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English Pages 392 [394] Year 2009
Uta Gerhardt Soziologie im zwanzigsten Jahrhundert
Uta Gerhardt
Soziologie im zwanzigsten Jahrhundert Studien zu ihrer Geschichte in Deutschland
Franz Steiner Verlag Stuttgart 2009
Umschlagabbildung: Talcott Parsons, Raymond Aron, Otto Stammer, Ernst Topitsch und Leopold von Wiese, April 1964, anlässlich des Fünfzehnten Deutschen Soziologentages in Heidelberg Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt am Main/Max-Horkheimer-Archiv
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-515-09286-9
Jede Verwertung des Werkes außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Übersetzung, Nachdruck, Mikroverfilmung oder vergleichbare Verfahren sowie für die Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen. © 2009 Franz Steiner Verlag, Stuttgart Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier Druck: Printservice Decker & Bokor, München Printed in Germany
„In der Wissenschaft ist der Inhalt wesentlich an die Form gebunden.“
Georg Wilhelm Friedrich Hegel Grundlinien der Philosophie des Rechts
INHALT ZUR EINFÜHRUNG...............................................................................................9 I.
DER LANGE ABSCHIED VOM SOZIALDARWINISMUS UND DIE ANFÄNGE DER MODERNEN SOZIOLOGIE..........................25 Zur Theoriegeschichte bis in die dreißiger Jahre Einleitung.......................................................................................................25 1. Die Gesellschaftslehre des Sozialdarwinismus .........................................28 2. Das neue Denken der Soziologie ..............................................................43 3. Die Rettung der modernen Soziologie vor dem Sozialdarwinismus ........62 4. Die Theoriegeschichte und die Intellectual Migration .............................74
II.
DER NATIONALSOZIALISMUS UNTER HERRSCHAFTSSOZIOLOGISCHER PERSPEKTIVE..............................81 Annäherungen an das Anti-Moderne Einleitung.......................................................................................................81 1. Der Nationalsozialismus – ein Verbrechensregime .................................83 2. Charismatische Herrschaft ........................................................................92 3. Talcott Parsonsʼ Konzeption .....................................................................98 4. Avantgarde: Herrenrasse und Mentalität im Nationalsozialismus ..........109 5. Herrschaftssoziologische Zwischenbilanz ..............................................123
III. EIN AMERIKANER DER STUNDE NULL..............................................131 Edward Y. Hartshorne und die Wiederanfänge 1945 – 1946 Einleitung.....................................................................................................131 1. EYH in seiner Zeit ..................................................................................133 2. EYH und die deutsche Universität 1933 und 1945 .................................152 3. Zur Soziologie der Stunde Null ...............................................................173 IV. DER NEUBEGINN DER EMPIRISCHEN SOZIALFORSCHUNG UND DIE SOZIOLOGIE DER FRÜHEN BUNDESREPUBLIK..............179 „Amerikanischer Import“ und die fünfziger Jahre Einleitung.....................................................................................................179 1. Die Entstehung der Surveyforschung in den USA..................................184 2. Die Surveys der Zeit des amerikanischen Besatzungsregimes ...............192 3. Die Weinheim-Tagung ............................................................................201 4. Die großen Forschungsprojekte der fünfziger Jahre ...............................210 5. Kritik am „amerikanischen Import“........................................................223
8 V.
Inhalt
EIN JAHRZEHNT DER NEUEN KRITIK ................................................231 Die Soziologie in den sechziger Jahren Einleitung.....................................................................................................231 1. Der lange Schatten des Positivismus ......................................................234 2. Vier Theorien ..........................................................................................245 3. Der Fortschritt zurück zu Weber .............................................................260 4. Welches Neue? ........................................................................................271
VI. DAS DENKEN DES NEUEN DEUTSCHLAND ......................................279 Die Soziologie des Wandels zweier deutscher Gesellschaften zu einer Nation Europas Einleitung.....................................................................................................279 1. Die Theorie(n) des sozialen Wandels ......................................................281 2. Empirische Ansichten über die Ex-DDR ................................................290 3. Nation – Nationalismus – Gewalt? .......................................................300 4. Die Berichte der KSPW, das SOEP und die Wohlfahrtssurveys .............309 5. Systemwechsel und Strukturwandel in Ostdeutschland .........................322 6. Zur Soziologie des sozialen Wandels seit 1989/1990 .............................336 VII. SCHLUSSBETRACHTUNG ......................................................................345 VIII. BIBLIOGRAPHIE ......................................................................................351 IX. PERSONEN- UND INSTITUTIONENREGISTER ...................................385
ZUR EINFÜHRUNG In den siebziger Jahren – in England – gab mir eine Studentin eine Karikatur über die Soziologie. Ein Mann stellte sein Gegenüber und dessen Begleiter vor: „This is Mr. X, a sociologist, and this is his interpreter“. Damals waren unsere Fachbegriffe aus der Sicht der Alltagssprache etwas zum Schmunzeln. Aber im einundzwanzigsten Jahrhundert macht niemand mehr Witze über die Soziologie. Dies bedeutet indessen nicht, dass sie heute ernst genommen wird. Lehrbücher, Handbücher, Lexika und Sammelwerke erläutern eine ernsthafte Wissenschaft. Sie erklären alle möglichen Ansätze und verschiedene Theorierichtungen zu wissenswertem Wissen. Sie befinden sich auf der breiten Straße einer akademischen Untugend. Das hier vorgelegte Buch argumentiert nicht ein weiteres Mal aus der Vogelperspektive. Es behauptet nicht, die Soziologie ließe sich am Stück abbilden. Die Absicht ist nicht eine Darstellung des Großen und Ganzen, gewissermaßen eine Draufsicht im europäischen oder gar Weltmaßstab. Es werden auch nicht einfach Theoreme nebeneinander gestellt. Die verschiedenen Ansätze werden nicht geschildert, als gebe es nichts, was sie miteinander verbindet. Erst recht wird keine Modenschau der Denkrichtungen veranstaltet, die von sich behauptet, sie hätte ausgewählt, was grundlegend für unsere Fachdisziplin ist. Stattdessen wird die Diskursgeschichte anhand von Diskussionen und Disputen geschildert, wie sie bei einer Wissenschaft das A und O sind. Es geht um die Soziologie des zwanzigsten Jahrhunderts in den Debatten und Debakeln in Deutschland. Die Absicht hat drei gute Gründe. Erstens kann man eine fortlaufende Geschichte der Soziologie nicht schreiben, weil es eine solche Wissenschaft mit einem Anfang, Verlauf in Stadien etc. nicht gibt. Die moderne Denkweise, wie sie sich auf Max Weber beruft und weltweit heute gelehrt oder wenigstens doch gewollt wird, ist keineswegs Ergebnis einer konsequenten Entwicklung. Webers Denken wird nicht allenthalben gewürdigt und ist auch nicht unumstritten. Im Gegenteil: Auch die Richtungen, die vor der vorigen Jahrhundertwende entstanden, sind heute noch nicht verschwunden, obwohl sie obsolet sind. Webers moderne Analyse ist immer noch nur ein Ansatz unter mehreren unter dem Oberbegriff der Gesellschaftsforschung. Die heutige Fachdisziplin ist kein Ergebnis eines einmaligen Anfangs und anschließender Entwicklung bis zu einem gegenwärtigen Wissensstand. In der Wissenschaftsgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts war die moderne Soziologie der dritte Versuch, aus der Philosophie heraus, die seit dem klassischen Griechenland den gerechten Staat reflektierte, eine Theorie des Menschen in der gesellschaftlichen Welt zu entwickeln. Um im Bild zu bleiben: Sie entstand nicht nur einmal, sondern hatte – aus der Philosophie – mindestens drei Ursprünge. In den entscheidenden fünfzig Jahren der Philosophiegeschichte wurde dreimal die Soziologie, eine neue Richtung innerhalb der „Schulen“ des neunzehnten Jahrhunderts, geschaffen.
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Der eine Ursprung war Karl Marxʼ Kritik der politischen Ökonomie, die die dialektische Philosophie Georg Wilhelm Friedrich Hegels „auf die Füße“ stellen wollte, sie aber wohl eher auf den Kopf stellte, um die materiellen Lebensbedingungen und die wirtschaftlichen Produktionsverhältnisse zur Triebkraft des Denkens und der historischen Dynamik zu erklären. Daraus entstand der Marxismus, die Erklärung der gesellschaftlichen Ungleichheit aus dem Kapitalismus und die geschichtsphilosophische Begründung der Utopie einer klassenlosen Gesellschaft. Der zweite Ursprung waren die sechs Bände Cours de philosophie positive, die an die Dreistadientheorie des philosophischen Aufklärers Jean Antoine Nicolas de Condorcet anschlossen. Auguste Comte, ein Intellektueller und Autodidakt, erfasste die Statik und Dynamik der Gesellschaft seines Zeitalters, des mittleren neunzehnten Jahrhunderts, anhand der Prinzipien von Ordnung und Fortschritt. Analog einer Naturwissenschaft erkläre die neue Gesellschaftswissenschaft alles Beobachtbare durch Gesetze der Gesellschaft. Der Journalist Herbert Spencer machte in den sechs Bänden Principles of Sociology die Statik und Dynamik der Gesellschaft zum Ergebnis des Kampfs ums Dasein. Er sah in der Soziologie eine Verkünderin des Kulturfortschritts der Menschheit, der dem Überleben des Stärkeren zu verdanken wäre. Erst der dritte Ursprung war bahnbrechend. Wilhelm Dilthey kritisierte vom Standpunkt der Philosophie Hegels und Immanuel Kants her die englisch-französische Modewissenschaft Soziologie. Er setzte ihr eine erkenntnistheoretisch begründete Sicht entgegen. Er schlug vor, die geschichtlich-gesellschaftlichen Zusammenhänge durch die Geisteswissenschaften zu begreifen, eine neue philosophische Richtung, die die kulturelle Tradition und das Erbe Kants bewahrte. Georg Simmel, ein junger Philosoph, ebenfalls an der Friedrich-Wilhelm-Universität in Berlin, zeigte in den neunziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts, wie eine geisteswissenschaftliche Soziologie zu denken ist. Dies war für Max Weber, dem wir Heutige die Grundlegung verdanken, die entscheidende Anregung. Webers soziologische Theorie beruht auf der geisteswissenschaftlichen Weichenstellung durch Dilthey und Simmel. Weber machte den „Geist“, das freiheitliche – in Webers Terminologie voluntaristische – Element der gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte zum Thema der verstehenden Erklärung. Man muss sehen, dass die Soziologie dreimal aus der Philosophie des neunzehnten Jahrhunderts entstand. Als Gesellschaftswissenschaft in der damaligen Zeit war sie mehr als bloß eine Modeerscheinung. Indessen wurden die beiden Richtungen, die Simmel verwarf und Weber nicht ernstlich in Betracht zog, bis heute nicht ad acta gelegt. Es gibt sie noch als Denkströmungen, und sie haben bis heute noch Befürworter. Der Marxismus und der Positivismus sind nach wie vor weithin einflussreich. Obwohl die Argumente, mit denen Simmel und Weber ihnen entgegentraten, schlüssig sind, haben sie Anhänger bis heute. Obwohl die Einwände dagegen unvermindert gelten, haben sie noch einen Platz unter den Lehrmeinungen. Die Diskussion, in der sie eine Rolle spielen, dauert an. Die Kontroverse ist noch im Gange. Im Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts haben sich die verschiedenen Denkströmungen nur gegenseitig widersprochen. Zwar ist Weber weltweit heute ein Klassiker, aber der Marxismus und der Positivismus sind aus der Soziologie nicht verschwunden. In Deutschland haben auch die obsole-
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ten Richtungen eine breite Spur im Wissensbestand hinterlassen. Die Weberʼschen Begriffe sind längst noch nicht selbstverständliches Handwerkszeug. Wir haben bis heute keine einheitliche Soziologie, deren Geschichte man nacherzählen könnte. Man muss die Debatten rekonstruieren, um ihre Geschichte zu schreiben. Eine Schwierigkeit der Darstellung ist außerdem, die institutionellen Strukturen zu berücksichtigen, in denen sich diese Wissenschaft zurechtfinden muss. Die Frage ist aktuell: Welche Gesellschaft in welchem Land passt zu den Strukturaussagen? Jede Gesellschaft hat ihre eigenen institutionellen Strukturen, und die Universitäten, innerhalb und außerhalb derer die Soziologie besteht, haben ihre eigene Geschichte. Zwar waren die Vereinigten Staaten von Amerika von der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts bis zur Jahrtausendwende wohl die führende Gesellschaft und auch ein Muster der demokratischen Welt. Ihre Theorie und Methoden haben die enormen Fortschritte der letzten fünfzig Jahre in unserem Fach wesentlich geprägt. Aber die amerikanische Gesellschaft ist kein Paradigma, wenn man fragt, welche institutionelle Verankerung die Soziologie hat oder haben sollte. Im Gegenteil: In jedem Land gibt es eigene Strukturen. Man kann von der amerikanischen Gesellschaft nicht auf andere Länder schließen. Unser Fach innerhalb und außerhalb der Universitäten ist in jedem Land institutionell anders verortet. In Frankreich gehören die führenden Gelehrten nicht primär einer Universität, sondern der Academie Française an, einer außeruniversitären Institution. Großbritanniens Universitäten hatten bis weit in die fünfziger Jahre keine Professuren für Soziologie; aber Professoren der Verwaltungswissenschaft, Institutionenlehre etc. schufen schon im frühen zwanzigsten Jahrhundert heute weltberühmte soziologische Werke. In Deutschland wurde die Soziologie nach dem Ersten Weltkrieg ein Universitätsfach; seither sind die Lehrstühle federführend, die nach 1918 und noch einmal nach 1945 an den Seminaren und Instituten der Hochschulen entstanden – auch wenn heute die Max-Planck-Institute ein Gegengewicht gegenüber den Universitäten bilden. Mit anderen Worten: Man muss sehen, dass das Fach in jedem Land – früher in Europa und Amerika, heute in allen Erdteilen – eine andere Geschichte hat. Die Unterschiede dürfen nicht eingeebnet werden. Man kann von der Soziologie nicht sprechen; in jedem Land verkörpert sie eine andere Tradition und hat ihr eigenes Profil. Eine Geschichte des Faches im zwanzigsten Jahrhundert muss sich auf die besonderen Verhältnisse in Deutschland einlassen. Dabei ist wohl in jedem einzelnen Land, allemal in Deutschland, keine gradlinige Entwicklung zu zeichnen. Die Gesellschaft und auch die Soziologie des zwanzigsten Jahrhunderts passen hier nicht in ein einheitliches Schema. Ihre Entwicklung war kein bruchloses Geschehen. Man kann sie nicht fortlaufend darstellen. Im „Zeitalter der Extreme“1 – wie Eric Hobsbawn das 20. Jahrhundert nannte – gab es in Deutschland sechs Herrschaftssysteme. Das Kaiserreich entstand aus der „kleindeutschen“ Lösung des europäischen Konflikts der Mächte des neunzehnten Jahrhunderts und war ein Rechtsstaat in einer Industriegesellschaft mit erstaunlich rapider Modernisierung aller Lebensbe1
Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte im 20. Jahrhundert, 8. Auflage, München: Dtv-Taschenbuchverlag 2007 (ursprünglich: The Age of Extremes: A History of the World, 1941 – 1991, London: Michael Joseph and Pelham Books 1994).
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reiche trotz der bis 1918 traditionalen Sozialformen. Nach der Niederlage des Ersten Weltkriegs erschien das Wilhelminische Deutschland nachträglich als die „gute alte Zeit“. Aber um die Jahrhundertwende empfanden viele Zeitgenossen einen unaufhaltsamen Kulturverfall, und manche trösteten sich mit wohlfeilen Weltanschauungen der Menschheitsverbesserung. In der Weimarer Republik herrschten ein parlamentarischer Rechtsstaat mit einer bürokratischen Verwaltung, eine expandierende Großindustrie und ein unvollkommen kontrolliertes Militär. Die erste Republik der Geschichte Deutschlands kämpfte seit 1919 gegen ihre nicht-demokratischen Widersacher und unterlag ihnen schließlich in der Verfassungskrise ab 1930. Gesellschaftlich war die Weimarer Zeit ein Eldorado der Kunst und Kultur, ein Experiment der politischen Demokratie und ein Exerzierfeld der reaktionären Kreise in Wirtschaft und Militär. Der Nationalsozialismus erzwang den Bruch mit allem Vorherigen – auch wenn man zuweilen und meist vorübergehend an Früheres anknüpfte. Dieses diktatorische Regime war ein Führerstaat, wo die Parteiwillkür anstatt der Verfassung herrschte, mit einer Regierung aus Gesetzesbrechern und politischen Abenteurern. Das nationalsozialistische Deutschland des Zweiten Weltkriegs war ein genozidaler Aggressor, bis heute weltweit geächtet. Gesellschaftlich wurden alle Errungenschaften der letzten hundert Jahre rückgängig gemacht: Statt der Gewaltenteilung galt „Ein Reich, ein Volk, ein Führer“, statt der freien Wirtschaft gab es die zentralistische Rüstungsproduktion, um zwei Angelpunkte zu nennen. Ganz anders sah das Deutschland der Zeit der Militärherrschaft der Alliierten aus. Der Wiederaufbau trotz der augenscheinlichen „Zusammenbruchsgesellschaft“ während der alliierten Besatzung der Westzonen bereitete die Gründung der Bundesrepublik vor. In die vier Jahre bis 1949 bzw. die zehn Jahre Besatzungsregime bis 1955 fielen geradezu revolutionäre Reformen der wirtschaftlichen, politischen etc. Strukturen. Das kurze Zeitalter der Souveränität der Alliierten über Deutschland – trotz Schisma zwischen dem Westen und dem Osten ab 1946/1947 – war ein Meilenstein auf dem Weg zur „geglückten Demokratie“2, um die Metapher Edgar Wolfrums zu verwenden. Die vierzig Jahre von 1949 bis 1989 waren der Höhepunkt der bisherigen deutschen Gesellschaftsgeschichte. Der freiheitliche Rechts- und Wohlfahrtsstaat in der Bundesrepublik war eine epochale Errungenschaft, aber im Osten bestand der kommunistische Obrigkeitsstaat der Deutschen Demokratischen Republik, bis dann 1989/1990 die beiden Staaten wiedervereint wurden. Gesellschaftlich war der Westen ein demokratisches Gemeinwesen, anders als die Weimarer Republik und allemal ein Ergebnis der Reformen der unmittelbaren Nachkriegszeit. In die Ära fallen die sechziger Jahre. Sie brachten die Wende des gesellschaftlichen Selbstverständnisses und waren der Auftakt zur Nach-Boom-Phase, die ab den siebziger Jahren eine Ära der staatlichen Sozialpolitik wurde, die die Auswirkungen der dramatisch dynamischen wirtschaftlichen Weltlage wesentlich milderte.
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Edgar Wolfrum, Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart: Klett-Cotta 2006.
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Die letzten zwanzig Jahre sind das sechste Regime der Gesellschaftsgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts – wiederum gab es einen Bruch mit dem Vorigen und noch einmal einen Aufbruch zu neuen Ufern. Die Zivilgesellschaft, das Regime des verfassungsmäßigen Rechtsstaats, herrscht seither in ganz Deutschland. Nach der Wiedervereinigung entstand – wiewohl durch einen schwierigen Prozess der Veränderung – das demokratische Deutschland als ein Teil der rasant nach Osten hin erweiterten Europäischen Union. Die sechs Herrschaftssysteme in Deutschland bilden kein einheitliches Gesellschaftsregime. Mit den Begriffen der Herrschaftssoziologie Max Webers kann man sagen: Das Kaiserreich war eher eine traditionale als eine rationale Herrschaft; aber die Weimarer Republik war ein rationales Regime, allerdings starken traditionalen Gegenkräften ausgesetzt; der Nationalsozialismus war eine charismatische Herrschaft mit ihrer charakteristischen Entwicklungstendenz hin – eigentlich zurück – zum patrimonialen Traditionalismus. Die Besatzungszeit war rational in einem ganz anderen Sinn, nämlich wertrational entsprechend Webers Typus der herrschaftsfremden Umdeutung des Charisma; die Bundesrepublik war demgegenüber ein geradezu paradigmatisch rational-legales Regime, das zugleich – was der Weberʼsche Typus nicht vorsah – eine Demokratie war; schließlich war und ist das wiedervereinigte Deutschland das höchstentwickelte rational-legale Regime unserer Geschichte überhaupt, gerade weil die Nation nunmehr jener „Familie der friedliebenden Nationen“ angehört, von der die Schlusserklärung der Potsdamer Konferenz sprach. Wenn man über die Soziologie in Deutschland schreibt, muss man diese Gesellschaftsgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts bedenken. Ein Studienbuch sollte dies nicht ausblenden. Die Wissenschaftsgeschichte unseres Faches im zwanzigsten Jahrhundert ist ein Auf und Ab der Entfaltungsmöglichkeiten gewesen. Jedes der sechs gesellschaftsgeschichtlichen Regimes hatte (und hat) eine eigene Einstellung zur Soziologie. Während die demokratischen Epochen einen Spielraum für die Wissenschaftsentwicklung eröffneten, schlossen sich die nicht-demokratischen Regimes möglichst gegen die Soziologie ab. Im Zuge des Auf und Ab blieb unsere Disziplin keineswegs dieselbe, sondern wurde in den Strudel der Zeiten hineingerissen. Die Zeitgeschichte mit ihren verschiedenen Herrschaftssystemen im zwanzigsten Jahrhundert hat ihre Spuren im soziologischen Denken hinterlassen. Gerade weil und insofern sie den Anspruch stellt, wissenschaftliche Erkenntnis zu sein, ist sie den Fährnissen der politischen Systeme ausgesetzt gewesen, die ihr mehr oder weniger – oder gar keinen – Spielraum gewährt haben. In der Wilhelminischen Epoche wurde die neue Denkrichtung weithin belächelt als Modeerscheinung. Man wusste nicht recht, was sie erforschte. Sie reichte von der Gesellschaftsbiologie, die sich mit Rassenhygiene befasste, bis zu den begrifflichen Höhenflügen in Georg Simmels Soziologie – Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung (erschienen 1908)3 und Max Webers Wirtschaft und Gesellschaft
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Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Leipzig: Duncker und Humblot 1908.
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(erschienen posthum 1922).4 Die Referate und Diskussionen anlässlich des Ersten Deutschen Soziologentages 19105 ließen Weber an der Zukunft des Faches fast verzweifeln. Der Erste Weltkrieg brachte jedenfalls keine Verbesserung der unbefriedigenden Situation. Die Brennpunkte des gesellschaftlichen Lebens waren allerdings für einige Jahre der Krieg und die Not bei Kriegsende. In der Wilhelminischen Zeit entstanden trotz allem das Oeuvre Simmels, Webers und auch Émile Durkheims, des Zeitgenossen in Frankreich. Ihre Theorien gingen der bemerkenswerten institutionellen Einrichtung des Faches nach dem Ersten Weltkrieg voraus. In der Weimarer Republik war die Soziologie ein Günstling des demokratischen Staates, dessen tatkräftiger Preußischer Kultusminister Carl Heinrich Becker die Gründung von insgesamt zwölf Lehrstühlen teilweise gegen den Widerstand der Universitäten erreichte. Die vorherrschenden Werke waren in dieser Zeit sozialphilosophische Traktate, die ein schematisches Wissen über die Gebilde der Gesellschaft verkündeten, anstatt sich der turbulenten Gegenwart zuzuwenden. Zwar gab es Arbeiten etwa über die soziale Schichtung des deutschen Volkes6 oder die neue Klasse der Angestellten7, aber sie wurden wenig beachtet. Karl Mannheims Wissenssoziologie, die sich mit den Richtungskämpfen der zeitgenössischen Ideologien befasste, wurde zu einem Eklat anlässlich des Sechsten Soziologentages 1928.8 Allemal ist René König zuzustimmen9: Das Ende der Weimarer Soziologie kam nicht wegen der etwaig verebbenden Debatten, sondern aufgrund der Zerstörung der akademischen Freiheit durch den Nationalsozialismus. Eine Soziologie, in deutscher Sprache geschrieben und in Deutschland gelehrt, gab es während der zwölf Jahre Nationalsozialismus nicht mehr. Ohne Lehr- und Forschungsfreiheit waren die wenigen Soziologen, die nicht mundtot gemacht oder ins Exil vertrieben waren, der staatlich dekretierten so genannten „Volkssoziologie“ ausgeliefert. Manche, die nun einen Lehrstuhl besetzten, waren durchaus bereit, dem verbrecherischen Regime zu dienen. Das wissenschaftliche Denken gab es nur 4 5
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Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der Sozialökonomik, herausgegeben von Marianne Weber, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1922. Deutsche Gesellschaft für Soziologie, Verhandlungen des Ersten Deutschen Soziologentages vom 19. – 22. Oktober 1910 in Frankfurt a. M. Reden und Vorträge, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1911. Theodor Geiger, Die soziale Schichtung des deutschen Volkes. Soziographischer Versuch auf statistischer Grundlage, Stuttgart: Enke 1932. Siegfried Kracauer, Die Angestellten – aus dem neuesten Deutschland, Frankfurt: Frankfurter Societäts-Druckerei Abt. Buchverlag 1930; Die Angestellten, Kracauer-Gesamtausgabe, Band 1 (zusammen mit Soziologie als Wissenschaft; Der Detektivroman) Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1971. Siehe auch Hans Speier, Die Angestellten vor dem Nationalsozialismus. Ein Beitrag zum Verständnis der deutschen Sozialstruktur 1918 – 1933, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1977 (Erstveröffentlichung). Karl Mannheim, Ideologie und Utopie, Bonn: Cohen 1929; Deutsche Gesellschaft für Soziologie, Verhandlungen des Sechsten Deutschen Soziologentages in Zürich 1928, Tübingen: J. C. B. Mohr 1929; dort die Diskussion des Vortrags (über Konkurrenz im Geistigen) pp. 84 – 115 und das Schlusswort Mannheims pp. 119 – 124. René König, Vom vermeintlichen Ende der deutschen Soziologie vor der Machtergreifung des Nationalsozialismus, in: König, Soziologie in Deutschland. Begründer/Verächter/Verfechter, München: Hanser 1987, pp. 343 – 387.
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noch im Ausland – in England, den Vereinigten Staaten, Dänemark, der Türkei, um einige Länder zu nennen – und oftmals auf Englisch, Dänisch etc. Dies musste sich bei Kriegsende radikal ändern. Mit der Kapitulation im Zweiten Weltkrieg war das Niemandsland nach dem Nationalsozialismus offensichtlich. Die westlichen Alliierten waren entschlossen, gerade die Soziologie, eine Wissenschaft zum Verständnis der demokratischen Strukturen und einer modernen Gesellschaft, zu fordern und zu fördern. Ohne den „amerikanischen Import“, wie Erwin Scheuch es später nannte10, wäre unser Fach wohl nicht bereits im ersten Jahr der Nachkriegszeit mit einem beispielhaften Elan wieder belebt worden. Der Neuanfang nach dem Krieg, der Wiederaufbau durch das Besatzungsregime, war wie eine Wiedergeburt – ohne Vorbild, einzigartig in der Geschichte der internationalen Beziehungen. Die enormen Fortschritte der USA bei den Forschungsmethoden und in der Theorie seit den dreißiger Jahren wurden durch die Programme des „Cultural Exchange“ nach Europa gebracht.11 In den fünfziger Jahren änderte sich dies noch einmal grundlegend. Erst jetzt war der Aufbruch vollkommen. Der Neuanfang wurde nun zum rasanten Aufschwung, und es folgte ein Jahrzehnt der Blüte der Forschung und der Lehre. Dieses Jahrzehnt war vielleicht der Höhepunkt der deutschen Soziologiegeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts, mit Nachwirkungen bis heute. Diese langfristigen Weichenstellungen mögen in den sechziger Jahren aus dem Blickfeld geraten sein. Aber die frühe Nachkriegszeit verdient, dass man sich heute an sie erinnert. Allerdings war ein gravierender Mangel, dass Webers Werk damals noch nicht wieder gewürdigt wurde. Die sechziger Jahre knüpften keineswegs an die fünfziger Jahre an. Der Bruch zwischen den ersten Nachkriegserfolgen und den Aufrufen zu einem kritischen Bewusstsein anlässlich der Studentenproteste, Theoriedebatten und Universitätsreformen war unübersehbar. Die Soziologie wurde in einen Sturm hineingerissen, den sie zunächst unwillkürlich entfesselt hatte. Die Kritische Theorie war auf die Proteste nicht vorbereitet, wofür sie gesellschaftsweit dennoch als Anstifter galt. Ebenso wenig waren die Soziologen der Bundesrepublik darauf vorbereitet, dass ausgerechnet die wenigen Amerikaner beim Soziologentag in Heidelberg 1964 den Rückweg zur werkadäquaten Rezeption des Werkes Webers ebneten. Man weiß heute, dass darin die Zukunft unserer Wissenschaft vorgezeichnet lag. Während die dramatischen Reden mancher Fachvertreter öffentlich stark beachtet wurden, waren die Diskussionen, die die Rückkehr des Weberʼschen Denkens einleiteten, langfristig einflussreicher und intellektuell folgenreicher. Die künftige Entwicklung des Faches entstand nur scheinbar in den Richtungskämpfen des Frankfurter Soziologentages 1968. 10 Erwin Scheuch, Von der deutschen Soziologie zur Soziologie in der Bundesrepublik, Österreichische Zeitschrift für Soziologie, vol. 15, 1990, pp. 30 – 50. Siehe dazu unten Studie IV. 11 Dazu siehe: Alexia Arnold, „…evidence of progress“. Die UNESCO-Institute für Sozialwissenschaften, Pädagogik und Jugend, in: Hans Braun, Uta Gerhardt, Everhard Holtmann (Hrsg.), Die lange Stunde Null. Gelenkter sozialer Wandel in Westdeutschland nach 1945, Baden-Baden: Nomos 2007, pp. 251–290; Uta Gerhardt, Die Wiederanfänge der Soziologie nach 1945 und die Besatzungsherrschaft in Westdeutschland. Zu Kontinuität und Diskontinuität im Kontext der Nachkriegszeit, in: Gerhardt, Denken der Demokratie: Die Soziologie im atlantischen Transfer des Besatzungsregimes. Vier Abhandlungen, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2007, pp. 99 – 165.
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Die siebziger und achtziger Jahre vollendeten im wesentlichen, was die sechziger Jahre angestoßen hatten. Der Marxismus, der zeitweise eine regelrechte Mode war, wurde zur Doktrin, was zur Klärung der Probleme der Gegenwart indessen wenig beitrug. Die Nachwirkungen der Studentenbewegung verblassten erst mit der Zeit. Die Wiederkehr des Positivismus – nun unter dem Namen Rational Choice – war allerdings nicht aufzuhalten. Der Siegeszug des positivistischen Modelldenkens, das in den sechziger Jahren neu belebt und seit den siebziger Jahren weithin fraglos wurde, lässt sich heute nicht mehr leugnen. Die eigentliche Herausforderung waren dann die neunziger Jahre. Die Soziologie wurde nun Zeitzeuge eines Jahrhundertereignisses: Die Gesellschaft Deutschlands musste die zwei gegensätzlichen Systeme durch Fusion zu einem tragfähigen Ganzen vereinen. Weder Deutschland noch die Deutschen waren auf diese Herausforderung vorbereitet. Der Bruch ging durch alle Institutionen. Die Soziologie versuchte tapfer, durch Thesen und Theoreme den Zusammenbruch der DDR zu erklären, und durch Forschung, die finanziell gut abgesichert war, den sozialen Wandel nach der Wiedervereinigung zu dokumentieren. Die Herausforderung hätte größer nicht sein können. Die Ergebnisse, wie sie die sechste Studie darlegt, werden in diesem Buch erstmals bilanziert. Wenn man die Geschichte der Soziologie im zwanzigsten Jahrhundert schreibt, muss man sich diese doppelte Sachlage vergegenwärtigen. Gesellschaftlich hat es sechs verschiedene Regimes bei vier Typen der legitimen Herrschaft (nach Weber) gegeben. Die Soziologie war nicht ein Teil der deutschen Gesellschaft oder Geschichte, denn es waren sechs verschiedene Regimes. Die Soziologie, sofern sie überhaupt möglich war, hatte ein je anderes Gesicht in jeder Epoche. Es war je eine eigene Welt mit ihren charakteristischen Problemzonen und ihrem eigenen Profil, und man muss den Kontext in den verschiedenen Regimes und ihrer Zeit sehen. Obwohl jedes Regime anders war, ist die Soziologie als Wissenschaft unbedingt auf die Demokratie angewiesen. Das Kaiserreich bot ihr Entwicklungsmöglichkeiten eben nur in den Arbeiten einzelner Gelehrter, nicht auch als institutionalisierte Fachdisziplin an den Universitäten. Im Nationalsozialismus gab es überhaupt keine Existenzgrundlage für sie, obwohl an den Universitäten sogar Lehrstühle eingerichtet wurden, die diesen Titel trugen, etwa eine Professur für Kriegssoziologie am Philosophischen Seminar der Berliner Universität.12 Ihren Höhepunkt als wieder mögliche Wissenschaft erlebte sie in der frühen Bundesrepublik. Die Forschung und die Verankerung an den Universitäten nahmen nun einen ungeahnten Aufschwung. Obwohl in dieser Zeit das Denken Webers noch nicht wieder werkgetreu gewürdigt wurde, war die Nachkriegszeit eine Ära des Aufbruchs und ein Nachholen im großen Stil. Brüche und Neuanfänge gab es indessen mehrfach. Allemal 1918/1919 und nach 1945 wurde gesellschaftlich und auch für die Soziologie eine Weiche gestellt. Auch in den sechziger Jahren war ein Bruch mit dem Vorigen für viele Zeitgenossen fraglos. Die Tradition sollte überwunden werden, allerdings um zu Marx, dem 12 Dazu: Volker Gerhardt, Reinhard Mehring und Jana Rindert, Berliner Geist. Eine Geschichte der Berliner Universitätsphilosophie bis 1946, Berlin: Akademie Verlag 1999, pp. 297 – 301.
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Altmeister des neunzehnten Jahrhunderts, zurückzukehren. Noch einmal stand in den neunziger Jahren das Fachwissen, das die Gesellschaft erfasst, auf dem Prüfstand. Der dramatische gesellschaftliche Wandel war zu erklären oder wenigstens zu erfassen. Die historisch beispiellose Dynamik der Gegenwart war zu bearbeiten. Diesmal stand am Ende alles Vorherigen nicht die Vertreibung ins Exil, sondern – im Gegenteil – die verantwortungsvolle Aufgabe, der Öffentlichkeit die epochalen Ereignisse verständlich zu machen. Um ihre eigentümliche Diskursgeschichte nachzuzeichnen, muss man die Gesellschaftswissenschaft in den Epochen der Gesellschaftsgeschichte schildern. Die verschiedenen Regimes einzeln stellen jedes Mal die Frage nach den Erkenntnissen. Unweigerlich steht man mitten in den hitzigen Debatten der Zeitgenossen. Ihre Grabenkämpfe und Glanzleistungen erklären dem heutigen Leser das Was und das Warum der Fachliteratur. Ein glattes Bild wäre eine Chimäre. Die Diskontinuitäten sind spannend, und die Bruchlinien und die Anschlussstellen sind ein lohnendes Sujet. SOZIOLOGIE IM ZWANZIGSTEN JAHRHUNDERT schildert die Diskursgeschichte in sechs Studien. Die erste befasst sich mit der Entstehung der Simmel-Weberʼschen Theorie als Antwort auf die Kritik Diltheys an der Soziologie Comtes und Spencers. Für das Verständnis ist wichtig, dass vor allem Spencer der Vater des Sozialdarwinismus war. Diese Ideologie wurde dann im Nationalsozialismus – per Rassenhygiene – zum Dogma der Volkssoziologie. Für die Rettung der modernen Soziologie, wie sie Weber begründete, vor dem Diktat des Nazistaates sorgte Talcott Parsons, der Amerikaner, der in Heidelberg promoviert hatte. Der Abschied vom Sozialdarwinismus, was den Welterfolg der Weberʼschen Theorie erst möglich machte, fand schließlich nicht in Deutschland statt, sondern den anderen Ländern, wo entweder die vertriebenen Wissenschaftler eine Zuflucht oder die vertriebenen Wissenschaften eine Heimstatt fanden. Die zweite Studie befasst sich mit den zwölf Jahren des vermeintlich Tausendjährigen Reiches. Als es in Deutschland kein modernes Denken mehr gab, war die deutsche Soziologie anderswo lebendig. Die amerikanische Literatur analysierte den Faschismus und den sowjetischen Kommunismus schon in den dreißiger Jahren. Bis heute ist diese Diskussion wichtig. Federführend war sicherlich Parsonsʼ zweipoliges Paradigma der Struktur(en) des sozialen Handelns. Darin verbarg sich das Weberʼsche Konzept der charismatischen Herrschaft – ein Konzept, das in jüngeren Arbeiten werkgetreu wieder rezipiert worden ist. Seit den achtziger Jahren hat die Diskussion über den Nationalsozialismus wieder die herrschaftssoziologische Perspektive eingenommen. Die Studie zeigt, wie das Parsonsʼsche Verständnis des Charisma weiter reichte als die jüngeren Debatten. Aber ein nochmaliger Blick auf Weber eröffnet noch weitere Einsichten. Der Begriff der Avantgarde kann einen Aspekt des Weberʼschen Konzepts freilegen, der nunmehr den Vergleich zwischen dem Naziregime und dem Sozialismus unter soziologischem Vorzeichen erlaubt. Die zweite Studie zeigt, wie hochmodern die Herrschaftssoziologie Webers war und ist. Die dritte Studie wendet sich dem Wiederbeginn nach Kriegsende zu. Nun hatte unsere Wissenschaft wieder eine Chance. Aber es gab zunächst kaum noch Sozio-
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logen in Deutschland. Das moderne Denken musste erst wieder heimisch werden. Die Studie macht einen Soziologen der Harvard-Universität zur Schlüsselperson. Edward Y. Hartshorne hatte während der dreißiger und frühen vierziger Jahre subtile Analysen Nazideutschlands vorgelegt. Unter anderem erklärte er das Charisma als die psychologische Grundlage des faschistischen Führerkults. Hartshorne war Universitätsoffizier der amerikanischen Besatzungszone und ermöglichte die Wiedergründung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie und den Wiederbeginn der Soziologentage nur ein Jahr nach Kriegsende. Am Beispiel von Hartshorne wird deutlich, wie der segensreiche „amerikanische Import“ der Nachkriegszeit zur Rückkehr des wissenschaftlichen Selbstverständnisses beitrug. Aber der „amerikanische Import“ war mehr als die Rückbesinnung der ersten Nachkriegsjahre. In den fast fünfzehn Jahren, während Deutschland intellektuell von der Welt abgeschnitten war, hatte es entscheidende Fortschritte in den USA gegeben. Durch die Entdeckung der Repräsentativität von Daten aus einer Zufallsstichprobe war die Surveyforschung entstanden. Durch eine Fusion zwischen der Persönlichkeitsforschung und der Kritischen Theorie war der Autoritarismus des faschistischen und der Liberalismus des demokratischen Sozialcharakters in einer empirischen Großstudie nachgewiesen worden. Die Wiederanfänge in der Bundesrepublik bauten auf diesen Erkenntnissen auf, zumal das Frankfurter Institut für Sozialforschung nun wieder ein Brennpunkt der zeitgenössischen Diskussion war. Andernorts ging man allerdings andere Wege: In der Sozialforschungsstelle an der Universität Dortmund wurde immer noch die Sozialstatistik der vierziger Jahre verwendet, aber in dem einflussreichen DIVO-Institut für Markt- und Meinungsforschung, das (obwohl universitätsnah) kommerziell ausgerichtet war, wurde eine bis heute vorbildliche Surveyforschung verwendet. Die Studie IV Der Neubeginn der empirischen Sozialforschung und die Soziologie der frühen Bundesrepublik macht diese Szenarien der fünfziger Jahre wieder lebendig. Die nächste Studie schließt zeitlich an und behandelt doch ein ganz anderes Thema. Einen Vorgeschmack der turbulenten sechziger Jahre gaben gesellschaftskritische Traktate wie Ralf Dahrendorfs seit 1958 in zwanzig Auflagen erschienener Homo Sociologicus. Einen langen Schatten warfen die Auseinandersetzungen um den Positivismus. Heute wissen wir: Eigentlich war der so genannte Positivismusstreit, der die Gemüter bis 1969 bewegte13, ein sozialphilosophisches Scheingefecht zur Abwehr der Parsonsʼschen Systemtheorie. Paradoxerweise war es gerade Parsons, der anlässlich des Heidelberger Soziologentages die werkgetreue Rezeption Webers gegen den Widerstand der Kritischen Theorie verteidigte, wodurch letztlich die Max-Weber-Gesamtausgabe angeregt wurde, die zwei Jahrzehnte später zu erscheinen begann. Die sechziger Jahre waren jedenfalls ein Jahrzehnt der Kontroversen. Vieles, was später verblasste, stand lautstark im Vordergrund, aber manches, was heute selbstverständlich ist, kam erst in Gang. Trotz allem war es eine Art Achsenzeit der Selbstvergewisserung der Bundesrepublik.
13 Theodor W. Adorno, Hans Albert, Ralf Dahrendorf, Jürgen Habermas, Harald Pilot, Karl R. Popper, Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Neuwied: Luchterhand 1969.
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Die sechste Studie macht einen großen Sprung und landet in den neunziger Jahren. Westdeutschland, vierzig Jahre fraglos, gab es von heute auf morgen nicht mehr. Die Gesellschaft nach der Wiedervereinigung war erst im Entstehen. Man konnte den Zusammenbruch der DDR erklären und die Vorboten der Modernität in der Lebensführung der ehemaligen DDR-Bürger nachträglich herausarbeiten. Man konnte den Umbruch dokumentieren und seine Ungerechtigkeiten anprangern. Man übte manchmal soviel Fairness gegenüber den „Neuen Ländern“, dass die Analyse unwillkürlich eine Apotheose des gescheiterten Sozialismus wurde. Die Anstrengungen der Forschung waren enorm. Die Bemühungen der Theorie waren demgegenüber eher bescheiden: Wie war das dramatische Geschehen begrifflich zu denken? Erschwerend kam hinzu, dass der gesamte Ostblock in wenigen Jahren zusammenbrach. Die Politik erhoffte sich von der Soziologie Anregungen für vernünftige Maßnahmenprogramme. Aber trotz ihrer tapferen Leistungen bei der Analyse der so genannten Wende war unsere Disziplin letztlich überfordert. Als „das Licht der großen Kulturprobleme weiter zog“, um mit Max Webers schöner Formulierung zu sprechen14, suchte man sich in Deutschland andere Problemhorizonte, um sie bevorzugt zu untersuchen – etwa die Globalisierung der Märkte oder die Natur im gesellschaftlichen Bewusstsein. Die sechs Studien behandeln diese Disziplingeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts. Sie behaupten keine einheitliche Gesellschaft und sehen keine gradlinige Entfaltung eines fachwissenschaftlichen Programms. Sie berücksichtigen die Brüche und die Neuanfänge, und sie tun noch etwas anderes: Sie setzen Schlaglichter, anstatt alles in demselben milden oder grellen Licht zu zeigen. Sie setzen Schwerpunkte, anstatt lediglich den Fluss der Rede und Gegenrede zu rekonstruieren. Sie wählen aus, anstatt nur die Vielfalt der Ansätze neben- oder nacheinander abzubilden. Welche Gesichtspunkte waren ausschlaggebend für die Themenwahl? Welche Logik steht hinter den sechs Studien? Welche Argumentationslinie hat meine Darstellung? Zur Themenwahl gehört eine dahinter stehende These. Welche Schwerpunkte und welche Schlaglichter gesetzt werden, ist nicht zufällig. Die sechs Studien befassen sich mit Debatten, die um den Tatbestand kreisen, dass die Demokratie die beste Gesellschaftsform ist, die es in Deutschland jemals gegeben hat. Die Demokratie war und ist in der deutschen Soziologie des zwanzigsten Jahrhunderts ein wichtiges Anliegen. Im hier vorgelegten Buch spielen die Theorien und die Theoretiker, die dies bezeugen, eine Hauptrolle. Die Gegner des Rechtsstaats und der Wohlfahrtsgesellschaft spielen demgegenüber allenfalls eine Nebenrolle. Die sechs Studien suchen ihre Themen in jenen Szenarien, wo die Demokratie direkt oder indirekt zur Debatte stand und steht. Die Logik hinter den Themenstellungen war bei Simmel und Weber, dass die Soziologie, die sie entwarfen, das Moderne erfassen und etwas Neues gegenüber dem Vorherigen sein sollte – und dies war auch so. Das Neue hatte im Laufe des 14 Die Textstelle: Max Weber, Die „Objektivität“ der sozialwissenschaftlichen und sozialpolitischen Erkenntnis, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, herausgegeben von Johannes Winckelmann, 3. Auflage, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1968, p. 214.
