung weitreichender gesellschaftlicher
Zu-
sammenhänge, in denen sich die Familienentwicklung bewegt, muß sich auch die Familienforschung in den kommenden Jahren stellen. Denn Familie
ist
Teil der Gesellschaft, und die Ursachen für Veränderungen in den L e b e n s ansprüchen der Geschlechter, im Partnerverhalten und demzufolge auch in den Fatnilienformen, wie sie bereits hier und heute vonstatten sind nur im Kontext wissenschaftlich-technischer
gehen,
Entwicklung zu v e r -
stehen. Wir sehen vor allem die Erforschung von drei großen denen 9ich die Familienforschung,
insbesondere die
Themenkomplexen,
Familiensoziologie,
stellen muß: Erstens ist das Verhältnis von Arbeit und Familie, von A r b e i t s - und familialer Lebensweise unter den Bedingungen intensiv erweiterter Reproduktion, sind die mit diesem Reproduktionstyp potentiell henden Veränderungen in den Lebensbedingungen,-tätigkeiten
einnergeund B e d ü r f -
nissen der Menschen global und detailliert z u untersuchen. Die lung der Produktivkräfte
mehr oder minder greifbare Nähe gerückten unmittelbaren in den Arbeitstechnologien, lifikationsanforderungen
Entwick-
im allgemeinen und die für viele Werktätige
in
Veränderungen
in der A r b e i t s o r g a n i s a t i o n und in den Q u a -
setzen allmählich auch neue Akzente im Fami-
lienleben - hinsichtlich der Erziehung der Kinder, d e r
Freizeitgestal-
tung und Haushaltsführung, der Ansprüche an Partnerschaft und
Familien-
leben. Im ganzen steht dahinter n i c h t s w e n i g e r als die Forderung,
das
Wechselverhältnis von ökonomischer und sozialer Entwicklung auch unter dem Blickwinkel Familie zu analysieren. D a s ist eine unumgängliche, doch ausgesprochen komplizierte A u f g a b e . Verlaufen diese Prozesse generell sehr vielschichtig und lassen sich kaum auf lineare
je-
doch
Zusammen-
hänge zurückführen. Noch wissen w i r wenig über die allgemeinen,
noch
weniger über die spezifischen Koordinaten dieser W e c h s e l b e z i e h u n g e n . Ausmaß, Tempo und Folgen wissenschaftlich-technischer
Veränderungen
sind derzeit ebensowenig exakt zu bestimmen, weil diese
Prozesse
erst beginnen, faßbare Gestalt anzunehmen. Um so schwieriger wird es sein, Veränderungen im Arbeitsprozeß auf ihre Wirkung in der
Lebenswei-
se hin zu kontrollieren und teilweise auch umgekehrt, weil hier eine große Zahl und Vielschichtigkeit von Vermittlungsfaktoren w i r k s a m Die Suche nach Zusammenhängen und A b h ä n g i g k e i t e n verschiedener
ist.
Einfluß-
größen muß demnach zwangsläufig vieldimensional ausfallen. Prozesse
und
Erscheinungen müssen über längere Zeiträume verfolgt und beobachtet
wer-
den, bevor beispielsweise daran zu denken ist, Ursachen und W i r k u n g e n in ihrem Zusammenhang und praktisch verwertbar zu beschreiben. Zweitens; A l s generelle Folge w i s s e n s c h a f t l i c h - t e c h n i s c h e r
Entwick-
lung, günstiger Lebensbedingungen und des fortgeschrittenen N i v e a u s der Gleichberechtigung der Frau unterliegen die Beziehungen der Menschen
zu-
einander einem schrittweisen Wandel. Zunehmende Bedingungen und M ö g l i c h in unserer Gesellschaft
lassen
die Ansprüche des einzelnen an die V e r w i r k l i c h u n g des eigenen
keiten der Persönlichkeitsentwicklung
Lebens
283
steigen. Erfahrungsgemäß wachsen Ansprüche und Bedürfnisse jedoch meist wesentlich schneller als die jeweiligen Realisierungsbedingungen.
Ge-
rade im Bereich der Partnerbeziehungen, der dem einzelnen großen G e staltungsraum bietet und abverlangt, sind derzeit viele Widersprüche auszutragen. Hier hat sich eine erhebliche Kluft zwischen dem Wollen und Können, zwischen den Erwartungen der Frauen und Männer und ihren Fähigkeiten, diese Erwartungen auch tatsächlich einzulösen,
eröffnet.
Der Anspruch beispielsweise auf lebenslange Liebe ist zum dominierenden Motiv für das Zustandekommen und die Fortexistenz einer
Partnerbezle-
hung geworden.Auf die Liebe von Frau und Mann baut sich bei uns der ganze Familienverband mitsamt seinen sozialen und ökonomischen D i m e n sionen. Geht die Liebe des Paares verloren, löst sich in aller Regel auch die Familie, der Verwandten- und Freundeskreis auf. Liebe jedoch ist immer dann ein unzuverlässiger Bindungsfaktor, wenn die Partner es nicht verstehen, sie zu leben, zu erhalten, zu erneuern. Daran tern bei uns viele Paare. Unübersehbar sind auch Kollisionen
schei-
zwischen
neuen Werten und Leitbildern unserer Gesellschaft als Ausdruck neuer Erfordernisse und Möglichkeiten und übernommenen Verhaltensmustern der G e schlechter. Substantielle Teile einstiger Vorstellungen von
"männlichem"
und "weiblichem" Verhalten leben unter der Hand fort, werden
ungewollt
und unbewußt reproduziert. Dabei macht sich das Fehlen eines eindeutigeren Männerleitbildes besonders bemerkbar. Frauen fordern ihrem Partner zum Beispiel einst "männertypische" Eigenschaften wie
Souveränität,
Aktivität, Mut, Überlegenheit usw. immer noch mit einiger Selbstverständlichkeit ab. Gleichzeitig soll er ein sensibler Partner,
zärtlicher
Vater und versierter Hausmann sein. Unduldsamkeit und überbetonte Gleichberechtigung
seitens der Frauen einerseits sowie das Fehlen eines
ausgearbeiteten Leitbildes für den "neuen" Mann andererseits haben nicht nur zu vielen Verunsicherungen und Desorientierungen beim männlichen Geschlecht geführt, sondern tragen auch zur Instabilität von Partnerschaft, Ehe und Familie bei. Davon zeugen die tendenziell sinkende Eheschließungs- und die steigende Ehescheidungsquote, die beachtliche Zahl der außerhalb der Ehe geborenen Kinder, die unvollständigen
Familien
und unverheiratet zusammenlebenden Paare. Von daher scheint es unumgänglich, Forschungen aufzubauen, die sich zum einen mit den Geschlechterbeziehungen allgemein, darunter vor allem mit dem heute notwendigen und zweckmäßigen, aber auch mit dem gesellschaftlich unabwendbaren Maß an Geschlechtstypik im Sozial- und Partnerverhalten,
inklusive
Fragen
des W e r t e w a n d e l s zwischen den verschiedenen Generationen, befaßt. Zum anderen ist es unseres Erachtens längst an der Zeit, damit zu beginnen, die vermutlich in unmittelbarer Nähe von Geschlechtstypik und Wertewandel angesiedelten Ursachen und Bedingungen massenhafter
Ehescheidung
und Partnerfluktuation zu untersuchen. Dazu aber sind Prozeßanalysen, also langjährige und kontinuierliche Beobachtungen und Befragungen
er-
forderlich. Drittens: Im Ergebnis dynamischer gesellschaftlicher Entwicklung, 284
der
angedeuteten wacheenden Ansprüche an das eigene Leben 90wie maßen als Auedruck entwicklungsbedingter Widersprüche, die
gleicherzweifellos
auch in der veränderten gesellschaftlichen Stellung der Frau wurzeln, beginnen sich die Formen de9 Zusammenlebens der Menschen sukzessive z u w a n d e l n . 5 Zwar werden sich die überkommenen Lebensmuster Ehe und v o l l stöndigs Kernfamilie in absehbarer Zukunft keinesfalls aufheben,
ist
Heiraten und der Wunsch nach einer lebenslangen Partnerschaft tief in den Denkweisen beider Geschlechter und aller Generationen Doch in unserem Alltagsleben nehmen die Familienformen
verankert.
unübersehbar
eine vielfältigere Gestalt en. So leben neben den vollständigen, Ehe beruhenden Familien eine beachtliche Zahl lediger oder
auf
geschiedener
Elternteile (Mütter) mit Kindern, P a r t n e r ohne Eheschließung oder in Zweit-, Drittehen und Zweit-, Drittfamilien mit gemeinsamen oder n i c h t gemeinsamen Kindern zusammen. V i e l e s deutet darauf hin, d a ß sich d a s Lebenszeitprinzip der Ehe, also die lebenslange Bindung der Partner, allmählich abbaut und daß ein Prozeß der "Entkoppelung" von Ehe und F a milie eingesetzt hat. W i r begegnen deshalb immer häufiger d e r Frage, w a s in der DDR an gegenwärtigen Familienformen typisch und bleibend, was andererseits im Wandel begriffen ist, wo sich neben
Herkömmlichem
Neues anbahnt und welche gesellschaftlichen Ursachsn und K o n s e q u e n z e n eich damit verbinden. Um zu verhindern, daß die Wissenschaft hier von der Praxis überrundet wird, hat die familiensoziologische
Forschung
nicht nur die Ursachen dieser Veränderungen zu hinterfragen,
sondern
auch diesen verschiedenen Erscheinungsformen von Familie selbst n a c h z u gehen, das heißt, Gemeinsames und U n t e r s c h i e d l i c h e s in der
Lebensweise
der vollständigen und der unvollständigen, der auf Ehe beruhenden
und
ehelos zusammenlebenden, der Erst- und Zweitfamilien zu e r f o r s c h e n . D a zu aber ist, gerade weil alle diese Prozesse noch im Werden
begriffen
sind und zudem durchaus nicht gradlinig verlaufen, das Herangehen
der
Forschung grundsätzlich zu überdenken. Hier sind nicht nur G e g e n s t ä n d e und Objekte der Forschung neu zu bestimmen, sondern auch die M e t h o d o l o gie des Forschens weiter auszuarbeiten, ist Eindringen in P r o z e ß v e r l ä u f e konzeptionell zu begründen und methodisch zu realisieren, muß nach
ge-
eigneten Methoden der Untersuchung und Interpretation ebenso wie nach entsprechender Kooperation mit anderen W i s s e n s c h a f t s d i s z i p l i n e n werden. Die Notwendigkeit der Kooperation mit anderen
gesucht
Gesellschafts-,
aber auch mit N a t u r - und Technikwisseftschaften wird heutzutage von n i e mandem mehr ernsthaft bestritten. Noch zu wenig reflektiert dagegen den bl6hsr unseres Erachtens die V o r a u s s e t z u n g e n effektiven wirkens, nämlich der aufeinander bezogenen Bestimmung von
wer-
Zusammen-
Gegenständen,
Transparenz und Transformierbarkeit von M e t h o d o l o g i e und Methodik,
Kom-
patibilität von Konzepten (Paradigmata) und Begriffen bis zur p r a k t i schen Organisation des vielschichtigen
5
Interagierens.
Vgl. CJ. Gysi, Familienformen in der DDR, in: Jahrbuch für Soziologie und Sozialpolitik 1988, Berlin 1988, S. 508-524. 285
Zu einzelnen methodologischen und methodischen Aspekten Mit Blick auf die vor der soziologischen wie
familiensoziologischen
Forschung stehenden Aufgaben müssen methodologisch-methodische unserer Arbeit wieder intensiver diskutiert und ausgearbeitet Das kann selbst nur in gemeinsamer Arbeit von
Fragen werden.
Methodologen/Methodikern
und den Jeweiligen Vertretern der soziologischen Projekte und T e i l d i s z i plinen vollzogen werden» Dabei müssen effizientere Formen der Zusammenarbeit gefunden und die Qualifikationsprofile
selbst stärker
themati-
siert sowie die weitere Ausarbeitung und die praktische Aneignung der "inneren Logik" des empirisch-soziologischen
Forschungsprozesses
durch
alle Beteiligten entscheidend vorangetrieben werden. Da es sich dabei grundsätzlich um die Einheit von differenzierter Bestimmung des horschungsobjekts, einzelner Seiten und Bezugspunkte einerseits und die Erarbeitung einer adäquaten Abbildungsprozedur andererseits (als z u meist einer komplizierten Menge von methodologischen und methodischen Arbeitsschritten) handelt, stellen wir fest: die in letzter Zeit zunehmend aufgeworfene und kritisch beantwortete Frage, ob unser Stand der Methodenentwicklung
für die Beantwortung heutiger und künftiger Fragen
der sozialen Entwicklung ausreicht, ist zwar zunächst ein
erfreuliches
Zeichen wachsenden Problembewußtseins.^ Sie wird aber noch sehr oft einseitig verstanden, insofern nur nach neuen Methoden gerufen wird, die gegenstandsbezogen-theoretischen
und methodologischen
Voraussetzungen
aber unreflektiert bleiben. Die erforderliche, jedoch noch nicht abzusehende,
recht
rasche Qualifizierung der Forschung ist an die aufeinander
bezogene Entwicklung aller drei Momente
gebunden.
Die nachfolgenden Betrachtungen sollen dazu beitragen, diese D i s k u s sion aus spezieller Sicht zu befördern. Möglicher Ausgangspunkt
für ein
vertieftes V e r s t ä n d n i s der inneren Logik des Forschungsprozesses wie für Entwicklungsarbeiten
kann die Forderung nach Ausnutzung der M e t h o -
denvielfalt sein. Bisweilen nur unstrukturiert und plakativ, quasi mehr auf optische Optimierung erhoben, wird sie in vielen Fällen zu Recht aus der Komplexität des Gegenstandes der Forschung abgeleitet. Dieser Bezug ist in etlichen Untersuchungen bereits fruchtbar gemacht worden. Wir möchten auf einen weiteren, gewichtigeren Aspekt hinweisen. Die Erforschung eines bestimmten Gegenstandes ist immer ein in sich vielstufig gegliederter Prozeß, der in seinen verschiedenen Stufen oder A b s c h n i t ten - entsprechend den aufeinander aufbauenden Fragen - auch jeweils ein spezifisches methodisches Vorgehen verlangt. So wäre
beispielsweise
eine Erforschung des Wandels der Familienformen ein aussichtsloses U n terfangen, sofern nicht die diesen Wandel verursachenden
Lebensbedin-
gungen, Wertorientierungen, Bedürfnisse und Probleme der Menschen im Oberblick einigermaßen bekannt sind. Um sich aber einen solchen Ü b e r -
6
286
Vgl. W. Friedrich "Jugendforschung in der DDR - Prinzipien, Probleme, Perspektiven", ins Methodologische und theoretische Fragen der J u gendforschung, Konferenzband, Leipzig 1983, S. 20.
blick über wesentliche Seiten der Lebensweise von Familien zu v e r s c h a f fen, ist mit Sicherheit methodisch anders vorzugehen als bei einer nachfolgenden Untersuchung einzelner Seiten der Lebensweise, zum B e i spiel der Ehescheidungsursachen oder Heiratsmotive. Für jeden d i e s e r A s p e k t e wären Fragen seiner empirischen A b b i l d b a r k e i t zu klären. Mit noch käum formalisierten Gesprächen und Beobachtungen würde ob der Zielsachverhalt
ermittelt,
(zum Beispiel die M o t i v a t i o n s s t r u k t u r für ein
bestimmtes Handeln) direkt oder über die A u f l ö s u n g in konkretere
Teil-
aepekte erfaßbar ist, wie die als Indikata ausersehenen Sachverhalte der Zielpopulation
in
reflektiert (als Problem angenommen, in w e s e n t l i c h e n
Dimensionen und Bezügen verstanden usw.) und sprachlich bezeichnet
wer-
den. O b e r mehrere Stufen des Probierens wären zum Beispiel einzelne
In-
dikatoren bzw. der ganze Fragebogen aue der Roh- zur T e s t - und s c h l i e ß lich Endform zu entwickeln. Eingeordnet in dieses Programm sind oft G e spräche mit Experten, weitere Beobachtungen, Analysen von D o k u m e n t e n und Erfassung von Hin.tergrundbedingungen,
um sagen zu können, w a s unser
Fragebogen eigentlich "mißt", bzw. um zu sichern, daß er die a n g e z i e l ten Sachverhalte auch wirklich abbildet. Da die meisten
Forschungsfra-
gen am Ende zu beantworten haben, wie sich das betreffende P r o b l e m im Feld (in der Gesellschaft, in größeren Gruppen usw.) verteilt oder z u mindest, wie es mit bestimmten Variablen
(zum Beispiel mit der
sozial-
oder familienstrukturellen Position) kovariiert, ist fast immer d a s folgende, hier stark vereinfacht dargestellte Stufenprogramm zu a b s o l vieren : I»
Sondierung des Problems, seiner z u behandelnden Seiten,
II.
Entwicklung einer Methodik zur rationellen Erfassung der zu be-
Reflexion
seiner
usw.
arbeitenden Seiten des Problems und zentraler
Bezugspunkte.
III.
Ermittlung der Verteilung der Seiten des P r o b l e m s in der P o p u l a -
IV.
Interpretation der Daten.
tion zumeist auf der Basis einer (repräsentativen)
Stichprobe.
In der Stufe I w i r d dabei vorrangig qualitativ, das heißt mittels nicht standardisierter Gespräche mit Experten, Betroffenen, mit B e o b a c h t u n g e n usw. gearbeitet. B e i der Stufe II stellt sich im Prozeß der G e w i n n u n g und Testung von Indikatoren meist zwangsläufig eine V e r m i s c h u n g von qualitativen und quantitativen Momenten her. Die Stufe III dient
über-
wiegend der Gewinnung quantitativer Daten, die - sofern möglich - am rationellsten mittels standardisierter schriftlicher Befragung
gewonnen
werden und die natürlich immer der (qualitativen) Interpretation
und
Erklärung bedürfen (Stufe IV). Damit haben w i r ein Problem berührt, das augenscheinlich
zunehmend
diskutiert wird - das Verhältnis von quantitativen und qualitativen thoden, artikuliert meist als Forderung nach v e r s t ä r k t e r A n w e n d u n g
Mequa-
litativer Forschungsmethoden. A l s erste und zugleich w e s e n t l i c h s t e B e merkung dazu sei festgestellt, daß es keine sinnvolle A l t e r n a t i v e qualitative
o d e r
quantitative Methoden anzuwenden, wobei
gibt,
unseres 287
Erachtens
allgemein
thodischen hen g e h t
Zugängen
der Ermessensspielraum
für
überschätzt
ist!
dem q u a n t i t a t i v e n
konkretere
Stufenabfolge
überlagert. in
ist.
rück,
sentativ
angelegten
schreibungen, führung tion lich
insgesamt
nicht
Forschungsprozeß qualitativ jene
verlangen
ziehen.
geeignet,
auch
vermutet
als
damit
tiven
außerordentlich
quantitativer quantitativ struktur
zu
Verfahren vorgehende
in
eine
des Problems dabei
Die
andere
setzt
an und w e i s t
auf
mitteln
kann,
Beide Aspekte und s t e l l e n licher
Analytik
wand g e g e n d i e terial
7
288
vor
sind
die
reagieren.
in
generelles
eine
Anzahl
hin,
außerhalb
läuft die
"durch
In
R.
Interview
als
ein
und
der
Befür-
Hauptmängel
hinaus,
daß
Problem-
und d i e
Qualikann.
Befragungen
aufgezwungene
anderes B i l d
von
sozialer
sich
ver-
selbst
Phänomene z u
Problem
hat. tun
wissenschaftder
Hauptein-
aus empirischem
u n t e r den q u a l i t a t i v e n offenes,
der
qualita-
rutschen"
wird hieraus vielfach
-
jedoch
stichhaltige
zwei
zerlegen
von S c h l u ß f o l g e r u n g e n
Fichtenkamm hebt
allem das
auf
darauf
die Maschen
methodologisches
der P r a x i s
Stichhaltigkeit
zwei
standardisierter
der G a n z h e i t l i c h k e i t
sich
ist
d e r DDR
um d i e
zu erfassende
im E n d e r g e b n i s
Interpre-
nach
den E i n l a s s u n g e n
d a ß d a s dem P r o b a n d e n
dem F o r s c h e r
ausschließlich
Hinterfragen
Diskussion
von Meßpunkten
im
Ausdruck
Forschungsabschnitte
im w e s e n t l i c h e n Die
Be-
wahrschein-
Methoden
d i e s e r Methoden
Forschungskonzepte
grundsätzliches
abgeleitet.
verfahren
finden,
finden.
und
bestimmter Akzente
es der Proband z u t r e f f e n d e r w e i s e
dar.
Interpreta-
e i n h o h e s Maß a n
wir die
geführte
gewissermaßen
haben mit
ein
Soweit
Einsatzes
die Gefahr
als
bei der
großer Subjektivität
am K o m m u n i k a t i o n s v o r g a n g
Frage-Antwort-Schema
Befragungsdurch-
zu bringen. Der
für verschiedene
übersehen,
endliche
tät
Feldbe-
Form von
wenn d a h i n t e r
die
immer a u c h e i n
ist.
(verstärkten)
Argumentationslinien
allzu
heterogen
Erhebungsverfahren eines
werden,
Methoden
und - v o r h a b e n a n g e s p r o c h e n
worter
Spezifik
zu-
in
um d i e A n w e n d u n g q u a l i t a t i v e r
Anwendung v e r s c h i e d e n e r überdies
die
we-
zunächst
reprä-
relativ
zum A u s d r u c k
und kaum
b e i den a l s der
die
also
immer d a n n z u k u r z ,
und den V o r w u r f
sinnvoll,
sind
wird
wird nämlich
zentralen
Selbst
erhoben,
Folge
wesent-
durchbrochen
oder j e n e r Weise B e r ü c k s i c h t i g u n g
sehr
Die Diskussion
insofern
einzubringen.
dieser
der Ja
m i t dem A u f g r e i f e n
die weniger
und q u a n t i t a t i v
Erhebungsverfahren
tation
gewöhnlich
und s t e l l t
klassifikatorisch
greift
sondern
Fragestellungen
Informationen
dieser
wie q u a l i t a t i v
in
me-
Vorge-
Forschungspraxis
z u den k o n k r e t e n M o d a l i t ä t e n
usw. q u a l i t a t i v e in
sind
Erhebungen werden n o r m a l e r w e i s e
Notizen
der Daten
griffe
konkreten
komplexer
sukzessive
das q u a l i t a t i v e
beide
eingehalten,
Man b e g i n n t
Fragestellungen später
der
streng
Die Bearbeitung
um s i e
In
d a s Wählen z w i s c h e n
im E r k e n n t n i s p r o z e ß 7 ,
Stufen
selten
einem Zuge a b s o l v i e r t .
sentlicher
Klar
meistens voraus,
und a b s t r a k t e r e
lich Abstraktionsvorgang diese
wird.
narratives
Ma-
Erhebungs-
oder
pro-
V g l . G. K l e i n i n g , Umriß e i n e r M e t h o d o l o g i e q u a l i t a t i v e r S o z i a l f o r s c h u n g , i n : K ö l n e r Z e i t s c h r i f t f ü r S o z i o l o g i e und S o z i a l p s y c h o l o g i e , 2/1986, S. 226.
p blemzentriertes - heraus.
Auf die familiensoziologischen Themen
der
DDR bezogen, sind diese verschiedenen Interviewformen von einigem Interesse. U n s e r Wissen um die Anwendung und Durchführung von gleich
Interviews,
ob sie offen, standardisiert, n a r r a t i v oder biographisch
ange-
legt sind, beschränkt sich meist ausschließlich auf ganz allgemsine Darstellungen
(Lehrbücher) oder auf das eigene Experiment der F o r s c h u n g s -
gruppen. Letzteres führt bisher im allgemeinen nicht zu schriftlichen Verallgemeinerungen,
so daß die familiensoziologisch arbeitenden
Ein-
richtungen zumeist weltgehend auf sich selbst gestellt sind. B e v o r z u g t e qualitative Methoden einer sich an d e r G r u n d s t r u k t u r interaktiver kommunikativer Prozesse orientierenden Familienforschung
und
sind nach Fich-
tenkamm - teilnehmende -
Beobachtung
Einzelfallstudien
- Auswertung von Biographien g - biographische Interviews . Ohne mit dieser Aufzählung eine Rangfolge setzen zu wollen, sind diese Methoden auch aus unserer Sicht geeignet für die Erforschung sehr v e r schiedener Seiten der Lebenstätigkeiten und B e z i e h u n g s g e s t a l t u n g
in der
Familie. Mit welcher Bezeichnung auch immer versehen, kommen diese
For-
schungsmethoden bei uns noch viel zu wenig zum Einsatz. Bis dato w i r d der Einzelfallstudie bzw. dem T i e f e n i n t e r v i e w noch am ehesten A u f m e r k samkeit g e w i d m e t . 1 0 Soweit übersehbar dienen Falletudien dabei fast ausschließlich als Ergänzungsmaterial
für vollstandardisierte
schriftliche
Befragungen. Zuweilen ist auch dann von Fallstudien die Rede, w e n n eine meist geringe A n z a h l von Probanden zumindest teilstandardisiert
befragt
wird und von vornherein eine quantitative D a t e n v e r a r b e i t u n g geplant w a r . Wir halten eine solche Begriffsverwendung
für weniger glücklich;
hier
drückt sich das Fehlen einer praktikablen Klassifikation der U n t e r s u chungsformen und - a b s c h n i t t e aus. Es scheint in diesem
Zusammenhang
zweckmäßiger, mit "Problemerkundung" oder "Methodenerprobung" am Ziel orientierte, konkretere Benennung d e r betreffenden
usw. eine
Aktivitäten
vorzunehmen. Fallstudien scheinen besonders geeignet, Einstellungen und V e r h a l tensweisen in Abhängigkeit von den jeweiligen Lebensbedingungen
aufzu-
klären. Schon 1948 hatte H. Thurnwald geschrieben! "Das immer erneute Zurückgreifen auf die Einzelfälle ist umso notwendiger, als n u r in den Einzelfällen die Veränderungen der äußeren und inneren Zustände von M e n 11 sehen zutage treten."
8
Vgl. R. Fichtenkamm, Familiale O b e r g ä n g e im Wandel, Sonderheft 13 der Materialien zur Bevölkerungswissenschaft, Wiesbaden 1987, S. 32-56; vgl. auch Rezension dazu in diesem Band, S. 4 5 6 . 9 Ebenda, S. 139. 10 Vgl. A . Pinther, Bemerkungen zur Ehe-Intervallstudie des Z e n t r a l institut* für Jugendforschung, a.a.O., S. 4 1 . 11 H. Thurnwald, Gegenwartsprobleme B e r l i n e r Familien. Eine s o z i o l o g i sche Untersuchung an 498 Familien, B e r l i n / F r a n k f u r t / O d e r 1948, S. 7. 289
Einzelfallstudien 9ind derzeit mehrheitlich Zustandsanalysen und als solche situativ und alltagsnah. Sie können aber auch konkrete Lebensverläufe transparent machen« Unsere Gegenwartsliteratur hat sich dieser Methode ja bereits auf ihre Art bedient. Erinnert sei hier nur an Maxie Wanders "Guten Morgen du Schöne" - Protokolle nach Tonband, an "Männerprotokolle" von Christine Müller sowie Christine Lambrechts
"Männerbe-
kanntschaften". Ohne die wissenschaftliche Reichweite der Einzelfallanalyse zu überschätzen, verspricht sie doch als Ergänzungs-, vor allem aber als Erkundungsmethode wesentlich mehr Gewinn an Erkenntnissen,
als
ihr gemeinhin zugebilligt wird. Eine ihrer Vorteile - das hat die B e l letristik hervorragend gezeigt - liegt in der Analyse
geschlechtstypi-
schen Verhaltens im Bereich der Partnerbeziehungen. A l s biographische Methode in verschiedenen Altersgruppen eingesetzt, lassen sich damit durchaus auch Wandlungen im Verhalten verschiedener Generationen,
Ein-
stellungsänderungen der Geschlechter in Abhängigkeit von der jeweils erreichten Phase des Familienzyklus aufspüren. Wir meinen also, daß die Einzelfallanalyse, pointiert eingesetzt, zu einem unverzichtbaren
Instru-
ment der Familienforschung werden sollte, ohne sie auf diesen Gegenstand beschränken zu wollen. Das setzt Jedoch voraus, daß eine ernsthafte A u s einandersetzung mit ihrer inhaltlichen und methodischen Struktur, Voraussetzungen und Aussagemöglichkeiten
ihren
stattfindet, daß diese Methode
mit Blick auf die vor der Soziologie stehenden Aufgaben erneut auf den Methodenprüfstand gebracht werden müßte. Dabei wäre zum Beispiel auch das Proble m Objektivität — Subjektivität zu bedenken, wobei wir T h u m — wald zustimmen müssen, daß eine volle Objektivität in der empirischen 12 Forschung ohnehin niemals herzustellen ist. D a s gilt sicher in noch stärkerem Maße für die von uns bisher kaum beachtete und von kamm im Zusammenhang mit familiensoziologischer Forschung
Fichten-
hervorgeho-
bene Methode der teilnenmenden Beobachtung. Sie wird ob ihres besonders hohen Maßes an Subjektivität eher als unseriös und unzuverlässig
be-
zeichnet. Dabei gewinnt der Familienbefrager allein schon durch das A u f suchen der Familien in ihrem häuslichen Milieu Aufschluß über die Lebensbedingungen und das Klima in der Familie. Bei Paarbefragungen
und
Interviews hält er sich darüber hinaus längere Zeit in der Wohnung auf. Oft sind auch Kinder anwesend, so daß der Umgang von Eltern und Kindern beobachtet werden kann. Stellt sich gar ein Vertrauensverhältnis
zwi-
schen dem Wissenschaftler und den Probanden her, läßt sich der Beobachtungsradius meist stark erweitern. Wohnräume und Anschaffungen
werden
"vorgezeigt", zuweilen sogar Ratschläge eingeholt. So läßt sich ein ganzes Bündel an Informationen gewinnen, die derzeit fast völlig nutzt bleiben. Zur Erkundung, zur Aufhellung von Qualitäten
unge-
(der Lebens-
weise, des C h a r a k t e r s und der Struktur von Beziehungen, von Form und Inhalten der Kommunikationen usw.) und entsprechender
Erscheinungsfor-
men können sie gerade auf dem Gebiete der Familienforschung 12 290
Ebenda, S. 8.
Wesentliches
beitragen. Und für einige der angedeuteten Sachverhalte für wesentliche Aspekte des Kommunikationsgeschehens
(zum B e i s p i e l
in der Familie)
gibt es praktisch überhaupt keine echte A l t e r n a t i v e . Schlußfolgerungen Im Kontext dieser methodischen und inhaltlichen Diskussion läßt sich feststellen: Erstens: Im Ergebnis vielfältigen B e m ü h e n s des Forschers um A n n ä h e r u n g an die relevanten Probleme und deren rationelle A n a l y s e ist schon
immer
qualitativ und quantitativ geforscht w o r d e n . Es geht also nicht um die Entdeckung eines methodischen "Novums", sondern um die A n a l y s e d e r A u f gabenstruktur einerseits und die rationelle Nutzung und W e i t e r e n t w i c k lung methodischer Ansätze andererseits, das heißt, um die dialektische Einheit von Problem und Methode. Zweitens: A l s Forschungsorientierung vernetzte Schwerpunkte
zeichnen sich zwei
miteinander
ab:
- die Erzeugung von Verlaufsdaten
(das heißt beispielsweise
Familien-
entwicklung gefaßt als zentrales Moment im L e b e n s z y k l u s von Frauen, M ä n nern, Kindern, darunter als prozessierende Qualität von Beziehungen schen Partnern, Eltern und Kindern und zu ihrem differenzierten
zwi-
sozialen
Umfeld), - die vertiefte Analyse der einzelnen Elemente (zum Beispiel
von
emotionalen und funktionalen Beziehungen, Erwartungen und Selbstbildern, Kommunikationsinhalten
und - f o r m e n , Konfliktpotentialen
usw.), die f a m i l i a -
les Leben und familiale Entwicklung a u s m a c h e n , e i n s c h l i e ß l i c h der
Einflüe-
se aus anderen Lebensbereichen und der Rückwirkung auf d i e s e . Drittens ergeben sich daraus folgende forschungsstrategische
Konse-
quenzen : - Es müssen Intervallstudien aufgebaut werden, die den Verlauf Partnerschaft und Familie über ein ganzes Leben
von
fassen.
- Solche Studien sind in bestimmten zeitlichen Abständen - die A b standsbestimmung ist dabei selbst noch Forschungsgegenstand - immer w i e der neu aufzulegen,
um Intergenerationsunterschiede
schaftlicher Entwicklung
als Momente
gesell-
nachzuweisen.
- Diese Längsschnittstudien
sind mit O u e r s c h n i t t s e r h e b u n g e n
zu k o m b i -
nieren, um rationell zu repräsentativen Daten zu kommen. - Einzelne Familien sind als "Lehr-, Lern- und Probierfeld"
für P r o -
blemerkundung und Methodenentwicklung aber auch für die Q u a l i f i z i e r u n g der Forscher zu gewinnen. Dieser Stamm muß ausreichend groß sein und immer wieder erneuert werden. Viertens: Einige methodische und organisatorische Folgerungen - Die Entwicklung
sind:
rationeller Intervall-Methodiken, die zum B e i s p i e l
das langdauernde Wiederauffinden beider Partner gewährleisten, die z u gleich aufwandsarm und hochgradig sicher (unbeeinflußt)
Informationen
liefern; die Oberprüfung und erforderlichenfalls das O b e r a r b e i t e n Indikatoren,
um auf ihr Altern zu
der
reagieren.
291
- Die Beherrschung des gesamten Methodenarsenals und seine effizientsynergetische Anwendung, was zum Beispiel auch heißt, die "gute, alte" Einzelfallanalyse zu aktualisieren und die Methode der Beobachtung
(bei-
des zunächst qualitative Methoden!) im wesentlichen erst zu erschließen. - Erarbeitung von Standards,(zum Beispiel
Sozialstruktur, Demogra-
phie, Wertorientierungen), um Vergleichbarkeit innerhalb der Familienforschung und Verbindbarkeit zu anderen Forschungsthemen zu ermöglichen. - Erhöhung der Effizienz der Forschung durch themengerechte personelle Besetzung der soziologischen Familienforschung, verstärkte Kooperation der Forscher und Verbesserung der technischen Ausstattung sowie intensivere Nutzung vorhandener Rechentechnik.
292
Ob. f. Soziologie und Sozialpolitik 1989
Dieter Lindig Analyse statistischer Dokumente - Werkzeug
marxistisch-leninistischer
Soziologie
Mit ihren Forschungen zu Entwicklungstendenzen, Gesetzmäßigkeiten und Triebkräften des Sozialismus sowie zur vergleichenden Bilanz von Praxis und Erfahrungen beider Systeme leistet auch die Soziologie einen "Beitrag zur Erfüllung der Beschlüsse des XI. Parteitages der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) bei der weiteren Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft, bei der erfolgreichen Fortsetzung des Kampfes um Frieden, Abrüstung und friedliches Zusammenleben der Völker sowie bei der Auseinandersetzung mit dem Imperialismus und der bürgerlichen Ideologie." Die Wirksamkeit dieses Beitrages ist untrennbar verbunden mit dem gegenstände- und problemadäquaten Einsatz der Forschungsmethoden. Wertvoll, interessant, praxiswirksam ist ihr Einsatz, wenn mit ihrer Hilfe die empirisch-soziologische Untersuchung sozialer Sachverhalte, Prozesse usw. komplex, interdisziplinär durchgeführt werden kann, "wenn mit ihrer Hilfe ein wesentlicher Erkenntniszuwachs erzielt werden kann, wenn die Forschungen intensiviert werden können, wenn die Allseitigkeit und Tiefe der Betrachtung erhöht, die Zeit zur Ausarbeitung wissenschaftlich begründeter Vorschläge und Varianten für die Lösung von Problemen der Gesellschaftsentwicklung, der territorialen oder betrieblichen Entwicklung wesentlich verkürzt werden kann." 2 Ohne den Einsatz der Sekundäranalyse von national bzw. international bereits vorhandenen Informationen in statistischen Dokumenten sind wichtige Aufgaben soziologischer Forschung nicht- bzw. nicht effektiv lösbar. Diese Methode dient als Mittel der Informationsgewinnung, indem sie ihrem Nutzer die problem- und hypothesenbezogenen Angaben zun soziologischen Objekt indirekt, das heißt vermittelt über das statistische Dokument, zugänglich macht. Objekt dieser Methode sind alle statistischen Dokumente, sofern sie Träger zahlenmäßiger und darauf beruhender verbaler und anderer Angaben über das zu untersuchende soziologische Objekt sind. Ziel der Sekundäranalyse dieser Angaben ist vor allem das Schließen von Angaben des statistischen Dokuments auf Merk1 2
Zentraler Forschungsplan der marxistisch-leninistischen Gesellschaftswissenschaften der DDR 1986-1990, in: Einheit, 8/1986, S. 681/682. K. Hager, Gesetzmäßigkeiten unserer Epoche - Triebkräfte und Werte des Sozialismus, Berlin 1983, S. 77. 293
male des untersuchten soziologischen Objektes, auf die soziale Wirklichkeit und letztlich das Ableiten von Schlußfolgerungen zur Lösung des erkannten gesellschaftlichen Problems. Hinzu kommt - im G e g e n s a t z zu den Methoden der Primäranalyse
(Befragung, Beobachtung usw.) - die
Möglichkeit, diese Angaben unabhängig von der am Prozeß der statistischen Erhebung Beteiligten bekommen und - sofern erforderlich - beliebig oft und mit wechselnder Fragestellung analysieren zu können. In diesen Besonderheiten gründen sich die Leistungspotenzen der M e t h o d e . Auf drei sei hier verwiesen: Erstens. Diese Methode ist für die umfassende A n a l y s e der Entwicklung sozialer Sachverhalte im internationalen Rahmen sowie auf gesamtstaatlicher, zweiglicher und territorialer Ebene anwendbar. Zum einen erlaubt der Rückgriff auf kumulative Angaben bzw. langfristige reihen nicht nur Entwicklungszustände, von Entwicklungsprozessen
Zeit-
sondern vor allem die Struktur
festzustellen. So lassen sich durch
sekundär-
analytische Längsschnittuntersuchungen zu sozialen Wirkungen der Einführung von Schlüsseltechnologien sowohl Obergänge quantitativer V e r änderungen in qualitative Unterschiede als auch die Wirkung licher Tendenzen (Stagnation, Regression, Progression)
gegensätz-
herausarbeiten.
Zum anderen vermittelt die Anwendung dieser Methode Informationen den Bedingungen, aus welchen die Entwicklung des sozialen
zu
Sachverhaltes
(Entwicklung der Qualifikation der Berufstätigen usw.) objektiv hervorgeht. Schließlich ermöglicht die Verwertung sozialhistorischer Daten eine Vertiefung des historischen A s p e k t s soziologischer Forschung kann Ausgangsmaterial
und
für die Ableitung von Prognosen liefern. Zwei-
tens. Die Verwendung dieser Methode erlaubt es, in vielen Fällen
so-
ziale Sachverhalte komplex, das heißt makro- und mikrosozial, zu untersuchen. Damit werden die Analysedimensionen soziologischer
Forschung
zum Teil erheblich ausgeweitet. Mit der Erweiterung der Offenheit
der
Statistik und dem breiten Übergang der statistischen Organe des In- und A u s l a n d e s zu modernsten Techniken/Technologien bei der Erfassung, A u f bereitung, Speicherung, dem Auswerten und Weiterleiten
statistischer
Informationen wachsen die Möglichkeiten des Umgangs mit Makro- und Mikrodaten und ihrer Verwendung aus statistischen
Informationssystemen
weiter an. Die Nachnutzung statistischer Angaben einzelner
repräsenta-
tiver Stichproben
(Einkommensstichprobe, Haushaltsbudget usw.) oder
deren Integration
(Mikrodatenfile) läßt die Sekundäranalyse auf M i k r o -
datenebene zu. Hat der Soziologe Angaben aus statistischen
Vollerhebun-
gen und repräsentativen Teilerhebungen zur Verfügung, besteht die bisher wenig genutzte Möglichkeit, die Untersuchungs- bzw. Simulationsergebnisse aus der Einzelfallebene Gesamtbevölkerung
(Mikrodatenebene) zum Beispiel auf die
(Makrodatenebene) hochzurechnen. Die
Inanspruchnahme
modernster Informationstechnologie verbessert zugleich die Chance,
die
notwendigen Daten zu kürzeren Terminen zu erhalten. Drittens. Diese Methode ist auch ein unentbehrliches Werkzeug
(Mittel) realistischer
differenzierter Analyse der Entwicklungsmöglichkeiten
294
des
und
kapitalisti-
sehen Systems. Der Zugriff auf objektive sozialökonomische statistische Daten des kapitalistischen Systems gibt der marxistisch-leninistischen Kritik wissenschaftlich nachprüfbare Tatsachen in die Hand. Die Klassiker des Marxismus-Leninismus nutzten diesen Vorzug konsequent für ihre Analysen und ihre Theoriebildung aus. So äußert K. Marx zum Beispiel: "Eins der ärgerlichsten Dinge in meinem Werke "Das Kapital' sind die massenhaften amtlichen Belege zur Schilderung der Fabrikantenwirtschaft, an denen kein Gelehrter bisher Fehl zu finden wußte." 3 Im Rahmen der heutigen Systemauseinandersetzung liefert die Anwendung der Methode nicht nur das empirische Material für den Streit, sondern auch für die Ableitung von Maßnahmen für die Kooperation und den Wettbewerb der beiden Gesellschaftssysteme. Zu den subjektiven Ursachen unzureichender Anwendung der Sekundäranalyse statistischer Dokumente gehören vor allem das ungenügende Wiesen um die Voraussetzungen und die fehlende Erfahrung zur Nutzung dieser Methode.
Zu den Voraussetzungen produktiver Anwendung der Sekundäranalyse statistischer Dokumente in der empirisch-soziologischen Forschung 1. Oas Vorhandensein und die Kenntnis soziologierelevanter statistischer Angaben im nationalen und internationalen Informationsfonds Statistische Materialien sind nicht nur eine bestimmte Repräsentationsform der Erkenntnis ihrer Urheber, sondern vor allem Träger von Informationen (Kennziffern usw.) für die Nutzer, für deren Erkenntnistätigkeit. K. Marx, F. Engels und W. I. Lenin waren bei ihren Forschungen auf Angaben der kapitalistischen Statistik angewiesen. Ihre Werke belegen, daß sie exzellente Kenner und Nutzer dieser Quellen waren. Die von Lenin organisierte sowjetische sozialökonomische Statistik produzierte außerdem eine Vielzahl eigener zanlenmäßiger Informationen. Da sich statistische Informationen bei ihrem Gebrauch nicht verbrauchen, stehen dem Gesellschaftswissenschaftler der DDR auch diese internationalen Daten seit Gründung der Republik zur Verfügung. Für die Zwecke gesellschaftswissenschaftlicher Forschung galt es anfangs, das noch vorhandene statistische Material der Vorkriegszeit gemäß neuer Aufgabenstellung kritisch zu sichten und neu aufzubereiten. Mit fortschreitender Profilierung und Entwicklung der rechentechnischen Basis der im Oktober 1945 gebildeten "Deutschen Zentralverwaltung für Statistik" (der heutigen Staatlichen Zentralverwaltung für Statistik) und ihrer statistischen Dienststellen standen den Gesellschaftswissenschaften außerdem die internen und veröffentlichten statistischen Unterlagen und Er3
K. Marx, Antwort auf den ersten Artikel Brentanos, in: MEW, Bd. 18, Berlin 1973, S. 92. 295
gebriisse des zentralen und dezentralen Berichtswesens für die Zwecke der Sekundäranalyse zur Verfügung. In den 60er Jahren wurde das statistische Informationssystem der D D R mit der Vorbereitung und schrittweisen Einführung
(1967-1971) des S y -
stems von Rechnungsführung und Statistik vervollkommnet und partiell durch die inzwischen entstandenen soziologischen
Forschungsinstitutio-
nen nachgenutzt. Mit jeder neuen statistischen Erhebung häufte sich das sekundär verwertbare statistische Datenmaterial an. Heute stehen dem Soziologen bei Beginn einer eigenen empirischen Untersuchung eine V i e l zahl statistischer Materialien zur Verfügung. Es gehört zu den Gepflogenheiten, daß der Forschende das aktuelle,
sein Profil, seinen
schungsgegenstand tangierende statistische Informationsangebot
Forkennt
und diesbezüglich notwendige Praxisverbindungen zu den Produzenten
bzw.
Verwaltern der statistischen Dokumente anbahnt und pflegt. Statistische Dokumente werden vom A u t o r verstanden als Träger zahlenmäßiger und darauf beruhender verbaler Informationen über abgeschlossene,
gegenwärti-
ge, geplante (einschließlich prognostizierte) sozialökonomische
Pro-
zesse und Erscheinungen. Die in der DDR geschaffenen bzw. verfügbaren soziologisch verwertbaren Statistiken - es handelt sich ihrer Herkunft nach zumeist um Informationsquellen, an deren Zustandekommen die Soziologen nicht bzw. nur mittelbar beteiligt waren - lassen sich inhaltlich vor allem vier Gruppen zuordnen: - Statistische Sammelbände der DDR Es handelt sich hier um Ergebnisse aus mehreren/allen Gebieten der Statistik, das heißt um Statistiken mit
Querschnittsangaben.
Beispiel: Statistisches Taschenbuch der DDR. -
Statistiken zu speziellen Themenbereichen und sozialen Gruppen
Hier ist aus verschiedenen Statistiken das Material themengemäß, penbezogen
grup-
zusammengestellt.
Beispiel: D a s Gesundheitswesen der DDR, Kennziffernsammlung - Medien- (Presse. Rundfunk, Fernsehen) und andere
"Die Frau".
Veröffentlichungen
Das sind Veröffentlichungen staatlicher Organe, Einrichtungen,
gesell-
schaftlicher Organisationen sowie wissenschaftliche Publikationen mit zahlenmäßigen Ergebnissen zur sozialökonomischen Entwicklung aus einer einzelnen Statistik oder aus verschiedenen
Statistiken.
Beispiel: Pressemitteilungen der Staatlichen Zentralverwaltung
für S t a -
tistik. - Statistische Materialien des Auslandes Zum einen handelt es sich hierbei um in der DDR selbst erstellte Statistische Sammelbände, Statistiken zu speziellen Themenbereichen,
Pres-
semitteilungen und Veröffentlichungen mit A u s l a n d s d a t e n . Beispiel: Anhang des Statistischen Jahrbuchs der D D R mit Daten der Länder des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe
(RGW) und mit
interna-
tionalen O b e r s i c h t e n . Die auslandsstatistischen Daten und Z u s a m m e n s t e l lungen werden aus den internationalen Quellen
296
entnommen.
Zum anderen handelt es sich um die in der DDR aufgrund von Austauschbeziehungen usw. in Bibliotheken vorhandenen statistischen Quellen. Beispiels Statistische Berichte bzw. Fachveröffentlichungen - Wiesbaden, Demographic Yearbook-UN. Außerdem handelt es sich um Daten, die gegenwärtig auf Grundlage vertraglicher Beziehungen direkt aus dem RGWDatenbestand abgerufen werden können. Die zahlenmäßige Widerspiegelung der qualitativen Aspekte gesellschaftlicher Massenerscheinungen oder einzelner ihrer Seiten erfolgt in Jeder der Statistiken auf der Grundlage von Kennziffern, Kennziffernübersichten. Statistische Kennziffern treten dem Soziologen in ihren zwei Bestandteilen entgegen: in der begrifflichen Seite und zahlenmäßigen Größe der jeweils erfaßten gesellschaftlichen Erscheinungen. Dabei gilt: "Die begriffliche Seite der Kennziffer ist durch die exakte Definition der erfaßten Elemente, abgeleitet von der klaren Definition des Untersuchungsobjekts, bestimmt... Die Definition einer Kennziffer schließt die eindeutige Bestimmung der Maßeinheit ein, in der sie aus4 gedrückt werden soll." Soziologieexterne Statistiken sind hauptsächlich Quellen quantitativer Information. Sie enthalten unter anderem folgende Ausdrucksformen zahlenmäßiger Bestimmtheiten gesellschaftli5 eher Erscheinungen : . Niveaukennziffern. Sie widerspiegeln die Größe der gesellschaftlichen Erscheinung sowie die Häufigkeit des Auftretens der Elemente der Massenerscheinung. . Naturalkennziffern. Sie widerspiegeln die Größe der gesellschaftlichen Erscheinung von ihrer gebrauchswertmäßigen Seite. . Personenkennziffern. Sie kennzeichnen, wieviel Personen einer Gruppe/ Gesamtpopulation angehören. • '''ertkennziffern. Sie widerspiegeln den Wertausdruck der Erscheinung in Geldeinheiten. . Strukturkennziffern. Sie charakterisieren die Zusammensetzung der gesellschaftlichen Massenerscheinung aus Teilmassen. . Beziehungskennziffern/Koeffizienten. Sie quantifizieren die Beziehungen zweier Gesamt-/Teilmassen zueinander. Die Aufgabenstellung kann den Soziologen dazu veranlassen, Kennziffern zu suchen und auszuwerten, welche die gesellschaftliche Erscheinung in den verschiedenen Zeitebenen (Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft), Raum-/ Territoriums-/Verantwortungsebenen (Ländergruppierung, Land, Bezirk, Stadtteil; Ministerium usw.) sowie Raum-Zeit-Ebenen-Beziehungen zum Ausdruck bringen. Derartige soziale und ökonomische Kennziffernangaben aus Leitung und Planung (darunter Rechnungsführung, Statistik) stehen dem Nutzer in der DDR in den unterschiedlichsten zentralisierten und fachlichen Berichterstattungen/Bevölkerungsbefragungen als Plan-, Ist-, Vorschaukennziffern zur Verfügung, zudem im Prinzip unentgeltlich. Als 4 5
A. Donda, E. Herrde, 0. Kuhn, R. Struck, Statistik, Berlin 1986, S. 45. Vgl. ebenda, S. 46 - 48. 297
Informationsträger fungieren hierbei sowohl schriftliche Belege (Konten, Tabellen, Listen, Journale, Bilanzen) als auch die Speichermedien der elektronischen Datenverarbeitung (EDV) (Datenspeicher, -banken usw.). Für die einmalig, aperiodisch, periodisch erhobenen Kennziffern der zentralisierten Berichterstattung/Bevölkerungsbefragung
trägt die
Staatliche Zentralverwaltung für Statistik die Verantwortung. In den Unterlagen der fachlichen Berichte/Befragungen der Kombinate, Staatsorgane, gesellschaftswissenschaftlichen Disziplinen (darunter der Soziologieeinrichtungen der DDR) usw. kann der Soziologe wichtige Angaben zu einem Bereich, Zweig, Territorium, zu einer sozialen Gruppe finden. Der schrittweise Obergang zur formblattlosen Berichterstattung
(per ma-
schinenlesbaren Datenträger) führt zur Verschmelzung beider Berichtsformen, so daß dem dazu berechtigten Nutzer sozialökonomische Angaben unterschiedlicher Aggregations- und Disaggregationsstufen zur Verfügung stehen. 2. Die Kenntnis und Anwendung der Prozeduren sekundäranalytischen Vorgehens Ist beabsichtigt, die Sekundäranalyse statistischer Dokumente im Rahmen des Methodenensembles als Hauptweg der Informationsgewinnung und Hypothesenprüfung einzusetzen, wovon im Folgenden ausgegangen werden soll, erfordert das die Planung und Durchführung (einschließlich kritische Reflexion) von vier Arbeitsstufen mit fließenden Grenzen: Vorbereiten der Sekundäranalyse, indirektes Erfassen der Daten zum Objekt (erhebungsmethodischer Aspekt der Sekundäranalyse), Aufbereiten und Auswerten der Daten aus dem statistischen Material. Im Vergleich zu den Methoden der Primäranalyse weisen Planung und Durchführung der sekundäranalytischen Arbeitsstufen Gemeinsamkeiten und Spezifika auf. Auszugestaltende Arbeitsschritte in der Stufe der Vorbereitung der Sekundäranalyse sind vor allem die Rezeption bzw. eigene Produktion des Forschungsproblems, der Forschungshypothesen und Programmfragen. Die Aufgabe, die Hypothese nicht nur theoretisch, sondern auch empirisch (an der Praxis) zu prüfen, erfordert - analog zur Primäranalyse - die eindeutige Definition und Abgrenzung des soziologischen Untersuchungsobjekts, seiner Merkmale und des Untersuchungsbereiches. Die theoretische und empirische Abgrenzungsarbeit
führt zum Ent-
wurf einer vorläufigen, für die Hypothesenprüfung notwendig erscheinenden, Liste soziologischer
Indikatoren.
Im Gegensatz zur Primäranalyse kann bzw. soll die Messung dieser Merkmale bei der Sekundäranalyse nicht direkt am Objekt, sondern an dessem "Stellvertreter" - dem statistischen Datenträger - erfolgen. Da die Materialien statistischer Organe überwiegend durch Leitungsbedürfnisse bedingt sind, muß der Soziologe in Rechnung stellen, daß die in den Datenträgern vorgefundenen Definitionen, Abgrenzungen usw. des statistischen Erhebungsobjekts nicht vollständig mit der Definition, Abgrenzung seines soziologischen Untersuchungsobjekts, seiner Einheiten
298
und Merkmale übereinstimmen. Dem Auffinden, Voranalysieren, A u s w ä h l e n statistischer Quellen
und
Kennziffern mit Bezug zum soziologischen Objekt dient ein weiterer V o r bereitungsschritt - die Metadatenrecherche im statistischen
Informa-
tionsfonds. Zur erfolgreichen Suche statistischer Materialien und Kennziffern gehört die Kenntnis der Informationshilfsmittel und der A b r u f sprache des Jeweiligen Datenspeichers. Eine Vielzahl von
Hilfsmitteln
kündigt das Erscheinen nationalen und internationalen statistischen
Ma-
terials an. Dazu gehören die "Ordnung der Planung der V o l k s w i r t s c h a f t der D D R " 6 , die Literaturverzeichnisse der Bibliotheken z u dem B e s t a n d an Statistiken, die Obersichten/Kataloge der Produzenten und V e r w a l t e r statistischer Informationen. Diese und andere D o k u m e n t a t i o n e n verzeichnisse usw.) beschreiben nicht nur, wo es welche
(Daten-
statistischen
Materialien gibt/geben wird, sondern liefern in vielen Fällen auch erste Daten über die in den statistischen D o k u m e n t e n enthaltenen D a t e n bzw. Metadaten. D e r Metadatenrecherche dienen vor allem folgende
Opera-
tionen und Fragens "Befragen" des Informationshilfsmittels nach A r t und Kreis der in der statistischen Quelle nachgewiesenen statistischen O b j e k t e nach A n zahl, Definition, Abgrenzung, Vertraulichkeitsgrad der in der
statisti-
schen Quelle nachgewiesenen Kennziffern und" Kennziffernkomplexe nach der angegebenen Zeit, für die der Kennzifferninhalt
und
gilt;
Inbeziehungsetzen/Vergleichen bzw. G e g e n ü b e r s t e l l e n der gewonnenen Metainformationen zum statistischen U n t e r s u c h u n g s o b j e k t mit den ten/gebrauchten soziologischen Informationen
(gemäß
gesuch-
Indikatorliste).
Anliegen dieses Teilschrittes ist es, die Größe des soziologischen formationsgehaltes der in dem statistischen Dokument enthaltenen
In-
Kenn-
ziffern zu werten. D e m Feststellen der G e m e i n s a m k e i t e n bzw. der U r s a chen von Nichtübereinstimmungen bisherig entworfener soziologischer
Indi-
katoren mit vorfindlichen statistischen Kennziffern hat auch die Festlegung von Maßnahmen partieller Modifizierung des soziologischen
Kon-
zepts und - sofern möglich - partieller A n g l e i c h u n g statistischer G r u p pierungen usw. an das soziologische Konzept zur Folge. D i e s e m A n l i e g e n können Gruppenumrechnungen, Umrechnungen von G e b i e t s s t ä n d e n usw. e n t sprechen. Starres Festhalten an der ursprünglich sachlich,
zeitlich,
räumlich entworfenen Indikatorliste kann mitunter zu künstlich geführter Datenknappheit
herbei-
führen.
Im Ergebnis der bisherigen Vorbereitungsarbeit besitzt der S o z i o l o g e klare Vorstellung über das Vorhandensein, die A u s s a g e k r a f t und Z u v e r lässigkeit der in den statistischen D o k u m e n t e n anzutreffenden A n g a b e n über das soziologische U n t e r s u c h u n g s o b j e k t . Die Kenntnis d i e s e r A n g a b e n vermeidet zwar die Beschaffung unnützer statistischer Dokumente,
kann
jedoch die Entnahme der objektrelevanten Daten (Nutzdaten) nicht e r 6
Anordnung über die Ordnung der Planung der V o l k s w i r t s c h a f t der D D R 1986 - 1990 vom 7. Dezember 1984, in: Gesetzblatt der D D R vom 1. Februar 1985, Sonderdruck 1190, Teil A - R.
299
setzen, wozu "eine überarbeitete Li9te der zu erfassenden
Indikato-
ren/Kennziffern verabschiedet w i r d . Auch das Erfassen der im statistischen Dokument enthaltenen
Informa-
tionen zum soziologischen Untersuchungsobjekt ist eine komplexe A r beitsstufe. Das in der Vorbereitungsstufe vereinbarte Erfassen der Nutzdaten kann sich auf die Einzeldaten, Aggregatdaten sowie Tabellen (tabellarisches Erfassen) des statistischen D o k u m e n t s beziehen. D i e Entnahme der statistischen Daten ist manuell oder/und maschinell
mög-
lich. Liegen die Daten in Speichermedien der EDV vor, ist ihr Abruf aus der Datenbank zum Beispiel nur bei Kenntnis sowie A n w e n d u n g der zugehörigen Abrufsprache
(Parametersprache) möglich. Diese Sprache vermit-
telt unter anderem das automatisierte Auffinden und Selektieren d e r Nutzdaten. Da der Soziologe Fehlinterpretationen des ihm "fremden" D a tenmaterials ausschließen muß, hat er in der Stufe des Erfassens Sorge zu tragen, daß alle vom Statistikproduzenten bereitgestellten
Zusatz-
informationen zum Umgang mit den Daten miterfaßt werden. Dazu gehören die methodischen Erläuterungen, welche in Fußnoten, Glossarien usw. zu finden sind. Spätestens hier erweist sich die Fremdsprachenkenntnis erforderlich. Systematisch ist die in der Vorbereitungsstufe
als
begonnene
Fehlersuche auch in der Stufe des Erfassens fortzuführen. Dem dient die vergleichende Quellenanalyse, das heißt der Vergleich der Kennziffernangaben anhand von mindestens zwei Quellen unterschiedlichster
Herkunft
sowie das exakte Festhalten der bibliographischen Angaben der jeweiligen Q u e l l e . Erfolgt die Erfassung von Datenbankinformationen so, daß das Ergebnis Daten gewünschter Form der Darstellung
bereits (Tabellen-
gestalt usw.), Gruppierung und Berechnung sind, kann sich die weitere Informationsbearbeitung
erübrigen und gleich zum A u s w e r t e n
übergegangen
werden. Beim computergestützten Abruf wird also die Grenze zwischen Erfassen, Aufbereiten, Auswerten von Daten
fließend.
In der Stufe des A u f b e r e i t e n s der D a t e n hat der Soziologe die e r f a ß ten Einzeldaten bzw. die noch nicht in der gewünschten
Aggregationshöhe
erfaßt vorliegenden Gruppendaten gemäß Plan zur notwendigen A b s t r a k tion, Strukturierung, Lokalität weiterzuverarbeiten,
in geeigneter Form
darzustellen bzw. für die Zwecke der nachfolgenden Auswertung
zwischen-
zuspeichern. Wie jede Datenverarbeitung läßt sich auch die Verarbeitung von Sekundärdaten auf drei Grundformen zurückführen: "a) Datenbewegung ohne Veränderung, b) Vergleich von Daten und c) Verknüpfung von Daten (arithmetische und logische Verknüpfung, V e r k e t t u n g ) " 7 . Sie werden in den Schritten wirksam, die den Inhalt dieser Arbeitsstufe
bestimmen.
Z u diesen Schritten gehören: Gruppieren; Sortieren, Kombinieren,
Be-
rechnen, Darstellen, Kontrollieren und Korrigieren der Daten. A u f g a b e des G r u p p i e r e n s ist das Zusammenfassen der hinsichtlich stimmter sachlicher, 7
300
räumlicher, zeitlicher Merkmale
be-
übereinstimmenden
Autorenkollektiv, Lexikon der '.Virtschaft. Rechentechnik, beitung, Berlin 1983, S. 385.
Datenverar-
Einheiten zu einer neuen logischen Einheit - der neuen G r u p p e . H i n z u kommt das gruppenweise Auszählen/Auflisten der je Gruppe erfaßten D a ten. Lassen sich die vorgefundenen D a t e n der Statistik nicht der s o z i o logisch interessierenden Gruppe zuordnen, weil sie zum B e i s p i e l aggregiert sind, müssen die geplanten A n g l e i c h u n g s m a ß n a h m e n
anders
angewandt
werden. V o r allem zwei Verfahren helfen, d i e s e s Problem zu lösen: - die Angleichung der gruppierten Daten n i e d r i g e r A g g r e g a t i o n an die Daten höheren A g g r e g a t i o n s n i v e a u s durch Umstellungen, und logische
arithmetische
Vergleichsoperationen;
- die problemorientierte Angleichung der h ö h e r aggregierten D a t e n an die Daten niedriger A g g r e g a t i o n . Diese D i s a g g r e g a t i o n Ist möglich, wenn ein Rückgriff auf die den A g g r e g a t d a t e n zugrunde liegenden D a t e n niedriger Aggregationsstufe gewährleistet
ist.
D a s Sortieren ist mit dem Anliegen verbunden, die gefundenen D a t e n Datensätze nach festgelegten Ordnungsmerkmalen zu durchmustern,
bzw.
umzu-
ordnen. D u r c h Kombination/Verkettung von Kennziffern der gleichen oder einer anderen Informationsquelle wird die A u s s a g e k r a f t der
ursprünglich
isoliert vorliegenden Kennziffer zum Teil beträchtlich erhöht. Strikt sind auch hierbei die gesetzlichen B e s t i m m u n g e n zum Umgang mit D a t e n einzuhalten. D a s Berechnen der Daten (zum B e i s p i e l von Kennziffern) aus den Grundkennziffern des statistischen
synthetischen Informations-
fonds erfolgt nach dem dazu festgelegten A l g o r i t h m u s . A u c h in der Stufe des A u f b e r e i t e n s ist die Fehlersuche fortzusetzen. D a z u werden anderem Orientierungswerte,
Erwartungswerte herangezogen,
Zusammenhänge zwischen den Kennziffern
unter
funktionelle
ausgenutzt.
In der Stufe des A u s w e r t e n s der nun aufbereitet v o r l i e g e n d e n
Zahlen-
werte je Kennziffer b z w . Kennziffernkombination vollendet sich d e r in den vorangegangenen Arbeitsstufen begonnene Analyse-, S y n t h e s e - und Wertungsprozeß der D a t e n . Analyse, Bewertung und V e r g l e i c h der statistischen Angaben zum soziologischen U n t e r s u c h u n g s o b j e k t stehen im M i t telpunkt dieser Stufe. Die Weiterverarbeitung erster Einsichten, blicke zu den Merkmalen und Merkmalsentwicklungen des Objekts unter Zuhilfenahme weitergehender m a t h e m a t i s c h - s t a t i s t i s c h e r
Operatio-
nen und Verfahren. Erwartete Ergebnisse dieses A r b e i t s s c h r i t t e s problem- und hypothesenbezogene Aussagen,
Ein-
erfolgt sind
komprimierte Wertungen,
Ent-
wicklungsrichtungen, Entwicklungstempo, einschließlich der sie begleitenden Widersprüche, sowie das Ausarbeiten von Empfehlungen Schlußfolgerungen zur Lösung der herausgearbeiteten
und
gesellschaftlichen
Probleme. Der Weg zu diesem Ergebnis führt insbesondere über die E r s t e l lung von Gesamtübersichten,
die Einordnung der statistischen A n g a b e n in
größere Zusammenhänge, die Konfrontation der A n g a b e n mit den H y p o t h e sen. Wichtigstes Forschungsergebnis ist auch im Falle des E i n s a t z e s der Sekundäranalyse als Mittel der Informationsgewinnung
und H y p o t h e s e n p r ü -
fung das Angebot von Schlußfolgerungen unterschiedlichen Typs: bare Schlußfolgerungen, Empfehlungen
für die weitere
Brauch-
wissenschaftliche
Fundierung der problembezogenen politischen Führungstätigkeit
und
301
Schlußfolgerungen für die weitere theoretische und methodologischmethodische Arbeit der soziologischen Disziplin, der jeweiligen soziologischen Einrichtung selbst. Das zunehmende Interesse an dieser Methode ergibt sich aus verschiedenen Trends. Die mit dem Zentralen Forschungsplan der marxistischleninistischen Gesellschaftswissenschaften gestellten Aufgaben bis zum Jahr 1990 führen zu einem steigenden Bedarf an nationalen und internationalen Informationen. Eine planmäßige sekundäranalytische Verwertung des vorhandenen und quantitativ sowie qualitativ wachsenden statistischen Informationsfonds für die soziologische Forschung dient nicht nur der Deckung des Informationsbedarfs, sondern erlaubt auch eine Konzentration primäranalytischer Forschung auf Fragen, die sekundäranalytisch nicht bzw. nicht rationell untersuchbar sind. So können die Betriebe, Probanden und auch die Soziologen selbst von unnötigemBefragungs- und Untersuchungsaufwand entlastet werden. Hinzu kommt, daß die Sekundäranalyse nicht nur als Nebenmethode, sondern auch als Hauptmethode empirisch-soziologischer Untersuchungen nutzbringende zahlenmäßige Informationen erbringt. Zudem lassen sie sich in vielen Fällen noch kostengünstiger und zeitökonomischer gewinnen. Mit der Verbreitung und Integration von Klein- und Großrechentechnik sowie dem Aufbau verbaler und statistischer Informationsnachweise (Metadatenspeicher) in den soziologischen Einrichtungen und statistischen Organen ergeben sich weitere, neue Anwendungsmöglichkeiten der Methode. Auch perspektivisch gilt: Ihre Wirkung kann diese Methode nur voll entfalten, wenn sie ganzheitlich und im Rahmen des Gesamtkonzepts der Untersuchung geplant und realisiert wird.
302
Soziologie und Frieden
Ob.
f.
Soziologie
Klaus-Peter
und
An d e r S c h w e l l e forderungen,
Menschheitsfortschritt
d e s neuen J a h r t a u s e n d s
von deren B e w ä l t i g u n g
abhängen. Noch i s t
und K u l t u r noch
ist
in
einer
Welt
In Anbetracht
schichtstheoretische lem d a r a n kunft
messen l a s s e n ,
eine als
friedliche
"ganz
Philosophie
ist,
Fundamente auf
endgültig
und K o n z e p t i o n e n dazu b e i t r a g e n , in
eine
Idee"
dürfe
sich als
für humanistische einschließt,
dem H i n t e r g r u n d und d a r a u f
und P e r s p e k t i v e n
erscheint
der
oder aber betont anmaßen.
geöffnet.
Die
fußend,
wird,
Aufgabe
zu
schaffen,
Realitäten
der
des G e s c h i c h t s p r o z e s s e s
die Gesetzmäßigkeiten,
des h i s t o r i s c h e n
zu
Mensch-
weltanschau-
Entwicklungsstrategien
der D i a l e k t i k
a
Kommendes
zentraler
darin,
geschichtlichen
Zu-
suchen,
entscheidende
gerade
al-
Menschheit
Fortschritt
Bewältigung
die
ge-
heute v o r
lebenswerte
geistigen besteht
weltweit
und
und z u v e r s t e h e n
jedoch nicht
der
gesichert,
nicht
gesellschafts-
s a g e n was i s t ,
Heraus-
Zivilisation
zur Kooperation
der Kooperation,
und - e n t w i c k l u n g
zu e r f a s s e n
Widersprüche zu
sie
sie
vor
und d a s S c h i c k s a l
menschlicher
d i e s e m Zusammenhang a l l e r d i n g s
wohl eher v e r b a u t
was n o t w e n d i g e r w e i s e gesamt
Welt
Menschheit
Friedens nicht
Ideen
ob u n d w i e
die
Zukunft
müssen s i c h
der Zugang zur
der T h e o r i e b i l d u n g
Gegenwart
dessen
unvernünftige
, dann w i r d
heitsfragen liche
dauerhaften
könne v i e l l e i c h t
wie es geworden denken
ihre
Fortentwicklung
Denkmodelle,
z u e b n e n . Wenn i n
priori
die
steht
d i e Wende v o n d e r K o n f r o n t a t i o n
vollzogen.
Wege i n
1989
Florian
Epochenprozeß
Welt
und S o z i a l p o l i t i k
Prozesses
in
ins-
Triebkräfte, unserer
Zeit
entschlüsseln.
Grundpositionen Nach Marx tion
zu
sind,
sich
prozesses sche als 1 2 3
ist
der
fassen3, also
Fortschrittsbegriff da R e a l i t ä t
nur
erkennen
auf
dem H i n t e r g r u n d
und bestimmen
Fortschrittsdenken Totalität
nicht
und B e g r i f f
gründet
von E n t w i c k l u n g
lassen. deshalb
in
der gewöhnlichen
des F o r t s c h r i t t s der D i a l e k t i k Das in
und S t r u k t u r
Abstrak-
historisch
des
Geschichts-
historisch-materialisti-
aer Analyse menschlicher
realer
Geschichte
Gesellschaft.
R. Spaeman, F o r t s c h r i t t - e i n e ganz u n v e r n ü n f t i g e I d e e , i n : S ü d d e u t s c h e Z e i t u n g ( M ü n c h e n ) vom 2 0 . / 2 1 . A p r i l 1 9 8 5 . V g l . d e r s e l b e , Ende d e r M o d e r n i t ä t ? i n : Moderne o d e r P o s t m o d e r n e . Z u r S i g n a t u r des g e g e n w ä r t i g e n Z e i t a l t e r s , ( H r s g . ) von P . K o s l o w s k i , R . S p a e m a n , R . Low, I V e i n h e i m 1 9 8 6 , S . 3 9 / 4 0 . K . M a r x , E i n l e i t u n g z u r K r i t i k d e r P o l i t i s c h e n Ö k o n o m i e , i n : MEW, Bd. 13, B e r l i n 1975, S . 640.
304
Es geht von der sozialhistorisbhen Praxis der Menschen, deren realen Bedürfnissen und Interessen aus, bezieht sich auf die Entfaltung der produktiven Wesenskräfte der Menschheit als objektiver Grundlage menschheitsgeschichtlicher Höherentwicklung und entschlüsselt den fundamentalen entwicklungsgeschichtlichen Zusammenhang, daß die Menschen mit der Entwicklung ihrer produktiven Kräfte auch ihre sozialen Verhältnisse, Beziehungen und Institutionen ändern müssen, "um des erzielten Resultats nicht verlustig zu gehen, um die Früchte der Zivilisation nicht zu verlieren" 4 . Sozialer Fortschritt wird derart weder spekulativ behauptet noch willkürlich hergeleitet. Seine Grundlagen, Triebkräfte und Widersprüche werden vielmehr in ihrem realgeschichtlichen Dasein und in ihrer realgeschichtlichen Entwicklung betrachtet und bestimmt. Gesellschaftlicher Fortschritt erschließt sich uns als lebendiges und komplexes historisches Phänomen, das im Zusammenhang bzw. in Wechselwirkung mit dem kumulativen und widerspruchsvollen Entwicklungsprozeß der produktiven Kräfte der menschlichen Gattung zur Wirklichkeit gelangt, sich dabei als Resultante der Tätigkeit und des Widerstreits geschichtlicher Subjekte durchsetzt und damit auf widersprüchliche Weise in die Entwicklungsgeschichte der gesellschaftlichen Lebensformen der Menschheit, in die epochenprägenden Evolutions- und Transformationsprozesse der gesellschaftlichen Formationen eingeht, wie in diesen als weltgeschichtliche Tendenz - also unter Einschluß von Regression und Stagnation - zutage tritt. Dergestalt sind alle formationsbildenden und formationswandelnden Epochen der Menschheitsgeschichte auf ihre Art als Resultate, konkrete Wirklichkeit und widersprüchliche Bewegungsweise geschichtlicher Progression zu begreifen. Mit dem Hervortreten und der realen Entfaltung der Epochen formationeller Evolution und revolutionärer Transformation werden auf geschichtlich konkrete und sozial widersprüchliche Weise den produktiven Kräften der menschlichen Gattung neue Entwicklungsmöglichkeiten eröffnet, neue Räume erschlossen und neue Zwecke gesetzt, erfolgt als Resultante einander durchkreuzender und überlagernder sozialer Bestrebungen, Auseinandersetzungen und Kämpfe eine widerspruchsvolle und konfliktreiche Höherentwicklung der materiellen, sozialen, kulturellen und geistigen Potentiale der Menschheit, die an bereits hervorgebrachte Errungenschaften menschlicher Zivilisation und Kultur anknüpft, diese aufnimmt, bewahrt und befördert und dabei auch den partiellen Verlust, den Untergang und den Abbruch zivilisatorisch-kultureller Leistungen und Möglichkeiten einschließt. Alles in allem setzt sich in der Einheit von Formationsbildung und Formationswandel tendenziell eine progressive Entwicklungslinie des Geschichtsprozesses durch, die für die Menschheit als Ganzes bedeutsam ist, auch wenn die Masse der Völker in den frühen Geschichtsepochen andere Wege als die der "klassischen" Formationsfolge ging, in eigentümlichen Syntheseformen unterschiedlichster
4
Marx an Pawel Wassiljewitsch Annenkow. 28. Dezember 1846, in: MEW, Bd. 27, Berlin 1973, S. 453.
305
Formationsverhaltnisse oder in mehr oder minder stagnierenden,
"statio-
nären" Produktions- und Gesellschaftsformationen existierte. Die menschheitsgeschichtliche Bedeutung der progressiven Formations- und Revolutionsepochen ergibt sich daraus, daß gerade auf diesem strang die entscheidenden und Erfordernisse
Entwicklungs-
sozialen Ansatzpunkte, Impulse,
Triebkräfte
für die Durchsetzung des geschichtlich Neuen, vor al-
lem im Hinblick auf die Produktivkraftentwicklung
und damit für das
Fortschreiten des Geschichtsprozesses insgesamt, zu jeweils neuen, höheren Qualitätsstufen der Gesellschaftsentwicklung hervorgebracht
und
ausgeformt w u r d e n . 5 Zugleich wird deutlich, daß gesellschaftlicher
Fort-
schritt als innerer, notwendiger und sich reproduzierender
Wesenszug
formationeller Evolution und revolutionärer Transformation
selbst als
sich historisch entwickelndes Phänomen gedeutet werden muß, wobei ganz offenkundig sein geschichtliches Wirkungsfeld auf sehr widersprüchliche Weise an Breite und Tiefe gewinnt und seine Dynamik auf ebenso w i d e r sprüchliche Art wächst. So realisiert sich geschichtlicher
Fortschritt
in vorkapitalistischer Zeit wesentlich im Hervortreten und Werden nomisch-kultureller Zentren. Er bleibt gleichsam insular
öko-
eingegrenzt.
Erst mit dem Transformationsprozeß von der mittelalterlich-feudalen
in
die bürgerliche Gesellschaft universalisiert sich historischer Fortschritt tendenziell, setzt "eine bis dahin unbekannte
Beschleunigung
menschlichen Fortschritts ein" . Entwicklung und vVandel Der 1917 eingeleitete Epochenumbruch erschließt dem
geschichtlichen
Fortschritt neue Inhalte und Perspektiven, bringt neue Triebkräfte
pro-
gressiven Wandels hervor und schafft neue Konfliktfelder und Widerspruchskomplexe. Mit der Oktoberrevolution
und den ihr folgenden
lutionären Durchbrüchen setzt ein gesetzmäßiger
revo-
Transformationsprozeß
ein, dessen wesentliche Voraussetzung, Triebkraft und Konsequenz der universelle und globale Gattungsfortschritt
ist, im Sinne der mensch-
lichen Emanzipation von allen gesellschaftlichen Verhältnissen, die A u s beutung und Un terdrückung zeitigen, ökonomische und kulturelle
Rück-
ständigkeit bewirken, Gewalt und Kriege gebären und eine freie Entfaltung der produktiven Kräfte des Menschen und damit seiner
Individuali-
tät verhindern. Vor diesem Hintergrund ist unsere Epoche in grundsätzlicher Weise und auf einem hohen Abstraktionsniveau als "Epoche
sozia-
ler Revolution" im Marxschen Sinne zu begreifen, als Qualitätswandel in der Formationsgeschichte der Menschheit, der sich als Resultante
ver-
schiedenartiger,
sozia-
ineinandergreifender und einander überlagernder
ler Bestrebungen und revolutionärer Klassenkämpfe ausbildet, sich als variantenreicher Übergang der Völker von klassenantagonistischen 5 6
306
Gesell-
Vgl. Der tätige Mensch, (Hrsg.) A. Bauer, W. Eichhorn, Berlin 1987, S. 73/74. K. Holzapfel, M. Kossok, 1789 und der Revolutionszyklus des 19. Jahrhunderts: Ereignis und Wirkung, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 12/1986, S. 1059.
schaftsstrukturen zum Sozialismus/Kommunismus
realisiert und sich dabei
zu einem weltumfassenden historischen G e s a m t p r o z e ß des
Formationswechsels
e n t f a l t e t 7 . So sind wir konfrontiert mit einem langwierigen,
wechsel-
vollen und widersprüchlichen Aufbruch der Menschheit zu neuen
Formen
der sozialen Organisation und des Zusammenlebens der Völker, d,er die G e schichte für eine friedliche, progressive durch Humanität
charakteri-
sierte Zukunft öffnet. Ein realistisches, begründetes und objektivierbares Fortschrittsdenken muß sich deshalb an diesem allgemeinen heitsgeschichtlichen Zusammenhang orientieren und dabei dessen
menschreale
Dialektik in sich aufnehmen. Das kann nur heißen, die wirkliche tur und Dynamik formationsbildender und formationswandelnder die ganze Vielschichtigkeit
Struk-
Prozesse,
und Widersprüchlichkeit der S u b j e k t ö n t w i c k -
lung und damit die komplexe Entwicklung der sozialhistorischen
Praxis
der Menschen ins Blickfeld zu rücken und die sich daraus herleitenden Konsequenzen, weltanschaulich-theoretischer Art, für das Begreifen Charakters und des Verlaufs von Formationsgeschichte,
mithin der
des
Inhalte,
Triebkräfte und Widersprüche historischen Fortschritts in unserer Zeit herauszuarbeiten. Dergestalt sind zumindest zwei unmittelbar
miteinan-
der verknüpfte und aufeinander bezogene geschichtsphilosophische sichten für das Verständnis von Epochenprozeß und
Ein-
Menschheitsfortschritt
besonders hervorzuheben. Zum einen dürfte klar geworden sein, daß E p o chenprozeß und Menschheitsfortschritt
keine Dichotomie bilden, also
danklich nicht voneinander getrennt oder gar einander
setzt werden können. Vielmehr haben wir es hierbei mit einem notwendigen und sich reproduzierenden
realgeschichtlichen
zu tun, im Sinne des komplizierten, langwierigen und Obergangs der Menschheit aus der antagonistischen
inneren,
Zusammenhang
konfliktreichen
Gesellschaftsgeschich-
te in den kommunistischen Formationsprozeß und der damit widersprüchlichen Entfaltung ihrer materiellen,
ge-
entgegenge-
einhergehenden
sozialen und geistig-
kulturellen Potentiale. Die gegenwärtige Epoche ist so gleichermaßen weltgeschichtliches Resultat, konkrete Realität und widersprüchliche wegungsweise historischen Fortschritts. Ihr realer Verlauf macht
Be-
deut-
lich, daß es eine geschichtliche Alternative zum Kapitalismus und d e s sen ökonomischen und sozialen Antagonismen in Gestalt des S o z i a l i s m u s gibt, dessen objektive Fortschrittsfunktion
gerade darin besteht, die
Entwicklung der produktiven Kräfte in den Dienst der allgemeinen
Wohl-
fahrt menschlicher Sozietät und Individualität zu stellen und dadurch der menschlichen Gattung den Weg in eine friedliche und humane Zukunft zu ebnen. Mit dieser grundsätzlichen Erkenntnis verbindet sich zum anderen der Gedanke, daß mit dem fortschreitenden Epochenprozeß, mit der umfassenden Entfaltung seines Grundwiderspruchs,
mit der wachsenden
namik und Widersprüchlichkeit der Produktivkraftentwicklung
7
Dy-
und der hier-
Vgl. R. Barthel, Lenins Theorie der sozialistischen Revolution und die Spezifik des Formationswechsels vom Kapitalismus zum Sozialismus, in: Formationstheorie und Geschichte, (Hrsg.) E. Engelberg, W . Küttler, Berlin 1978, S. 537. 307
in letztlich wurzelnden und sich kräftig ausformenden Tendenz zu Universalität und Globalität von Geschichte neue Grundlagen,
realer
Bedingun-
gen, Triebkräfte, Erfordernisse und Widersprüche historischer Progression wirksam werden, so daß sich die Frage nach den konkreten
Inhalten,
Möglichkeiten und Perspektiven des Menschheitsfortschritts auf neue Weise stellt. A l l e s in allem ist unsere Epoche, wie W. Eichhorn und W . Küttler darlegen, als weltgeschichtlicher Revolutionszyklus zu ent-
Q
schlüsseln , in dem offensichtlich verschiedene
Entwicklungsschübe
menschheitsgeschichtlicher Progression unter Einschluß regressiver Elemente und zeitweiliger Fehlentwicklungen hervortreten, Zäsuren bei der Durchsetzung und Entfaltung sozialen Fortschritts mit zum Teil
konflikt-
artigen Zuspitzungen erkennbar sind. So erfolgt mit der Oktoberrevolution gleichsam der primäre D u r c h bruch zu einer neuen geschichtlichen Qualität und Bewegungsform
gesell-
schaftlichen Fortschritts, im Sinne der humanistisch orientierten
Lö-
sung bzw. des Lösungsbeginns zentraler Entwicklungsprobleme der menschlichen Gesellschaft wie Ausbeutung, Unterdrückung,
Rückständigkeit,
Krieg und Frieden. Hier werden reale Fortschrittsleistungen
erbracht,
die von grundlegender Bedeutung für den weiteren Geschichtsverlauf, die Geschicke der menschlichen Zivilisation sind und deren
für
umfassende
historische Bewertung auch den Blick auf die in die Zeit des Personenkults fallenden Verformungen des Sozialismus, 9die politischen akte und Rechtsverletzungen einschließen
Willkür-
muß.