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Jahrhunderts allerdings eine eigene Dynamik. Man kann in drei Hinsichten davon sprechen, dass die Soziologie ein Denken des Neuen schuf oder ein solches Denken sein wollte. Etwas Neues schaffen wollten allemal die Klassiker der vorigen Jahrhundertwende. Der Elan, etwas Neues anzustoßen, erfüllte auch wieder die sechziger Jahre. Es sollte ein Jahrzehnt der Kritik sein, wodurch ein gesellschaftliches Bewusstsein entstehen sollte, das die Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse ermöglichte. Letztlich wurde schließlich allerdings nur der altehrwürdige Marx, wiewohl in einer neuen Terminologie, wieder entdeckt. Eine erneuerte Gesellschaft entstand indessen immerhin 1945 und noch einmal 1989/1990, und die Soziologie mühte sich, den sozialen Wandel mitzumachen und zu begreifen. Nach zwölf Jahren tabula rasa nach 1945 schuf der „amerikanische Import“ der Nachkriegszeit wahrlich ein Neuland, das man betreten konnte. Nach der so genannten Wende suchten die Deutschen ihren Weg durch den Dschungel der Probleme dann allein, und sie mussten sich das Neuland selbst schaffen bzw. die neuen Erkenntnisse ohne Hilfe von außen aneignen. Immerhin hat unsere Fachdisziplin in ihrem begrifflichen Bezugsrahmen jeweils die entstehenden Untersuchungsfelder entschlossen bearbeitet und die Aufgaben tapfer gemeistert. Die sechs Studien haben ihre Schwerpunkte dort, wo etwas Neues entstand, also entweder neue gesellschaftliche Entwicklungen stattfanden und untersucht werden mussten oder ein neuer begrifflicher Ansatz notwendig wurde, der erst eine angemessene Analyse der Phänomene ermöglichte. Die sechs Studien sind so angelegt, dass sie diese Mission des jeweils Neuen würdigen – oder gelegentlich mit guten Gründen bezweifeln. Für den Nationalsozialismus lässt sich in diesem Zusammenhang sagen: Die herrschaftssoziologische Perspektive, eine teilweise neue Sichtweise, schlägt eine Brücke zur historischen Forschung und erlaubt, die zeitgeschichtlichen Erkenntnisse und die Weber-Parsonsʼschen Begriffe zu verbinden. Die zweite Studie macht dies deutlich. Sie dokumentiert, wie bahnbrechend das Konzept der charismatischen Herrschaft war. Für die sechziger Jahre kann man sagen: Bisher gibt es noch keine systematische Untersuchung unter einem Weber-Parsonsʼschen Gesichtswinkel. Dieses turbulente Jahrzehnt ist ein lohnendes Sujet. Die Analyse legt nahe: Die antidemokratischen Tendenzen der Protestbewegungen waren eine Übergangserscheinung beim Wechsel von der christdemokratischen Vorherrschaft zur sozialliberalen Koalition in den drei Jahren der „Großen Koalition“ 1966 – 1969; Bundeskanzler Willy Brandts Ankündigung in seiner Regierungserklärung 1969, die sozialliberale Koalition wolle „mehr Demokratie wagen“, war ein Wendepunkt der Gesellschaftsgeschichte. Die fünfte Studie geht der Frage nach, die bisher nirgends gestellt worden ist, inwiefern die Gesellschaftskritik und die gesellschaftlichen Veränderungen damals überhaupt miteinander verbunden waren. Zwei Zeitspannen behandelt dieses Buch nur am Rande. Die Weimarer Republik taucht nur an den Stellen auf, wo der Sozialdarwinismus dokumentiert wird. In der ersten und zweiten Studie werden Arbeiten der zwanziger und beginnenden dreißiger Jahre geschildert, wie sie den Nationalsozialismus vorbereiten halfen.
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Aber eine eigene Studie über die Weimarer Zeit wird nicht vorgelegt. In dieser gesellschaftsgeschichtlichen Epoche geschah wenig Neues in der Soziologie Deutschlands. Die siebziger und achtziger Jahre werden ebenfalls im wesentlichen ausgeblendet. Sie waren ein nachträglicher Nebenschauplatz der sechziger Jahre, und sie waren in vielerlei Hinsicht die Vorgeschichte der neunziger Jahre. Eine eigene Studie ist diesen zwei Jahrzehnten nicht gewidmet. Sie hatten kein eigenes Profil, obwohl in dieser Zeit viele Überlegungen diskutiert wurden, die dann in den neunziger Jahren gebraucht wurden, als die gesellschaftlichen Veränderungen zu untersuchen waren. Die neunziger Jahre, wie sie die sechste Studie betrachtet, waren der Neuanfang der Gesellschaft, der begrifflich mit den Arsenalen der achtziger Jahre bearbeitet wurde. Erst jetzt zeigten sich an den bestehenden Theoremen doch neue Seiten. Würde man den siebziger und achtziger Jahren eine eigene Studie widmen, müsste man sie als das Ende der vierzigjährigen Epoche nach dem Neubeginn nach 1945 darstellen. Aber sie waren zugleich der Auftakt der neunziger Jahre. Die spannende Frage, wie die vorausgehenden Arbeiten ab 1989/1990 in die Debatten eingingen, stellt sich die sechste Studie. Zur Argumentationslinie: Obwohl mein Buch viele Dispute rekonstruiert, hat es eine eigene, durchgehende These. Obwohl die Zäsuren der Gesellschaftsgeschichte und die Brüche der Denkansätze geschildert werden, gibt es ein festes Band über die sechs Studien hinweg. Obwohl ich den Mäandern der Literatur folge, habe ich eine durchgängige Erkenntnisabsicht. Die Devise ist nicht, alle Ansätze verdienten gleichviel Beachtung. Unsere Wissenschaft ist keineswegs in Forschung und Lehre, Theorie und Methoden überall immer angemessen vertreten worden, wie dies zuweilen behauptet wird. Die Soziologie (im zwanzigsten Jahrhundert, in Deutschland) ist nicht zufrieden stellend zu schildern, wenn man sie in angeblich gleichberechtigte Arbeiten auffächert. Will man sie schildern, „wie sie eigentlich gewesen“ – mit dem geflügelten Wort gesprochen, das Leopold von Ranke einst der Historie ans Herz legte, damit sie Universalgeschichte sei15 – , muss man bedenken, dass ein begrifflicher Bezugsrahmen und eine erkennbare These notwendig sind. Der Bezugsrahmen ist die methodologische Begründung der modernen Soziologie, wie sie um die vorige Jahrhundertwende entstand. Den Begriff Methodologie hat erst in den dreißiger Jahren Parsons verwendet, als er in seinem ersten Hauptwerk The Structure of Social Action16 das Weberʼsche Erbe auf die philosophische 15 Leopold von Ranke, Geschichte der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1514. 2. Auflage, Sämmtliche Werke. Dritte Gesammtausgabe. Dreiunddreißigster und vierunddreißigster Band. Leipzig: Verlag von Duncker und Humblot 1874, p. VII (Vorrede der ersten Ausgabe, October 1824). Siehe auch: Uta Gerhardt, Einführungsessay: Plädoyer für begrifflich begründete Studien zu Kultur und Gesellschaft, in: Gerhardt (Hrsg.), Zeitperspektiven. Studien zu Kultur und Gesellschaft. Beiträge aus der Geschichte, Soziologie, Philosophie und Literaturwissenschaft, Stuttgart: Steiner 2003, pp. 7 – 45. 16 Talcott Parsons, The Structure of Social Action. A Study in Social Theory With Special Reference to a Group of Recent European Writers, New York: McGraw Hill 1937.
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Wissenschaftstheorie festlegte und dadurch einen klaren analytischen Bezugsrahmen einforderte. Die Philosophie, um die es ging, enthielt Alfred North Whiteheads Vorlesungszyklus Science and the Modern World.17 Die analytische Perspektive war der Angelpunkt der Wissenschaft. Die Aussage war: Nur die begriffliche Perspektive kann die Forschung leiten, denn nur mittels begrifflicher Schemata wird die Wirklichkeit erkannt. Wer dies missachte, gehe in eine Falle. Der Fehler, so Whitehead, wenn man die beobachteten Dinge eo ipso für wahr halte, sei der berühmt-berüchtigte Irrtum der verfehlten Konkretheit (fallacy of misplaced concreteness). Allein durch konsequent methodisches Vorgehen, so forderte Whitehead und unterstrich Parsons, kann man die Phänomene wirklichkeitsgetreu erfassen und wahrheitsgemäß deuten. Nur unter einer begrifflichen Perspektive in einem analytischen Bezugsrahmen erschließt sich die Welt. Der Relativismus, also die Gleichsetzung aller möglichen unterschiedlichen Zugänge und Materialien, helfe angesichts dieser Sachlage nicht weiter. Wer alles aufzeichne, was er vorfinde, habe noch längst nichts Brauchbares in der Hand, um ein wissenschaftlich angemessenes Ergebnis seiner Analysen zu erreichen. Dieser Gedanke, wie ihn Parsons zum Programm machte, war indessen nicht neu. Max Weber hatte in den Abhandlungen, die posthum als Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre erschienen18, diese Festlegung bereits vorweggenommen. Weber hatte zu Beginn des Jahrhunderts erkannt, dass die „Objektivität“ (in Anführungszeichen) der sozialwissenschaftlichen und der sozialpolitischen Erkenntnis an der intellektuellen Redlichkeit des Forschers bzw. Wissenschaftlers hängt.19 Es gibt keine Objektivität, so Weber, die die Wahrheit der Dinge zeitlos erfassen könnte. Bestenfalls ist eine „Objektivität“ möglich, also ein Erkennen, das immer von einem Erkenntnisinteresse ausgeht. Darin liegt, wie Weber wusste, sowohl der Reiz der Forschung über gesellschaftliche Zusammenhänge als auch die Schattenseite der sozialwissenschaftlichen Erklärungen. Weber wusste, dass man nicht irgendwelche Begriffe verwenden darf, und so erfand er die „denkende Konstruktion“20 und lud jedermann ein, dafür einen besseren Namen als „Idealtypus“, wie er sie nannte, zu finden. Er war mit dem Wort nicht glücklich, aber ihm ging es um die Sache. Den Gedanken setzte Alfred Schütz in den dreißiger Jahren fort. Ehe er in die USA flüchten musste, zeigte Schütz in seinem Hauptwerk Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt (erschienen 1932)21, dass ein Begriffsgerüst unerlässlich für das Verstehen ist, vorzugsweise ein „idealtypisches“. Schütz gab dabei dem bahnbrechenden Gedanken Webers eine Wendung, die dessen Bedeutung sowohl für die 17 Alfred North Whitehead, Science and the Modern World. Lowell Lectures, New York: Macmillan 1925. 18 Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, herausgegeben von Marianne Weber, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1922. 19 Max Weber, Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 19 (Neue Folge, Bd. 1), 1904, pp. 22 – 87. 20 Siehe dazu: Kap. VII. Idealtypen durch „denkende Konstuktion“, in: Uta Gerhardt, Idealtypus. Zur methodologischen Begründung der modernen Soziologie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001. 21 Alfred Schütz, Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie, Wien: Julius Springer 1932.
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Soziologie als auch für die Gesellschaft, die wiederum der Gegenstand der Soziologie ist, nachdrücklich unterstreicht. Das Gerüst, das die sechs Studien zusammenhält, ist diese methodologische Begründung. Vor allem das Werk Webers ist das Drehmoment der modernen Soziologie. Es ist – nach meiner Meinung – der analytische Bezugsrahmen für das wissenschaftliche Denken unseres Faches. Webers Werk wird ergänzt und vertieft durch das Oeuvre Parsonsʼ. Der wichtigste Vorläufer der Weberʼschen Soziologie war Simmel. Ein eminenter Nachfolger – wiewohl anders als Parsons – war Schütz. Der rote Faden durch die vielen Argumentationsstränge, die das hier vorgelegte Buch nachzeichnet, ist die Begrifflichkeit, wie sie in den fast fünfzig Jahren zwischen 1890 und 1937 durch Simmel, Weber, Schütz und Parsons entstand und bis in die sechziger Jahre (für Deutschland) durch Parsons vertieft wurde. Wenn man eine gemeinsame Linie zwischen den sechs Studien sucht, kann man sagen: Sie suchen Antworten auf zwei Fragen. Die eine Frage: Lässt sich die begriffliche Perspektive, wie sie Weber – und ebenso Simmel, Schütz und Parsons – zum Prüfstein der Wissenschaftlichkeit machten, in den Forschungen, Lehrmeinungen und Theoremen der „Schulen“ finden, wie sie die Geschichte der Soziologie im zwanzigsten Jahrhundert in Deutschland ausmach(t)en? Die andere Frage: Wie lassen sich die Simmel-Weber-SchützParsonsʼschen Vorgaben rezipieren, wenn über das gesellschaftliche Bewusstsein, über die Wirtschaft und die Gesellschaft, über die Strukturen der Sozialwelt und über das System des demokratischen Gemeinwesens geforscht wird? Meine These: Bis heute hat das Weberʼsche Erbe – bzw. die Konzeption der vier klassischen Autoren – noch keinen angemessenen Stellenwert. Am Ende dieses Buches steht das Desiderat, unsere Disziplin möge sich geisteswissenschaftlich verorten. Der Pfad der Tugend, so meine ich, läge in der endgültigen Überwindung des Positivismus, wie er trotz allem heute immer noch oder weithin wieder vorherrscht. Um die Argumentation(en) der unterschiedlichen Denkströmungen bei den verschiedenen Autoren und in ihren Werken zu zeigen, reicht es nicht aus, lediglich die Aussagen allgemein wie aus der Vogelperspektive zu rekapitulieren. Bei den Denkrichtungen muss man bis zu die Autoren gehen und bei den Autoren deren Werke im einzelnen aufsuchen. Bei den Werken ist wichtig, den Argumentationsgang zu rekonstruieren und zu referieren. So kann der Leser nachvollziehen, wie der Autor seinen Beweisgang anlegt(e), und er kann sich davon überzeugen, dass die Werke, gleichgültig ob kritisch oder zustimmend behandelt, textgetreu widergegeben werden. Erst durch werkgenaue Argumentrekonstruktion gelingt eine geschichtliche Darstellung, wie sie hier versucht wird. Man soll erkennen, wie die These, die den inneren Zusammenhalt des Buches herstellt, sich in den Studien wiederfindet und dort die Werke betrifft, die den Kern und das Material von SOZIOLOGIE IM ZWANZIGSTEN JAHRHUNDERT bilden. Zur Vorgeschichte gehören die zehn Jahre Vorlesungen über soziologische Theorien unter historischer Blickrichtung an der Universität Heidelberg. Dazu haben außerdem seit den achtziger Jahren meine Forschungen zu wissenschaftsgeschichtlichen Themen beigetragen. Mit Dankbarkeit erinnere ich mich an die unzähligen
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Diskussionen mit Kommilitonen, Kollegen und Freunden, während dieses Buch nach und nach entstand, lange bevor es nun vorliegt. Besonders habe ich Alexia Arnold, Karl-Ludwig Ay, Jeffrey Alexander, Bernard Barber, Daniel Bell, Jörg Bergmann, Hans Braun, Rüdiger vom Bruch, Martin Diewald, Werner Gephart, Horst-Jürgen Gerigk, Ingrid Gilcher-Holtey, Alois Hahn, Robin Hartshorne, JanOtmar Hesse, Jochen Hörisch, Thomas Karlauf, Donald Levine, Robert Merton, Jennifer Platt, Gianfranco Poggi, Hans-Jürgen Puhle, Otthein Rammstedt, Anne Rawls, Gerhard A. Ritter, Hans-Georg Soeffner, Rudolf Stichweh, Javier Trevino, Gisela Trommsdorff, Bryan Turner, Paul Windolf und Patrick Watier zu danken. Sie haben meine Bemühungen durch ihre nachhaltigen Fragen und wichtigen Hinweise immer unterstützt. Alle Mängel des Buches, dies ist selbstverständlich, sind mir allein zuzuschreiben. Zwei Informationen für den Leser: Die Studien sind zwar chronologisch angeordnet, aber das Argument ist in jeder Studie in sich abgeschlossen. Jede kann für sich, und sie können in beliebiger Reihenfolge gelesen werden. Die verwendete Literatur wird in jeder Studie vollständig dokumentiert. Am Schluss des Buches steht eine umfassende Bibliographie sowie ein Personen- und Institutionenregister. Im Text – von mir, der Autorin – wird die männliche Form verwendet, wenn von Männern und Frauen gesprochen wird, letztlich dabei in der Annahme, dass die Qualität des Gedankens wichtiger ist als das Geschlecht des Autors. Der Leitsatz, unter den sich SOZIOLOGIE IM ZWANZIGSTEN JAHRHUNDERT stellt, stammt von Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Dieser Philosoph wäre vielleicht ein Soziologe gewesen oder geworden, hätte seine Zeit nicht vor dem – dreimaligen – Ursprung der Soziologie aus der Philosophie gelegen.
I. DER LANGE ABSCHIED VOM SOZIALDARWINISMUS UND DIE ANFÄNGE DER MODERNEN SOZIOLOGIE Zur Theoriegeschichte bis in die dreißiger Jahre EINLEITUNG Als der Philosoph und Soziologe Herbert Spencer in den frühen 1890er Jahren eine Neuausgabe seines Werkes The Principles of Ethics (ursprünglich 1879) vorbereitete, schrieb er ein neues Vorwort. Dort kam er auf die darwinistische Evolutionslehre zu sprechen. Die Lehre von der Selektion in der Natur war dargelegt in Charles Darwins 1859 erschienenem ersten Hauptwerk On the Origin of Species by Means of Natural Selection, or the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life, dem Werk, das zu einer Revolution des wissenschaftlichen Weltbildes geführt hatte. Spencer behauptete nun, dass „die Lehre von der organischen Evolution sowie ihre Anwendung auf den Charakter und die Intelligenz des Menschen und dementsprechend die Gesellschaft bereits vor Darwins Die Entstehung der Arten entstanden ist“.1 Er behauptete sogar, dass nicht Darwin, sondern er selbst, Spencer, der Soziologe, die darwinistischen Prinzipien „Kampf ums Dasein“ (struggle for existence) und „Überleben des Stärkeren“ (survival of the fittest) ursprünglich entwickelt habe. Er beschwerte sich allerdings nicht, dass Darwin seine, Spencers, Lehren übernommen habe. Sondern er ließ sich vernehmen: „Natürlich erfüllt es mich mit Befriedigung, wenn ich sehe, wie meine Ideen, die im Jahr 1850 auf taube Ohren fielen, nunmehr überall verbreitet sind“.2 Clou der Geschichte ist, dass Spencer recht hatte. Man muss rekonstruieren, was im neunzehnten Jahrhundert als soziologisches Denken entstand und erst wieder rückgängig gemacht werden musste, ehe die moderne Soziologie ab den 1890er Jahren sich entwickeln konnte. Die Soziologie, wie sie an den Universitäten Europas und auch der USA etwa seit den 1880er Jahren gelehrt wurde, war eine Evolutionslehre der natürlichen Selektion. Es wurden gesellschaftliche Gesetze postuliert, die den Kulturfortschritt erklären sollten. Dieses soziologische Denken berief sich auf Darwins Ideen, um zu fordern, dass in der Moderne eine absolute Freiheit des Stärkeren herrschen müsse. Tatsächlich waren Spencers in den 1850er Jahren vorgetragene Theoreme, die die sozialdarwinistische Lehre enthielten, bis zur Jahr1
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Herbert Spencer, The Principles of Ethics, Vol. I (ursprünglich 1879), Neudruck der Neuauflage von 1892, in der Ausgabe von 1904, Osnabrück: Otto Zeller 1966, p. vii; dort auch die nächste Zitatstelle. Im Original: „[T]he doctrine of organic evolution in its application to human character and intelligence, and, by implication, to society, is of earlier date than The Origin of Species.“ Alle im Text verwendeten Zitate aus dem Englischen werden in meiner eigenen Übersetzung widergegeben; der Originalwortlaut wird in einer Anmerkung dokumentiert. Im Original: „Of course it yields me no small satisfaction to find that those ideas which fell dead in 1850, have now become generally diffused.“
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I. Der lange Abschied vom Sozialdarwinismus
hundertwende und noch lange danach vorherrschend in der Soziologie in Deutschland. Weltweit wurde diese Lehre in den meisten Ländern, in denen es dieses Fach damals überhaupt gab, als die Wahrheit über die gesellschaftliche Ordnung und den geschichtlichen Fortschritt angesehen. Dass nicht Darwin, sondern der Journalist und Autodidakt Spencer, der in seiner Zeit ein angesehener Autor philosophischer und soziologischer Werke war, die Denkfiguren des „Kampfs ums Dasein“ und des „Rechts des Stärkeren“ erfand, ist in der Wissenschaftsgeschichte heute fast vergessen. Dass Spencer in seinem erstmals 1851 erschienenen Werk Social Statics; or the Conditions of Human Happiness Specified, and the First of Them Developed die Selektionslehre begründete, die eine zentrale Funktion in Darwins Erklärung der Entstehung der Arten hatte, prägte die Theoriegeschichte der Soziologie. Ab den 1870er und 1880er Jahren galten Spencers Lehren in den angelsächsischen Ländern, und in den 1890er Jahren wurden sie in Deutschland zum wissenschaftlichen Wissen, das an den Universitäten gelehrt wurde. Bis weit ins zwanzigste Jahrhundert hinein war die These anerkannt, dass die Bevölkerungsentwicklung, die Kultur und die Intelligenz, die bei einer Rasse oder einem Volk festzustellen waren, als Tatsachen der Naturgeschichte der Menschheit anzusehen wären. Daraus entstand ab den 1890er Jahren ein Programm der Höherentwicklung der Rasse. Dieses gesellschaftspolitische Denken, das bis in die 1930er/1940er Jahre seinen Einfluss geltend machte, gab sich als Soziologie aus, die eine geschichtliche Mission zu erfüllen hätte. Es bedurfte zunächst des zögerlichen und später des deutlichen Zweifels Georg Simmels an der Evolutionslehre und dem Selektionstheorem, um die allerersten Anfänge der modernen Soziologie zu setzen. Es bedurfte der heroischen Abkehr von den scheinbar längst bewiesenen Lehrsätzen der damals zeitgenössischen Sozialwissenschaften bei Max Weber, ehe die moderne Soziologie entstehen konnte, wie sie heute weltweit selbstverständlich ist. Und es bedurfte schließlich der getreuen Aufarbeitung von vier aus Europa stammenden Theorien durch Talcott Parsons in den 1930er Jahren, um die Soziologie endgültig – bzw. erst einmal bis in die 1960er Jahre – aus den Fängen des Spencerʼschen Utilitarismus und Positivismus zu befreien. Erst Parsonsʼ Widerlegung von allem, was im Geiste des Sozialdarwinismus gesagt war, brach die Brücken zur Evolutionslehre ab. Dies geschah in den dreißiger Jahren, als der Nationalsozialismus die Auswirkungen des Sozialdarwinismus längst den Zeitgenossen vor Augen führte. Erst die Überwindung solcher Irrungen machte den Weg frei für das moderne soziologische Denken. Man muss diese Geschichte nacherzählen. Man muss die verschlungenen Wege vom sozialdarwinistischen bis zum methodologisch begründeten Denken noch einmal gehen. Man muss im Auge behalten, dass die schwierigen Anfänge der modernen Soziologie eben zugleich den langen Abschied von der sozialdarwinistischen Lehre mit sich brachten. Meine Rekonstruktion dieses Anfangs, der ein langer Abschied war, hat vier Teile. Der erste rekapituliert Spencers Soziologie und ihren Niederschlag im Sozialdarwinismus mit Schwerpunkt USA. Es wird herausgearbeitet, dass Spencer und seine Anhänger und Adepten bis in die dreißiger Jahre des vorigen Jahrhunderts sich die Aufgabe stellten, eine Gesellschaftslehre auf biologischer Grundlage zu
Einleitung
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schaffen. Spencer war das Vorbild für William Graham Sumner, der ein sozialpolitisches Programm einforderte, das die soziale Ungleichheit zu einem gesellschaftspolitischen Politikziel machte. Diese Stimmen warnten vor der modernen Medizin, der allgemeinen Schulbildung und der wohlfahrtsstaatlichen Sozialfürsorge. Diese Errungenschaften, so dachte man, führten dazu, dass die Minderwertigen und die Schwachen dieselben Lebenschancen wie die Gesündesten und die Stärksten hätten. Dadurch, so die These, sei die natürliche Evolution hin zu einer höherwertigen Zivilisation der Kulturvölker gefährdet. Der zweite Teil widmet sich der Diskussion in Deutschland. Diese Diskussion hatte zwei Stränge. Zum einen vertrat etwa Alfred Ploetz, der Begründer der Rassenhygiene in Deutschland und Herausgeber der Zeitschrift Archiv für Rassenhygiene und Gesellschaftsbiologie (erschienen von 1905 bis 1944), eine sozialdarwinistische Gesellschaftslehre. Zum anderen vertraten Simmel und Weber eine Gegenposition, die zunächst wenig Widerhall fand. In den 1890er Jahren, als das Thema „Rasse und Gesellschaft“ hoch aktuell war, formulierte Simmel seine Vorbehalte gegen die soziale Evolutionslehre. 1910 veranlasste Max Weber – Mitglied des Vorstandes der neu gegründeten Deutschen Gesellschaft für Soziologie – anlässlich des Ersten Deutschen Soziologentages einen Vortrag des Rassetheoretikers Ploetz. Webers Stegreifrede war die erste und blieb auf lange Zeit die einzige Philippika gegen das Rassedenken in der deutschen Soziologie. Noch in der Weimarer Republik waren die Simmelʼschen und Weberʼschen Begriffe keine Wegweiser zu einer analytisch adäquaten Theorie und Forschung. Die vorherrschenden Themenstellungen zwischen 1920 und 1933 waren aus heutiger Sicht nicht weiterführend oder bahnbrechend. Umso bemerkenswerter ist es, dass das Ende der Gesellschaftstheorie à la Spencer bereits in den dreißiger Jahren lag. Die Neuorientierung fand nicht in Deutschland statt, und der Soziologie Webers (die fast ausschließlich nur in Deutsch vorlag) wurde eine frühe Hymne gesungen. Teil III schildert, wie Parsons, lebenslang der Verfechter der Weberʼschen Theorie, Spencers Utilitarismus ad acta legte und Webers Voluntarismus an dessen Stelle setzte. Parsonsʼ erstes Hauptwerk The Structure of Social Action, erschienen 1937, begann bekanntlich mit dem bedeutungsvollen Satz – seinerseits einem Zitat: „Spencer is dead“. Das methodologische Selbstverständnis der Theorie der Gesellschaft, das dieses Buch setzte, wurde zur Grundlage aller modernen Soziologie seither. Teil IV bringt skizzenhaft die Auswanderung der modernen Soziologie in die USA in Erinnerung, um zu unterstreichen, dass Parsonsʼ Leistung nicht allein stand. Das Verdienst der Emigranten war, dass sie das Simmel-Weberʼsche Denken als geisteswissenschaftliches Programm in die USA mitbrachten. Sie belebten die Seminare mit den Ideen aus Europa. Sie waren das weitere Bindeglied zwischen der aus Deutschland vertriebenen Theorie und der Überwindung des Sozialdarwinismus in Amerika. Insgesamt sind die Anfänge der methodologisch begründeten und das Schicksal der sozialdarwinistisch verstandenen Soziologie voneinander zu trennen. Die heute selbstverständlichen Einsichten entstanden nicht von heute auf morgen. In jahrzehntelangem Ringen musste das begrifflich begründete Wissen sich mühsam gegen die herrschenden sozialdarwinistischen Lehren in Stellung bringen. Das Gegenmodell,
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I. Der lange Abschied vom Sozialdarwinismus
der jahrzehntelang erfolgreiche Evolutionismus, musste verworfen werden, ehe der Simmel-Weberʼsche Ansatz überall einen Neuanfang einforderte. Spencers Lehren mussten obsolet werden, ehe die moderne Soziologie sich etablieren konnte. Man muss den zweifachen Ansatz wissenschaftsgeschichtlich schildern. Auf der einen Seite stand Spencers und insgesamt das sozialdarwinistische Plädoyer für die Rechte des Stärkeren, woraus der Fortschritt der Menschheit erwachse. Auf der anderen Seite standen Simmel, Weber und Parsons (sowie Alfred Schütz), die Begründer des Denkens, das „Wertfreiheit“ und „Objektivität“ forderte. Sie plädierten für die Freiheit der Forschung, eine entscheidende Errungenschaft der Wissenschaft, wie sie seit dem 18. Jahrhundert im Geist der Demokratie entstand. Im Hintergrund steht die These, dass die Gesellschaftsgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts – auch wenn Nazideutschland den Rückfall in die Barbarei erzwang – und der endgültige Siegeszug des Simmel-Weberʼschen Denkens in der Soziologie wissenschaftsgeschichtlich miteinander verbunden sind. Zunächst trug die Barbarei in Deutschland zur Emigration der wichtigsten Denker bei, und der Weltruhm der Parsonsʼschen Theorie setzte nach dem Zweiten Weltkrieg ein. Der weltweite Erfolg der Weberʼschen Soziologie ist den Amerikanern zu danken, was in den 1960er Jahren offensichtlich wurde. Man muss, um dies zu rekonstruieren, zunächst das Szenario der vorigen Jahrhundertwende wiederbeleben. Dieses Kapitel zeigt, wie die Weichen für die Soziologie des zwanzigsten Jahrhunderts gestellt wurden. Auf „Wertfreiheit“ und „Objektivität“ setzten die (methodologisch begründete) Theorie und auch die (methodisch systematische) Forschung erst in Deutschland und später durch die „intellectual migration“ in den USA – dem hauptsächlichen Zufluchtsland des vertriebenen deutschen Geistes. Darin lag gewissermaßen die Vorgeschichte der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als die anerkannten Felder des soziologischen Denkens aus dem amerikanischen Exil zurückkehrten und das Terrain neu vermessen werden musste. Die Erben der Kehrtwende des frühen zwanzigsten Jahrhunderts waren auch die Nutznießer der Neuanfänge nach 1945 – es ging um eine Soziologie der angemessenen Begriffe. Man muss diese Geschichte rekonstruieren, um diese Entwicklung zu verstehen. 1. DIE GESELLSCHAFTSLEHRE DES SOZIALDARWINISMUS Spencers erstes Buch war ein Gegenentwurf zu Jeremy Benthams utilitaristischhedonistischem Rationalismus. Bentham (1748 – 1832) hatte im Jahr der Französischen Revolution 1789 An Introduction to the Principles of Morals and Legislation veröffentlicht.3 Er legte dar, dass der Staat dazu diene, das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl durch eine Politik entsprechend dem greatest happiness principle zu gewährleisten. Dieses Prinzip, so Bentham, mache die Individuen – qua der menschlichen Natur – bei der Verfolgung ihrer durchaus egoistischen Zwecke rational. Wenn der Nutzen des tugendhaften Verhaltens größer sei als der 3
Jeremy Bentham, An Introduction to the Principles of Morals and Legislation (ursprünglich 1789), New York: Hafner The Hafner Library of Classics 1948.
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Schmerz durch die Strafen bei kriminellem etc. Verhalten, würden die Individuen den Maximen der Vernunft aus eigenem Antrieb folgen. Spencers Kritik an Bentham berief sich auf Thomas Malthusʻ politische Ökonomie der Bevölkerung. Spencer ebenso wie Malthus setzten andere Akzente, um das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl zu bestimmen. Malthus (1766 – 1834) warnte 1798 in seinem anonymen An Essay on the Principle of Population4, eine Politik, die allzu viel Gleichheit der Lebensverhältnisse schaffe, bewirke unwillkürlich eine Bevölkerungsexplosion, wodurch das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl nicht mehr gewährleistet sei: „Es ist eine selbstverständliche Wahrheit, was viele Autoren bestätigen, dass die Bevölkerung insgesamt nicht über ein niedriges Existenzniveau hinausgelangen darf; kein Autor hat indessen bisher danach gefragt, mit welchen Mitteln denn dieses Niveau überhaupt niedrig gehalten werden kann: es sind nämlich gerade Mittel, wie sie gemeinhin diskutiert werden, worin das größte Hindernis auf dem Weg zu der Bevölkerungskontrolle liegt, die den Schlüssel für die zukünftige Besserung der Gesellschaft enthält“.5 Malthus These: Nur die Knappheit der Güter lasse die Individuen nach Besitz streben; nur wenn sie gegenüber anderen, die weniger besäßen, im Vorteil wären, seien sie auch bereit, für ihre Besserstellung zu kämpfen. Das Mittel zum größtmöglichen Glück der größtmöglichen Zahl hieße mithin Ungleichheit, denn dadurch würden der Kampf und die Konkurrenz gefördert. Denn: „[D]er Mensch, wie er wirklich ist, [ist] träge, faul und arbeitsscheu, falls er nicht durch die Not [zur Tätigkeit von Geist und Körper] getrieben wird“6 – weshalb eben erst die existentielle Not, zumal wenn sie jederzeit drohe, jene Leistungen bewirke, die den Fortschritt der Menschheit sicherstellten.7 Spencers Buch Social Statics; or, The Conditions Essential to Human Happiness Specified, and the First of Them Developed8 verstand sich als Moralphiloso4
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Thomas Robert Malthus, An Essay on the Principle of Population (ursprünglich 1798), in: An Essay on the Principle of Population and A Summary View of the Principle of Population, edited and with an introduction by Antony Flew, London: Penguin Books 1970. Malthus, ein Autodidakt, war ab 1805 Professor an einem durch die East India Company getragenen College und brachte es bis zum Fellow der Royal Society sowie Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Malthus, An Essay on the Principle of Population, p. 61. Im Original: „It is an obvious truth, which has been taken notice of by many writers, that population must always be kept down to the level of the means of subsistence; but no writer that the Author recollects has inquired particularly into the means by which this level is effected: and it is a view of these means which forms, to his mind, the strongest obstacle in the way to any very great future improvement of society.“ Ibid., p. 205. Im Original: „man as he really is, inert, sluggish, and averse from labour, unless compelled by necessity.“ Dazu die Textstelle, p. 208: „That the difficulties of life contribute to generate talents, every dayʼs experience must convince us. The exertions that men find it necessary to make, in order to support themselves or families, frequently awaken faculties that might otherwise have lain for ever dormant, and it has been commonly remarked that new and extraordinary situations generally create minds adequate to grapple with the difficulties in which they are involved.“ Social Statics; or, The Conditions Essential to Human Happiness Specified, and the First of Them Developed, by Herbert Spencer, London: John Chapman 1851, republished Westmead: Gregg International 1970, printed by offset Meisenheim am Glan: Anton Hain o.J.
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phie in der Tradition von Malthusʼ Essay on the Principle of Population. Spencer wollte zeigen, dass es für ganze Gesellschaften ethische Gesetze gebe, die allererst das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl bewirkten. Dabei werde dem Plan Gottes (Divine Idea, Divine Will)9 entsprochen, nämlich dass bestimmte Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens zu erfüllen seien, damit die Besserstellung der Menschheit gelinge. Malthus hatte argumentiert, das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl sei zu sichern, wenn der durchschnittliche Lebensstandard ein niedriges Niveau nicht überstieg. Spencer erläuterte nun, dass der Kampf ums Überleben die Garantie enthalte, dass die weniger durchsetzungsfähigen Individuen, die dem Lebenskampf nicht gewachsen waren, früh und möglichst ohne Nachkommen starben. Die Stärkeren, die den Lebenskampf bestanden, konnten und sollten sich möglichst vielfach fortpflanzen können. Der Fortschritt der Menschheit – also das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl – wäre gesichert, wenn die Moralität im gesellschaftlichen Leben das Recht des Stärkeren wäre. Als Garant des größtmöglichen Glücks der größtmöglichen Zahl wirke der Kampf ums Dasein, weil und wenn das Recht des Stärkeren dazu führe, dass die Gesünderen (Stärkeren) länger lebten und mehr Nachkommen hätten. Aus dem Recht des Stärkeren leiteten sich jene Rechte her, die Spencer genau aufzählte, wodurch er die besseren Lebenschancen der Gesündesten und Stärksten rechtfertigen wollte. Grundlegend war ein soziales Gesetz, das er The Law of Equity nannte. Dieses soziale Gesetz verlange die gleiche Freiheit für jeden Einzelnen im Sinne einer gesellschaftlichen Moral. Diese Moral verlange die ungehinderte Entfaltung des Einzelnen. Spencer: „Das Glück des Menschen hängt davon ab, dass er seine Fähigkeiten voll einsetzen kann. Deshalb will Gott, dass er seine Fähigkeiten auch einsetzt. Aber beim Gebrauch der Fähigkeiten muss er die Freiheit haben, alles das zu tun, was seinen Fähigkeiten entspricht. Deshalb will Gott, dass er diese Freiheit hat. Also hat er ein Recht auf diese Freiheit“.10 Die Gleichheit verbiete also, dass irgend jemandem dieses Recht beschnitten werde. Also müsse sich jeder – wie alle anderen – das Recht nehmen dürfen, notfalls die Lebensmöglichkeiten anderer Menschen rigoros zu beschneiden. Das Prinzip der Freiheit liege mithin dem Kampf ums Dasein zugrunde. Weil alle sich die Freiheit nähmen, ihr Recht gegebenenfalls anderen gegenüber voll auszuleben, sei der Kampf aller gegen alle grundsätzlich segensreich: „Jeder Mensch hat die Freiheit, alles zu tun, was er tun will, und dabei muss er dieselbe Freiheit jedem anderen Menschen zugestehen“.11
9 Ibid., pp. 77 – 78 et passim. 10 Ibid., p. 93; Hervorhebung im Original. Im Original: „Manʼs happiness can only be produced by the exercise of his faculties. Then God wills that he should exercise his faculties. But to exercise his faculties he must have liberty to do all that his faculties naturally impel him to do. Then God intends that he should have that liberty. Therefore he has a right to that liberty.“ Alle Hervorhebungen in den Zitaten sind im folgenden wie im Original; nur wenn davon abgewichen wird, wird dies in einer Fußnote besonders angegeben. 11 Ibid., p. 103. Im Original: „Every man has freedom to do all that he wills, provided he infringes not the equal freedom of any other man.“ (Hervorhebung weggelassen)
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Die Rechte, die sich aus diesem Prinzip ergaben, waren: Das Recht, sich die Welt untertan zu machen (The Right to the Use of the Earth12), das Recht auf Eigentum (The Right of Property), das Recht auf Austauschbeziehungen (The Right to Exchange), das Recht auf gesellschaftliches Ansehen (The Right of Property in Character) und das Recht auf freie Rede (The Right to Free Speech) – wobei Frauen und Kinder ebenfalls (allerdings nicht dieselben) Rechte erhalten sollten. Spencer erläuterte die verschiedenen Rechte, die den Kampf ums Dasein stützten, woraus die besseren Chancen der Stärkeren sich ergaben. Im dritten Teil seines Buches zeigte er, welche Lehren für die Moderne daraus zu ziehen waren. Erstens warnte er vor dem Wohlfahrtsstaat, der sich zum Anwalt der Schwachen mache. Denn die Gleichstellung der Schwachen mit den Starken bedeute eine Gefahr für die Kulturentwicklung. Um dieser Gefahr zu begegnen, müsse die Gesellschaft der Zukunft dem freien Bürger ein Recht gewähren, den Staat zu unterlaufen (The Right to Ignore the State): „Aus dem Lehrsatz, dass alle Institutionen dem Gesetz der gleichen Freiheit zu folgen haben, müssen wir zwangsläufig schließen, dass jeder Bürger das Recht hat, sich freiwillig außerhalb des Rechts stellen zu dürfen“.13 Insbesondere, so Spencer, sei nicht hinzunehmen, dass die Besteuerung durch den Staat dazu diene, die Programme zu finanzieren, welche dem Recht des Stärkeren entgegenwirkten. Der Einzelne werde in eine unmögliche Situation gebracht, wenn der Staat ihm Pflichten auferlege, die letztlich darauf hinausliefen, den Kulturfortschritt zu behindern. Die wohlfahrtsstaatlichen Programme und ebenso die Therapien der modernen Medizin förderten die Schwachen und die Kranken. Dadurch würden unwillkürlich die am wenigsten Lebensfähigen den Stärksten und den Gesündesten gleich gestellt. Dies schaffe eine gefährliche Schieflage. Die staatlichen Handelsbeschränkungen (the Regulation of Commerce)14, die Kirchen angesichts ihrer karitativen Moral, die Armengesetzgebung (Poor-Laws), die allgemeine Schulpflicht (National Education), die Kolonialherrschaft (Government Colonization)15 und das Öffentliche Gesundheitswesen (Sanitary Supervision) seien moderne Neuerungen, von denen eine große Gefahr für den Fortschritt der Menschheit ausgehe. Er warnte, sie alle widersprächen den Gesetzen der Natur. Spencer räumte ein, dass die Welt des neunzehnten Jahrhunderts eine gewisse Zivilisiertheit enthalte. Der Kampf aller gegen alle sei nicht mehr das allfällige Gebot der Stunde. Eine gewisse Friedfertigkeit – zumal bei den kulturell fortgeschrit12 Dies ist die Überschrift von Kap. IX, pp. 114 ff. Die folgenden Kapitel behandelten die weiteren Rechte, wie sie nun aufgeführt werden. 13 Ibid., p. 206. Im Original: „As a corollary of the proposition that all institutions must be subordinated to the law of equal freedom, we cannot choose but admit the right of the citizen to adopt a condition of voluntary outlawry.“ 14 Ibid., Kap. XXIII, pp. 296 ff. Die folgenden Kapitel widmeten sich jeweils einem dieser Programme, die das Recht des Stärkeren schmälerten. 15 Für die Kolonialherrschaft argumentierte Spencer folgendermaßen: Wenn eine Regierung die Steuermittel einsetzt, um in einem anderen Land dessen Justiz, Polizei etc. zu finanzieren, wird dieses Geld der einheimischen Gemeinschaft entzogen; der Staat verletzt seine Pflicht der Nichtintervention, und dabei werden die Rechte der Kolonisten, also der Briten etwa der EastIndia-Company, verletzt, denen die Freiheit genommen wird, alles zu dürfen, was sie sich herausnehmen können.
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tensten Völkern – sei mit der Zivilisation vereinbar. Der Fortschritt der Menschheit schließe eben nicht aus, dass der Volkscharakter bei denen, die den Höchststand der kulturellen Evolution erreicht hätten, auch eine gewisse Toleranz zulasse. So gebe es beispielsweise im „englischen Nationalcharakter im Gegensatz zum nationalen Charakter anderer Rassen“16 den Charakterzug der Fairness: „Selbst die Brutalsten in unserer Bevölkerung … haben einen Sinn für das, was fair ist, der besser ausgebildet ist als bei den Einwohnern anderer Länder“.17 Dieses Kulturniveau dürfe allerdings nicht aufs Spiel gesetzt werden. Die Unterstützung der Schwachen durch den Sozialstaat und die Therapie der Kranken könnten leichtfertig den Fortschritt der Menschheit gefährden, wenn die Gleichheit zu weit getrieben werde. In seiner im Jahr 1852 in der Westminster Review erschienenen Abhandlung A New Theory of Population; Deduced From the General Law of Animal Fertility erläuterte Spencer die Naturgesetze, die das Kulturniveau der fortgeschrittensten Arten und Völker (Rassen) bestimmten.18 Die Abhandlung beschrieb den Zusammenhang zwischen der Auslese und der Evolution – die Kernthese des Sozialdarwinismus. Von den niedrigsten bis zu den höchsten Organismen, so Spencer, sah man die Koordination zweier Prozesse, die aufeinander abgestimmt waren. Er nannte sie „Aufbau und Zerfall – Heilung und Vernichtung – Anpassung an die Umwelt und Sauerstoffverbrauch“, und er dozierte: „Solange beide Prozesse ablaufen, ist Leben vorhanden: Fällt einer davon aus, so ist das Ergebnis – der Tod“.19 Er entwickelte seine neue Bevölkerungslehre, die den Aufbau der Natur aus je zwei komplementären Vorgängen darstellte, in sechzehn Paragraphen. Sie benannten das allgemeine Prinzip und entwickelten aufsteigend zum höchsten Niveau das Bevölkerungsgesetz der Natur. Sie begannen beim scheinbar Evidenten und führten zum scheinbar Notwendigen: §1. Jede Rasse bei Organismen sei sowohl den erhaltenden als auch den zerstörenden Kräften ausgesetzt, deren Zusammenspiel zu sichern sei. §2. Die rasseerhaltenden Kräfte teilten sich in solche, die das individuelle Leben ausmachten, und solche, die der Spezies dienten und sie fortsetzten; diese Kräfte variierten invers, d. h. je mehr das individuelle Leben hervortrete, desto schwächer seien die Wirkkräfte der Spezieserhaltung – und umgekehrt. Die Kräfte der beiden Richtungen müssten ein Gleichgewicht bilden.