Ein weiterer qualitativer Entwicklungsschub geschichtlichen
Fort-
schritts vollzieht sich nach dem Ende des zweiten Weltkrieges mit der Herausbildung und Entfaltung des sozialistischen Weltsystems. Der Menschheitsfortschritt erhält neue Impulse vor allem dadurch, daß der Sozialismus seine ökonomischen Potenzen und sozialen Vorzüge auf
breiter
Front entfaltet, sein humanistischse Wesen ausformt und als friedensstiftende Kraft in Erscheinung tritt. Ferner erleidet der Imperialismus mit dem Zusammenbruch des Kolonialsystems eine schwere historische
Nie-
derlage, sein direkter Macht- und Einflußbereich wird eingeengt, in seinen Metropolen ist ein Aufschwung demokratischer
Massenbewegungen
bzw. eine Intensivierung gesellschaftlicher Auseinandersetzungen zu verzeichnen. Gleichzeitig treten markante Entwicklungswidersprüche
in Er-
scheinung. Das Werden des Sozialismus zum Weltsystem verläuft in w i d e r spruchsvollen Bahnen,_ zeitweilig werden Entfremdungen in den Beziehungen zwischen einzelnen sozialistischen Staaten infolge politischer orientierungen wirksam. Auch entstehen in verschiedenen
Ländern Krisensituationen, die mit dem Versuch der Konterrevolution hergehen, Fuß zu fassen. Im Hinblick auf die historische
9
303
ein-
Grundsituation
der ehemaligen Kolonialvölker zeigt sich, daß die nationalen 8
Fehl-
sozialistischen
Befreiungs-
Vgl. W. Eichhorn, W. Küttler, daß Vernunft in der Geschichte sei. Formationsgeschichte und revolutionärer Aufbruch der Menschheit (unveröffentlichtes Manuskript). Vgl. M. S. Gorbatschow, Umgestaltung und neues Denken für unser Land und für die ganze Welt, Berlin 1988, S. 46.
revolutionen in der Regel nicht zur ökonomischen Befreiung geführt haben. Die Subsumtion der Entwicklungsländer unter die Profitprinzipien der kapitalistischen Weltwirtschaft und die massive neokolonialistische Strategie imperialistischer Metropolen verschärft die existentiellen Daseinsfragen dieser Länder auf dramatische Weise. In den Metropolen selbst erweist sich die Bourgeoisie als lernfähig; mit einer Politik der Zugeständnisse und sozialer Reformen wird der Versuch unternommen, systemstabilisierende Wirkungen zu erzielen. In die skizzierten widersprüchlichen geschichtlichen Vorgänge eingebettet und mit ihnen auf vielfältige Weise verknüpft setzt in der Mitte unseres Jahrhunderts eine Produktivkraftrevolution größten Stils ein, die nicht nur einen nächsten Entwicklungsschub historischen Fortschritts markiert, sondern in wachsendem Maße als materielles Fundament einer globalen entwicklunqsgeschichtlichen Wende wirksam wird, insofern als sich mit der wissenschaftlich-technischen Revolution strategische Herausforderungen verbinden, von deren Bewältigung Fortexistenz und Fortentwicklung menschlicher Zivilisation und Kultur abhängen. Die wissenschaftlich-technische Revolution geht in beiden Gesellschaftssystemen 10 vor sich , sie ist deren formationeller Evolution immanent, wie sie diese zunehmend zugleich prägt und wandelt, wobei der Kapitalismus bislang einen bestimmten technologischen Vorsprung aufzuweisen hat. Diese Produktivkraftrevolution greift immer tiefer in alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebensprozesses, unter Einschluß der Sozial- und Wirt11 schaftsstruktur , des Verhältnisses von Mensch und Natur und der Beziehungen zwischen den Staaten und Völkern ein. Sie universalisiert den historischen Prozeß, forciert die Vergesellschaftung und vertieft die wechselseitige Abhängigkeit der Staaten und Völker. Mit Blick auf den realen Verlauf der wissenschaftlich-technischen Revolution und die gesellschaftlich determinierte Anwendung ihrer Ergebnisse wird dabei offenkundig, daß ihr eine universelle Potenz innewohnt, die sowohl in den Dienst menschheitsgeschichtlicher Progression gestellt werden kann, als auch existentielle Gefahren für den Fortgang der menschlichen Entwicklungsgeschichte überhaupt heraufbeschwört. Einerseits bietet sich die reale Möglichkeit, überkommene Menschheitsprobleme wie Hunger, Armut, Not und Unwissenheit endgültig zu überwinden, die natürlichen Lebensgrundlagen der Gesellschaft zu bewahren und vernünftig zu nutzen, die produktiven Wesenskräfte des Menschen umfassend zu entfalten, den ganzen Deziehungsreichtum menschlicher Individualität als Grundlage und Konsequenz von Gesellschaftsentvvicklung auszubilden, reale Humanität durch kollektiven und individuellen Freiheitsgewinn durchzusetzen. Andererseits spitzen sich die Widersprüche, die aus dem Einsatz von Wissen10 Vgl. G. Kröber, Die Große Sozialistische Oktoberrevolution und die wissenschaftlich-technische Revolution der Gegenwart, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 10/1987, S. 888. 11 H. Jung, Umbruchperiode? Die BRD bis zum Jahre 2000, in: Marxistische Studien. Jahrbuch des IMSF 9 11/85, Frankfurt a. Main 1985, S. 19. 309
Schaft und Technik für destruktive Zwecke hervorgehen, enorm zu, erge12
ben sich vielfältige und gravierende "Bedrohungen der Humanität"
, wo-
bei vor allem durch die Hochrüstung gewaltige Gefahren für Dasein
und
Entwicklung der menschlichen Gattung heraufbeschworen werden. V o r dem Hintergrund der modernen Kriegstechnik ist die Menschheit erstmals in die Entscheidungssituation von Sein oder Nichtsein gestellt, lautet die Alternative nicht mehr schlechthin Frieden oder Krieg, sondern nur noch Frieden oder Untergang. Aber auch im Hinblick auf das Mensch-Natur-Verhältnis treten je länger je mehr tiefgehende und krasse
Widersprüche
hervor, die zu einem "ökologischen Infarkt" führen können. Explosive Gefahren erwachsen schließlich aus der Tatsache, daß bislang mit jedem Entwicklungsschritt der wissenschaftlich-technischen nomische und kulturelle Rückständigkeit größert wird, Not und Elend gigantisch
Revolution die öko-
in den Entwicklungsländern
ver-
anwachsen.
So ist die Menschheit an der üahrtausendwende mit globalen
Heraus-
forderungen konfrontiert, die bewältigt werden müssen, wenn die natürlichen und sozialen Existenzgrundlagen der menschlichen Gesellschaft wahrt und ihre Entwicklungsgeschichte
be-
fortgesetzt werden soll. Diese
Herausforderungen zu erkennen, anzunehmen und schrittweise zu bewältigen, ist praktische Aufgabe und Pflicht jeglicher
vernunftorientierter
Politik und damit geistige Aufgabe und Pflicht jeglichen
Fortschritts-
denkens in unserer Zeit, im Sinne der Schaffung weltanschaulicher
Fun-
damente für humanistische politische Entwicklungsstrategien, die der 13 Globalität
, der Dynamik und der Widersprüchlichkeit heutiger Mensch-
heitsgeschichte adäquat sind. Dabei erlangt der bereits erwähnte mentale entwicklungsgeschichtliche Zusammenhang, daß die Menschen der Entwicklung ihrer produktiven Kräfte gezwungen sind, ihre
fundamit
gesell-
schaftlichen Verhältnisse und Lebensformen zu ändern, konkrete
Wirksam-
keit insofern, als die Menschheit vor die objektive geschichtliche A u f gabe gestellt ist, Korrekturen an Grundzügen ihrer bisherigen lung v o r z u n e h m e n . * 4 Es geht vor allem darum, die
Entwick-
existenzbedrohenden
Bahnen der Konfrontation und der Hochrüstung zu verlassen, umfassend abzurüsten, Gewalt und Aggression aus den internationalen Beziehungen zu verbannen, ein weltweites System gemeinsamer Sicherheit zu schaffen
und
mit alldem einen Zustand friedlichen Systemwettbewerbs und der Zusammenarbeit herbeizuführen, auf dessen Grundlage die gravierenden
Gegenwarts-
und Zukunftsprobleme der Menschheit schrittweise gelöst werden
können.
Damit erschließt sich die Möglichkeit eines neuen Abschnitts bzw. Entwicklungsschubs menschheitsgeschichtlicher Progression, der aus den Be12 13 14
310
H. Hörz, Anforderungen an eine Methodologie der Kooperation. Philosophische Positionen, in: Der Frieden und die politische Theorie der Gegenwart, (Hrsg.) K.-H. Röder, Berlin 1988, S. 65. Vgl. M. Schmidt, Globalität - Grundzug heutigen politischen Denkens und Handelns, in: Ebenda, S. 142-160. Vgl. vV, Eichhorn, Theorie der Gesellschaftsformation. Notizen zu aktuellen Aufgaben, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 11/1987, S. 937.
dingungen und Tendenzen de9 gesellschaftlichen Formationsprozesses, den Erfordernissen
und Widersprüchen der Produktivkraftentwicklung
aus her-
vorgeht, eine spezifisch neue Daseins- und Bewegungsweise der Menschheit, der Entwicklung, Austragung und Lösung ihrer Widersprüche und Konflikte verkörpert, in sich selbst also widersprüchlich
ist. Er kann nur
dadurch Wirklichkeit werden, daß die Menschheit sich als Subjekt eigenen Geschichte begreift und als Akteur des historischen in Erscheinung
tritt, daß die Völker sich gegen die
Bestrebungen des militörisch-industriellen
ihrer
Prozesses
friedensbedrohenden
Komplexes zur Wehr setzen,
eine breite Verantwortungs- und Handlungsgemeinschaft
unterschiedlich-
ster sozialer Kräfte wirksam wird und nicht zuletzt dadurch, daß der Sozialismus seine Triebkräfte und innovatorischen Fähigkeiten voll zur Geltung
bringt.
Koexistenz und Wettbewerb Mit dem Blick auf die vielfältigen
und gravierenden Gegenwarts- und Zu-
kunftsprobleme der menschlichen Gesellschaft verbindet sich die Erkenntnis, daß der Menschheitsfortschritt
sich nur als lebendiger und wider-
sprüchlicher Zusammenhang verschiedener geschichtlicher Ebenen
oder
Felder realisieren kann. Hier wären zu nennen: die Beherrschung der wissenschaftlich-technischen
Revolution im Sinne zunehmender Humanität,
der vernünftige Umgang mit den natürlichen Ressourcen und
Lebensgrund-
lagen der Gesellschaft, die allmähliche Beseitigung ökonomischer und kultureller Rückständigkeit, das Ringen um eine Wende zu demokratischem und sozialem Fortschritt in den Metropolen des Kapitals und vor allem die komplexe Entfaltung aller Triebkräfte und innovatorischen
Potentiale
der sozialistischen Gesellschaft. Dabei finden alle Bezugsebenen Möglichkeiten historischen Fortschritts in der Friedensfrage menschheitsgeschichtlichen
und
ihren
Konzentrationspunkt. "Der Krieg darf im Nu-
klearzeitalter kein Mittel der Politik mehr sein. Zwischen atomar gerüsteten Bündnissen wäre er das Ende jedweder Politik, die Zerstörung aller Zwecke. Friedenssicherung ist zur Grundvoraussetzung aller verant15 wortbaren Politik geworden" . Derart muß heute jedes Ringen um historischen Fortschritt in der Bewahrung des Friedens seine zentrale Achse finden, ist es ein kategorischer Imperativ jeder
verantwortungsbewußten
und vernunftorientierten Politik, der Friedenssicherung höchste Präferenz zuzuweisen. In der praktischen Konsequenz kann dies nur bedeuten, dem Prinzip der friedlichen Koexistenz zum Durchbruch zu verhelfen
und
es umfassend zur Geltung zu bringen. Die friedliche Koexistenz nimmt mit der Oktoberrevolution, mit der sich staatlich organisierenden Arbeiterklasse und der ihrer marxistisch-leninistischen
Führungstätigkeit
Partei konkrete Gestalt an und erlangt
mit fortschreitendem Epochenprozeß und der wachsenden Globalität 15
Vgl. Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit, Neues Deutschland vom 29. August 1097.
und in:
311
Universalität
von Formationsgeschichte
Geschicke der menschlichen daran bestehen,
fundamentale Bedeutung
für d i e
Z i v i l i s a t i o n . Heute kann kein Zweifel
daß die friedliche Koexistenz
sowohl
m u s a l s a u c h für d e n I m p e r i a l i s m u s d i e " C o n d i t i o
f ü r den
mehr
Sozialis-
sine qua n o n
ihrer
1 fi Existenz"
b i l d e t , da sie die e i n z i g m ö g l i c h e A l t e r n a t i v e
samen U n t e r g a n g Unterschiede nivelliert
bildet. Die
zwischen den beiden Gesellschaftssystemen
nicht deren verschiedenartige
tische Organisationsformen Grundwiderspruch
zum
friedliche Koexistenz hebt die
nicht
auf,
iVirtschaftsstrukturen,
und I d e o l o g i e n
und s c h a f f t d e n
aus und bringt Bewegungsformen der gesellschaftlichen
einfach
sie den K r i e g a l s M i t t e l d e r
für d i e A u s e i n a n d e r s e t z u n g
gefährdet wird,
Politik
der
S y s t e m e u n d den S t r e i t d e r I d e o l o g i e n
durch die der Frieden nicht
Klassen, hervor,
so d a ß d e r M e n s c h h e i t
Perspektive
eines stabilen
F r i e d e n s und d a m i t
Progression
realer
eröffnet wird. Bereits hieraus wird ersichtlich, fungiert vielmehr als vielschichtiges
z i e r t . Sie Methoden
daß
das insgesamt darauf
und ein F o r t s c h r e i t e n
G a t t u n g zu e r m ö g l i c h e n . So k o n s t i t u i e r t jenes entscheidende
gewährleistet
Aus der Erkenntnis, minierten Gegensätze den M i t t e l n
werden
historisch-ökonomisch
z w i s c h e n den b e i d e n F o r m a t i o n s s y s t e m e n können,
für den F o r t g a n g d e r
Perspektiven legenheit
1.6
312
Herausforderungen,
umfassend zu entfalten,
zu g e h e n
v o r d e n e n die
und d a f ü r v e r n u n f t o r i e n t i e r t e ,
sozialen
um
Menschheit
humanistische Über-
Wesenskrüfte
die e f f e k t i v e r e n W o g e b e i d e r
und k u l t u r e l l e n P o t e n t i a l e
und die h i s t o r i s c h w i r k s a m e r e n ,
E. W o i t , S y s t e m g e g e n s a t z und W e l t f r i e d e n , für P h i l o s o p h i e , 1 2 / 1 9 8 6 , S. 1 0 8 2 .
in-
deren
seine h i s t o r i s c h e
d a s in d e r L a g e ist, d i e p r o d u k t i v e n
der materiellen,
sellschaft
In d i e s e m ¡Vettbewerb g e h t e s um d i e
aufzuzeigen. Hier wird jenes System
beweisen,
des Menschen wicklung
strategischen
zu bewältigen
den prä-
menschlichen
und P o t e n z e n d e r G e s e l l s c h a f t s s y s t e m e ,
die
sich
zwischen
geht a u s
erlangt.
steht,
mit
h e r v o r und w i r d d i e s e z u n e h m e n d
neren
Fähigkeit,
deter-
leitet
Entwicklungsgeschichte
heute
ihre
Systemwettstreit
friedliche Wettbewerb der Systeme
so d a ß er h e r a u s r a g e n d e B e d e u t u n g sozialen Vorzüge
heute
nicht
ab, d a ß die h i s t o r i s c h e A u s e i n a n d e r s e t z u n g
kann. Der
ist,
menschlichen
kann.
daß die objektiven,
E p o c h e n - und F o r t s c h r i t t s p r o z e s s e n gen,
gerichtet
der
ohne das weder ihr Fortbestand noch
K a p i t a l i s m u s und S o z i a l i s m u s n u r n o c h a l s f r i e d l i c h e r geführt werden
Formen,
Systemwett-
Entwicklungsprinzip
militärischer Gewalt ausgetragen werden
die S c h l u ß f o l g e r u n g
des
die friedliche Koexistenz
und f u n d a m e n t a l e D a s e i n s - und
der menschlichen Gesellschaft, Fortentwicklung
ausdehnungsfähiges
menschlicher Existenz,
b e w e r b s und d e r S y s t e m k o o p e r a t i o n , den F r i e d e n d a u e r h a f t z u m a c h e n
und
sich redu-
und m i t e i n a n d e r k o m m u n i z i e r e n d e n
und W e g e n d e r S i c h o r u n g
die
geschichtlicher
f r i e d l i c h e K o e x i s t e n z n i c h t auf die b l o ß e A b w e s e n h e i t v o n K r i e g System von ineinandergreifenden
sie
poli-
epochalen
z w i s c h e n S o z i a l i s m u s und K a p i t a l i s m u s n i c h t
a u s d e r W e l t . '.Vöhl a b e r s c h l i e ß t
gemein-
bestehenden
der
EntGe-
überzeugenderen
in: D e u t s c h e
Kon-
Zeitschrift
zepte
für d i e L ö s u n g g l o b a l e r M e n s c h h e i t s f r a g e n
tisch durchzusetzen. Der
auszuarbeiten
friedliche Systemwettstreit
als komplexer geschichtlicher Prozeß zu begreifen, mit d e r F r i e d e n s s i c h e r u n g
die F r a g e
rücken wird,
in d e s s e n
Zentrum
Revolution
sozialen Ziele und Zwecke damit v e r f o l g t
und w i e i h r e E r g e b n i s s e
genutzt werden. Dabei zeigt die
reale
der
schen Revolution die materiellen Potenzen
des Kapitalismus zwar
gen d i e E n t w i c k l u n g senschaft
und k u l t u r e l l e n
für d i e s t ä n d i g e
Lebensprozesses
g e w o r d e n . G l e i c h w o h l w u r d e n die V o l k s w i r t s c h a f t e n l i s t i s c h e r L ä n d e r in d e n z u r ü c k l i e g e n d e n Schwierigkeiten Revolution
gestellt, was nicht der
als solcher geschuldet
ist,
Im Z u s a m m e n h a n g
tivkraft revolution werden schaftlichen Stichworten lität" einen
der
Werktätigen
verschiedener
üahren vor nicht
sozia-
unerhebliche
wissenschaftlich-technischen sondern vielmehr der
ungenügen-
friedlichen
auf
daß die
Indes stellt
strategische Herausforderung
an den
und H u m a n i t ä t
für die S i c h e r u n g
gekennzeichneten
es der sozialistischen
Gesellschaft
ervieiterten R e o r o d u k t i o n s t y p s gelingt,
daß
Menschheitszukunft
selbst
Front vorzustoßen,
boi der Entwicklung
gien zun V o r r e i t e r zu werden
dar, Fort-
über-
im M i t t e l p u n k t , dos
all ihrer Vorzüge
und b e i m Z i n s a t z d e r
b e f i n d l i c h e n '.Veit kann
einer
breit
und
und ö k o n o n i s c h
ef-
s i c h in v/echselseitigon
v/et tot reit d a b e i K i t e i n e r k o e x i s t e n t i c l l e n K o o p e r a t i o n heit ein d r i n g e n d e s G e b o t d e r Z e i t
Fortzu
Schlüsseltechnolo-
und m u ß s i c h d e r f r i e d l i c h e
g e r a d e mit D l i c k auf die g r a v i e r e n d e n
wie
intensiv
i'/cltopitzonleistungen
und sie m ö g l i c h s t
f e k t i v anzüivendon. V o r d e m H i n t e r g r u n d
Gescllsc'ioftssysteme
kaum
eine
Ent-
Frieden,
bei voller Durchsetzung
und Linter ü u t z u n g
und
praktisch
an s e i n e
einer durch
die
geführt
auf der.i F e l d d e s w i s s e n s c h a f t l i c h - t e c h n i s c h e n
s c h r i t t s an d i e v o r d e r s t e
hängigkeiten
auf
Staats-
der Systemwettbewerb
s c h ä t z t v/erden k a n n . A u c h h i e r stellt a l s o die F r a g e
erbringen,
drängt
sozialistische
den
"Individua-
und an s e i n e L e i s t u n g s - u n d I n n o v a t i o n s f ä h i g k e i t
deren historische Bedeutung
Triebkräfte
sich m i t
und
ihre Ü b e r l e g e n h e i t
realen Sozialismus,
Produkgesell-
in E r k e n n t n i s d e r T a t s a c h e ,
immer mehr Gebieten
unter Beweis stellen wird.
schritt
zu
n u r n o c h auf d i e s e W e i s e g e s c h i c h t l i c h
u n d in d e r O b e r z e u g u n g ,
vvicklungsdynamik
die
"Freiheit"
lassen. Die sozialistische Gemeinschaft Systemwettstreit,
Wirtschaftsordnung
entwickeln,
"Demokratie",
und
der
ferner solche Problemkomplexe
"Arbeit",
Systemauseinandersetzung kann,
sich
tiefgreifenden Wirkungen
Feldern des Systemwettbewerbs "Umwelt",
umschreiben
werden
mit den
Wis-
Erwei-
den K o n s e q u e n z und d e m u n g e n ü g e n d e n T e m p o b e i i h r e r D u r c h s e t z u n g Forcierung.
Fort-
Bedingun-
auf dem modernen N i v e a u von
und Technik zum entscheidenden M i t t e l
terung des materiellen
be-
mit einem
ist u n t e r s o z i a l i s t i s c h e n
der Produktivkräfte
werden
wissenschaftlich-techni-
daß dies aber nicht einhergeht
schritt der Humanität. Demgegenüber
und
voran-
Entwick-
lung, d a ß sich mit d e m b i s h e r i g e n V e r l a u f trächtlich erhöht haben,
prak-
allemal
mit w e l c h e m T e m p o
in w e l c h e r I n t e n s i t ä t d i e w i s s e n s c h a f t l i c h - t e c h n i s c h e getrieben wird, welche
und
ist a l s o
Ab-
Gystcin-
verbinden,
die
Entwicklungsprobleme
der
Mensch-
ist. Die Zusammenarbeit
der
beiden
u m f a ß t die v e r s c h i e d e n s t e n
Gebiete
und k a n n
in
viel-
313
fältigen Formen praktiziert werden. Seitens der sozialistischen
Gemein-
schaft liegt ein ganzes Paket von Vorschlägen für eine solche Zusammenarbeit vor, das unter anderem Möglichkeiten der gemeinsamen, Erschließung des Kosmos und der Kooperation auf ökonomischem, 17 und kulturellem Gebiet enthält.
17
314
friedlichen sozialem
Vgl. Erklärung der Teilnehmerstaaten des ',7arschauer Vertrages von Gofiü 19C5, in: ilcuos Deutochlund vor.i 24. Oktober 1905.
O b . f. S o z i o l o g i e
Wolfram
und S o z i a l p o l i t i k
1989
Meischner
Geschichtliches zum psychologischen
Friedensdenken
Die Herausbildung einer systematischen psychologischen
Friedensfor-
schung ist e i n e b e z e i c h n e n d e E n t w i c k l u n g s t e n d e n z u n s e r e s
Fachgebietes
in der G e g e n w a r t . Sie b i l d e t ein H a u p t f e l d d e s w e l t w e i t e n g e m e n t s von P s y c h o l o g e n ,
Friedensenga-
an dem a u c h V e r t r e t e r u n s e r e s L a n d e s a k t i v
teiligt sind, um mit den M ö g l i c h k e i t e n
und M i t t e l n i h r e r
z u r S i c h e r u n g d e s W e l t f r i e d e n s und z u r A b r ü s t u n g
beizutragen.
B e r e i t s die e r s t e n E r g e b n i s s e d i e s e r B e m ü h u n g e n
sind
chend, z e i g e n sie doch, d a ß d a s F r i e d e n s e n g a g e m e n t einem international wirksamen
vielverspre-
der Psychologen
Faktor der Weltfriedensbewegung
kelt w e r d e n k a n n . N o c h nie in ihrer G e s c h i c h t e e i n e r solchen H e r a u s f o r d e r u n g ,
be-
Wissenschaft
zu
entwik-
s t a n d die P s y c h o l o g i e
den F r i e d e n d e s L e b e n s sichern zu h e l f e n und den F o r t s c h r i t t
des
M e n s c h s e i n s und d e r V ö l k e r v e r s t ä n d i g u n g w i r k s a m b e f ö r d e r n zu
können.
Die psychologische
Friedensforschung
der Gegenwart
kann b e r e i t s
auf
eine reiche T r a d i t i o n v e r w e i s e n . Sie v e r m i t t e l t
in U m f a n g und
scher V i e l f a l t ein r e p r ä s e n t a t i v e s B i l d von d e n
Einsatzmöglichkeiten
der P s y c h o l o g i e
im F r i e d e n s k a m p f . G r u n d l e g e n d
schungsschwerpunkte,
themati-
sind j e d o c h j e n e
die d e r G l o b a l i t ä t d e s h e u t i g e n
a n g e m e s s e n und damit v o r a l l e m i n t e r d i s z i p l i n ä r e n
For-
Friedensproblems
Problemstellungen
z u o r d n e n sind: E r s t e n s geht es darum, d a s F r i e d e n s k o n z e p t n e u e n len D e n k e n s und seine V e r w i r k l i c h u n g
a u c h p s y c h o l o g i s c h zu
sowie um den B e i t r a g d e r P s y c h o l o g i e z u e i n e r u m f a s s e n d e n spannenden Friedens-, Verständigungs-
globa-
und
weltum-
und S i t t l i c h k e i t s e r z i e h u n g ,
d e r l i c h ist. Z w e i t e n s ist es u n a b d i n g b a r n o t w e n d i g , für j e d w e d e
ten, für p s y c h o l o g i s c h e
die
erfor-
allen M i ß b r a u c h
friedens- und s i c h e r h e i t s g e f ä h r d e n d e Kriegführung
zu-
fundieren
für e i n e sichere, g e r e c h t e und u n u m k e h r b a r e W e l t f r i e d e n s o r d n u n g Psychologie
vor
dem G e s a m t w o h l d e r M e n s c h h e i t z u d i e n e n ,
usw. zu unterbinden
der
Aktivitä-
und ein
für
a l l e m a l a u s dem Z u s a m m e n l e b e n der V ö l k e r zu v e r b a n n e n
sowie a l l e
dowissenschaftlichen
Friedensbewegung
K o n z e p t e und K o n s t r u k t e ,
und V ö l k e r v e r s t ä n d i g u n g
die d e r
e n t g e g e n g e s t e l l t w e r d e n , zu w i d e r l e g e n
pseu-
und
zu-
rückzuweisen. Anläßlich der Gründung des internationalen Komitees "Psychologen Kampf
für Frieden,
im
gegen die G e f a h r e i n e s n u k l e a r e n K r i e g e s " hat 0 .
S c h o r o c h o v a , M i t g l i e d d e s Komitees,
stellvertretende Direktorin des
s t i t u t s für 'Psycholo'gie d e r A k a d e m i e die N o t w e n d i g k e i t d e r A u s a r b e i t u n g Gesamtbildes des Menschen ler V e r a n t w o r t l i c h k e i t
der Wissenschaften der UdSSR,
eines wissenschaftlich
auf
fundierten
sowie auf d i e B e d e u t u n g d e r E r z i e h u n g
jedes Menschen
In-
für d a s S c h i c k s a l der
sozia-
Menschheit
315
hingewiesen. In ihrem bedeutungsvollen Interview führte sie weiter aus: "Der Begriff
'Frieden' orientiert seinem Inhalt nach auf Einheit,
Soli-
darität und gegenseitiges Verständnis. Frieden - das ist Fehlen von Streit, Feindschaft, Uneinigkeit, Krieg. Frieden - das ist Eintracht, Einvernehmen, Einmütigkeit, Zuneigung, Freundschaft, Wohlwollen. Frieden - das ist Stille, Ruhe, Es gibt aber noch einen anderen Sinn, den dieser Begriff enthält. Im Russischen bedeutet
'mir' Frieden wie auch
Welt, Planet, Weltall, Erdball, die nach bestimmten Merkmalen vereinigte Menschengemeinschaft. Diese beiden Bedeutungen des
russischen
Wortes 'mir' verschmelzen in der Vorstellung von einer vereinigten Menschheit, die in Einvernehmen, Wohlwollen, Ruhe, ohne
Feindschaft,
Streit und Kriege lebt. Gegenseitiges Verständnis, Austausch,
gegensei-
tige Achtung, Zusammenarbeit - all das hat zweifellos seine psychologischen Aspekte, die nicht aus unserem Blickfeld geraten. Doch einen besonderen Platz nimmt heute wohl das Problem des Vertrauens ein. Mit Vertrauen ist die Formierung der öffentlichen Meinung und der psychologischen Bereitschaft zur Wahrnehmung dieser oder jener Erscheinungen verbunden. Die Bereitschaft zur Abrüstung ist an gegenseitiges Vertrauen gebunden. Es beruht auf der Überzeugung, daß die Vertragspartner keine aggressiven,
sondern freundschaftliche Absichten hegen und ihr
Verhalten voraussagbar
ist.
Eine andere Linie des Beweises zugunsten einer psychologisch
fun-
dierten Friedenskonzeption verläuft von der Erforschung des Sozialen in den zwischenmenschlichen Wechselbeziehungen. Die Wissenschaften davon, daß bereits in der Etymologie der Worte 'sozial' und
zeugen
'Kommuni-
kation' Merkmale und Charakteristika des Menschen als sittliches und humanes Wesen, als Wesen, das für das allgemeine Wohl geschaffen wurde, synthesiert sind. Begonnen bei den assyrischen Legenden bis in unsere Tage haben die größten Geister der Menschheit das Augenmerk auf die G e samtheit der Interessen der Menschen und auf ihr natürliches Streben nach Einheit gelenkt. Die Logik des modernen Lebens ist so, daß die Menschen heute wie nie zuvor miteinander verbunden und voneinander abhängig sind. Und die hochmoralischen, zivilisierten Beziehungen schen Menschen und Völkern - das ist nicht nur die einzige sondern auch psychologische
zwi-
politische,
Alternative."
Es kann keinen Zweifel darüber geben, daß die Psychologen der Welt allein schon diesem A u f r i ß von Grundlinien psychologischer
Friedensfor-
schung und Friedensinitiativen - ihrem B e r u f s e t h o s und ihrem Gewissen folgend, ihre uneingeschränkte Zustimmung geben können. Beredtes Zeugn i s dafür ist der rasch wachsende Umfang ihres Friedensengagements.
Zu-
gleich wächst aber auch gerade unter Psychologen Beunruhigung und Besorgnis über das A u s m a ß von Erscheinungen, die die psychische heit der Menschen und Völker untergraben und die psychische 1
316
Gesund-
Entwicklung
0. Schorochova, Psychologische Alternative, in: Das XX. Jahrhundert und der Frieden, 11/1985, S. 15.
psychopathogen deformieren. Ober die Bedrohungeängste hinaus, von denen vor allem Kinder betroffen sind, sind es insbesondere alle Formen von Völkerverhetzung, Massenverdummung und Bewußtseinsverkrüppelung, alle Praktiken psychologischer Kriegführung gegen das eigene Volk und gegen andere Völker, die den energischen Widerstand der Psychologen herausfordern. Zu den Grundaufgaben psychologischen Friedensengagements gehört es daher ebenso notwendig, diese genannten Praktiken, ihre Träger und Hintermänner auch psychologisch zu entlarven und wirksame Methoden zur psychischen Gesunderhaltung der Menschen und Völker zu entwickeln. Zeitgeschichtlich
fällt neben einer beeindruckenden
Themenvielfalt
psychologischer Friedensforschung zugleich eine Heterogenität der Herangehensweisen und theoretischen Postulate ins Auge, die zweifelsohne als ein ernstes Problem zu betrachten ist. Gewiß teilt die Psychologie eine solche Problemlage auch mit der in anderen Wissenschaften. Bedenklich ist jedoch, wenn manche Ergebnisse geradezu als vorausbestimmt erscheinen, wie es etwa bei neopsychoanalytisch orientierten
Friedensfor-
schern der Fall ist. Das betrifft einerseits Positionen, die in biologistischen oder psychologistischen Triebkonzepten ihre Wurzel haben und deren politische, ideologische, philosophische und einzelwissenschaftliche Hintergründigkeit oft nicht leicht durchschaubar ist. Andererseits sind damit aber auch die an "psychologische
Kleinmeisterei"
(G.W.F. Hegel) erinnernden Gedankenführungen gemeint, die geschichtliche Wendungen von macht-, kriegs- oder friedenspolitischer Relevanz allein aus psychischen bzw. charakterlichen Besonderheiten
führender
Politiker zu erklären suchen. Wie Hegel trefflich enthüllte, weiß diese "sogenannte psychologische Betrachtung ... alle Handlungen ins Herz hinein so zu erklären und in die subjektive Gestalt zu bringen, daß ihre Urheber alles aus irgendeiner kleinen oder großen Leidenschaft, aus einer Sucht getan haben und um dieser Leidenschaften und Suchten 2 willen keine moralischen Menschen gewesen seien." Gewiß: Psychologische Friedensforschung muß sich allen Fragen von Krieg und Frieden, von Verständigungs- oder Konfrontationspolitik
stel-
len, sobald nur ihre Fachkompetenz berührt ist. In diesem Sinne können auch enthüllende psychologische Persönlichkeitscharakteristiken
alle
diesbezüglichen Bemühungen der Philosophen und Historiker, der Soziologen und Ethiker zur Stärkung der Friedeosfront unterstützen. Schon in der altägyptischen Literatur findet man altüberlieferte soziale Erfahrungen formuliert, wonach führende Staatsmänner auf ihre politischen, menschlichen und moralischen Qualitäten hin zu prüfen sind und keinem Unwürdigen Macht übertragen werden darf. 3 Grundlegend ist und bleibt für alle Friedensforschung; Der Krieg ist 2 3
G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. Bd. I (1830), Berlin 1970, S. 102/103. Vgl. E. Brunner-Traut, Altägyptische Literatur, in: Neues Handbuch der Literaturwissenschaft, (Hrsg.) K. v. See, Altorientalische Literaturen, Wiesbaden 1978.
317
eine gesellschaftliche Erscheinung und erwächst aus den lich-historischen Bedingungen antagonistischer
gesellschaft-
Klassengesellschaften.
Frieden setzt die Vereinigung und Durchsetzung aller maßgebenden schaftlichen Kräfte, der Volksmassen und Völker und der ihren
gesell-
Interes-
sen entsprechenden Politik voraus. Demzufolge sind psychologischer
Frie-
densforschung stets als Prämissen vorausgesetzt: 1. Sie hat vom Primat der Politik und so auch politischer Friedensforschung auszugehen. 2. Friedensforschung hat nur als multidisziplinäre Forschungsarbeit
Be-
stand und bedarf der interdisziplinären Verarbeitung ihrer Ergebnisse. 3 . Psychologische Friedensforschung hat ihren eigenen,
fachspezifischen
Gegenstand, vorausgesetzt sind ihr jedoch politische und philosophische, historische und soziologische Friedensforschung. 4 . Psychologiehistorische Friedensforschung
folgt dem von Michail S. Gorbatschow
formu-
lierten Prinzip, all "das Beste, w a s in der Geschichte erreicht wurde, aufzuspüren, z u pflegen und einander zu vermitteln", natürlich im Sinne einer Kulturgeschichte psychologischen Denkens und Handelns für den 4 Frieden und der brüderlichen Vereinigung der Menschheit. Zugleich weiß sich psychologiehistorische Friedensforschung dem Grundsatz verpflichtet, mittels einer systematischen und kulturhistorisch
begrün-
deten Erforschung psychologischen Friedensdenkens und - h a n d e l n s in der Geschichte jene Maßstäbe, Kriterien, Leitlinien und Anregungen
heraus-
zufinden bzw. abzuleiten, die nicht nur geschichtlich bestimmend, dern für die heutige psychologische Friedensforschung von
son-
profilbestim-
mender Bedeutung sein können. Friedensdenken, Friedensstreben und Friedensschaffen gehören
gewiß
zu den bedeutendsten und erhabenen Kulturtraditionen in der Menschheitsgeschichte. O b e r a l l und zu jeder Zeit, wo das Menschengeschlecht
mit
den Schrecknissen der Kriege und der Völkerbedrückung konfrontiert wurde, sah es sich gezwungen, über Unheil oder Glück seines D a s e i n s nachzudenken und nach Wegen zu einem menschenwürdigen Leben zu suchen. Immer und allerorts fanden sich kühne, aufrichtige und zugleich
tiefsin-
nige Denker, die Krieg und Mord, Drangsalierung und Ausplünderung urteilten und A r b e i t und Frieden, Gerechtigkeit und Freiheit
ver-
priesen.
Allein schon die Vision eines goldenen Zeitalters, in dem die Menschen gemeinsam,
ruhig und zufrieden ihrem Werk nachgingen,
vermittelt
uns die tiefverwurzelte Friedenssehnsucht alter Völker. Es liegt daher viel Wahrheit in dem schon der Antike vertrauten Urteil, Hesiod als den Dichter und Philosophen des Friedens zu ehren. Nicht von ungefähr nutzte Hesiod als erster Philosoph den psychologiechen
Mensch-Tier-
Vergleich, um friedliche Arbeit, Gerechtigkeit und Sittlichkeit als die Wesenskennzeichen des Menschen und diese als ständige
Lebensanforderun-
gen menschlicher Wesensverwirklichung zu begreifen.^ 4 5
318
M. S. Gorbatschow, Für eine Welt ohne Kernwaffen, für das Oberleben der Menschheit. Rede vor den Teilnehmern des internationalen Friedensforums in Moskau, 16. Februar 1987, Berlin 1987, S. 7. Vgl. Hesiod, Werke und Tage. Sämtliche Werke, (Hrsg.) E. G. Schmidt, Leipzig 1965, S. 113/114.
Seit Hesiod erwies sich der Mensch-Tier-Vergleich als eine der Methoden zur Ausarbeitung eines wissenschaftlich begründeten Menschenbildes, dessen grundlegende Bedeutung für die Klärung des Friedensproblems unbestritten geblieben ist. Hesiod hob vornehmlich das Recht als Novum des Menschen und sein Verhältnis zum Recht als Maß seiner Sittlichkeit und damit auch Friedlichkeit hervor. Mit seiner Fabel vom Habicht und der Nachtigall prangerte er im Gleichnis jedwede Gewalttätigkeit gegen den Menschen und das Leben an. Natürlicherweise sträubte sich die Nachwelt bis auf uns, das Töten von Nahrungstieren als Frevel gegen die Friedfertigkeit zu qualifizieren, obgleich es seit den Pythagoreern und Empedokles nicht daran gefehlt hat. Vielmehr wandelte sich die Betrachtungsweise, je gründlicher der Mensch-Tier-Vergleich erfolgte, gestützt auf eine sorgfältige Erforschung der Verhaltenseigentümlichkeiten
der
Tiere in Konfrontation zu den Handlungsweisen des Menschen. So erschien bald das Tier als das maßvoll reagierende Wesen, der Mensch dagegen als der zumeist Maßlose, sofern er sich nicht durch Erkenntnis der Natur und seiner selbst zu Weisheit und Sittlichkeit findet, natürlich durch Erziehung und Bildung vermittelt. Insbesondere führte der Artvergleich tierischen Verhaltens bereits in der Antike zu Erkenntnissen, die in der Neuzeit das Friedensdenken nicht unwesentlich bereicherten. Bezeichnenderweise nutzte bereits der Humanist Erasmus von Rotterdam den Tiervergleich, um seine "Klage des Friedens" einzuleiten: "... Die unvernünftigen Tiere verbringen ihr Dasein friedlich und einträchtig im Verband ihrer Gattung. ... Nur die Menschen, für die sich am meisten von allen Einmütigkeit geziemt hätte und die ihrer am dringendsten bedürfen, vermag die sonst so mächtige und wirkungsvolle Natur nicht zu versöhnen." Schließlich mahnte Erasmus mit Oesus Christus, "daß die Menschen nur auf diesem .einen Weg gerettet werden können, daß sie unter' sich den Frieden halten" und kommt zu dem Beschluß: "Der größte Teil des Volkes haßt den Krieg und bittet um Frieden. Nur einige wenige, deren gottloses Glück aus dem Unglück der Allgemeinheit herrührt, wünschen den Krieg. Entscheidet selbst, ob es gleichgültig ist oder nicht, daß deren Schlechtigkeit mehr gelten soll als der Wille aller frommen Menschen." 6 Ist auch der vergleichend-psychologische Grundgedanke, dem Erasmus namens der Menschlichkeit Ausdruck verlieh, bis in unsere Tage in das Friedensdenken eingebracht, so fehlte es indes seit dem Altertum nicht an Stimmen, die die Bestialitäten in den Beziehungen der Völker und Menschen hervorheben und zu verallgemeinern suchten. Der Ausspruch, daß der Mensch dem Menschen ein
/olf sei, stammt bekanntlich aus der römi-
schen Antike (Plautus) und wurde über die Jahrhunderte - natürlich ebenfalls aus sprichwörtlicher Erfahrung heraus wie die von Erasmus hervor-
6
Erasmus von Rotterdam, Klage des Friedens, in: Zur Friedensidee in der Reformationszeit, (Hrsg.) S. '.Vollgast, Berlin 1968, S. 5/6, 17,
319
gehobene " E i n m a c h t der Wölfe" - immer wieder beschworen. Die Beantwortung der Frage nach der "Natur" des Menschen, ob dieser nun
friedfertig,
gesellig und gütig sei oder ob Aggressivität und Unersättlichkeit
We-
sensmerkmale d e s Menschen bilden, mußte so letztendlich offen bleiben, gleich recht aber die damit aufgeworfene Grundfrage, in welchem Z u s a m menhang Wesenseigenschaften der Gattung Mensch mit dem realen
gesell-
schaftlichen Geschehen stehen. Bemerkenswerterweise ist die Gemeinschaftlichkeit bzw. Gesellschaftlichkeit des Menschen eigentlich
Jeder-
zeit unbestritten geblieben, vielleicht von einigen episodischen A u f fassungen abgesehen. Problematisch blieb die Ableitung der sich aus dieser Tatsache ergebenden Konsequenzen für eine objektive Beurteilung menschlicher Taten und gesellschaftlicher Bewegungen in der Geschichte. Es mußte also erst die Einsicht gefunden und zur Erkenntnis entwickelt werden, daß eine abstrakte Bestimmung der menschlichen Natur, die noch dazu einseitig historische Erfahrungen zu ihrer Rechtfertigung zieht, nicht die geeignete Methode ist, um in einer so
heran-
schwerwiegenden
Frage wie der Friedensfrage theoretisch begründete Entscheidungen
her-
beizuführen. A b e r gerade das ist die tvDische Vorgehensweise jener, die als Paradigma ihrer Lehren ein Menschenkonzept historisch zu legitimieren suchen, welches im Alltag verhaftet ist; Voreingenommenheiten folgt oder voreiligen Verallgemeinerungen verpflichtet ist. B e i spiele dafür sind die von S. Freud beschworene Formel Homo homini lupus oder die von K. Lorenz postulierte Triebhypertrophie des Menschen, w o nach etwa Sammelleidenschaften zum hypertrophen Sammeltrieb oder A g gressivitäten zu einem das Menschheitsschicksal bestimmenden
überstei-
gerten endogenen Trieb umfunktioniert w e r d e n . 7 Natürlich soll damit nicht gesagt sein, daß die Triebproblematik kein ernsthaftes, vor allem anthropogenetisches Problem biologischer und psychologischer
Forschung
darstellt. A b e r strenge Objektivität ist hier ebenso gefordert wie auf allen anderen Gebieten der Wissenschaften vom Menschen. Mit der Entwicklung eines umfassend begründeten Menschenbildes haben K. Marx und F. E n g e l s grundlegende Voraussetzungen für die Weiterführung psychologischer bzw. psychologiehistorischer Menschenbild- und Humanitätsforschung geschaffen, die für die Friedensforschung von hoher Bedeutung sind. Die Klassiker des Marxismus nahmen den wirklichen M e n schen zum Ausgangspunkt ihrer Untersuchungen, konstatierten
zunächst
eine bestimmte biotische Organisation und soziale Lebensweise
desselben
und arbeiteten sonach mittels des Tier-Mensch-Vergleiches die Wesensbestimmung des Menschen heraus: "Man kann die Menschen durch das B e w u ß t sein, durch die Religion, durch w a s man sonst will, von den Tieren unterscheiden. Sie selbst fangen an, sich von den Tieren zu unterscheiden, sobald sie anfangen, ihre Lebensmittel zu produzieren, ein Schritt, der durch ihre körperliche Organisation bedingt i s t . " 8 Und weiter heißt 7 8
320
V g l . K. Lorenz, D a s sogenannte Böse. Zur Naturgeschichte der A g g r e s sion, Wien 1963. K. Marx, F. Engels, Die deutsche Ideologie, in: ME'.V, Bd. 3, Berlin 1969, S. 21.
es In ihrer Schrift "Die deutsche Ideologie": "Die erste geschichtliche Tat ist ... die Produktion des materiellen Lebens... Das Zweite ist ... die Erzeugung neuer Bedürfnisse... Das dritte Verhältnis ... ist, ... sich fortzupflanzen... Die Produktion des Lebens, sowohl des eignen in der Arbeit wie des fremden in der Zeugung, erscheint nun schon sogleich als ein doppeltes Verhältnis - einerseits als natürliches, andrerseits als gesellschaftliches Verhältnis - , gesellschaftlich in dem Sinne, als hierunter das Zusammenwirken mehrerer Individuen, gleichviel unter welchen Bedingungen, auf welche Weise und zu welchem Zweck, verstanden wird." Und schließlich: "Oetzt erst, nachdem wir bereits vier Momente, vier Seiten der ursprünglichen, geschichtlichen Verhältnisse betrachtet haben, finden wir, daß der Mensch auch 'Bewußtsein' hat.... Die Sprache ist so alt wie das Bewußtsein - die Sprache ist das praktische, auch für andre Menschen existierende, also auch für mich selbst erst existierende wirkliche Bewußtsein, und die Sprache entsteht, wie das Bewußtsein, erst aus dem Bedürfnis,"der Notdurft des Verkehrs mit andern Menschen. ...Das Bewußtsein ist also von vornherein schon ein gesellschaft9 liches Produkt und bleibt es, solange überhaupt Menschen existieren." Gesellschaftliche Arbeit als Lebenstätigkeit des Menschen zur Vermittlung des Stoff-, Energie- und Informationswechsels mit seiner Welt, Lebenszeugung, Lebensentwicklung und Lebensgenuß, entwickelte Soziabilität und Gesellschaftlichkeit, Produktivkraft-, Kultur- und Humanitätsentwicklung als die primären Wesensäußerungen des Menschen bilden natürlich grundlegende Kriterien und Maß für das Verhältnis des Marxismus-Leninismus zur Friedensfrage. Historische Mission der Arbeiterklasse - das ist Menschheitsverbrüderung, Weltfrieden, Liquidierung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, Menschheitsentwicklung! Deshalb konnte Marx in der "Erste(n) Adresse des Generalrats über den Deutsch-Französischen Krieg" feststellen, daß "die Allianz der Arbeiter aller Länder schließlich den Krieg ausrotten wird. ... Diese einzige große Tatsache, ohnegleichen in der Geschichte der Vergangenheit, eröffnet die Aussicht auf eine hellere Zukunft. Sie beweist, daß, im Gegensatz zur alten Gesellschaft mit ihrem ökonomischen Elend und ihrem politischen Wahnwitz, eine neue Gesellschaft entsteht, deren internationales Prinzip der Friede sein wird, weil bei jeder Nation dasselbe Prinzip herrscht - die ArbeitI" 10 Die Friedlichkeit des Menschen und der Völker wird also letztendlich aus der Lebensnotwendigkeit der Arbeit und Gemeinschaftlichkeit abgeleitet, ihre Verwirklichung hängt jedoch von den gesellschaftlichen Verhältnissen ab. Sind Ausbeutung und Profit das Prinzip der Gesellschaft, ist auch der Gegensatz der Menschen und Nationen gegeben, aus dem ihre Verfeindung resultieren kann. Solange dieser Gegensatz besteht, kann der Frieden nur durch die gemeinsame Aktion der Menschen und Völker, 9 10
Ebenda, S. 28 - 31. K. Marx, Erste Adresse des Generalrats über den Deutsch-Französischen Krieg, in: MEW, Bd. 17, Berlin 1971, S. 7. 321
aller Kräfte der Vernunft, des Realismus und der Humanität, gestützt auf die Friedenskraft des Sozialismus, geschaffen und erhalten werden. Die Psychologie selbst muß ihre Aufgabenstellungen in der Friedensforschung aus diesen Grundzusammenhängen
ableiten.
Historisch ergaben sich durchaus verschiedene Zugänge
psychologi-
schen Denkens zur Friedensfrage. Sie reichen weit in altorientalische Klassengesellschaften zurück. Setzt die Auswahl von
"Friedenszeugnissen
aus vier ¿Jahrtausenden" von R. und W. W i m m e r 1 1 mit Hammurapi von Babylon (um 1700 v . u . Z . )
ein, so lassen sir.h Dokumentationen dieser Art so-
gar in der sumerischen und altägyptischen Kultur finden. Beachtung verdienen beispielsweise jene Spruchweisheiten, Hymnen und Klagelieder altägyptischer Dichterphilosophen,
in denen nicht nur eine Friedensord-
nung arbeitsamen, wohltätigen und sittlichen Lebens gepriesen,
sondern
in denen sogar eine Suche nach den Ursachen von Unfrieden und eine Reflexion über seine Folgen für das Seelenleben erkennbar wird. Sie enthalten ein erstaunliches Maß an Gesellschaftskritik und heben eindrucksvoll die Seelenqualen hervor, die aus dem Zerfall
gesellschaftlichen
Lebens infolge Krieg, Not und Unterdrückung resultieren.
Selbstrefle-
xion über die Seelenqualen beförderte so nicht nur psychologisches Den12 ken, sondern richtete es auch auf die Friedensfrage. Von nun an orientierte sich psychologisches Friedensdenken in seiner Fortbildung und Entwicklung durch die Jahrhunderte in einem bedeutenden Maße an der Ermittlung des erstrebenswerten höchsten Gutes, das den Menschen, seine persönliche Integrität und sein Wohlbefinden bei allen Unbilden der Geschichte zu bewahren vermag. Auch dazu wurden immer Wiedel' alternative Antworten gefunden, jedoch gipfelte das wesentlich psychologisch bestimmte Anliegen darin, in einem Gesamtzustand des Seelischen, der als "Wohlgemutheit",
"Seelenruhe" oder "Seelenfrieden"
cha-
rakterisiert wurde, das höchste Gut zu finden. Das Streben nach diesem wurde so zum Grundanliegen aller Erziehung und Bildung, tätiger Wirksamkeit und Aufklärung und gewiß auch religiöser Seelsorge. Den Weg dorthin suchte man in der Ausbildung des Menschen zu Weisheit und Rechtschaffenheit, in seiner Erziehung zu Humanität und Sittlichkeit und damit zu Friedfertigkeit, Arbeitsamkeit, Wohltätigkeit und Liebe, aber auch in der Bekämpfung von Lebensängsten, zügelloser
Leidenschaftlich-
keit, Boshaftigkeit und jedweder Aggressivität. Gewiß'war diese "idealische" Vorstellung vom Gedanken einer Korresspektivität von äußerem und innerem Frieden, von Völker- und Seelenfrieden getragen, sie mußte aber gegenüber der Realität der gesellschaftlichen Bewegungen in den antagonistischen
Klassengesellschaften
ohnmächtig bleiben. Sie schloß daher ein, Seelenfrieden möglichst
unter
allen Umständen zu erreichen. Zwar hatte schon der Sophist Gorgias ein 11 12
322
Vgl. R. und w. Wimmer, Friedenszeugnisse zu vier Jahrtausenden, Leipzig/Oena/Berlin 1987. Vgl. Alltägliche Lebensweisheit. Eingeleitet und übertragen von F. V I . Freiherr von Bissing, Zürich 1955.
zusätzliches aktivistisches Argument in die Diskussion eingebracht, 13 nämlich, den Krieg als und wie eine Krankheit zu bekämpfen. War damit die Idee des Friedenskampfes zur Geltung gebracht - so blieb Jedoch die für ihre Zeit richtige Erkenntnis von der Unvermeidlichkeit der Wiederkehr des Obels. Selbst I. Kant beklagte in seinem Entwurf "Zum ewigen Frieder»"14 die "Leichtigkeit", mit der Menschen in Kriege und Aggressivitäten hineingezogen werden, was ihn angesichts der von ihm angenommenen "Bösartigkeit der menschlichen Natur" zu der Frage veranlaßte, ob diese nicht jener "eingeartet" sei. Gerade deshalb richtete sich sein Blick auf die für ihn gleichermaßen natürlichen Neigungen des Menschengeschlechts, seine politischen, sozialen, sittlichen und psychischen Disharmonien und Obel im historischen Entwicklungsprozeß zu überwinden und auf diese Weise den ewigen Frieden zu erreichen. ¿Jedenfalls ist es die dem Menschen auferlegte geschichtliche und moralische Pflicht, auf diesen Zweck hinzuarbeiten, den ewigen Frieden anzustreben und schließlich zu garantieren. Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang, wie M. Buhr und St. Dietzsch schreiben, daß "Kants Idee vom ewigen Frieden ... eingebettet (ist) in seine These vom beständigen Fortschreiten des Menschengeschlechts, die 15 den Grundgedanken seiner Geschichtsphilosophie ausmacht". Dieser Geschichtsprozeß gehe gesetzmäßig voran und lasse die Spuren vernünftigen Handelns sichtbar werden. Demzufolge ist für Kant die Aufklärung "das wirksamste Mittel zur Moralisierung des Menschengeschlechts", well sie den genannten natürlichen Neigungen und darüber hinaus dem Fortschritt in der Vervollkommnung der Menschheit entspricht. Nach den geschichtlichen Erfahrungen blieb dieses Aufklärungskonzept natürlich begrenzt, auch wenn es tiefe Spuren im Denken und Handeln der Menschsn hinterließ. Oedoch kann damit nicht gesagt sein, daß Aufklärung unter neuen gesellschaftlich-historischen Bedingungen und gestützt auf die Friedensmacht des Sozialismus, der Weltfriedensbewegung und des Völkerfortschritts keinen qualitativ neuen und geschichtlich bisher unbekannten Stellenwert erhalten kann. Tatsächlich gewinnt die wissenschaftliche Aufklärung der Menschen und Völker über die Perspektiven des Weltfrledens angesichts der Existenzbedrohung der Menschheit politische und wissenschaftliche Priorität schlechthin. Dazu gehört die Nutzung der geschichtlichen Gesamterfahrung der Menschheit zu Krieg und Frieden ebenso wie auch die Demaskierung all jener Kräfte und Verhältnisse, die sich wie auch immer der Verwirklichung von Frieden, Freiheit und Fortschritt der Völkergemeinschaft und so dem Menschen- und Völkerrecht entgegenstellen. Die Unsicherheiten und Widersprüche in der Bestimmung der "Natur" 13 14 15
W. Nestle, Der Friedensgedanke in der antiken Welt. Philologus, Supplement - Bd. XXXI, Leipzig 1938, S. 18. I. Kant, Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf. Texte zur Rezeption 1796-1800, (Hrsg.) M. Buhr, St. Dietzsch, Leipzig 1984, S. _10, 20. Ebenda, S. 298/299. 323
des Menschen veranlaßten F. A . Carus, einen der bedeutendsten Psychologen um die Wende zum 19. Jahrhundert, die Frage zu
deutschen
formulieren,
ob der sogenannte "Naturzustand" nicht eine Fiktion sei. Die Frage wird verneint. Jedoch mit der Einschränkung, daß ein "Naturstand" von einem "Freiheitsstand" z u unterscheiden ist als eine Gegenüberstellung der ursprünglichen Wesensmerkmale des Menschen mit dem jeweils historisch erreichten Entwicklungsstand des Menschentums bzw. mit dem
Entwicklungs-
niveau der Verwirklichung der menschlichen Wesenskräfte und so seiner Freiheit. C a r u s faßt zusammen: "Entwicklung der Menschennatur zum Menschtum, Erhebung der Menschengeschlechter zur Menschengattung,
der
Menschen zu dem Menschen, Veredlung der bloß sinnlichen
Menschlichkeit 1 fi zur vernünftigen durch Freiheit - dies ist des Menschen Bestimmung." Nicht von ungefähr verbindet C a r u s sein Entwicklungskonzept
Natur-
stand - Freiheitsstand mit dem Friedensgedanken. Für ihn sind Kriege 17 "privilegierte Menschenschlächtereien" , die nur zu entschuldigen sind durch "abgezwungene äußerste Notwehr", als "Rücksicht auf das gemeine Beste" und durch möglichst humane Kriegführung, solange der ewige Frie18 de nicht energischer durchgesetzt w i r d . D a s Allgemeine dagegen, das die menschliche N a t u r und Freiheit kennzeichnet, ist ihm in diesem Z u sammenhang der "Friede mit der Natur", w a s zugleich an 3 . G. H e r d e r erinnert, dem der Friede der "Naturzustand des unbedrängten menschlichen Geschlechts" 19 ist. Für Carus sind "Angemessenheit des Glücks an das Bedürfnis. Friede mit der Natur, und Schuldlosigkeit die wahren G r u n d 20 striche." Unablässig dafür zu wirken, dem "heillosen Kriegführen ein Ende zu machen", ist ihm Pflicht. So entwickelt C a r u s den H u m a n i t ä t s g e danken w e i t e r und bestimmt ihn als historisch fortschreitende
Ver-
menschlichung und Kultivierung des Menschen, als ausgebildetere
Mensch-
heit, als Erwerbung und Ausübung von Menschlichkeit hin zu vollkommenerem M e n s c h e n t u m . Friedensstreben, Friedenserziehung, Friedenskampf und Friedenschaffen
Friedlichkeit,
für eine stabile und sichere Welt-
friedensordnung werden damit als grundlegender Inhalt von Menschlichkeit v e r s t a n d e n . In der Jüngeren Geschichte hat sich nun weit über die Klärung von Grundpositionen in der Friedensfrage die Friedensforschung
zeitgemäße
psychologische
fortschreitend forciert, differenziert und konkreti-
siert. Gewiß hängt das mit der neuzeitlichen Entwicklungsgeschichte
der
psychologischen Wissenschaften bis in die Gegenwart zusammen, die sich geradezu durch eine stürmische Entfaltung psychologischen D e n k e n s und Handelns und dessen Eindringen in immer weitere Lebens- und Praxls16 17 16 19 20
324
F. A . Carus, Ideen zur Geschichte der Menschheit. Nachgelassene Werke, 6 . Teil, Leipzig 1809, S. 50. Ebenda, S. 152. Derselbe, Moralphilosophie und Religionsphilosophie. Nachgelassene Werke, 7 . Teil, Leipzig 1810, S. 168. 0. G. Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, in: Werke, B d . 4, Weimar 1983, S. 214. F. A . Carus, Ideen zur Geschichte der Menschheit. Nachgelassene Werke, 6. Teil, a.a.O., S. 190.
bereiche auszeichnet. Die Kernproblematik dafür bildet jedoch der weltgeschichtliche Entwicklungsprozeß im Zeitalter der allgemeinen Krise des Kapitalismus und des fortschreitenden Aufschwungs des sozialistischen Weltsystems sowie der Befreiungs- und Friedensbewegung in aller Welt angesichts zweier Weltkriege und der nunmehr heraufbeschworenen allgemeinen imperialistischen Existenzbedrohung der Menschheit. Nicht von ungefähr bezeichnete der weltbekannte deutsche Psychologe W. Wundt das "Recht auf Existenz" und das "Recht auf Arbeit" als die grundlegenden Menschenrechte und verurteilte selbst von seinem bürger21
liehen Standpunkt aus die "Obel des Kapitalismus".
Dennoch gehörte
er selbst zu den Unterzeichnern des chauvinistischen Aufrufs deutscher Intellektueller und Künstler an die "Kulturwelt" vom 4. Oktober 1914, dem 22 sich nur A. Einstein, G. F. Nikolai und W. Foerster entgegenstellten
, was auch für die Dramatik künftiger Entwicklungen des Friedens-
kampfes stehen kann. Bekanntlich ließen sich eine bedeutende Anzahl von Psychologen sowohl für den Faschismus als auch für den Kalten Krieg mißbrauchen. Psychologische Friedensforschung und Friedensaktivität
muß
sich so einem neuen historischen ßewährungsfeld stellen, nämlich den Mißbrauch ihrer Wissenschaft zu entlarven und für die psychische Gesundheit der Volksma8sen in aller Welt zu wirken. Antikommunistische Hysterie, Militarismus und chauvinistische Völkerverhetzung,
imperia-
listische Konsum- und Gewaltideologie deformieren die Psyche und die Persönlichkeit des Menschen zutiefst, wie erst unlängst F. Mayer ent23 hüllte. Deshalb ist es über die vielen Forschungen zu Detailfragen der psychologischen Ängste- und Aggressivitätsbekämpfung
im Alltag, des
Einsatzes psychohygienischer und psychotherapeutischer Maßnahmen, der psychologischen Förderung von Frieden- und Verständigungsbereitschaften dringend erforderlich, die Potenzen und die Schöpferkraft der gesamten Psychologie einzusetzen, um das Menschen- und Völkerrecht auch psychologisch zu untermauern und weiterzubilden, zum Beispiel in der Erarbeitung von Prinzipien für die Gewährleistung der Psychohygiene der Menschen und Völker und ihrer psychischen Entwicklung. Eine weitere Grundfrage psychologischer Friedensforschung in Gegenwart und Zukunft besteht darin, alle Möglichkeiten der psychologischen Wissenschaften zu nutzen und zu entwickeln, um die Politik des Friedensdialogs und der Völkerverständigung maximal zu unterstützen. Das bedeutet zuallererst psychologische Förderung aller Friedensaktivitäten, aber auch für die Friedensforschung sind neue Zielstellungen und Herangehensweisen psychologischer Friedensforschung zu entwickeln. So läßt sich etwa Neues Denken psychologisch auch als ein höheres Niveau der Selbsterkenntnis des Menschen deuten, mit der überkommene Denk- und Motivationsweisen der alten Welt im Interesse des Weltfriedens gezielt über21 22 23
W. Wundt, Ethik, 5. Aufl., Bd. 3, Stuttgart 1924, S. 255, 277. Naturwissenschaftler im Friedenskampf. Eine Dokumentation, (Hrsg.) K.-F. Wessel, H.-D. Urbig, Berlin 1987, S. 24/25. Vgl. F. Mayer, Wahnsinn USA, Dortmund 1984.
325
wunden werden können. Und bestimmt man gar die Psychologie als Wissenschaft von der Selbsterkenntnis des Menschen, dann dürften sich Ober alles Bisherige hinaus neue Perspektiven für den Beitrag der Psychologie zur Lösung der globalen Menschheitsprobleme, insbesondere der Friedensfrage, eröffnen. Kurz: Es geht um eine Psychologie des Friedens und dafür auch um die Ausarbeitung einer Psychologie Neuen Denkens. Insgesamt und zusammengefaßt resultieren aus unserer historischen Untersuchung psychologischen Friedensdenkens die folgenden Prinzipien psychologischer Friedensforschung: 1. das Prinzip des Politischen in allen praktischen und theoretischen Fragen des Friedenskampfes, 2. das Prinzip der Interdisziplinarität aller Friedensforschung, 3. das Prinzip der Humanität als Leitlinie aller psychologischen Friedensaktivitäten, 4. das Prinzip der Korrespektivität von Äußerem und Innerem in der Entwicklung von Friedfertigkeit oder Aggressivität des Menschen, 5. das Prinzip der Selbsterkenntnis des Menschen als eine bedeutsame psychologische Grundlage Neuen Denkens und 6. das Prinzip der Friedenstaten, in die alle psychologische Friedensforschung münden muß.
326
Ob. f. Soziologie und Sozialpolitik
A u s dem wissenschaftlichen
1989
Leben
Uwe Knoch Überlegungen zur Geschichte des marxistischen soziologischen D e n k e n s in der Weimarer Republik (1919-1933)
Marxistisches soziologisches Denken in der Weimarer Republik - hierbei handelt e s sich um die nichtinstitutionalisierte marxistische S o z i a l theorie und - f o r s c h u n g im Zeitraum zwischen 1919 und 1933, repräsentiert durch die Theoretiker der Kommunistischen Partei D e u t s c h l a n d s (KPD). Ihre Entwicklung zu verfolgen, bedeutet vor allem zu untersuchen, wie die auf K. Marx und F. Engels zurückgehende soziologische G e s e l l s c h a f t s auffassung in der deutschen Arbeiterbewegung fortgewirkt, welche M o d i fikationen sie erfahren hat und wie sie von den deutschen Kommunisten für die Analyse der aktuellen gesellschaftlichen W i r k l i c h k e i t fruchtbar gemacht wurde. D a s setzt allerdings weitgehende Klarheit über die E i g e n t ü m l i c h k e i ten des soziologischen D e n k e n s in der KPD der z w a n z i g e r und d r e i ß i g e r Oahre voraus, die mit den Eigentümlichkeiten der D a s e i n s w e i s e und Entwicklung des Marxismus jener Zeit zusammenhängen. A u s ihnen leiten sich bestimmte methodologische Konsequenzen für die soziologische A u f a r b e i tung ab. Dazu im folgenden einige Ü b e r l e g u n g e n . Zur theoretischen Arbeit der KPD speziell auf g e s e l l s c h a f t s w i s s e n schaftlichem Gebiet in der Zeit von 1919 bis 1945 liegt bereits eine Reihe interessanter Untersuchungen vor.l T e i l s haben sie die Entwicklung einzelner Seiten und Bestandteile des M a r x i s m u s - L e n i n i s m u s zum G e g e n stand, teils sind sie allgemein-methodologischer N a t u r . Ihre Feststellungen zur Spezifik und Methodologie der Erforschung des marxistischen D e n k e n s von Theoretikern der KPD sind weitgehend auch für die m a r x i s t i sche Soziologiegeschichtsschreibung verbindlich; deshalb wurden sie den nachstehenden Ü b e r l e g u n g e n zugrunde gelegt. Diese selbst lassen sich auf den gemeinsamen Nenner bringen: Nach welchen übergeordneten Rücksichten ist (nach dem bisherigen E r k e n n t n i s stand) das soziologische Denken der deutschen Kommunisten zu p r ü f e n ? Welches sind die wichtigsten Eckpunkte eines allgemeinen Plans der A u f bereitung des historischen M a t e r i a l s ? 1. Marxistische Theorie und kommunistische Politik bildeten damals 1
Vgl. K. Kinner, Marxistische deutsche G e s c h i c h t s w i s s e n s c h a f t 19171933. Geschichte und Politik im Kampf der KPD, Berlin 1982; derselbe, Methodologische Probleme der Erforschung der theoretischen A r b e i t der KPD, in: Beiträge zur Geschichte der A r b e i t e r b e w e g u n g 1/1982; derselbe. Der Kampf der KPD um die A n e i g n u n g und Verbreitung der wissenschaftlichen Weltanschauung der A r b e i t e r k l a s s e , in: KPD und Wissenschaftsentwicklung 1919-1946, Berlin 1986, S. 38-51; P. Altner, H. Laitko, KPD und IVissenschaftsentwicklung: A n s a t z p u n k t e und Fragestellungen, in: ebenda, S. 12-35; A . Laschitza, Zu einigen m e t h o disch-methodologischen Fragen bei der Entwicklung und D u r c h s e t z u n g des Leninismus in der deutschen Arbeiterbewegung, in: W i s s e n s c h a f t liche Mitteilungen der Historiker-Gesellschaft der DDR U / 1 9 7 4 ; die konkrete Forschungen geradezu e r f o r d e r n " . 7 Seit den 60er und 70er Oahren hatten die französischen marxistischen G e s e l l s c h a f t s w i s s e n s c h a f t 1 2 3 4
5 6 7
Vgl. Cahiers du communisme, Paris 1979, Nr. 6-7, S. 59; Frankreich Politik und Ökonomie, Berlin 1986, S. 203. F. Lazard, Der Wirklichkeit zugewandt, in: Probleme des Friedens und des Sozialismus, 5/1988, S. 637. Ebenda, S. 637. Zitiert nach R. Martelli, Das Institut für marxistische Forschungen (I.R.M.) Paris, in: La Pensée, Paris 1980, Nr. 211; und nach der Obersetzung von I. Utz, in: Oahrbuch des IMSF 3, Frankfurt a. Main, 3/1980, S. 368-372. Le Marxisme pour quoi faire?, Rundtischgespräch mit Y . Clot, L. Sève, A . Tosel, S. Wolikow, in: Société Française, Paris 1985, Nr. 16, S. 55. L. Sève, Historische Individualitätsformen und Persönlichkeit, in: Oahrbuch des IMSF 10, Frankfurt a. Main, 1/1986, S. 23. A . Hayot, Naissance de l'IRM - Sud, in: Société Française, a.a.O., Nr. 14, S. 53/54.
379
ler v e r s t ä r k t g r o ß e A n s t r e n g u n g e n u n t e r n o m m e n , d i e s e m d o g m a t i s c h e n T h e o r i e v e r s t ä n d n i s die t h e o r e t i s c h r e p r o d u z i e r t e w i r k l i c h e D i a l e k t i k v o m A l l g e m e i n e n , B e s o n d e r e n und E i n z e l n e n in der h i s t o r i s c h - n a t i o n a l e n E n t w i c k l u n g der f r a n z ö s i s c h e n G e s e l l s c h a f t e n t g e g e n z u s e t z e n . D a f ü r s t e h e n die g r u n d l e g e n d e n A r b e i t e n zur G e s c h i c h t e d e r f r a n z ö s i s c h e n G e s e l l s c h a f t , z u r f r a n z ö s i s c h e n R e v o l u t i o n , zur S p e z i f i k d e s f r a n z ö s i s c h e n K a p i t a l i s mus und s e i n e r s t a a t s m o n o p o l i s t i s c h e n G e s t a l t , d e r G e s c h i c h t e d e r FKP und zu w e i t e r e n w i s s e n s c h a f t l i c h e n F r a g e s t e l l u n g e n b i s hin z u r Pers'önl i c h k e i t s t h e o r i e . In d i e s e m K o n t e x t g r u n d l a g e n t h e o r e t i s c h e r F o r s c h u n g e n w u r d e "die F r a g e d e r E n t w i c k l u n g s w e g e im Kampf für den g e s e l l s c h a f t l i chen F o r t s c h r i t t u n t e r den g e g e n w ä r t i g e n B e d i n g u n g e n " ® in d e r W e l t , s p e z i e l l für F r a n k r e i c h g e s t e l l t und zu d e r S c h l u ß f o l g e r u n g g e f ü h r t , "daß in sich s t ä n d i g e r w e i t e r n d e r D e m o k r a t i e 6in f r i e d l i c h e r Weg für g e s e l l s c h a f t l i c h e U m g e s t a l t u n g e n " ^ in R i c h t u n g e i n e r s o z i a l i s t i s c h e n P e r s p e k t i v e für die f r a n z ö s i s c h e G e s e l l s c h a f t m ö g l i c h und n o t w e n d i g ist. I n s o f e r n w u r d e e i n e V e r ä n d e r u n g d e r T h e o r i e - E m p i r i e - R e l a t i o n in d e r w i s senschaftlichen Arbeit relevant. Obwohl das Institut Maurice Thorez seit B e g i n n d e r 7 0 e r O a h r e b e m ü h t war, a u s d e r P e r s p e k t i v e e i g e n e r w i s s e n s c h a f t l i c h e r , i n s b e s o n d e r e h i s t o r i s c h e r F r a g e s t e l l u n g e n , die v i e l fältigen m a r x i s t i s c h e n F o r s c h u n g s a r b e i t e n auf den u n t e r s c h i e d l i c h e n G e b i e t e n d e r S o z i a l - und H u m a n w i s s e n s c h a f t e n z u r e z i p i e r e n und zu v e r a r beiten, erforderten die fortschreitenden kapitalistischen Vergesells c h a f t u n g s p r o z e s s e , d i e eine a n h a l t e n d e g e s a m t g e s e l l s c h a f t l i c h e K r i s e auslösten, differenzierte konkrete marxistische Analysen. Darüber hina u s s t e l l t e sich d i e A u f g a b e , d i e E r a r b e i t u n g e m p i r i s c h e r K e n n t n i s s e mit d e r t h e o r e t i s c h e n E r k e n n t n i s a r b e i t o r g a n i s c h z u v e r b i n d e n . D e n n die vertiefte Kenntnisnahme des Real-Konkreten wird als Voraussetzung zu dessen kritischer Reflexion begriffen, als Mittel zur notwendigen theoretischen A n t i z i p a t i o n im S i n n e d e s a l t e r n a t i v e n E n t w u r f s m ö g l i c h e r gesellschaftlicher Entwicklung aus der Interessenperspektive der revolut i o n ä r e n A r b e i t e r b e w e g u n g und d e r e n B ü n d n i s p a r t n e r . D i e I n i t i a t i v e d e r f r a n z ö s i s c h e n m a r x i s t i s c h e n S o z i a l w i s s e n s c h a f t l e r , die mit G r ü n d u n g d e s IRM ihren A u s g a n g n a h m , b e r u h t auf dem K o n s e n s e i n e r s e i t s die F o r s c h u n g e n an den p o l i t i s c h e n H a u p t z i e l e n d e r P a r t e i zu o r i e n t i e r e n und a n d e r e r s e i t s den M a r x i s m u s s c h ö p f e r i s c h w e i t e r z u e n t w i c k e l n , w a s " o h n e eine enge und a k t i v e V e r b i n d u n g der T h e o r i e mit e i n e r h i s t o r i s c h e n und d i a l e k t i s c h e n A n a l y s e , die ... d u r c h D i s k u s s i o n e n , den V e r g l e i c h u n t e r s c h i e d l i c h e r A n s i c h t e n und I d e e n w e t t s t r e i t b e r e i c h e r t w i r d , n i c h t d e n k bar ist".-'-1 D a ß die p o l i t i s c h e D e m a r c h e d e r FKP und d e r V o r s t o ß m a r x i s t i s c h e r G e s e l l s c h a f t s w i s s e n s c h a f t , o b w o h l "jede für sich ihre e i g e n e Logik h a b e n , w a s A u t o n o m i e , a b e r n i c h t I n d i f f e r e n z , S o r g e um w i s s e n s c h a f t l i c h e S t r e n g e und G e n a u i g k e i t , a b e r n i c h t p o l i t i s c h e V e r a n t w o r t u n g s l o s i g k e i t b e d e u t e t " * 2 , in einem i n h ä r e n t e n Z u s a m m e n h a n g stehen, führte z u e i n e m n e u r e f l e k t i e r t e n T h e o r i e - P r a x i s - P o l i t i k - V e r h ä l t n i s - " , dem sich die W i s s e n s c h a f t l e r v e r p f l i c h t e t s e h e n : Sie teilen die E r k e n n t nis, d a ß die e r f o r d e r l i c h e und a n g e s t r e b t e V i e l f a l t r e v o l u t i o n ä r e r A k t i v i t ä t e n sich n u r auf e i n e r u m f a s s e n d e n K e n n t n i s d e r s o z i a l e n R e a l i t ä t in i h r e r p e r m a n e n t e n B e w e g u n g r e a l i s i e r e n k a n n . D i e somit n o t w e n d i g e v e r t i e f t e E r k e n n t n i s d e r G e s e l l s c h a f t und i h r e r E n t w i c k l u n g ist a b e r nur e r r e i c h b a r , w e n n m a r x i s t i s c h e g e s e l l s c h a f t s w i s s e n s c h a f t l i c h e F o r schung in e n g e r B e z i e h u n g zur P r a x i s der K l a s s e n b e z i e h u n g e n und d e s Klassenkampfes steht. Z u r V e r w i r k l i c h u n g d i e s e r w i s s e n s c h a f t l i c h e n und p o l i t i s c h e n Z i e l e e n t w i c k e l t e d a s W i s s e n s c h a f t l e r k o l l e k t i v Ü b e r l e g u n g e n für eine n e u e W i s s e n s c h a f t s p r a x i s , d e r e n p r o g r a m m a t i s c h e s C r e d o sich f o l g e n d e r m a ß e n 8
9 10 11 12 13
380
A . D o b r y n i n , Z u r V e r t e i d i g u n g d e s L e n i n i s m u s . B e i t r a g auf der B e r a tung von V e r t r e t e r n d e r k o m m u n i s t i s c h e n A r b e i t e r - und r e v o l u t i o n ä r d e m o k r a t i s c h e n P a r t e i e n über die A r b e i t d e r Z e i t s c h r i f t " P r o b l e m e d e s F r i e d e n s und d e s S o z i a l i s m u s " in P r a g , A p r i l 1985, in: N e u e s D e u t s c h l a n d v o m 15. A p r i l 1988, S. 2. Ebenda. V g l . Le M a r x i s m e p o u r q u o i faire?, a . a . O . , S. 4 8 - 6 2 . V g l . F. L a z a r d , D e r W i r k l i c h k e i t z u g e w a n d t , a . a . O . , S. 6 3 7 / 6 3 8 . R e d a k t i o n s k o l l e k t i v , S o c i é t é f r a n ç a i s e ? , in: S o c i é t é F r a n ç a i s e , P a r i s 1981, N r . 1, S. 2. Le M a r x i s m e p o u r q u o i faire?, a . a . O . , S. 4 8 .
zusammenfassen läßt: Gestaltung und Erprobung eines neuen W e g e s zur theoretischen und praktischen Verbindung von interdisziplinär arbeitenden Sozialwissenschaften und sozialer bzw. politischer Bewegung zur progressiven Veränderung der französischen Gesellschaft. D i e s e s bündnisorientierte Modell der Wissenschaftspraxis findet seit Beginn der 80er Oahre über verschiedene forschungsorganisatorische Schritte seine Umsetzung. Nachdem im Dezember 1979 auf einer wissenschaftlichen Veranstaltung mit nahezu 1500 Teilnehmern die Konzeption des IRM, die globale A u s richtung seiner Arbeit und die für ihre praktische Durchsetzung n o t w e n dige Struktur beraten worden war, konstituierten sich als Fazit der D i s kussion sechs A r b e i t s b e r e i c h e zu folgenden T h e m e n k o m p l e x e n : - historische Bewegung der Gesellschaftsformationen; - internationales Leben; - Krise der Lebensweise und der menschlichen Beziehungen, individuelle und soziale Befreiung; - Wissenschaft und Technik, gegenwärtiger Stand und v o r a u s s c h a u e n d e Einschätzung ihrer Bewegung und ihrer sozialen Implikationen; - Dynamik der Erkenntnisse, Marxismus und Philosophie in ihrer G e s c h i c h te und Perspektive; - französische G e s e l l s c h a f t . Die Organisation der Institutsaktivitäten nach A r b e i t s b e r e i c h e n gründete sich, wie R. M a r t e l l i festhielt, auf die vorhergehende A n a l y s e der Ziele der Forschung und ihrer Mittel. S i e gestattete wesentliche Erkenntnisprobleme der gesellschaftlichen Realität zu bestimmen und die erforderlichen, differenzierten Herangehensweisen zu fixieren, w o b e i letztere breit gefächert und innerhalb des Institutes eng m i t e i n a n d e r verbunden s i n d . Mit einer spezifischen innerinstitutionellen forschungsorganisatorischen Gestaltung wurden wesentliche Voraussetzungen geschaffen, um den dominanten Untersuchungsgegenstand: die soziale Formation Frankreich in ihrer inneren Kohärenz und historischen Bewegung einer allseitigen E r forschung zuzuführen. Er bildet den jeweils spezifischen G e g e n s t a n d aller Arbeitsbereiche und ist hinsichtlich des aktuellen zieithistorischen Bezuges und seiner Komplexität im Besonderen das Forschungsfeld des B e reiches "Französische Gesellschaft". Der Bereich analysiert umfassend die sozialen Klassen, die verschiedenen A s p e k t e der politischen P r o z e s se, die gesamtgesellschaftliche Rolle des Staatsapparates und seiner Funktionsweise auf zentraler und lokaler Ebene, die W i r k u n g s w e i s e und Bewegung des Produktionsapparates und des gesamten W i r t s c h a f t s s y s t e m s auf die Strukturierung und Entwicklung der Gesamtgesellschaft und die Herausbildung der Differenzierung und Spezifik des lokalen und regionalen Zusammenhanges auf den verschiedenen Ebenen und in seiner n a t i o n a len V e r q u l c k u n g l S . D e s weiteren fällt ihm die A u f g a b e zu, die V i e l f ä l tigsten Forschungsaktivitäten zu koordinieren, neue W i s s e n s c h a f t s k o o p e rationen und Praxisbeziehungen zu den unterschiedlichen politischen und sozialen Akteuren zu i n i t i i e r e n . I n den ersten Oahren wurde, ohne mit den spezialisierten wissenschaftlichen Institutionen rivalisieren zu wollen, der Schwerpunkt der Arbeit auf die Gewinnung empirischen W i s sens gerichtet und dabei insbesondere den methodologischen und methodischen Fragen der A n a l y s e sozialer Phänomene große Beachtung geschenkt. Das war, wie S . Wolikow, Leiter des B e r e i c h e s "Französische G e s e l l schaft" rückblickend konstatiert, notwendig, da über die eigene W i s s e n s produktion das Vermögen entwickelt werden mußte, kritisch die a n d e r w e i tig produzierten wissenschaftlichen Informationen über die G e s e l l s c h a f t verarbeiten zu können. Seit 1983 wurden die Bemühungen verstärkt, die empirischen Forschungsarbeiten zur zielgerichteten Untersuchung der lokalen und nationalen sozialpolitischen Verhältnisse, der A r b e i t s k o l l e k tive in den wirtschaftlichen Unternehmen, der kulturellen Praktiken auf den kommunalen Ebenen, der Kämpfe um die schulische Bildung und b e r u f 14 15 16
Vgl. R. Martelli, Das Institut für marxistische Forschungen (I.R.M.) Paris, a.a.O., S. 368. Ebenda. Vgl. S . Wolikow, Vers une communauté scientifique élargie, in: Société Française, Paris 1984, N r . 10, S. 2; Redaktionskollektiv, Société française?, a.a.O.