16 Ibid., p. 99. Dort auch die nächste Zitatstelle; im Original: „the English national character, as contrasted with that of other races“. 17 Im Original: „Even among the most brutal of our population … there is shown … a greater sense of what is fair than the peoples of other countries show.“ 18 A New Theory of Population; Deduced from the General Law of Animal Fertility. Republished from the Westminster Review. For April, 1852. With an introduction by R. T. Trall, M.D., New York: Fowlers and Wells 1852. (Nachdruck in den USA, aus dem Bestand der Harvard College Library) 19 Ibid., p. 10. Im Original: „accretion and disintegration – repair and waste – assimilation and oxidation. … So long as the two go on together, life continues: Suspend either of them, and the result is – death.“
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§3. Die reproduktive Kraft einer Rasse sei am höchsten, wenn die Lebensdauer der jeweiligen Organismen eher gering sei; und umgekehrt: wo die reproduktive Kraft einer Rasse gering sei, hätten die Organismen dieser Spezies eine lange Lebensdauer. §4. Individuation und Multiplikation verhielten sich also antagonistisch zueinander. §5. Reproduktion könne bei manchen Arten bedeuten, dass ein Organismus – wie bei den Protozoen – sich teile, woraufhin das Lebewesen, das sich reproduziere, nicht mehr fortexistiere. Oder die Reproduktion könne zum anderen heißen, dass ein Organismus, der einen anderen oder auch viele andere hervorbringe, danach noch weiterlebe – und dabei werde die verbleibende Lebensspanne umso kürzer sein, je größer die Anzahl der Nachkommen sei, die durch einen Reproduktionsakt entstehe. §6. Bei den höheren Arten bleibe der Elternorganismus bei der Reproduktion stets erhalten. §7. Der Fortschritt bei den höheren Arten werde offensichtlich, wenn man sich vergegenwärtige, dass es ihnen nicht mehr möglich sei, dass Teile eines Organismus sich nach dem Abtrennen zu einem eigenen Organismus entwickeln. §8. Höhere Arten, wo die Individuation hoch sei und bei denen keine spontane Teilung mehr vorkomme, hätten eine höhere Fruchtbarkeit, wenn sie kleine einfache Lebensgemeinschaften bildeten. Wenn wie bei den höheren Arten große und komplexe Lebensgemeinschaften sich bildeten, sinke die Fruchtbarkeit dort deutlich ab. §9. Höhere Arten seien komplexe Organismen, und höhere Arten bildeten komplexe Lebensgemeinschaften. Entsprechend sei bei ihnen „die Fähigkeit zur Hervorbringung zahlreicher Nachkommen gegenläufig zu der Fähigkeit, dass jedes einzelne Individuum überlebt“.20 §10. Dies sei das Gesetz der Fruchtbarkeit (Law of Fertility). Dieses Gesetz bringe es mit sich, dass bei den höheren Arten bei der Zeugung bzw. bei der Geburt jeweils nur ein einzelner Organismus entstehe. §11. Die Zeugung geschehe durch die Vereinigung der Spermazelle (sperm-cell) mit der Eizelle (germ-cell). Die Zweiteilung in Männlich und Weiblich signalisiere die binäre Struktur des Universums. Die Trennung zwischen einer neuronalen und einer nährenden Substanz sei überall zu finden. Der männliche Organismus sei neuronal, und der weibliche sei nährend. Dazu Spencer: „Wir müssen davon ausgehen, dass die Spermazelle und die Eizelle eine koordinierende und eine zu koordinierende Substanz bilden – sie stehen für die Nervenkraft und für die Ernährung“.21 20 Ibid., p. 26. Im Original: „the ability to multiply is antagonistic to the ability to maintain individual life.“ 21 Ibid., p. 30. Im Original: „[W]e must infer that the sperm-cell und germ-cell respectively consist of co-ordinating matter and matter to be co-ordinated – neurone and nutriment.“ Spencer belegte die Differenz durch folgende Aussage: „Well, in the greater size of the nervous centers in the male, as well as in the fact that during famines men succumb sooner than women, we see that in the male the co-ordinating system is relatively predominant.“ (p. 30)
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§12. Chemische und andere Analysen zeigten, so Spencer, dass die Hirnleistung – allemal co-ordinating matter – in unterschiedlichen Lebensphasen verschieden stark ausgeprägt sei. Dass sie nicht immer gleich sei, lasse den Rückschluss zu, dass jedenfalls die matter to be co-ordinated offenbar durch eine geringere Hirnleistung gekennzeichnet sei.22 §13. Die Fertilität der Wirbeltiere variiere im umgekehrten Verhältnis zu der Entwicklungsreife ihres Nervensystems. §14. Das Ergebnis, auf die Menschheit – the human race – angewandt: Die durchschnittlich bei den höher entwickelten Rassen bzw. Kulturen höher entwickelte Intelligenz bewirke, dass dort die Individuen eine höhere Lebensdauer hätten, weshalb ihre Fertilität offensichtlich kontrolliert werden müsse.23 (Welche Maßnahmen die drohende Übervölkerung eindämmen könnten, sei dringend zu klären.) §15. Die Menschheit erlebe fortschreitend eine weitere Stärkung der Nervenzentren.24 Daraus erwachse die Kultivierung der Völker und Rassen. Es sei naturwissenschaftlich erwiesen, dass das durchschnittliche Hirnvolumen eines australischen Eingeborenen 75 ccm betrage. Aber die modernen Engländer hätten ein mittleres Hirnvolumen von 96 ccm, und die Malayen und Afrikaner lägen zwischen diesen Messwerten. Spencer: „Und man kann zeigen, dass eine Höherentwicklung des Nervensystems stattfinden muss und warum infolgedessen der augenblickliche Fruchtbarkeitsüberschuss vermindert werden muss; und weiter kann man zeigen, dass diese Fruchtbarkeitsminderung allein durch eine einzige Wirkkraft herbeigeführt wird – nämlich durch den Überschuss eben dieser Fruchtbarkeit“.25 §16. Die Grenzen des Fortschritts seien erreicht, wenn ein Missverhältnis zwischen der Multiplikation und der Individuation bestehe. In der Gegenwart, wo die hohe Individuation bei den zivilisierten Rassen einhergehe mit ihrer hohen Fruchtbarkeit bzw. Multiplikation und außerdem die Übervölkerung noch verstärkt werde durch die moderne Medizin und die Sozialpolitik, sei die Gefahr für den Fortschritt evident. Da viele Menschen trotz ihrer mangelnden Lebenstüchtigkeit heutzutage am Leben gehalten würden, sei die kulturelle Evolution der Menschheit bedroht.
22 Ibid., p. 34. 23 Ibid, p. 37 – 38: „From the fact that the human race is in a state of transition, we may suspect that the existing ratio between its ability to multiply, and its ability to maintain life, is not a constant ratio. From the fact that its fertility is at present in excess of what is needful, we may infer that any change in the ratio will probably be toward a diminution of fertility. And from the fact that, one the whole, civilization increases the ability to maintain life, we may perceive that there is at work some influence by which such diminution is necessitated.“ 24 Ibid., p. 39: „That an enlargement of the nervous centers is going on in mankind, is an ascertained fact.“ 25 Ibid., p. 40. Im Original: „But it may be shown why a greater development of the nervous system must take place, and why, consequently, there must be a diminution of the present excess of fertility; and further, it may be shown that the sole agency needed to work out this change is – the excess of fertility itself.“
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Spencers Hauptaussage war zweifellos im §15 enthalten und wurde im §16 vertieft. Er setzte das Hirnvolumen ins Verhältnis zur Zivilisation der Rasse und zur Lebensdauer der einzelnen Organismen. Er unterstrich den positiven Wert des Bevölkerungsdrucks. Wenn eine Bevölkerung durch ihre wachsende Intelligenzleistung eine längere Lebensdauer erreiche, aber keine Minderung der Geburten stattfinde, komme es unvermeidlich zu einer problematischen Übervölkerung.26 Der Bevölkerungsdruck könne nämlich die Verbesserung der rassischen Qualitäten der Bevölkerung nur bewirken, wenn durch das Absterben der Schwachen nur die Besten überlebten. Aber wenn die segensreichen Kräfte des Überlebenskampfes, der die Stärksten begünstige und die Schwachen auslösche, sich nicht mehr entfalten könnten, weil durch die gesellschaftspolitischen Reformen auch die Schwachen (länger) überlebten, sei der Fortschritt der Menschheit gefährdet. Spencer erläuterte das entsprechende Gesetz der Arterhaltung anhand der Hungerkatastrophen in Irland in den Jahren 1847 bis 1850. Dort waren Hunderttausende gestorben (oder in die USA ausgewandert, was indessen unerwähnt blieb). Spencers Gedankengang: „Die ganze Menschheit … muss sich mehr oder minder der Selbstdisziplinierung unterwerfen; daraus entstehen Fortschritte oder auch nicht; aber in der Natur der Sache liegt, dass nur diejenigen, die tatsächlich auch den Fortschritt sichern, auf lange Sicht überleben. Dabei ist es unausweichlich, dass die Familien und die Rassen angesichts der Schwierigkeit, heutzutage bei der hohen Bevölkerungsdichte ihren Lebensunterhalt zu sichern, eine vermehrte Produktivität – das heißt eine vermehrte Hirntätigkeit – entwickeln müssen, weil sie ansonsten notwendigerweise zum Aussterben verurteilt sind; sie müssen sonst denjenigen Platz machen, die durch den Bevölkerungsdruck zu höherer Hirnleistung veranlasst werden. Dies hat sich in den letzten Jahren wieder einmal in Irland bewahrheitet. … Es zeigt sich unmissverständlich, dass der vorzeitige Tod in allen seinen Formen und durch alle Todesursachen in dieselbe Richtung weist. Diejenigen, die früh versterben, sind in den meisten Fällen diejenigen, deren Kraft zur Selbsterhaltung am geringsten ausgebildet ist, und daraus folgert notwendig, dass diejenigen, die überleben und die Erhaltung der Art sichern, mit der höchsten Kraft der Selbsterhaltung ausgestattet sind – sie sind die Auslese ihrer Generation“.27 Darwin und Spencer kannten einander persönlich. Am Ende der 1850er Jahre standen sie im Briefkontakt miteinander. In The Life and Letters of Herbert Spencer, einer 1908 zusammengestellten Sammlung aus Briefen Spencers28, ist ein Brief 26 Ibid., p. 40. Spencer sprach von „inevitable redundancy of numbers.“ 27 Ibid., p. 42. Im Original:„All mankind … subject themselves more or less to the discipline described; they either may or may not advance under it; but, in the nature of things, only those who do advance under it eventually survive. For, necessarily, families and races whom this increasing difficulty of getting a living which excess of fertility entails, does not stimulate to improvements in production – that is, to greater mental activity – are on the high road to extinction; and must ultimately be supplanted by those whom the pressure does so stimulate. This truth we have recently seen exemplified in Ireland. … For as those prematurely carried off must, in the average of cases, be those in whom the power of self-preservation is the least, it unavoidably follows, that those left behind to continue the race are those in whom the power of self-preservation is the greatest – are the select of their generation.“ 28 David Duncan, The Life and Letters of Herbert Spencer. London: Methuen 1908.
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Darwins an Spencer vom 25. November 1858 abgedruckt. Damals offenbar hatte ihm Spencer seine allgemeine Evolutionstheorie – Darwin sprach von so-called Development Theory – brieflich erläutert. Darwin räumte in seinem Antwortbrief seine persönliche Übereinstimmung mit Spencer ein, ließ aber wissen, dass er, Darwin, as a naturalist die Probleme, die Spencer sich stelle, anders löse (er arbeitete noch an The Origin of Species, das im darauf folgenden Jahr erschien): „Ich behandle das Thema lediglich als Naturwissenschaftler und nicht von Ihrem übergeordneten Standpunkt aus; täte ich letzteres, so hätte ich Ihren Gedankengang sicherlich in meinem Werk verwendet, denn Ihr Argument scheint mir auf seine Art durchaus vollkommen.“29 Spencer ebenso wie Darwin gehörten dem im November 1864 gegründeten X Club an, einem Diskussionskreis zur Verbreitung der Evolutionslehre.30 Etwa ein Jahrzehnt später hatte Darwin noch immer eine positive, allerdings nun vorsichtigere Meinung über Spencer. Er schrieb an Joseph Hooker, einen Botaniker und Naturforscher, mit dem ihn eine lebenslange Freundschaft verband (Hooker gehörte ebenfalls zum X Club), nachdem der vierte Band von Spencers Principles of Biology im Juni 1868 erschienen war: „[Das Buch] ist herrlich ideenreich und wahrscheinlich stimmt fast alles, was darin steht. … Aber [Spencer] hätte sich mehr zur Beobachtung entschließen sollen, auch wenn dies bedeutet hätte, dass er nach dem Gesetz des Ausgleichs etwas weniger Gedankenkraft entfaltet hätte, was ihn indessen zu einer hervorragenden Persönlichkeit gemacht hätte“.31 Spencers Principles of Sociology (6 Bände), die endgültige Darstellung seiner Gesellschaftslehre, erschien in den Jahren 1876 – 1896. Bereits 1873 verfasste er eine Einführung, The Study of Sociology. Bereits 1875 wurde das Buch ins Deutsche übersetzt unter dem Titel Einleitung in das Studium der Sociologie (2. Auflage 1896).32 Das Buch war äußerst erfolgreich nicht nur in Europa, sondern auch in den Vereinigten Staaten, wo es 1884 bereits in elfter Auflage erschien. The Study of Sociology reklamierte Wissenschaftlichkeit für die Soziologie. Sie solle im Interesse der kultivierten Rassen (insbesondere der Völker Europas und Amerikas) dazu beitragen, die gravierenden Störungen des gesellschaftlichen Lebens zu beheben, die drohten, wenn man die Gesetzmäßigkeiten der Natur nicht beachte. Die Soziologie müsse sich die Frage stellen und sie beantworten: „Was ist 29 Ibid., p. 87. Im Original: „I treat the subject simply as a naturalist, and not from a general point of view; otherwise, in my opinion, your argument could not have been improved on, and might have been quoted by me with great advantage.“ 30 Der X Club hatte nur neun Mitglieder, aber „all of them were unerring supporters of Darwinʼs ideas and even more importantly they were all ascending to positions of influence and power“: Michael White and John Gribbin, Darwin. A Life in Science, New York / London: Penguin Plume 1995, p. 229. 31 Zit. ibid., p. 125. Im Original: „It is wonderfully clever and I daresay mostly true. … If he had trained himself to observe more, even at the expense, by the law of balancement, of some loss of thinking power, he would have been a wonderful man.“ Zitiert wird (ohne genauere Angaben) aus Life and Letters of C. Darwin, iii, 55. 32 Herbert Spencer, Einleitung in das Studium der Sociologie. Nach der zweiten Auflage des Originals herausgegeben von Dr. Heinrich Marquardsen (2 Teilbände), Leipzig: F. A. Brockhaus 1875.
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der normale Verlauf der sozialen Evolution und wird dieser Verlauf durch eine sozialpolitische Maßnahme und ihre Auswirkungen beeinträchtigt?“33 The Study of Sociology handelte vom methodischen Vorgehen, wenn ein Soziologe sich diese Frage stellte. Spencer wollte auf die Schwierigkeiten aufmerksam machen, die zu bedenken waren, wenn man Missverständnisse vermeiden und wissenschaftliche Ergebnisse erzielen wolle. Für Spencer gab es objektive und subjektive Schwierigkeiten. Eine objektive Schwierigkeit war, dass die Tatsachen oftmals nicht offen zutage lagen, die für eine angemessene Erkenntnis notwendig waren. Bloße Beobachtung reiche nicht aus, um die Tatsachen zu kennen, die die richtigen Schlussfolgerungen erlaubten. Die subjektiven Schwierigkeiten waren, dass intellektuell und emotional die notwendigen Einsichten oft nicht plausibel waren. Zu warnen sei insbesondere vor vier Arten des Vorurteils (bias) – nämlich dem educational bias, der das Heil der Menschheit in der Schulbildung – zumal im book learning – sehe, dem class bias, der dem eigenen sozialen Stand das beste gesellschaftliche Potential bescheinige, dem political bias, der die eigene politische Meinung zur Richtschnur mache, und dem theological bias, der die kirchlichen Lehren zu einer allgemeinen Moral verkläre. Für eine wissenschaftliche Soziologie, die diese Vorurteile vermied, seien die Kausalitätsmodelle der Biologie wegweisend, die allerdings noch um die Eigenschaftskataloge der Psychologie erweitert werden müssten. Erst wenn die Soziologie diese naturwissenschaftlichen Lehren ernst nehme, könne sie eine Gegenwartswissenschaft sein. Dann könne sie auch die Weichen für die Zukunft der Menschheit stellen. Spencers Gedankenführung zeigt sich an der folgenden Textstelle: „Hätten schwächere Männer gewöhnlich mehr Nachkommen als stärkere Männer, wäre eine progressive Verschlechterung der Rasse eingetreten. Deshalb ist klar, dass die Frauen (zumindest seit die Heiraten nicht mehr durch Brautraub oder Brautkauf, sondern unter weiblicher Mitsprache zustande kommen) sich trotz ganz unterschiedlicher Vorlieben eher für die Männer mit der größeren körperlichen und geistigen Kraft entscheiden und solche Männer auch heiraten, die sie und ihre Kinder erfolgreich beschützen, weshalb sie mit größerer Wahrscheinlichkeit durch ihre Nachkommenschaft überleben. Demgegenüber haben die Frauen weniger Chancen der Arterhaltung, die sich die schwächeren Männer wählen, da ihre Kinder weniger beschützt werden und auch weniger zur Selbsterhaltung fähig sind, sofern sie überhaupt das Erwachsenenalter erreichen“.34 33 The Study of Sociology, by Herbert Spencer. Eleventh edition. London: Kegan Paul, Trench, & Co. 1884, p. 71. Im Original: „What is the normal course of social evolution, and will it be affected by this or that policy?“ 34 Ibid., p. 377. Im Original: „If the weaker men had habitually left posterity when the stronger did not, a progressive deterioration of the race would have resulted. Clearly, therefore, it has happened (at least, since the cessation of marriage by capture or by purchase has allowed feminine choice to play an important part), that, among women unlike in their tastes, those who were fascinated by power, bodily or mental, and who married men able to protect them and their children, were more likely to survive in posterity than women to whom weaker men were pleasing, and whose children were both less efficiently guarded and less capable of self-preservation if they reached maturity.“
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Zweifellos formulierte Spencer zeitgenössische Ansichten. Als Bürger des 19. Jahrhunderts war auch Darwin überzeugt, dass die psychischen Eigenschaften der Person vererbt würden und dass das gesellschaftliche Verhalten ein Ergebnis der Naturgesetze der Vererbung wäre. Darwin erklärte in seinem zweiten Hauptwerk, The Descent of Man, erschienen 1871, dass Stehlen und Lügen sowie die Geisteskrankheiten vererbt seien: „Ich habe von Fällen gehört, wo eine Neigung zum Stehlen und eine Tendenz zum Lügen in einer Familie vorkommt trotz ihrer hohen gesellschaftlichen Stellung. Da das Stehlen als kriminelles Verhalten in den wohlhabenden Schichten selten ist, dürfte es kein Zufall sein, wenn bei zwei oder drei Mitgliedern ein und derselben Familie ein solches Verhalten vorkommt. … Eine Geisteskrankheit ist jedenfalls immer vererbt“.35 Er folgerte: „Nur wenn man die Vererbung der moralischen Fähigkeiten annimmt, kann man die Unterschiede in der Zivilisation verstehen, die zwischen den verschiedenen Rassen der Menschheit herrschen“.36 Darwinismus, das Thema der Soziologie Spencers, war ab der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts in den USA das anerkannte Credo der dort entstehenden Soziologie.37 William Graham Sumner, der (bis 1909) an der Yale University lehrte38, veröffentlichte 1883 den Traktat What Social Classes Owe to Each Other, ein Plädoyer gegen die Philanthropie und eine Kritik am modernen Wohlfahrtsstaat.39 Bereits in den Kapitelüberschriften machte Sumner seine Aussage deutlich. Das Kapitel On the New Philosophy: That Poverty Is the Best Policy erläuterte, dass die Faulheit und die Unbelehrbarkeit bei den Armen als die voraussagbaren Folgen der staatlichen Armenunterstützung anzusehen wären. Das Kapitel That It Is Not Wicked To Be Rich: Nay, Even, That It Is Not Wicked To Be Richer Than Oneʼs Neighbor plädierte für einen schrankenlosen Egoismus zur weiteren Vermehrung der segensreich großen Vermögen. That We Must Have Few Men, If We Want Strong Men verteidigte die Maximen des Kampfs ums Dasein (struggle for life) und des Rechts des Stärkeren (survival of the fittest) – analog Spencer. Das Kapitel On the Value, as a Socio35 Charles Darwin, The Descent of Man, and the Selection in Relation to Sex (London: J. Murray 1871), reprinted from the 2nd, revised and augmented edition of 1877, London: Pickering 1989, p. 127. Im Original: „I have heard of authentic cases in which a desire to steal and a tendency to lie appeared to run in families of the upper ranks; and as stealing is a rare crime in the wealthy classes, we can hardly account by accidental coincidence for the tendency occurred in two or three members of the same family. … Insanity is notoriously inherited.“ 36 Ibid., p. 128. Im Original: „Except through the transmission of moral tendencies, we cannot understand the differences believed to exist in this respect between the various races of mankind.“ 37 Siehe dazu: Richard Hofstadter, Social Darwinism in American Thought (ursprünglich 1944), 2. Auflage New York: Braziller 1959. Siehe auch Roscoe Hinkle und Gisela J. Hinkle, The Development of Modern Sociology, New York: Random House 1954. 38 Dazu: Richard Hofstadter, William Graham Sumner, Social Darwinist, New England Quarterly, Vol. 14, 1941, pp. 457 – 477. 39 William Graham Sumner, What Social Classes Owe To Each Other, New York: Harper and Brothers 1883; das Buch liegt mittlerweile in fünfter Auflage vor; der elfte Nachdruck datiert aus dem Jahre 1989 (Caxton Press, Caldwell ID).
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logical Principle, of the Rule to Mind Oneʼs Own Business forderte einen schwachen Staat. Denn ansonsten würden der Egoismus und der Herrschaftstrieb des Einzelnen behindert – wobei die selbständig ihren Lebenskampf bestreitenden Individuen, die die Mehrheit der Bevölkerung bildeten, gegen die Beschränkung ihrer Handlungsspielräume durch den heutigen Staat geschützt werden müssten. Diese Mehrheit, die mit der Metapher The Forgotten Man zu bezeichnen sei, so Sumner, arbeite hart und werde durch die Unterstützungsempfänger, über den Umweg Wohlfahrtsstaat, de facto ausgebeutet. Sumner diagnostizierte eine Krise seiner Gegenwart. Die Mängel der Moderne seien letztlich offensichtlich, denn die Programme gegen die Armut und die Kampagnen für eine allgemeine Schulbildung hätten eine verheerende Wirkung. Er sprach von „sozialen Übeln“ (social ills), die eben nicht dem Wirken des Rechts des Stärkeren geschuldet wären. Sondern im Gegenteil sehe man hier die iatrogenen Auswirkungen der Ideen der sozial gesinnten Gegenwart, wozu die politische Ökonomie und die Sozialwissenschaften noch beitrügen, wenn sie gegen die soziale Ungleichheit zu Felde zögen. Sumner schimpfte über deren „Quacksalberei“ (quackery), denn die modischen Denkrichtungen schüfen erst jene social ills, die sie angeblich bekämpften. Er meinte: „Wir haben eine riesige Zahl gesellschaftlicher Übel geerbt, die nie und nimmer aus der Natur stammen. Sie sind die traurigen Ergebnisse all des Hineinpfuschens, Sich-Einmischens und Schaden-Anrichtens der vielen sozialen Helfer bis in die Gegenwart. Die Wirkungen der von ihnen unterstützten gesellschaftlichen Quacksalberei haben sich nun durch die Gewohnheit, die Mode, das Vorurteil oder das Schablonen-Denken eingebürgert. Hinzu kommt noch die neue Quacksalberei der politischen Ökonomie und der Sozialwissenschaft. Man muss dieser Tatsache ins Auge sehen“.40 Das Fazit war: Die Krise der Gegenwart entstand infolge der sozialpolitischen und sozialwissenschaftlichen Bemühungen um die Gleichheit der Bürger. In Folkways41, seinem bekanntesten Buch, widmete Sumner ein Kapitel dem Thema The Struggle for Existence, und ein anderes hieß Societal Selection. Insgesamt ließ er keinen Zweifel, dass die Selbstregulierung von Gesellschaften erfordere, das Recht des Stärkeren zu sichern. Die Auslese, die dadurch erfolge, sei das einzig wirksame Prinzip einer natürlichen Menschheitsentwicklung. Vor diesem Hintergrund behandelte er unter anderem die Themen Abortion, Infanticide, Killing the Old, Cannibalism, Kinship, Blood Revenge, Primitive Justice – um nur einige seiner Plädoyers auch für die notfalls grausamen Praktiken der Bevölkerungskontrolle in den einfachen oder alten Gesellschaften zu nennen. Schließlich wandte er sich auch gegen Education und gegen History in seiner Gegenwart. Er warnte vor dem Bildungsaberglauben (the superstition of education), und er geißelte das book 40 Ibid., p. 102. Im Original: „We have inherited a vast number of social ills which never came from Nature. They are the complicated products of all the tinkering, muddling, and blundering of social doctors in the past. These products of social quackery are now buttressed by habit, fashion, prejudice, platitudinarian thinking, and new quackery in political economy and social science. It is a fact worth noticing.“ 41 Folkways. A Study of the Sociological Importance of Usages, Manners, Customs, Mores, and Morals, by William Graham Sumner, Boston: Ginn and Company 1906.
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learning: „Die Weisheit aus Büchern richtet sich an den Intellekt, nicht an die Gefühle, aber die Gefühle sind der Ursprung der Tat“.42 Gegen die Geschichte hatte er einzuwenden, sie werde zu einem regelrechten historyism gemacht; er meinte dazu: „Geschichtswissen ist ein hohes Gut, aber das geschichtliche Nichtwissen hindert niemanden am Erfolg, wenn ein Mann unbeirrt seinen Weg geht“43 – was er sinnigerweise am Beispiel Abraham Lincolns belegen zu können meinte. Die frühe Soziologie der angelsächsischen Welt, beginnend mit Spencer und weitergeführt durch Sumner, berief sich also auf Naturgesetze der gesellschaftlichen Entwicklung. Gegen derartige Naturgesetze verstießen das moderne Schulwesen ebenso wie die Medizin und die Sozialpolitik. Diese Neuerungen der Gegenwart schmälerten das Recht des Stärkeren. Dadurch werde der Fortschritt der Menschheit gefährdet.44 Auf dem europäischen Kontinent wurde der Rassebegriff in der Soziologie zunächst durch Ludwig Gumplowicz verwendet, einen Staatsrechtler. Sein Der Rassenkampf, erschienen erstmals 1883, war kein rassistisches Werk.45 Gumplowicz beleuchtete den Fortschritt der Menschheit in Ansehung der Vielfalt menschlicher Rassen in der neuzeitlichen Staatenbildung, wobei die Vielheit zu einer Einheit geformt werde. Er suchte diese segensreiche Errungenschaft der Menschheitsgeschichte durch Verweise auf Darwin plausibel zu machen. In seinem Werk Die sociologische Staatsidee (erschienen 1892) erläuterte er: „Es ist ein allgemeines Princip des Naturwaltens, zuerst Heterogenes ins Leben zu rufen und aus dem Zusammenwirken heterogener Elemente höhere Gebilde hervorgehen zu lassen. So erinnert denn auch das Entstehen staatlicher Organisationen aus ursprünglich heterogenen socialen Elementen an jenen von Darwin zuerst beobachteten Naturvorgang, dass gewisse Pflanzen (Orchideenarten) so beschaffen sind, dass sie nur durch die Intervention gewisser Insecten (Bienen, Fliegen, Schmetterlinge) befruchtet werden können. … Man könnte die schweifenden Menschenhorden, sei es nun der Krieger oder der Schiffahrer und Händler [mit] jenen Insectenschwärmen vergleichen, denn ohne ihre Einwirkung würden die sesshaften Menschenstämme insbesondere die Wurzel- und Fruchtesser es nie zu staatlichen Organisationen bringen. 42 Ibid., p. 629. Im Original: „Book learning is addressed to the intellect, not to the feelings, but the feelings are the spring of action.“ 43 Ibid., p. 637. Im Original: „A knowledge of history is a fine accomplishment, but ignorance of it does not hinder the success of men in their own lines of industry.“ 44 Sumners Soziologie war ein wichtiger Baustein der Science of Sociology, wie sie durch Robert Park und Ernest Burgess 1921 in einer Sammlung autoritativer Texte vorgestellt wurde. Spencer und Sumner schufen die Grundlagen der Soziologie, wie sie in den zwanziger Jahren vorherrschte. Noch Pitirim Sorokin, der ab 1931 die erste Professor für Soziologie an der HarvardUniversität innehatte, bekannte sich zu den Prinzipien der Biologie in der soziologischen Theorie. Siehe dazu unten. 45 Siehe Ludwig Gumplowicz, Der Rassenkampf (ursprünglich 1883). Ausgewählte Werke, Bd. III, Innsbruck: Universitätsverlag Wagner 1928. 1885 erschien sein Grundriss der Sociologie (wobei er auf Spencer rekurrierte und Auguste Comte zugrunde legte, der den Begriff Sociologie für seine Philosophie Positive geprägt hatte). Gumplowicz, der an der Universität Graz lehrte, stand in engem Kontakt mit dem amerikanischen Soziologen Lester Ward, der ein eher skeptischer Anhänger Spencers war.
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Auch auf diesem Gebiete hat die Natur erst Heterogenes geschaffen, um durch ihr Zusammenwirken neue Gebilde, staatliche Organisationen entstehen zu lassen“.46 Andererseits war Alfred Ploetz, ein Allgemeinarzt aus Berlin, der zeitgenössisch als ein Soziologe angesehen wurde, unzweifelhaft ein Rassist. Ploetz veröffentlichte 1895 einen Traktat mit dem Titel Die Tüchtigkeit unsrer Rasse und der Schutz der Schwachen, Untertitel: Ein Versuch über Rassenhygiene und ihr Verhältniss zu den humanen Idealen besonders zum Socialismus.47 Ploetzʼ Ausgangsfrage war, ob der Sozialismus, der die Gleichheit der Menschen anstrebe, um das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl zu erreichen, und die moderne Medizin und die sozialstaatlichen Programme, die dasselbe Ziel verfolgten, eine Gefahr für die Zukunft der Kulturvölker wären. Ploetz setzte voraus, dass die Variation, die Auslese und die Vererbung die drei maßgeblichen Faktoren der Arterhaltung seien. Die drei wirkten zusammen, wenn bei der Vererbung die Variation im Sinne der Auslese geschehe. Variation war die Abweichung der Eigenschaften von Kindern gegenüber ihren Eltern – ein Vorgang, den man im Aufriss sequentieller Generationen sehen müsse. Per Kampf ums Dasein, der dem Zweck des Überlebens des Stärkeren diene, werde die sukzessiv fortschreitende Höherwertigkeit einer Rasse langfristig gewährleistet, wenn die Kinder mit den hochwertigeren Eigenschaften auch länger (über)lebten und wenn sie zudem mehr Nachkommen hätten. Ploetz: „Die Kinder haben etwas andere Eigenschaften als ihre Eltern, sie variiren. Von diesen neuen, oder anders graduirten Eigenschaften sind einige im – bewußten und unbewußten – Kampf umʼs Dasein, d. h. um die Existenz und den Nachwuchs den Trägern vortheilhaft und helfen mit dazu, dass sie erfolgreicher darin sind, mehr und kräftigere Kinder aufzubringen als diejenigen, die diese Eigenschaften nicht oder in nicht so hohem Grade haben. Auf einen Theil der Kinder werden diese Eigenschaften wieder vererbt, einige Male sogar in erhöhtem Grade; dieser Theil ist dadurch wiederum im Kampf um das Dasein begünstigt und vererbt seinerseits die Eigenschaften weiter“.48 Also: „Wir müssen diesen Erhaltungs- und Umänderungsprocess mit seinen drei Grundphaenomenen, der Variation oder Abänderung der Nachkommen, der Auslese (Zuchtwahl, Selection) der guten Variationen durch den Kampf umʼs Dasein und drittens der Vererbung der elterlichen Eigenschaften auf die nächste Generation, für unsere Zwecke … näher betrachten“.49
46 Ludwig Gumplowicz, Die sociologische Staatsidee, Graz: Verlag von Leuschner und Lubensky 1892, pp. 100 – 101. Die Stelle fährt fort: „Und diese Erkenntnis scheint, wenn auch nicht ganz klar und in Folge einseitiger Gesichtspunkte vielfach verschleiert, in früheren Jahrhunderten schon gedämmert zu haben, wie das aus den berühmten Worten des ungarischen Königs Stefan des Heiligen (964 – 1038) ersichtlich ist: ‚nam unius linguae, uniusque moris Regnum imbecille et fragile estʻ.“ 47 Alfred Ploetz, Die Tüchtigkeit unsrer Rasse und der Schutz der Schwachen. Ein Versuch über Rassenhygiene und ihr Verhältniss zu den humanen Idealen besonders zum Socialismus, Berlin: Fischer 1895. Das Buch gehörte zu einem Werk Grundlinien einer Rassen-Hygiene, dessen Teil I es sein sollte. 48 Ibid., p. 17. Die Schreibweise und die Hervorhebung entsprechen dem Original. 49 Ibid., p. 20.
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Schlüsselbegriffe waren die „Convariation“ und die „Devariation“. „Convarianten“ entstanden, wenn Eigenschaften bei der Vererbung gleich blieben (was lediglich die Arterhaltung sicherte); „Devarianten“ enthielten demgegenüber sowohl höherwertige als auch minderwertige Eigenschaften, die nun in die Generationenfolge hineinwirkten. Aufgabe sei, um ein Gleichgewicht angesichts des modernen „Schutzes der Schwachen“ sicher zu stellen, insbesondere Vorkehrungen zu treffen, dass die „Entartung“ – also die Verschlechterung der rassischen Substanz – vermieden werde. Ploetz dozierte: Im Gefolge „schlechter Devarianten durch mangelhafte sexuelle Zuchtwahl“50, etwa wenn moderne Therapien eine „natürliche Auslese der Schwachen“51 verhinderten, wobei diese „in Form von allerlei Kinderkrankheiten … in ihr Recht treten will“, könne die Auslese gefährdet sein. Er forderte rassehygienische Bewusstheit und stellte den Grundsatz auf: „Für jedes Stück des ausjätenden Kampfes umʼs Dasein, das wir durch Hygiene, durch Therapeutik, durch socialen und wirthschaftlichen Schutz der Schwachen, durch socialistische Reformen im Allgemeinen beiseite schaffen, müssen wir nothgedrungen ein Äquivalent bieten in Form von entsprechender Verbesserung der Devarianten, sonst ist eine Entartung sicher“.52 Ploetzʻ berief sich auf Darwin und auf Alfred Russel Wallace, Darwins zeitweiligen Weggefährten. Er lobte, „dass Wallace sich nicht nur des Conflicts zwischen den humanen Idealen, insbesondere dem Socialismus, und den Forderungen der Rassenhygiene deutlich bewusst ist, sondern auch, dass die Lösung, wie er sie sich denkt, völlig im Rahmen der modernen Entwickelungslehre liegt“.53 Was war die Wallaceʼsche Lösung? Ploetz: „Er glaubt, dass sich eine verbesserte sexuelle Zuchtwahl schaffen lässt, und dass sie die starke Abschwächung der natürlichen Zuchtwahl völlig ausgleichen kann“. Also: „Eine Fortpflanzungshygiene, die z. B. zu junge und zu alte, temporär kränkliche oder alkoholisierte Personen von der Zeugung abhält … u.s.w., besteht darin, von den gesammten produzirten Geschlechtszellen nur einzelne wenige, deren Tüchtigkeit wir irgendwie erschlossen oder bewirkt haben, zur Begattung auszuwählen und andere durch einfache Abscheidung zu Grunde gehen zu lassen. Die Fortpflanzungshygiene ist die Lehre von der Beeinflussung der Variation der Keimzellen und ihrer künstlichen Auslese, und unsere Lösung des Conflicts der nonselectorischen mit den rassehygienischen Forderungen ist – was den Factor der Selection anlangt – nichts weiter, als ein Verschieben der Auslese und Ausjäte von den Menschen auf die Zellen, aus denen sie hervorgehen, also eine künstliche Auslese der Keimzellen. Der Boden des Selectionsprincips ist damit nicht verlassen“.54 Zusammenfassend: Die Gesellschaftslehre des Sozialdarwinismus berief sich auf Analogien zwischen Tier und Mensch. Gesetze der Natur sollten in der Gesellschaft wirken können. Im neunzehnten (und auch zwanzigsten) Jahrhundert bestehe eine Gefahr der kulturellen Stagnation der Menschheit wegen der Fortschritte der 50 51 52 53 54
Ibid., p. 148 ff. Ibid., p. 150; dort auch die nächste Zitatstelle. Ibid., p. 229. Ibid., p. 220 (Hervorhebung weggelassen); dort auch die nächste Zitatstelle. Ibid., pp. 230 – 231.
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Medizin sowie angesichts der allgemeinen Schulbildung und durch die Sozialprogramme der Armenfürsorge. Die Kultur und also die Menschheit seien in Gefahr, wenn die Selektion nicht mehr durch den Kampf ums Dasein (struggle for existence) und das Recht des Stärkeren (survival of the fittest) gewährleistet wäre. Durch Rassenhygiene, also eine gesellschaftlich gesteuerte „sexuelle Zuchtwahl“, so dachte Ploetz in den 1890er Jahren (unter Berufung unter anderem auf Darwin), könne das Gleichgewicht zwischen „Auslese und Ausjäte“ – so seine Begriffe – (wieder) hergestellt werden. 2. DAS NEUE DENKEN DER MODERNEN SOZIOLOGIE Die moderne Soziologie entstand aus der Kritik des Berliner Philosophen Wilhelm Dilthey am Denken Spencers und der damals zeitgenössischen Soziologie überhaupt. In seinem Werk Einleitung in die Geisteswissenschaften, einem heute klassischen Buch, richtete Dilthey scharfe Angriffe gegen die Soziologie, und er wandte sich unter anderem explizit gegen Spencers Gesellschaftslehre.55 Sein Ausgangspunkt war, dass die Geisteswissenschaften – als „ein selbständiges Ganzes neben den Naturwissenschaften“56 – ein eigenes Thema bilden mussten. Als „Klassen von Einzelwissenschaften“57 waren sie entweder die „Wissenschaften von den Systemen der Kultur“ (wozu z. B. die Jurisprudenz zählte)58, oder sie waren die „Wissenschaften von der äußeren Organisation der Gesellschaft“.59 Diese letzteren, so Dilthey, hatten indessen nichts mit der Soziologie zu tun, wie sie zeitgenössisch aus dem damaligen Frankreich und England kam, also dem Denken Comtes oder Spencers entstammte. In der Soziologie (etwa bei Spencer) und ebenso in der Geschichtsphilosophie (etwa bei Karl Marx) sah Dilthey „keine wirklichen Wissenschaften“.60 Zur Begründung dienten ihm zwei Gegenargumente. Den einen gravierenden Einwand gegen die Soziologie und die Geschichtsphilosophie enthielt das Kapitel XV der Einleitung in die Geisteswissenschaften. Unter dem Titel: „Ihre Aufgabe ist unlösbar“61 warf Dilthey – unter anderem – der Soziologie Spencers vor, „den geschichtlichen Verlauf auf die Einheit einer Formel oder eines Prinzips zurückzuführen“.62 Dies sei unsinnig, denn dabei müsse die Gesamtheit des geschichtlichen Verlaufs als bekannt vorausgesetzt werden, was man keineswegs dürfe: „So, wie sie ist, quält sie sich an der Quadratur des Zirkels ab“. Das zweite Gegenargument er55 Wilhelm Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Erster Band (ursprünglich 1883), 9., unveränderte Auflage, Stuttgart: Teubner und Göttingen: Vandenhoek und Ruprecht 1990. 56 Ibid., pp. 4 ff. 57 Ibid., pp. 42 ff. 58 Ibid., pp. 49 ff. 59 Ibid., pp. 52 ff. 60 Ibid., pp. 86 ff. 61 Ibid., pp. 93 – 104. 62 Ibid., p. 95; dort auch die nächste Zitatstelle.
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läuterte Kapitel XVI: „Ihre Methoden sind falsch“.63 Am Positivismus Comtes und ebenfalls an der Wissenschaftstheorie John Stuart Millsʼ – wobei die Soziologie Spencers demselben Verdikt verfalle – erläuterte Dilthey, dass die Methoden der Naturwissenschaften für die Gesellschaftsanalyse untauglich seien. Doch würden diese Methoden bei der zeitgenössischen Soziologie eingesetzt. Keinesfalls könnten für die Erkenntnis von Geschichte und Gesellschaft – in den Geisteswissenschaften – die naturwissenschaftlichen Methoden taugen. Denn: „Diese Wissenschaften haben eine ganz andere Grundlage und Struktur als die der Natur. Ihr Objekt setzt sich aus gegebenen, nicht erschlossenen Einheiten, welche uns von innen verständlich sind, zusammen; wir wissen, verstehen hier zuerst, um allmählich zu erkennen“.64 Simmel übernahm Diltheys Kritik. Er teilte Diltheys Vorbehalte gegen die damals zeitgenössische Soziologie. Die Spencerʼschen Lehren waren problematisch, so wusste Simmel, weil Denkvoraussetzungen gemacht wurden, die dem Gegenstand nicht angemessen waren. Andererseits könne eine geisteswissenschaftliche Soziologie, die die Einwände Diltheys ernst nahm, durchaus ein sinnvolles Unterfangen sein. Simmel löste die Forderung ein, die Dilthey aufgestellt hatte. In der 1892 geschriebenen Abhandlung Die Probleme der Geschichtsphilosophie machte er sich anheischig, eine geisteswissenschaftliche Soziologie neu zu entwerfen. Er legte zunächst dar, dass eine Gesellschaftswissenschaft, die den Anforderungen Diltheys entsprach, von den Zwängen der Geschichtsphilosophie befreit werden müsse, wie sie bei Spencer den Gang der Geschichte festlege (und bei Marx das Ziel der Geschichte vorgebe). Er unterstrich, dass die Erkenntnis der geschichtlichgesellschaftlichen Zusammenhänge nicht bedeute, ein positives Wissen über die Menschheitsentwicklung bereits im Voraus zu haben. Sondern das erkennende Subjekt könne die entscheidende Instanz der historisch adäquaten Erkenntnis auch für die Wissenschaft der Gesellschaft sein. Er folgerte daraus, dass es nicht nötig war, überzeitliche oder überindividuell gültige Gesetze, die das gesellschaftliche Leben erklären sollten, zu entwickeln. Wenn man die historischen Vorgänge verstehen wolle, könne man vom Individuum her denken und dennoch zu wirklichkeitsadäquaten Aussagen gelangen. Sofern historische Gesetze bestanden, bezeichneten sie lediglich zeitlich oder örtlich begrenzte Regelmäßigkeiten: Die Wissenschaft liefere eine Erklärung für die geschichtlich-gesellschaftlichen Phänomene, wie sie die Perspektivität aller geschichtlich-gesellschaftlichen Erkenntnis zu ihrer Voraussetzung habe. Das erkennende Subjekt, der Forscher, sei stets der Angelpunkt der analytischen Perspektive. Entsprechend seinem Erkenntnisinteresse werde der Gegenstand des Denkens in einem gegebenen Zusammenhang bestimmt. Daraus ergebe sich für die aktuelle Erkenntnis, dass jeweils heuristische Konstrukte in einer Analyse verwandt würden. Diese durch das Erkenntnisinteresse gesetzten, heuristischen Konstrukte bestimmten, was die Hauptsache des Gegenstandes war, der untersucht werde. Der analytische Bezugsrahmen liege also nicht jenseits des erkennenden Subjekts. Sondern der Blickwinkel auf das geschichtlich-gesellschaftliche Gesche63 Ibid., pp. 104 – 109. 64 Ibid., p. 109.