3S1
liehe Ausbildung zu systematisieren. Die Bestrebungen zur Systematisierung der Forschung als Grundlage vergleichender Analytik standen im engen Zusammenhang mit der Dezentralisierung der Forschung im nationalen Maßstab, Mit der Einrichtung des IRM-Nord 1982 und des IRM-Süd 1984 realisierte das Wissenschaftlerkollektiv einen weiteren forschungsorganisatorischen Schritt zur praktischen Umsetzung seiner Programmatik.18 Gleichzeitig standen von Anbeginn der Tätigkeit des IRM Querschnittsprobleme im Zentrum der wissenschaftlichen Arbeit. Sie bildeten zugleich die entscheidenden Gegenstände interdisziplinärer und praxisorientierter Zusammenarbeit. Im Mittelpunkt dieser steht die zentrale Frage nach dem Wesen der nationalen Krise in der französischen Gesellschaft. Sie beinhaltet unter anderem die differenzierte Analyse der Veränderungen der Arbeit, des Wissens, der Politik, der Individualität und anderer Prozesse. Da die wissenschaftliche Erforschung derartiger Objekte "zwingend die Überschreitung der disziplinaren Grenzen verlangt, weil die sozialen Phänomene in ihrer Komplexität und ihrer Bewegung einen querschnittartigen Zugang und zugleich eine globale, ganzheitliche Sicht des Gegenstandes notwendig m a c h e n " l 9 , w a r das IRM bemüht, interdisziplinäre Beziehungen über die Institutsgrenzen hinaus und zu nichtmarxistischen Sozialwissenschaftlern herzustellen. Ein derartiges Angebot zur Wissenschaftskooperation unterbreitete im November 1981 die erste Nummer der Zeitschrift "Société Française", einer neuen Publikationsreihe des IRM. In einem redaktionellen Artikel wurden Probleme der sich seit Ende der 70er Jahre abzeichnenden Krise der französischen Sozialwissenschaften angesprochen und die alternativen Positionen aus marxistischer Sicht dargestellt. So wurde deutlich gemacht, daß der vorherrschende institutionelle Rahmen sozialwissenschaftlicher Forschungen - die Verallgemeinerung der punktuellen Vertragsforschung, deren Problemstellung durch die jeweiligen privaten oder öffentlichen Auftraggeber bestimmt werden - nicht nur zu einer Zersplitterung und Konkurrenz der Forschungsgruppen geführt hat, sondern auch zu einer Zerstücklung der Forschung selbst, die die Erkenntnisarbeit behindert und sterilisiert, aber jede ideologische Manipulation gestattet. Dem könne nur mit einer ganzheitlichen Forschungsweise begegnet werden, was aber voraussetze, eine veränderte Konzeption des Verhältnisses zwischen der Bewegung der Erkenntnis und der Bewegung der Gesellschaft zu denken und zu praktizieren. Denn im Unterschied zu der von M. Crozier zu Beginn der neuen Ära der Sozialwissenschaften in Frankreich im Oahre 1971 geäußerten Ansicht, wonach es Aufgabe der Soziologie sei, eine "soziale Technologie" zu entwickeln, die die Funktion habe, die Gesellschaft zu erkennen, um sie zu erhalten, lasse sich die marxistische Sozialwissenschaft von dem Ziel leiten, die Gesellschaft zu erkennen, um sie zu verändern. Damit eine solche prinzipielle Position keine Leerformel bleibe, sei eine veränderte Forschungsorganisation, wie sie das IRM praktiziere und propagiere, unumgänglich. Auch wurde auf die Erkenntnisleistungen der marxistischen Gesellschaftswissenschaften verwiesen, die im Rahmen der nunmehr zwanzigjährigen nationalen Entwicklung und breiten Entfaltung der französischen Human- und Sozialwissenschaften nicht nur ihren eigenen Stellenwert haben, sondern diese auch nachhaltig beeinflußten. Sie bezeugen, daß der Marxismus keine Sammlung von Doktrinen ist, wie gern unterstellt wird, um seine Originalität und Wissenschaftlichkeit in Frage zu stellen und um ihn aus der französischen Sozialwissenschaft auszugrenzen.20 Diese Positionen des IRM, einerseits der verbreiteten Infragestellung bzw. Diffamierung des Marxismus-Leninismus als originäre und wissenschaftliche Herangehensweise produktiv zu begegnen und andererseits, dies über eine neuartige Verbindung von Erkenntnisarbeit und Aktion in die Wege zu leiten, um profundes Wissen über die Gesellschaft als Kom17 18
19 20
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Vyx. S. Wolikow, Société Française: Cinq ans après, in: Société Française, Paris 1986, Nr. 21, S. 2-3. Vgl. F. Cunat, C. Dubar, Ch. Mahieu, La mise en route d'un groupe' de recherche sur la "Classe ouvrière et grosses-entreprises dans le Nord-Pas-de-Calais" in: Société Française, Paris 1982, Nr. 2, S. 53-54; A. Hayot, Naissance de l'IRM-Sud, a.a.O. Redaktionskollektiv, Société française?, a.a.O. Redaktionskollektiv, Société française?, a.a.O.
ponente der Kultur der Arbeiterbewegung und ihrer Bündnispartner im Kampf für eine progressive Entwicklungsalternative Frankreichs fruchtbar zu machen, wurden von S. Wolikow und A. Bertho, Chefredakteur der Zeitschrift "Société Française", auf den Nationalen Forschungstagen der französischen Sozialwissenschaften 1982 vertreten. Sie betonten, daß mit dieser Konzeption eine reale Möglichkeit entstehe, die Trennung des Wissenschaftlers von seinem Forschungsobjekt (der Gesellschaft) aufzuheben. Auch könnten soziale Anforderungen an sozialwissenschaftliche Forschungen nicht nur präziser gestellt, sondern in die Produktion sozialwissenschaftlichen Wissens selbst eingebracht werden. Schließlich ließe sich auf diese Weise auch ein direkteres Entsprechungsverhältnis von Forschung und ihrer sozialen Nützlichkeit erreichen, das durch die Interessenten auch kontrollierbar bleibe. Sie forderten die Anerkennung der Initiative des IRM als ein gleichberechtigtes Element im Rahmen der pluralistischen Forschungen in Frankreich. Das hat jedoch nicht nur die "Aufhebung der Verfemungen" zur Voraussetzung, sondern die Gewährung entsprechender Mittel, wie: Zugang zu wissenschaftlichen Informationen anderer wissenschaftlicher Forschungszentren, Möglichkeiten des Vergleichs mit anderen Vorgehensweisen und auch die Bereitstellung von finanziellen Mitteln.21 Daß es eine positive Resonanz auf die Initiative des IRM gab, obwohl über seine Tätigkeit von den Massenmedien "eine regelrechte Mauer des Schweigens" errichtet wird, belegt die Tatsache, daß die Zahl der Abonnenten der sechs verschiedenen Zeitschriften22, die das IRM inzwischen herausgibt, sich seit 1986 verdoppelt und einen Stand erreicht hat, der fast dem von Universitätsschriften und anderen theoretischen Zeitschriften in Frankreich entspricht.23 Ein weiterer Beleg dafür, was sich insbesondere an der Zeitschrift "Société Française", die seit 1982 quartalsweise mit einem durchschnittlichen Umfang von siebzig Seiten erscheint, festmachen läßt, ist die Vielzahl der Beiträge aus interdisziplinärer Sicht und aus praktischer Kompetenz, die der jeweiligen thematischen Schwerpunktsetzung jeder Ausgabe maßgeblich das Gepräge gibt. Die mittlerweile vielfältigen interdisziplinären Verknüpfungen der Forschungen und ihre Einbindung in die Praxis der Klassenbeziehungen und des politischen Kampfes veranschaulichen insbesondere die wissenschaftlichen Kolloquien und Studientage, die seit 1981 ständiger Bestandteil des sehr breiten und öffentlichen wissenschaftlichen Lebens des IRM sind. Seit November 1982 organisiert das IRM jährlich thematische Konferenzzyklen oder Spezialseminare, die neben monatlichen Diskussionen in der Regel zwei Studientage im Oahr einschließen. Darüber hinaus findet jährlich ein zweitägiges Kolloquium statt. Diese wurden vorwiegend zu den favorisierten Ouerschnittsthemen veranstaltet. Sie belegen nachdrücklich sowohl am repräsentierten Teilnehmerkreis als auch hinsichtlich der Inhalte wissenschaftlicher Fragestellungen und ihrer Problemlösungsfindungen, die Notwendigkeit und Fruchtbarkeit einer Wissenschaftspraxis, die die Teilhabe verschiedenster Partner der sozialen und politischen Bewegungen ernsthaft praktiziert.24 Die Seriosität dieser Bemühungen führte bereits 1983 zu der Erkenntnis, daß die angestrebte "erweiterte wissenschaftliche Gemeinschaft" eben kein vor21 22
23 24
A. Bertho, S. Wolikow, Sciences sociales et société, in: Société Française, Paris 1982, Nr. 3, S. 52-53. Das IRM gibt mehrere Zeitschriften heraus. Ihr Hauptpublikationsorgan ist die Zeitschrift "La Pensée". Des weiteren sind es die Zeitschriften "Recherches Internationales", "Cahiers d'histoire", "Société Française". Das Bulletin "Issues" ergänzt die von der Abteilung Wirtschaft des ZK der FKP herausgegebenen Zeitschrift "Economie et Politique", seit 1985 erscheint die Zeitschrift "Avis et recherches" al s Publikation des IRM—Süd in Marseille. F. Lazard, Der Wirklichkeit zugewandt, a.a.O., S. 640. Ober die Kolloquien berichtete die Zeitschrift "Société Française" sehr detailliert. Das betraf insbesondere die Kolloquien zur Thematik "Die Arbeit - Krise und Veränderung" und "Wissen und Gesellschaft", wo selbst ein großer Teil der gehaltenen Beiträge publiziert wurde. Die Kolloquien der folgenden Oahre wurden zunächst in Form von Berichterstattungen reflektiert und ihre Ergebnisse in weiterführenden Darstellungen thematisch wiederaufgegriffen.
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rangig technisches oder forschungsorganisatorisches Problem ist, sondern auch ein wissenschaftstheoretisches, dessen Lösung eigener wissenschaftlicher Forschungen bedarf. Insofern war es eine konsequente H i n wendung zur eigentlichen und für das IRM zentralen Problematik, und nicht eine Referenz an die gewählte Thematik, als im Rahmen des Symposiums "Die Arbeit - Krise und Veränderung", in einem eigenständigen A r b e i t s kreis die Frage untersucht wurde, unter welchen Bedingungen eine w i s senschaftliche Erkenntnis der Arbeit möglich ist. Dazu wurden die Erfahrungen analysiert, die bei den Versuchen, neue Formen der Zusammenarbeit von Wissenschaftlern und Arbeitern im gemeinsamen Forschungsprozeß zu praktizieren, gemacht wurden. D a s Vorstellen unterschiedlicher Formen und Experimente, die dennoch gemeinsame Merkmale erkennen lassen, führte die Diskussion zu den Fragen: von wem die Rede sei, wenn von der Rolle der A r b e i t e r als Protagonisten der Forschung gesprochen werde, und wovon gesprochen werde, wenn von einem Beitrag der A r b e i t e r zur wissenschaftlichen Forschung die Rede sei.25 Der D i s k u s s i o n s k o n s e n s bestand darin, daß es die Erfahrungen, die Erkenntnisse und Urteile der Arbeiter sind, die als spezifische Formen sozialer Erfahrungen sowohl Bestandteil der Kultur als auch des Klassenbewußtseins sind, Eingang in die sozialwissenschaftliche Erkenntnisproduktion finden müssen. Denn es sind die Produzenten, die unmittelbar die Bewegung des Systems der Produktivkräfte und ihrer sozialen Kombination leben. Sie artikulieren, sofern vermittels des "geheimen Einverständnisses" Gleichgesinnter die Sprachbarrieren überwunden werden, den untrennbaren Zusammenhang von konkreter und abstrakter Arbeit in ihren unersetzbaren Erfahrungen, die sich zunehmend aus dem Innern der Produktivkraftentwicklung selbst als Fragen ihrer Persönlichkeitsentfaltung s t e l l e n . In dem von Y . Schwartz und D. Faita 1985 herausgegebenen Buch "Der Mensch als Produzent" wird nachgewiesen, daß die neue wissenschaftliche Gemeinschaft ein Erfordernis der Entwicklung der modernen Produktivkräfte selbst ist. Diese Publikation, die ein Gemeinschaftswerk von A r beitern und einem interdisziplinären Wissenschaftlerkollektiv - a u s Philosophen, Ökonomen, Linguisten, Ergonomen, Technikern und Ingenieuren - ist, kommt nicht nur zu neuartigen Einsichten und interessanten Konkretionen bei der Untersuchung des Verhältnisses der Arbeiter zu ihrer Arbeit, deren Krisenhaftigkeit und Entwicklung aus der gemeinschaftlich erarbeiteten Perspektive aller beteiligten Wissenschaftsdisziplinen und der Arbeitererfahrungen analysiert wird, sondern es protokolliert zugleich sehr minutiös die komplizierte Praxis einer derartigen F o r s c h u n g s k o o p e r a t i o n . 2 7 D i e s e s Buch veranschaulicht ebenso, wie die in einer speziellen Nummer der "Société F r a n ç a i s e " 2 ® fortgesetzte Diskussion zu dieser Problematik, daß das Konzept der "erweiterten wissenschaftlichen Gemeinschaft" viele neue erkenntnistheoretische, wissenschaftstheoretische, methodologische, aber auch politische und selbst ethische Fragestellungen aufwirft. Es ist ein interessantes, aber schwieriges Beginnen, handelt es sich doch darum, "die institutionalisierten Formen der wissenschaftlichen Arbeitsteilung, welche die Verhältnisse der Herrschaft des Menschen über den Menschen reproduzieren und verstärken, zu ü b e r w i n d e n " . 2 9 Oder, wie L. Sève, der, die diesen Überlegungen und Bemühungen zugrunde liegenden Positionen in seinem Plädoyer für eine dialektische Neukonzeptualisierung des Erkenntnisprozesses auch formuliert: "Sobald man die realen Menschen nicht mehr als das Gestein betrachtet, aus dem die universitäre Wissenschaft heraus25 26 27 28 29
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Y. Schwartz, Vers une nouvelle communauté scientifique? Einführungsvortrag zum 4 . A r b e i t s k r e i s des Kolloquiums: "Die A r b e i t - Krise und Veränderung", in: Société Française, P a r i s 1983, Nr. 7, S. 4 6 - 4 8 . Y. Schwartz, Vers une nouvelle communauté scientifique - présentation des débats, in: Société Française, Paris 1984, Nr. 10, S. 34-37. Vgl. Y.-C. Lequiun, Rezension zum Buch von Yves Schwartz und D . Faita (Hrsg.) L'homme producteur, P a r i s 1985, Editions sociales, in: Société Française, Paris 1985, Nr. 17, S. 68/69. Die Nummer 10 der Zeitschrift "Société Française" war dieser Problematik gewidmet. L. Sève, Historische Individualitätsformen und Persönlichkeit, a.a.O., S. 4 1 .
zuschlagen ist, sondern als das kostbare Metall, aus dem ein Wissen neuer Art und Tragweite gewonnen werden muß, wird es unmöglich, sie weiterhin für einfache Ob.jekte von Wissenschaft zu halten, wird es unentbehrlich, sie dabei zu unterstützen, sich selbst zu aktiven S u b j e k ten zu machen, w a s wohl verstanden nur zu realisieren ist, wenn das theoretische Ziel ihnen nicht von Natur aus fremd ist, sondern mit ihrem eigenen praktischen Ziel übereinstimmt, das heißt auf seine Weise die Aufhebung ihrer individuellen und kollektiven Entfremdung zum Ziel hat."30 Zweifellos sind sie kühn, diese Perspektiven, die im E r g e b n i s sich kreuzender und verquickender theoretischer und angewandter Forschungen an unterschiedlichen Gegenständen und aus differenzierten disziplinaren Horizonten kollektiv und streitbar antizipiert werden. Sie entstanden im Schnittpunkt von Forschungen zur Entwicklung der Arbeit und des Klassenbewußtseins sowie zu den weitergeführten Untersuchungen zur menschlichen Individualität. A u c h zu dieser Problematik legten W i s s e n s c h a f t ler verschiedener Fachrichtungen (Philosophen, Soziologen, Psychologen, Historiker und Psychoanalytiker) ein k o l l e k t i v e s Produkt systematischer Diskussionen, das dennoch die Handschrift jedes einzelnen trägt, vor. 1987 erschien diese Publikation unter dem T i t e l "Ich - über die Individualität: praktischer Zugang, marxistischer Einstieg"-*^ die unter französischen Marxisten bereits kontroverse D i s k u s s i o n e n ausgelöst hat, geht es doch nicht nur um weitergehende Ü b e r l e g u n g e n zur marxistischen Persönlichkeitstheorie, sondern um bedeutsame Fragestellungen der schöpferischen Weiterentwicklung marxistischer. Theorie selbst. Viele weitere Forschungsergebnisse des W i s s e n s c h a f t l e r k o l l e k t i v e s des IRM müßten hier zumindest Erwähnung finden, um seine umfassenden Erkenntnisleistungen auch nur annähernd wiedergeben zu können. A b e r V o l l s t ä n d i g keit in der aufzählenden Benennung interessanter Forschungsergebnisse war nicht angestrebt, vermag sie doch die differenzierte inhaltliche Zurkenntnisnahme und produktive Rezeption und Verarbeitung nicht zu ersetzen . D a s W i s s e n s c h a f t l e r k o l l e k t i v des IRM hat in Vorbereitung des 26. P a r teitages der FKP selbst seine vielfältigen Forschungen theoretisch v e r dichtet b i l a n z i e r t 3 2 indem es seine Einsichten in das Wesen der g e s a m t gesellschaftlichen Krise Frankreichs mit der Darstellung von Entwicklungsalternativen zur kapitalistischen V e r g e s e l l s c h a f t u n g v e r b a n d . D i e se Entwürfe belegen, daß die marxistische Denkweise und W i s s e n s p r o d u k tion auch in Frankreich eben nicht wie in heutiger Zeit b e s o n d e r s lautstark behauptet - sich überlebt hat, sondern im Gegenteil, an neuen Fragen der gesellschaftlichen Praxis ihre theoretischen Waffen zu schärfen vermag. In seinem ersten Dezennium hat d a s IRM A r b e i t s e r g e b n i s s e v o r g e legt, die sich sowohl in die von K. Marx begründete, historische und internationale Traditionslinie marxistisch-leninistischen D e n k e n s einschreibt, als auch der nunmehr zweihundertjährigen Losung der französischen Revolution: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit neue P e r s p e k t i ven zu ihrer Verwirklichung eröffnet. f
Marianne
30 31 32
Schulz
Ebenda. M. Bertrand, A . Casanova, Y, Clot, B . Doray, F. Hurstel, Y . Schwartz, L. Sève, O.-P. Terrail, 3e - Sur l'individualité, approches pratiques/ouvertures marxistes, Paris 1987, M e s s i d o r Editions sociales. Vgl. Penser la France, in: Société Française, Paris 1986, N r . 21.
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40 Jahre ISA - Soziologie im Dienste internationaler Verständigung Erkenntnisfortschrittes
und
1989 ist auch für die Internationale Soziologische Assoziation ein Jubiläumsjahr. Vierzig Jahre zuvor nämlich, vom 5. bis zum 10. September 1949, wurde mit Unterstützung der UNESCO ein internationaler Verband von Soziologen aus der Taufe gehoben, der seitdem mächtig angewachsen ist und heute die größte nichtstaatliche Organisation auf dem Gebiete der Gesellschaftswissenschaften in der Welt darstellt. Seit nunmehr rund einem Vierteljahrhundert arbeiten auch soziologische Wissenschaftler aus der DDR gleichberechtigt und aktiv in der ISA mit: Zeit also auch hier für eine Zwischenbilanz, für einen Rückblick wie für einen Ausblick auf die friedensförderliche und erkenntnisstiftende Wissenschaftskooperation von Soziologen über die Ländergrenzen hinweg. Vom Gelehrtenklub zur Weltorganisation Nur zwei Dutzend Fach-"Männer" (im wahrsten Sinne des Wortes) waren es, die sich da in Oslo vor vier Jahrzehnten versammelt hatten, um gemäß einem B e s c h l u ß der UNESCO-Generalkonferenz die Internationale Soziologische Vereinigung (ISA) zu gründen, Statuten zu verabschieden und ein erstes Provisorisches Exekutivkomitee zu wählen. Der bekannte amerikanische Stadt- und Kultursoziologe Louis Wirth wurde der erste Präsident der ISA mit zwei Vizepräsidenten und sechs Exekutivkomiteemitgliedern ihm zur Seite. Außerdem wurde, wie noch heute beispielsweise in der Internationalen Psychologenvereinigung üblich, nur ein Forschungskomitee gebildet, das allerdings Subkomitees nach den Objekten oder auch nach Projekten der soziologischen Forschung zu errichten autorisiert w u r d e . Anfangs zielte die ISA, wie es scheint, vor allem auf individuelle Mitgliedschaften von bekannten Forschern und von einzelnen Forschungseinrichtungen. D i e s zwar nur für einen symbolischen Mitgliedsbeitrag von einem D o l l a r im ersten und zehn Dollar im zweiten Falle, doch kaum zu übersehen: mit dem elitären Anspruch, möglichst nur ausgewählte Vertreter des Faches in der Organisation zu haben. Dennoch: Von Anfang an hatte die Assoziation das ambitionierte Ziel, ein internationales Netzwerk zur Förderung der Soziologie als Wissenschaft aufzubauen. Davon zeugte dann auch schon der erste Weltkongreß, der 1950 vor allem dank der großen Anstrengungen von René König in Zürich zustande kam und 120 Delegierte aus 3 0 Ländern vereinte. Das seinerzeitige Thema klingt heute überraschend aktuell: "Die soziologische Forschung in ihrer Bedeutung für die internationalen Beziehungen". A u ß e r nordamerikanischen und westeuropäischen Soziologen waren von Anfang an auch die Lateinamerikaner und die Inder dabei, auf dem Kongreß ebenso wie in den leitenden Organen der sich bildenden Weltorganisation. A u s Osteuropa, wo offiziell um diese Zeit von der Soziologie nicht die Rede war, gab es nur einen Vertreter: Stanislaw Ossowski von der Universität Warschau, der auch zum Mitglied des ersten Exekutivkomitees gewählt wurde (1950- 1953). D a s sollte sich jedoch bald ändern; denn noch Ende der 50er Jahre, teils auch Anfang der 60er Jahre wurden in nahezu allen sozialistischen Ländern nationale Soziologenverbände gegründet, die dann nach und nach auch den M i t g l i e d e r k r e i s der ISA deutlich erweiterten und mehr als das: ihm die sozialistische Dimension hinzufügten. 1963 wurden auch die Soziologen der DDR kollektives Mitglied des-Weltverbandes. 1966 entsandten sie ihre erste Delegation zum inzwischen sechsten Weltkongreß nach Evian (Frankreich). Der Vollständigkeit halber muß jedoch auch erwähnt werden, daß schon 1959 Philosophen, Historiker und weitere Gesellschaftswissenschaftler aus der DDR als Gäste am Soziologie-Weltkongreß teilnehmen konnten. Drei Jahre später aber waren Soziologen aus unserem Land durch ein Büro der Besatzungsmächte in Berlin (West) dann daran gehindert worden, nach Washington zum Kongreß zu reisen. Um so ermutigender mußte es für die Soziologen in der DDR und auch in den anderen Ländern der sozialistischen Staatengemeinschaft wirken, daß 1970 die Bulgarische Soziologische Assoziation die Ausrichtung eines Weltkongresses übernahm. D i e s e r VII. Weltkongreß für Soziologie in Varna wird gemeinhin als ein Meilenstein auf dem Wege der ISA zu einer die Soziologie im Weltmaßstab tatsächlich vertretenden wissenschaftlichen Vereinigung angesehen. Und er war es auch: Nicht nur wegen der mehr als 4000 Soziologen, die ihm
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eine bis dahin ungekannte zahlenmäßige Größenordnung verliehen, sondern auch wegen der komplexen Struktur, die die ISA jetzt anzunehmen im Begriff war. Mit der Anwesenheit und Mitgliedschaft von Soziologen aus allen Erdteilen, und dies in großer Zahl, hatte der Soziologieverband nun e n d g ü l tig seinen anfänglich konventionell-akademisch anmutenden C h a r a k t e r abgestreift und war dem erwünschten Ziel der wahrhaft globalen Repräsentanz der soziologischen Wissenschaft mittels des internationalen Informationsaustausches und des direkten Kontaktes der Fachkollegen aus aller Welt ganz entschieden ein Stück nähergekommen. Die Expansion, die die Soziologie in jenen stürmischen Oahren in vielen Ländern erfuhr, ebenso wie die Anerkennung, die sich gerade in jener Zelt die marxistische Soziologie zu verschaffen wußte, hatten das ihrige dazu beigetragen, daß sowohl quantitativ als auch qualitativ jetzt Dimensionen erreicht waren, die das ganze Spektrum der verschiedensten Richtungen und Strömungen einer aufstrebenden Wissenschaft umfaßten. Die Komplexität der Weltorganisation drückt sich nunmehr nach mehreren Seiten hin aus. Erstens natürlich in der Mitgliedschafts A u ß e r v i e len bedeutenden Forschern als individuellen Mitgliedern und Forschungsinstituten und universitären Einrichtungen, die auf dem Gebiet der Soziologie einen Namen hatten, bildeten jetzt vor allem die nationalen und regionalen soziologischen Verbände den vielgliedrigen Korpus. Zweitens aber war es die wachsende Zahl der Research Commitees, die sozusagen den wissenschaftlichen Unterbau der ISA darstellten. B i s 1970 waren iy Ständige Komitees errichtet worden, zu denen sich 1971 bereits zehn weitere gesellten. Sie deckten bestimmte Forschungsrichtungen oder zumeist sogar ganze Zweigdisziplinen der Soziologie ab und waren somit ein Ausdruck der inneren Differenziertheit, wie sie für jede entwickelte W i s senschaft typisch ist. Schließlich verdient auch die entstandene vielschichtige O r g a n i s a tionsstruktur d e s soziologischen W e l t v e r b a n d e s ausdrückliche E r w ä h n u n g . Im übertragenen Sinne ist sie demokratisch-zentralistisch, zugleich aber in einem bestimmten Sinne auch föderalistisch. Alle leitenden Organe werden gewählt, seien es nun die Vorstände der einzelnen Forschungskomitees oder das zentrale Leitungsgremium, das E x e kutivkomitee, an dessen Spitze die jeweiligen Präsidenten und V i z e p r ä s i denten stehen. Sie haben dann die legitimen Vollmachten, die W e l t v e r einigung zwischen den großen Kongressen zu führen; Vizepräsidenten übernahmen beispielsweise den Vorsitz des einflußreichen P r o g r a m m - und d e s sehr aktiven Publikationskomitees oder des F o r s c h u n g s k o o r d i n i e r u n g s k o m i tees wie schließlich auch des Finanz- und Mitgliederkomitees, unverzichtbar für eine komplexe Organisation. Ohne Übertreibung kann gesagt werden, daß diese leitenden Körperschaften der ISA sich aus international namhaften Wissenschaftlern, größtenteils Gelehrten von Weltruf, zusammensetzen. Erinnert sei nur an frühere ISA-Präsidenten oder V i z e p r ä s i denten wie R. König, 0. Szcepanzki, T. Bottomore, F. Cardoso oder A . Touraine, Z. Osavkov. M. Sokolowska, R. T u r n e r und A . A b d e h l - M a l e k . Technisch wird die umfängliche Arbeit der Leitung im Interesse der globalen Vernetzung der Soziologie durch ein e f f e k t i v e s E x e k u t i v s e k r e t a r i a t unterstützt, das seinen Sitz schon in Oslo (St. Rokkan), dann lange Zeit in Mailand (G. Martinotti, E. Mlgnone), später in Toronto (K. Oonassohn, C. Saint-Pierre, M„ Rafie) und danach in A m s t e r d a m (F. Geyer) hatte und seit 1987 in Madrid (I. Barlinzka) beheimatet ist, nicht zuletzt durch die großzügige Unterstützung der für die Soziologie außerordentlich aufgeschlossenen Regierung des Königreiches Spanien. D a s föderative Element in der ISA existiert vor allem in Gestalt d e r schon erwähnten, relativ eigenständigen Forschungskomitees, die über ihren eigenen Rat, eine Art zweites Parlament der ISA, einige V e r t r e t e r direkt in die Spitze des Weltverbandes bringen können, während im allgemeinen das Exekutivkomitee und sein Präsidium über die Wahlen, oft nach "Kampfabstimmungen", durch das Council bestimmt werden. Die DDR hat als kollektives ISA-Mitglied stets einen D e l e g i e r t e n mit Sitz und Stimme im Council. 1982 stellte sie zurr ersten Mal einen der gewöhnlich zwei, maximal drei Vertreter aus der sozialistischen G e m e i n schaft innerhalb der siebzehn Exekutivkomiteemitglieder. 1986 wurde ihr das Amt des Vizepräsidenten, verantwortlich für das Programm d e s nächsten Weltkongresses und außerdem für die internationalen Publikationsserien, durch die Wahl auf dem XI. Weltkongreß in D e l h i übertragen.
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A l l e s in allem hat heute die ISA eine Struktur, die ihr die notwendige Flexibilität, aber auch Geschlossenheit verleiht, damit sich diese internationale Wissenschaftlerorganisation, deren Mitgliedschaft aller Kategorien inzwischen nach Zehntausenden zählt, in einer Richtung entwikkeln kann, die weltweit die Soziologie voranzubringen vermag. Einheit in der Vielfalt Wie jedes weitreichende und zugleich in sich äußerst differenzierte soziale Netzwerk macht die Internationale Soziologenvereinigung auf den ersten Blick einen sehr heterogenen Eindruck und vermittelt das Bild einer fast schon verwirrenden Mannigfaltigkeit, bei der man nach dem übergreifenden Moment erst suchen muß. Da sind zuerst die zahlreichen Forschungskomitees, jedes einzelne mit seinem eigenen Gegenstand befaßt. In den vierzig Jahren der Existenz der ISA ist ihre Zahl von 1 auf nunmehr 4 0 angestiegen. Die meisten von ihnen haben über hundert Mitglieder, manche sogar Hunderte, Soziologen und andere Wissenschaftler benachbarter Disziplinen, die sich in der Regel ein- oder zweimal jährlich zu Tagungen treffen und auch in der Zwischenzeit mannigfache Kontakte untereinander pflegen. Die breite Palette dieser Ständigen Forschungskomitees erlaubt es jedem der Mitglieder, sich mit seinem eigenen Forschungsinteresse in die internationale O r g a nisation einzubringen und im Erfahrungsaustausch mit Kollegen von anderswoher sowohl die Methoden als auch die Ergebnisse seiner Untersuchungen zu prüfen. Im wechselnden Maße fördern die Forschungskomitees nicht nur den Informationsaustausch zum gegenseitigen Nutzen, sondern auch A r beiten zu ein- und demselben Thema, das von verschiedenen Positionen aus - nationalen ebenso wie ideologischen - und auch von fachlich unterschiedlichen Zugängen her angegangen wird. Am fruchtbarsten erwiesen sich Vergleichsuntersuchungen, deren Zahl erfreulicherweise immer mehr zunimmt. T r o t z der bekannten methodologischen und anderen Schwierigkeiten, die ihnen gewöhnlich entstehen, entsprechen sie in besonderem Maße gerade dem Anliegen einer Organisation, die auch in ihren Basiseinheiten stets auf ihren internationalen Charakter bedacht sein muß. Der Vergleich, in welcher Form auch immer, ist ein Band, das zusammenhält, trotz oder sogar gerade wegen der dabei hervortretenden Unterschiede. Kein ernsthafter Wissenschaftler wird sie als ein Nachteil ansehen oder etwa gar zu verwischen suchen. Soziologen aus den sozialistischen Ländern beteiligen sich folgerichtig nicht nur an den Weltkongressen, sondern auch an der kontinuierlichen wissenschaftlichen Kooperation auf dem Wege der aktiven Mitarbeit in den Forschungskomitees. Freilich variiert ihr Engagement auf dieser Basisebene der ISA recht erheblich. Mit großer Freude wird in der Weltorganisation zum Beispiel die Aktivität der bulgarischen, polnischen, jugoslawischen, ungarischen und sowjetischen Soziologen in den Forschungskomitees vermerkt. Sie richten seit langem auch regelmäßig Tagungen solcher Komitees in großzügiger Weise in ihren Ländern aus, was sehr wohl als ein Zeichen ihrer internationalen Verbundenheit auf wissenschaftlichem Gebiet anerkannt wird. V o r allem Jedoch steuern sie neue Ideen und Konzepte ebenso wie substantiell beachtliche Forschungsresultate aus der sozialistischen Perspektive bei, durch die die internationale Fachdiskussion bereichert wird. Es überrascht demnach nicht, daß Präsidenten von Forschungskomitees, sofern sie aus sozialistischen Ländern kamen, diesen nationalen Assoziationen entstammten. Immerhin sind aber auch aus der DDR schon zweimal Soziologen zu Vizepräsidenten ihrer jeweiligen Forschungskomitees gewählt worden: auf den Gebieten der Bildungs- und der Ougendsoziologie. Es ist in diesem Zusammenhang ein hoffnungsvolles Zeichen, daß nach zehnjähriger Unterbrechung im Jubiläumsjahr der ISA die Forschungskomitees für Arbeitssoziologie und für M e t h o dologie/Methodik in der DDR tagen werden und bald darauf wahrscheinlich auch das Komitee auf dem Gebiet der Jugendsoziologie. An den Tagungen werden gewiß nicht nur die Spezialisten teilnehmen, sondern - wie es in der ISA seit langem üblich ist - auch andere Soziologen aus dem jeweiligen Land, in dem die ISA-Konferenzen abgehalten werden. Die kaleidoskopische Vielfalt der ISA wird natürlich ganz besonders auf den Weltkongressen augenfällig, den großen Olympiaden des Faches. Die inzwischen erreichte theoretische Breite der Veranstaltungen ist kaum noch zu überblicken. Sie zeugt von der außerordentlichen Spannweite der Disziplin, die keinen Aspekt und keine Bereiche des gesellschaftli388
chen Lebens auf dem Erdball auszulassen scheint. Doch es ist nicht einfach diese vielgestaltige Thematik, die das Bild so facettenreich macht; es sind auch die Menschen, die Kollegen aus aller Welt. A u f dem Kongreß wimmelt es geradezu von Menschen aller Hautfarben und aus aller Herren Länder, Frauen und Männern, Jungen und Alten, Spezialisten und mehr allgemein Orientierten. W a s sie alle in ihrer Vielfalt verbindet, ist das Eine: ihr Interesse an der soziologischen Wissenschaft und deren Resultaten. Gewiß, eine verschworene Gemeinschaft von Gleichgesinnten ist es n i c h t . Eher das Gegenteil: ein Verband, der gerade das Verschiedenartige in sich einschließt und in dem es als ein Vorteil gilt, nicht gleicher Meinung sein zu müssen. G e n a u darüber gibt es grundlegend Einigkeit: K o n s e n s über den Dissens. D i e s allein macht einen wissenschaftlichen D i a l o g fruchtbar, ja genau genommen, erst möglich. Die ISA bildet für die Soziologen aus aller Welt die einzigartige Möglichkeit, von verschiedenen weltanschaulichen Standpunkten aus, und auf dem Boden unterschiedlicher fachlicher Paradigmen Kontroversen auszutragen, in denen sich zeigen muß, wer die besseren wissenschaftlichen Argumente auf seiner Seite hat. Trotzdem: Sieger und Besiegte in solchen Auseinandersetzungen gibt e s im eigentlichen Sinne nicht. Vielmehr werden damit gegenseitige Lernprozesse in Gang gesetzt, die für unsere heutige bedrohliche Welt auf allen Gebieten so elementar wichtig geworden sind. Und überraschend oft kommen auch Gesellschaftswissenschaftler von sehr heterogenen politischen und wissenschaftlichen Standorten aus zu gleichen oder ähnlichen Einsichten in Probleme oder gar auch Lösungen, die sie fortan als ihre gemeinsamen betrachten. Dabei wächst dann auch das G e f ü h l der gemeinsamen V e r a n t wortung. Von einigen anderen Fachdisziplinen können auch Soziologen lernen, wie wichtig es heutzutage ist, sich friedlich zu verständigen und sich als eine weltweite Assoziation von Wissenschaftlern zu begreifen, deren kooperative Kraft nicht gering zu veranschlagen ist, wenn es um Antworten auf grundlegende Menschheitsfragen geht, die noch allemal in starkem Maße soziologischer Natur sind. Soziologie für die eine, unsere Welt "Sociology for One World-Unite and Diversity" - das wird das G e n e r a l thema des kommenden Weltkongresses sein, der im Juli 1990 in M a d r i d stattfinden wird. Seitdem das ISA-Programmkomitee, auf einen Vorschlag seines Vorsitzenden aus der DDR hin nach einer vorhergegangenen Debatte und Abstimmung mit Vertretern der Soziologie aus allen Erdteilen d i e s e s Thema fixierte, hat es aus aller Welt, besonders auch von Soziologen aus sozialistischen Ländern.eine ungewöhnlich breite und erfreuliche Zustimmung dazu gegeben. Irgendwie scheint mit diesem T h e m a der N e r v der Zeit getroffen worden zu sein. Auf die real vor sich gehende Globalisierung von sozialen P r o b l e m e n antwortet also die Soziologie auf diesem W e g e mit der weiteren Internationalisierung ihrer selbst, getragen von einem theoretischen E r k e n n t nisinteresse, das auf die wissenschaftliche A n a l y s e von sozialen P r o z e s sen nicht nur in einzelnen Gesellschaften, sondern auch darüber hinaus im Weltmaßstab gerichtet ist. Ob die Disziplin indessen überall schon auf die von den gesellschaftlichen Entwicklungen im internationalen Rahmen ausgehenden Impulse vorbereitet ist, dürfte zumindest eine offene Frage sein. Das Kongreßthema ist in diesem Sinne betont programmatisch gehalten. Wissenschaft war schon immer international. Wer sie anders ansah, davon zeugt ihre ganze Geschichte, hat ihr Wesen eigentlich nie v e r s t a n den, nicht zu ihr gehört und ist prompt auch gescheitert. D a s ist es also nicht, w a s das Neue an ihr ausmacht, obwohl es manchem sogar schon in dieser Form vorwärtsweisend erscheinen könnte. D e r w i r k l i c h e w i s s e n schaftliche Fortschritt besteht heute jedoch darin zu begreifen, wie abhängig alle Teile dieser Welt in ihrer ganzen Existenz v o n e i n a n d e r geworden sind, die Wissenschaften darin eingeschlossen. Obwohl es n a t ü r lich bei weitem keine einheitliche globale Gesellschaft in unserer heutigen Welt gibt, sondern vielmehr mannigfaltige soziale Widersprüche in einzelnen Gesellschaften und erst recht zwischen den gesellschaftlichen Systemen existieren, hat die Interdependenz der Problemlagen, zum B e i spiel in der Friedensfrage und Umweltproblematik, in rasanter Weise zugenommen. Ohne den anderen geht es deshalb nicht mehr. Was da an Globalität Gestalt annimmt und sich als die eine, die unsri389
ge Welt in ihren tausendfachen Verquickungen herstellt, ist also keineswegs die Entstehung von Uniformität oder Konformität, etwa ein Vorgang glatter Konvergenz. Auch hier besteht die Einheit in der Vielfalt, n ä m lich im Widerspruch. Kein Soziologe ist so naiv anzunehmen, wir hätten schon eine Art von "Weltgesellschaft", in der die Unterschiede in ihren jeweiligen Systemen und zwischen diesen bereits vernachlässigt werden könnten. Die Divergenzen sind oft hart genug. A b e r es gibt heute beide Tendenzen in der internationalen Soziologie: Sowohl die Diversifizierung in Form zahlreicher Theorien und Modelle, mit denen soziale Prozesse und Strukturen historisch-konkret in den verschiedenen Gesellschaftstypen erklärt bzw. abgebildet werden sollen, als auch einen Trend,zu länder- und systemübergreifenden Erklärungen und Lösungen - besondere hinsichtlich globaler Problemlagen - zu gelangen, das heißt zu einem mehr einheitlichen V e r s t ä n d n i s und zu gemeinsamen Anstrengungen auch gerade in dieser Richtung, Die im Thema des nächsten soziologischen Weltkongresses mitschwingende Programmatik soll ganz bewußt hierfür ein Zeichen setzen und den Obergang in diese neue Dimension beschleunigen helfen. Und an Stoff mangelt es wahrhaftig nicht. In den künftigen großen Symposia-Sessionen auf dem Weltkongreß ebenso wie in vielen Tagungen der ISA-Forschungskomitees wird sich der wissenschaftliche Meinungsstreit im Interesse der gemeinsamen Lösung systemübergreifender oder globaler Probleme um eine Reihe heißer Themen drehen. D a wird es um die Analyse sozialer Ressourcen gehen, die mobilisiert werden können, um das O b e r leben der Gesellschaft zu sichern: in der Krieg-Friedens-Frage, bei den Gefahren der Umweltzerstörung, der Oberwindung der Unterentwicklung und der Gewährleistung von Lebensqualität für größere Teile der Gesellschaft, nicht nur der materiellen, sondern auch der politischen und kulturellen, die sozialen Auseinandersetzungen um die Menschenrechte darin eingeschlossen. Ein weiterer Strang der inzwischen bereits weltumspannenden wissenschaftlichen Diskussion in der Soziologie ist mit den sozialen B e dingungen, Implikationen und Folgen der Neuen Technologien gekennzeichnet: Was bringen sie an Veränderungen in der Arbeitssphäre mit sich, an A u s wirkungen auf die Arbeitsbedingungen und Lebenslagen, die Arbeitsteilung und die damit verknüpften Probleme der Herrschaft im Betrieb, aber auch im größeren Kontext einer Gesellschaft? Was bedeuten sie für die internationale Arbeitsteilung, die Veränderung der Weltökonomie und die Beziehungen zwischen Staaten, zum Beispiel auf dem Wege vom Kapital- bzw. Technologietransfer? Wie verlaufen die internationalen Informationsflüsse mittels der modernen Kommunikationsmedien und wie beeinflussen sie den sozialen und kulturellen Austausch zwischen Völkern? Welche sozialstrukturellen Umschichtungen zeichnen sich infolgedessen ab? Unausbleiblich tauchen neue soziale Akteure auf der Bühne des gesellschaftlichen Geschehens auf. Die Soziologen müssen sie identifizieren können und sich über ihre Rolle klar werden. Hier bilden zur Zeit die neuen sozialen Bewegungen, der weltweite Kampf um Demokratie und das neue V e r h ä l t n i s von Klassen und Nationen, Geschlechtern und ethnischen Gruppen die zentralen Untersuchungsgegenstände. In den sozialen Kämpfen entstehen auch neue soziale Identitäten. Wer sind heute die Hauptakteure und w e l c h e s sind die maßgeblichen sozialen Institutionen, die die tiefgreifenden Wandlungen auf dem Erdball v o r a n t r e i b e n ? Diese Frage wird von vielen Soziologen heute schon auf der globalen Dimension gestellt. D a nach bleibt es jedoch unverzichtbar, die Systemmethodik dabei nicht zu verwischen. Ferner i.st nicht zu leugnen, daß die neuen Entwicklungen im Weltmaßstab auch neue kulturelle und moralische Fragen aufwerfen, die Soziologen nicht kalt lassen d ü r f e n b e i s p i e l s w e i s e die Humangenetik, das m o d e r ne V e r s t ä n d n i s der menschlichen N a t u r überhaupt, die Ursachen und W i r kungen einer weltweiten Welle von religiösen Bewegungen, neue Fragen in den Weltanschauungen und der praktischen Ethik, die aus dem unübersehbaren Wandel der materiell-technischen Lebensbedingungen hervorgehen. Schließlich wird auch das ganze Geflecht der sich wandelnden Beziehungen zwischen ganzen Gesellschaften und innerhalb de rselben neu analysiert werden müssen: die sich verändernde Weltwirtschaftsordnung, die Konflikte, die aus Beziehungen der Ungleichheit zwischen Staaten und Gesellschaften entstehen, nicht zuletzt die notwendigen Umgestaltungsprozesse, die jetzt gegen Ende unseres Jahrhunderts vor keiner Gesellschaft haltmachen und national in unterschiedlicher Weise von ihnen bewältigt werden. Oberall verändert sich die Welt in einer Weise, daß die Soziolo-
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gie alle Mühe hat, dieses Tempo mitzuhalten. Die Probe aufs Exempel steht da gewiß noch aus. Immerhin jedoch bieten der Reichtum an schon vorliegenden Erkenntnissen und das ausgezeichnete Methodenarsenal unserer Wissenschaft eine gewisse Gewähr dafür, daß es Soziologen in w o h l verstandener internationaler Gemeinschaftsarbeit und V e r a n t w o r t u n g gelingen sollte, zu Problemlösungen vorzustoßen, die auf den bezeichneten Forschungsfeldern sowohl in ihren jeweiligen Gesellschaften von Nutzen sein könnten als auch darüber hinaus nunmehr auch nach ihrer globalen Dimension bewertet werden. Auch hier helfen nur gegenseitige Lernprozesse. Sowjetische S o z i o l o gen waren es, die schon 1982 auf dem Weltkongreß in M e x i c o - C i t y in a l ler Klarheit auszusprechen wußten, daß keine Richtung in der Soziologie das Monopol auf die ganze Wahrheit beanspruchen kann. Auf dem nächsten Weltkongreß wird es nun den fälligen universellen D i s k u r s geben, und alle soziologischen Theorien werden auf ihre E r k l ä r u n g s k r a f t hinsichtlich der betriebenen intersystemaren Problemlagen getestet w e r den. Wir haben heute in der Soziologie Theorien, die einerseits im Widerstreit miteinander stehen, andererseits sich aber auch in mancher Hinsicht zu ergänzen vermögen. Das wird immer mehr zur w i s s e n s c h a f t l i chen Normalität im internationalen Geschehen, ohne deren G e w ä h r l e i s t u n g ein wirklicher Erkenntnisfortschritt undenkbar ist. Es geht um eine grobe, gemeinsame intellektuelle Anstrengung, um die eine, unsere Welt zu erhalten und zugleich sozial ein Stück voranzubringen. Größere T e i l e der internationalen Assoziation der Soziologen stellen sich heute auf die neue Situation im Weltmaßstab ein und ziehen d a r a u s grundlegende Konsequenzen für ihr theoretisches Denken und p r a k t i s c h e s Handeln a l s verantwortliche Wissenschaftler. Kriterien für den wirklichen theoretischen Erkenntnisfortschritt wie für die praktische Verwendbarkeit der Soziologie lassen sich heute in einer Welt, die immer mehr zusammenhängt, nicht mehr allein aus dem unmittelbaren Nutzen für die jeweilige gesellschaftliche Umwelt im n a t i o nalen oder regionalen Maßstab ableiten, wiewohl deren Wert unbestritten und unter den je verschiedenen gesellschaftlichen Verhältnissen gültig bleibt. Doch es ist gerade die wissenschaftliche Kooperation zwischen Soziologen unterschiedlichster Herkunft und Orientierung, die eine Triebkraft internationaler Verständigung und eines dementsprechenden Erkenntnisfortschritts darstellt. B e i der gegenwärtig zu beobachtenden wirklich durchgreifenden Internationalisierung der Wissenschaft wird das auf die D a u e r Bestand haben und in ihren Erkenntnisschatz eingehen, was den sich herausbildenden internationalen Maßstäben der Kritik und Bewertung standhält und die weltweite Suche nach Problemlösungen fördern hilft. G e n a u dafür ist die Internationale Soziologische V e r e i n i gung die rechte Plattform, um am notwendigen Wandel der kognitiven und sozialen Identität der von ihr repräsentierten Wissenschaft überall kräftig mitzuwirken. Die Sozioloqen in der DDR werden bestrebt sein müssen, das ihrige H a . zu beizutragen, um den neuen Herausforderungen gerecht zu w e r d e n . B l i c k t man außerdem auf den neuerlichen A u f s c h w - q der Soziologie an vielen Ecken und Enden dieser iVelt, dann braue jinem, aus dieser i n t e r n a t i o nalen Perspektive heraus gesehen, um die Zukunft der Disziplin nicht bange zu sein. Artur Meier
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Intensivierung und Lebensweise. Interdisziplinäre Konferenz des Instituts für Soziologie und Sozialpolitik (ISS) vom 2. bis 4. Februar 1988 in Frankfurt/Oder
150 Wissenschaftler und Vertreter staatlicher und gesellschaftlicher Institutionen der DDR, der CSSR, der UdSSR, der Volksrepublik Bulgarien und V i e t n a m s versammelten sich in Frankfurt/Oder, um vielfältige Fragen, Aufgaben und Forschungsergebnisse aus soziologischer, ökonomischer, philosophischer, medizinischer, juristischer, psychologischer, städtebaulicher und leitungswissenschaftlicher Sicht zu beraten. A l s Grundlage der Diskussion lagen von einem Ougendforscherkollektiv des ISS erarbeitete Thesen, ein Anschauungsmaterial und eine Ausstellung vor. Den Einleitungsbeitrag hielt G . Winkler (ISS) zu Problemen und grundlegenden Tendenzen der Lebensweiseentwicklung unter den Bedingungen der umfassenden Intensivierung. Im Mittelpunkt standen Probleme und Fragen der notwendigen Veränderungen in den sozialen und demographischen Strukturen als Grundlage sozialistischer Lebensweiseentwicklung ebenso wie neue Anforderungen und Aspekte der weiteren Ausgestaltung der sozialen Sicherheit, der sozialen Lage der Klassen, Schichten und sozialen Gruppen durch die Hebung des materiellen und kulturellen Lebensniveaus in Verbindung mit der wirksamen Durchsetzung des Leistungsprinzips in seiner Einheit von fähigkeitsgerechtem Einsatz, leistungsgerechter Bewertung der Arbeit und Entlohnung sowie bedarfsgerechter Realisierung. Die enge Wechselwirkung von wissenschaftlich-technischem und sozialem Fortschritt wurde besonders deutlich anhand der neuen Erfordernisse der Gestaltung persönllchkeitsfördernder Arbeitsinhalte und - b e d i n g u n g e n als Grundlage für die effektivere Nutzung des vorhandenen Q u a l i f i k a t i o n s p o tentials und füV die Erhöhung der sozialen Aktivität der Klassen, Schich ten und sozialen Gruppen. Schließlich wurde auch der wachsende Stellenwert der Gestaltung der Umwelt und deren Schutz durch Umweltbewußtsein und Umweltverhalten hervorgehoben. In der weiteren Diskussion im Plenum wurde ein breites Spektrum mit dem Thema verbundener Forschungsergebnisse und Fragestellungen diskutiert. So standen neue Anforderungen an das Leistungsverhalten der Werktätigen im Prozeß der flexiblen A u t o m a t i s i e rung sowie Möglichkeiten und Reserven für die Entfaltung und Nutzung ihrer Bedürfnisse, Interessen und Wertorientierungen als Triebkräfte des Leistungsverhaltens (K.-H. Thieme, Berlin) ebenso zur Debatte wie Erfordernisse einer leistungsfördernden Sozialpolitik im Betrieb zur notwendigen Realisierung der Einheit von wissenschaftlich-technischem, ökonomischem und sozialem Fortschritt (G. Tietze, Bernau). Vorgestellt wurden weiterhin neue Fragestellungen und Konsequenzen der zu erwartenden V e r änderungen in Größe, Struktur und Verteilung der Bevölkerung für die Gestaltung der Lebensweise und die Intensivierung ökonomischer Prozesse (W. Speigner, Berlin). Aus der Sicht der politökonomischen Forschung wur den A s p e k t e und Widersprüche im neuen Wechselverhältnis von Wissenschaft lich-technischen, ökonomischen und sozialen Prozessen verdeutlicht und Überlegungen e i n e s Ougendforscherkollektivs des Zentralinstituts für Wirtschaftswissenschaften (ZIW) zur reproduktionstheoretischen Beantwortung damit verbundener Fragestellungen zur Diskussion vorgelegt (R. Weller, Berlin). Belebt wurde der wissenschaftliche Meinungsstreit durch eine Reihe interessanter Beiträge der ausländischen Gäste B. Filipcova (CSSR), G. F Kucev, I. T. Levykin, G. Tascheva (VR Bulgarien). Neue Entwicklungstendenzen in der Lebensweise, Fragen ihrer Umorientierung mit der Intensivierung der Volkswirtschaft sowie der Typologisierung von sozialistische Lebensweise machten sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede in den realen sozialen Prozessen sowie in den wissenschaftlichen'Herangehensweisen und Forschungsergebnissen deutlich. Die lebhafte und anregende Diskussion wurde in vier Arbeitskreisen fortgesetzt. Die Diskussion zum Thema des Arbeitskreises I "Umfassende Intensivierung - veränderte Bedingungen und Erfordernisse der Erarbeitung sozialpolitischer Strategien zur Gewährleistung sozialer Sicherheit und G e rechtigkeit" (Leitung U. Meier, Berlin) erfolgte anhand konkreter, fachspezifischer Fragestellungen, die nahezu durchgängig in Verbindung ge-
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bracht wurden zu konzeptionellen Vorstellungen für die Gestaltung künftiger Gesellschafts- und Sozialstrategien. Im Einführungsvortrag "Intensivierung und Gruppeninteressen" zeigte U. Meier, daß das Eindringen von Informatione- und K o m m u n i k a t i o n s t e c h n o logien in Industrie, Verwaltung und Dienstleistungsbereiche kein rein technisches Phänomen darstellt. Diese Prozesse müssen - im G e g e n t e i l immer a\ich als soziale Prozesse begriffen werden, die durch das interessenbestimmte Handeln daran beteiligter sozialer Gruppen und der zwischen ihnen eingegangenen sozialen Beziehungen geprägt w e r d e n . Nur aus dieser Perspektive eröffnet sich die Chance, die sozialen Triebkräfte und P o tenzen der wissenschaftlich-technischen Revolution in der sozialistischen Gesellschaft zu identifizieren und zur Wirkung zu bringen, gleichzeitig bestimmte technische Risiken zu begrenzen und sozial zu bewältigen. D i e s e r interessentheoretische Zugang erwies sich als tragfähig und wurde in den unterschiedlichsten Beiträgen aufgegriffen. Mit dem Beitrag von 5. Bohring (Leuna-Merseburg) wurde anhand von konkreten Untersuchungen in der chemischen Industrie n a c h d r ü c k l i c h gezeigt, wie wichtig es ist,schon in der konzeptionellen Phase der Technikentwicklung auf die Berücksichtigung von sozialen Parametern zu orientieren, weil eine entsprechende Technikgestaltung im Interesse der Arbeits- und Lebensbedingungen der späteren Anwender der P r o d u k t i o n s mittel liegt. Zugleich werden dadurch auch die Möglichkeiten und G r e n zen arbeitsorganisatorischer Gestaltung bestimmt. Es mußte eingeschätzt werden, daß gegenwärtig die Beachtung sozialer Kriterien der T e c h n i k g e staltung speziell bei der Gestaltung von Rationalisierungsmitteln noch völlig unzureichend ist. H. Hanke (Babelsberg) befaßte sich mit Problemen des D u r c h d r i n g e n s des Freizeitbereiches mit modernen Informations- und Kommunikationstechnologien. Die Intensivierung der Freizeit erfolgt vor allem in G e stalt des Konsums audiovisueller Medien, die verschiedensten Reproduktionsbedürfnissen unterschiedlicher Gruppen entsprechen. Sich darauf einzustellen und eigene Medienkonzeptionen zu entwickeln und durchzusetzen, in denen progressive Ideologien und Werte mit Unterhaltung verbunden und vermittelt werden, sei eine anspruchsvolle, aktuelle A u f gabe. Auf Tendenzen im Umfang und der Struktur der arbeitsfreien Zeit lenkte E. Gans (Berlin) die A u f m e r k s a m k e i t . Er verwies darauf, daß der Medienkonsum zunehmend Freizeit binden und strukturieren wird, ebenso wie Tätigkeiten in der Wohnung, im Haus sowie im Garten und darüber hinaus andere, erholende Tätigkeiten. In wachsendem Maße muß Freizeit auch für Bildung, Kultur und Erholung genutzt werden. Fragen und Probleme der Prognose sozialistischer Lebensweise stellte T. Hanf (Berlin) in den Mittelpunkt seines Beitrages. Sozialistische Lebensweise sei nur sinnvoll zu prognostizieren in bezug auf die ihr zugrunde liegenden ökonomischen Entwicklungsprozesse. So seien der G e g e n stand der Prognose heutige Entscheidungen und daraus resultierende zukünftige Handlungen. Im A r b e i t s k r e i s 2 standen "Soziale Wirkungen und Bedingungen des wissenschaftlicn-tecnnischen Fortschritts" (Leitung R. Welskopf, Berlin) zur Diskussion. Im Einleitungsbeitrag machte I. Falconere (Berlin) auf die Komplexität und Widersprüchlichkeit sozialer Wirkungen und B e d i n gungen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts aufmerksam. D i e s wurde an zwei Problemfeldern verdeutlicht. Zum einen hat der w i s s e n schaftlich-technische Fortschritt unterschiedliche, ja w i d e r s p r ü c h l i c h e Wirkungen auf die verschiedenen sozialen Gruppen, w a s die A u s p r ä g u n g ihrer Besonderheiten, die Oberwindung aber auch Reproduktion sozialer Unterschiede zur Folge hat. Zum anderen ist der w i s s e n s c h a f t l i c h - t e c h nische Fortschritt mit differenzierten Wirkungen innerhalb und außerhalb der Arbeit verbunden. D i e s kann zu Widersprüchen in den Reproduktionserfordernissen, -bedingungen und - t ä t i g k e i t e n führen, die sowohl hemmende als auch Triebkraftwirkungen für ökonomischen und sozialen Fortschritt haben können. In der lebhaften und konstruktiven Diskussion wurden zunächst w e s e n t liche soziale Bedingungen bzw. Voraussetzungen der Beschleunigung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts erörtert. So wurde eine sinnvolle Verbindung von innovationsbedingten Mobilitätsprozessen mit der Reproduktion betrieblicher Stammbelegschaften als notwendig im B e i t r a g von E. Sachse (Berlin) herausgearbeitet und in der Diskussion n a c h d r ü c k -
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lieh gefordert. Einen umfangreichen Komplex bildeten Beiträge und Diskussionen über Bildung und Qualifikation als soziale Voraussetzungen der Beschleunigung'des wissenschaftlich-technischen Fortschritts (R. Wunsch, W. Nixdorff, K.-D. Meininger, alle Berlin). Einen zentralen Platz nahmen die unmittelbar mit Innovationsprozessen, mit der Einführung von Neuerungen selbst verbundenen sozialen B e dingungan und Faktoren ein. So stellte G . Aßmann (Berlin) Forschungsergebnisse und Erkenntnisse über die "Organisation von Innovationsprozessen" dar, und P. Fritsch (Leuna-Merseburg) vermittelte Erfahrungen der politischen Führung von Neuerungsprozessen. Beide Beiträge machten darauf aufmerksam - und die Diskussion bestätigte dies - daß die Einführung von Schlüsseltechnologien eine hochgradige Mobilisierung sozialer Triebkräfte erfordert. Auf die umfassende Einbeziehung der Werktätigen und die wachsende Verantwortung der Gewerkschaften in diesen Prozessen wurde eindringlich verwiesen. Eine der sozialpolitisch zweifellos bedeutsamsten direkten Wirkungen des Einsatzes neuer, hochproduktiver Technik stellt die entsprechende Gestaltung des Arbeitszeitregimes, insbesondere der Schichtarbeit dar. Darauf verwies K. Schulze (Berlin). Wie sich praktisch zeigte, bilde der Obergang zur Schichtarbeit einen Knotenpunkt gesellschaftlicher und persönlicher Interessen. M . Burghardt (Berlin) spannte den Bogen von theoretischen Überlegungen zur Wandlung der Rolle der Zeit bzw. Arbeitszeit beiip Obergang zur umfassenden Intensivierung bis zu konkreten Erfahrungen bei der Anwendung von Systemen flexibler Arbeitszeitgestaltung. A b schließend befaßte sich der A r b e i t s k r e i s mit vermittelten, indirekten Wirkungen der Intensivierung und des wissenschaftlich-technischen Fortschritts auf bestimmte Seiten der Lebensweise. P. Müller (Magdeburg) verwies auf die vielfältigen, komplexen Wirkungen veränderter A r b e i t s und Lebensweise auf Gesundheit und entsprechende gesundheitspolitische Erfordernisse. B. Weidling (Dresden) ging auf die Frage ein, inwieweit Umweltbelastungen aus dem Arbeitsprozeß durch das Verhalten von Leitern und Werktätigen zu beeinflussen sind, und welche Rolle dabei das offenkundig wachsende, aber auch recht differenziert entwickelte Umweltbewußtsein spielt. Die Beiträge von N. Staufenbiel und U. Roth (beide B e r lin) widmeten sich Veränderungen in der Lebensweise von Familien in der DDR, die in jüngster Zeit Gegenstand familiensoziologischer Untersuchungen waren. D e r A r b e i t s k r e i s 3 schloß mit der Breite seiner Themenstellung "Interessen und Bedürfnisse - Triebkräfte der Entwicklung einer den A n f o r derungen und Möglichkeiten der Intensivierung entsprechenden Lebensweise" (Leitung T. Hahn, Berlin) den gesamten Lebens- und Reproduktionsprozeß ein und brachte eine sehr offene, auch kontrovers geführte D i s k u s sion hervor. Im Einführungsbeitrag wurde darauf orientiert, die durch die Vertreter verschiedenster Forschungseinrichtungen eingebrachten Sichtweisen auf die Beantwortung der Fragens "Welche Interessen- und Bedürfnisstrukturen haben Triebkraftcharakter? Wie können derartige Interessen und Bedürfnisse in ihrer Entwicklung gefördert werden?" zuzuspitzen (G. Barsch, Berlin). Den Ausgangspunkt nahm die Debatte im A r b e i t s k r e i s beim B e d ü r f n i s nach Ehrlichkeit, bei der Frage nach der Durchsetzbarkeit von Ehrlichkeit als Verhaltensnorm in allen Lebensbereichen, nach ihrer Rolle für Kollektivatmosphäre, Wettbewerb, Leistungsstreben, Konsumverhalten sowie danach, ob und wie wesentliche Bedürfnisse des Lebens in Ü b e r e i n stimmung oder nur im Widerstreit mit dem B e d ü r f n i s nach Ehrlichkeit und moralischer Sauberkeit (H. Barnisch, Leipzig, H. Taut, Berlin) realisierbar sind. In der Diskussion schälte sich he raus, daß hinter diesem, auf den ersten Blick ethisch-moralischem Problem und auch hinter anderen moralischen Verhaltensqualitäten wie Verantwortung, Verbindung von Pflicht und Neigung, Inanspruchnahme von sozialen Rechten als auch Pflichten ganz massive objektive Interessen und Interessenwidersprüche stehen, die gründlich aufzudecken sind. In den Vorträgen und der Aussprache wurde Stellung genommen zu Entwicklungstendenzen bei konkreten Bedürfniskomplexen. So des Wohnens, dabei insbesondere zu sozialen Kriterien der Stadtplanung (M. Stein, Weimar) und zu verschiedenen Formen bedürfnisgerechter G e m e i n s c h a f t s einrichtungen (D. Schulze, Berlin), in denen die Suche nach Lösungen deutlich wurde, mit denen sozialistische Prinzipien des Bauens, die die
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Entwicklung der sozialistischen Lebensweise durch entsprechende M a ß n a h men der Stadtentwicklung und Reproduktion der W o h n u n g s b a u s u b s t a n z fördern, Wiederaufleben können« Ein weiterer Schwerpunkt der Diskussion waren die differenzierten Prozesse der Reproduktion der A r b e i t s k r a f t unter dem Einfluß des wissenschaftlich-technischen Fortschritts (A. Roemer, Dresden) spezifische Entwicklungstendenzen bei der Klasse der Genossenschaftsbauern (0. Müller, Berlin) die widersprüchliche Funktion der persönlichen Hauswirtschaft (K. Muttschall, Berlin) sowie anderer Formen individueller Arbeit für die Bedürfnisbefriedigung und für sozialen Fortschritt und Freizeitbedürfnisse und - v e r h a l t e n bei Jugendlichen (6, Ulrich, Leipzig). Dabei wurde sichtbar, daß Aussagen zu einzelnen Bedürfniskomplexen und praktikable Vorschläge für erforderliche Strategien der Bedürfnisentwicklung und - b e f r i e d i g u n g nur möglich w e r den, wenn die Einordnung und Verzahnung der verschiedenen Bedürfnisse, Interessen und Lebensbereiche untereinander sowie im g e s a m t g e s e l l s c h a f t lichen ökonomischen und sozialen Reproduktionsprozeß in der Forschung beachtet wird. D a s konnte für das W e c h s e l v e r h ä l t n i s von Familie und Intensivierung nachgewiesen werden, in dem bei einseitiger Betrachtung die Frage, wie Intensivierung für die Gestaltung von Persönlichkeits- und auch leistungsförderndftn Familienbeziehungen nutzbar gemacht werden kann, unbeantwortet bleibt (T. Hulzen, Berlin). Ferner ist es unerläßlich, die Kenntnis und Berücksichtigung der objektiven Ursachen für V e r änderungen in den Bedürfnissen und der objektiven Funktion befriedigter und unbefriedigter Bedürfnisse der Persönlichkeitsentwicklung bei den verschiedenen sozialen Gruppen w e i t e r a u s z u a r b e i t e n . Verstärkt w u r d e n Fragen nach den gesellschaftlichen Mechanismen der Herausbildung funktionaler Interessen- und Bedürfniskonatellationen und - W i d e r s p r ü c h e mit T r i e b kraftfunktion und Probleme ihrer Leitung und Planung gestellt. Neben d e r ökonomischen Regulierung kommt insbesondere der Gestaltung des p o l i t i schen Systems wachsende Bedeutung zu (B. Leisner, Leipzig). Es geht also bei der Problematik der Nutzung von Bedürfnissen als Triebkraft gesellschaftlicher Entwicklung immer auch um die Kernfrage, wie sozialistische Demokratie ermöglicht wird (E. Wolf, Oena). Seine besondere Produktivität erhielt der A r b e i t s k r e i s einerseits durch das einhellige Drängen der Vortragenden auf die Entwicklung von Strategien für die praktische Lösung herangereifter Probleme und auch durch die kritische Beurteilung des Standes der theoretischen Bearbeitung der Interessenund Bedürfnisproblematik, der Methoden sowie ihrer empirischen Erfassung und Meeeung. Unter dem Themas "Intensivierung und Lebensweise - Probleme der Leitung und Planung sozialer Prozesse - methodische Schwerpunkte" stand der A r b e i t s k r e i s 4 (Leitung H. Berger, B e r l i n ) . Probleme der Leitung und Planung sozialer Prozesse in Kombinaten und Betrieben, sowie im T e r r i t o rium als auch übergreifende Fragestellungen standen hier im M i t t e l p u n k t . Fragen der theoretischen Begründung und praktischen Gestaltung gesamtgesellschaftlicher Normative für das System der Leitung und Planung sozialer Prozesse auf der Ebene d e r Kombinate (0. Bernhard, Halle) w u r den aufgeworfen, um differenzierte A r b e i t s - und Lebensbedingungen für die Leistungsstimulierung zu nutzen und zu verhindern, daß die e x i s t i e renden unterschiedlichen Arbeits- und Lebensbedingungen eher zufälligentstehen und über ihre hemmenden und fördernden Wirkungen keine A u s sagen gemacht werden können. Ein weiterer, sich durch die Diskussion ziehender Schwerpunkt war die Problematik der ökonomischen Wirkung des sozialen Fortschritts. Auf den Grad von Einheitlichkeit und D i f f e r e n ziertheit bei der Gestaltung der Reproduktionsbedingungen (in einzelne Klassen, Schichten, Berufsgruppen, territoriale Einheiten) ging G . Lippold (Berlin) ein. Für die Einschätzung der Wirkung des sozialen Fortschritts ist die Erarbeitung eines Systems sozialer Kennziffern nötig, das über bisher Praktiziertes hinausgeht (D. Dathe Berlin). Die Komplexität sozialer Prozesse beachten bedeutet, Wirkungen ein- und derselben Maßnahme auf verschiedenen Ebenen und Bereichen der G e s e l l s c h a f t und diese Wirkungen auch in inrem zeitlichen Verlauf einschätzen zu Können (H. Wolf, Leipzig). Mit Nachdruck wurde darauf verwiesen, daß die Wirkungen n e u e r T e c h nik wesentlich auch durch die Gestaltung der A r b e i t s - und Lebensbedingungen bestimmt werden und davon letztendlich auch deren ökonomische und soziale Effektivität abhängig ist (K. Lüders, B e r l i n ) . In diesem Z u sammenhang wurde diskutiert, wie die Soziologie stärker als b i s h e r E i n -
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fluß auf die sozialen Wirkungen neuer Technik nehmen kann. Die Notwendigkeit der soziologischen Einflußnahme im frühen Stadium der Projektierung neuer Technik sowie der Erhöhung ihrer Kompetenz und Interdisz i p l i n ä r s t betonte B . Stieler (Berlin). Ein letzter wesentlicher Schwerpunkt war der Frage der notwendigen weiteren Untersetzung der Theorie der sozialen Ziele dee Sozialismus durch die Dialektik allgemeiner und spezieller sozialer Ziele gewidmet. Die Bedeutung der weiteren Entwicklung der sozialistischen Demokratie, ihrer Möglichkeiten als Triebkraft gesellschaftlicher Entwicklung unterstrich H. B e r g e r (Berlin). Diskutiert wurden des weiteren Fragen des Umweltverhaltens, (H.-P. Jährig, Berlin) der soziologischen Begleitforschung, die Machbarkeit computergestützter Befragungen (E. Riedel, H. Häder, beide Berlin), Veränderungen im Zeitbudget in der UdSSR sowie der Zusammenhang von Lebensweise und Territorialstruktur in der UdSSR (V. V. Paciorkovskij, UdSSR). Die Diskussion w a r qeprägt durch eine Reihe konkreter Anregungen für die Qualifizierung der soziologischen Forschung. Gundula Barsch, Irene Falconere und Hartmut Götze
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Drittes Internationales Demographie-Seminar "Frauenforschung in der DDR - gesellschaftliche Entwicklung - Berufstätigkeit der Frau - d e m o g r a phische Prozesse - Information und Dokumentation" Soziologen, Demographen und Sozialpolitiker aus sieben sozialistischen und acjit kapitalistischen Ländern berieten vom 2. bis 4 . November 1987 über den Zusammenhang von beruflicher Entwicklung der Frau und d e m o g r a phischem Verhalten. Das Seminar hatte die Aufgabe, die Ergebnisse der politischen und wissenschaftlichen Arbeit zur Festigung der gesellschaftlichen Stellung der Frau als immanenten Bestandteil der Gesellschaftsstrategie d a r z u stellen und nachzuweisen, daß - es Zusammenhänge zwischen der Berufstätigkeit der Frau und d e m o g r a phischem Verhalten gibt, - die Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Mutterschaft eine w e s e n t l i che Voraussetzung für die Verwirklichung der Gleichberechtigung der Frau, für die Teilnahme der Frau und M u t t e r am gesellschaftlichen A r beitsprozeß und für die Reproduktion der Gesellschaft ist, - der gesellschaftlichen Stellung der Frau in der DDR eine Frauenpolitik zugrunde liegt, die die Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und M u t t e r schaft als theoretisches und sozialpolitisches Konzept verfolgt, - die Berufstätigkeit der Frau Einfluß auf demographische Prozesse, insbesondere die Fruchtbarkeit, hat und zu zeigen, welche sozial- und bevölkerungspolitischen Orlentierungen sich aus den Veränderungen der gesellschaftlichen Stellung der Frau für die Einflußnahme auf d e m o g r a p h i sche Prozesse ergeben. Ein spezifisches Anliegen des Seminars w a r es darüber hinaus, anknüpfend an die Erfahrungen bei der Herausgabe der Dokumentation "The Changing Role of Women in Society" durch die European Cooperation in Social Science Information and Documentation (ECSSID)-Arbeltsgruppe des W i e n e r Zentrums, die inhaltlichen Prinzipien der Dokumentation und Informationsversorgung der Frauenforschung in Europa zu diskutieren. Das Hauptreferat des Seminars zum Thema "Die Frauenfrage in der G e genwart, Frauenpolitik und Frauenforschung in der DDR" von P r o f . Dr. Herta Kuhrig, Vorsitzende des wissenschaftlichen Rates "Die Frau in der sozialistischen Gesellschaft" behandelte die Frauenpolitik in der DDR in ihrer historischen Entwicklung. H. Kuhrig bewies, daß die Förderung der Frau Prinzip der Gesellschaftspolitik der DDR ist. Für die internationale Diskussion war die Information über die Entwicklung der Frauenforschung in der DDR als praxisorientierend und praxisfordernd sehr wertvoll. Im gleichen Maße wurden in den Einführungsreferaten zu den drei thematischen Arbeitskreisen fachliche und politische Positionen gesetzt: "Zur VereinDarkeit von Berufstätigkeit und Mutterschaft" sprach Dr. Brigitte VVeichert. Die Referentin behandelte die V e r e i n b a r k e i t von Berufstätigkeit und Mutterschaft unter den neuen Bedingungen der Intensivierung des Reproduktionsprozesses, diskutierte den Zusammenhang von neuen Technologien und beruflicher Entwicklung der Frau. Die P e r s ö n l i c h keitsentwicklung der Frau wird in Erfüllung ihrer sozialen H a u p t f u n k tionen - Mutterschaft und Berufstätigkeit - gesehen. Die Frage "Besteht unter den sozialpolitischen Bedingungen in der DDR eine direßte Beziehung zwischen der B e r u f s t ä t i g k e i t der Frau und ihrer Fruchtbarkeit" beantwortete Prof. D r . sc. Wulfram Speigner. Die Entwicklung der Bevölkerung, die Veränderung ihrer Struktur, einschließlich ökonomischer und sozialpolitischer Wirkungen, wurde durch A u s f ü h r u n g e n zur Geburtenentwicklung und Bevölkerungspolitik in den europäischen sozialistischen Ländern 1970 bis 1985 aktualisiert. Der Referent forderte eine stärkere Verknüpfung von Fragestellungen der beruflichen E n t w i c k lung der Frau mit demographischen Prozessen im Forschungsprozeß. Überlegungen zur "Dokumentation der Frauenforschung" entwickelte D r . Werner Richter für eine qualitativ hohe Information und Dokumentation der Frauenforschung in Europa. In Zusammenarbeit mit der ECSSID-Gruppe des Wiener Z e n t r u m s sollte die Bildung eines "Clearing Houses - Frauenforschung" beim W i e n e r Zentrum geprüft w e r d e n . D a s Seminar wurde von inhaltlichen Positionen bestimmt, die vom ISS auf Grundlage der Beschlüsse von P a r t e i und Regierung - zur g e s e l l s c h a f t lichen Stellung der Frau in der DDR, zur Geburtenentwicklung, B e v ö l k e rungs-, Frauen- und Familienpolitik vertreten werden. Einheitliche 397
Standpunkte gab es zwischen den Soziologen und Demographen sozialistischer und kapitalistischer Länaer zu der These, daß die Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Mutterschaft immer mehr zu einer typischen Linie, Erscheinungsform der gesellschaftlichen Stellung der Frau in modernen Industriestaaten wird (Alma Steinberg, BRD). Das Niveau der Vereinbarkeit wird bestimmt durch Bedingungen (materielle und ideelle), die die jeweilige Gesellschaftsordnung schafft (Luc Deschamps, Belgien). Wiederholt würde zum A u s d r u c k gebracht, Frauen- und Familienpolitik berühren zunehmend auch junge alleinstehende Frauen und Mütter, berufstätige ältere Frauen und berufstätige Rentnerinnen (Christian Landmann, D D R ) . Einhellig wurde in vielen Beiträgen betont, daß der Lebensweg der Frauen noch stärker als der der Männer von objektiven familiären Lebensbedingungen und tradierten Werten bestimmt wird (Thomas Büttner, D D R ) . Es konnte die These aus dem Hauptreferat und der thematischen Einführung zum A r b e i t s k r e i s 1 bestätigt werden, daß es nicht ausschließlich die Mutterfunktion ist, die die Entwicklung der Frauen in naturwissenschaftlich-technischen Berufen (Heidrun Radtke, DDR) und die der jungen Nachwuchswissenschaftlerinnen (Cristine Waltenberg, DDR) sowie der Produktionsarbeiterinnen beeinflußt. Vielmehr ist die geschlechtsspezifische Anordnung bestimmter Tätigkeiten (Routinearbeiten - monotone Arbeit weniger originelle Forschungsthemen) gepaart mit tradierten Normen und Werten die Ursache für diesen sozialen Unterschied zwischen Männern und Frauen (Gisela Ehrhardt, Hendrik Preuß, DDR). Einigkeit bestand auch in der Bedeutung der Arbeitsteilung in der Familie (Ursula Hempel, DDR) und in der Rolle des P a r t n e r s (Sophie Freud, USA) für die erfolgreiche berufliche Entwicklung der Frauen und Mütter, in der Rolle der Eltern für die Entwicklung der Kinder. D a s Fruchtbarkeitsverhalten der Familien behandelten Penka Naidenova (VR Bulgarien) und Tereza Slaby fVR Polen)- Diesnr Beitrag fand eine gute Ergänzung durch D a g m a r Meyer aus der DDR. Sie sprach über subjektive Einflußfaktoren der Geburtenentwicklung unter dem Aspekt der Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Mutterschaft. D a s Seminar hat deutlich gemacht, daß international ein großes B e dürfnis besteht, die reale Situation der Frauen und ihrer Familien in der DDR kennenzulernen. Für die Vertreter der DDR - Soziologie und Demographie - war das Seminar ein wertvoller Erfahrungsaustausch, eine M ö g lichkeit, sich mit der Situation der Frau zum Beispiel in der Sowjetrepublik Tschetscheno-Inguschetiens vertraut zu machen (Maria A . Karatajeva, UdSSR) oder die Dynamik der Sterblichkeit der Frauen in Polen in der Nachkriegszeit begründet zu hören (Eva Tabo). D a s umfangreiche sozialpolitische Programm der D D R ist international kaum bekannt. D a s Seminar hat einen gewissen Beitrag zur Veränderung dieser Situation geleistet. Es wurde deutlich, daß Erfolge und Positionen zur Demographie im internationalen Rahmen mehr bekannt sind als P o sitionen zur Frauenpolitik und Frauenforschung. D a s Bedürfnis für weite,re gemeinsame Veranstaltungen wurde mit diesem Seminar geweckt. Brigitte Weichert
398
"Die Sozialpolitik sozialistischer Länder - Strategien und System der Ausgestaltung" - IV. Internationales Sozialpolitisches Symposium am Institut für Soziologie und Sozialpolitik
Theorie und Praxis, A l l g e m e i n e s und B e s o n d e r e s der Sozialpolitik sozialistischer Länder waren Gegenstand der Diskussion auf dem dreitägigen Symposium in Linowsee bei Rheinsberg, das vom 22. bis 25. März 1988 stattfand. Ökonomen und Soziologen aus Bulgarien, der BRD, der CSSR, der DDR, aus Großbritannien, der VR Kuba, der Mongolischen V o l k s r e p u blik, aus Österreich, aus der VR Polen, aus Schweden, der UdSSR, der VR Ungarn, den USA, Vietnam und Berlin (West) trafen sich, um den erreichten Erkenntnisstand bei der Herausbildung von Grundlinien und P r i n z i pien sowie der Erfassung von Wirkungen, Problem- und E n t s c h e i d u n g s f e l dern sozialistischer Sozialpolitik zu diskutieren und Schlußfolgerungen für die weitere eigene wissenschaftliche A r b e i t abzuleiten. Anliegen des Symposiums war es, Informationen und Erfahrungen über spezifische nationale Entwicklungsprozesse in den sozialistischen Ländern zu v e r mitteln, jeweils zugrunde liegende sozialpolitische Konzeptionen einschließlich der konkreten Gestaltungsmittel zu erörtern sowie gemeinsame theoretische Standpunkte für verallgemeinerungsfähige P r o b l e m f e l der sozialpolitischer Gestaltung herauszuarbeiten bzw. zu festigen. Mit dem Hauptvortrag von G. Winkler (Berlin), D i r e k t o r des Instituts für Soziologie und Sozialpolitik, wurde ein theoretisch-konzeptioneller Rahmen marxistisch-leninistischer Sozialpolitik der Diskussion v o r a n g e stellt, der eine reiche Auswahl aktueller theoretischer und praktischer Fragen sozialpolitischer Entwicklung umfaßt. Ausgangspunkt war die Inhaltsbestimmung der Sozialpolitik in der sozialistischen G e s e l l s c h a f t als Prozeß aktiver Gestaltung sozialer Verhältnisse im Interesse einer progressiven Entwicklung der Sozialstruktur, das heißt der Gesamtheit der Verhältnisse der Klassen, Schichten und sozialen (demographischen) Gruppen in dieser Gesellschaft. So gesehen wird Sozialpolitik als ein charakteristischer Aspekt der Politik jedes sozialistischen Staates, der Parteien und gesellschaftlichen Organisationen im S o z i a l i s m u s v e r standen. Sozialistische Sozialpolitik ist untrennbar mit ökonomischen Entwicklungsprozessen verbunden, w o b e i insbesondere im Zusammenhang mit der Intensivierung volkswirtschaftlicher Prozesse der w e c h s e l s e i t i g e n Bedingtheit von ökonomischem und sozialem Fortschritt volle A u f m e r k s a m keit zukommen muß. Verhältnisse der Gleichheit und D i f f e r e n z i e r t h e i t hinsichtlich der Stellung und Funktion sozialstruktureller Einheiten (Klassen, Schichten usw.) bedürfen in der sozialistischen G e s e l l s c h a f t einer ständigen Analyse, Bewertung und Gestaltung, wobei die gesellschaftliche Einflußnahme in ihren Grundzügen einheitlich und in der Endkonsequenz auf die Beseitigung sozialer Ungleichheit gerichtet ist. D a s schließt nicht aus, daß bestimmte gegenwärtige soziale Unterschiede gerechtfertigtermaßen zu reproduzieren sind, wenn sie als Triebkräfte w i r ken. 'Soziale wie ökonomische Entwicklung sind kein a u t o m a t i s c h e s E r g e b nis sozialistischer Macht- und Eigentumsverhältnisse, sondern müssen im Prozeß der Leitung und Planung bewußt herbeigeführt werden. Gegenwärtig erforderliche Veränderungen im traditionellen Gestaltungsbereich sozialistischer Sozialpolitik, d e r über die Komplexe Arbeit, Bildung, Wohnen, Einkommen und Verbrauch/Versorgung, Gesundheit, Freizeit und Erholung faßbar wird, beruhen auf gesellschaftlichen Veränderungsprozessen, h e r vorgerufen durch den wissenschaftlich-technischen Fortschritt. Forciert durch ihn erhält sowohl die Ganzheitlichkeit der traditionellen sozialpolitischen Sphäre wachsende Bedeutung als auch die Beachtung solcher sozialen Prozesse wie Umweltschutz und B e v ö l k e r u n g s - und F a m i l i e n e n t wicklung. Ein weiterer wichtiger Entwicklungsaspekt sozialpolitischer Gestaltung ist in der Erweiterung des V e r a n t w o r t u n g s - und A k t i o n s b e reiches dezentraler Entscheidungsträger der Sozialpolitik zu sehen, das heißt der Betriebe, territorialen Einheiten und gesellschaftlichen O r ganisationen . Insgesamt gab es auf dem Symposium ein inhaltlich breites Spekthum von Beiträgen zum Thema. So wurde von V . Roqovin (Moskau) die A k t u a l i tät der Verwirklichung des Prinzips sozialer Gerechtigkeit im Rahmen sowjetischer Sozialpolitik hervorgehoben. Soziale Gerechtigkeit und soziale Gleichheit betrachtete er als zwei miteinander verbundene Schlüs-
399
selkateaorien der SozialDolitik. wobei er erstere als sozial aerechtfertiates Maß sozialer Gleichheit charakterisiert, welches auf jeweils differenziertem sozialpolitis'-hnm Vorqehen fußen muß. Unter dem Blickwinkel derzeitiger Umgestaltungsprozesse in der Sowjetunion forderte A . Savcenko | fMoskau) die Verteilung nach der Arbeitsleistung konsequenter durchzusetzen und bei der sozialpolitischen Bewertung des Spannungsfeldes "Angleichung und Differenzierung" ein strategisches Konzept zugrunde zu legen. A u s g e h e n d von der Charakterisierung des geschichtlich gewachsenen SozialDolitikkonzepts in der CSSR in der Periode extensiven Wachstums formulierte D. Hartl (Prag) aktuelle Schwerpunkte einer qualitativen Veränderung des sozialpolitischen Systems unter den Bedingungen intensiv erweiterter Reproduktion. In zwei Richtungen ist hier seiner Auffassung nach zukünftiges sozialpolitisches Vorgehen erforderlich, und zwar erstens, strategisch orientierend vor allem in der A r b e i t s sphäre und auf dem Gebiet sozialer Sicherheit und zweitens, sozial unterstützend für Bevölkerungsgruppen mit niedrigem Einkommen, das heißt vor allem ältere Bürger, alleinstehende Mütter oder Familien mit mehreren Kindern. Die Notwendigkeit von umfassenderen Wirksamkeitsanalysen sozialpolitischen V o r g e h e n s wurde von W . Speiqner (Berlin) unterstrichen. Am Beispiel der Bevölkerungspolitik läßt sich seiner Meinung nach überzeugend nachweisen, daß durch die Schaffung besserer Voraussetzungen für die Erfüllung des Kinderwunsches demographische Zielstellungen realer werden. U. Meier (Berlin) verwies auf die verschiedenen B e z u g s ebenen, die es in der Familien- und Frauenpolitik zu beachten gilt. Ein qualitativ höheres Niveau der Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Mutterschaft unter den Bedingungen der Intensivierung erfordert ihrer Ansicht nach auch Veränderungen im ideologischen Bereich. Die wechselseitige Abhängigkeit von Wirtschafts- und Sozialpolitik wurde im Beitrag von M. Winewski (Warschau) hinsichtlich der dabei theoretisch auftretenden Entscheidungssituation, die er als stetige Dilemmata der Sozialpolitik bezeichnete, herausgearbeitet. Er ergänzte seine A u s f ü h r u n gen mit konkreten Angaben zu objektiven Entwicklungsverläufen in Polen. L. Beskid (Warschau) konzentrierte sich demgegenüber auf subjektive Reflexionen sozialpolitischer Entwicklung in Polen. Sie brachte zum A u s druck, daß eine fortschreitende Disharmonie zwischen individueller Wahrnehmung und offizieller.^yerkündung von Sozialpolitik Bremswirkung für Initiative und soziale Aktivität haben. Mit Hilfe neuester soziologischer Forschungsergebnisse hinsichtlich subjektiver Reflexion von sozialer Sicherheit und Differenziertheit charakterisierte sie die diesbezügliche Problemlage in Polen ganz konkret. Auf Differenzierungsprobleme im Rahmen von Verteilungsverhältnissen, insbesondere jedoch auf Fragen zur Rolle der gesellschaftlichen Konsumtion bezogen sich H. Mittelbach (Berlin) sowie 3. Bernhard/3. Muratalijewa (Halle) in ihren Beiträgen. Neue Aspekte der Verteilungspolitik in der CSSR, die eine stärkere Einbeziehung des Prinzips der sozialen Gerechtigkeit und ein Anwachsen der Effektivität der Verteilung vorsehen, wurden von 0 . Sobek (Bratislava) in die Diskussion eingebracht. Er betonte die Schaffung sozial gleicher Arbeitsbedingungen für alle Bürger (Gewährleistung einer entsprechenden Bildung, Recht auf Arbeit, medizinische Betreuung usw.) als eine unbedingte Voraussetzung folgerichtiger Anwendung des Leistungsprinzips. Z. Szeman (Budapest) berichtete vom konkreten Zusammenhang der Wirtschaft- und Sozialpolitik im gegenwärtigen Ungarn, der sich in stark begrenzten sozialpolitischen Möglichkeiten äußert. Ungelöste Probleme in der wirtschaftlichen Entwicklung wirken sich auf die soziale Entwicklung negativ aus, wie die Erhöhung der Zahl der Arbeitslosen und das Auftreten einer "neuen Armut" in Ungarn beweisen. Die Praxis der Gewährleistung staatlicher Subventionen für bestimmte Waren und Leistungen wurde in mehreren Diskussionsbeiträgen einer Kritik unterzogen. A . Rajkiewicz (Warschau) vertrat die Meinung, daß Dotationen die Wirtschaft schwächen und ihre Daseinsberechtigung als Schutzfunktion verloren haben. Auf negative soziale Folgen einer Oberbetonung von Zentralisierung in Bulgarien wurde von Z. Toneva (Sofia) verwiesen. Das Absinken der sozialen Aktivität und die Einschränkung der Initiative der Werktätigen sind Ausdruck eines einseitigen Wirkens des Prinzips des demokratischen Zentralismus. Derzeitig in Bulgarien inkraft getretene neue Gesetze ermöglichen den Betrieben und ihren Werktätigen erweiterte Rechte und Verantwortung, so daß positive Wirkungen einer Selbstverwaltung in Zukunft stärker zum Tragen kommen können. Den engen Zusammenhang zwischen
400
dem Niveau gesellschaftlicher Verhältnisse und dem A u f g a b e n b e r e i c h der Sozialpolitik demonstrierten M, Espina (Havanna) und Bui The Cuong (Hanoi) in bezug auf die Situation in nichteuropäischen sozialistischen Ländern. Ein vergleichsweise niedriger Entwicklungsstand ihrer sozialistischen Länder bedingt gegenwärtig andere Schwerpunkte in der Sozialpolitik wie zum Beispiel Entwicklung des Bildungs- und G e s u n d h e i t s systems, Verbesserung der Nahrungsmittelversorgung, Schaffung eines Sozial Versicherungssystems. Konzeptionelle Überlegungen zu Gemeinsamkeiten von Sozialpolitik im Kapitalismus und Sozialismus der Gegenwart wurden von H. W i n t e r s b e r g e r (Wien) in die Diskussion eingebracht. Er plädierte dafür, über das beiden Systemen Gemeinsame, Positives wie Negatives, zu diskutieren und eine Theorie und Praxis von wirtschaftlicher, politischer und kultureller Koexistenz zu entwickeln. D. D a n c k w e r t s (Duisburg) belebte die D i s kussion mit einer theoretischen Ausdeutung sozialpolitischer W i d e r spruchskonstellationen in der gegenwärtigen BRD. Die Krise ihrer Sozialpolitik ist seiner Meinung nach gleichzeitig die Quelle von "Selbstheilungsk.räften des Marktes", die umgemünzt in Aktivitäten der betroffenen Menschen dem System Vitalität verleihen. G . Edwards (Louqhborouqh) stellte fest, daß durch die entstandene Umbruchsituation in der S o z i a l politik Großbritanniens, die von der Reprivatisierung bisheriger öffentlicher Leistungen ausgeht, ehemals geltende soziale Prinzipien, wie Solidarität, Sorge in allen Lebensphasen und Chancengleichheit v e r l o r e n gehen. G . Therborn (Göteborg) und W . W e l s h (Columbia) demonstrierten an Forschungen zum Sozialpolitikvergleich, daß es gemeinsame A n k n ü p f u n g s punkte für Diskussionen über die Sozialpolitik zwischen beiden G e s e l l schaftssystemen gibt. Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß die Diskussion zum T h e m a sehr ertragreich war. Deutlich wurde eine im wesentlichen übereinstimmende Auffassung zum Grundverständnis sozialistischer Sozialpolitik. Die Untersuchung von Allgemeinem und Besonderem in der Sozialpolitik sozialistischer Länder bedarf der weiteren Vertiefung. Zu unterstreichen ist die gewachsene Verantwortung der W i s s e n s c h a f t l e r für eine Fundierung der sozialpolitischen Wissenschaftsdisziplin sowie für eine forcierte Erforschung notwendiger und möglicher Gestaltungsbereiche und - m i t t e l der Sozialpolitik. Der weiterzuführende Erfahrungs- und M e i n u n g s a u s tausch auf diesem Gebiet ist dabei ein unverzichtbarer B a u s t e i n . Roswitha Mucha und D o r i s Rentzsch
401
3b. f. Soziologie und Sozialpolitik
1989
Rezensionen / Annotationen
Die Französische Revolution 1789 - 1989. Revolutionstheorie
heute.