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hen variiere entsprechend dem Erkenntnisinteresse. Dabei müsse der Forscher seine Begriffe so wählen, dass sie den bestimmten Kontext möglichst erfassten, wie er empirisch gegeben war. Es ging also nicht an, etwa die ganze Menschheitsgeschichte erfassen zu wollen. Man konnte nur eine bestimmte Wirklichkeit erfassen, und dabei mussten die Begriffe entsprechend dem Erkenntnisinteresse gewählt werden. Nur auf diese Weise konnte die Erkenntnis dem Gegenstand, der untersucht wurde, angemessen sein.65 In seinem 1894 geschriebenen Essay Das Problem der Sociologie66, einem programmatischen Text, der den neuen Ansatz erläutern sollte, entwarf Simmel die geisteswissenschaftliche Soziologie, die sich auf Dilthey berief und Spencer hinter sich ließ, in ihren ersten Umrissen. Dieses neue Denken wollte keineswegs alles Gesellschaftliche erklären. Erst recht sollte die Menschheitsgeschichte nicht zu Gesetzmäßigkeiten verdichtet werden. Simmel warnte: „Sollte Sociologie wirklich, wie man ihr zumutet, die Gesamtheit der Vorgänge in der Gesellschaft und alle Reduktion des Einzelgeschehens auf sociales enthalten, so … giebt sie jenen leeren Allgemeinheiten und Abstraktionen Raum, die das Verhängnis der Philosophie bildeten“.67 Den Ausweg wies eine „Sociologie in engerer Bedeutung“.68 Diese „specielle Gesellschaftswissenschaft“69 habe einen eigenen (begrenzten) Gegenstand – nie untersuche sie also das Ganze des Sozialen und erst recht nicht die Menschheitsgeschichte. Es ginge um „ein abstrahierungsberechtigtes Gebiet: das der Vergesellschaftung als solcher und ihrer Formen“.70 Und darüber wusste Simmel: „[D]ie Sociologie als Einzelwissenschaft … löst … das bloß gesellschaftliche Moment aus der Totalität der Menschheitsgeschichte, d. h. des Geschehens in der Gesellschaft, zu gesonderter Betrachtung aus; oder, mit etwas paradoxer Kürze ausgedrückt, sie erforscht dasjenige, was an der Gesellschaft ‚Gesellschaftʻ ist“.71 Simmel gab sich nicht damit zufrieden, gegen die Soziologie Spencers (oder Comtes), wie sie Dilthey verworfen hatte, lediglich eine neue Soziologie zu setzen, die sich geisteswissenschaftlich begründete. Ein kleiner Aufsatz aus dem Jahr 1895 bezeugt, dass Simmel darüber hinaus daran gelegen war, Spencer auf seinem eigenen Feld und mit seinen eigenen Waffen zu schlagen. Er wollte Spencers Denken grundsätzlich entwerten. Es sollte nicht etwa bloß zwei Soziologierichtungen nebeneinander geben. Sondern die eine Soziologie war wirklichkeitsadäquat, die sich nicht in widersprüchliche Setzungen verirrte, wie sie indessen bei Spencer vorlagen. Simmel musste den Evolutionismus – Spencers Soziologie ebenso wie das 65 Für eine ausführliche Analyse von Simmels Die Probleme der Geschichtsphilosophie als Schlüsseltext zur Begründung der modernen Soziologie siehe: Uta Gerhardt, Idealtypus. Zur methodologischen Begründung der modernen Soziologie, Frankfurt: Suhrkamp 2001, pp. 108 – 124. 66 Georg Simmel, Das Problem der Sociologie (ursprünglich 1894), in: Georg Simmel Gesamtausgabe (GSG), Band V, Frankfurt: Suhrkamp 1989, pp. 52 – 61. 67 Ibid., pp. 52 – 53; die Rechtschreibung entspricht dem Original, wie sie die Gesamtausgabe (GSG) widergibt. 68 Ibid., p. 53. 69 Ibid., p. 54. 70 Ibid., p. 55. 71 Ibid., p. 57.
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darwinistische Denken der natürlichen Selektion – durch einen überzeugenden Gedankengang widerlegen, um den Gültigkeitsanspruch der neuen Denkrichtung zu erweisen. Der Aufsatz Ueber eine Beziehung der Selectionslehre zur Erkenntnistheorie, veröffentlicht im Archiv für systematische Philosophie72, richtete sich gegen das Kernstück der evolutionistischen Gesellschaftsauffassung. Simmel wandte sich gegen die These von der Verbesserung der Kultur durch den Kampf ums Dasein. Der Aufsatz begann: „Es ist längst die Vermutung ausgesprochen, daß das menschliche Erkennen aus praktischen Notwendigkeiten der Lebenserhaltung und Lebensfürsorge entsprungen sei“.73 So werde behauptet, die Nützlichkeit eines Erkennens (oder Denkens) richte sich nach den menschheitsgeschichtlichen Gesetzen, die unabhängig von den Individuen existierten. Entsprechend solchen Gesetzen werde das individuelle Handeln entweder als nützlich bewertet oder als unangepasst verworfen. Dabei werde eine doppelte Konstitution der Welt angenommen. Auf der einen Seite solle die gesetzlich ablaufende Menschheitsgeschichte und auf der anderen Seite das Bewusstsein der Individuen stehen. Der Grundgedanke sei, dass die Menschheitsgeschichte vorrangig sei, da die Menschheitsgesetze den Nutzen bestimmten, den das Erkennen (Denken) des Individuums habe. Aber man müsse sehen: „Wenn wir uns durch Kant schon darüber klar waren, daß die richtige Erkenntnis der Dinge nicht durch ihre direkte Abspiegelung im Geiste zustande kommt; daß also die Wahrheit, auch in ihrer Vollendung, ihr Kriterium nicht an dem metaphysischen Parallelismus mit einer absoluten Objectivität findet; so ist die Frage: welches ist nun ihr Kriterium, was bewirkt es, dass von allen Vorstellungen überhaupt einige wahr, andere falsch genannt werden?“74 Die Auffassung, in der Natur – zumal der tierischen Natur – stecke die Erklärung des Menschlichen, sei seit Immanuel Kant nicht mehr aufrecht zu erhalten. Allemal seien die Tiere kein Muster für die Vorgänge im Menschen, denn das Tier habe eine weitgehend andere Sinneswelt als der Mensch: „Wir haben also einerseits theoretische Vorstellungen, von denen wir wissen, dass sie nicht die reine Objectivität der Dinge, sondern nur ein subjectives Phänomen ihrer geben – und setzen uns andrerseits auf Grund solcher Vorstellungen in ein praktisches, nicht – oder wenigstens nicht in demselben Sinne – phänomenales Verhältnis zur Welt“.75 Und so sei die „hier vorgetragene Ansicht“76, daß die Nützlichkeit von Handlungen, wobei einige sich „der Erhaltung der Gattung günstig, andere ungünstig gezeigt haben“, nicht etwa in einer äußeren, gegebenen Natur zu suchen sei, sondern der Grund liege in den „Vorstellungswelten“. Unter den „Vorstellungswelten“ seien allerdings diejenigen, die der Gattung günstig seien, „mit dem Prädicat Wahr ausgestattet worden“, wozu zu sagen sei, dass dieses Prädikat „demnach gar keine selbständige theoretische Qualität der Vorstellungen, sondern eine solche bedeutet, die eine praktisch-förderliche Folge derselben anzeigt“. Mit anderen Worten: Das entscheidende Movens der Weltge72 Simmel, Ueber eine Beziehung der Selectionslehre zur Erkenntnistheorie (ursprünglich 1895), in: GSG V, pp. 62 – 74. 73 Ibid., p. 62. 74 Ibid., p. 67. 75 Ibid., p. 70. 76 Ibid., p. 71; dort alle weiteren Zitate dieses Absatzes.
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schichte, so Simmel gegen Spencer, sei die Bewusstseinstätigkeit der Subjekte. Ob ein Denken oder ein daraus entstehendes Tun, so Simmel weiter, überhaupt einen Nutzen habe, hinge von den Standards der Nützlichkeit ab, die in einer Gesellschaft gelten und von den Individuen verinnerlicht werden. Das heißt: Simmel postulierte, dass der Nutzen – auch der Nutzen für die Umwelt oder ein Nutzen für die Menschheit – durch die Sinnstrukturen zustande kommt, die in einer Gesellschaft herrschen. Diese Sinnstrukturen wirken im Bewusstsein der Individuen. Sie sind nicht von außen oktroyiert. Um sicher zu gehen, dass seine These richtig verstanden wurde, fügte er noch hinzu: „Diese Theorie ist durchaus nicht gleichbedeutend mit der verwandt erscheinenden: der Einsichtige, meist logisch Denkende habe im Kampf ums Dasein einen Vorzug vor seinen Mitbewerbern, diese Eigenschaft werde dadurch zu einem Grunde der natürlichen Auslese und steigere sich so lange, bis sie in möglichster Intensität sich über die ganze Gattung verbreitet habe“. Max Weber berief sich nicht auf Simmel, als er etwa ein Jahrzehnt später in seinem programmatischen Aufsatz für die Neue Folge des unter neuer Herausgeberschaft erscheinenden Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik darlegte, was die Sozialwissenschaft methodologisch kennzeichne. Weber schloss dennoch an Simmels Überlegungen der 1890er Jahre an. Er legte einen eigenen Grundstein der modernen Soziologie in seiner Abhandlung Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis.77 Dort stellte er fest, dass die „Objektivität“ und die „Wertfreiheit“ für die Sozialwissenschaften (auch für die Soziologie) zentral sein müssen. „Objektivität“ bedeute, dass die Begriffe, die der Sozialwissenschaftler (Soziologe) verwende, heuristische Konstrukte seien. Begriffe seien also Setzungen, die der Erforschung der Wirklichkeit entsprechend einem aktuellen Erkenntnisinteresse des Forschers dienen. Weber prägte für derartige Begriffe den Ausdruck Idealtypus: Sie entwerfen, wie er erläuterte, „ein Gedankenbild“78 zur vergleichenden empirischen Analyse der geschichtlich-gesellschaftlichen Prozesse und Erscheinungen. „Wertfreiheit“ bedeute, dass strikt zwischen der Parteinahme für ein Weltbild und der wissenschaftlichen Analyse zu unterscheiden sei. Auf der einen Seite stünden die persönlichen politischen oder weltanschaulichen (gegebenenfalls gar radikalen) Überzeugungen eines Forschers: Dieser mochte sich als Bürger politisch betätigen, dürfe seine Weltsicht aber nicht in seine Begriffe einfließen lassen, so dass etwa der Sozialismus oder der Syndikalismus vom Katheder herunter (oder als wissenschaftliches Credo in etwaigen Veröffentlichungen) verkündet würden. Auf der anderen Seite, getrennt davon, stünden die Begriffe, die der Wissenschaftler zur Analyse der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit verwende. Diese Begriffe müssten intersubjektiv nachvollziehbar sein und dürften sich nur aus den Diskursen der Wis-
77 Max Weber, Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis (ursprünglich 1904), in: Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Dritte Auflage, herausgegeben von Johannes Winckelmann, Tübingen: J. C. B. Mohr 1968, pp. 146 – 214. 78 Ibid., p. 191. Die Geschichte des Idealtypus-Gedankens von Simmel über Weber bis hin zu Alfred Schütz (und Talcott Parsons) wird dargestellt in: Uta Gerhardt, Idealtypus. Zur methodologischen Begründung der modernen Soziologie (wie Anm. 65).
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senschaft begründen. Keinesfalls dürften die zwei Seiten miteinander vermischt werden!79 Weber stellte diese Anforderungen an jegliche Sozialwissenschaft. Das hieß auch: Sofern die zeitgenössische Forschung, die den Rassenbegriff verwendete, seriöse Ergebnisse vorweisen könne, solle sie durchaus im Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik berücksichtigt werden können. Er klärte: „[D]er Glaube [ist] weit verbreitet, dass ‚in letzter Linieʻ alles historische Geschehen Ausfluss des Spiels angeborener ‚Rassenqualitätenʻ gegeneinander sei. An die Stelle der kritiklosen bloßen Beschreibung von ‚Volkscharakterenʻ trat die noch kritiklosere Aufstellung von eigenen ‚Gesellschaftstheorienʻ auf ‚naturwissenschaftlicherʻ Grundlage. Wir werden in unserer Zeitschrift die Entwicklung der anthropologischen Forschung, soweit sie für unsere Gesichtspunkte Bedeutung gewinnt, sorgsam verfolgen“.80 Und er fuhr fort: „Es steht zu hoffen, dass der Zustand, in welchem die kausale Zurückführung von Kulturvorgängen auf die ‚Rasseʻ lediglich unser Nichtwissen dokumentierte – ähnlich wie etwa die Bezugnahme auf das ‚Milieuʻ oder, früher, auf die ‚Zeitumständeʻ – , allmählich durch methodisch geschulte Arbeit überwunden wird. Wenn etwas dieser Forschung bisher geschadet hat, so ist es die Vorstellung eifriger Dilettanten, dass sie für die Erkenntnis der Kultur etwas spezifisch Anderes und Erheblicheres leisten könnte, als die Erweiterung der Möglichkeit sicherer Zurechnung einzelner konkreter Kulturvorgänge der historischen Wirklichkeit zu konkreten historisch gegebenen Ursachen durch Gewinnung exakten, unter spezifischen Gesichtspunkten erhobenen Beobachtungsmaterials. Ausschließlich soweit sie uns dies zu bieten vermögen, haben ihre Ergebnisse für uns Interesse und qualifizieren sie die ‚Rassenbiologieʻ als etwas mehr als ein Produkt des modernen wissenschaftlichen Gründungsfiebers“.81 Damit wurde allerdings der Sozialdarwinismus, wie er zeitgenössisch en vogue war, zum Dilettantismus. Anlässlich des Ersten Deutschen Soziologentages ließ Weber, der dem Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Soziologie angehörte, eine Einladung an Alfred Plötz aussprechen, zum Thema „Gesellschaft und Rasse“ ei-
79 Webers autoritatives Plädoyer für „Wertfreiheit“ entstand zunächst als Gutachten für den Verein für Sozialpolitik im Jahr 1913 und wurde wenige Jahre später – noch einmal überarbeitet – im Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik veröffentlicht. Dass die „Wertfreiheit“ für den akademischen Lehrer bedeute, seinen Studenten keine Weltanschauung vom Katheder zu verkünden (so dass sie sich ihre Meinung über die Gegenwart selber bilden mussten), betonte Weber in seinem Vortrag „Wissenschaft als Beruf“, den er vor Münchner Studenten hielt. Siehe: Weber, Der Sinn der „Wertfreiheit“ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften (ursprünglich 1917), in: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 3. Auflage 1968, pp. 489 – 540 sowie: Wissenschaft als Beruf (Vortrag. 1919), in: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, pp. 582 – 613. Der Vortrag wurde (obwohl Johannes Winckelmann als Herausgeber den Hinweis auf das Jahr 1919 anbrachte) im November 1917 gehalten. 80 Weber, Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, p. 167. 81 Ibid., pp. 167 – 168.
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nen Vortrag zu halten.82 Plötz sprach am zweiten Verhandlungstag über Die Begriffe Rasse und Gesellschaft und einige damit zusammenhängende Probleme.83 Die Rede begann mit einem Seitenhieb auf die Nächstenliebe. Deren jahrhundertealte negative Auswirkung auf die Qualität der Rasse dürfe nicht länger undiskutiert bleiben, so Plötz. Spencer, Darwin, der Naturforscher Ernst Haeckel sowie Friedrich Nietzsche hätten „Befürchtungen über die schließlichen schädlichen Folgen einer fortgesetzten erhöhten Erhaltungsmöglichkeit schwach beanlagter Individuen“ geäußert. Sie plädierten auch, so Plötz, für „Beibehaltung der natürlichen Ausmerzung der Untauglichen als notwendig … für die Erhaltung der durchschnittlichen Höhe der menschlichen Anlagen“.84 Bei Rasse sei zwischen „Systemrasse“ und „Vitalrasse“ zu unterscheiden. Letztere müsse der zentrale Untersuchungsgegenstand sein, wenn es darum gehe, durch die Verbesserung (auch) der moralischen und der geistigen Fähigkeiten – angesichts der modernen Medizin, Armenfürsorge etc. – nunmehr durch die bewusste Steuerung der Vorgänge sicherzustellen, was ansonsten die Natur – durch Absterben der Schwachen – gewährleiste.85 Gesellschaft kam ins Spiel, weil die Individuen, so Plötz, durch gemeinsame Produktion höheren Nutzen als jeweils die Einzelnen schüfen. Die Vorteile reichten von „Energieersparung“ über Beutesicherung und Schutz vor Feinden bis hin zur industriellen Produktion mit Arbeitsteilung bei gleichzeitiger Zeitersparnis.86 Plötz: „Der gesellschaftliche Zusammenhang, der Austausch von Hilfen, hat also für die Individuen die allgemeine Folge, daß dadurch ihr Aktions- und Reaktionsverhältnis zur Umgebung und deshalb ihre Erhaltung günstiger gestaltet wird, er unterstützt sie im Kampf ums Dasein. … Da andererseits aber auch die Gesellschaft, besonders die dauernder und straffer organisierte, durch die lebenswichtige Abhängigkeit ihrer Individuen voneinander den partiellen oder vollen Charakter einer Kampfeinheit erlangen kann, deren gesellschaftliche Struktur und rassenhafte Zusammensetzung einen Einfluß auf Sieg oder Unterliegen ihrer Mitglieder hat, so hat die Gesellschaft durch ihren Einfluß auf die Auslese auch einen bestimmenden Einfluß auf die Rasse selbst, 82 Der Name wurde auf dem Deckblatt der Verhandlungen des Ersten Deutschen Soziologentages vom 19. – 22. Oktober 1910 in Frankfurt a. M. – Reden und Vorträge – als Alfred Ploetz, aber im Inhaltsverzeichnis Alfred Plötz geschrieben. Im Text wurde in der Überschrift Plötz und für die Diskussion Ploetz verwendet. Im folgenden gilt die Schreibweise Plötz (außer in Zitatstellen). 83 Die Begriffe Rasse und Gesellschaft und einige damit zusammenhängende Probleme. Vortrag von Dr. Alfred Plötz, München, in: Verhandlungen des Ersten Deutschen Soziologentages vom 19. – 22. Oktober 1910 in Frankfurt a. M. Reden und Vorträge, Tübingen: Verlag von J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1911, pp. 111 – 136. 84 Ibid., p. 113. 85 „Aus der wohlverstandenen und gründlich erforschten Rassenhygiene fließen deshalb die letzten unabweisbaren außerindividuellen Normen für alles menschliche Handeln. Alle Bedingungen, unter denen das Individuum erzeugt, ernährt, aufgezogen wird, unter denen es arbeitet, ruht und seine Muße genießt, unter denen es kulturell, wirtschaftlich und politisch steht, beeinflussen schließlich seine Konstitution und sein Keimplasma. Mit diesem aber stehen die Konstitution und die Leistungen der Rasse im engen Zusammenhang“. (p. 122) 86 Ibid., p. 126.
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und zwar nicht nur bei Symbiosen, sondern auch bei Gesellschaften innerhalb derselben Rasse“.87 Er proklamierte als Wissenschaft eine Gesellschaftsbiologie88, die drei Zweige umfasse: Erstens brauche man eine „Physiologie der Gesellschaft“, die die empirisch-historischen Gesellschaften „im Erhaltungszustande“ untersuche, zweitens eine „Pathologie der Gesellschaft“, die über „in der Erhaltung gestörte oder verfallende Gesellschaften“ handele, und drittens eine „Gesellschaftshygiene“, die die „optimale Erhaltung der gesellschaftlichen Bildungen“ zu ihrer Aufgabe mache. Plötz: „Die Gesellschaftsbiologie und ihre Zweige greifen dadurch nicht nur in die allgemeine Soziologie ein, sondern auch in die Nationalökonomie, die Politik, die Ethik, die Rechtswissenschaft, die Geschichte usw.“89 In seiner Zusammenfassung verwies Plötz noch einmal darauf, dass Rasse und Gesellschaft nicht notwendigerweise komplementär seien. Sie könnten einander entsprechen, aber sie könnten auch im Widerspruch zueinander stehen. Da die „Auslese unter den Individuen einer Rasse“ durch Züchtung beeinflusst werde, so Plötz, „greift also die Gesellschaft ein in den inneren und äußeren Kampf ums Dasein der Rasse und damit in die Richtung der Entwicklung“.90 Er forderte deshalb „eine Förderung der sozialen Organanlagen“.91 Dadurch solle der „Einschränkung der natürlichen Ausmerzung durch den Kampf ums Dasein“ entgegen gewirkt werden. Denn der „immer wirksamere Schutz der Schwachen, ermöglicht durch die Ausbildung der Individualhygiene“, müsse durch Gegenmaßnahmen ausgeglichen werden – wie es bereits Spencer, Darwin, Häckel gefordert hätten und was, so Plötz, „andere wie Nietzsche zu rascher Verwerfung der Mitleidsmoral und rückhaltloser Verkündigung einer Herrenmoral veranlasste“. In der anschließenden Diskussion sprach zunächst ein Arzt, Dr. Sommer aus Gießen.92 Er forderte einen „ethischen Kern der Soziologie“.93 So könnten die besten angeborenen Anlagen sich frei im Sinne einer „natürlichen Aristokratie“ entfalten, wofür er Beifall erhielt, wie im Protokoll vermerkt wurde. Der zweite Diskussionsredner war Rudolf Goldscheid aus Wien.94 Er gab zu bedenken, dass der Ausleseprozess anders verlaufe als Darwin oder Plötz schilderten. Man müsse zwischen „selektorischer und nonselektorischer Selektion“95 unter87 Ibid., p. 127. 88 Ibid., p. 131. 89 Ibid., pp. 131 – 132. Er konkretisierte, dass eine solche Gesellschaftshygiene etwas anderes sei als die soziale oder öffentliche Hygiene, obwohl beide wiederum gegen die individuelle Hygiene abzugrenzen seien. Individualhygiene sei es, wenn jemand „radelt zur Erhaltung seiner Gesundheit“. Gesellschaftshygiene könne privat sein, etwa wenn ein junger Mann Sport treibe, „um zum Heeresdienst tauglich zu werden“. Aber soziale Rassenhygiene sei davon abzugrenzen, denn sie beinhalte etwa ein „staatliches Verbot zu früher Heiraten“. Schließlich sei die öffentliche Gesellschaftshygiene eine „staatliche Pflege sozialer Tugenden in der Schule und im Heer.“ (p. 132) 90 Ibid., p. 133. Der ganze Satz ist im Original gesperrt gedruckt. 91 Ibid., p. 135; dort auch die nächsten drei Zitatstellen. 92 Debatte, Professor Sommer – Gießen, ibid., pp. 137 – 140. 93 Ibid., p. 140. 94 Debatte, Rudolf Goldscheid (Wien), pp. 141 – 143. 95 Ibid., p. 142; dort auch die nächsten zwei Zitatstellen.
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scheiden. Aber andererseits müsse man auch bedenken, dass sogar bei der Verdrängung (statt Eliminierung) der Schwachen, also durch ihre Deklassierung auf „einen tieferen Existenzmodus“, nichts gewonnen wäre, um den negativen Selektionseffekt zu neutralisieren, der von ihnen ausginge, denn „von diesem tieferen Existenzmodus aus vergiften sie die höheren Schichten“. Als weiterer Diskussionsredner sprach Leopold von Wiese.96 Er mahnte an, der Gesellschaftsbegriff bei Simmel sei anders als bei Plötz gefasst. Allerdings schlug er vor, die beiden „Gedankenrichtungen“ miteinander zu verbinden – nämlich „auf der einen Seite die geisteswissenschaftlich-ethische Richtung und auf der anderen Seite die biologische. … Dann können wir vorankommen, glaube ich“.97 Dann kam Ferdinand Tönnies.98 Er monierte, es sei keineswegs geklärt, ob „die Schwachen im gesellschaftlichen Sinne“99 überhaupt wiederum die „im Sinne der Rasse Schwachen“ seien, die den Fortschritt der Kultur behinderten. Er gab zu bedenken: „Die Erhaltung von Krüppeln kann geradezu, auch nachweislich in der Folge von Generationen, von höchstem Werte sein. Bedenken Sie, dass ein Mann wie Moses Mendelssohn ein verwachsener Krüppel war; sein Enkel war Mendelssohn-Bartholdy, der Komponist; in seiner Familie sind heute noch geistig tüchtige Leute vertreten“.100 Als letzter Diskussionsredner sprach Max Weber.101 Seine Stegreifrede, die mehrmals durch Plötz unterbrochen wurde, hatte drei Teile. Zunächst monierte er Plötzʻ Behauptung, der Wohlfahrtsstaat sei mit Nächstenliebe gleichzusetzen beziehungsweise die Nächstenliebe sei eine Gefahr für die Zukunft der Menschheit. Weber: „Ich erinnere daran, daß der Calvinismus Armut und Arbeitslosigkeit ein für allemal als selbstverschuldet oder als eine Folge von Gottes unerforschlichem Ratschluß ansah und demgemäß behandelte, also die ‚Schwachenʻ von der Fortpflanzung in starkem Maße ausschloß, daß auf dem Boden dieser Religion jedenfalls keine Stätte war für Nächstenliebe in dem Sinne, wie sie Herr Dr. Ploetz von seinem Standpunkt aus bedenklich finden könnte, und ich bezweifle ferner, ob die moderne Entwicklung im großen und ganzen einen Weg gegangen ist, der ein Ueberhandnehmen grade der Menschenliebe innerhalb unserer Gesellschaft zu einer dringlichen Gefahr werden ließe“ – woraufhin das Protokoll „Heiterkeit“ verzeichnete.102 Webers zweiter Punkt: Plötz behaupte, eine Kultur wie das klassische Rom des Altertums sei wegen rassischer Degeneration zerfallen. Aber man müsse stattdessen die politischen und die wirtschaftlichen Strukturen berücksichtigen, was bestens erforscht sei. Nur diese letztere Erklärung könne gelten, „und es widerstreitet wissenschaftlicher Methodik, wo wir bekannte und zugängliche Gründe haben, diese zu Gunsten einer heute und für immer unkontrollierbaren Hypothese bei Seite zu schie-
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Debatte, Professor von Wiese (Hannover), pp. 145 – 146. Ibid., p. 146. Debatte, Professor Dr. Tönnies, pp. 148 – 150. Ibid., p. 149. Ibid., pp. 149 – 150; Schreibweise wie im Original. Debatte: Professor Max Weber-Heidelberg, pp. 151 – 157. Ibid., pp. 151 – 152.
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ben“.103 Zudem müsse man bezweifeln, ob überhaupt Erbqualitäten für intellektuelle bzw. Kulturleistungen verantwortlich seien. Denn mehrere Rassen mochten in einer Person vereint sein, was er mit Blick auf sich selbst folgendermaßen ansprach: „Ich bin teils Franzose, teils Deutscher, und als Franzose sicher irgendwie keltisch infiziert. Welche dieser Rassen – denn man hat auf die Kelten die Bezeichnung ‚Rasseʻ angewendet – blüht denn nun in mir, resp. muss blühen, wenn die gesellschaftlichen Zustände in Deutschland blühen, resp. blühen sollen?“104 Plötzʻ Ansatz, so Weber, sei vorwissenschaftlich: „Man mag die Gesellschaft einrichten, wie man will, die Auslese steht nicht still und wir können nur die Frage stellen: welche Erbqualitäten sind es, die unter der Gesellschaftsordnung X oder Y jene Chancen bieten. Das scheint mir eine rein empirische Fragestellung, die akzeptabel ist für uns. Und ebenso die umgekehrte: welche Erbqualitäten sind die Voraussetzung dafür, dass eine Gesellschaftsordnung bestimmter Art möglich ist oder wird. Auch das läßt sich sinnvoll fragen und auf die existierenden Menschenrassen anwenden. Nimmt man aber diese Formulierungen, so sieht man sofort, daß dafür mit einem Begriff von Rasse, so wie Herr Dr. Ploetz ihn formuliert hat – wie ich wenigstens vorläufig glaube: ich überzeuge mich gerne des Gegenteils – nichts anzufangen ist. Denn sein Rassenbegriff scheint mir ein bei weitem nicht hinlänglich differenzierter Begriff …“.105 Zum Beleg verwies er auf „die gegenseitige soziale Lage der Weißen und Neger in Nordamerika“.106 In den USA, so Weber, sei das Vorurteil stark verbreitet, dass es Rassequalitäten gebe, gar „Rasseninstinkte“, und er höhnte: „Meine Herren, man hat ja z. B. behauptet, und behauptet noch und auch in der Zeitschrift des Herrn Dr. Ploetz ist es von sehr angesehenen Herren behauptet worden, der Gegensatz zwischen Weißen und Negern dort beruhe auf ‚Rasseninstinktenʻ. Ich bitte mir diese Instinkte und ihre Inhalte nachzuweisen. Sie sollen sich unter andrem darin offenbaren, dass die Weißen die Neger ‚nicht riechenʻ können. Ich kann mich auf meine eigene Nase berufen; ich habe bei engster Berührung gar nichts Derartiges wahrgenommen. Ich habe den Eindruck gehabt, dass der Neger, wenn er ungewaschen ist, genau so riecht wie der Weiße, und umgekehrt. … Der Negergeruch ist, soviel ich bisher sehe, eine Erfindung der Nordstaaten, um ihre neuerliche Abschwenkung von den Negern zu erklären. … Irgend ein Beweis dafür aber, dass die spezifische Art der dortigen Rassenbeziehungen auf angeborenen und vererbten Instinkten beruht, ist bisher nicht zuverlässig erbracht, obwohl ich jeden Augenblick zugeben will, dass der Beweis vielleicht einmal erbracht werden könnte. Aber vorerst fällt auf, dass diese ‚Instinkteʻ verschiedenen Rassen gegenüber ganz verschieden funktionieren, und zwar aus Gründen, die durchaus nichts mit Rassenerhaltungs-Erfordernissen zu tun haben. … Es ist die alte feudale Verachtung der Arbeit, also ein soziales Moment, das hier mitspielt“.107
103 104 105 106 107
Ibid., p. 152. Ibid., p. 153. Ibid., pp. 153 – 154. Ibid., p. 154. Ibid., pp. 154 – 155
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Webers dritter Punkt war, wie er in seinen „ganz wenigen Schlussbemerkungen“108 selbstbewusst festhielt, dass eine empirisch adäquate Begriffsbildung in der Soziologie unbedingt erforderlich sei. Er skizzierte, wie eine solche Begriffsbildung aussah, um die methodologischen Erfordernisse, die erst das wissenschaftliche Denken kennzeichneten, zu benennen: „Wir haben die Möglichkeit, rationales Handeln der einzelnen menschlichen Individuen geistig nacherlebend zu verstehen. Wenn wir eine menschliche Vergesellschaftung, welcher Art immer, nur nach der Art begreifen wollten, wie man eine Tiervergesellschaftung untersucht, so würden wir auf Erkenntnismittel verzichten, die wir nun einmal beim Menschen haben und bei den Tiergesellschaften nicht. Dies und nichts anderes ist der Grund dafür, weshalb wir für unsere Zwecke im allgemeinen keinen Nutzen darin erblicken, diese ganz fraglos vorhandene Analogie zwischen dem Bienenstaat und irgendwelcher menschlichen, staatlichen Gesellschaft zur Grundlage irgendwelcher Betrachtungen zu machen“. Das Protokoll verzeichnete an dieser Stelle den Zuruf „Sehr richtig!“ aus dem Publikum. Weber fügte noch den Hinweis hinzu, „dass die Einzelwissenschaften ihren Zweck verfehlen, wenn jede von ihnen nicht das Spezifische leistet, was sie und grade nur sie leisten kann und soll“.109 Jedenfalls wünsche er der „biologischen Betrachtung gesellschaftlicher Erscheinungen“, dass sie hoffentlich ihrer Aufgabe, nämlich eine spezielle Einzelwissenschaft sein zu sollen, überhaupt gewachsen sei. Plötzʼ Schlusswort wurde durch die Einwürfe und Zurufe der Diskussionsredner immer wieder unterbrochen.110 Die Debatte machte noch einmal deutlich, wie verbreitet das Rassetheorem bei den Soziologen der vorigen Jahrhundertwende war. Nur Weber – Simmel beteiligte sich nicht an der Aussprache111 – vertrat den Standpunkt der modernen Soziologie (Sozialwissenschaft). Etwa entspann sich das folgende Hin und Her zwischen Tönnies, Goldscheid und Plötz, wie der Tagungsband widergibt: „Professor Dr. Tönnies: Ich frage: War Moses Mendelssohn eine Variante? Dr. Goldscheid: Wäre die Gesellschaft besser daran, wenn Moses Mendelssohn ausgelesen worden wäre? Dr. Ploetz: Nein, das müssen wir nicht fragen. Wir 108 109 110 111
Ibid., p. 155; dort auch die nächste Zitatstelle. Ibid., p. 157; dort auch die nächste Zitatstelle. Debatte: Schlusswort Dr. Ploetz, pp. 157 – 165. Simmel hatte sich von der Soziologie abgewandt, nachdem sein 1908 erschienenes zweites Hauptwerk Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung allenthalben auf Kritik und Unverständnis gestoßen war und ihm der zweite Lehrstuhl für Philosophie an der Universität Heidelberg, auf den er gehofft hatte und für den er dem Ministerium vorgeschlagen war, ebenfalls im Jahr 1908 versagt blieb. Im Jahr 1910 arbeitete er fast ausschließlich nur noch an philosophischen Themen. Sein Buch Gegenwartsprobleme der Philosophie, das 1910 erschien, erlebte in demselben Jahr drei Auflagen. Dennoch stand Simmel noch immer für den Ansatz der methodologisch begründeten Geisteswissenschaft. Er hatte nichts von der Grundlegung der Soziologie als einer geisteswissenschaftlichen Einzeldisziplin zurückgenommen. Diese Konzeption hatte er in den 1890er Jahren erstmals erarbeitet und in zahlreichen Abhandlungen zwischen 1896 und 1908 analytisch umgesetzt. Anlässlich des Ersten Soziologentages hielt er (am Vorabend des zweitägigen Tagungsprogramms) einen Vortrag über Geselligkeit und erfüllte ansonsten seine Funktion als Sitzungsleiter, die ihm als Mitglied des Vorstandes der DGS übertragen wurde.
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müssen höchstens so fragen: gehen aus einer Rasse mit einem erhöhten Anlagezustand weniger wahrscheinlich größere Köpfe hervor als aus einer Rasse, die weniger gute Anlagen hat, die nur etwas tiefer steht?“112 Plötz hielt Weber und auch von Wiese vor, dass „mein Wort Rasse gar nicht in Ihrem Sinn gemeint ist“.113 Weber und Plötz lieferten sich drei Rededuelle während des protokollierten Schlusswortes. Auf Plötzʻ Einlassung, die Abneigung gegen die Farbigen in den USA liege nicht nur an deren Geruch, sondern auch an ihren mangelnden Fähigkeiten, konterte Weber, Farbige seien eklatant von den Bildungsmöglichkeiten ausgeschlossen, und zwar wegen des Protests der weißen Studenten gegen ihre farbigen Kommilitonen. Plötz konterte, er müsse die Hochschüler, die sich gegen Neger wehrten, verteidigen; außerdem schlössen auch andere Institutionen der USA die Farbigen aus: „Es ist wegen der Minderwertigkeit in intellektueller und moralischer Beziehung“.114 Weber daraufhin: „Nichts dergleichen ist erwiesen. Ich möchte konstatieren, daß der bedeutendste soziologische Gelehrte, der in den amerikanischen Südstaaten überhaupt existiert, mit dem sich kein Weißer messen kann, ein Farbiger ist – Burghardt Du Bois“. Und er fügte hinzu: Hätte ein Südstaatler an dem Frühstück der Webers mit du Bois anläßlich der Weltausstellung in St. Louis 1904 teilgenommen, „der hätte ihn natürlich intellektuell und moralisch minderwertig gefunden: wir fanden, daß er sich betrug wie irgend ein Gentleman“. Die Kontroverse zwischen Plötz und Weber anlässlich des Ersten Deutschen Soziologentages spiegelt die zwei konträren Richtungen des Denkens der Zeit der vorigen Jahrhundertwende. Auf der einen Seite stand die Auffassung, dass Rasse, Nation, Staat oder Volk als Entitäten zu betrachten seien. Deren Entwicklungsgesetze sollten den Fortschritt der Menschheit bestimmen. Die Evolution müsse durch die Beachtung der Naturgesetze der Rasse, Nation etc. gewahrt werden, um die Entartung oder den Verfall der Kultur zu verhindern. Auf der anderen Seite stand die Konzeption der „Objektivität“ und der „Wertfreiheit“. Es mussten empirisch adäquate Begriffe gebildet werden, um die Erklärung der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu leisten. Demgegenüber waren Analysen, die ihre Begriffe unter dem Gesichtswinkel einer bestimmten Gesellschaftspolitik oder im Blick auf die Zukunft wählten, wissenschaftlich unbrauchbar. Webers Warnung gegen das vorwissenschaftliche Denken – in seiner Stegreifrede gegen Plötzʼ Rassenhygiene und Gesellschaftsbiologie – verhallte weithin ungehört. In den Jahren zwischen 1909 und seinem vorzeitigen Tod 1920 arbeitete er an den Abhandlungen, die die Brauchbarkeit des idealtypischen Ansatzes für das soziologische Gesellschaftsverständnis unter Beweis stellten. Seine umfangreichen Abhandlungen über Herrschaft, Wirtschaft, Religion und Recht wurden posthum zu seinem Hauptwerk Wirtschaft und Gesellschaft zusammengefügt.115 Aber diese Ab112 113 114 115
Verhandlungen des Ersten Deutschen Soziologentages, pp. 160 – 161. Ibid., p. 159. Ibid., p. 164; dort auch die nächsten zwei Zitatstellen Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der Sozialoekonomik, herausgegeben von Marianne Weber, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1922. Siehe dazu: Johannes Winckelmann, Max Webers nachgelassenes Hauptwerk. Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Entstehung und gedanklicher Aufbau, Tübingen: Mohr 1986.
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handlungen, die vorbildlich zeigten, wie eine Analyse aussah, die mit idealtypischen Begriffen arbeitete, wurden zeitgenössisch nicht als Vorreiter der methodologisch begründeten Soziologie rezipiert. Weber zeigte, wie die geschichtliche Entwicklung von Herrschaftsformen, Religion, Recht etc. an den „reinen“ Grundformen – den Idealtypen – gemessen werden konnte, so dass eine systematische und doch empirisch nachvollziehbare Analyse entstand. Aber seine Erkenntnisse wirkten nicht schulenbildend. Den Abhandlungen, die (später) die Kapitel von Wirtschaft und Gesellschaft wurden, war ein Aufriss der methodischen Grundlagen vorangestellt. Hier wurde der Begründungszusammenhang verdeutlicht, in dem die Bildung der idealtypischen Begriffe stand. Der Eingangsteil von Wirtschaft und Gesellschaft klärte also den Geltungsradius der idealtypischen Begriffe. Sie dienten der Erklärung der geschichtlich-gesellschaftlichen Zusammenhänge. Aber der hohe Leistungswert dieser Begriffe wurde weder erkenntnistheoretisch gewürdigt noch in den Analysen anderer Forscher, die darauf hätten aufbauen sollen, unter Beweis gestellt. Wirtschaft und Gesellschaft war fraglos der Höhepunkt der methodologisch begründeten Soziologie. Das Buch erschien posthum in den zwanziger Jahren – ein Jahrhundertwerk. Seit den 1890er Jahren – zunächst im Wesentlichen durch Simmel – war die moderne Soziologie auf die Begriffe, die eine Erkenntnisperspektive setzen, gegründet worden. Bis 1920 – und im Wesentlichen nun durch Weber – wurde die moderne Soziologie als eine systematische empirische Wissenschaft geschaffen. Wirtschaft und Gesellschaft, in den 1920er Jahren erschienen, hätte ein Vorbild der begrifflich adäquaten Wirklichkeitswissenschaft werden können. Aber die zeitgenössische Rezeption war blind gegen die Einsicht, dass die „Wertfreiheit“ eine wahrhafte Errungenschaft der Gesellschaftsanalyse ist. Die Leistungen Webers – und auch Simmels – fanden kaum werkgetreue Resonanz in der Weimarer Zeit. Die Soziologie wurde zwar mit schließlich fünfzehn Lehrstühlen an den Universitäten eine einflussreiche akademische Disziplin. Aber sie blieb hinter ihren Möglichkeiten zurück. Viele damalige Zeitgenossen gaben Lippenbekenntnisse zu Weber ab – gelegentlich wurde auch Simmel als wichtiger Denker gewürdigt. Aber die meisten Soziologen der Weimarer Zeit stellten sich mit ihren Schriften nicht in den Windschatten der zwei großen Denker. Sie machten sich zuweilen stark, gegen diese Klassiker zu sprechen, um ihre eigenen doktrinären Theoreme zu forcieren. Es dominierten Lehrmeinungen, die eher an Spencer orientiert waren. In der Weimarer Zeit herrschte bei den meisten Soziologen eine Gesellschaftsauffassung, die den Geschichtsdeterminismus à la Spencer weiter beibehielt. Es war nur folgerichtig, dass einige Vertreter dieser „akademischen Soziologie“ – um den treffsicheren Ausdruck Erhard Stöltings zu verwenden116 – schließlich zu Anhängern des Nationalsozialismus wurden.
116 Erhard Stölting, Akademische Soziologie in der Weimarer Republik, Berlin: Duncker und Humblot 1986.
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Der wohl einflussreichste Soziologe der Weimarer Zeit war Othmar Spann.117 Er veröffentlichte 1923 in zweiter Auflage eine Gesellschaftslehre.118 Das Buch gab zunächst einen „Überblick über die Schulen der heutigen Gesellschaftslehre“. Dann wurden eine „Allgemeine Gesellschaftslehre“, eine „Besondere Gesellschaftslehre“ und eine „Verfahrenslehre“ vorgestellt. Wie Spencer in Social Statics wollte Spann den Aufbau der Gesellschaft als ein Ganzes darstellen, wobei die „universalistischen Grundtatsachen in den vorbildlichen Grundverhältnissen des Lebens“119 lägen. Dies solle eine „Ganzheitslehre“ nun leisten, die, wie das Vorwort der zweiten Auflage erläuterte, drei Teile hatte: Der „Allgemeinen Gesellschaftslehre“ folgte „die Zergliederung des Aufbaues der Gesellschaft als Teilganzen, Unterganzen und Gliedern“, und daran schloss sich sodann die „‚Besondere Gesellschaftslehreʻ jener allgemeinen Grundlegung“ an.120 Die „Besondere Gesellschaftslehre“ unterschied zwischen den „Elementen“, den „Grundvorgängen“, den „Gebilden“ und den „Ersatzvorgängen“. Bei den Elementen, deren „Gestaltungsfähigkeit“ aus jedenfalls vorgesellschaftlichen Ursachen herrühre, handele es sich, so Spann, unter anderem um „Rasse und Begabung“ sowie „Technik“.121 Die „Grundvorgänge“ waren demgegenüber unter anderem die „Vernossenschaftung“ und die Vergemeinschaftung. Die „Gebilde“ waren Vorgänge der „Vergemeinschaftung und Vernossenschaftung“ in einem „Zustand der Gegenständlichkeit“ wie etwa dem Lehrer-Schüler-Verhältnis oder anderen gesellschaftlichen Rollenbeziehungen. Die „Ersatzvorgänge“ schließlich umfassten das „fortwährende Werden und Vergehen“ – und zwar „geistig“ in der Erziehung und „leiblich“ durch Tod und Geburt, womit auf die körperliche Ersetzung der aktuell miteinander Han-
117 Spann hatte bereits zu Beginn des Jahrhunderts gegen Simmel polemisiert. Spann lehnte das soziologische Denken, das er bei Simmel fand, allerdings auch bei Comte, Spencer und Tönnies ab. Siehe dazu seinen Aufsatz: Untersuchungen über den Gesellschaftsbegriff zur Einleitung in die Soziologie, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Bd. 61, 1905, pp. 302 – 344 und auch sein Buch Wirtschaft und Gesellschaft. Eine dogmenkritische Untersuchung, Dresden: Böhmert 1907. Er verkündete dort eine Soziologie, die einen geschichtsphilosophischen Determinismus hin zu einem Ständestaat, der ein autoritäres Regime im Namen eines Universalismus sein solle, vorzeichnete. Dieser solle den Individualismus – den Spann strikt verwarf – überwinden. Spann erläuterte bereits vor dem Ersten Weltkrieg in einem Vortrag vor dem „Verband Deutsch-völkischer Akademiker“ in Brünn, dass der Krieg den probaten Weg des kulturellen Fortschritts der Moderne weise. Dazu: Othmar Spann, Zur Soziologie und Philosophie des Krieges, Berlin: J. Guttentag Verlagsbuchhandlung 1913. 118 Othmar Spann, Gesellschaftslehre. Zweite, neubearbeitete Auflage, Leipzig: Quelle und Meyer 1923; die erste Auflage war 1914 erschienen, die dritte erschien 1930. 119 Ibid., pp. 85 ff.: Allgemeine Gesellschaftslehre, Zweites Buch Die Wesenstheorien der Gesellschaft: Individualismus, Universalismus, Abgeschiedenheitslehre, Zweites Hauptstück Der Universalismus und die Ganzheitslehre. 120 Ibid., p. V. 121 Ibid., pp. 259 ff.: Besondere Gesellschaftslehre, Viertes Buch Der formelle Aufbau oder die Formelemente und der Lebensinhalt der Gesellschaft, Erstes Hauptstück Die Formelemente der Gesellschaft, dort Teil 8 Die Gestaltungsfähigkeit der Elemente (Rasse und Begabung, Technik).