Marxistische Studien, 14. Oahrbuch des IMSF, 1988. Herausgegeben
vom
Institut für Marxistische Studien und Forschungen, Frankfurt am Main 1988, 530 Seiten. Der vorliegende Band ist eine marxistische Standortbestimmung zum bevorstehenden Bicentenaire der Großen Französischen Revolution. E r enthält neben dem Vorwort des herausgebenden Instituts und einem Geleitwort von Walter Markov (Leipzig), einem der führenden und heutigem Senior der marxistischen
Repräsentanten
Revolutionsgeschichtsforschung,
dreißig Beiträge zu folgenden Problemkomplexen: 1. 1789 und Probleme der vergleichenden Revolutionsgeschichtsforschung; 2. Fragen der heutigen Diskussion über 1789 in der internationalen Forschung; 3. Probleme des ideologisch-politischen O b e r b a u s in der Revolution; 4. Grundzüge der Rezeption der Französischen Revolution in den Werken von K. Marx, F. Engels und W. I. Lenin; 5. die Auswirkung der Revolution auf Deutschland; 6. 1789 und aktuelle Probleme der Revolutionstheorie in der G e genwart. Eine Zeittafel mit wichtigen Ereignissen vom
Regierungsantritt
Ludwigs XVI. 1774 bis zur Ernennung Napoleon Bonapartes zum ersten Konsul der Republik und dessen Erklärung, die Revolution sei beendet,
im
Dezember 1799 am Schluß und ein kommentierter Abbildungsteil in der Mitte des Bandes runden dieses Sammelwerk ab, das auch äußerlich sehr repräsentativ gestaltet ist. Inhaltlich ist seine Anlage
international
und interdisziplinär. Historiker, Philosophen, Soziologen, senschaftler aus der BRD, der DDR, Frankreich, der UdSSR,
PolitikwisItalien,
Israel und den Niederlanden behandeln historische und aktuelle
Fragen
von Geschichte und Perspektiven sozialer Revolution. Im Mittelpunkt steht die moderne Kontroverse um 1789, die durch den Frontalangriff konservativ-liberaler Ideologen und Historiker auf den angeblichen "Mythos" der Revolution belastet ist, den nach Ansicht die- • ser französischen, englischen und amerikanischen Autoren
linksbürgerli-
che und marxistische Interpreten erfunden hätten. Spätestens 1791 sei aber die normale bürgerlich-revolutionäre Entwicklung zu Ende die folgenden
gewesen;
radikalen Phasèn der Revolution erscheinen in diesem
"re-
visionistischen" Kontext „als Entartung der*Revolution. Auf diesen Streit gehen vom Standpunkt marxistischer Revolutionsforschung - t h e o r i e direkt oder indirekt die meisten Beiträge ein; setzen sich damit Markov im Geleitwort
und
unmittelbar
(S. 9) und in seinem Beitrag
über "1789 - Legende und Wirklichkeit" sowie M. Vovelle
(Paris), der
"Die Historiographie der Französischen Revolution am Vorabend der Zweihundertjahrfeier"
402
resümiert, und 0. H. von Heiseler/H. Jung in Re-
flexionen über die Bedeutung von 1789 für die "bundesdeutsche
Gegen-
wart" auseinander. Die Herausgeber sehen in den Herausforderungen gegenwärtiger revolutionärer Konzeptionen zu Recht das eigentliche Problem
anti-
aktueller
3etrachtung von 1789. Die Situation zum Beispiel in der BRD sei einerseits von revolutionspessimistischen
Stimmungen auch der
"gesellschafts-
kritischen Generation" und einem konservativen Gesellschaftsklima, dererseits von einem Stau neuer Widersprüche und
an-
"Konfliktpotentiale"
gekennzeichnet: "Die Zeit verlangt also einen historischen Blick,
aus
dem der lange Atem einer historischen Perspektive erwächst. Und was könnte mehr dazu beitragen als die Auseinandersetzung mit der Revolutionsgeschichte!".
(S. 7) Heiseler und CJung unterstreichen diesen G e -
danken: "Die Französische Revolution steht nicht wie ein
archaischer
Findling in der historischen Landschaft". (S. 15) Wenngleich
aktuelle
gesellschaftliche Widersprüche des Kapitalismus natürlich nicht
mehr
im Rahmen eines neuen 1789 gelöst werden könnten, seien dennoch die von 1789 ausgehenden Impulse in der gegenwärtigen bürgerlichen
Gesell-
schaft keineswegs als erledigt anzusehen. D a s modische Totsagen der Revolution gleiche dem Rufen eines Mannes "im dunklen Walde, der damit seine eigenen Ängste bannen will". (S. 31) Damit wird ein breiter Rahmen von Problemen vorgegeben, die die Revolution s£e_s£hiclrte für gesellschafts- und revolutionstheoretische spektiven in der Gegenwart - vornehmlich für die entwickelten
Per-
kapitali-
stischen Länder - aufwirft: das Verhältnis von gesellschaftlicher
Um-
wälzung und revolutionärer Demokratie, das Jakobinerproblem, die D i a lektik von Revolution und Konterrevolution, die Nah- und
Fernwirkungen
wie auch'die Spannungen von Revolution und gesellschaftlicher
Transfor-
mation. Auch die historischen Beiträge, die entsprechend der T h e m e n s t e l lung überwiegen,
sind in diesem Sinne auf den diachronen V e r g l e i c h des
Revolutionsgeschehens mit den Wegen, Formen und Stadien der b ü r g e r l i c h kapitalistischen Transformation und Revolution angelegt und lassen mer lyieder die Verbindungslinien zur gegenwärtigen Epoche
im-
aufscheinen.
"Die wichtigste und komplizierteste theoretische Arbeit", schreibt der französische Revolutionshistoriker C . M a z a u r i c (Rouen), "die aber gleichzeitig die meisten neuen methodologischen A n s ä t z e beinhaltet, steht darin, zwei Dinge zusammen zu denken: Die soziopolitische
be-
Revolu-
tion, die die Herrschaft ^er führenden Klasse begründet, und die
tech-
nisch-ökonomische Revolution, die die Entwicklung des v o r m o n o p o l i s t i schen Industriekapitalismus begleitet und trägt". (S. 112) Vom tiv-historischen Aspekt untersucht M. Kossok (Leipzig) diese
kompara-
Kernpro-
blematik der Revolutionsdebatte in einem ausführlichen Beitrag,
der
als "Versuch einer Positionsbestimmung" die bisherigen Ergebnisse
der
Leipziger Forschungsgruppe zur vergleichenden Revolutionsgeschichte
der
Neuzeit zusammenfaßt und wichtige theoretisch-methodologische
Schluß-
folgerungen zieht. In der Vielfalt der Obergangsprozesse vom
Feudalis-
mus zum Kapitalismus erkennt er eine "Revolutionstirade",
deren
Kompo-
403
nenten strukturell und stadial in der "Freisetzung der neuen Produktionsformen" vom Frühkapitalismus Ober die Manufakturperiode bis zur industriellen Revolution in der politisch-sozialen Umwälzung "in Gestalt des Revolutionszyklus vom 16. bis zum 19. Jahrhundert" und im Umbruch des philosophischen Denkens von der Renaissance über die Aufklärung bis zur klassischen Philosophie
("als Kernstück der allgemeinen
Kultur-
revolution") bestehen. (S. 42) In diesem Gesamtvorgang verortet er 1789 als die Durchbruchszäsur und weltgeschichtliche Epochenwende - auf das Ganze der bürgerlichen Umwälzung gesehen - und analysiert zugleich das spannungsvolle Verhältnis von Revolution und Formation nach dieser Zäsur in Frankreich selbst sowie im ausgreifenden Revolutionsprozeß in Gestalt der Möglichkeiten
reformerischer und revolutionärer
Lösungen
nach der "Doppelrevolution", das heißt der politisch-sozialen in Frankreich und der ökonomisch-technologischen
Umwälzung
in England.
Kossoks übergreifende Studie wird zunächst durch Analysen zur Entwicklung der Bourgeoisie in und nach der Revolution (Mazauric) und der Bauernschaft bzw. der Agrarfrage insgesamt (V. A . Ado, Moskau) ergänzt und dann durch eine ganze Reihe von Beiträgen zu Spezialfragen
konkre-
tisiert (Versorgungsfrage, Frauenbewegung, Armee und Kriegswesen, T e r ror der Oakobiner). Die konkreten Fragen des Phasenablaufs und der Triebkräfte der Revolution werden auch in Beiträgen, die der Basis-Oberbau-Probleme gewidmet sind, weiter ausgeführt. Hervorzuheben sind hier vor allem zwei Aufsätze, die Anspruch und Realität der Revolution
kri-
tisch in Beziehung zueinander setzen: des Philosophen H. H. Holz
(Gro-
ningen), der am CJakobinerterror "Gesinnung und Gewalt", als die beiden "abstrakten Momente der geschichtlichen Bewegung, in der sich eine neue Ordnung bildet" (S. 195) untersucht, und der Historiker K. Holzapfel und M . Zeuske (Leipzig), die "Größe und Grenzen der bürgerlichen
Revolu-
tion in Frankreich" daran messen, wie "heroische Illusion" und gesellschaftliche Realität nach der großen Durchbruchsrevolution
in Frank-
reich selbst in sehr widerspruchsvoller Weise den Transformationsprozeß zur bürgerlichen Gesellschaft beeinflußten. (S. 196) Hier schließt sich auch die Reihe von Studien über die Auswirkungen von 1789 auf Deutschland und die bürgerliche Umwälzung in den deutschen Territorien an. D a s Oakobinerproblem - nunmehr "extra muros" des französischen Ursprungslandes und mit vielschichtigen Abweichungen, auch Probleme der Begrifflichkeit
die
implizieren - steht erneut im Mittel-
punkt, so bei W. Grab (Tel Aviv) hinsichtlich der Oakobinerbewegung
in
den deutschen Teilstaaten insgesamt und bei H. Scheel (Berlin) am Beispiel der Mainzer Republik (1792/93). Interessante Aspekte des geistigen Echos auf die Große Revolution in Deutschland untersuchen unter anderem R. Steigerwald (Frankfurt/Main) in bezug auf 0. IV. von Goethe, H. Klenner (Berlin) für den Konservatismus und von Heiseler über das Urteil deutscher Zeitgenossen im Hinblick auf die seitdem ständig aktuell gebliebene Frage "Modell der Revolution oder besonderer französischer Weg?" Den Bogen zur Revolutionsproblematik
404
in der Gegenwart schlägt be-
reits Markov im Nachdenken über Legende und Wirklichkeit der Revolution, die Hauptangriffspunkte der Gegner marxistischer
Revolutionsbe-
trachtung offensiv aufgreifend: "Unsere Optik mit 1917 hat in der Tat auch immer etwas mit 1917 zu tun". (S. 96) D i e s e s T h e m a nehmen vier Aufsätze über die Klassiker des M a r x i s m u s - L e n i n i s m u s auf, die mit d e r Kritik von Marx und Engels an der bürgerlichen Revolution die O r i e n tierung der Arbeiterbewegung auf eine neue soziale Revolution
hervor-
heben. Vovelle schließt seinen historiographiegeschichtlichen A b r i ß mit der optimistischen Bemerkung, die Revolutionsforschung stehe gerade angesichts der Schärfe der Kontroversen heute "mitten im A u f b r u c h " 87); schon daher könne vom Ende der Revolution als
(S.
geschichtsmächtiger
Erscheinung keine Rede sein. Diese Frage nach dem Ende der Revolution, nach den w e i t e r f ü h r e n d e n Impulsen im 19. und 20. Oahrhundert werden folgerichtig im gleichermaßen aktuellen und theoretischen Schlußteil aufgegriffen, dessen A u toren sich mit dem Verhältnis von Krieg, Frieden und Revolution im N u klearzeitalter, mit der Oakobinerfrage in der D r i t t e n Welt, mit dem V e r hältnis von Revolution und revolutionärer Situation in der Gegenwart und der Beziehung von "Eigentum und Hegemonie" im Epochen- und R e v o lutionsvergleich befassen. Allgemeine gesellschaftstheoretische,
histo-
rische und soziologische Fragen der Revolutionsproblematik werden hier in aktueller und perspektivischer Weise miteinander verknüpft. Gerade darin kann und muß der marxistische Beitrag zur A u s e i n a n d e r s e t z u n g Revolution und sozialen Fortschritt in Geschichte und Gegenwart
Entsprechend dem Anliegen und dem Zielbereich dieses B a n d e s stehen gen im Mittelpunkt, die Revolutionsgeschichte
und heutige
über
liegen. Fra-
bürgerliche
Gesellschaft miteinander verbinden. Die Herausforderung, die das T h e m a 1789 und die Revolutionstheorie heute enthält, betrifft - dies sei abschließend als Gedanke zu diesem außerordentlich anregenden Bande hervorgehoben - auch die gesellschaftswissenschaftliche Arbeit über die Theorie der sozialistischen Revolution und des Sozialismus. Wolfgang
Küttler
405
Geschichte der Sozialpolitik der DDR 1945 bi8 1985. Hrsg. G . Winkler, Akademie-Verlag, Berlin
1989.
Seit längerem machte sich das Fehlen einer zusammenfassenden
Darstellung
der Geschichte der Sozialpolitik der DDR nach 1945 immer stärker bemerkbar. Diesem Mangel ist nunmehr mit dem anläßlich des 4 0 . ¿Jahrestages der Gründung des deutschen Arbeiter-und-Bauern-Staates erschienenen Werk abgeholfen. D a s von Gunnar Winkler geleitete Autorenkollektiv hat mit dieser in der Art eines Grundrisses und Handbuchs verfaßten Arbeit eine Leistung von beträchtlichem wissenschaftlichem Wert und großem politischem Nutzen
erbracht.
In der Einführung zu ihrem Buch verweisen die Autoren zu Recht auf die Kontinuität, auf die reichen und starken Traditionen
marxistischer
Sozialpolitik. Sie machen deutlich, wie tief die sozialpolitischen
Akti-
vitäten und Ziele der Gegenwart in der Geschichte der revolutionären A r beiterbewegung, insbesondere im Kampf der KPD, verwurzelt sind. Sie weisen nach, daß die KPD und die SED auch in dieser Hinsicht 1945 und in den folgenden Oahren nicht mit einer "Stunde Null" begonnen haben,
son-
dern auf Vorstellungen, Ergebnisse und Erfahrungen aus der Geschichte zurückgreifen, an diese anknüpfen konnten. B e i künftigen
Forschungen
sollte meines Erachtens mehr Aufmerksamkeit der Tatsache
beigemessen
werden, daß in der sozialistischen Deutschen Demokratischen auch sozialpolitische Absichten und Ideale der deutschen
Republik
Sozialdemokra-
tie sowie fortschrittlicher nichtproletarischer Kräfte ihre Verwirklichung gefunden haben. So verkörpert die DDR auch auf dem Gebiet der Sozialpolitik die fortschrittlichen Traditionen der deutschen
Geschichte.
Beachtung und entsprechende Untersuchungen verdient ebenso der in der Einführung formulierte Gedanke, daß die marxistisch-leninistische
So-
zialpolitik der SED und der DDR Erfahrungen der KPdSU und des Sowjetstaates nutzen
konnte.
Die Autoren arbeiten überzeugend heraus, daß mit der Errichtung der politischen Herrschaft der Arbeiterklasse und dank deren Bündnis mit den anderen werktätigen Klassen und Schichten die entscheidenden setzungen für eine an den Interessen des Volkes orientierte
VorausSozialpoli-
tik geschaffen wurden. Ebenso bedeutsam ist der Nachweis, daß die SED die konkret-historischen
sozialpolitischen Ziele und Aufgaben stets aus
ihrer Gesamtstrategie und ihrer Gesellschaftskonzeption
ableitete.
Zustimmung findet das in der Einführung dargelegte und in den Kapiteln umgesetzte Verständnis marxistisch-leninistischer
Sozialpolitik.
Sie zielt darauf, soziale Sicherheit für die Angehörigen aller Klassen, Schichten und sozialen Gruppen zu gewährleisten und in Abhängigkeit ökonomischen und wissenschaftlich-technischen
Fortschritt
vom
auszubauen,
eine stetige Hebung des materiellen und kulturellen Lebensniveaus des einzelnen und seiner Familie - in Abhängigkeit von der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Gesollschaft und des arbeitsfähigen Bürgers in Abhängigkeit von seiner eigenen Leistung - zu sichern und die
406
Entwick-
lung
der K l a s s e n
hinsichtlich ihres
sozialen
werden
in
und S c h i c h t e n
der A r b e i t s Profils
knappen
sozialpolitischen
Bevölkerung, liche
Kennzeichnung
lung,
behandelt:
Betreuung,
Fürsorge
Arbeitszeit,
den B e s c h l ü s s e , sultate,
die
Wirkungen
der
werktätigen
Volkes
und E r h o l u n g ,
war bemüht,
1949,
das
in
die
1949 b i s
der Geschichte
der S o z i a l p o l i t i k
Die Verfasser auf
den S i n n
realisieren.
Ein
als
Grundlagen
hervorstechendes reichen
wirkung
von w i r t s c h a f t l i c h e m
Grundzug schiedene merk
Basis
des S o z i a l i s m u s Stu/en
seiner
in
des V I I I .
Parteitages
Wechselwirkung
rnerkmal d e r G e s t a l t u n g Die
erfolgreiche
ständiger
und d e s
rische
Wirken
bestätigen
SED
Realisierung
sozialistischen
dieser Politik
Staates,
der A r b e i t e r k l a s s e ,
der
zu
sie
MögGe-
1985.
für
diesen
die
Darstellung nicht
der
zu
Zeitaus,
widmen.
SED und
der
die
und d e r
war von
dem
und w i r k s a m e r
der A r b e i t
zu
besteht
beeindruckenden
und g e w e r t e t
wurde.
dialektische
Wechsel-
Fortschritt
Wirksamkeit.
als
durchlief Besonderes
mit
den als
ein
verAugen-
Beschlüssen
neuen Q u a l i t ä t
sozialistischen
einem
der Wesens-
Gesellschaft
engen W e c h s e l w i r k u n g
ist
zu.
ein
marxistisch-leninistischen
an d i e
Klasse
aus
1971 b i s
geprägt
Verhältnis
der
Staates
ganzen
folgender
schließt
und S o z i a l p o l i t i k
der entwickelten
im
der weiteren
für
Vielfalt
1971 e i n g e l e i t e t e n
Wirtschafts-
Re-
Weiterentwicklung,
aufbereitet
d e r DDR 1 9 4 9
h o h e r A n s p r u c h an d i e
Partei
Das
Merkmal
seiner
und s e i n e r
die
allem
g r o ß e s Augenmerk
Wachstum und s o z i a l e m
Reife
der
zwischen
auch
daß s i e
d e r DDR. D i e s e s
kommt d a b e i d e r G r ü n d u n g
vor
1970,
Sozialpolitik
positives
solide
diese
und d e s
Literatur
immer u m f a s s e n d e r
Gestützt
entsprechen-
werden
gesellschaftlichen
und s t e t i g e
beruhte,
und i n
die
Fortschritte
sich
1961 b i s
daß d i e
d a s v o n den A u t o r e n
der
sozialistischen
die
tragfähig.
Tatsachenmaterial, auf
des
und e s g e l a n g t e
weiterhin
Verwirklichung
der
gesundheit-
Qualifizierung,
Erfordernissen
1960,
des S o z i a l i s m u s
i n dem a u ß e r o r d e n t l i c h
und
qualitativen
Partei,
historischen
Zäsuren
machen s i c h t b a r ,
wissenschaftlichen
Bestreben,
Arbeit,
dokumentiert.
Periodisierungsschema
dieser
ihre Ausarbeitung,
die
Ausführlich
und a n d e r e n
unserer
angewandte
DDR,
ein.
ergaben,
raum a l l g e m e i n
der Herausarbeitung
Bildung
Fortschritte,
Potenzen
der neuen G e s e l l s c h a f t sich
auf
Versorgung
Bevölkerungsentwick-
d a s Wohl d e r A r b e i t e r k l a s s e
zu markieren.
1945 b i s
die
Raum nehmen d a b e i
ökonomischen
erweist
und d i e
und
Arbeits-
Förderung
und K i n d ,
aber auch aus h e r a n g e r e i f t e n
Gliederung:
des Rechts
Sozialversicherung,
lichkeiten,
Damit
der
die
gewachsenen staltung
Bereiche
die
marxistisch-leninistischen für
Sinn
Kapiteln
Ausgangsbedingungen
Einkommen
der S o z i a l p o l i t i k
und d e r G e w e r k s c h a f t e n
angelegten
einzelnen
und V e r o r d n u n g e n
Das A u t o r e n k o l l e k t i v Wirken
Ausprägung
und d i e W o h n r a u m v e r t e i l u n g ,
Umwelt. B r e i t e n
Gesetze
Annäherung
verstandenen
Realisierung die
ihre
auch d i e
diesem weit
die
die
für Mutter
Freizeit
Schutz der n a t ü r l i c h e n
als
der j e w e i l i g e n
und A u f g a b e n
der Wohnungsbau
und d i e
In
und A r b e i t s s c h u t z ,
und s o z i a l e
Familie
was s o w o h l
chronologisch-systematisch
Ziele
und L e b e n s b e d i n g u n g e n der Gesundheits-
fördern,
einschließt.
den e i n z e l n e n
nach einer
zu
und L e b e n s b e d i n g u n g e n
Tatkraft
der
und d a s
schöpfe-
Genossenschaftsbauern,
407
der sozialistischen Intelligenz und der anderen Werktätigen, an die G e werkschaften und die anderen politischen Parteien und Organisationen. Effektivität und Wirksamkeit der Sozialpolitik beim A u f b a u und bei der Gestaltung der neuen Gesellschaft sind davon abhängig, wie es die marxistisch-leninistische Partei versteht, die den realen Bedingungen
der
jeweiligen historischen Situation entsprechenden sozialpolitischen
Zie-
le und Aufgaben zu formulieren, die für die Realisierung der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik charakteristischen Inhalte,
Formen
und Methoden zu bestimmen und - was letztlich ausschlaggebend ist - die Werktätigen dafür zu mobilisieren und die Übéreinstimmung von Wort und Tat zu gewährleisten. Die Darstellung beweist, daß in der DDR die Sozialpolitik in besonders starkem Maße seit Beginn der siebziger 3ahre jedem Bürger zugute kommt. Sie belegt, daß sich die Werktätigen der DDR unter Führung der SED und dank dem Bündnis der sozialen und politischen Kräfte der Gesellschaft einen auch im internationalen Vergleich hohen
Lebensstandard
erarbeitet haben - und das, obwohl nicht wenige alte und neue Unzulänglichkeiten, Widersprüche und Probleme existieren und erhebliche rigkeiten
Schwie-
bereiten.
Generell ist es notwendig, daß alle Möglichkeiten genutzt werden, um herauszuarbeiten, daß sozialpolitische Errungenschaften das Ergebnis angestrengter Arbeit auf wirtschaftlichem,
wissenschaftlich-technischem
und geistig-kulturellem Gebiet sind, daß die Voraussetzungen
für die
umfassendere Befriedigung der Bedürfnisse der Menschen Schritt
für
Schritt geschaffen werden, wobei zu beachten ist, daß die Ansprüche
und
Erwartungen der Menschen selbst rasch wachsen. In diesem Zusammenhang wäre es wünschenswert gewesen, daß der zuletzt genannte Aspekt
genauere
Beleuchtung erfahren hätte. Ebenso hätte es sich empfohlen, die ganze Tragweite der zunehmenden Komplizierung innerer und vor allem äußerer Bedingungen
für die erfolgreiche Realisierung des Kurses der Hauptauf-
gabe in der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik deutlicher zu veranschaulichen. Für künftige Forschungen bietet es sich aus meiner Sicht an, den ideologischen Aspekten der Verwirklichung der Sozialpolitik, der A u s einandersetzung mit Auffassungen und Haltungen, die sich hemmend auswirkten und die es zurückzudrängen galt, mehr Aufmerksamkeit zu widmen. A h n l i c h e s gilt auch für den Widerhall der Sozialpolitik, das sie bei den Werktätigen
für das Echo,
fand, für die Beantwortung der Frage, wie
sie als Triebkraft wirkte. Hier eröffnet sich dem Zusammenwirken Sozialpolitikern, Soziologen und Historikern ein weites
Ergebnisse auf diesem Gebiet können helfen, die Darstellung ter zu gestalten, die den gesellschaftlichen Prozessen
von
Forschungsfeld. interessan-
innewohnende
Spannung sichtbar zu machen. Forschungen auf diesem Gebiet sind unerläßlich, um Ausmaß und Größe des Erreichten noch einprägsamer zu veranschaulichen. Schließlich ist festzustellen, daß bedauerlicherweise völlig die Auseinandersetzung mit imperialistischen sowie
408
fast
rechtssozial-
demokratischen Entstellungen der S o z i a l p o l i t i k der SED und der DDR fehlt. . B e t r ä c h t l i c h e n eigenständigen Wert besitzen die umfangreiche, lierte Z e i t t a f e l sowie der umfassende, Anhang; sie sind wertvolle,
sehr a u s s a g e k r ä f t i g e
unerläßliche H i l f s m i t t e l
detail-
statistische
für Forschung,
Lehre und P r o p a g a n d a . Vervollständigt wird dieser Teil des B u c h e s d u r c h K u r z p o r t r ä t s von Wegbereitern der Sozialpolitik, der V o l k s k a m m e r - A u s s c h ü s s e beit und Sozialpolitik,
durch ein
der Tagungen des W i s s e n s c h a f t l i c h e n
Sozialpolitik und Demografie sowie Schemata zur Leitung der tik. B e n u t z e r f r e u n d l i c h wie ein
Verzeichnis
für Arbeit und G e s u n d h e i t s w e s e n bzw. für A r Rates
für
Sozialpoli-
sind gleichfalls eine A u s w a h l b i b l i o g r a p h i e
so-
Personenregister.
Diese Publikation
fördert die A r b e i t e n zur D a r s t e l l u n g d e r G e s c h i c h t e
der DDR. Zugleich werden von ihr A n r e g u n g e n
für neue Forschungen
aus-
gehen. Eckhard
Trümpier
409
K. I. Mikulskij, V. Z. Rogovin, S. S. Satalin, Socialna.la
politika
KPSS. Izdatelstvo politeceskoj literatury, Moskva 1987, 349 Seiten. Eine umfassende Darstellung der Grundrichtungen, Mittel und Methoden der Sozialpolitik in der UdSSR, schwerpunktmäßig auf die Beschlüsse des XXVII. Parteitages der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) bezogen, ist Gegenstand dieser Kollektivmonographie. Unter der Leitung von Rogovin geben drei bekannte sowjetische Gesellschaftswissenschaftler einen allgemeingültigen Überblick über Errungenschaften, aktuelle Probleme und Aufgaben sowjetischer Sozialpolitik sowie angestrebte Wege weiteren
sozialen
Fortschritts. D a s Buch wird für Propagandisten und einen weiten Kreis der an politischer Weiterbildung interessierten sowjetischen Leser empfohlen. Damit hat es die erstrangige Aufgabe, das geistige Leben und die öffentliche Meinung in der UdSSR zu aktivieren und die Werktätigen in der Sowjetunion mit dem Wissen auszustatten, das sie mobilisiert und zu aktiven Verfechtern ihrer Sozialpolitik werden läßt. Die Monographie stellt
gleichzeitig
eine Bestandsaufnahme an Erkenntnissen zur Sozialpolitik in der Sowjetunion dar. Hinzu kommen für den ausländischen Leser viele wertvolle
In-
formationen und Anhaltspunkte für das bessere Verständnis der Mittel und Wege der Vervollkommnung sozialer Leitung, der Entwicklung der sozialen Sphäre und der Beschleunigung des sozialökonomischen Fortschritts. Zum gewählten Titel der Monographie sei angemerkt, daß er durch
"Sozialpolitik
in der sowjetischen Gesellschaft" ersetzt, dem Inhalt und Anliegen
des
Buches näher gekommen wäre. Dabei steht außer Frage, daß die KPdSU grundsatzlich richtungweisend Einfluß nimmt auf die Sozialpolitik. Das beweisen allein die Beschlüsse des XXVII. Parteitages und der darauffolgenden Plenen der KPdSU, auf denen prinzipielle Korrekturen an Umfang und Struktur bisheriger Sozialpolitik in der Sowjetunion vorgenommen und durchgreifende Maßnahmen zur Überwindung einer Unterbewertung der Sozialpolitik schlossen wurden. Eine Gleichsetzung zwischen sozialpolitisch
be-
orientier-
ter Tätigkeit und der Gesamtheit sozialpolitischer Tätigkeit in der sozialistischen Gesellschaft, zu der auch staatliche Organe und Einrichtungen, gesellschaftliche Organisationen sowie einzelne Persönlichkeiten ihren jeweils erforderlichen Beitrag leisten müssen, trifft meines Erachtens jedoch nicht den Kern der Sache. Der A u f b a u der Monographie nach acht Schwer- bzw. Gliederungspunkten
ist
logisch und übersichtlich. Im I. Kapitel (S. 6-72) werden Inhalt, Ziele und Prinzipien sowjetischer Sozialpolitik erklärt.Auf der Grundlage
einer
kritischen Bewertung des erreichten Standes sozialer Entwicklung in der Sowjetunion werden Schlußfolgerungen gezogen und neue Denkansätze und Diskussionspunkte vorgestellt. Deutlich herausgearbeitet wird die Rolle der KPdSU als der Avantgarde des stattfindenden
führende
Umwandlungsprozesses
und damit auch der Durchsetzung des auf dem XXVII. Parteitag
beschlossenen
Sozialprogramms. Sozialpolitische Grundrichtungen gegenwärtiger
Entwick-
lung werden umrissen und die Neuorientierung in der Sozialpolitik des Lan-
410
des sowie die damit gewachsene Aufmerksamkeit für praktisch zu lösende Fragen fixiert. Definiert wird die Sozialpolitik der KPdSU "als G e s t a l tung und ideologisch und organisatorisch-politische A b s i c h e r u n g der Realisierung des Kurses auf Erhöhung des Volkswohlstandes, als V e r v o l l k o m m nung der sozialen und nationalen Verhältnisse, a l s Entwicklung der
sozia-
listischen Lebensweise". (S. 7) Das wichtigste Anliegen der Sozialpolitik in der sozialistischen Gesellschaft - die Sorge um den Menschen - wird in enge Beziehung zu solchen notwendigen Veränderungen in der
sowjetischen
Gesellschaft gestellt, die mit "mehr Sozialismus" umschrieben und als vollständigere und folgerichtige Durchsetzung sozialistischer
Prinzipien
zu verstehen sind. Die Frage nach diesen Prinzipien, die d a s Wesen des Sozialismus, seine gegenwärtigen und zukünftigen Ziele und ihre V e r w i r k l i chung betreffen, wird am neuen Parteiprogramm und anderen wichtigen
Par-
teibeschlüssen festgemacht. Mit Hilfe folgender Termini wird der aktuelle soziale Problemkreis sowjetischer Sozialpolitik schwerpunktmäßig
sichtbar:
aoziale Gerechtigkeit, soziale Garantien, Anheben des materiellen und kulturellen Lebensniveaus, Humanisierung der gesellschaftlichen
Verhältnisse,
Entwicklung der sozialen Aktivität aller M i t g l i e d e r der Gesellschaft,
Be-
rücksichtigung sozialer Gruppenspezifika - insbesondere bei.der Jugend, bei Frauen und älteren Bürgern, Einheitlichkeit
und Geschlossenheit
des
Zusammenwirkens aller Klassen, Schichten und sozialen Gruppen der G e s e l l schaft. Die soziale Sphäre als zusammenfassender A u s d r u c k dieser
verschie-
denen sozialen Entwicklungsaspekte wird insgesamt in der Bedeutung
ange-
hoben und gewissermaßen als Gradmesser der Reife d e s Sozialismus
benannt,
da durch ihr Entwicklungsniveau das Resultat aller A n s t r e n g u n g e n
der
KPdSU und ihrer Politik greifbar wird. (S. 9) Bezeichnend für sowjetische Sozialpolitik nach dem X X V I I . Parteitag ist eine stärkere A k z e n t u i e r u n g ihrer aktivierenden Funktion, durch die eine breite Unterstützung
des
Kurses der Beschleunigung sozialökonomischer Entwicklung in der UdSSR angestrebt wird. So ist vorgesehen, "den Beitrag der sozialen Sphäre
sowohl
zur Entwicklung der Fähigkeiten der Werktätigen der Volkswirtschaft, produktive Arbeit zu leisten, als auch zur Schaffung besserer
hoch-
Bedingungen
für die praktische Realisierung dieser Fähigkeiten und vor allem zur V e r stärkung der Interessiertheit der Werktätigen an den Ergebnissen der Produktion zu erhöhen". (S. 11/12) Neben der Ableitung von vorrangigen Grundrichtungen
im
beschlossenen
Sozialprogramm erfordert die praktische Verwirklichung dieser und anderer j.n der Monographie in großer Zahl genannten qualitativen Zielsetzungen allem eine Weiterentwicklung der wissenschaftlichen Grundlagen scher Sozialpolitik, der Beherrschung ihrer Komplexität und sowie die Ableitung konkreter Maßnahmen ihrer Durchsetzung
vor
sozialisti-
Effektivität in der g e s e l l -
schaftlichen Praxis. Dieser Standpunkt des Autorenkollektivs, der unsere volle Unterstützung findet, wird in den folgenden Kapiteln an w e s e n t l i chen Objekten der Sozialpolitik der sowjetischen Gesellscnaft j e w e i l s inhaltlich demonstriert. Kapitel II (3. 73-110) ist dem Zusammenhang von Sozialpolitik und Sozialstruktur gewidmet. Im Kapitel III (S. 111-162)
geht
411
es um die Verwirklichung progressiver Veränderungen in der Arbeitssphäre, das heißt die Anreicherung des A r b e i t s i n h a l t s und die Verbesserung der Arbeitsbedingungen sowie die Vervollkommnung der sozialistischen
Arbeits-
organisation und die Festigung der Arbeitsdisziplin. Kapitel IV (S. 163211) behandelt Probleme des A n w a c h s e n s des Lebensniveaus und der Vervollkommnung der Verteilungsverhältnisse, darunter die Ausarbeitung eines sozialistischen Konsumtionsmodells. Sozialfürsorge im Falle von A r b e i t s u n fähigkeit sowie für Familien mit mehreren Kindern ist Gegenstand des Kapitels V . (S. 212-230) Der Inhalt d e s Kapitels V I (S. 231-263) und VII (S. 264-298) umfaßt die Verbesserung der sozialen Lebensbedingungen in G e stalt von Gesundheitswesen, Wohnungsbau, Zeitbudget, Bildungsweren Kultur. Im letzten Kapitel VIII (S. 299-341) stehen Fragen
und
der'Herausbil-
dung e i n e s gesunden sozial-psychologischen Klimas zur Diskussion. Methodologisch charakteristisch für d a s vorherrschende
Sozialpolitik-
verständnis in der Sowjetunion ist meines Erachtens d a s enge Verknüpfen von Wohlstandsentwicklung und Vervollkommnung gesellschaftlicher
Verhält-
nisse, ausgedrückt durch ein stärkeres Hervorheben d e s P r i n z i p s der sozialen Gerechtigkeit. Neben der Oberwindung entstandener Disproportionen zwischen einer "Sozialpolitik auf dem Papier" und der "Sozialpolitik im Leben" geht es um eine strikte Einhaltung sozialistischer
Gesetzlichkeit
in der Sowjetunion, um eine proportionale Beziehung zwischen A r b e i t s l e i stung- und Konsumtionsentwicklung
und gegen Nutznießung von Einkommens-
quellen, die nicht auf eigener Arbeitsleistung beruhen. Mit der Hervorhebung eines entsprechenden "sozialen Klimas" will die Sozialpolitik
för-
dernd Einfluß nehmen auf solch eine Vervollkommnung sozialistischer Lebensweise, bei der der Mensch als freie, schöpferische,
kollektivistische
Persönlichkeit sozial aktiv und wirksam ist. E s steht außer Zweifel, das vorgelegte Buch zur Sozialpolitik für eine Profilierung dieser Wissensdisziplin
bietet
reichlich Stoff und einen
guten Ausgangspunkt für die Belebung des wissenschaftlichen
Meinungs-
streits. Nicht alle in der Monographie vertretenen Auffassungen sind sogleich überzeugend. Manche Aussagen entbehren der Begründung,
manchen
mangelt es an Trennschärfe, einige scheinen überholt. Letzteres betrifft zum Beispiel Aussagen zu angestrebten Veränderungen in der Arbeiteephäre, mit der direkt oder indirekt "eine Oberwindung von
Klaseenunterschieden
auf der Grundlage der Umwandlung landwirtschaftlicher Arbeit in eine spezifische Art industrieller Arbeit" (S. 14) herbeigeführt werden Wird doch gerade in jüngster Zeit die Entwicklungsperspektive
soll.