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delnden durch andere Handelnde im Zuge von Wandel und Wechsel infolge von „Naturtatsachen“ angespielt wurde.122 Die „Verfahrenslehre“ – der dritte Teil des Buches – unterschied noch einmal einen „formalen Gesellschaftsbegriff“ und einen „sachlichen Gesellschaftsbegriff“, um beide wiederum durch die „gesellschaftswissenschaftliche Begriffsbildung und die Einheit der Verfahren aller gesellschaftlichen Wissenschaften“ zu verschmelzen.123 Es ging in diesem Methodenteil darum, dass die „Ganzheitslehre“ – was ihre methodische Leistung sein müsse – zahlreiche Einzeldisziplinen in sich aufnehme (unter anderem die Statistik, die Geschichte, die „systematische Sittenwissenschaft“, die Jurisprudenz und die Volkswirtschaftslehre). Spann begründete die Hereinnahme dieser Einzeldisziplinen in die Gesellschaftslehre folgendermaßen: Da „das Ganze früher ist als der Teil“124 und zudem das „Gesetz des mittelbaren Zusammenhangs der Teilganzen [im Gesamtganzen]“125 gelte, sei die „Ganzheit“ die „Grundlage jeder gesellschaftswissenschaftlichen Begriffsbildung“.126 Daraus ergebe sich, was insgesamt gelte, die „Einheit der Verfahren aller gesellschaftlichen Wissenschaften“.127 Die philosophische Grundlegung dieser Lehre und das dazu passende ganzheitliche methodische Verfahren wurden in einem weiteren Werk Spanns, das im Jahr 1924 erschien, dargestellt. Kategorienlehre war ein philosophischer Traktat zur Absicherung der Universalismusthese.128 Der Kern des Werkes war dessen Zweites Buch, also das mittlere „Hauptstück“. Die drei „Hauptstücke“ waren: „Die Urweisen des Seins“ (I. Hauptstück), „Die Urweisen der Ausgliederung und Vollkommenheit mit ihren Besonderungen“ (II. Hauptstück) und „Die Weisen der Rückverbundenheit des Gliedes im Ganzen“ (III. Hauptstück). Spanns Darlegungen mündeten in die Aussage, das Ganze sei allemal „vor den Gliedern“, und: „[E]s schafft sich also nicht aus einem Etwas, sondern nur aus sich selbst, d. h. aber, da es als solches kein Dasein hat (kein Etwas ist) – aus dem Nichts. … Wir können daher den Satz: ‚Alles Schaffen ist ein Schaffen aus dem Nichtsʻ auch in die Form kleiden: Alles Schaffen ist ein Schaffen aus dem Unveräußerlichen, … als dem Schöpfungsgrunde der Ganzheit“.129 Die Bücher Spanns schlugen bereits vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten eine Brücke zur Bevölkerungspolitik der „Rassenhygiene“.130 122 123 124 125 126 127 128 129 130
Ibid., p. 265. Ibid., p. 523. Ibid., pp. 541 – 544. Ibid., pp. 545 – 548. Ibid., pp. 523 – 540. Ibid., p. 523. Othmar Spann, Kategorienlehre, Jena: Gustav Fischer 1924. Ibid., pp. 313 – 314. Der Humangenetiker Otmar von Verschuer, ab 1933 Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, Humangenetik und Eugenik, veröffentlichte 1928 seinen Traktat Sozialpolitik und Rassenhygiene. Er bezog sein Konzept der – per Rassenhygiene selektierenden – Sozialpolitik aus der Soziologie Spanns. Er klärte zu Beginn: „Ich verdanke O. Spann grundlegende Anschauungen über das Wesen der menschlichen Gesellschaft und damit über Staat und Volkstum. Ich schließe mich seinen Bestimmungen von Staat und Volkstum an.“ (p. 5) Und von Verschuer schloss sich ausdrücklich auch Spanns Universalismus an: „Der Rassenhygieniker fühlt
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Ferdinand Tönnies, ein anderer prominenter Soziologe der Weimarer Zeit, hatte 1887 sein Standardwerk Gemeinschaft und Gesellschaft vorgelegt, das in der Erstauflage den Untertitel Abhandlung des Communismus und des Socialismus als Empirischer Culturformen trug. 1926 wurde es in sechster und siebter Auflage mit dem Untertitel Grundbegriffe der reinen Soziologie wieder aufgelegt.131 Nach fast vierzig Jahren blieb der Text fast unverändert – das auffallend Neue war allenfalls, dass nunmehr die gotische Druckschrift verwendet wurde. Die wenigen Änderungen im Text hatten mit Simmels oder Webers Soziologie nichts zu tun. Der Ausdruck Kürwille ersetzte jedenfalls den Ausdruck Willkür bereits seit der zweiten Auflage 1912, und der Pendantbegriff Wesenwille war in allen Auflagen gleich geblieben. Der Wesenwille stand für die Gemeinschaft und ihre Lebensformen, und der Kürwille (bzw. die Willkür) stand für das Gesellschaftliche im sozialen Leben. Insgesamt verkörperte die Gemeinschaft das Familienleben, die Sitte und die Religion, und zur Gesellschaft gehörten die Politik, der Staat und die Wissenschaft – Gemeinschaft und Gesellschaft bildeten Komplementärbegriffe (Tönnies sprach in der neuen Einleitung von der „Zwiefachheit der hier gebildeten Begriffe“132). Hinsichtlich der methodologischen Begründung seiner Begriffe – in der Vorrede zur sechsten und siebten Auflage – grenzte Tönnies sich gegenüber Weber ab: „[F]ür mich [sind] Gemeinschaft und Gesellschaft Normaltypen (ich sage so lieber als Idealtypen, weil Ideal zu dem Missverständnis eines anderen Sinnes führt), zwischen denen sich das wirkliche soziale Leben bewegt“.133 Ein anderer Soziologe, der in der Weimarer Zeit von sich reden machte, war Hans Freyer. Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft erschien 1930.134 Freyer nahm das Thema Simmels und Webers auf, dass die Soziologie eine Wirklichkeitswissenschaft sein müsse. Aber während Simmels und Webers Programm gegen Spencer und andere zeitgenössische Lehren gerichtet (gewesen) war, machte Freyer
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sich … als Bundesgenosse von all denjenigen, die im geistigen Kampf … des Universalismus gegen den Individualismus, der Gedanken der Wirzeit gegen die der Ichzeit stehen.“ (p. 32) Sozialpolitik und Rassenhygiene. Von Prof. Dr. med. Frhr. Otmar von Verschuer, Langensalza: Hermann Beyer & Söhne 1928. Der Traktat gehörte in eine Schriftenreihe zur politischen Bildung, herausgegeben von der Gesellschaft „Deutscher Staat“, und zwar XII. Reihe. Rasse. Heft 3. (Das Exemplar der Harvard College Library trägt den Aufdruck: „Gegen die Herausgabe dieser Schrift werden seitens der NSDAP keine Bedenken erhoben. Berlin, 21. März 1935. Der Vorsitzende der parteiamtlichen Prüfungskommission zum Schutze des NS.-Schrifttums.“) Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. Abhandlung des Communismus und des Socialismus als Empirischer Culturformen, Leipzig: Fuesʼs Verlag (R. Reisland) 1887; Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie, sechste und siebente Auflage, Berlin: Verlag Karl Curtius 1926. Ibid., p. XII; dort auch die nächste Zitatstelle. Dass Tönnies meinen konnte, Idealtypen hätten irgendetwas mit einem Ideal zu tun, weshalb er den eminent erklärungsbedürftigen (aber nirgends auch nur ansatzweise von ihm erklärten) Begriff Normaltypen verwendete, enthielt ein eklatantes Missverständnis der Weberʼschen Methodologie, was jedenfalls bezeugt, dass Tönnies die Weberʼschen Gesammelten Aufsätze zur Wissenschaftslehre, die im Jahr 1922 erschienen waren, nicht kannte. Hans Freyer, Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft. Grundlegung des Systems der Soziologie, Leipzig und Berlin: B. G. Teubner 1930.
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nun die Wirklichkeitswissenschaft, die er proklamierte, zum Sprachrohr des kommenden autoritären Regimes. Simmel hatte in Die Probleme der Geschichtsphilosophie (in Fortführung eines Diltheyʼschen Gedankens, im Kapitel gegen die Gesetzeswissenschaft) erklärt, dass die Geschichtswissenschaft eine „Wirklichkeitswissenschaft schlechthin“135 sei. Sie sei keine Gesetzeswissenschaft, sondern eine Erkenntnis, wo das Interesse entscheidend war, „das sich an sie knüpft“.136 Weber hatte in Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis dargelegt: „Die Soziologie, die wir treiben wollen, ist eine Wirklichkeitswissenschaft. Wir wollen die uns umgebende Wirklichkeit des Lebens, in welches wir hineingestellt sind, in ihrer Eigenart verstehen – den Zusammenhang und die Kulturbedeutung ihrer einzelnen Erscheinungen in ihrer heutigen Gestaltung einerseits, die Gründe ihres geschichtlichen So-und-nicht-anders-Gewordenseins andererseits“.137 Aber Freyer gab dem Begriff eine Bedeutung, die nichts mehr mit Simmels oder Webers (methodologisch reflektierter) Soziologie zu tun hatte. Das erste Kapitel von Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft behandelte das Verhältnis zwischen der Soziologie und der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Anhand von vier zeitgenössisch aktuellen Theorien (Dilthey, Simmel, von Wiese, Spann) wollte Freyer darlegen, dass die vorherrschende Denkrichtung zu Historismus, Formalismus und Idealismus führe. Hier werde die Soziologie als eine Logoswissenschaft verstanden, so Freyer. Sie löse sich von der „Zeitwirklichkeit“ ab, um „der geschichtlichen Fülle Herr zu werden“.138 Aber, so sein Monitum, „die Soziologie ist keine Logoswissenschaft“.139 Also müsse – wie er im zweiten Kapitel („Die doppelte Beziehung der Soziologie zur Geschichte“) darlegte – noch einmal nach der Wirklichkeitskonzeption gefragt werden. Letztlich habe Weber eine Soziologie geschaffen, die eine Wirklichkeitswissenschaft wäre, wenn darin eine Entscheidung für den geschichtlichen Prozess enthalten wäre, also Weber überzeugend gegen die Gesellschaft der Gegenwart (sprich: gegen die Weimarer Demokratie) argumentiert hätte: „Es ist Max Webers unerbittlicher Klarheitswille und, wenn man will, eine Art männlicher Askese, die ihn die Sphären der theoretischen Erkenntnis und der wertmäßigen Entscheidung auseinanderreißen läßt. … Die Wissenschaft ist für ihn eine der stärksten wirkenden Kräfte der gegenwärtigen Kultur, vorausgesetzt, daß sie ihr Gesetz rein erfüllt“.140 Freyer machte die Soziologie, wie er sie postulierte, zu einer „Ethoswissenschaft“. Ihm ging es um eine „existentielle, gegenwartsbezogene, insbesondere … eine ‚ethischeʻ Wissenschaft“.141 Von ihr erläuterte er im dritten Kapitel seines Buches, dass sie eine Mission innerhalb der geschichtlichen Entwicklung erfülle. Denn eine „neue Sozialstruktur“142 ziehe 135 Simmel, Die Probleme der Geschichtsphilosophie, GSG II, p. 348. 136 Ibid., p. 349. 137 Weber, Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, pp. 170 – 171. 138 Freyer, Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft, p. 36. 139 Ibid., p. 79. 140 Ibid., p. 209. 141 Ibid., p. 207. 142 Ibid., p. 304.
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am Horizont herauf. Die Soziologie müsse diese Zukunft auf ihre Fahnen schreiben, wenn sie eine geschichtlich wahre Erkenntnis sein wolle: „Was Hegel das ‚Substantielleʻ eines Zeitalters nennt, trifft, wenn man nur diesen geschichtsphilosophischen Begriff in die Zukunft hinein erstreckt, genau das hier Gemeinte. Es mag gestattet sein, für diesen Sachverhalt den kühnen Begriff des ‚wahren Willensʻ zu bilden. Dann gilt für die Soziologie der Satz: Wahres Wollen fundiert wahre Erkenntnis“.143 Im Jahr 1933 machte Freyer anläßlich der Kieler Vorträge zu Volkstums- und Grenzlandfragen [über] den nordisch-baltischen Raum sein Votum für den Nationalsozialismus nunmehr unmissverständlich deutlich.144 Unter dem Titel Der politische Begriff des Volkes plädierte er dort, wobei Weber ihm zum Gewährsmann diente145, für einen „Strukturtypus ‚politisches Volkʻ“.146 Vier Jahre später distanzierte er sich endgültig von Weber. In einer Schrift Gesellschaft und Geschichte147 kritisierte er nun Webers (wie er jetzt dachte) idiographisches Geschichtsverständnis und bekannte sich stattdessen zu einer staatlich sanktionierten Volkstumskunde, die sich unmittelbar aus dem Übergang zum Nationalsozialismus ergebe: „Die geschichtliche Wirklichkeit …, der wir existentiell angehören, … hat in sich Richtung und Gestalt. Sie wird nicht Geschichte, sondern sie ist Geschichte in ihrem Gang von Entscheidung zu Entscheidung. … Eine Soziologie, die von dieser geschichtlichen Natur ihrer Gegenstände abstrahiert, … verfehlt die Substanz ihres Gegenstandes und hält ein reines Scheingebilde in der Hand, das mit der Wirklichkeit der Gesellschaft nichts zu tun hat“.148 Ein letztes Dokument des nicht-nationalsozialistischen Denkens und doch auch ein beredtes Zeugnis der immer noch nur geringen Resonanz der SimmelWeberʼschen Soziologie war die Festschrift für Tönnies aus Anlass seines achtzigsten Geburtstages, erschienen 1936.149 Die Festschrift enthielt im Abschnitt über die Geschichte der Soziologie keine Aufsätze mehr aus der Feder eines renommierten Kollegen der Weimarer Zeit.150 Im Abschnitt zur theoretischen Soziologie gab 143 Ibid., p. 307. 144 Hans Freyer, Der politische Begriff des Volkes, Neumünster: Karl Wachholz Verlag 1933. Kieler Vorträge. Volkstums- und Grenzlandfragen den nordisch-baltischen Raum [sic!], Nr. 4. Herausgegeben von Professor Dr. Carl Petersen, Kiel. 145 Ibid., p. 3. 146 Ibid., p. 22. 147 Hans Freyer, Gesellschaft und Geschichte. Stoffe und Gestalten der deutschen Geschichte, Band II, Heft 6, Leipzig und Berlin: B. G. Teubner 1937. 148 Ibid., p. 4. 149 Reine und angewandte Soziologie. Eine Festgabe für Ferdinand Tönnies zu seinem achtzigsten Geburtstag, Leipzig: Hans Buske Verlag 1936. 150 Einer der vier Autoren dieses Teils des Buches war der Historiker Friedrich Meinecke, einer war der Philosoph Karl Löwith, einer war der Rassetheoretiker Adolf Günther (Universität Innsbruck), und nur der heute fast vergessene Georg Jahn, Universität Halle, war ein Soziologe: Er schrieb in der Festschrift über Johann Jakob Süßmilch, den Entdecker erster statistischer Bevölkerungsmaße im 18. Jahrhundert. Das Thema, so kann man hinzufügen, hatte einen unwillkürlichen Bezug zum nationalsozialistischen Regime. Das letztere Thema der Gesellschaftsanalyse mittels statistischer Messziffern, wie sie die Physiokraten in der Zeit der Aufklärung entdeckten, behandelten Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in den frühen vierziger Jahren in ihrem klassischen Werk Dialektik der Aufklärung im Kapitel über den Odys-
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es Beiträge vor allem aus dem Ausland (unter anderem von Gerhard Colm, einem Nationalökonom, der nun an der New School for Social Research in New York lehrte). Bei der empirischen Soziologie fehlten Theodor Geiger, Siegfried Kracauer und Hans Speier, sämtlich Autoren, die in der Weimarer Zeit methodisch wegweisende empirische Studien zur Sozialstruktur vorgelegt hatten, aber bereits aus Deutschland hatten fliehen müssen. Der einzige Autor, der über empirische Soziologie (der Abschnitt hatte den Zusatz: Soziographie) schrieb und überhaupt noch an einer deutschen Universität lehrte, war Richard Thurnwald, ein Ethnologe: Nach seiner Emeritierung wurde ihm durch Erlass des nationalsozialistischen Erziehungsministeriums im Jahr 1934 gestattet, weiterhin Lehrveranstaltungen abzuhalten.151 Kein Beitrag der Festschrift nahm einen Standpunkt ein, der sich auf Simmel oder Weber bezog. Nicht einmal Pitirim Sorokin, der an der Harvard-Universität lehrte, bezeugte oder beklagte in seinem Beitrag den Verlust durch die Vertreibung der meisten Hochschullehrer des Faches aus Deutschland. Zusammenfassend: Das neue Denken der modernen Soziologie entstand in den 1890er Jahren. Simmels und Diltheys Kritik an der Soziologie Spencers und daraufhin Simmels geisteswissenschaftliche Soziologie waren der erste Anfang der methodologisch begründeten Gesellschaftswissenschaft. Max Weber formulierte ihre Prämissen, indem er die begriffliche Konstruktion zum Angelpunkt einer „objektiven“ und „wertfreien“ Analyse machte. Deren Leistungsvermögen zeigte sich in seinen Abhandlungen über Herrschaft, Religion und Recht, die posthum zu seinem Hauptwerk Wirtschaft und Gesellschaft zusammengestellt wurden. Die Weimarer Zeit wurde dennoch keine Ära der modernen Soziologie. Die dominierenden Lehrmeinungen erkannten den Fortschritt im Simmel-Weberʼschen Ansatz nicht an. Sie bereiteten unwillkürlich den Rückfall in die Lehren à la Spencer vor, wie er im Nationalsozialismus offensichtlich war. Der Selektionslehre Darwins und Spencers warf Simmel vor, sie verfälsche die Konstitution der Wirklichkeit, weil die Begriffe durch das Bewusstsein wirkten. Dem Biologismus in der damals zeitgenössischen Soziologie hielt er entgegen, dass das vergesellschaftete Bewusstsein entscheidend ist (nicht etwa eine Analogie zwischen Mensch und Tier). Für die Geschichte der Menschheit seien die Differenzierungsprozesse der Gesellschaft maßgeblich, wodurch die Kultur zu immer höherer Entwicklung gelange. Nicht etwa die angeborenen Lebenskräfte, sondern die Sinnstrukturen und die Kulturtendenzen seien für das soziale Handeln ausschlaggebend. Weber vertiefte diesen Standpunkt. Gegen Plötz machte Weber klar, die Begriffe seus-Mythos, wo sie auf die Gefahren der Kontrolle und Gängelung durch einen totalitären Verwaltungsapparat hinweisen wollten, der die statistischen Angaben zur Unterdrückung der Bevölkerung einsetzte. Siehe: Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Amsterdam: Querido 1947. Das Werk entstand 1941 bis 1944 und wurde 1946 durch ein kurzes Kapitel zum Antisemitismus ergänzt. 151 Er bot im Wintersemester 1934/1935 die folgenden Lehrveranstaltungen an: „Führer und Masse (die Funktion der Persönlichkeit im Gesellungsvorgang)“ in den Staatswissenschaften und „Volk und Rasse, mit Lichtbildern“ in der Völkerkunde – beides also nicht im Fach Soziologie, wo er bis einschließlich Sommersemester 1934 (als er die Altersgrenze erreichte und deshalb aus dem aktiven Dienst ausschied) gelehrt hatte.
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der Rassenhygiene seien empirisch irrelevant. Zur Erklärung des Handelns trügen sie nichts wissenschaftlich Wichtiges bei. Stattdessen diene das Rassendenken eher der gesellschaftlichen Diskriminierung, da die designierten Pariabevölkerungen durch rassistische Vorurteile aus dem Gesellschaftsleben ausgegrenzt wurden. Doch die Warnungen waren umsonst. Der Rassismus konnte in der Weimarer Zeit, als die „akademische Soziologie“ (Stölting) vorherrschte, nicht wirksam aufgehalten werden. 1933 wurden alle Soziologen ausgeschaltet, deren Arbeiten empirisch adäquat waren. Die wenigen, die überhaupt noch im Sinne Simmels und Webers arbeiteten, wurden als Juden oder als „politisch unzuverlässig“ aus ihren Stellen verjagt. Viele wurden zur Emigration gezwungen. Sie verkörperten nun im Ausland die in Deutschland geschmähte moderne Wissenschaft. 3. DIE RETTUNG DER MODERNEN SOZIOLOGIE VOR DEM SOZIALDARWINISMUS In den USA gab es in den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts wenig Anzeichen, dass das Simmel-Weberʼsche Denken dort wahrgenommen wurde. Das American Journal of Sociology veröffentlichte zwar zwischen 1896 und 1910 insgesamt neun Aufsätze oder Buchkapitel Simmels, in Übersetzung durch Albion Small (Universität Chicago). Die Verbindung zwischen Small und Simmel riss jedoch ab, als Small – zu Recht – in einer Buchbesprechung monierte, Simmels Soziologie vertrete keine positivistische Gesellschaftsauffassung.152 Small wehrte sich dagegen, dass Simmels Soziologie nicht der Spencer-Sumnerʼschen Tradition entsprach.153 Der Bruch zwischen Small und Simmel vereitelte bis weit ins zwanzigste Jahrhundert, dass eine werkadäquate Rezeption des Simmelʼschen Denkens in den USA entstand.154 Webers Soziologie hatte indessen ein anderes Schicksal. Noch in den späten zwanziger Jahren war dieser Autor in den USA weitgehend unbekannt. Zwar hatte der Südstaatler Burghardt du Bois (auf Einladung Webers) im Jahr 1906 einen Aufsatz im Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik ver152 Albion Small schrieb: „To be sure Professor Simmel limits the content of the term ‚sociologyʻ to a limit which no other first-rate sociologist in Europe, with the possible exception of Professor Toennies, accepts, and no one in this country, so far as I am aware, is inclined to adopt his proposed usage.“ Siehe Small, Book Review of Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Leipzig: Duncker und Humblot 1908, American Journal of Sociology, vol. 14, 1908/1909, p. 44. 153 Small fertigte eine Übersetzung des Eingangskapitels der Soziologie an, die im American Journal of Sociology erschien. Er ergänzte den Text mit zweiundzwanzig Fußnoten, die seine Vorbehalte gegen Simmels Denken zum Ausdruck brachten. Er dachte, Simmel grenze sich gegen den alltagssprachlichen Gesellschaftsbegriff ab und hielt dagegen, eine Unterscheidung zwischen Gesellschaft und „Gesellschaft“ sei sinnlos. Fußnote 14 – als Beispiel – distanzierte sich von Simmel folgendermaßen: „The … attempt to rescue the word ‚societyʻ from merely popular convenience, for use as a term of precision, is worse than futile.“ Professor Dr. Georg Simmel, The Problem of Sociology, The American Journal of Sociology, vol. 15, 1909/1910, pp. 289 – 320, p. 301. 154 Siehe dazu: Uta Gerhardt, Idealtypus, pp. 177 – 188.
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öffentlichen können.155 Aber daraus entstanden keine dauerhaften Austauschbeziehungen über den Atlantik. Als einziges Werk Webers wurden in den zwanziger Jahren durch Frank Knight 1927 die Vorlesungen zur Wirtschaftstheorie übersetzt.156 Daraus ergab sich kein transatlantischer Dialog, und selbst Parsonsʼ zweiteiliger Aufsatz über Webers (und Werner Sombarts) Kapitalismusbegriff in den Jahren 1928 und 1929 hatte wenig Resonanz.157 Ein Einfluss der deutschen Soziologie in den USA war zu Beginn der dreißiger Jahre nicht voraussehbar. Die Beziehungen zu Deutschland waren eher gespannt, als die ersten Emigranten eintrafen. Die Verbindungen, die es bis zum Ersten Weltkrieg gegeben hatte, waren 1917 gänzlich abgerissen und in der Weimarer Zeit nur gelegentlich wieder angeknüpft worden. (Allerdings hatte die Rockefeller-Foundation seit der Mitte der zwanziger Jahre in Deutschland zahlreiche Gelehrte durch Stipendien und Forschungsaufträge gefördert; sie hätten ansonsten keine Arbeitsmöglichkeit gehabt; solche Stipendien, wie sie vielfach auch für Studienaufenthalte in den USA vergeben wurden, halfen ab 1933 vielen Deutschen, ihr Land zu verlassen.) Bis in die zwanziger Jahre und darüber hinaus beherrschte die SpencerSumnerʼsche Theorie auch die empirische Forschung in den USA. Ein Ende dieser sozialdarwinistischen Lehren war noch nicht absehbar. Die amerikanische Soziologie der zwanziger Jahre verstand sich als eine Naturwissenschaft. Sie dokumentierte dieses Selbstverständnis im Jahr 1921 in dem umfangreichen Sammelband, den Robert E. Park und Ernst W. Burgess (Universität Chicago) herausgaben.158 Dieses Werk hatte eine Einleitung, wo die Probleme der Menschheitsgeschichte zum Thema der Soziologie erklärt wurden. Dabei wurden Darwin, Spencer und Sumner ausdrücklich gewürdigt. Den Hauptteil bildeten vierzehn Kapitel, die im Wesentlichen aus Exzerpten bestanden, also Texten oder (zumeist) Textteilen zu einem Thema, das meistens einen offenkundigen Bezug zur Evolutionslehre hatte. So war ein Kapitel überschrieben mit Human Nature (Ch. II), und dort wurde auch die Biological and Social Heredity behandelt; im Kapitel Social Contacts (Ch. V) waren unter anderem Texte von Sumner abgedruckt; im Kapitel Social Interaction (Ch. VI) wurden zwei Textstücke von Darwin herangezogen; in das Kapitel Competition (Ch. VIII) wurden ein Darwin-Text zu Competition and Natural Selection und ein weiterer zu Competition, Specialization and Organization aufgenommen, wobei das entsprechende Unterkapitel The Struggle for Existence hieß; im Kapitel Conflict (Ch. IX) wurde auch das Thema War, Instincts, and Ideals behandelt; im Kapitel Accomodation (Ch. X) waren zwei Auszüge aus dem Kapitel Der Streit aus Simmels Soziologie abgedruckt, allerdings galten sie offensichtlich als 155 Burghardt du Bois, Die Negerfrage in den Vereinigten Staaten, Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 22. Band (Neue Folge Bd. 4), 1906, pp. 31 – 79. 156 Max Weber, General Economic History, translated by Frank H. Knight, New York: Greenberg Publications 1927. 157 Talcott Parsons, „Capitalism“ in Recent German Literature: Sombart and Weber, The Journal of Political Economy, vol. 36, 1928, pp. 641 – 661; „Capitalism“ in Recent German Literature: Sombart and Weber: Concluded, The Journal of Political Economy, vol. 37, 1929, pp. 31 – 51. 158 Robert E. Park und Ernest W. Burgess (eds.), Introduction to the Science of Sociology, Chicago, Illinois: The University of Chicago Press 1921.
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Beleg für die Ubiquität von Aggressivität als einer mutmaßlichen Triebkraft der Anpassung; das Kapitel Assimilation (Ch. XI) befasste sich unter anderem mit den Biological Aspects of Assimilation; das Kapitel Social Control (Ch. XII) enthielt einen Text von Spencer über Ceremonial Control; und schließlich brachte das Kapitel Progress (Ch. XIV) unter anderem einen Spencer-Text zu Progress and Organization und einen Sumner-Text zu Progress and the Mores. Mit anderen Worten: Das ParkBurgessʼsche Kompendium stellte dar, inwiefern die Soziologie eine naturwissenschaftlich ausgewiesene Gesellschaftswissenschaft sei, die sich auf Spencer und Sumner (sowie Darwin) als Befürworter und Vorreiter berief. Das Werk erläuterte somit die Soziologie als eine Naturwissenschaft. Die einhundertdreiundvierzig Textauszüge sollten dies veranschaulichen. Simmel galt als Adept einer Lehre, die die Gesetze des Sozialen explizierte. Die Teile aus Simmels Werken, die in Introduction to the Science of Sociology verwendet wurden, sollten Aussagen über vermeintliche Gesetze des gesellschaftlichen Lebens machen, wie sie zu den Darwin-SpencerSumnerʼschen Lehren passten. (Weber kam unter den fast einhundertfünfzig Textteil des Kompendiums überhaupt nicht vor.) Sorokin, ein Exilrusse, verfasste im Jahr 1928 sein Standardwerk zur zeitgenössischen Theorie.159 Das Werk Contemporary Sociological Theories referierte und kritisierte Lehrmeinungen von acht „Schulen“ des soziologischen Denkens. Sorokin unterschied eine Mechanistic School (so das Denken Vilfredo Paretos), eine Frédéric le Playʼs School (etwa die Biometrie in der Tradition der Physiokraten), eine Geographic School (u.a. die Erklärung von gesellschaftlichen Kräften und Vorgängen durch das Klima), eine Bio-organismic School (so Adam Schäffles Bau und Leben des socialen Körpers160), eine Anthropo-Racial, Selectionist, and Hereditary School (so Arthur de Gobineau und Houston Stewart Chamberlain161), eine Demographic School (mit dem Forschungsthema der Bevölkerungsdichte im Verhältnis zu den intellektuellen Leistungen einer Region), eine so genannte Sociologistic School, die in die zwei Teilgruppen der Formal School und der Economic Branch zerfiel, sowie schließlich eine Psychological School der soziologischen Theoriebildung. Sorokin machte Simmel zum Vertreter der Formal School, einem Teilbereich der Sociologistic School. Simmels Soziologie, so Sorokin, stelle unsinnige Forderungen und sei logisch nicht schlüssig. Schon in einem früheren Kapitel, wo die Bio-organismic School und insbesondere The Struggle for Existence behandelt wurden, hatte Sorokin auf Simmel verwiesen und dort über ihn geurteilt: „Es ist nutzlos und sinnlos, die Türen der Soziologie vor den biologischen Auffassungen zu ver159 Pitirim A. Sorokin, Contemporary Sociological Theories, New York / London: Harper & Brothers 1928. 160 Adam Eberhard Friedrich Schäffle, Bau und Leben des socialen Körpers. Encyclopädischer Entwurf einer realen Anatomie, Physiologie und Psychologie der menschlichen Gesellschaft mit besonderer Rücksicht auf die Volkswirtschaft als socialem Stoffwechsel, 4 Bände, Tübingen: Laupp 1881. 161 Arthur de Gobineau, Essai sur lʼinégalité des races humaines, 2 Bände, Paris: Firmin-Didot 1853 – 1855; Houston Stewart Chamberlain, Arische Weltanschauung, 2. Aufl. 1912, Nachdruck München: Arbeitsgemeinschaft für Religions- und Weltanschauungsfragen 1997.
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schließen, wie einige ‚formale Soziologenʻ dies heutzutage tun“.162 Am Ende der Textpassage über die Formal School im Kapitel über die Sociologistic School hieß es dann weiter, nachdem Simmel auf zwei Seiten schließlich wiederum kritisch referiert worden war: „Wir kommen zu dem Schluss, dass Simmels Begriffe der Form und des Inhalts entweder bedeutungslos sind und auf gesellschaftliche Phänomene nicht angewandt werden können; oder dass sie zu einer Soziologie führen, die durch Verallgemeinerungen zur Wissenschaft werden will, wie es jedenfalls ihre Konzeption verlangt, während dies doch schon durch Simmels Behauptung widerlegt wird, er wolle die Soziologie gerade als eine Spezialwissenschaft begründen“.163 Weber wurde unter Sociologistic School bei der Economic Branch – neben Karl Marx, Friedrich Engels und Rudolf Stammler – abgehandelt. Er wurde außerdem im Kapitel Psycho-Sociologistic Theories of Religion, Mores, Law, Public Opinion, Arts, and Other Cultural Phenomena as Factors betrachtet – jenem Kapitel, das die Ansätze darstellte, die außerhalb der „Schulen“ lägen und nirgendwo einzuordnen wären. Webers Theorie, so Sorokin, entspreche dem Theorem, wonach die Wirtschaftsgesinnung, ein religiöses Ethos, das ökonomische Verhalten bestimme. Aber sogar dieser verkürzten Version des Weberʼschen Denkens mochte Sorokin nicht zustimmen: „Webers Untersuchung zeigt nicht einmal ansatzweise, wieviel Einfluss der religiöse Faktor auf die Wirtschaftsethik hat, und er zeigt ebenso wenig, wieviel Einfluss die Wirtschaftsethik auf das Wirtschaftsverhalten nimmt. Daher wissen wir nach dem Studium der Werke Webers genauso wenig wie vorher über den Wirkungsgrad des religiösen Faktors“.164 Sorokin verstand also Simmel und Weber als Theoretiker, die zwar historisch gültige Aussagen formulieren wollten, aber dazu eigentlich nicht fähig wären. Sorokin nahm die methodologische Begründung der Soziologie bei Simmel und Weber in seinem Übersichtswerk nicht wahr. Er fand andere Theorien besser verständlich und auch leichter zu lesen. Sein Plädoyer galt hauptsächlich den sozialdarwinistischen (an Sumner orientierten), an der Columbia University lehrenden Soziologen Frank H. Giddings und Edward A. Ross. Erst Parsons, der 1925 – 1926 in Heidelberg studiert hatte, veränderte die Lage. Er verfasste – zunächst in einer Vorfassung auf Deutsch – eine Dissertation zum Begriff des Kapitalismus bei Weber (und Werner Sombart) und übersetzte Webers Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus ins Englische.165 Er er162 Sorokin, Contemporary Sociological Theories, p. 355. Im Original: „It is useless and hopeless to try to shut the gates of sociology to an intrusion of biological interpretations, as is urged by some ‚formal sociologistsʻ at the present time.“ 163 Ibid., p. 501. Im Original: „[W]e come to the conclusion that Simmelʼs conception of forms and content are either meaningless and inapplicable to social phenomena; or that they lead to the conception of sociology as a generalizing science, which conception contradicts Simmelʼs pretensions of building sociology as a specific science.“ 164 Ibid., p. 691. Im Original: „Weberʼs analysis does not show even tentatively what the share of the religious factor is in molding the Wirtschaftsethik, and correspondingly, its share in conditioning the effects of the Wirtschaftsethik in the field of economic phenomena. Thus, after M. Weberʼs work we are as ignorant about the degree of efficiency in the religious factor as we were before.“ 165 Max Weber, The Protestant Ethic and the Spirit of Capitalism. Translated by Talcott Parsons,
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kannte die begriffliche Besonderheit der Weberʼschen Argumentführung.166 In den darauf folgenden Jahren wurde ihm bewusst, dass Spencers Theorie, die bis in die 1930er Jahre in den USA noch (fast) unbefragt galt, in Europa durch Weber und zudem Émile Durkheim – zwei wegweisende recent European writers – längst überholt war. Sein erstes Hauptwerk war The Structure of Social Action, erschienen 1937.167 Es begann mit dem programmatischen Satz (einem Zitat): „Spencer is dead“.168 Das Werk wollte zeigen, dass eine Gesellschaftstheorie längst vorlag, die den in den USA noch vorherrschenden Positivismus und Utilitarismus überwand. Seit Weber und Durkheim, so Parsons, war der Struggle for Existence, an dem sich Sorokin noch abmühte, durch ein anderes Prinzip ersetzt. An der Stelle des Survival of the Fittest stand nun ein anderes Erklärungstheorem für das soziale Handeln. In den Werken der vier „euopäischen Autoren“169, so Parsons, wurden die Elemente einer nicht-darwinistischen Theorie der Gesellschaft herausgearbeitet. The Structure of Social Action entwickelte dieses nicht-darwinistische Denken anhand der vier Theorien und fasste sie wiederum zu einem eigenen Ansatz zusammen, der das Moderne der Industriegesellschaft durch Strukturanalyse vergegenwärtigte. Ausgangspunkt war zweierlei. Zum einen musste man sehen, dass die Methodologie unverzichtbar war. Wenn die soziologische Theorie überhaupt über die zeitgenössische Wirtschaft und Gesellschaft gültige Aussagen machen wollte, musste sie ihre Begrifflichkeit offen diskutieren. Dabei war die philosophische Wissenschaftstheorie Alfred N. Whiteheads und Lawrence Hendersons zu beachten, zweier amerikanischer Denker, die überzeugend darlegten, dass die Tatsachen überhaupt nur
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with a foreword by R. H. Tawney, London: George Allen and Unwin 1930; New York: Charles Scribnerʼs Sons 1930. Zur wissenschaftsgeschichtlichen Bedeutung dieser Parsonsʼschen Übersetzung siehe: Uta Gerhardt, Much More Than a Mere Translation: Talcott Parsonsʼs Translation into English of Max Weberʼs Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus: An Essay in Intellectual History, Canadian Journal of Sociology and Anthropology, vol. 32, 2007, pp. 41 – 62. Talcott Parsons, The Structure of Social Action. A Study in Social Theory with Special Reference to a Group of Recent European Writers (ursprünglich New York: McGraw Hill 1937), New York: The Free Press 1968. Ibid., p. 3. Der Satz „Spencer is dead“ war ein Zitat aus Crane Brinton, English Political Thought in the Nineteenth Century, London: Ernst Benn 1933, p. 226. Durch die Verwendung dieses Zitats gelang es Parsons, das Politische der rassistischen Soziologie Spencers zu kennzeichnen, ohne im einzelnen durch Exegese der Spencerʼscher Schriften dafür den Nachweis führen zu müssen – eben dies war bei Brinton nachzulesen. Dazu auch: Uta Gerhardt, National Socialism and the Politics of The Structure of Social Action, in: Bernard Barber und Uta Gerhardt (eds.), Agenda for Sociology: Classic Sources and Current Uses of Talcott Parsonsʼs Work, Baden-Baden: Nomos 1999, pp. 87 – 164, insbes. pp. 110 – 136. Der britische Ökonom Alfred Marshall, der italienische Sozialökonom Vilfredo Pareto sowie Émile Durkheim in Frankreich und Max Weber in Deutschland waren – im Sinne von The Structure of Social Action – die Theoretiker der modernen Industriegesellschaft, wie sie sich allemal in den angelsächsischen Ländern und dort den demokratischen Strukturen entwickelt hatte. Weber (damals in den USA ein fast unbekannter Autor) wurde durch Parsons als hervorragender Denker der Herrschafts- und Handlungsstrukturen des zwanzigsten Jahrhunderts herausgestellt.
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mittels eines analytischen Begriffsschemas zu erfassen sind. Der analytische Bezugsrahmen war der Angelpunkt aller empirischen Aussagen. Es gab keinen Zugang zur Wirklichkeit jenseits der im Vorfeld dabei maßgeblichen Begriffe. Parsons: „Um einem häufigen Missverständnis vorzubeugen, sei gleich zu Beginn [meines Buches] geklärt, wie der Begriff der ‚Tatsacheʻ zu verstehen ist. In Anlehnung an Hendersons Definition ist eine Tatsache, was durch eine ‚empirisch verifizierbare Aussage über die Phänomene im Rahmen eines begrifflichen Schemasʼ bestimmt wird“.170 Ausgangpunkt war außerdem eine gesellschaftspolitische Überlegung. Der Gesellschaftsbegriff war nicht gleichgültig, und man konnte nicht von „der“ Gesellschaft sprechen, als wäre sie in jedem Land ähnlich oder dieselbe. Sondern der Gesellschaftsbegriff musste reflektiert werden, um zu einer empirisch angemessenen Theorie zu taugen. Der unbeschränkte Liberalismus – wie ihn Spencer verkündete hatte – gehörte zu einem Gesellschaftszustand, wo der Kampf ums Dasein herrschte. Diesen Zustand identifizierte Parsons mit der Denkfigur Thomas Hobbesʻ, der den „Kampf Aller Gegen Alle“ (Bellum omnium contra omnes) an den Anfang aller staatlichen oder gesellschaftlichen Ordnung gesetzt hatte. Im „Kampf Aller Gegen Alle“, so wusste Parsons, herrschte das Survival of the Fittest. Dabei war die Macht des oder der Stärksten unbeschränkt, was bedeutete, wie Parsons hervorhob, dass beim „Kampf Aller Gegen Alle“ letztlich die Gewalt und der Betrug regierten. Zivilgesellschaftliches Leben im Sinne von Rechtsstaat und Demokratie wurden unmöglich. Der „Kampf Aller Gegen Alle“, so erläuterte er, schuf ein Chaos. Die (normative) gesellschaftliche Ordnung bestand nicht mehr, und stattdessen herrschten die Gewalt, der Betrug, die Anomie, das Ritual und das Charisma. Er wusste allerdings, dass selbst bei dem Chaos aus Gewalt, Betrug etc. – eben dem Zusammenbruch der normativen Ordnung – immer noch Normen irgendeiner Art bestanden, also die Handelnden mehr oder minder gesicherte Regeln befolgten. Es gab noch eine order in the factual sense, auch wenn die normative – also die moralische – Ordnung zerfallen oder zerstört war: „Die normative Ordnung … ist immer getrennt von einem gegebenen System der Normen oder von bloß normativen Elementen zu betrachten. … Der Zusammenbruch einer normativen Ordnung, also der chaotische Zustand vom Standpunkt des Normativen aus, kann faktisch durchaus eine gewisse Ordnung, die durch Normen hergestellt wird, beinhalten. … Der Kampf ums Dasein ist zwar chaotisch, … bedeutet aber keineswegs, dass dabei nicht etwa … prozessförmige Regelmäßigkeiten der Phänomene durchaus entstünden. Während logisch feststeht, dass jede normative Ordnung unter bestimmten Voraussetzungen in ein ‚Chaosʻ zerfallen kann, ist … festzuhalten, dass keine gesellschaftliche Ordnung … stabil ist, außer wenn sie bestimmte normative Elemente wirklich enthält“.171 Aber die demokratische Gesellschaft, wie sie 170 Parsons, The Structure of Social Action, p. 41. Im Original: „To forestall a very common sense of confusion it is well at the outset to note the sense in which the term ‚factʻ is to be employed. Adapting Professor Hendersonʼs definition, in this study a fact is understood to be an ‚empirically verifiable statement about phenomena in terms of a conceptual schemeʻ.“ 171 Ibid., p. 91 – 92. Im Original: „Normative order … is always relative to a given system of norms or normative elements. …[T[he breakdown of any given normative order, that is a state of chaos from a normative point of view, may well result in an order in the factual sense. …
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in den angelsächsischen Ländern bestand, hatte mehr zu bieten als nur irgendwelche, mehr oder minder willkürliche Normen. In dieses Szenario passte Parsonsʼ Kritik am Darwinismus. Er sah gewisse Ähnlichkeiten zwischen dem liberalistischen Konkurrenz-Kapitalismus in seiner zeitgenössischen Spätform, dem Kapitalismus der Monopole und der Trusts. Er wusste durchaus, dass in diesem Wirtschaftssystem ein Geist des Darwinismus herrschte. Er kritisierte den ungezügelten Verdrängungswettbewerb, der noch in den 1930er Jahren (außer bei John Maynard Keynes) auch in der ökonomischen Theorie gepriesen wurde. Er konnte nicht nachvollziehen, dass im Wettbewerb nach utilitaristischen Gesichtspunkten in der Monopol- und Kartellwirtschaft eine Grundform des modernen Wirtschaftens läge. Eine solche Theorie (wiewohl nur annäherungsweise) bilde mit ihren Formeln und Modellen eine Vorform jener Gesellschaft ab, wie sie der Sozialdarwinismus meine. Parsons: „Es ist widersinnig und doch wahr, dass das, was im alltäglichen Leben häufig anzutreffen ist und im utilitaristischen Denken als eine soziale Ordnung wahrgenommen wird, tatsächlich ihr Gegenteil darstellt – den ‚Kriegszustandʻ. Man nennt ihn zwar den ‚Kampf ums Daseinʻ, aber es handelt sich um den Hobbesʼschen Naturzustand, wie er in der [amerikanischen] Redewendung von der ‚rohen Natur mit ihren Zähnen und Klauenʻ heraufbeschworen wird. … Es ist bekannt, dass einige Theorien der politischen Ökonomie zu den Vorläufern der biologistischen Denkmodelle der gesellschaftlichen Selektion gehört haben und dass die Volkswirtschaftslehre und diese Art Soziologie viel Gemeinsames haben. Auch in diesem wirtschaftlichen Denken wird ausgesagt, dass die ‚Schwächerenʻ – diejenigen, deren Produktionskosten zu hoch sind und die zuwenig Rendite erwirtschaften – ausgetilgt werden oder werden sollen. Aber das soll eben nur heißen, sie werden vom Markt vertrieben, nicht etwa dass ihr Leben ausgelöscht würde!“172 Auf dem Hintergrund derartiger Parallelität zwischen dem Konkurrenzkampf und dem Sozialdarwinismus war klar: Beides – der monopolistische Kapitalismus und auch das biologistische Gesellschaftsdenken – mussten und konnten überwunden werden. Das Zauberwort hieß Wohlfahrtsstaat bzw. soziale Marktwirtschaft. Die demokratische Staatsintervention à la New Deal, so wusste Parsons, konnte bewirken, dass die ausdifferenzierte moderne Gesellschaft der USA – Vorbild aller angelsächsischen Länder – trotz der Wirtschaftskrise der dreißiger Jahre stabil Thus the ‚struggle for existenceʻ is chaotic … but that does not in the least mean that it is not subject to … uniformities of process in the phenomena. … [I]n spite of the logically inherent possibility that any normative order may break down into a ‚chaosʻ under certain conditions, … a social order … cannot have stability without the effective functioning of certain normative elements.“ 172 Parsons, The Structure of Social Action, p. 113. Im Original: „Indeed, ironically enough, the order which is found to dominate this factual world is precisely that which had played the part of antithesis to social order in utilitarian thought – the ‚state of war.ʻ It has changed its name to the ‚struggle for existenceʻ but is in all essentials the Hobbesian state of nature as the phrase ‚nature red in tooth and clawʻ indicates. … It is unquestionably true that the economistsʻ conception of a competitive order went far to provide the model for the biological theory of selection. There too the ‚unfit,ʻ the high-cost producers, the inefficient were eliminated, or ought to be, though only from the market, not from life!“
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blieb. Für Parsons lag es nahe, dass die Gesellschaftspolitik des New Deal eine realistische Alternative zur faschistischen Machtübernahme war. Als in den 1930er Jahren sowohl die USA als auch Deutschland in eine dramatische Krise gerieten, waren diese Unterschiede entscheidend. Die zivilgesellschaftliche Steuerung durch den Staat in der Roosevelt-Ära zeigte, dass das Moderne der Gesellschaft, die das Thema der modernen Soziologie war, einen Weg aus der Krise wies. Im Werk Webers und Durkheims war das demokratisch-rechtsstaatliche Gemeinwesen vorgezeichnet. Der Wohlfahrtsstaat im Verbund mit der sozialen Marktwirtschaft war der Garant der gesellschaftlichen Integration und ein Schutzwall gegen die Anomie – beides war in der Soziologie Webers und Durkheims vorweggenommen. Vier Kapitel rekapitulierten Webers Denken. Zunächst war Webers Kapitalismusbegriff nicht positivistisch zu deuten. Vielmehr bildete der „Geist“ (Spirit) des Kapitalismus – ursprünglich ein religiös fundierter Lebensentwurf – den Angelpunkt der Analyse. Das Verhältnis zwischen dem Ethos und der Wirtschaft war das zentrale Thema. Religion and Modern Capitalism (Teil I) erläuterte das Voluntaristische an Webers Kapitalismusverständnis. Eine freie Entscheidung für die Lebensführung der Puritaner, wie Weber zeigte, war sprichwörtlich für den „Geist“ des Kapitalismus. Dessen Triebkraft waren nicht die Gesetze der Rendite oder irgendwelche volkswirtschaftlichen Tendenzen, sondern die Sinnstrukturen in der Lebensführung. Teil II – Religion and Modern Capitalism (Continued) – erläuterte die Wirtschaftsethik nach Weber. Eine je andere Wirtschaftsgesinnung gab es in den verschiedenen Weltreligionen, und dementsprechend bestanden in den entsprechenden Gesellschaften jeweils andere Entwicklungschancen einer modernen Industriegesellschaft. Dies war keine deterministische Lehre. Parsons wusste: „Weber untersucht die Systeme religiöser Ideen als differenzierende Kräfte der gesellschaftlichen Entwicklung. Dahinter steht seine grundlegende These, dass der Prozess der religiösen Rationalisierung nicht etwa durch ein immanentes Naturprinzip in eine bestimmte Richtung gelenkt wird, sondern dass mehrere Richtungen möglich sind unter jeweils anderen Bedingungen“.173 Weber war also Kronzeuge für eine soziologische Theorie, die den Determinismus à la Spencer und den Sozialdarwinismus überwand. Stattdessen wurden die Sinnsetzungen in den Vordergrund gerückt, wie sie das Wirtschaftsverhalten prägten, zumal wenn es einem religiösen Weltentwurf folgte. Es war klar, dass diejenigen, die keine puritanische Wirtschaftsethik befolgten, wirtschaftlich genauso erfolgreich sein konnten wie jeder Puritaner. Man musste also nicht allgemein nach Orientierungen der empirisch handelnden Individuen fragen – es ging speziell um die Achtung vor den ethischen Werten. Dadurch konnte die Soziologie per Erkenntnisinteresse auf die soziale (normative, moralische, zivilgesellschaftliche) Ordnung schauen. Sie setzte die Begriffsperspektive mit ihren heuristischen Konstrukten. Die Aufgabe war, die Entwicklung des westli-
173 Ibid., p. 567. Im Original: „Weber is interested in systems of religious ideas as differentiating elements in social development. Underlying this interest is his basic thesis that the process of religious rationalization is not predetermined by its immanent nature in one particular direction, but that it can proceed in a limited number of possible directions according to various circumstances.“
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chen Kapitalismus in seinen ethischen (normativen) Komponenten zu verstehen.174 Parsons erörterte die Methodologie im dritten Kapitel über Weber. Grundsätzlich stimmte er zu, objektivistische und intuitionistische Ansätze seien abzulehnen. Zitatstellen aus den Gesammelten Aufsätzen zur Wissenschaftslehre erläuterten den Idealtypus. Aber er ließ auch wissen, Webers Methodik sei problematisch. Er übernahm die Vorbehalte Alexander von Scheltings, der seit dem Heidelberger Studienjahr für Parsons eine Autorität in Sachen Idealtypus bzw. Weber war175, und er kritisierte das Idealtypus-Konzept.176 The Structure of Social Action folgte Webers methodologischem Programm nur ansatzweise. Der Höhepunkt war das Kapitel Max Weber, IV: Systematic Theory. Nun unterschied Parsons mit Weber zwischen den (drei) Typen des sozialen Handelns, stellte die Sinnsetzung in drei Varianten als die Modes of Orientation of Action vor und deutete das soziale Handeln als nicht bloß ausführendes Tun in sozialen Beziehungen. Schon Weber habe gewusst, dass das soziale Handeln entweder gewaltgestützt sein könne oder in einverständlicher Gemeinsamkeit unter Beachtung der moralischen Werte geschehe. Weber sei kein weltferner Gelehrter (gewesen): „Weber … war sich schmerzlich, fast tragisch, bewusst, wieviel Zwang im zwischenmenschlichen Leben herrscht. Dies zeigen eindringlich seine politischen Schriften“.177 Die Legitimität, so Parsons, war das zentrale Problem der Herrschaftssoziologie. Man müsse zwischen der demokratischen gesellschaftlichen Ordnung und dem diktatorischen Regime unterscheiden. Legitim – wie Weber herausgearbeitet hatte – sei auch das charismatische Regime. Ein solches Regime sei legitim, weil drei Elemente, die Tradition, die Emotionalität (affect) und die Wertrationalität, zu einer 174 Webers Arbeitstitel der Sammlung seiner Abhandlungen zu Herrschaft, Religion, Recht etc., die er in seinem letzten Lebensjahrzehnt verfasste und die schließlich posthum als Wirtschaft und Gesellschaft erschienen, spiegelte die Vielfalt der Lebenswelten wider, die soziologisch mittels heuristischer Konstrukte (Idealtypen) zu erfassen war. Das Buch hatte den Arbeitstitel: Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Siehe dazu: Johannes Winkkelmann, Max Webers nachgelassenes Hauptwerk (wie Anm. 114). 175 Von Schelting schrieb 1922 eine umfassende Abhandlung über Webers Methodologie (wobei er Weber vom Standpunkt der Philosophie Heinrich Rickerts aus kritisierte) und legte im Jahr 1934 eine Monographie zu Webers Wissenschaftslehre vor. Parsons rezensierte dieses Buch 1936 für die American Sociological Review. (Von Schelting floh vor dem Nationalsozialismus zunächst in die USA und remigrierte später in die Schweiz, wo er nach dem Krieg in Zürich osteuropäische Geschichte lehrte.) Alexander von Schelting, Die logische Theorie der historischen Kulturwissenschaften von Max Weber und im besonderen sein Begriff des Idealtypus, Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 49 (Bd. 31, Neue Folge), 1922, pp. 623 – 752; von Schelting, Max Webers Wissenschaftslehre. Das logische Problem der historischen Kulturerkenntnis – die Grenzen der Soziologie, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1934; Talcott Parsons, Review of Max Weberʼs Wissenschaftslehre, by Alexander von Schelting, American Sociological Review, vol. 1, 1936, pp. 675 – 681. 176 Zu den Mängeln der von Scheltingʼschen Weberinterpretation siehe Gerhardt, Idealtypus, pp. 368 – 374. 177 Parsons, The Structure of Social Action, p. 658. Im Original: „Weber … had a deep, almost tragic, consciousness of the importance of coercion in human affairs. Any study of his political writings is sufficient to convince one of this.“
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Herrschaft würden, die mittels quasi-moralischer Verhaltensvorschriften eine bedingungslose Unterwerfung erzwinge. Die Rationalität des modernen Wirtschaftens herrsche dort jedenfalls nicht: „Charisma … als solches ist ‚spezifisch wirtschaftsfremdʻ.“178An diese Stelle, so Parsons, passe Durkheims Analyse der religiös-rituellen Bindungskräfte und Gemeinschaftsbildung. Das Charisma des Führers, dessen Regime legitim war, so ergebe Webers und Durkheims Ansatz, bilde ein empirisch gültiges Deutungsmuster für die Herrschaft und das Handeln: „Charisma ist keine metaphysische Wesenheit, sondern eine strikt empirisch beobachtbare Eigenschaft von Menschen und Dingen, was für das zwischenmenschliche Handeln und für die Einstellungen gilt“.179 Mit anderen Worten: Parsons interpretierte Webers Soziologie als ein Programm gegen den Struggle for Existence und auch gegen das Survival of the Fittest. Die Struktur des sozialen Handelns heiße für die Gegenwart der dreißiger Jahre, es gebe kein einheitliches Herrschafts- und Handlungsregime. Vielmehr müssten zwei Pole der gesellschaftlichen Organisation unterschieden werden. Auf der einen Seite standen die Gesellschaften mit offensichtlicher Anomie des Herrschafts- und Handlungsregimes, was sich in Gewalt, Betrug, Charisma etc. äußerte – so etwa in Nazideutschland. Auf der anderen Seite standen die Gesellschaften (so die USA unter der Präsidentschaft Roosevelts) mit Integration im Herrschafts- und Handlungssystem durch den Rechtsstaat, die Marktwirtschaft und auch die zivilgesellschaftlich vernünftigen Lebensformen. Dies müsse die Soziologie sich bewusst machen. Angesichts der Nöte der Gegenwart – es herrschte die Wirtschaftskrise – müsse man nicht unbedingt ein autoritäres Krisenmanagement fordern. Vielmehr könne man auf die integrativen Kräfte der modernen Industriegesellschaft (ohne Struggle for Existence und jenseits Survival of the Fittest) vertrauen. In dieses Szenario passten die Vererbung und die Umwelt, zumal wenn sie mechanistisch im Sinne Spencers verstanden wurden, nicht mehr hinein. Keinesfalls, so Parsons, entstehe die Struktur des sozialen Handelns – nicht einmal bei der Geisteskrankheit oder der Kriminalität – aus menschlichen Eigenschaften, die irgendwie vererbt wären.180 Rasse oder Volkstum hatten mithin keinen Platz mehr im gesellschaftlichen Strukturgeschehen. Gesellschaftliche Handlungsstrukturen wa-
178 Ibid., p. 662. Im Original: „Charisma … is, as such, ‚spezifisch wirtschaftsfremdʻ.“ 179 Ibid., pp. 668 – 669. Im Original: „Charisma is not a metaphysical entity but a strictly empirical observable quality of men and things in relation to human acts and attitudes.“ 180 Im zeitgenössischen Denken des Sozialdarwinismus waren Vererbung und Umwelt zwei Seiten desselben Denkmodells. Etwa erläuterte v. Verschuer in seinen Schriften zu öffentlicher Gesundheitspflege und ähnlichen Themen bereits am Ende der zwanziger Jahre, daß die Umwelt lateral zur Vererbung wirke. Entweder könnten die vererbten Faktoren durch die Umwelt (bei der Anpassung an die Umwelt) verstärkt oder behindert werden – also hatte die Umwelt einen Einfluss der Förderung oder der Hemmung der ererbten Anlagen. Oder die Umwelt hätte keine eigene – derjenigen der Vererbung irgendwie vergleichbare – Einwirkung auf die Handlungspotentiale der Individuen, so dass die vererbten Anlagen sich unabhängig von der Umwelt auswirkten. Vererbung und Umwelt bildeten also keine Gegensätze, sondern sie gehörten zu demselben Modell, das in jedem Fall die Vererbung von Eigenschaften und deren lebenslange Gültigkeit postulierte.
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ren entweder die Anomie oder die Integration, wie der Schlussteil von The Structure of Social Action noch einmal unterstrich. Es gab Strukturalternativen bei den Systemen des sozialen Handelns, nicht die eine, abstrakt postulierte Gesellschaft als solche. Die individuellen Sozialisationsmilieus der Familie, Schule etc., wo die Handlungsorientierungen erlernt wurden, waren je andere. Das soziale Handeln – und zwar „wählbar“, also nicht zwingend – war eingebunden in die Chancenstrukturen der jeweiligen Gesellschaft und in die Sinnsysteme ihrer Lebenswelt. Die apodiktischen – empirisch unbeweisbaren – Aussagen der utilitaristischen Spencer-Sorokinʼschen Theorie galten nicht. Adäquat waren nur Erklärungen, die angeben konnten, wie zu einer bestimmten Zeit in einer gegebenen Situation die Lebenschancen empirisch aussahen. Ein damaliger Student Parsonsʻ, Robert Merton, schloss daran an, als er das Verhältnis von Anomie and Social Structure in einem Aufsatz beleuchtete, der ein Jahr nach The Structure of Social Action erschien.181 Merton wollte klären, was die Anomie war, woraus man das abweichende Verhalten erklärte – unter anderem die Krankheit und die Kriminalität. Seine These war, dass die Anomie situational und institutionell auf die jeweilige Gesellschaft bezogen werden musste. Allemal könne man fünf Typen von Anomie (und entsprechend von abweichendem Verhalten) unterscheiden – darunter waren auch der für die Diktatur typische Ritualismus und die in der amerikanischen Demokratie verbreitete Anomieform der Kriminalität – letztere war (so Merton) Innovation mit unerlaubten Mitteln. Die Typen der Anomie waren relativ zu der Gesellschaft, wo das Verhalten vorkam. Ein angepasster Volksgenosse des Nationalsozialismus, einem kriminellen Regime, so Merton, könne nicht als ein Normaler gelten. Vielmehr verkörpere seine Anpassung den Abweichungstypus Ritualismus: Dabei mache jemand für sich die Mittel zum Selbstzweck und frage überhaupt nicht mehr nach den Zwecken, denen die Mittel dienten, die er ohne Skrupel oder Eigenverantwortung anwende. In den 1930er Jahren war The Structure of Social Action ein Meilenstein der modernen Soziologie, die sich auf das Denken Webers stützte. Es gab noch eine zweite Konzeption der modernen Soziologie, die in den 1930er Jahren entstand und ebenfalls auf Weber aufbaute. Genauso wie Parsons schuf Alfred Schützʼ Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt – mit dem Untertitel Eine Einleitung in die verstehende Soziologie (erschienen 1932)182 – einen Gegenentwurf zum Sozialdarwinismus. Das Buch machte sich zur Aufgabe, Webers Methodologie des Verstehens weiter zu entwickeln. Schütz wollte zwei Dinge herausarbeiten.183 Zum einen sollte die Philosophie Edmund Husserls zugrunde gelegt werden, wodurch das gesellschaftliche Bewusstsein der Individuen mittels der Konstrukte der Umwelt und der Mitwelt fassbar wurde. Dadurch sollten die Beziehungen zu Mitmenschen und Nebenmenschen (d. h. den gesellschaftlich oder zeitlich ferner stehenden Zeitgenossen) verständlich werden. Schütz zeichnete die letzteren Bezie181 Robert K. Merton, Anomie and Social Structure, American Sociological Review, vol. 3, 1938, pp. 672 – 683. 182 Alfred Schütz, Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie, Wien: Julius Springer 1932; Neuauflage Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974. 183 Zum folgenden siehe auch: Uta Gerhardt, Idealtypus, pp. 406 – 425.
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hungen anhand von idealtypisch gedachten Handlungsabläufen. Er sah die gesellschaftliche Wirklichkeit, wie sie den Handelnden fraglos gegeben war, strukturiert durch idealtypische Schemata. Außerdem wollte er unterstreichen, dass die Sozialwissenschaften, die einen idealtypischen Ansatz verwendeten, dennoch anders verfuhren als die Alltagsmenschen in ihrer Lebenswelt. Es war wichtig, diesen Unterschied zu betonen. Denn ansonsten wäre unwillkürlich ein Positivismus entstanden. Die Sozialwissenschaften mussten die Gesellschaft analytisch verstehen, aber die sozial Handelnden im täglichen Umgang verstanden sich gegenseitig alltagsweltlich, was bei weitem nicht dasselbe war. Ohne jemals von sich behaupten zu können, die Wirklichkeit als solche – gar eine geschichtsphilosophisch vorbestimmte Ganzheit – fassen zu können, strebten die Sozialwissenschaften nach verstehender Erkenntnis. Ganz anders sah das Verstehen zwischen den Alltagsmenschen aus, die ihre Wirklichkeit, was für ihr Handeln notwendig war, deuteten. Schütz warnte vor der „eminenten Gefahr, daß in aller Naivität der vom Beobachter gebildete Idealtypus dem durch den Handelnden konstruierten Idealtypus untergeschoben wird und umgekehrt“.184 Nur eine analytische Begriffsbildung, wie sie die gesellschaftliche Wirklichkeit niemals ganz erfasste und immer perspektivisch war, konnte kausal- und sinnadäquat sein. Schütz schickte sein Buch an Marianne Weber, die Witwe Max Webers, und er schrieb ihr: „Die vorliegende Arbeit ist das Ergebnis zwölfjähriger intensivster Befassung mit den Werken Max Webers. … Ich glaube damit dem Werk Max Webers, das heute meinem Gefühl nach vielfach mißdeutet wird, aber auch der weiteren Entwicklung der verstehenden Soziologie im Sinne ihres großen Begründers einige Dienste zu leisten, wenn ich die Übereinstimmung der Weberschen Grundgedanken mit den jüngeren gesicherten Erkenntnissen der Erkenntniskritik nachweise. Inwieweit mir dies gelungen ist, mag der Leser beurteilen“.185 Weder Parsonsʼ noch Schütz, die Retter der modernen Soziologie aus den Fängen des Sozialdarwinismus, haben das Unheil der nationalsozialistischen Verballhornung abwenden können. Parsonsʼ Buch war in Europa bis nach dem Zweiten Weltkrieg unbekannt. Schützʼ Buch war ab 1933 in Deutschland nicht mehr zugänglich, und 1938 musste er mit seiner Familie aus Österreich fliehen. Zwischen Parsons und Schütz entstand in den Jahren 1938/1939 bis 1941 eine Kontroverse um The Structure of Social Action. Es ging für Schütz um Parsonsʼ Lösung des Problems einer nicht-positivistischen Handlungstheorie und für Parsons um die Weberinterpretation bei Schütz. Die Korrespondenz zwischen ihnen – heute als Buch zugänglich186 – brachte sie auf keinen gemeinsamen Nenner. Schütz präzisierte schließlich seine Auffassung in einem Aufsatz, der sich von Parsons distanzierte.187 184 Schütz, Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt, pp. 288 – 289. 185 Alfred Schütz an Marianne Weber, Brief vom 27. April 1932. Nachlass Alfred Schützʼ, Beinecke Library, Yale University, Box 33, Folder 897. 186 Siehe: Richard Grathoff (ed.), The Theory of Social Action: The Correspondence of Alfred Schütz and Talcott Parsons, Urbana: Indiana University Press 1978. 187 Alfred Schütz, The Problem of Rationality in the Social World, Economica, New Series, Vol. X, No. 38, 1943, pp. 130 – 149.
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Parsons schrieb in seinem letzten Brief an Schütz, er könne nicht sehen, inwiefern Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt zur Abkehr vom Sozialdarwinismus beitrage: Es schien ihm nicht notwendig, wie er schrieb, „für den Zweck beispielsweise meiner Behandlung von Max Weber … die Analyse eines subjektiven Standpunkts in seinem Verhältnis zum Zeitelement zu beachten, was das zentrale Thema Ihrer Analyse ist“.188 Zusammenfassend: Die Rettung der modernen Soziologie vor dem Sozialdarwinismus gelang vor allem durch The Structure of Social Action. Das Buch wurde bei seinem Erscheinen wenig beachtet und erst ab den 1950er Jahren weltweit rezipiert. Parsons wandte sich gegen die zeitgenössische Sozialwissenschaft in der Nachfolge Spencers und Sumners, wo eine Gesellschaft der Anomie und des „Kampfs Aller Gegen Alle“ im Sinne von Struggle for Existence und Survival of the Fittest postuliert wurde. Demgegenüber müsse man sehen, dass es längst eine Soziologie gab, die die moderne Industriegesellschaft adäquat erfasste. Der Satz der politischen Philosophie gelte, dass Spencer – als Werk, als Wirkung – tot sei. Man müsse sehen, dass für die demokratische Gesellschaft, wo Spencers mechanistische Gesetze nicht galten, Marshall, Pareto, Durkheim und Weber das analytische Programm entworfen hatten. Weber sei geradezu der Vater des modernen Denkens: Er mache den „Geist“ des Kapitalismus zum Angelpunkt des soziologischen Verständnisses, und er weigere sich, die nationalökonomischen Gesetze und die utilitaristischen Formeln für eine Erklärung der Wirklichkeit zu halten. Weber, so Parsons, habe durch den „Geist“, also die Sinnstrukturen der Handlungsorientierung(en), den Schlüssel zum Verständnis geliefert. In der modernen Industriegesellschaft waren, wie Parsons zeigte, keine Zugeständnisse an Spencer oder andere Adepten des Utilitarismus mehr notwendig. Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm auch Schützʼ Idee von den idealtypisch aufgebauten Strukturen der Lebenswelt und dem unterschiedlichen Verstehen im Alltag und in der Sozialwissenschaft zunächst einen noch (bis in die sechziger Jahre) bescheidenen Platz in der nach-darwinistischen Geschichte der Soziologie ein. Schützʼ Leistung ist bis heute noch zu würdigen. 4. DIE THEORIEGESCHICHTE UND DIE INTELLECTUAL MIGRATION Die soziologische Theorie in den USA nahm in den 1930er Jahren Impulse aus Europa auf. Der Input hatte zwei verschiedene Seiten. Die eine Seite war das transatlantische Band, das etwa Parsonsʼ Plädoyer für die nicht-darwinistische, nicht-positivistische und nicht-utilitaristische Soziologie stiftete. Nicht einmal an Parsonsʼ eigener Universität, Harvard, und auch nicht in Chicago wurde gewürdigt, dass die Simmel-Weberʼsche Soziologie einen Ausweg aus der Krise der zeitgenössischen 188 Talcott Parsons an Alfred Schütz, Brief vom 29. März 1941, p. 2. Nachlass Alfred Schütz, Beinecke Library, Yale University, Box 1, Folder 16. Im Original: „I could not see that for the purposes of my treatment of Max Weber, for instance, it was necessary to go into the kind of analysis of the subjective point of view in relation to the time element which was the central theme of your analysis.“
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Theorie wies. Aber das Fundament war gelegt, und nach dem Zweiten Weltkrieg wurde The Structure of Social Action in seiner zweiten Auflage (erschienen 1949) ein Bestseller. Eigentlich bewirkte erst der Erfolg des zweiten Hauptwerks Parsonsʼ The Social System (erschienen 1951), dass The Structure of Social Action nachträglich weltweit zum Klassiker wurde. Auch The Social System verstand sich als eine analytische Programmschrift der modernen Soziologie. Jenseits des Sozialdarwinismus sollten die Sinnstrukturen im sozialen System verankert und per Wertorientierungen verstanden werden. The Social System wollte die zeitgenössische Industriegesellschaft mit adäquaten Begriffen erfassen. Der analytische Bezugsrahmen war, wie Parsons ausdrücklich am Beginn des Buches festhielt, die Weberʼsche Herrschafts- und Handlungstheorie.189 Schützʼ Theorie wurde ab den 1950er Jahren rezipiert und trug dazu bei, zumal Harold Garfinkel, der spätere Begründer der Ethnomethodologie, im Jahr 1952 eine bahnbrechende Arbeit über Schützʼ Konzeption der Interaktion vorlegte190, dass die amerikanische Theorie auch diese Weiterführung des Simmel-Weberʼschen Ansatzes aufgriff. Die Ethnomethodologie wurde in den sechziger Jahren zeitweise eine Hauptarena der Theorie und der Forschung.191 In den dreißiger Jahren kamen allerdings nicht nur die modernen Theoreme aus Europa in die USA. Die Intellectual Migration, wovon die Historiker Bernard Bailyn und Donald Fleming berichteten192, brachte Tausende aus Europa vertriebene Wissenschaftler, darunter hunderte Sozialwissenschaftler und über die Hälfte der deutschen Soziologen, an die amerikanischen Universitäten und Colleges.193 An der New School for Social Research in New York entstand die University in Exile, wohin etwa Gottfried Salomon-Delatour, ein ehemaliger Student Simmels, und Hans Speier flohen, der mit Parsons in Heidelberg studiert hatte – um zwei Namen zu nennen. Hans Gerth, der Übersetzer einer in der Nachkriegszeit populären Sammlung von Texten Webers194, erhielt einen einjährigen Lehrauftrag an der Harvard University, ehe er an der University of Wisconsin Madison eine feste Bleibe fand. In Chicago arbeiteten mehrere Emigranten mit Edward Shils, dem zeitweiligen Mitarbeiter Parsonsʼ, an Übersetzungen von Teilen der großen Weberʼschen Werke für die Seminare 189 Talcott Parsons, The Social System, Glencoe/Illinois: The Free Press of Glencoe 1951, pp. 3 – 4; dazu auch: Uta Gerhardt, Why Read The Social System Today? Three Reasons and a Plea, Journal of Classical Sociology, vol. 5, 2005, pp. 267 – 301. 190 The Perception of the Other: A Study in Social Order. By Harold Garfinkel. Ph.D. Dissertation, Harvard University, Department of Social Relations, 1952 (unpublished). 191 Harold Garfinkel, Studies in Ethnomethodology, Englewood Cliffs, NJ: Prentice Hall 1967. 192 Bernard Bailyn und Donald Fleming (eds.), The Intellectual Migration: Europe and America, 1930 – 1960, Cambridge Mass.: The Belknap Press of Harvard University Press 1969. 193 Zur Vertreibung der Soziologen bzw. Sozialwissenschaftler von den Universitäten siehe unter anderem: Edward Y. Hartshorne, The German Universities and National Socialism, London: Allen and Unwin 1937 sowie Klaus-Dieter Krohn, Wissenschaft im Exil. Deutsche Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler in den USA und die New School for Social Research, Frankfurt: Campus 1987. Siehe dazu auch die Studien II und III. 194 From Max Weber: Essays in Sociology. Translated, Edited and with an Introduction by H. H. Gerth and C. Wright Mills, New York: Oxford University Press 1946; London: Routledge and Kegan Paul 1948.
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am Department of Anthropology and Sociology.195 Parsons schuf zwischen 1938 und 1941 die Übersetzung der ersten vier Kapitel von Wirtschaft und Gesellschaft ins Englische, die allerdings erst nach Kriegsende im Druck erschien.196 Von diesen transatlantischen Initiativen zur Überwindung des Sozialdarwinismus berichten die gängigen Kompendien der Soziologiegeschichte, die in Deutschland heute weithin verwendet werden, auffallend wenig. In den Übersichten werden die deutschen und die amerikanischen Autoren nebeneinander gestellt, als hätten sie damals wenig miteinander zu tun gehabt und könnten auch heute separat rezipiert werden. Unwillkürlich wird sogar unterstellt, alle Theorien – einschließlich Comte und Spencer – hätten dieselbe Bedeutung für die heutige Soziologie. Dabei wird ausgeblendet, dass sozialdarwinistische und voluntaristische Theorien nichts gemeinsam haben. Etwa wird Spencer in diese Geschichte aufgenommen, als hätte es das Verdikt „Spencer is dead“ niemals gegeben – oder als gelte es heute nicht mehr. In seinem Sammelwerk Klassiker des soziologischen Denkens behandelt Dirk Kaesler Spencer in der ersten und ebenso der zweiten Auflage, als wäre er ein Klassiker. Demgegenüber werden Parsons und Merton in der ersten Auflage nicht einmal erwähnt. Sie werden erst in der zweiten Auflage berücksichtigt, aber dort werden nun auch Hans Freyer, Arnold Gehlen und Helmut Schelsky abgehandelt, sämtlich Hochschullehrer der Nazizeit.197 In dem Kompendium Hauptwerke der Soziologie wird Spencers The Principles of Sociology als ein solches Hauptwerk angesehen.198 In dem Kompendium Schlüsselwerke der Soziologie wird dieses Buch Spencers als ein solches Schlüsselwerk ebenfalls ohne Vorbehalte dargestellt.199 Auch an anderer Stelle wird der Bruch zwischen der Comte-Spencerʼschen und der Simmel-Weberʼschen Soziologie nicht wahrgenommen oder unwillkürlich eingeebnet. Wolf Lepeniesʼ vierbändige Geschichte der Soziologie versammelte zu Beginn der achtziger Jahre eine Anzahl Aufsätze, die ursprünglich in Englisch oder Französisch erschienen waren, zu einer Bestandsaufnahme des Faches.200 Webers 195 Dazu: Lawrence Scaff, Max Weberʼs Reception in the United States, 1920 – 1960, in: KarlLudwig Ay, Knut Borchardt (Hrsg.), Das Faszinosum Max Weber. Die Geschichte seiner Geltung, Konstanz: UVK Velagsgesellschaft 2006, pp. 55 – 89 196 Max Weber, The Theory of Social and Economic Organization. Translated by A. M. Henderson and Talcott Parsons. Edited with an Introduction by Talcott Parsons, New York: The Free Press 1964 (ursprünglich 1947). 197 Dirk Kaesler (Hrsg.), Klassiker des soziologischen Denkens. Band 1: Von Comte bis Durkheim, Band 2: Von Weber bis Mannheim, München: Beck 1978 (1. Auflage); Klassiker der Soziologie. Band 1: Von Auguste Comte bis Norbert Elias. Band 2: Von Talcott Parsons bis Pierre Bourdieu, München: C. H. Beck 2000 (2. Auflage). 198 Siehe: Michael Kunczik, Herbert Spencer The Principles of Sociology, in: Dirk Kaesler und Ludgera Vogt (Hrsg.), Hauptwerke der Soziologie, Stuttgart: Kröner 2000, pp. 414 – 418. 199 Paul Kellermann, Herbert Spencer Die Prinzipien der Soziologie, in: Sven Papcke und Georg W. Oesterdieckhoff (Hrsg.), Schlüsselwerke der Soziologie, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2000, pp. 468 – 471. 200 Wolf Lepenies (Hrsg.), Geschichte der Soziologie. Studien zur kognitiven, sozialen und historischen Identität einer Disziplin, 4 Bände, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1981.
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Einfluss auf Parsons wurde dort nirgends erwähnt. Immerhin wurde die enge Beziehung Mertons zur europäischen Soziologie gewürdigt.201 Aber der Riss ging tiefer: Im ersten Band dieser Sammlung diskutierte Anthony Giddens den Ursprung der modernen Soziologie202 und wandte gegen Parsonsʼ The Structure of Social Action ein, dort werde der Mythos eines Schismas zwischen dem Positivismus des 19. Jahrhunderts auf der einen Seite und Weber und Durkheim auf der anderen Seite konstruiert. Eine „vollständige Neueinschätzung“ sei nötig. Die Kontinuität der Soziologiegeschichte – und dabei eben die Geltung von Marx, Comte und Spencer – sei wieder herzustellen: „Die Sozialwissenschaft, wie wir sie kennen, geht meiner Meinung nach nicht in erster Linie auf die Generation zwischen 1890 und 1920 zurück, sondern auf die ihr vorangegangene Generation von Denkern des 19. Jahrhunderts, unter denen Marx, Comte und Spencer als die bekanntesten angesehen werden dürfen“.203 Diese Ehrenrettung Comtes und Spencers war indessen in Deutschland nicht neu. Das Frankfurter Institut für Sozialforschung hatte in den 1950er Jahren in der lehrbuchartigen Sammlung Soziologische Exkurse auf die Lehren Comtes und Spencers hingewiesen.204 Dort hieß es von der „,Soziologieʻ, Wissenschaft von der Gesellschaft“: „Sie ist ein Kind des Positivismus“.205 Parsonsʼ Theorie wurde als eine Fortsetzung des Spencerʼschen Positivismus angesehen! Gegen diese Soziologie, so die Soziologischen Exkurse, sei Skepsis anzuraten, weil sie der Unmenschlichkeit einer faschistischen Diktatur nichts entgegenzusetzen hätte: „,[P]ositivʻ ist die Soziologie geblieben, nicht nur, weil sie sich ans Gegebene halten und den Wunsch, den Vater des Gedankens, ausrotten will, sondern auch, indem sie zu dem, was nun einmal ist, sich positiv verhält. Sie verwehrt es sich, kritisch an das Bestehende zu rühren“.206 Diese Kritik an der Soziologie verstand sich als Kritik an der Gesellschaft, die „im Stadium der totalen Vergesellschaftung der Menschheit“207 wäre. Die Soziologie Webers sei der Vorläufer jener beliebigen Begriffsschablonen, die der Nationalsozialismus oktroyierte. Webers Soziologie sei eine Apotheose der kapitalistischen Gesellschaft. Demgegenüber sei Spencers Denken zwar mechanistisch, aber letztlich doch typisch für die Theorie des status quo der Gesellschaft(en). Textstellen aus Spencers Die Prinzipien der Soziologie (Übersetzung von 1877) wurden mit einem merklich positiven Unterton angeführt, um zu belegen, dass die Soziologie eine Wissenschaft der herrschenden Gesellschaft sei. Parsonsʼ Soziolo-
201 Lewis A. Coser, Merton und die europäische Tradition der Soziologie, in: Lepenies, Geschichte der Soziologie, Band 4, pp. 237 – 261. 202 Anthony Giddens, Die klassische Gesellschaftstheorie und die Ursprünge der Soziologie, in: Lepenies, Geschichte der Soziologie, Band 1, pp. 96 – 136. 203 Ibid., p. 131. 204 Institut für Sozialforschung, Soziologische Exkurse. Nach Vorträgen und Diskussionen, Frankfurt a. M.: Europäische Verlagsanstalt 1956. Frankfurter Beiträge zur Soziologie, im Auftrag des Instituts für Sozialforschung herausgegeben von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Band 4. 205 Ibid., p. 9. 206 Ibid., p. 14. 207 Ibid., p. 23.
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I. Der lange Abschied vom Sozialdarwinismus
gie wurde demgegenüber negativ kodiert, weil sie „formal“208 wäre, was bedeutete, sie setze eine hermetische Gesellschaftsorganisation voraus. Parsons wurde den Theorerikern zugerechnet, die eine eklatant gefährliche Zuspitzung der gesellschaftlichen Verhältnisse im Zeitalter des Kalten Krieges nicht sehen könnten: „Kaum ist es übertrieben zu sagen, dass die Entwicklung zur totalen Gesellschaft unabdingbar begleitet wird von der Gefahr der totalen Vernichtung der Menschheit“.209 Der Bruch in der Theoriegeschichte, als Simmel und Weber den Anfang der modernen Soziologie setzten und dadurch den langen Abschied vom Sozialdarwinismus möglich machten, ist in den letzten fünfzig Jahren nicht immer angemessen bewusst geworden. Die Leistungen dieser ersten Denker der modernen Soziologie sind in der nachträglichen Bewertung immer wieder hinter Vorurteilen und Fehlbeurteilungen verschwunden. Die „Frankfurter Schule“ verleugnete Simmel, verkannte Weber und verabscheute Parsons. Der Beitrag Giddensʼ zur Soziologiegeschichte in dem Sammelwerk Lepeniesʼ sah keine Verdienste Parsonsʼ oder des frühen zwanzigsten Jahrhunderts und empfahl stattdessen die Rückkehr zu Marx, Comte und Spencer. Die Kompendien der letzten Jahrzehnte verbannten Spencer nicht aus den Reihen der Klassiker. Der Sozialdarwinismus gilt offenbar immer noch nicht durchweg als gefährlich, jedenfalls nicht als Ideologie, die mit der modernen Soziologie unvereinbar ist. Gerade die Ablösung vom positivistischen und insbesondere sozialdarwinistischen Ansatz ist indessen ein dringliches Anliegen. Die heutige Gesellschaftsanalyse muss sich endgültig von den Schlacken der Suche nach Gesetzmäßigkeiten befreien, und sie muss die Spuren der Geschichtsphilosophie tilgen. Sie muss den Simmel-Weber-Schütz-Parsonsʼschen Ansatz zum Allgemeingut machen. Die intellectual migration der dreißiger Jahre hat zweifellos dokumentiert, wie wichtig die demokratische Gesellschaft der USA für die Theorieentwicklung der Soziologie damals war und auch heute noch ist, eine Tradition verkörpernd, wie sie aus heutiger Perspektive die Weichen der modernen Soziologie gestellt hat und die Notwendigkeit des methodologischen Denkens erwiesen hat. Crane Brintons „Spencer is dead“ könnte zur Maxime werden. Die normativen Wertorientierungen der konträren Herrschafts- und Handlungsregimes könnten – wie bei Parsons – zum Thema werden, um die Handelnden als die „aktiven, kreativen und urteilsfähigen Wesen“ zu sehen – wie er es in einem Aufsatz des Jahres 1935 formulierte.210 Die Geschichte der Soziologie in Deutschland im zwanzigsten Jahrhundert wird in den Studien dieses Bandes geschildert. Am Ende des Buches wird einmal die Frage stehen, wieviel erreicht wurde und was noch aussteht. In mancher Hinsicht ist der Abschied vom Sozialdarwinismus bis heute nicht beendet. Unsere Disziplin, die seit der vorigen Jahrhundertwende eine faszinierende Fundierung hat,
208 Ibid., p. 31. 209 Ibid., p. 35. 210 Parsons, The Place of Ultimate Values in Sociological Theory, International Journal of Ethics, vol. 45, 1935, pp. 282 – 316, cit. p. 282.
4. Die Theoriegeschichte und die Intellectual Migration
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befindet sich noch auf dem Weg, die längst geschaffenen Grundlagen zu ihrem Selbstverständnis zu machen. Im amerikanischen Exil – vor allem durch Parsons – hat die Simmel-Weberʼsche Theorie vor der Zerstörung durch den Dilettantismus bewahrt werden können, wie er durch das nationalsozialistische Deutschland allemal zum vorgeschriebenen Programm wurde, als es den Sozialdarwinismus vorschrieb. Die Intellectual Migration, wovon Fleming und Bailyn sprachen, hat mitgeholfen, die Erkenntnisse der europäischen Geistesgeschichte zu bewahren. So konnten die Leistungen Parsonsʼ ein Meilenstein der Nachkriegsentwicklung werden. In diesem Sinne ist die moderne Soziologie unsere einzig wissenschaftlich adäquate Perspektive. Sie bildet den begrifflichen Rahmen für das Erkenntnisprogramm, das auf die demokratische Gesellschaft festgelegt ist.
II. DER NATIONALSOZIALISMUS UNTER HERRSCHAFTSSOZIOLOGISCHER PERSPEKTIVE Annäherungen an das Anti-Moderne EINLEITUNG Die soziologische Analyse muss sehen, dass der Nationalsozialismus nicht nur ein politisches, sondern ein gesellschaftliches Regime war. Dabei ist die Frage: War das Regime modern? Die eine Behauptung ist, der Nationalsozialismus habe unwillkürlich die Modernität Deutschlands gefördert, wie dies Ralf Dahrendorf in den sechziger Jahren erklärte1: Die Gesellschaft in Deutschland, so Dahrendorf, habe erst durch den Nationalsozialismus, der die Schranken der ständischen Sozialstruktur niederriss, zur Demokratie gefunden, was nach Kriegsende zur Entstehung der Bundesrepublik beigetragen habe.2 Die andere Behauptung: Alle Modernität sei problematisch, es bestehe eine Ambivalenz der Werte, denn die Verfolgung von Minderheiten wie im Nationalsozialismus sei charakteristisch für die moderne Gesellschaft des zwanzigsten Jahrhunderts überhaupt (gewesen). Die letztere Auffassung vertritt Zygmunt Bauman: Der einflussreiche Traktat Modernity and the Holocaust – der deutsche Titel heißt Die Dialektik der Ordnung – erfasste den Mord an Millionen als ein gesellschaftliches Merkmal der Moderne.3 Die Gegenthese, der Nationalsozialismus sei vorgetäuschte Modernität (gewesen), hat der Historiker Hans Mommsen überzeugend begründet.4 Soziologisch ist zu zeigen, inwiefern Mommsens These im Einklang mit den historischen und politologischen Forschungen zum Nationalsozialismus steht, die dessen verbrecherisches Regime erfassen. Die soziologische Untersuchung kann erweisen, dass das NS-Regime eben nicht eine moderne Gesellschaft war. 1
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Ralf Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München: Piper 1965. In den achtziger Jahren – wobei er den so genannten „Historikerstreit“ kommentierte – meinte Dahrendorf, die Soziologie, die auf das Allgemeine ziele, sei nicht geeignet, etwas so Besonderes, wie es der Nationalsozialismus allemal gewesen sei, angemessen zu begreifen – weshalb die Geschichte diese Aufgabe übernehmen müsse. Dahrendorf, Soziologie und Nationalsozialismus, in: Hans-Joachim Hoffmann-Novotny (Hrsg.), Kultur und Gesellschaft. Gemeinsamer Kongress der Deutschen, der Österreichischen und der Schweizerischen Gesellschaft für Soziologie, Zürich 1988. Beiträge der Forschungskomitees, Sektionen und Ad-hoc-Gruppen, Zürich: Seismo-Verlag 1989, pp. 669 – 675. Zur Kritik siehe: Jens Alber, Nationalsozialismus und Modernisierung, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Bd. 41, 1989, pp. 347 – 365. Zygmunt Bauman, Modernity and the Holocaust, Cambridge: Polity Press 1989 (dt. Die Dialektik der Ordnung, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 1994). Hans Mommsen, Nationalsozialismus als vorgetäuschte Modernisierung, in: Walter H. Pehle (Hrsg.), Der historische Ort des Nationalsozialismus. Annäherungen, Frankfurt: Fischer 1990, pp. 31 – 46.