genossen-
schaftlichen Eigentums im Sozialismus und damit auch d e r Spezifik schaftlicher Arbeitstätigkeit erneut als unentbehrlich
A l l jenen, die eine Fundieruncj wissenschaftlicher Grundlagen stischer Sozialpolitik fördern möchten, sei eine produktive, gende Auseinandersetzung mit diesem Buch
landwirt-
eingeschätzt. soziali-
gewinnbrin-
gewünscht. D o r i s Rentzsch
412
Sozialstruktur der DDR. Autorenkollektiv unter Leitung von R. Weidig« Dietz Verlag, Berlin 1988, 367 Seiten. Die kompakte Daretellung des Konsensus, zu den mit diese'r Publikation ein Autorenkollektiv namhafter Soziologen der DDR in der Analyse und Bewertung der grundlegenden sozialen Strukturen und ihrer Entwicklungstendenzen beim Obergang zur intensiv erweiterten Reproduktion gelangt ist, kann als besonderer Vorzug dieses Buches gelten* Daß es sich hier Ober weite Strecken wie ein Lehrbuch über die Dialektik von sozialer Gleichheit und sozialen Unterschieden im Prozeß der Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft lieet, das dem Leser die objektiven Widersprüche auf diesem Wege nicht vorenthält, ist auch dann kein Nachteil, wenn er die spezielleren Publikationen der Autoren zu den verschisdenen Aspekten der Sozialetruktur schon kennt. Das Buch behandelt Grundlagen und Hauptrichtungen der Entwicklung der sozialen Struktur in der DDR, die Entwicklung der Klassen und Schichten, das Verhältnis von geistiger und körperlicher Arbeit, die Beziehungen von Stadt und Land, die Rolle des Arbeitskollektivs bei der Entwicklung der sozialen Struktur, die Rolle und Entwicklung spezieller eozlaler Gruppen (Frauen, ¿Jugendliche, ältere Bürger). Von der ersten bis zur letzten Seite bestimmt diese Problemstellung die Darstellung der bleherigen und gegenwärtigen Sozialstrukturentwicklungt Welche entscheidenden Entwicklungspotenzen und Triebkräfte können die Klaesen und Schichten heute und für ihre weitere Perspektive aue ihren besonderen sozialen Exi8tsnzbedingungen freisetzen und weiter ausbildsn? In welchem Verhältnis steht die Entwicklung grundlegender eozlaler Gemeinsamkeiten zur Reproduktion sozialer Unterschiede und warum fallen in der DDR soziale Unterschiede zwischen den Klassen und Schichten geringer ins Gewicht als innerhalb dieser? Wslche grundlegenden Veränderungen vollziehen sich in der Sozialstrukturentwicklung nach dem Abschluß extensiver und im Obergang zu intensivsr Reproduktion und wie differenziert vollziehen sie sich in unterschiedlichen Verlaufsformen der gesellschaftlichen Bewältigung der wissenschaftlich-technischen Revolution? Welche neuen qualitativen Eigenschaften der Klassen und Schichten erlangen an Bedeutung, durch die sie als Subjekte des ökonomischen und sozialen Fortschritts handeln und welche - das ist das Hauptproblem - Veränderungen sind anzustreben, damit bestmögliche sozlelstrukturelle Bedingungen für die Förderung des Leistungsvermögens, für die weitere Entfaltung der produktiven Kräfte und Fähigkeiten der Klassen und Schichten zur Beschleunigung dee wissenschaftlich-technischen Fortschritts und zur Sicherung des erforderlichen ökonomischen Wachstums geschaffen werden? Dieser Problemstellung folgend, erlangen hinsichtlich der Strukturentwicklung der Arbeiterklasse einerseits Fragen nach der Reproduktion von Strukturmerkmalen und Entwicklungeniveaus, die sich in ihren grundlegenden Qualitäten bereits herausgebildet haben und für ihre soziale Aktivität und ihr Schöpfertum in Gegenwart und Zukunft notwendig sind, enderer413
seits nach tiefgreifenden Wandlungen verechiedener Strukturmerkraale entsprechend den Erforderniesen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts und der Intensivierung unter den gegebenen demogrephischen Bedingungen eine wachsende Bedeutung. Ihr entspricht die Darstellung der Veränderungen in der Struktur der Arbeiterklasse, die sich weniger in Gestalt von Veränderungen zwischen als in den Wirtschafts- und Industriebereichen vollziehen und neue Merkmale des qualitativen Wachstums der Arbeiterklasse zum Ausdruck bringen. Ausführlich werden die unterschiedlichen Tendenzen in der Strukturentwicklung der Arbeiterklasse in ihrer spezifischen sozialen Qualität beschrieben, wobei die Grenzen dieser Darstellung - ein Mangel, der nur mit der weiteren Entwicklung der Theorie der Sozialstruktur überwunden werden kann - in der noch nicht hinreichenden Kenntnis ihrer Größenordnungen und ihrer Maßverhältnisse liegen. Die Autoren weisen überzeugend nach, daß die verschiedenen Formen des sozialistischen Eigentums, die die Existenz und Perspektive der Arbeiterklasss und der Klasse der Genossenschaftsbauern konstituieren, viel weniger soziale Unterschiede zwischen beiden Klassen hervorbringen, als sie vielmehr Ausdruck von Eigentümlichkeiten ihrer sozialen Profile und Besonderheiten, ihrer spezifischen Eigenschaften und Fähigkeiten sind, die sie zu notwendigen Subjekten der Gestaltung des entwickelten Sozialismus machen und deshalb weLiter ausgeprägt werden müssen. Von den gemeinsamen Grundfunktionen der Intelligenz ausgehend, erfolgt eine differenzierte Analyse der sich weiter ausprägenden funktionellen und sozialen Differenziertheit dieser besonderen sozialen Schicht , Nachdem auch hier extensive Wachstumsprozesse durch qualitative Entwicklungen innerhalb der herausgebildeten Grundstrukturen abgelöst wurden, stellt sich die Frage nach der Reproduktion vor allem der wissenschaftlich-technischen Intelligenz entsprechend den Anforderungen an die Wissenschaftsentwicklung im Zusammenhang mit den internationalen Trends des Wachstums des Forschungs- und Entwicklungsaufwandes für Spitzenerzeugnisse in neuer Weise, nicht zuletzt hinsichtlich der Schaffung spezifischer sozialer Bedingungen für außergewöhnliche Leistungen. Damit wird ein Problem zur Diskussion gestellt, das einen grundlegenden objektiven Widerspruch in der Entwicklung des erforderlichen Kaderpotentials reflektiert: einerssits muß es in Bereichen, die den Vorlauf für die gesamte volkswirtschaftliche Dynamik schaffen, verstärkt werdenj andererseits ist es unmöglich, dieses Wachstum auf Kosten anderer Teile der Intelligenz durchzusetzen. Als "strukturelle Quellen" (S. 144) für die Widerspruchslösung werden genannt: Rationalisierung administrativer und organisatorischer Funktionen, wirkliche Ausschöpfung dsr vermittelten und erworbenen Qualifikation, Spezialisierung der Ausbildungsprofile und bessere Nutzung der Freizeitfonds für kreative Aktivitäten. Die Geradlinigkeit der Darstellung der Handwerker und Gewerbetreibenden verdient hervorgehoben zu werden: Sie hat es, so lie-st man (S. 160), in allen Gesellschaftsformationen seit der Auflösung der Urgesellschaft gegeben, sie haben zwar nie eine Produktionsweise bestimmt, aber jede 414
ergänzt, sie haben sich immer behauptet, weil sie stets gebraucht wurden; sie gehören, weil sie durch keine andere Schich30BaH ÖJiaroflapa 3TOMy MeTOfly, h Bamae npoueflypa ero irpmieHeHHH b Ka^íecTBe cpeacTB ncuiy^ei-iKH imräopMamra h npoBepmi rnnoTe3. CT3TÍ>h 3aKaOTiiBaeTGH BUBOflawE Ha npmvieHeHHe aToro weTOfla B MapKCHCTCKojieHHHGKOß coujiojiorra.
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The Sociology and Social Policy Yearbook 1989 S u m m a r i e s Horst Berger and Gunnar Winkler The development of the relationship between sociology and social policy in the GOR Relations between sociology and social policy are characterized by long historical traditions in Marxism-Leninism. To deal with these traditions is of increasing thsoretical and practical importance for the development of Marxist-Leninist social policy and sociology as well. The present paper analyses aspects of this relationship by the example of the development of sociology and social policy in the GOR after 1945/ from 1949 up to the present time. Historical relationehips of these relations are shown in the form of Marxist-Leninist tradition, and topics are presented where theoretical and practical problems exist which have to be solved in the present and future times. Hubert Laitko Oiecipline genesie as a social process Recently. GOR research into the history of science dealt with the comparative analysis of processes of the emergence of scientific disciplines. However, the aspect of the sociology of science of these processes has not been pointed out explicitely. The present contribution makes a summary of results from the view of the history of science. The attempt is made to outline those fields explored in this connection, which could be promising for further advancing systematic work in terms of the sociology of science. The following scheme is proposed to be used as a simple model of discipline formation: On the basis of perceptlng and covering a field of problems, a proto-disciplinary communication network comes into being, which constitutes a team of scientists who communicate with regard to the object concerned. This team is stabilized through institutionalizing. The process of stabilization is completed by the emergence of an internal cycle of reproduction. Nikolai Genov National and international dimensions in modern Bulgarian sociology The present paper shows the influence of national traditions on the development of sociology as a discipline by the example of Bulgarian sociology. The relationship between national traditione in sociology and processes of its internationalization is covered as a theoretical problem, and the position of national sociology in world sociology is dealt with. Zinaida Tikhonovna Golenkova The development of Marxist-Leninist sociology in the socialist countries The present contribution provides a general survey on experience made by sociologists from socialist countries with regard to their co-operation. The contribution is concentrated on general and specific determinants governing the development of Marxist-Leninist sociology after the second world war as well as on its unequal development processes in the socialist countries. These differences are caused by most various reasons. The author makes the attempt to give an overall picture, to a certain degree, of the present-day level and trends as to the development of Marxist sociology, to show internal determinants of development, and the importance of co-ordinating research work for the development of sociology in the present time.
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Helmut Steiner Historical materialism and sociological theory Like in case of other social sciences, the question is asked which sociological heritage GDR sociology has to deal with in particular, which traditions have to be maintained in the process of its development and have to be integrated in e critical-constructive manner. Of prime importance is to purposefully study and, above all, to systematically present the sociological heritage of K. Marx, F. Engels and V. I. Lenin as well as the traditional lines of Marxist sociological and socio-political thinking as elaborated by them. The paper analyzes the relationship between historical materialism and sociological theory. Otto Bittmann Marx' and Engels* social-policy ideas Striking characteristics of the theory of K. Marx and F. Engels are its social character and orientation towards the class struggle in practice. To recognize the world always meant for the two classical authors of Marxism-Leninism to change it. The social-policy ideas of Marx and Engels are set in this frame. Their positions to social problems of their time are shown and the socio-political programme which was elaborated by them. At the end of the contribution, essential statements of the two classical authors with regard to social policy under Socialism/Communism are explained. Christian Graf The history of the principle of subsidiarity as a basic principle of conservative state-doctrinary social policy and radical-democratic socio-political views Due to crisis-prone economic developments, the arms drive and huge national debts in developed capitalist countries but also due to "antietatistical" views, the principle of subsidiarity has become the subject of most lively discussions on social policy. It is conservative groups in particular who trace back this principle to the Pontifical Social Encyclical 'Quadragesimo anno" (1931) although "subsidiary" views can be proven to have existed already a long time before. The principle of subsidiarity is interpreted in different ways in order to be able to base various measures of social reduction on a claim of Christian authority. From a radical democratic point of view, the principle of subsidiarity is primarily seen as the decentralization of social activities, made in the form of self-assistance in particular. Wolfgang Kuttler Sociology and history in Lenin's analysis of Russian capitalism The contribution proceeds from the importance of Lenin for the development of Marxist social sciences. It deals with the relationship between historical and sociological analyses with regard to elements of subjectrelated connections, in terms of division of labour, between the two disciplines as separate sciences. First, a difference is made between two levels of reference on which Lenin uses the term "sociology": one level is complex historical-materialistic social science, the other one is concrete social research. Second, the main stages in the work of Lenin are used to elaborate and differentiate problems with which he dealt in analysing the society in Russia: before 1905 with the aim to cover the system of capitalist formations, after 1905 relating to the ways of capitalism and revolutionary transformation, after 1917 with regard to the beginning genesis of socialism and of elements of the new transformation. Third, examples of concrete social research are given. The most important proceeding points are problems in Lenin's theoretical work on social democracy "What to Do?". The following concrete subjects are dealt with: the development and differentiation
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of the farmers, social behaviour and electoral behaviour of classes and political parties from 1905 to 1907, the analysis of the imperialist system and studies on structural forms and social forces in the transitional period beginning after 1917. Vera Sparschuh Research into the history of Marxist branch sociology as an object of research in the hietory of Marxist sociology (The emergence of industrial sociology in the Soviet Union in the 1920s) During our century, Marxist researchers presented a variety of conceptual ideas on sociology. In evaluating latest discussions on the structure of Marxiet sociology, the thesis of the "non-deductive" structure of Marxist sociology Is supported as the proceeding point for research work on sociological history. Thie thesis is necessary for analysing the history of Marxist branch sociologies in particular: theoretically, the emergence of Marxist industrial sociology cannot be explained only as a"translation or an assimilation of findings of historical materialism". The above development is shown by the example of the development of industrial sociology in the Soviet Union. The attempt is made to prove the contribution of this research work to the development of the respective discipline. Three lines in Soviet industrial sociology are discussed: psychotechnology, scientific work organisation and first beginnings of socio-economic research in empirical social research. Rose-Luise Winkler The emergence of Marxist sociology of science in the Soviet Union in the period between 1917 and 1935 The characteristic feature of the emergence of Marxist sociology of science as an Independent scientific discipline is that it did not emerge within sociology primarily but within the context of the emergence of scientific thinking on science. This development began in the Soviet Union already shortly after 1917. However, the process of the emergence of Marxist sociology of science cannot be seen separately from the development of sociology as a discipline. This thesis is proven by works on the sociology of science written in the period between 1917 and 1935. The present contribution also shows the importance of these works for the development of the sociology of science in the present time, and it deals with problems connected with interdependences between the sociology of science and research concerning science of science. Ourgen Kuczynski Sociology and research Into everyday life Problems of sociology and every-day research with taking the conditions in the GDR and in the FRG into special account are dealt with in the present paper. It also shows the usefulness of "pure" every-day studies and how the level of research and the insight into social conditions is improved when sociologists deal with every-day research. It shows that certain problems can .only be solved when experts in social policies are also involved. The two main examples which are used for this purpose are the problems of means of work, labour processss and sparetime under capitalism and socialism on the one hand and equal rights for women on the other hand.
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Hans Mittelbach and 06rg Roesler Income and consumption of the GDR population over the past 40 years The contribution presente the basic lines of the scope, development trends and main structures of the development of income and consumption with regard to the GDR population. As to income, the authors deal with the development of labour income, pensions and net monetary income of the population. Attention is also paid to the so-called second pay envelope, that is, financial means from the budget to finance education, the public health and eocial system as well as housing construction. The use of income is presented by analysing the development of the per capita consumption of foodstuffs, beverages and tobacco, the provision of households with durables as well as the structure of retail trade. Statistical materials covering the period of 1946 to 1986 and 1949/50 to 1986 are used for this purposs. Gerlinde Petzold Time behaviour in the GDR ae an object of scientific research At preeent, time behaviour is being a subject of public discussion in the GOR because the transition to Intensely expanded reproduction brings about new social needs and individual demands on the use of time. To cover this procsss, it is nscessary to enlarge the horizon of scientific research work. In its studies maas so far, Marxist-Leninist scisnce of culture has dealt with appropriating individual modes of behaviour modes of life and the social quality of living conditions as well as with the cultural dimension of time. Sparetime is of special importance owing to its position as a symbol. To substantiate views in terms of cultural science with regard to socialist sparetime culture, the results of research work on sparetime are used to prove which human and cultural ideals have been maintained in the GDR history by means of the term of sparetime. Siegfried Grundmann The development of regional sociological rssearch in the GDR Beginning with the First Congress of Sociology in 1969 or so, regional problems and aspects havs gained in importance in sociological reeearch and in research on the social structure in particular. In the second half of the 1970s this was especially shown by the fact that practically all institutions of sociological research included regional problems in their research programmes. Several interdisciplinary working groups were established and sociologists were incorporated into already existing research groups or scientific councils. The 1980s were characterized by an increasing depth and scope of topics covsred by the respective ressarch work, and by first generalizations of these works. Papers were published which dealt with basic problems of sociological regional research such as "region", "town", "village", "migration", "To solve the housing problem as a social problem" etc. International co-operation within the framework of regional sociological research also developed in a positive sense. Ingrid and Manfred Lot3ch Continuity and changes in GDR social structure research As to its conceptual content, the development of sociological research on the GDR social structure is based on the cornerstones "aims of equality - social particularities and differences - efficiency". To a justifiable degree of simplification, a difference can be made between the following stages of development: 1. Research on the structure of the working class under the conceptual aspect of the dialectics between the integrated and differentiated character of the class;
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2. Research on the rapprochement of classes and strata; 3. Research on the development of spscific groups of the working class and intellectuals, that are of special importance for accelerating scientific-technological progress. These stages are determined from the view of the espscially emphasized subject of research first of all. They are linked with stages of development in theoretical-conceptual thinking* The determination of essential social differences, their dominant factors and determinants wee followed by a differentiated evaluation of the dialectics bstwsen social equality and social differences. This happened approximately at the same time es the traneition from predominantly extensive economic growth to intensively extended reproduction. Kurt Krambach The hietory of agricultural sociology in the GDR In the 1950e and 1960s, a variety of social problems in agriculture and in the villages were scientifically analyzed. Examples are the problems of alliance, land reform, the transformation of agriculture, the development of co-operation farms etc. Since the middle of the 1970e, agricultural sociology has taken up an unchangeable profile as a branch of Marxist sociology also theoretically. Important contributions were elaborated concerning social practice in the country, eepecially with regard to new problems such as comprehensive intensification, the development and rapprochement of classes, a further elimination of differences between the town and the country. New findings wsrs made relating to the social reproduction of the class of co-operative farmers, problems in connection with women and young people, the unchanged role and social stability of villages, the complex and differenciated development of working and living conditions as well as of the social structure and mode of living in the country. The contribution leads to a history of agricultural sociology in the GDR, which has not been written yet, and to the eystemetic elaboration of a complex of theories covering this discipline. Werner Gerth The history of Marxist-Leninist youth ressarch in the GDR Youth research emerged on the basis of a close correlation with social developments towards socialism in the GOR under the leadership of the SED and its youth policy. It was young Marxist philosophers, psychologists, sociologists and pedagogues in particular who elaborated new scientific approaches to the development of the personality of young people and the development of young people as a whole. This was done in a critical confrontation with bourgeois views on youth psychology and pedagogics as well as on the basis of dialectical and historical materialism. Owing to close co-operation with sociology, the emergence of youth research as an independent interdisciplinary-oriented working field has contributed to elaborating first lines of a theory of youth sociology without covsring, however, all the specific sociological problems in this fisld as a whole. The present paper shows trends of development, tasks and problems of youth research from a theoreticalmethodological and historical point of view. Outta Gysi and Rainer Schubert Some methodical problems of empirical-sociological family research review and prospects Ths purpose of the present contribution is to make a critical assessment of strategy and msthodology in empirical-sociological rssearch on the subject of the family. Proceeding from family-related sociological problems and findings, methodical experience and demands arising in the years to come are presented (fully, partly or non-standardized surveys of couplss under controlled conditions, group talks to learn experiences, expectations, etc.}. In this connection, the relationship between qualitative and quantitative methods is dealt with in particular, and 407
the fact is pointed out that there exist two different national arguments in present-day discussions on this topic. The authors hold that qualitative and quantitative approaches have not to be seen as alternativee but are complementing each other. They are to follow each other in the proceee of research as more concrete and more abetract stages in a tendency-like manner. Dieter Lindig To analyse statistical documents - a tool used in Marxist-Leninist sociology Without analysing already existing national and lntsrnational information contained in statistical documents, it has not been and is not being possible to eolve important problems of sociological research, or tnie has not been or ie not being possible In an efficient manner. The use of appropriate methods (called secondary analysis of statistical documents) is bound to certain preconditions. The prssent contribution deals with some aspects of statistical information funds which can be evaluated by means of this method, and with essential procedures in connection with their use as a means of collecting Information and examining hypotheeee. Finally, the author deals with the prospects of using this method in Marxist-Leninist sociology. Klaus-Peter Florian Epochal development and human progress This articls deals with historical-philosophical aspects concerning the progressive development of our time. Its driving forces, and contradictions. The author describes marking points of social progress pointing out particularly global changes and challenges resulting from the scientific and technological revolution. He shows that the competition and co-operation of the two systems, based on the principle of peaceful coexistence, is an actual trend with the contradictionary development marking social progress. Wolfram Meischner Psychological peace thinking in history Proceeding from the world-wide engagement of psychologists for peace, the necessity Is proven to deal witn historical experience of psychological peace research and to make them usable to meet present-day demands. Psychological peace thinking especially developed in connection witn probleme inherent in the peychic consequences of wars, ths search for ways towards psace for the world and soul, the causes and conditions of wars and tne problem of humanity. The principle of the peace struggle has been developed since the ancient world. It includes the use of psychological opportunities, which is of prims importance in the age of the general threat to the existence of humanity by imperialism. The history of psychological peace thinking makes it possible to formulate principles of psychological peace research. These principles are presented to discussion. The aim is to develop a psychology of peace and a psychology of new thinking as a contribution to the psychology used in the struggle for peace and a world peace order.
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Annuaire de sociologie et de politique sociale 1989 R é s u m e s Horst Berger et Gunnar //inkier Quelques remarques sur la relation entre la sociologie et la politique sociale Les relations entre la sociologie et la politique sociale ont une longue tradition historique dans le contexte marxiste-léniniste. Leur étude critique revêt une importance croissante, tant théorique que pratique, non seulement pour la sociologie, mais encore pour le développement futur de la politique sociale marxiste-léniniste. L'article procède à l'analyse de certains aspects de ces relations en prenant comme exemple l'évolution de la sociologie et de la politique sociale en R.D.A., à partir de 1945 jusqu'à nos jours. L'auteur aborde notamment les rapports historiques de ces relations à la lumière de la tradition marxiste-léniniste et définit les problèmes théoriques et pratiques â maîtriser à l'heure actuelle et à l'avenir.
Hubert Laitko la. genèse des disciplines comme un processus social A l'époque récente, la recherche sur l'histoire de la science en R.D.A. s'est occupée de l'analyse comparée des processus de genèse dés disciplines scientifiques, sans pour autant en souligner explicitement l'aspect sociologique. L'article présente en résumé les résultats dans l'optique de l'histoire de la science en essayant d'esquisser, parmi les domaines découverts, ceux qui sont susceptibles de faire valablement l'objet d'une étude systématique et approfondie à la lumière de la sociologie de la science. L'auteur propose le schéma suivant comme modèle simple de la genèse d'une discipline: Sur la base de la perception et de l'étude d'un domaine de problèmes donné, il se crée un réseau de communication protodisciplinaire donnant lieu â une communauté de scientifiques qui communiquent sur un objet défini; cette communauté se stabilise par voie d'institutionalisation; le processus de stabilisation prend fin par la naissance d'un cycle de reproduction interne.
Nikolai Guenov Dimensions nationales et internationales dans la sociologie bulgare actuelle L'article présente l'influence que les traditions nationales exercent sur le développement de la sociologie en tant que discipline, à l'exemple de la sociologie bulgare. L'auteur développe en termes théoriques le rapport existant entre les traditions nationales de la sociologie et les processus de leur internationalisation en s'interrogeant sur la place que l'évolution de la sociologie nationale tient dans la sociologie mondiale. Zinaida Tichonovna Golenkova L'évolution de la sociologie marxiste-léniniste dans les pays socialistes L'article se propose de généraliser l'expérience de la coopération des sociologues des pays socialistes. Il met l'accent sur les lois générales et particulières régissant l'évolution de la sociologie marxisteléniniste au lendemain de la Seconde guerre mondiale tout en soulignant le déroulement inégal des évolutions s'opérant dans les différents pays socialistes, qui est dû à la différence des causes. L'auteur essaie de caractériser dans une certaine mesure la situation générale 489
du niveau a c t u e l de l a s o c i o l o g i e marxiste e t de ses tendances de développement, de démontrer l e s l o i s i n t é r i e u r e s du développement et de f a i r e comprendre l a grande v a l e u r que l a coordination des recherches r e v ê t pour l e développement de l a s o c i o l o g i e à l ' é p o q u e a c t u e l l e . Helmut S t e i n e r Matérialisme h i s t o r i q u e et t h é o r i e s o c i o l o g i q u e Par a n a l o g i e à d ' a u t r e s sciences de l a s o c i é t é , l ' a u t e u r pose l a quest i o n de s a v o i r quel est l e patrimoine s o c i o l o g i q u e à é t u d i e r par p r i o r i t é par l a s o c i o l o g i e de l a R.D.A. e t q u e l l e s sont l e s t r a d i t i o n s à r e t e n i r dans l e processus de son développement et à y i n t é g r e r dans un e s p r i t â l a f o i s c r i t i q u e et c o n s t r u c t i f . I l s ' a g i r a de prime abord de s ' a p p l i q u e r avec e s p r i t de s u i t e à f a i r e comprendre et avant tout à présenter systématiquement - ce qui n ' a jamais é t é f a i t - l e s oeuvres s o c i o l o g i q u e s l a i s s é e s par K. Marx, F. .Engels et V . I . Lénine a i n s i que l e s l i g n e s de t r a d i t i o n déterminées par eux dans l a pensée s o c i o l o g i q u e et s o c i a l e d ' i d é o l o g i e marxiste. L ' a r t i c l e s ' i n t é r e s s e surtout aux p r o blèmes des rapports entre l e matérialisme h i s t o r i q u e et l a t h é o r i e s o ciologique .
Otto Bittmann L ' a c t i o n s o c i a l e de Marx et Engels au s e i n du mouvement o u v r i e r L'une des p a r t i c u l a r i t é s de l a t h é o r i e de K a r l Marx e t F r i e d r i c h Engels est q u ' e l l e a un c a r a c t è r e s o c i a l prononcé- q u ' e l l e s'occupe des aspects pratiques de l a l u t t e des c l a s s e s . Reconnaître l e monde a toujours s i g n i f i e pour l e s deux classiques du marxisme-léninisme de l e changer. C ' e s t dans ce cadre que l ' a u t e u r place l ' a c t i o n s o c i a l e de Marx et Eng e l s . I l démontre comment i l s ont p r i s p o s i t i o n sur l e s problèmes sociaux de l e u r époque et quel é t a i t l e u r programme s o c i a l . A l a f i n de son a r t i c l e , l ' a u t e u r explique quelques observations s i g n i f i c a t i v e s que l e s deux auteurs classiques ont formulées sur l ' o r g a n i s a t i o n de l a p o l i t i q u e s o c i a l e en système s o c i a l i s t e et communiste.
Christian Graf L ' h i s t o i r e du p r i n c i p e de s u b s i d i a r i t é , p r i n c i p e de base r é g i s s a n t l a p o l i t i q u e s o c i a l e c o n s e r v a t r i c e é r i g é e en d o c t r i n e de l ' E t a t et d é t e r minant l e s conceptions s o c i a l e s des radicaux-démocrates Les c r i s e s économiques, l e surarmement et l'endettement des Etats c a p i t a l i s t e s développés, mais aussi c e r t a i n s discours " a n t i - é t a t i q u e s " ont p l a c é l e p r i n c i p e de s u b s i d i a r i t é au c e n t r e du débat en p o l i t i q u e s o c i a l e . Les m i l i e u x conservateurs en p a r t i c u l i e r f o n t remonter ce p r i n cipe à l ' e n c y c l i q u e "Quadragesimo anno" de 1931, consacrée â l a d o c t r i ne s o c i a l e , quoique des idées " s u b s i d i a i r e s " aient e x i s t é b i e n avant c e t t e d a t e . Le p r i n c i p e de s u b s i d i a r i t é est i n t e r p r é t é de façon t r è s d i f f é r e n t e , dans l e but d'appuyer par une preuve d ' a u t o r i t é chrétienne l e s d i v e r s e s mesures p r i s e s dans l e domaine du démantèlement s o c i a l . Aux yeux des radicaux-démocrates, l e p r i n c i p e de s u b s i d i a r i t é s i g n i f i e en premier l i e u une d é c e n t r a l i s a t i o n des a c t i v i t é s s o c i a l e s , qui s ' e x prime avant tout sous forme d ' a u t o - a i d e s o c i a l e .
Wolfgang K u t t l e r La s o c i o l o g i e et l ' h i s t o i r e dans l ' a n a l y s e de Lénine du capitalisme russe L ' a r t i c l e i n s i s t e sur l'importance que Lénine a v a i t accordée au d é v e l o p pement des sciences s o c i a l e s marxistes, m. étudiant l e rapport e x i s t a n t entre l ' a n a l y s e h i s t o r i q u e et l ' a n a l y s e s o c i o l o g i q u e , l ' a u t e u r examine l e s éléments de l a d i v i s i o n du t r a v a i l concernant l ' o b j e t t r a i t é par
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soixante-dix, c e t t e tendance générale s 'est notamment traduite par l e f a i t que toutes les institutions de la recherche sociologique ont i n s c r i t a leurs programmes l e s questions régionales qui se posaient. Plusieurs groupes de t r a v a i l i n t e r d i s c i p l i n a i r e s ont été créés, des s o c i o logues sont entrés aux groupes de recherche et aux conseils s c i e n t i f i ques déjà existants. Les recherches des années quatre-vingt se sont caractérisées par des sujets toujours plus profonds et plus étendus et par l e s premières vulgarisations des travaux fournis jusqu'à c e t t e date. Les publications qui ont paru s'occupaient de nombreuses questions de p r i n cipe de l a recherche sociologique régionale; les objets t r a i t é s étaient par exemple " l a région", " l a v i l l e " , " l e v i l l a g e " , " l a migration", " l a radiation du logement de la l i s t e des problêmes sociaux". La coopération internationale a également pris un développement heureux dans l e cadre des recherches sociologiques sur l e s problèmes régionaux. Ingrid et Manfred Lotsch La continuité et les changements de la recherche sur la structure soc i a l e en R.D.A. L'évolution de l a recherche sociologique sur la structure s o c i a l e de l a R.D.A. est axée, quant à sa conception, sur ces notions fondamentales: o b j e c t i f s de l ' é g a l i t é - p a r t i c u l a r i t é s et d i f f é r e n c e s sociales - e f f i c a c i t é . Réduites à un niveau de s i m p l i f i c a t i o n acceptable, l e s étapes d'évolution sont les suivantes : 1. recherches sur l a structure de l a classe ouvrière, l'approche concept u e l l e reposant sur l a dialectique de l ' u n i c i t é et de l a d i f f é r e n c i a t i o n de l a classe; 2. recherches sur l e rapprochement des classes et des couches; 3. recherches sur l e développement, au sein de la classe ouvrière et des i n t e l l e c t u e l s , de groupes spécifiques qui revêtent une importance p a r t i c u l i è r e pour l ' a c c é l é r a t i o n du progrès s c i e n t i f i q u e et technique. Ces étapes qui sont dterminêes d'abord par l ' o b j e t même de la recherche se l i e n t aux niveaux d'évolution de l a pensée théorique et conceptuelle. La d é f i n i t i o n des d i f f é r e n c e s sociales e s s e n t i e l l e s , de leurs éléments dominants et déterminants é t a i t s u i v i e , presque au moment même du passage de l a croissance économique assurée surtout par la v o i e extensive, à l a reproduction é l a r g i e du type i n t e n s i f , d'une évaluation d i f f é r e n c i é e de l a dialectique de l ' é g a l i t é s o c i a l e et des d i f f é r e n c e s s o c i a l e s . Kurt Krambach •Quelques remarques sur l ' h i s t o i r e de la sociologie agraire en R.D.A. Dans l e s années 50 et 60, nombre de questions sociales de l ' a g r i c u l t u r e et du milieu rural ont f a i t l ' o b j e t d'études s c i e n t i f i q u e s , comme par exemple la question de l ' a l l i a n c e paysans-ouvriers, certains problêmes de la réforme agraire, l a transformation de l ' a g r i c u l t u r e , l e développement des paysans membres des coopératives e t c . . . Depuis l e milieu des années 70, la s o c i o l o g i e agraire a réussi, aussi sur l e plan théorique, à se donner l'image d'une branche à part entii-e de l a s o c i o l o g i e marxist e ; pour preuves les apports importants q u ' e l l e a fournis à la pratique sociale en milieu rural, notamment sur les phénomènes nouveaux l i é s à l ' i n t e n s i f i c a t i o n générale, au développement et au rapprochement des classes, au rapprochement progressif des v i l l e s et de la campagne. La sociologie agraire a acquis des connaissances nouvelles sur la reproduct i o n sociale de l a classe des paysans regroupés en coopératives, sur les problèmes concernant les femmes et la jeunesse, sur l e r ô l e non diminué des v i l l a g e s et leur s t a b i l i t é s o c i a l e , sur l e développement complexe et d i f f é r e n c i é des conditions de v i e et de t r a v a i l , de la structure s o c i a l e et du mode de v i e en milieu rural. L ' a r t i c l e donne l e s premiers coups de pinceau du tableau qui reste à brosser d'une h i s t o i r e complète de l a sociologie agraire de la R.D.A., du tableu systématique de la structure théorique de c e t t e d i s c i p l i n e .
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l e s deux d i s c i p l i n e s q u i s e p r é s e n t e n t comme des s c i e n c e s i n d i v i d u e l l e s . Premièrement, l ' a u t e u r d i s t i n g u e deux n i v e a u x de r é f é r e n c e cul Lénine p a r l e de l a " s o c i o l o g i e " : c e l u i de l a s c i e n c e s o c i a l e dans l e c a d r e g é n é r a l du m a t é r i a l i s m e h i s t o r i q u e , d ' u n e p a r t , e t de l ' a u t r e , c e l u i de l a r e c h e r c h e s o c i a l e c o n c r è t e . Deuxièmement, l ' a u t e u r é t u d i e l e s é t a p e s p r i n c i p a l e s de l ' o e u v r e de Lénine pour s o u l i g n e r e n s u i t e , en l e s d i s t i n g u a n t , l e s problèmes p o s é s par son a n a l y s e de l a s o c i é t é en R u s s i e : avant 1905» dans l e b u t de s i t u e r l e système de f o r m a t i o n c a p i t a l i s t e ; a p r è s 19051 s u r l e s v o i e s du c a p i t a l i s m e e t de l a t r a n s f o r m a t i o n r é v o l u t i o n n a i r e ; a p r è s 1 9 1 7 i quant a l a g e n è s e - q u i a j u s t e commencé - du s o c i a l i s m e e t des éléments du p a s s a g e à une f o r m a t i o n n o u v e l l e . T r o i sièmement, l ' a u t e u r p r é s e n t e p l u s i e u r s exemples de l a r e c h e r c h e s o c i a l e c o n c r è t e . Son p o i n t de d é p a r t l e p l u s important s o n t l e s t â c h e s p o s é e s p a r Lénine dans "Que f a i r e ? " pour l e t r a v a i l t h é o r i q u e de l a s o c i a l - d é m o c r a t i e . Les o b j e t s p r é c i s des domaines t r a i t é s sont l e s s u i v a n t s : l e développement et l a d i f f é r e n c i a t i o n de l a p a y s a n n e r i e , l e comportement s o c i a l des c l a s s e s et p a r t i s et l e u r comportement aux é l e c t i o n s , de 1905 â 1907; l ' a n a l y s e du système i m p é r i a l i s t e e t l ' é t u d e des formes s t r u c t u r a l e s e t des f o r c e s s o c i a l e s au commencement de l a p é r i o d e de t r a n s i t i o n après 1917.
"Vera Sparschuh L ' é t u d e de l ' h i s t o i r e de l a s o c i o l o g i e m a r x i s t e de branches comme o b j e t de r e c h e r c h e de l ' h i s t o r i o g r a p h i e s o c i o l o g i q u e m a r x i s t e (Au s u j e t de l a s o c i o l o g i e du t r a v a i l en Union s o v i é t i q u e dans l e s années v i n g t ) Au cours de ce s i è c l e , l e s c h e r c h e u r s m a r x i s t e s ont p r é s e n t é des r é f l e x i o n s t r è s v a r i é e s s u r l a c o n c e p t i o n de l a s o c i o l o g i e . En d é p o u i l l a n t l e s r é s u l t a t s des d i s c u s s i o n s r é c e n t e s s u r l a s t r u c t u r e de l a s o c i o l o g i e m a r x i s t e l ' a u t e u r c o n f i r m e l a t h è s e de l a s t r u c t u r e "non d é d u c t i v e " de l a s o c i o l o g i e m a r x i s t e comme p o i n t de d é p a r t de l a r e c h e r c h e s u r l ' h i s t o i r e sociologique. Cette thèse est tout particulièrement nécessai r e à l ' a n a l y s e de l ' h i s t o i r e des s o c i o l o g i e s m a r x i s t e s de b r a n c h e s : l a n a i s s a n c e de l a s o c i o l o g i e m a r x i s t e du t r a v a i l n ' e s t pas seulement e x p l i c a b l e , t h é o r i q u e m e n t , comme é t a n t " l ' a p p l i c a t i o n d e s c o n n a i s s a n c e s obtenues p a r l e m a t é r i a l i s m e h i s t o r i q u e " . E l l e e s t s o u t e n u e , â t i t r e d ' e x e m p l e , p a r l ' é v o l u t i o n de l a s o c i o l o g i e du t r a v a i l en Union s o v i é t i que. L ' a u t e u r e s s a i e de p r o u v e r l ' a p p o r t que c e s r e c h e r c h e s ont f o u r n i , dans l e domaine de l a s o c i o l o g i e , au développement des d i s c i p l i n e s . T r o i s d i s c i p l i n e s de l a s o c i o l o g i e s o v i é t i q u e du t r a v a i l sont mises à l a d i s c u s s i o n : l a p s y c h o t e c h n i q u e , l ' o r g a n i s a t i o n s c i e n t i f i q u e du t r a v a i l , l e s d é b u t s s o c i a u x e t économiques de l a r e c h e r c h e s o c i a l e empirique .
iîose-iiUise W i h k l e r La g e n è s e de l a s o c i o l o g i e m a r x i s t e de l a s c i e n c e en Union s o v i é t i q u e , dans l a p é r i o d e a l l a n t de 1917 à 1935 L ' a p p a r i t i o n de l a s o c i o l o g i e m a r x i s t e de l a s c i e n c e en t a n t que d i s c i p l i n e s c i e n t i f i a u e i n d i v i d u e l l e s e c a r a c t é r i s e p a r l e f a i t q u ' e l l e ne n a î t pas en p r e m i e r l i e u à l ' i n t é r i e u r de l a s o c i o l o g i e mais p l u t ô t dans l e c o n t e x t e de l ' a p p a r i t i o n de l a pensée s c i e n t i f i q u e de l a s c i e n c e . C e t t e é v o l u t i o n commence en Union s o v i é t i q u e dés a p r è s 1 9 1 7 . Néanmoins on ne peut pas c o n f i r m e r que l e p r o c e s s u s de l a f o r m a t i o n de l a s o c i o l o g i e m a r x i s t e de l a s c i e n c e ne dépendait pas du développement de l a s o c i o l o P i e comme une d i s c i p l i n e . L ' a u t e u r s o u t i e n t c e t t e t h è s e en p r é s e n t a n t , à t i t r e