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II. Der Nationalsozialismus unter Herrschaftssoziologischer Perspektive
Ausgangspunkt ist die in der amerikanischen Literatur der dreißiger und vierziger Jahre erörterte These, dass der Nationalsozialismus vormodern – keinesfalls modern – war. Diese Vormoderne, das sich als vorgetäuschte Modernität denken lässt, soll aus einer herrschaftssoziologischen Begriffsperspektive gezeigt werden. Das Regime, das keine moderne Gesellschaft war, soll mit den Mitteln der modernen Soziologie erfasst werden. Die Begriffsperspektive ist die Weberʼsche Herrschaftssoziologie. Die charismatische Herrschaft, ein reiner Typus der legitimen Herrschaft, wie ihn Weber in Wirtschaft und Gesellschaft darstellte, war zeitgenössisch in den dreißiger und vierziger Jahren das Paradigma der Deutung des Nationalsozialismus. Bis in die sechziger Jahre standen andere Deutungsmuster im Vordergrund. Erst in den achtziger Jahren – allerdings nur teilweise – wurde der Weberʼsche Zugang, wodurch der Nationalsozialismus zum Thema wurde, wieder entdeckt. Die Überlegungen der dreißiger und frühen vierziger Jahre gingen allerdings darüber hinaus. Nicht nur der Führerkult, wie er in den achtziger Jahren mit Weber zum charismatischen Herrschaftssystem gerechnet wurde, sondern auch die Verbrechen, was in den dreißiger und vierziger Jahren bewusst war, gehören zum Thema. Das vormoderne Regime, das im Nationalsozialismus herrschte, ist soziologisch zu denken als das Anti-Moderne, wenn man noch einmal neu – und dabei mit Weber – begrifflich ansetzt. Die Weberʼsche Herrschaftsanalyse kann die historische und politologische Großforschung zur Verbrechensherrschaft des Nationalsozialismus umfassen. Das Anti-Moderne ist gesellschaftsgeschichtlich nachvollziehbar, wenn man manchen gängigen Auffassungen das Mäntelchen wegnimmt, dass alles Geschehen im zwanzigsten Jahrhundert allemal die Moderne darstelle. Bei näherem Hinsehen erweist sich, dass der Zugriff seit den achtziger Jahren erst den Anfang setzt. Webers Denkfigur der Veralltäglichung des Charisma wird in jüngeren Darstellungen, die auf Weber rekurrieren, bisher noch nicht ausreichend gewürdigt. Dabei haben die Überlegungen Parsonsʼ, die zeitgenössisch in den vierziger Jahren auf Weber zurückgriffen, den Nationalsozialismus soziologisch überzeugend bestimmt. Gegenüber der Sichtweise der achtziger Jahre muss man auf Parsonsʼ Analysen zurückgreifen, um mittels des Weberʼschen Typus der charismatischen Herrschaft zu klären, warum dieses gesellschaftliche Regime eine Gefahr für die abendländische Kultur war. Parsonsʼ Ansatz, näher an Weber als die meisten, muss weiter gedacht werden, um das Anti-Moderne des Nationalsozialismus zu begreifen. Die Perspektive, aus der diese Weiterentwicklung vorgeschlagen wird, heißt Avantgarde. Dazu können die Studien des Instituts für Sozialforschung, die Arbeiten zur Kollaboration mit dem Gewaltregime im damaligen Alltag und andere Forschungen herangezogen werden. Sie passen in das soziologische Verständnis, wenn man Webers Typus der charismatischen Herrschaft zur Leitlinie macht. Der Schlüsselbegriff der Avantgarde erlaubt, einen in den dreißiger und vierziger Jahren teilweise thematisierten und seither weithin vergessenen Aspekt des Nationalsozialismus analytisch in den Vordergrund zu stellen. Die Studie hat fünf Teile: Teil I rekapituliert die Großstudien und analytischen Ansätze, die den Nationalsozialismus als das Verbrechensregime zeigen – wie dies
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das Nürnberger Tribunal 1945/1946 erwies. Teil II sucht in der Soziologie und der Geschichtsschreibung jene Ansätze der letzten drei Jahrzehnte auf, die den Nationalsozialismus gemäß Max Webers Typus der charismatischen Herrschaft begreifen. Teil III thematisiert die Überlegungen Parsonsʼ, um unter Berufung auf Max Weber zu zeigen, dass der Nationalsozialismus mehr als der sprichwörtliche Hitlermythos war. Teil IV wendet sich vor diesem Hintergrund dem Avantgarde-Topos zu. Durch Literatur zur Problematik der Herrenrasse und durch Studien über die sozialpsychologischen Grundlagen des Faschismus bzw. des Nationalsozialismus wird erläutert, dass das soziologische Begriffsmodell zwischen dem Charisma und der Gewaltherrschaft ein Junktim herzustellen hat. Erst auf diesem Hintergrund lässt sich – im Schlussteil – klären, dass die Legitimation der charismatischen Herrschaft nicht der Glaube an den Führer war. Vielmehr war die Gewalt – Zwang, Raub und Betrug – offensichtlich, worin eine Brücke zum Kommunismus der Sowjetunion (und wohl auch der Deutschen Demokratischen Republik) analytisch zu schlagen ist. Man kann darin ein Hauptmoment dieser anti-modernen Herrschaft erkennen. Insgesamt wird mit Webers (und Parsonsʼ) Überlegungen gegen die These argumentiert, am Nationalsozialismus sei überhaupt etwas Modernes gewesen. Zur Klärung des begrifflichen Horizonts werden die historischen, politologischen und sozialpsychologischen Forschungen herangezogen, die den Nationalsozialismus geschildert haben. Ihnen sollte der soziologische Standpunkt entsprechen, die Begriffsperspektive der charismatischen Herrschaft. Der Topos der Avantgarde verleiht dem Weberʼschen Typus der charismatischen Herrschaft eine bessere Tiefenschärfe. Die Studie stellt unter der herrschaftssoziologischen Begriffsperspektive das Antimoderne der nationalsozialistischen Gesellschaft heraus. Grundmodell ist, dass die zwei hauptsächlichen Typen der Herrschaft in Deutschland im zwanzigsten Jahrhundert nicht zueinander passten – vormodern oder anti-modern (das heißt charismatisch-traditional im Weberʼschen Sinne) war der Nationalsozialismus; modern (das heißt rational-legal als Typus der gesellschaftlichen Herrschaft) war die Weimarer Republik und ist die Bundesrepublik Deutschland. 1. DER NATIONALSOZIALISMUS – EIN VERBRECHENSREGIME Das Verhältnis zwischen dem Staat und der Gesellschaft im Nationalsozialismus ist in vier Ansätzen aufgearbeitet worden, die die historische Dynamik des Regimes unterschiedlich thematisieren. Diese Ansätze veranschaulichen, wie die Zerstörung des Staates durch die Fusionierung mit der Gesellschaft und wie andererseits die Zerstörung der gesellschaftlichen Ordnung durch die Diktatur zu denken ist. Die vier Ansätze bilden je eigene analytische Sichtweisen auf das Verbrechensregime.5 5
Die Feststellung eines Verbrechensregimes traf Hannah Arendt in ihrem klassischen Werk The Origins of Totalitarianism – ursprünglich 1951 erschienen und 1955 ins Deutsche übersetzt unter dem Titel Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft – im Sinne des Nürnberger Tribunals: „Die Originalität totalitärer Herrschaft, deren Taten in der uns bekannten Geschichte und deren Organisationsform unter den von der klassischen politischen Theorie definierten Staatsformen ohne Parallele dastehen, zeigte sich vorerst in dem, was man gemeinhin als die
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II. Der Nationalsozialismus unter Herrschaftssoziologischer Perspektive
I.) Der aus Deutschland in die Emigration vertriebene Jurist und Politikwissenschaftler Franz Neumann legte sein Standardwerk Behemoth in Erstauflage 1942 vor. Er ergänzte seine Darstellung zwei Jahre später um eine Weiterführung.6 Anhand der Daten, die auch seinen umfangreichen Memoranden für das Office of Strategic Services seit 1942 zugrunde lagen7, konnte der Ergänzungsteil seines Buches eine Verlaufsgeschichte des Regimes bis Ende 1943/Anfang 1944 zeichnen. Neumanns These: Da das Recht, das überhaupt erst den modernen Staat ausmacht, seit 1933 in Deutschland nicht mehr herrschte, zumal die Verfassung des Deutschen Reiches außer Kraft gesetzt und die Gewaltenteilung aufgehoben war, konnte der totale Staat, den der Nationalsozialismus verkörpern wollte, überhaupt kein Staat sein. Im Sinne Max Webers, der klärte, dass die rational-legale Herrschaft durch Verfahren legitimiert ist als eine rechtsstaatliche Ordnung, gab es den modernen Staat im Nationalsozialismus nicht.8 Statt des Staates, der zerstört wurde, so Neumann, bestanden vier hierarchische Machtblöcke, die einander gnadenlos bekämpften. Die Machtblöcke waren: erstens die NSDAP bzw. die nationalsozialistische Parteihierarchie, die die Herrscherge-
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Verbrechen dieser Systeme bezeichnet. Das Charakteristische der in Nürnberg abgeurteilten Taten des Naziregimes war, dass sie sich weder mit unseren Begriffen von Sünde und Vergehen – wie sie seit Jahrtausenden in den Zehn Geboten niedergelegt und scheinbar endgültig formuliert waren – fassen, noch mit den uns zur Verfügung stehenden juristischen Mitteln aburteilen und bestrafen ließen. Der Satz ‚Du sollst nicht tötenʻ versagt gegenüber einer Bevölkerungspolitik, die systematisch und fabrikmäßig daran geht, die ‚lebensuntauglichen und minderwertigen Rassen und Individuenʻ oder die ‚sterbenden Klassenʻ zu vernichten, und dies nicht als einmalige Aktion, sondern offenbar in einem auf Permanenz berechneten und angelegten Verfahren“. Arendt, Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft, Frankfurt: Europäische Verlagsanstalt 1955, p. 725 (ursprünglich: The Origins of Totalitarianism, New York: Harcourt, Brace 1951). Zum Nürnberger Tribunal siehe auch: Joe J. Heydecker / Johannes Leeb, Der Nürnberger Prozess. Bilanz der tausend Jahre, Köln/Berlin: Kiepenheuer und Witsch 1958. Franz L. Neumann, Behemoth: The Structure and Practice of National Socialism, New York: Oxford University Press 1942 sowie Behemoth: The Structure and Practice of National Socialism 1933 – 1944, New York: Oxford University Press 1944; deutsche Übersetzung: Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933 – 1944, Frankfurt: Europäische Verlagsanstalt 1977 und Neuausgabe Frankfurt: Fischer 1984. Zur Tätigkeit Neumanns für das Office of Strategic Services, wo er Memoranden in Buchlänge über Nazi-Deutschland schrieb, siehe: Barry M. Katz, Foreign Intelligence: Research and Analysis in den Office of Strategic Services, 1942 – 1945, Cambridge MA: Harvard University Press 1989, insbesonders Kap. 3, dort pp. 35 – 41. Neumanns – allerdings nicht unter seinem Namen in der Serie der R&A-Memoranden erschienene – Studie The German New Order in Europe, Monograph No. 5, Coordinator of Information, R & A 216, March 2, 1942 ist zugänglich in der Harvard College Library. Ernst Fraenkels Theorem, dass im Nationalsozialismus ein Doppelstaat bestand, ist mit Neumanns These der Zerstörung des Staates insofern vereinbar, als Fraenkel darlegte, dass der rechtsstaatliche Normenstaat, also das auf Gewaltenteilung beruhende Gemeinwesen, zerstört war und stattdessen ein Maßnahmestaat bestand, also ein Konglomerat von Instanzen, die durch Willkürakte handelten. Die Nomenklatur des Normenstaates – wobei die Maßnahmen des Nationalsozialismus als Gesetze deklariert wurden – bildete eine Fassade, hinter der sich die Erlasse des Maßnahmestaates den Anstrich der Legitimität zu geben suchten. Siehe Ernst Fraenkel, The Dual State, New York: Oxford University Press 1941, rückübersetzt ins Deutsche unter Mitarbeit Fraenkels als: Der Doppelstaat, Frankfurt: Europäische Verlagsanstalt 1974.
1. Der Nationalsozialismus – ein Verbrechensregime
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walt usurpierte; zweitens die Ministerialbürokratie, die seit dem Wilhelminischen Reich eine antidemokratische und gesellschaftspolitisch reaktionäre Gruppierung war – eine „geschlossene Kaste“9; drittens die Großindustrie, wobei deren Kartelle und Monopole einen Interessenblock der skrupellosen Gewinnmaximierung bildeten, teilweise bereit, die Nationalsozialisten zu tolerieren; viertens das Militär, ein „Staat im Staate“ nach 1919, in der Weimarer Republik gegen den Versailler Frieden eingestellt und durch Hitlers Kriegspolitik auf den Imperialismus eingeschworen. Neumann analysierte – die vier Machtblöcke vor Augen – die politische Struktur sowie die totalitäre Monopolwirtschaft und die so genannte neue Gesellschaft des Nationalsozialismus. Die politische Struktur bedeutete eine Durchdringung des politischen Lebens mit der nationalsozialistischen Ideologie, wobei „das ‚Volkstumʻ zur Quelle des Charisma“10 des Führers wurde. Der Rassenimperialismus war eine „Lebensraum“-Doktrin, die den Weltanschauungskrieg rechtfertigte. Die totalitäre Monopolwirtschaft beruhte auf der Umgestaltung der monopolistischen Großindustrie zu einer Wehrwirtschaft, nunmehr einer Befehlswirtschaft, die nichts mehr mit dem unternehmerischem Konkurrenzkapitalismus früherer Jahrzehnte gemein hatte. Am Ende der Analyse über die totalitäre Monopolwirtschaft – und bevor die neue Gesellschaft Nazideutschlands näher analysiert wurde – rekapitulierte Neumann: „Vier verschiedene Gruppen sind so in der deutschen herrschenden Klasse repräsentiert: die Großindustrie, die Partei, die Bürokratie und die Wehrmacht. … Ist ihre Herrschaft in den Massen verankert und wird sie von diesen akzeptiert?“11 Die neue Gesellschaft, so lautete das nächste Thema, bestand aus einer herrschenden Klasse, die die vier Machtblöcke bildeten, und außerdem einer Masse aus den beherrschten Klassen, die ohne Rechte waren. Die machtlosen Volksgenossen wurden gegängelt und bespitzelt. Das Rechtssystem, so Neumann, verdiente seinen Namen nicht mehr, denn es war zur Farce geworden (wobei er die Situation gegen Ende des Jahres 1941 schilderte): „Das nationalsozialistische Rechtssystem ist nichts anderes als eine Technik der Manipulation der Massen durch Terror. Die Strafgerichte sind heute im Verein mit der Geheimen Staatspolizei, der Staatsanwaltschaft und den Henkern in erster Linie Praktiker der Gewalt, und die Zivilgerichte sind primär Vollzugsagenten der monopolistischen Wirtschaftsverbände“.12 Der zweite Teil des Buches schilderte die Ereignisse bis zum Ende des Jahres 1943. Die politische Struktur war durch die Einsetzung von Reichsstatthaltern, Reichsverteidigungskommissaren etc. noch weiter im Sinne eines Verwaltungsapparates mediatisiert, der aus NSDAP-Funktionären bestand. Verbrechen und politische Macht waren nach der Ernennung des SS-Reichsführers Heinrich Himmler zum In9 Neumann, Behemoth (1984), p. 431. 10 Für Neumann, der dabei nicht auf Weber verwies, war Charisma eine quasi-magische Qualität, wie sie etwa wundertätigen Königen zugeschrieben wurde. Das Charisma, das die Macht des Führers in derart magischer Weise bewirkte, wurde, so Neumann, nicht aus Gott oder dem Stammesgeschlecht, sondern dem „Volkstum“ hergeleitet, einer mystischen Größe. Siehe dazu Behemoth, Kap. IV: „Das ‚Volkstumʻ als Quelle des Charisma“, pp. 131 ff. 11 Ibid., p. 422. 12 Ibid., p. 530.
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II. Der Nationalsozialismus unter Herrschaftssoziologischer Perspektive
nenminister kaum noch voneinander zu trennen.13 Zum Antisemitismus, der das probate Mittel der politischen Herrschaft war, schrieb Neumann (zu Beginn des Jahres 1944): „Die auf Befehl der Nazis von immer breiteren Schichten des deutschen Volkes praktizierte Verfolgung der Juden verwickelt diese Schichten in eine kollektive Schuld. Die Teilnahme an einem so ungeheuren Verbrechen wie der Ausrottung der Ostjuden macht die deutsche Wehrmacht, das deutsche Beamtentum und breite Massen zu Mittätern und Helfern dieses Verbrechens und macht es ihnen daher unmöglich, das Naziboot zu verlassen“.14 Die totalitäre Monopolwirtschaft, so schilderte Neumann für den Zeitraum 1941 – 1943, wurde durch die Zwangsbewirtschaftung, die Errichtung von Produktionsstätten in Konzentrationslagern und die Beschäftigung von Zwangsarbeitern unter unmenschlichen Arbeitsbedingungen noch weiter ausgebaut. Die Wirtschaftsverbrechen wurden koordiniert durch das im Jahr 1942 geschaffene Ministerium für Rüstung und Kriegsproduktion – eine Hochburg der NS-Diktatur. Eigene Entscheidungsspielräume für Großindustrielle gab es in der Wirtschaft nicht mehr. Längst hatte die Ministerialbürokratie, wie die Mitwirkung der Staatssekretäre an der berüchtigten Wannsee-Konferenz im Januar 1942 bezeugte, wo die Ermordung von elf Millionen Menschen koordiniert wurde, jegliches Eigengewicht gegenüber dem nationalsozialistischen Terrorregime verloren. So blieb, wie Neumann zu Beginn des Jahres 1944 schrieb, in Deutschland seinerzeit nur das – durch Verbrechen oder Verbrechensduldung der Wehrmacht allerdings korrumpierte – Militär als die einzige Gruppierung der herrschenden Klasse, die dem Nationalsozialismus noch nicht vollends erlegen war: „Die Wehrmachtsführung ist von der Partei noch völlig getrennt“.15 Aber mit der Ermordung von Teilen des Generalstabs nach dem gescheiterten Attentat des 20. Juli 1944 wurde auch diese letzte Bastion nicht-faschistischer gesellschaftlicher Macht schließlich zerstört. In der Endphase des Regimes gab es nur noch die NSDAP als das allgewaltige Machtzentrum, und die Verwüstungen und Verfolgungen waren furchtbar. II.) Die Historiker des Instituts für Zeitgeschichte (München) erarbeiteten in den sechziger bis achtziger Jahren einen Ansatz zum Verständnis des Verhältnisses zwischen dem Staat und der Gesellschaft im Nationalsozialismus. Der Verbrechenscharakter des Regimes wurde im Bezugshorizont zwischen dem Führerstaat, der Wehrwirtschaft, dem totalen Krieg und dem Massenmord festgestellt. Martin Broszats Der Staat Hitlers, erschienen 196916, baute auf den umfangreichen Gutachten auf, die das Institut für Zeitgeschichte für die Anklage im Auschwitz-Prozess erstellt und unter dem Titel Anatomie des SS-Staates veröffent13 Die verdienstvolle Darstellung des Reichsinnenministeriums unter Heinrich Himmler 1943 – 1945 (Stephan Lehnstaedt in Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte Bd. 54, 2006, 639 – 672) kann als Beschreibung der Zustände gelesen werden, die die Herrschaft der SS endgültig festigten. Die leitenden Beamten des Ministeriums hatten weitgehend freie Hand und waren überzeugte Nationalsozialisten, die die Prärogative der SS nicht in Frage stellten. Himmler als Chef der SS machte als Innenminister dadurch unwillkürlich das Innenministerium zum Erfüllungsgehilfen der SS. 14 Neumann, Behemoth, p. 583. 15 Ibid., p. 659. 16 Martin Broszat, Der Staat Hitlers. Grundlegung und Entwicklung seiner inneren Verfassung, München: dtv 1969, 15. Auflage 2000.
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licht hatte.17 Dort schilderte Hans Buchheim die SS als das totalitäre Herrschaftsinstrument, Broszat zeichnete die Konzentrationslager als ein furchtbares gesellschaftliches Machtmittel, Hans-Adolf Jacobsen untersuchte den so genannten Kommissarbefehl als regelrechtes Tötungsdekret und Helmuth Krausnick analysierte die Judenverfolgung als eine fatale Folge der rassistischen Ausgrenzung von den Anfängen des Sozialdarwinismus bis zur so genannten „Endlösung“. Broszat bündelte diese Analysen in Der Staat Hitlers zu zwei zentralen Aussagen. Die eine Aussage: Die Gewaltenteilung des modernen Staates wurde im Zuge der Monopolisierung der politischen Gewalt durch die Hitlerbewegung zerstört, so dass anlässlich der Umwälzungen des Jahres 1933 eine letztlich unbeschränkte Machtkonzentration entstand. Die Zerschlagung der rechtsstaatlichen Instanzen signalisierte den Zugriff des monolithischen Führerstaates auf (fast) alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens. Die zweite Aussage: Die Entwicklung nach 1938, als die offenen Kriegsvorbereitungen hinführten zum Weltkrieg, zum Euthanasie-Befehl und zum Holocaust, war möglich wegen einer „Polykratie der Ressorts“18 zwischen den Verwaltungsapparaten und der SS. Diese Kompetenzkonkurrenz, so Broszat, stützte den „Führerabsolutismus“19 – woraus sich das nach den heutigen Maßstäben kaum noch vorstellbare Regime der totalitären Massenverbrechen entwickeln ließ.20 Die These des Chaos im Gewand der totalitären Machtfülle griff Norbert Frei zwanzig Jahre nach Broszats Standardwerk auf. Der Führerstaat – eine Überblicksdarstellung der nationalsozialistischen Herrschaft bis 194521 – entwarf einen dreistufigen Vorgang der sukzessiven Gewaltmonopolisierung. Frei unterschied die folgenden Phasen: Zunächst geschah die Formierung des Dritten Reiches 1933 – 1934, als die politische Struktur Deutschlands zerstört und die Gesellschaft gleichgeschaltet wurde; sodann kam es zur Konsolidierung 1935 – 1938, als der Terror systematisiert und durch die Maßnahmen der Volkswohlfahrt teilweise verdeckt und teilweise überlagert wurde; und schließlich zeigte sich die Radikalisierung 1938 – 1945, als das Vernichten und Töten nicht nur im totalen Krieg, sondern auch im Holocaust letztlich ungeheuerliche Ausmaße annahm. Frei schilderte als Kulminationspunkt im „Prozess der Auflösung der Herrschaft“22, dass die Verbrechen bis zum letzten Tag des Regimes weiter verübt wurden. Am Ende seiner Darstellung schrieb er: „Im Prozeß der Auflösung der Herrschaft erreichten Widersinn, Niedertracht und Terror des Regimes ihre letzte Stufe. Neben der SS und lokalen Parteiführern war es vor allem die Justiz, die sich im wachsenden Chaos zerstörter 17 Hans Buchheim, Martin Broszat, Hans-Adolf Jacobsen, Helmut Krausnick, Anatomie des SSStaates, München: dtv Dokumente 1967, 6. Auflage 1994. 18 Broszat, Der Staat Hitlers, p. 363. 19 Ibid., pp. 363 ff. 20 Zur Gewaltherrschaft auf deutschem Boden im letzten Kriegsjahr, als die besetzten Länder durch den Rückzug der deutschen Armeen nicht mehr dem Terrorregime ausgesetzt waren und sozusagen die „Rückkehr“ des schrankenlosen Mordens ins Mutterland stattfand, siehe: Cord Arendes, Edgar Wolfrum, Jörg Zedler (Hrsg.), Terror nach innen. Verbrechen am Ende des Zweiten Weltkrieges, Göttingen: Wallstein 2006. 21 Norbert Frei, Der Führerstaat. Nationalsozialistische Herrschaft 1933 bis 1945, München: dtv 1987. 22 Ibid., p. 153.
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Städte, zusammenbrechender Versorgung, aufflammender Widerständigkeit und verzweifelter Selbstbehauptung von Ausgebombten, Flüchtlingen, Deserteuren und freigewordenen Fremdarbeitern als unbarmherziger Büttel des Regimes anbot. … In einer Anzahl von Dörfern und Städten ‚exekutiertenʻ fanatisierte Kommandos hitlertreuer SA- und SS-Männer noch couragierte Bürger, während sich die Parteiprominenz längst in Sicherheit gebracht hatte. … Aber … (d)ie Deutschen waren fertig mit Hitler. Noch ehe das Dritte Reich aufgehört hatte zu bestehen, war der Nimbus seines ‚Führersʻ im Nichts versunken“.23 III.) Ein dritter analytischer Ansatz machte den Holocaust zu seinem Hauptpunkt der Erklärung des Nationalsozialismus. Das früheste Werk war Eugen Kogons Der SS-Staat, geschrieben auf Anregung amerikanischer Besatzungsoffiziere, da Kogons Erfahrungen aus Buchenwald zu einem analytischen Verständnis des Regimes verallgemeinert werden sollten.24 Kogon stellte seinem Buch die Einsicht voran, dass der Terror ein „Systemterror“25 war. Dies habe den Staat zu einem SSStaat und die Konzentrationslager zum „stärksten Ausdruck“ und „wirksamsten Mittel“ der Diktatur gemacht – einer Diktatur über „alle Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens“.26 Die Organisation der Lager mit ihrem hermetischen Tagesablauf und ihrer sinnlosen Arbeit, der mangelhaften Ernährung und dem allgegenwärtigen Tod, so Kogon, war das Abbild des Herrschaftssystems. Das politische Programm des mörderischen Regimes, so erläuterte er in einem eigenen Kapitel, spiegelte sich in der „Psychologie der SS“.27 Die SS habe das „System der Macht“28 durch den Verlust jeglicher menschlicher Regungen verkörpert. Demgegenüber sei die Psychologie der Häftlinge differenzierter gewesen, denn die „Gefangenen des KL“, wie Kogon sie nannte, entstammten verschiedenen gesellschaftlichen Schichten und Ländern: Und doch mussten auch sie lernen, wie Kogon eindringlich schilderte, keine Menschlichkeit mehr zu fühlen.29 Das Standardwerk zur Vernichtung der europäischen Juden erschien in Erstauflage während des Eichmann-Prozesses zu Beginn der sechziger Jahre. Bis in die achtziger Jahre wurde das Buch zu einer umfassenden Dokumentation des Verbrechens ausgearbeitet, wobei der endgültigen Fassung ein Überblick über Sühne und Wiedergutmachung angefügt war. Raul Hilbergs The Destruction of the European Jews30 lag die These zugrunde, dass eine Verzahnung zwischen dem Beamtentum, 23 Ibid., p. 163 – 164. 24 Kogons Der SS-Staat erschien erstmals im Jahr 1946 und erlebte eine durch Kogon mit einem Vorwort versehene Neuauflage im Jahr 1984, als bereits fast eine halbe Million Exemplare verkauft waren. Eugen Kogon, Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager (ursprünglich 1946), München: Kindler 1974 (466. – 480. Tausend). 25 Kogon, Der SS-Staat (1984), p. 11. 26 Ibid., p. 34. 27 Ibid., pp. 344 ff. 28 Ibid., p. 356. 29 Siehe ibid., pp. 362 ff. Kogon sah auch die Gefangenen in einen „Schmelztiegel der Vereinheitlichung“ gezwungen, aber er hob hervor, dass eine psychologische Ähnlichkeit mit der SS nur bei zwei Gruppen der Insassen bestand – den Berufsverbrechern und den Asozialen. 30 Raul Hilberg, The Destruction of the European Jews, Chicago: Quadrangle Books 1961 erschien in der endgültigen dreibändigen Ausgabe im Jahr 1982. Die deutsche Übersetzung der
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dem Militär, dem Wirtschaftssektor und der NSDAP zu einem funktionierenden Machtapparat allererst die Massenverbrechen möglich machte: „Trotz der verschiedenen historischen Ursprünge dieser vier Bürokratien und trotz ihrer unterschiedlichen Interessen konnten sich alle vier auf die Vernichtung der Juden verständigen“.31 Hilberg schilderte die Zuständigkeiten der vier Hierarchien, um hervorzuheben, wie sie sich zu einem „ausgedehnten administrativen Apparat“ verbanden, der den Holocaust durchführbar machte.32 Bevor er den Vernichtungsprozess chronologisch schilderte, entwarf er ein Schema, das vier Stadien eines eskalierenden Geschehens zeichnete: Die Verfolgung begann mit den Enteignungen; sie steigerte sich zur Konzentration der Opfer in Ghettos, während es gleichzeitig ein Zwischenstadium der Tötung durch mobile Mordeinheiten gab; die Verfolgung führte weiter zu den Deportationen der Juden aus vielen Ländern und endete mit der Errichtung von Vernichtungslagern. Dazu Hilberg: „Der Vernichtungsprozeß durchlief zwei Phasen: Emigration (1933 – 40) und Ausrottung (1941 – 45). Trotz dieses Kurswechsels blieb die administrative Kontinuität des Prozesses ungebrochen; die Ursache für dieses Phänomen ist in der Tatsache zu suchen, dass die drei vor 1940 eingeleiteten Schritte (Definition, Enteignung, Konzentration) nicht nur Auslöser der Emigration, sondern zugleich Vorstufen des Vernichtungsvorgangs waren“.33 In den neunziger Jahren wurde Hilbergs Gesamtschau durch Einzelstudien ergänzt, die seine Aussagen weiter vertieften. Aufsehen erregten die Berichte über die Ordnungspolizei – Christopher Brownings Ordinary Men (1992)34 und Daniel Goldhagens Hitlerʼs Willing Executioners (1996)35. Andere Arbeiten untersuchten die Gestapo in ihrer Rolle bei den Deportationen, etwa Robert Gellately The Gestapo and German Society (1995)36 und auch die Beiträge des Sammelbandes von
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letzten Fassung des Werkes: Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden, Frankfurt: Fischer 1990 (3 Bände). Ibid, p. 59 – 60. Ibid., p. 66. Ibid., p. 56. Christopher R. Browning, Ordinary Men. Reserve Battalion 101 and the Final Solution in Poland, New York: Harper Collins/Aaron Asher 1992; dt. Ganz normale Männer. Das ReservePolizeibattalion 101 und die „Endlösung“ in Polen, Hamburg: Rowohlt 1993. Daniel J. Goldhagen, Hitlerʼs Willing Executioners, Boston: Little, Brown 1996 (dt. Hitlers willige Vollstrecker, Berlin: Siedler 1997) löste weltweit eine Kontroverse aus, da Goldhagens Erklärung, die einen eliminatorischen Antisemitismus der Deutschen annahm, nicht überzeugte. Zur Debatte gehörten: Hans-Ulrich Wehler, The Goldhagen Controversy: Agonizing Problems, Scholarly Failure, and the Political Dimension, German History, vol. 15, 1997, pp. 80 – 91; Uta Gerhardt, Charismatische Herrschaft und Massenmord im Nationalsozialismus. Eine soziologische These zum Thema der freiwilligen Verbrechen an Juden, Geschichte und Gesellschaft, vol. 24, 1998, pp. 503 – 538 sowie Ulrich Herbert, Vernichtungspolitik. Neue Antworten und Fragen zur Geschichte des „Holocaust“, in: ders. (Hrgr.), Nationalsozialistische Vernichtungspolitik 1939 – 1945. Neue Forschungen und Kontroversen, Frankfurt a. M.: Fischer 1998, pp. 9 – 66. Robert Gellately, The Gestapo and Germany Society. Enforcing Racial Policy 1933 – 1945, Oxford: Clarendon Press 1995, legte die Akten der Gestapo Würzburg zugrunde, um zu zeigen, wie eng das Verhältnis zwischen der Gestapo und der Bevölkerung war. Gellately räumte ein, dass die Gestapo allgemein gefürchtet war, wollte aber – soweit dies den Akten zu entnehmen
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Gerhard Paul und Klaus-Michael Mallmann Die Gestapo: Mythos und Realität (1995)37. Diese Forschungen erwiesen, dass die paramilitärischen Organisationen in die Morde verstrickt waren, und sie zeigten außerdem, dass die Duldung der Verbrechen durch die breite Bevölkerung offenkundig war, was wiederum zu den Denunziationen bei der Gestapo passte, wodurch überhaupt erst die Durchführung der Judenverfolgung vor Ort möglich wurde. IV.) In Deutschland – wo in den fünfziger Jahren ein erstes Gesamtbild wenig Resonanz fand38, aber später Baumans Modernity and the Holocaust, wo das Morden zum Geschehen der Moderne erklärt wurde, fast zuviel Aufmerksamkeit auf sich zog39 – wurde Hans Mommsens These wegweisend: Er sah eine vorgetäuschte Modernität, und er konstatierte eine kumulative Barbarei des nationalsozialistischen Rewar – auf die Mitarbeit der Bevölkerung an der Rassenpolitik hinweisen. Ab 1935, als das Verbot der Verbindung irgendeiner Art zwischen den jüdischen und den deutschen Bürgern galt, gab es Denunziationen aus der Bevölkerung wegen Kontakten zwischen Juden und Nichtjuden, und ab 1942 wurde denunziert wegen Kontakten zwischen Zwangsarbeitern (den nach Deutschland verschleppten Ausländern) und Deutschen, wie die Gestapo-Akten dokumentierten. 37 Der Sammelband Die Gestapo: Mythos und Realität, herausgegeben von Gerhard Paul und Klaus-Michael Mallmann, vertrat die These, dass die Gestapo mit verhältnismäßig geringem Personal auskam, weil sie auf die Mitarbeit der Bevölkerung rechnen konnte, was wiederum auf die Akzeptanz durch die Bevölkerung hinweise. Während der Mythos noch immer sei, die Gestapo sei ein umfangreicher Unterdrückungsapparat gewesen, der durch massiven Terror wirkte und in Nazideutschland für allgegenwärtig und allwissend gegolten habe, müsse man anhand der Akten ein anderes Bild zeichnen. Im Vorwort schrieb Peter Steinbach: „Insgesamt entsteht … ein Gesamtbild der Gestapo, das … ein wichtiger Beitrag zur Entmystifizierung und Enttabuisierung von Fragestellungen ist. Besonders hervorzuheben ist dabei die Analyse der Denunziationen, also jenes Systems innergesellschaftlicher Verankerung und Kontrolle durch die Zuträgerschaft einzelner, die sich in den Dienst polizeilicher Kontrolle stellen und gerade im System der nationalsozialistischen Diktatur die Möglichkeit nutzen wollten, häufig auch ihre ganz privaten Probleme zu lösen“. Peter Steinbach, Vorwort, in: Gerhard Paul / KlausMichael Mallmann (Hrsg.), Die Gestapo: Mythos und Realität, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1995, p. XI. Es wird interessanterweise nicht erwähnt, dass der Urteilsspruch des Nürnberger Tribunals lautete, dass die Gestapo eine kriminelle Organisation war. 38 Leon Poliakov und Joseph Wulf, Das Dritte Reich und die Juden. Dokumente und Aufsätze, Berlin: Arani 1955. 39 Zygmunt Bauman, Modernity and the Holocaust, stellte die These auf, dass die Rassenpolitik des Nationalsozialismus – als Zugleich der antagonistischen Prinzipien von Auslese und Ausmerze – ein besonders krasser Fall der Tendenzen war, die für moderne Gesellschaften insgesamt typisch wären. Es sei entscheidend, dass die Ungleichheit bzw. die Abschottung verschiedener Bevölkerungsgruppen gegeneinander allgegenwärtig wäre, dass aber andererseits in der modernen Gesellschaft ein Ideal der Gleichheit und der Einheitlichkeit herrsche. Die beiden widersprüchlichen Sachverhalte könnten nur durch die Diskriminierung bzw. den Rassismus in Einklang gebracht werden. Die Ausgrenzung würde geleugnet, während sie gleichzeitig durch rassistische Verfolgung praktiziert werde. In diesem Sinne müsse man von The Modernity of Racism (pp. 56 ff.) sprechen. Gerade dass in der modernen Gesellschaft grundsätzlich keine Höherwertigkeit oder Minderwertigkeit von Bevölkerungsteilen akzeptiert würde, führe zu ihrer forcierten und dabei ideologisch überhöhten (Wieder)Herstellung, wenn eine Diktatur dazu die Machtmittel (und die Möglichkeit der Verleugnung der Taten) biete. Mittels der rassistischen Verfolgung der Juden im Nationalsozialismus – eine Art Teufelskreis, an dessen Verwirklichung sogar noch die Juden selbst (durch Judenräte etc.) mit beteiligt worden seien – habe sich die Tendenz der Moderne bestätigt, dass die Ausgrenzung im Namen der Gleichstel-
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gimes.40 Mommsen erkannte die vorgetäuschte Modernisierung im Pathos der Menschenvernichtung: „Hinter der Fassade vom neuen Reich verbargen sich ausgeprägt rückschrittliche Inhalte. … Im politischen und gesellschaftlichen Bereich waren die rezessiven Züge [deutlich] sichtbar. Die künftige völkische Ordnung sah Hitler in den besetzten Ostgebieten vorweggenommen, wo ein neuer, durch rücksichtslose Härte und fehlende moralische Skrupel ausgezeichneter Herrentypus herangebildet werden sollte, der nicht länger von fragwürdig bürgerlich-humanistischen Ideen beeinflusst war und einen Feudalismus neuer Prägung ins Leben rief. Die Ersetzung des auf dem Prinzip der Kompetenzentrennung und Arbeitsteilung beruhenden modernen Anstaltsstaats durch einen personalen Herrschaftstypus, der auf unbedingtem Gehorsam einer verschworenen Gemeinschaft beruhte, stellte eine rückwärtsgewandte Utopie dar“.41 Mommsen ergänzte dieses Bild noch in einem späteren Aufsatz, wo er zu Modernität und Barbarei ausführte: „[Bemerkenswert] erscheint, dass der Vorgang der Barbarisierung, das heißt der Übergang zu sinnloser Massenvernichtung … erst im Zuge der Zerschlagung übergeordneter Zielsetzungen … immer mehr in den Vordergrund trat und sich vom ‚Endzielʻ in ein Nahziel verwandelte. … Der Holocaust ist daher die negative Folie, gleichsam die Kehrseite jenes hypertrophen Zieles, ein als modern deklariertes, aber in hohem Maße atavistische Elemente aufnehmendes Programm rassisch-ethnischer Umstrukturierung gewaltsam umzusetzen“.42 Zusammenfassend: Die Ausgangsthese, dass der Nationalsozialismus ein Verbrechensregime war, lässt sich durch die dargestellten vier Ansätze der politikwissenschaftlichen und historischen Analyse stützen. Neumann zeichnet nach, wie die sukzessive Ausschaltung der Ministerialbürokratie, der Großindustrie und des Militärs schließlich die NSDAP zum allgewaltigen Machtblock werden ließ, was alle Zivilkultur zerstörte. Die Arbeiten des Instituts für Zeitgeschichte weisen nach, dass von der Etablierung über die Konsolidierung bis zur Radikalisierung des Regimes eine Steigerung und dabei eine Verrohung bis hin zur Auflösung von Herrschaft überhaupt stattfand, so dass es schließlich nur noch das Chaos und das Töten gab. Hilberg und andere Autoren schildern die Stadien des Holocaust von der Enteignung lung erfolge und tatsächlich die Besserstellung angeblich höherwertiger Bevölkerungsgruppen angestrebt werde. 40 Hans Mommsen, Nationalsozialismus als vorgetäuschte Modernisierung, in: Walter H. Pehle (Hrsg.), Der historische Ort des Nationalsozialismus. Annäherungen, Frankfurt: Fischer 1990, pp. 31 – 46. Erinnert sei auch an Jeffrey Herf, Reactionary Modernism: Technology, Culture and Politics in the Third Reich, New York: Cambridge University Press 1984. 41 Mommsen, Nationalsozialismus als vorgetäuschte Modernisierung, p. 43. 42 Hans Mommsen, Modernität und Barbarei. Anmerkungen aus zeithistorischer Perspektive, in: Max Miller und Hans-Georg Soeffner (Hrsg.), Modernität und Barbarei. Soziologische Zeitdiagnose am Ende des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1996, pp. 137–155, p. 147. Mommsen hatte in einem früheren Aufsatz gemeint, utopische Elemente, die positiv zu bewerten seien, wären im Ideal der Reinheit der Rasse zu entdecken. Siehe: Hans Mommsen, Die Realisierung des Utopischen: Die „Endlösung der Judenfrage“ im Dritten Reich, Geschichte und Gesellschaft, Bd. 9, 1983, pp. 381 – 420. Zwischenzeitlich hatten die Arbeiten der Autoren Götz Aly, Susanne Heim u. a., die eine Verbindung zwischen dem millionenfachen Mord und der Volkstumspolitik in Polen und Russland aufzeigten – wofür Himmler als Reichskommissar für die Festigung des deutschen Volkstums in den besetzten Gebieten verantwortlich war – das Verständnis der Genozidpolitik bei Mommsen vertieft.
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über die Konzentration und die Deportation bis zur Vernichtung der Juden Europas. Schließlich hält Mommsen fest, dass der Nationalsozialismus gesellschaftspolitisch ein Rückfall in die Barbarei war, ein atavistisches Regime, das einen immer weiter eskalierenden Terror entfesselte. Der nächste Schritt ist, sozialwissenschaftlich zu klären, welcher Herrschaftstypus dieses Verbrechensregime war. 2. CHARISMATISCHE HERRSCHAFT Die gesellschaftsanalytische Perspektive der Sozialwissenschaften arbeitet weithin mit der anerkannten These, dass der Nationalsozialismus eine charismatische Herrschaft war. Man kann in der aktuellen Debatte verschiedene Denkströmungen unterscheiden, wie diese These vertreten wird. Entscheidend ist, ob und inwieweit Max Webers Überlegungen textgenau rezipiert werden. Weber schilderte die charismatische Herrschaft als einen der drei reinen Typen eines legitimen Regimes. Die Frage ist, ob das, was Weber die Legitimität eines solchen Herrschaftsverbandes nannte, werkadäquat wahrgenommen wird. An drei Ansätzen lässt sich nachzeichnen, wie Webers Denkfigur heute gängig ausgelegt wird. I.) Ein erster Argumentationsstrang – bei Hans-Walter Schmuhl – zeichnete den Nationalsozialismus als eine charismatische Herrschaft, weil und insofern permanent ein Ausnahmezustand hergestellt und verkündet wurde oder werden sollte. Der Ausnahmezustand, so Schmuhl, sollte das Außeralltägliche zur Norm erklären. Dadurch wurden Maßnahmen gerechtfertigt, die ihrerseits das Außergewöhnliche – nämlich das Verbrechen – zur scheinbar normalen Reaktion machten. Das Charisma der Führerherrschaft, so Schmuhl, musste im Nationalsozialismus durch die dauernde Wiederkehr bzw. die unablässige Wiederherstellung von Ausnahmesituationen bestätigt werden. Dadurch konnte die außernormale Politik als die einzig mögliche Reaktion auf immer erneute außeralltägliche Bedrohungen erscheinen. Die konstruierten Ausnahmeanlässe wurden als bedrohliche Zustände propagandistisch ausgemünzt. Die außeralltäglichen Maßnahmen wurden als Gegenwehr gegen das Wirken bösartiger Mächte – etwa das Judentum als einer vorgeblichen Weltmacht – ausgegeben. Dementsprechend, so Schmuhl, waren die Massenverbrechen im Verlauf des Regimes eine sich dramatisch steigernde Antwort auf die Kriegssituation oder die angebliche Bedrohung des deutschen Volkstums. Die Erbkranken, die Juden und die anderen so genannten Volksfeinde waren dadurch der Vernichtung preisgegeben. In seinem Werk Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie (1987)43 unterschied Schmuhl drei Stadien. Eine erste Stufe bildeten die Sterilisierungen der dreißiger Jahre mit tausenden Todesfällen. Die zweite Stufe war die Ermordung von Geisteskranken anlässlich der „Aktion T 4“ ab 1938. Sie war die früheste Eskalation der Mordpolitik und bildete die Vorstufe der Tötungen in den Vernichtungsla43 Hans-Walter Schmuhl, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie. Von der Verhütung zur Vernichtung ‚lebensunwertenʻ Lebens 1890 – 1945, Göttingen: Vandenhoek und Ruprecht 1987.
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gern des Ostens. Die Massenmorde in den besetzten Gebieten waren die letzte Stufe und schlimmste Form des rassistischen Regimes. Schmuhl wollte anhand der Entwicklung des immer schlimmeren Tötens nachweisen, dass die Massenvernichtung der „Endlösung“ durch die Tötungsaktionen der „Euthanasie“ vorweggenommen wurde. Das Charisma des Führers, so Schmuhl, wurde beschworen, um daraus eine Rechtfertigung abzuleiten, dass das Morden gesteigert werden müsse. Das Charisma des Führers und zudem das Chaotische der Polykratie wirkten zusammen, als die „Endlösung“ eingeleitet wurde, um die Praxis der Massentötungen soweit zu steigern, dass ein genozidales Regime daraus entstand. Durch die Kumulation des Charisma des Führers, den Instanzenwirrwarr im Herrschaftsapparat und außerdem die manipulativ geschaffenen und propagandistisch ausgeschlachteten Anlässe der Gewaltexzesse, so Schmuhl, konnten sich „die genozidalen Tendenzen, die im Rassismus keimhaft angelegt sind, in den rechtlosen Hohlräumen des Dritten Reiches entfalten“.44 II.) M. Rainer Lepsius verfolgte einen anderen Argumentationsstrang.45 Lepsius rekurrierte auf Webers Überlegungen zur charismatischen Herrschaft, um durch diesen einen der drei reinen Typen der legitimen Herrschaft zu erklären, dass eine Gegenwehr der Deutschen gegen die verbrecherische Diktatur entweder nicht möglich oder aussichtslos war. Lepsius meinte, Weber habe ein legitimes Regime überall dort gesehen, wo es Legitimitätsanspruch und Legitimitätsglaube gebe. Charisma sei der Legitimitätsgrund für die dabei eigentümliche soziale Beziehung: „Charisma im Sinne Max Webers ‚soll eine als außeralltäglich geltende Qualität einer Persönlichkeit heißen, um deretwillen sie als … „Führer“ gewertet wirdʻ.“46 Die soziale Beziehung „zwischen einem Charismaträger und einem Charismagläubigen“47, so Lepsius, habe vier Eigenschaften im Nationalsozialismus (gehabt): Erstens sei die Hingabe der Gefolgschaft an die Offenbarung eines Führers offensichtlich, bei Weber „,freie, aus Hingabe an Offenbarung, Heldenverehrung, Ver44 Hans-Walter Schmuhl, Rassismus unter den Bedingungen charismatischer Herrschaft: Vom Übergang der Verfolgung zur Vernichtung gesellschaftlicher Minderheiten im Dritten Reich, in: Karl Dietrich Bracher, Manfred Funke, Hans-Adolf Jacobson (Hg.), Deutschland 1933 – 1945. Neue Studien zur nationalsozialistischen Herrschaft, Düsseldorf: Droste 1992, pp. 182–197, p. 197. 45 M. Rainer Lepsius, Das Modell der charismatischen Herrschaft und seine Anwendbarkeit auf den Führerstaat Adolf Hitlers, in: Lepsius, Demokratie in Deutschland. Ausgewählte Aufsätze, Göttingen: Vandenhoek und Ruprecht 1993, pp. 95 – 118. Der Aufsatz wurde bereits in den achtziger Jahren verfasst und für die Aufsatzsammlung noch einmal überarbeitet. 46 Ibid., p. 95. Lepsius verkürzt allerdings Webers Bestimmung auf eine bloße Definition. Bei Weber heißt es demgegenüber: „,Charismaʻ soll eine als außeralltäglich (ursprünglich, sowohl bei Propheten wie bei therapeutischen wie bei Rechts-Weisen wie bei Jagdführern wie bei Kriegshelden: als magisch bedingt) geltende Qualität einer Persönlichkeit heißen, um derentwillen sie als mit übernatürlichen oder übermenschlichen oder mindestens spezifisch überalltäglichen, nicht jedem andern zugänglichen Kräften oder Eigenschaften [begabt] oder als gottgesandt oder als vorbildlich und deshalb als ‚Führerʻ gewertet wird.“ Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie (4. neu herausgegebene Auflage, besorgt von Johannes Winckelmann), Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1956 (ursprünglich 1922), p. 140. 47 Lepsius, Das Modell der charismatischen Herrschaft etc., p. 95.
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trauen zum Führer geborene Anerkennung durch die Beherrschtenʻ“48, und außerdem sei sie „,Pflichtʻ“ in einer „unmittelbaren Beziehung“ zu einer „obersten Autorität“. Zweitens seien alle vorher geltenden Normen und bislang rechtmäßigen Verfahren aufgelöst, was Weber in den Satz gekleidet habe: „Es gibt kein Reglement, keine abstrakten Rechtssätze, keine an ihnen orientierte rationale Rechtsfindung“.49 Daraus folge, so Lepsius: „Charismatische Beziehungen sind ihrer Struktur nach affektiv und personalisiert. Insofern sind sie nicht rational strukturiert, folgen keinen institutionalisierten Rationalitätskriterien und sind, wie Weber betont, deshalb auch ‚spezifisch wirtschaftsfremdʻ“.50 Weiterhin schaffe drittens die „emotionale Vergemeinschaftung“ eine „personale Bindung an den Führer“, denn im Nationalsozialismus sei die Loyalität gegenüber der NS-Bewegung und dem NS-Staat ein Massenphänomen gewesen. Dazu passe Webers Nachweis, dass die charismatische Herrschaft personalistisch sei: „Entscheidend ist, dass die Struktur …. auf personalen Loyalitäten aufbaut, im Glauben an die Außeralltäglichkeit des Führers und der Verpflichtung ihm gegenüber ihre Legitimationsgrundlage findet, und der Führer in jenen Handlungsbereichen, in denen er seine außeralltägliche Fähigkeit beweisen will, keine wesentlichen Handlungsbeschränkungen durch die Gefolgschaft und die Struktur des Herrschaftsverbandes erfährt“.51 Und schließlich sei viertens in der charismatischen sozialen Beziehung Hitler als Führer, Feldherr und Retter Deutschlands erschienen: „Die Bewährung kann umso leichter gelingen, als die Glaubensbereitschaft der Gefolgschaft erhöht wird durch, wie Weber formuliert, ‚Begeisterung oder Not und Hoffnungʻ, also durch eine Emotionalisierung der Handlungsorientierung und, wie zu ergänzen wäre, durch das Fehlen alternativer Interpretationen und Handlungsoptionen in einer prekären Situation“.52 48 Ibid., p. 96; dort auch die nächsten drei Zitatstellen. Wiederum vereinfacht Lepsius die Aussage Webers. Die Textstelle bei Weber: „Ueber die Geltung des Charisma entscheidet die durch Bewährung – ursprünglich stets: durch Wunder – gesicherte freie, aus Hingabe an Offenbarung, Heldenverehrung, Vertrauen zum Führer geborene, Anerkennung durch die Beherrschten. Aber diese ist (bei genuinem Charisma) nicht der Legitimitätsgrund, sondern sie ist Pflicht der kraft Berufung und Bewährung zur Anerkennung dieser Qualität Aufgerufenen.“ Wirtschaft und Gesellschaft, p. 140. 49 Die Textstelle, zitiert bei Lepsius p. 96, findet sich bei Weber, p. 141. Sie weist im Kontext nach, nicht etwa dass eine personalisierte Herrschaft bestehe oder die Wirtschaft den Kriterien des rationalen Handelns nicht genüge (wie Lepsius meint), sondern dass Rechtsschöpfungen vorgenommen werden, die sich anmassen, das Recht zu sein und dadurch zu bestimmen, was Unrecht und also „sühnepflichtig“ ist: „Es gibt … keine abstrakten Rechtssätze, keine an ihnen orientierte rationale Rechtsfindung …, (s)ondern … aktuelle Rechtsschöpfungen von Fall zu Fall …, kraft Offenbarung, Orakel, Eingebung oder: kraft konkretem Gestaltungswillen, der von der Glaubens-, Wehr-, Partei- oder anderer Gemeinschaft … anerkannt wird. Die Anerkennung ist pflichtmäßig. Sofern der Weisung nicht eine konkurrierende Weisung eines anderen mit dem Anspruch auf charismatische Geltung entgegentritt, liegt ein letztlich nur durch magische Mittel oder (pflichtmäßige) Anerkennung der Gemeinschaft entscheidbarer Führerkampf vor, bei dem notwendig auf der einen Seite nur Recht, auf der anderen nur sühnepflichtiges Unrecht im Spiel sein kann.“ 50 Lepsius, p. 96. 51 Ibid., p. 97. 52 Ibid., p. 98.
2. Charismatische Herrschaft
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Für Lepsiusʼ Weber-Rezeption war wichtig, den Glauben der Deutschen an Hitler als den Führer in den Mittelpunkt der Analyse zu stellen. Denn durch den Mythos des Führers, dem der Glaube an Hitler entsprach, sei der Nationalsozialismus ein legitimes Regime geworden: „Charismatische Herrschaft ist … nicht bloß Tyrannei oder Diktatur. Sie ist legitime Herrschaft, insoweit die Gefolgschaft an die Tugenden des Führers und an die Werte, die er zu verwirklichen verspricht, glaubt. In diesem Sinne war Napoleon ein charismatischer Führer und auch Hitler. Durch ihr persönliches Handeln schufen sie eine neue, als legitim geltende Herrschaftsform“.53 Lepsius unterschied zwischen der Ausgangslage in der Weimarer Republik, die latent charismatisch war, und der manifest charismatischen Situation ab 1933. Der Umschlag liege im Auftreten des Führers, der eine „Definition der Situation“54 verkörpert habe, wodurch die Krise der damaligen Zeit lösbar schien: „Die Krise war das Werk der Kräfte des Bösen, die Deutschland versklaven und zerstören wollten“. Da Hitler bei den Volksgenossen als Retter Deutschlands erschien, so Lepsius, wurde seine Weltanschauung zum Vorbild und Programm: „Das Weltbild eines manichäischen Dualismus, dem sich Hitler selbst verbunden fühlte, wurde im Alltag inszeniert durch Umzüge und Straßenkämpfe, durch Großkundgebungen und Saalschlachten mit den Gegnern, magische Beschwörungen und Todesrituale“. Mit anderen Worten: Lepsius sah die Triebkraft der charismatischen Herrschaft im Führer, dem die Volksgenossen folgten. Dies habe die „Errichtung charismatischer Führung“ möglich gemacht, die durch die Weltanschauung getragene Herrschaft. Derart charismatische Führung habe im Nationalsozialismus wiederum vier Merkmale gehabt: erstens „die Auflösung formaler Regeln und institutioneller Differenzierungen“55, zweitens „die Beseitigung jeder Art von kollektiver Entscheidungsbildung“56, drittens „die prinzipielle Ablehnung von Koalitionen“57 und schließlich viertens „die Bestimmung einer ‚Missionʻ, die Orientierung auf oberste Wertvorstellungen, die der Führer zu erreichen verspricht“.58 Lepsiusʼ Darstellung kulminierte im Topos der charismatischen Führung.59 So sei der „Doppelstaat“ entstanden, wo die Auflösung von Zuständigkeitsbereichen 53 54 55 56 57 58 59
Ibid., pp. 99 – 100. Ibid., p. 102; dort auch die nächsten zwei Zitatstellen. Ibid., p. 107. Ibid., p. 109. Ibid., p. 110. Ibid., p. 111. Ähnlich wie Lepsius sieht auch Ian Kershaw in seinen Analysen, die das Verhältnis zwischen dem Mythos und der Diktatur Hitlers zu ergründen suchen und dabei eine Kluft zwischen der Kultfigur Hitler und der Realität der Hitlerdiktatur sehen, eine das Regime stabilisierende Funktion des Führerkults oder Führermythos. Anders als Lepsius sieht sich Kershaw allerdings veranlasst, seine Untersuchung, die den Glauben an Hitler darstellt, zu ergänzen durch ein abschließendes Kapitel seines Buches, das der Frage nachgeht, wie denn der Hitlerkult zusammengepasst habe mit der Durchführung und der Duldung der Massenverbrechen. Siehe dazu: Ian Kershaw, Der Hitler-Mythos: Führerkult und Volksmeinung, Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt 1999 (ursprünglich: The Hitler Myth. Image and Reality in the Third Reich, Oxford: Oxford University Press 1983), dort insbesonders das Kapitel „Der ‚Hitler-Mythosʻ und der Weg zum Völkermord“, pp. 277 ff.
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und die anarchische Polykratie eben auch die „Auflösung der intermediären Strukturen einer Gesellschaft“60 bewirkten. Die rassistischen Morde seien möglich geworden, weil die Volksgenossen im Gefolge der Entmündigungspolitik, die zur Zerstörung der „intermediären Strukturen“ (also der zivilgesellschaftlichen Institutionen) führte, nichts mehr hätten tun können, was die Judenverfolgung verhindert hätte. Denn alle Deutschen seien gegenüber dem Regime gleichermaßen ohnmächtig gewesen: „Je mehr Elemente der intermediären Strukturen zerstört werden, desto geringer ist die Artikulationsfähigkeit und die Chance zur Koalitionsbildung für die verbliebenen Einheiten. … Die Indifferenz gegenüber den Judengesetzen ist ein Beispiel für diesen Prozeß der Selbstentmündigung, des Einflussverlustes auch der Nichtjuden. Die den Juden verweigerten staatsbürgerlichen Rechte betrafen zunächst nur eine Minderheit, führten im Ergebnis aber auch für die Mehrheit der ‚arischenʻ Deutschen zum Verlust des grundrechtlich gesicherten Rechtsstatus“.61 Mit anderen Worten: Lepsius erkannte den Nationalsozialismus als eine legitime Herrschaft – wie es für Weber die charismatische Herrschaft war. Durch den Führeranspruch sei der Führerglaube gestützt worden. Fazit: „Der charismatische Kern des Herrschaftssystems Hitlers lag in der Sicherung des personalisierten Legitimitätsglaubens“.62 III.) Eine dritte Variante, den Nationalsozialismus als charismatische Herrschaft zu erfassen, enthielt Hans-Ulrich Wehlers Deutsche Gesellschaftsgeschichte (Band IV).63 Wehler zeichnete den Nationalsozialismus als eine charismatische Herrschaft, wobei er vor allem die politischen Strukturprozesse analysierte, während die Wirtschaft, die gesellschaftliche Ungleichheit und die Kultur demgegenüber anderen Strukturformen zuzurechnen seien. Der rassistische Antisemitismus gehörte nach Wehler zu den politischen Strukturprozessen des nationalsozialistischen Deutschland. Vom Beginn an, so Wehler, prägte der „Führerabsolutismus“ das politische Geschehen.64 Der Nationalsozialismus war also ein Führerabsolutismus, der durch eine „totalitäre Revolution“65 ent60 61 62 63
Lepsius, p. 113. Ibid., p. 115. Ibid., p. 117. Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Vierter Band: Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914 – 1949, München: C. H. Beck 2003. Wehler bekannte sich ausdrücklich zu Lepsiusʼ Interpretation der Weberʼschen Theorie, die er vorbildlich nannte. Er schrieb: „Brilliant zu Hitlers charismatischer Herrschaft der konzise Aufsatz von Lepsius (Modell der charismat. Herrschaft), der eine ganze Bibliothek zeitgeschichtlicher Studien mit unbefriedigenden Interpretationen ersetzt“. (p. 1095) 64 Ibid., p. 603. 65 Ibid., p. 600. Dazu auch: „Auf die Durchsetzung der charismatischen Herrschaft Hitlers in Staat und Gesellschaft trifft … kein anderer Begriff besser zu als derjenige der Revolution. … [I]m 20. Jahrhundert wurde mit der bolschewistischen Revolution seit 1917, erneut dann mit der nationalsozialistischen Revolution seit 1933 und der chinesischen Revolution nach dem Zweiten Weltkrieg ein neuer Typus von politisch-gesellschaftlicher Umwälzung auf die historische Agenda gesetzt: die totalitäre Revolution…“ (p. 601); und dazu weiter: „Sie wird den analytischen Verlaufskriterien einer revolutionären Umwälzung … durchaus gerecht, führt aber nach dem mörderischen Experiment totalitärer Herrschaft unter ungeheuren Opfern in den Untergang oder doch in eine Sackgasse des Evolutionsprozesses“. (p. 602)
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standen war. Die Monokratie des Führers, gestützt auf die Polykratie der Machtzentren, habe diese charismatische Herrschaft geschaffen.66 Wehler erläuterte: „Charismatische Herrschaft ist …, wie Max Weber … argumentiert, … eine ‚soziale Strukturform mit persönlichen Organen und einem der Mission des Charismas angepassten Apparat von Leistungen und Gütern.ʻ Zu diesen Organen gehörten im NS-Regime die zahlreichen führerunmittelbaren Sonderstäbe, deren Stellung … sowohl auf einem ‚persönlichen Unterwerfungsverhältnisʻ als auch dem persönlichen Vertrauen beruhte, das der ‚Führerʻ ihren Leitern entgegenbrachte“.67 Zur charismatischen Herrschaft, so habe Weber gefordert, gehöre die plebiszitäre Zustimmung der Massen, und Wehler erläuterte: „Zum einen wirkten sich nationalistische Aufbruchstimmung, entfesselte Dynamik und gesellschaftliche Mobilisierung zugunsten des Regimes aus, so daß die plebiszitäre Zustimmung in der neu gewonnenen ‚charismatischen Gemeinschaftʻ rasch in die Breite wuchs. Zum anderen sorgten einschüchternde Bedrohung, brutaler Terror und rücksichtslose Entrechtung dafür, daß oppositionelle Regungen erstickt und zumindest schweigende Hinnahme erzeugt wurden“.68 Führerdiktatur und polykratische Satrapenmacht, bestärkt durch die Loyalität der gleichermaßen faszinierten und eingeschüchterten Volksgenossen, so Wehler, hätten die „staatliche Rassenpolitik“69 möglich gemacht. Der Massenmord war Staatspolitik, und das Hitlerʼsche Weltbild war ausschlaggebend für die Mittäterschaft der Bevölkerung: „[Man kann] zugespitzt formulieren, dass ohne den fanatischen Antisemitismus des ‚Führersʻ, der seit 1933 an allen antijüdischen Maßnahmen entscheidend beteiligt war, die ‚Judenpolitikʻ vom Frühjahr 1933 bis zum Holocaust nicht möglich gewesen wäre. Erst der ‚Führerwilleʻ kanalisierte den dumpfen, gewaltbereiten oder den nur schwadronierenden Antisemitismus in die Zielrichtung der Vertreibung und Vernichtung“.70 Und weiter: „Da … der zur Tat drängende extreme Antisemitismus zur inneren Antriebsmotorik Hitlers gehörte, kam der antijüdischen Politik seine gesamte charismatische Legitimationskraft zugute, und sein energiegeladener Vernichtungswille führte schließlich bis hin zur Ausführung des Massenmords“.71 Entsprechend seiner These, dass die Verbrechen vor allem zur politischen Herrschaft gehörten, behandelte Wehler die Wirtschaft, die gesellschaftliche Ungleichheit und die Kultur aus anderen Blickperspektiven. Er richtete bei diesen Themen den Blick vorwiegend auf die Inklusion und die Exklusion der Bevölkerungsgruppen, die zur „Volksgemeinschaft“ gehörten oder nicht gehören durften. Da Wehler die Terrorherrschaft dem politischen Leben zurechnete, konnte er – ehe er dem Zweiten Weltkrieg ein eigenes Kapitel widmete – die Frage nach der gesellschaftlichen Modernisierung, die trotz allem dem NS-Regime zugute zu halten sei, mit Blick auf Deutschland insgesamt ernsthaft stellen. Er gab also zu bedenken: „Wurde zumindest auf einigen Gebieten der Modernisierungsprozeß intentional unterstützt?“ Er meinte: „Kann … nicht …, wird man … fragen dürfen, die Vorberei66 67 68 69 70 71
Ibid., p. 623. Ibid., p. 624. Ibid., p. 617. Ibid., p. 652. Ibid., p. 655. Ibid., p. 656.
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II. Der Nationalsozialismus unter Herrschaftssoziologischer Perspektive
tung und Durchführung eines Vernichtungskrieges, die Modellierung eines arischen Herrenrassereichs Impulse mit einer modernisierenden Wirkung auslösen, die als solche nicht geplant waren, aber nach dem Scheitern aller Vorhaben und um einen entsetzlichen Preis den Überlebenden und neuen Generationen zugute kommen?“72 Man kann sagen: Wehler rechnete die charismatische Herrschaft, soweit sie „Führerdiktatur“ war, zur politischen Struktur. Er sah die „Judenpolitik“, die den Massenmord bedeutete, als einen – nur einen – Aspekt des Regimes. Er schilderte also kein Verbrechensregime, das die Gesellschaft Deutschlands zerstörte. Vielmehr zeichnete er eine Führerdiktatur, die auf Akklamation der Bevölkerungsmehrheit beruhte und den Massenmord verantwortete. Zusammenfassend: Die gängige Darstellung zeichnet ein charismatisches Regime unter Berufung auf Max Weber. Schmuhl und Lepsius verweisen auf Weber, um zu betonen, dass die Außeralltäglichkeit, die eine charismatische Herrschaft braucht, im Nationalsozialismus durch spezielle Anlässe geschaffen wurde oder durch die Kriegslage gegeben war. Die These ist, dass die spektakulären Geschehnisse genutzt wurden, um die Gewalt und ihre Eskalation zu rechtfertigen. Wehler sieht den „Führerabsolutismus“ als das Ergebnis der totalitären Revolution. Sie war die Grundlage des charismatischen Regimes, und außerdem hätten die außen- und innenpolitischen „Erfolge“ der dreißiger Jahre, die das Regime festigten, eine Wirkung gehabt. Die Deutschen hätten einen Regimeglauben entwickelt, der stark genug war, um den Führerabsolutismus und den „Führermythos“ selbst noch im Zweiten Weltkrieg und angesichts der „staatlichen Rassenpolitik“ der Massenmorde mitzumachen. Das sozialdarwinistische Programm, das in den dreißiger Jahren im Zeichen von „,Volkskörperʻ und ‚Ausmerzeʻ“73 begonnen hatte, so dachte Wehler, machte den eliminatorischen Antisemitismus zur „Judenpolitik“ des Reiches, und daran wurde festgehalten bis zum furchtbar bitteren Ende. Die charismatische Herrschaft wird in den drei analytischen Ansätzen gleichermaßen als legitim geschildert, weil die Deutschen ihr Gefolgschaft leisteten. Die Legitimität des Nationalsozialismus wird also erklärt durch die „Konsensbasis von Führerdiktatur und Bevölkerung“74, wie Wehler es nennt. Man muss nun fragen, ob Webers Typus der charismatischen Herrschaft ausreichend erfasst ist. Wenn die Legitimität durch das Zusammenspiel zwischen dem Führermythos und dem Glauben der Bevölkerung an den Führer erklärt wird, wird ein wichtiges Stück der Weberʼschen Begrifflichkeit ausgeblendet. 3. TALCOTT PARSONSʼ KONZEPTION An den jüngeren Darstellungen fällt auf, dass das Faszinosum, nicht das Verbrechen, im Vordergrund steht. Aber in den dreißiger und vierziger Jahren wurde in den USA diese charismatische Herrschaft weniger einseitig analysiert. Parsons berief sich ebenfalls auf Max Weber, aber seine Analyse ging andere Wege. 72 Ibid., p. 783. 73 Ibid., p. 664. 74 Ibid., p. 675.
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Parsons schrieb über den Nationalsozialismus ab 1938 und bis in die fünfziger Jahre.75 Drei Arbeiten des Zeitraums 1940 bis 1951 können verdeutlichen, wie das Verbrecherische und die Dynamik des Regimes in den Rahmen der Weberʼschen Begrifflichkeit gestellt wurden. Die drei Texte erläutern verschiedene Versionen desselben Themas. I.) Im Auftrag des Council for Democracy, einer Vereinigung amerikanischer Intellektueller zur Förderung der Demokratie angesichts der Bedrohung durch den Faschismus in Europa, verfasste Parsons im August 1940 ein umfangreiches Memorandum. Das Thema, das ihm gestellt war, lautete The Development of Groups and Organizations Amenable to Use Against American Institutions and Foreign Policy and Possible Measures of Prevention.76 Erkenntnisabsicht war, die Diktatur in Deutschland und die Demokratie der angelsächsischen Länder systematisch einander gegenüber zu stellen. So sollten die Gefahren sichtbar werden, die der Demokratie durch den Nationalsozialismus drohten. Auf der Ebene der Gesellschaft als Ganzes war die begriffliche Perspektive, dass der freiheitliche Rechtsstaat, der eine freiwillige Identifikation der Bürger mit dem Gemeinwesen bedeutete, im Nationalsozialismus zerstört war. So war ein Regime entstanden, wo die Anomie herrschte, also die Rechtlosigkeit und die dadurch bedingte Orientierungsunsicherheit. Diese Anomie wurde wiederum durch Zwang kompensiert. Parsons wollte auf der Handlungsebene angeben, wie die Handlungsorientierungen der Menschen in einer solchen totalitären Gesellschaft sich unterschieden von denjenigen der Bürger in den demokratischen Ländern. Getreu der Weberʼschen Soziologie wollte er auf die 75 Der expliziten Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus (nach dem Novemberpogrom 1938) ging eine implizite Analyse in Parsonsʼ erstem Hauptwerk The Structure of Social Action (1937) voraus. Dort legte er anhand der theoretischen Überlegungen Alfred Marshalls, Vilfredo Paretos, Émile Durkheims und Max Webers dar, dass zwei Systemstrukturen des sozialen Handelns zu unterscheiden sind. Auf der einen Seite ist die auf Legalität, Sicherheit und Rationalität gegründete Handlungsstruktur der modernen Demokratien zu erkennen, und auf der anderen Seite steht eine auf Betrug und Gewalt, Anomie sowie Charisma und Ritual gegründete Handlungsstruktur der damals zeitgenössischen Diktaturen, wozu der Nationalsozialismus rechnete. Siehe: Talcott Parsons, The Structure of Social Action: A Study in Social Theory With Special Reference to a Group of Recent European Writers, New York: McGraw Hill 1937 (3. Auflage und Neudruck New York: The Free Press 1968). Dazu: Uta Gerhardt, National Socialism and the Politics of The Structure of Social Action, in: Bernard Barber / Uta Gerhardt (eds.), Agenda for Sociology, Baden-Baden: Nomos 1999, pp. 87 – 164 und auch: Gerhardt, Talcott Parsons – An Intellectual Biography, New York: Cambridge University Press 2002, Kapitel I. Siehe auch oben Studie I. 76 Das Memorandum blieb zu seinen Lebzeiten unveröffentlicht und wurde in Talcott Parsons on National Socialism, einer 1993 erschienenen Sammlung seiner Schriften zum Nationalsozialismus, erstmals veröffentlicht (pp. 101–130). In meiner Einleitung zu diesem Sammelband heißt es: „Parsons felt keenly that Nazi psychological warfare would undermine unsuspecting American democracy unless the latter guarded itself. Against the destructive effect of nihilism and negativism exacerbated by Nazi propaganda, the [American] public began consciously to develop a positive image of community spirit. Commitment to the common good was recognized as vital to the strength of democracy that defended itself against totalitarianism. The catchword was morale.“ Gerhardt, Introduction: Talcott Parsonsʼs Sociology of National Socialism, in: Talcott Parsons on National Socialism, edited and with an introduction by Uta Gerhardt, New York: Aldine de Gruyter 1993, pp. 1–77, p. 15.
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Sinnkonstruktionen hinweisen, die die Motivationsgrundlage für das soziale Handeln bilden – das verbrecherische Tun, Dulden oder Unterlassen im undemokratischen Regime und das normale Handeln im demokratischen Gemeinwesen. Er benannte fünf Merkmale des Nationalsozialismus. Das erste hieß Nationalismus, also ein Gefühl der nationalen Überlegenheit. Daraus war in Deutschland eine Ideologie des Rassismus geworden, die das Germanentum zu einer Rechtfertigung des Angriffskriegs machte. Das zweite Merkmal war der Sozialismus, der im Namen des „kleinen Mannes“ zum Abbau von Privilegien aufrief und die Nivellierung der gesellschaftlichen Unterschiede forderte. Der Impetus richtete sich gegen die Juden, die angeblich die Weltherrschaft anstrebten und die „kleinen Leute“ Deutschlands ausbeuteten, ebenso wie gegen die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten, die als die herrschsüchtigen Mächte galten, die Deutschland kein Lebensrecht lassen wollten, weshalb sie Feinde wären und als Feinde vernichtet werden müssten. Das dritte Merkmal war der Anti-Intellektualismus. Ein anti-intellektualistischer Zug lag in den Kampagnen, die den anti-traditionalistischen Nihilismus propagierten und dabei die Moral und die Religion gleichermaßen verteufelten. Dabei wurde zugleich die Menschlichkeit und sogar das Mitgefühl tabuisiert, ja kriminalisiert. Das vierte Merkmal hieß Militarismus. Eine Glorifizierung alles Militärischen, und dabei die eklatante Missachtung der Konventionen der modernen humanen Kriegführung, war für Deutschland seit langem charakteristisch. Nun wurde dieser Militarismus im Nationalsozialismus gesteigert zur Verwilderung des Militärischen bis hin zur totalen Kriegführung, die auch das Töten der Zivilbevölkerung erlaubte. Das fünfte und soziologisch markanteste Merkmal, so Parsons, war eine personale Herrschafts- und Handlungsstruktur. Für das Führertum im nationalsozialistischen Deutschland prägte er einen eigenen Begriff – Partikularismus: „Der Nationalsozialismus hat ein ‚Führerprinzipʻ durchgesetzt, wo die Herrschaftsstruktur aus einer Hierarchie von Führern besteht, deren Spitze ein oberster Führer ist. Dieser letztere hat unbegrenzte Macht, die keine rechtlichen Schranken kennt, und jeder Unterführer übt eine nicht begrenzte Herrschaft aus, die allerdings durch seine vollständige Unterwerfung unter alle höher gestellten Führer ihrerseits wiederum begrenzt ist. Unter dem Gesichtspunkt, wie die wichtigsten Institutionen unserer eigenen Gesellschaft zu sichern sind, muss man allerdings sagen, dass diese Herrschaftsstruktur dasjenige Merkmal ist, das der demokratischen Gesellschaftsordnung am ehesten gefährlich werden könnte. Es gibt praktisch keine Anknüpfungspunkte zwischen dieser Herrschaftsform und der Wert- und Symbolstruktur unserer eigenen Gesellschaft“.77 77 Parsons, Memorandum: The Development of Groups and Organizations Amenable to Use Against American Institutions and Foreign Policy and Possible Measures of Prevention (ursprünglich 1940), in: Talcott Parsons on National Socialism, p. 119. Im Original: „National Socialism has set up the ‚principle of leadershipʻ which makes the structure of authority a hierarchy of leaders culminating in the supreme leader. The latter has unlimited powers with no legal definition, and each subleader has undefined authority, limited however, by his subordination to his superiors. From the point of view of maintaining the basic institutions of our society this structure of authority is one of the most profoundly subversive aspects of the Nazi system. There is virtually no basis for a direct appeal to this pattern in our important values and symbols.“
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Die fünf Merkmale ergaben eine eigene Herrschafts- und Handlungsstruktur – das Führerregime, einen Partikularismus, der den Universalismus der Gewaltenteilung zerstörte und die Ressortkompetenz der rational-legalen Herrschaft negierte. Parsons ging davon aus, dass die Herrschaft des Führers auf die Einstellungen der Bevölkerung in einer Weise einwirkte, dass der Nationalismus, der Sozialismus, der Anti-Intellektualismus und der Militarismus alle anderen Einstellungsmuster verdrängten. Er warnte: Der Partikularismus entwertete das Erbe der Demokratie und ließ die letzten Reste der rational-legalen Herrschaftsordnung verblassen: „Mit hoher Wahrscheinlichkeit können große Teile der Bevölkerung durch das Herrschen des Führerprinzips in einer Weise organisiert werden, dass eine Herrschaftsordnung, wie sie in unserer demokratischen Gesellschaft besteht, weitestgehend unmöglich wird“.78 Die Leugnung der Kulturwerte der Gleichheit, der Freiheit und der Humanität war im Führerprinzip offensichtlich. Die Grundrechte und die Verfassung wurden annulliert. Dies hatte nichts mehr mit der Demokratie gemein. Mit anderen Worten: Im Memorandum für den Council for Democracy zeigte Parsons den Nationalsozialismus als ein Gesellschaftsregime nach dem Führerprinzip, einem mit der angelsächsischen Demokratie unvereinbaren Herrschaftsmodus. Eine zutiefst inhumane, autoritäre Struktur – Partikularismus – berief sich auf ein ideologisches System aus Nationalismus, Sozialismus, Anti-Intellektualismus und Militarismus. II.) Der Essay Max Weber and the Contemporary Political Crisis wurde im August des Jahres 1941 (wenige Monate vor dem Kriegseintritt der USA) geschrieben und zu Beginn des Jahres 1942 veröffentlicht.79 Parsons wollte nun zeigen, welche analytischen Einsichten möglich waren, wenn man Webers Soziologie, wie sie zur Zeit des Ersten Weltkriegs entstanden war, zum Verständnis des Zweiten Weltkriegs heranzog. Da die Weltkrise der vierziger Jahre durch Deutschland verursacht war, so Parsons, könne Webers Soziologie, auch wenn sie sich auf Deutschland bis 1920 bezog, zum Verständnis der nationalsozialistischen Herrschaft beitragen. Er explizierte Webers Begriffe, um sicherzugehen, dass der Ansatz in den USA verstanden wurde. Denn Weber war in den frühen vierziger Jahren in den USA noch kaum bekannt – keinesfalls war er ein Klassiker der Theorie wie heute. Parsons referierte zunächst die drei reinen Formen der legitimen Herrschaft und zeigte dann, inwiefern der Nationalsozialismus im Sinne Webers eine charismatische Herrschaft war. Was dies bedeutete, erläuterte er durch drei Kriterien Webers für das charismatische Regime.80 78 Ibid., p. 119. Im Original: „There is considerable possibility that large elements of the population could be organized under the leadership principle in a way which could be deeply subversive of our structure of authority.“ 79 Parsons, Max Weber and the Contemporary Political Crisis (ursprünglich 1942), in: Talcott Parsons on National Socialism, pp. 159 – 187. Der Essay könnte ursprünglich für das Buch bestimmt gewesen sein, das Parsons und Edward Y. Hartshorne im Sommer und Herbst 1941 planten, wurde aber schließlich für die Review of Politics geschrieben, eine Zeitschrift, die an der New School for Social Research in New York – ihrer Graduate Faculty, wo die University in Exile angesiedelt war – herausgegeben wurde. 80 Unter diesen Kriterien, die Parsons bei Weber herausstellte, wird nur das erste bei Lepsius und Wehler gewürdigt. Die beiden anderen werden in diesen jüngeren Ansätzen entweder überhaupt nicht erwähnt oder nur genannt, aber nicht in die Analyse einbezogen.
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Erstens – entsprechend Weber – bestand keine Parteienherrschaft. Eine Parteienherrschaft – wie Weber wusste – setzte die Konkurrenz zwischen mehreren Parteien um die Wählergunst voraus. Aber in Deutschland waren ab Juli 1933 alle Parteien außer der NSDAP verboten, also war die NSDAP keine Partei: „Die faschistischen … Diktatoren waren ursprünglich Parteiführer, die am Parteienkampf um die Wählergunst teilnahmen. Aber dass sie ‚unorthodoxeʻ Methoden anwandten, um sich bereits vor ihrer Machtergreifung Zulauf zu sichern, war schon ein Symptom des Kommenden. … Hitlers Gebrauch des Plebiszits, womit er die entscheidenden Stadien seines politischen Vorgehens zu legitimieren suchte, entsprach ganz genau der Analyse Webers“.81 Wenn das legitimierende Prinzip der charismatischen Politik also nicht die Parteienherrschaft war – was denn stattdessen? Parsons erläuterte die Legitimität des Regimes aus dem Zwang. Denn nur ein einziger Führer und nur seine durch ihn verkörperte „Bewegung“ durften die Loyalität der Bürger einfordern. Jede Weigerung, sich dem Führer zu unterwerfen, war eine folgenschwere Pflichtverletzung. Parsons: „In einem charismatischen Zusammenhang … ist es eine strafbare Nichterfüllung einer Pflicht, wenn man sich dem Führer nicht unterordnet. Jede Konkurrenz um die Loyalität der Bürger ist ausgeschlossen – es wird vorgeschrieben, wer der einzig legitime Führer ist“.82 Wohlgemerkt: Das Entscheidende war nicht die Loyalität der Beherrschten. Vielmehr war die Unerbittlichkeit des Anspruchs des Führers entscheidend. Es ging um ihn als die einzige und die allgewaltige Autorität. Dieser Anspruch wurde mit Gewaltmitteln durchgesetzt, sofern er nicht freiwillig anerkannt wurde. Parsons unterstrich ausdrücklich, wie wichtig dieses Merkmal war: „Wie Weber es darstellt, … ist der Anspruch einer bestimmten Person, eines ‚Führersʻ, auf den Gehorsam seiner Gefolgsleute … eine Forderung der Moral. Daraus ergibt sich, dass der Gehorsam zu einer moralischen Pflicht wird. Es geht um mehr als bloß um die Konformität der Beherrschten mit den Wünschen der Person des Herrschers“.83 Das Charismatische dieser Herrschaftspraxis lag in drei Punkten, wie sie Weber auch benannt hatte: 1.) Die Außeralltäglichkeit war das Charakteristische im Verhältnis zwischen dem Führer und seiner Gefolgschaft; 2.) der Führer übte eine personalistische und in ihrer Willkür absolutistische Gewalt aus; 3.) der Führer und seine soziale Bewegung rechneten sich eine Heilsbringerfunktion zu, wodurch sie sich ermächtigt glaubten, jeden Bürger zu maßregeln und gegebenenfalls zu töten, der – wegen seiner Herkunft oder seinen Auffassungen – nicht in das oktroyierte Schema passte.
81 Parsons, Max Weber and the Contemporary Political Crisis, p. 173. Im Original: „[T]he Fascist … dictators were originally party leaders taking part in the competitive struggle for power with other parties. But their resort to other than ‚orthodoxʻ methods of rallying support before attaining power is already a symptom. … Hitlerʼs use of the plebiscite to legitimize so many of his decisive steps of policy fits admirably into Weberʼs analysis.“ 82 Ibid. Im Original: „[I]n a charismatic pattern …, it is deliquency in duty not to heed the call of the leader. Any competitor is by definition intolerable – there must be a decision as to which is the legitimate leader.“ 83 Ibid., p. 165. Im Original: „As Weber treats it, … the claim of an individual person, a ‚leaderʻ, to obedience from a group of followers, … is a moral authority, which claims obedience as a duty, not merely as conformity with the leaderʼs personal wishes as such.“
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Weber hatte – in Wirtschaft und Gesellschaft – das Charisma „eine als außeralltäglich geltende Qualität einer Persönlichkeit“ genannt.84 Er hatte erläutert, dass „Anerkennung durch die Beherrschten … Pflicht der kraft Berufung und Bewährung zur Anerkennung dieser Qualität Aufgerufenen“ war. Er hatte in einem Nachsatz hinzugefügt, dass der politische Anspruch sich mit dem moralischen verband: „Kein … geborener König oder charismatischer Herzog (hat) die Widerstrebenden oder abseits Bleibenden anders denn als Pflichtwidrige behandelt“. Parsonsʼ (und Webers) erstes Kriterium charismatischer Herrschaft war also der Führerabsolutismus, der (wie im Nationalsozialismus) die Entrechtung und die Verfolgung der Regimegegner und der Juden – als den nicht zu den „Ariern“ Gehörenden – und der anderen Bevölkerungsgruppen wie der Geisteskranken oder der „Gemeinschaftsunfähigen“ mit beinhaltete. Parsons berief sich auf Weber, um zwischen dem Führermythos und dem Verbrechen eine Verbindung herzustellen. Der entscheidende Hinweis war, dass die Gewalt gegen „Pflichtwidrige“ – um Webers Ausdruck zu verwenden – in der charismatischen Herrschaft endemisch war. Das zweite Kriterium – und hier war Parsons näher an Weber als die heute noch gängigen Weber-Interpretationen – ging über das Politische hinaus. Zum charismatischen Wirtschaftsgebaren hatte Weber dargelegt, dass „reines Charisma spezifisch wirtschaftsfremd“ sei.85 Er hatte ausgeführt, dass Geschenke und Beute die wirtschaftliche Grundlage eines charismatischen Regimes bildeten. Parsons nahm diesen Gedanken auf und hielt fest, dass Geschenke und Beute im Nationalsozialismus das wirtschaftliche Leben prägten. Weber hatte erläutert: „Der Kriegsheld und seine Gefolgschaft suchen Beute, der plebiszitäre Herrscher oder charismatische Parteiführer materielle Mittel ihrer Macht, der erstere außerdem: materiellen Glanz seiner Herrschaft zur Festigung seines Herrscherprestiges“. Und daraus folgte: „Mäzenatische – großmäzenatische (Schenkung, Stiftung, Bestechung, Großtrinkgelder) – oder: bettelmäßige Versorgung auf der einen, Beute, gewaltsame oder (formal) friedliche Erpressung auf der anderen Seite sind die typischen Formen der charismatischen Bedarfsdeckung“. Parsons übertrug diesen Gedanken auf den Nationalsozialismus. Das Wirtschaftsleben, so wusste er, war dort kein normales System: „Ein normales Wirtschaftsleben [d. h. eine Wirtschaft, wo mittels vertraglich geregelter Arbeit die Güter für den Markt produziert werden] findet nicht statt. Stattdessen gibt es zwei Formen der Bedarfsdeckung, nämlich diejenige durch Geschenke ohne Gegenleistung und diejenige durch ‚Beuteʻ, also die Beschaffung der wirtschaftlich wichtigen Güter durch Zwang oder Gewalt“.86 Parsons ging es um die Anwendbarkeit der Weberʼschen Überlegungen auf das nationalsozialistische Deutschland. Er erwähnte nicht im Einzelnen, dass die erzwungenen Spenden etwa die Massenspenden waren, die die Volksgenossen durch Gehaltsabzüge oder für das Winterhilfswerk zu leisten hatten, oder dass dies die erzwungenen Großspenden waren, die Millionenbeträge umfassten wie die so 84 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, p. 140; dort auch die nächste Zitatstelle. 85 Ibid., p. 142; dort auch die nächsten zwei Zitatstellen. 86 Parsons, Max Weber and the Contemporary Political Crisis, p. 165. Im Original: „Routine provision is out of the question. There are two typical forms, free gifts, and ‚bootyʻ, that is, economically significant goods which are secured by coercion and force.“
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genannte Adolf-Hitler-Spende der Deutschen Wirtschaft in den dreißiger Jahren. Er zählte nicht im Einzelnen auf, was die Beute war. Man durfte sicherlich die Enteignungen und die Plünderungen, die Boykotte und die Zwangsverkäufe anlässlich der so genannten Arisierung der Wirtschaft allemal als Beute ansehen, die das Regime sich aneignete. Nach Kriegsbeginn fanden zudem regelrechte Beutezüge in ganz Europa statt. Zu Beute zählten allemal die Ausplünderung der Zentralbanken der besetzten Länder und die Einverleibung ganzer Industriezweige der besiegten Nationen in die deutsche Wirtschaft – um nur zwei Beispiele zu nennen. Parsons verwies auf Beute und erpresste Geschenke, um an Wirtschaft und Gesellschaft anzuknüpfen, wo es heißt: „Reines Charisma ist spezifisch wirtschaftsfremd“.87 Darin lag die zentrale Aussage. Die Wirtschaft im Nationalsozialismus war in diesem Sinne charismatisch. Das dritte Kriterium passte zu Webers Bestimmung, dass die charismatische Herrschaft keine Dauer hat. „In ihrer genuinen Form ist die charismatische Herrschaft spezifisch außeralltäglichen Charakters“, so Weber, und „nur in statu nascendi [besteht sie] in idealtypischer Reinheit“.88 Sobald eine „dauerhafte Alltagsgrundlage“ des Regimes gelegt sei, so Weber weiter, komme es zur „Veralltäglichung des Charisma“.89 Da „die Gefolgschaft, Jüngerschaft, Parteivertrauensmännerschaft usw.“90 darauf dringe, irgendeine Stetigkeit der Herrschaftsbeziehung zu erreichen, komme es zur „Veralltäglichung des Charisma“ – einem Prozess der unwillkürlichen Traditionalisierung und gelegentlich auch der (gegebenenfalls nur vorgeblichen) Entwicklung hin zur rational-legalen Herrschaft. Weber: „Die ‚Veramtungʻ der charismatischen Sendungen kann mehr Patrimonialisierung oder mehr Bureaukratisierung sein“.91 Dazu: „Mit der Veralltäglichung mündet also der charismatische Herrschafts-Verband weitgehend in die Formen der Alltagsherrschaft: patrimoniale, insbesondere ständische, oder bureaukratische, ein. Der ursprüngliche Sondercharakter äußert sich in der erbcharismatischen oder amtscharismatischen ständischen Ehre der Appropriierten, des Herrn wie des Verwaltungsstabs, in der Art des Herren-Prestiges also“. Parsons wandte diese Überlegungen Webers auf die vierziger Jahre an. Welchen Verlauf würde eine dauerhafte Konsolidierung der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft nehmen? Man müsse sich überlegen, wie denn eine Veralltäglichung dieses charismatischen Regimes aussehen könne: „Es ist höchst wahrscheinlich, dass eine länger dauernde Herrschaft des Nationalsozialismus eine deutliche Tendenz in Richtung eines Veralltäglichungsprozesses zum Traditionalismus … zeigt“.92 Der Traditionalismus sei schon erkennbar an den ständischen Vorrechten, die sich die Gestapo und die SS nähmen. Diese Instrumente der Gewaltherrschaft 87 88 89 90 91 92
Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, p. 142; dort auch die nächste Zitatstelle. Ibid., p. 143. Ibid., p. 142. Ibid., p. 143. Ibid., p. 146; dort auch die nächste Zitatstelle. Parsons, Max Weber and the Contemporary Political Crisis, p. 176. Im Original: „[T]here is a strong presumption that long-term predominance of National Socialism would strongly favor a traditionalistic … process of routinization.“
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seien die Transmissionsriemen der Veralltäglichung zum Patrimonialismus: „Vor allem muss man sich vergegenwärtigen, dass durch die Nazipartei das Gewaltmonopol des Staates auf andere Stellen ausgeweitet wurde – nunmehr haben bestimmte Organisationen innerhalb des Parteiapparates einen Freibrief für die physische Gewaltausübung, vor allem die Gestapo und die SS“.93 Und weiter: „Dies könnte eine Situation herbeiführen, die eine Art Feudalismus schafft, wobei allerdings die Pfründen und die Lehen nicht in der Form des Landbesitzes gewährt würden“.94 Parsons wollte sagen: Statt wie im Feudalismus der Landbesitz seien es im Nazireich die rassischen oder andere Personmerkmale, die das Regime festsetzte, wonach die Vergabe von Pfründen inklusive Machtfunktionen – und sogar Lebensrechten – erfolgte.95 Das Regime bildete Klientelstrukturen aus, und die InklusionExklusion geschah nach rassistischen Merkmalen. Der Volkstumsmythos lieferte dazu den Vorwand. Der Gewaltapparat vernichtete diejenigen, die dem rassistischen Schema nicht entsprachen und deshalb zu Feinden des Regimes erklärt wurden. Parsons griff noch einen weiteren Hinweis Webers auf. Als er schrieb, die abendländische Kultur sei in Gefahr, erinnerte er an Weber, der die Bedeutung des Sieges Athens anlässlich der Schlachten von Marathon und Salamis gewürdigt hatte. Ansonsten, so Weber, hätte sich die Satrapenherrschaft Persiens statt der Demokratie der Polis auf Europa ausgewirkt. Parsons warnte nun, die abendländische Kultur, die aus der Polis entstanden war, werde durch einen Sieg der Nazis zerstört. Er formulierte im Konjunktiv, dass im nationalsozialistisch beherrschten Europa bereits verwirklicht sei, was nur der Sieg der Alliierten noch für die damals zeitgenössische Welt verhindern könne: „Dass dann die entscheidenden kulturellen Errungenschaften unserer Zivilisation eine Machtübernahme durch einen siegreichen Nationalsozialismus nicht lange überleben dürften, bedarf keines weiteren Beweises“.96 Mit anderen Worten: Max Weber and the Contemporary Political Crisis zeichnete ein amoralisches Regime auf dem Weg zu einer rassistischen Satrapenherrschaft. III.) The Social System, Parsonsʼ zweites Hauptwerk97, analysierte den Nationalsozialismus noch einmal, und zwar zu einem Zeitpunkt, als der Sieg der Alliier93 Ibid., p. 177. Im Original: „Above all it should be remembered that the party has broken the stateʼs monopoly of the use of physical force – various organizations within the party structure exercise force in their own right, notably the Gestapo and the S.S.“ 94 Ibid., p. 178. Im Original: „This might well lead to a situation akin of feudalism except that the relation to land would presumably be different.“ 95 Das Bild eines atavistischen Feudalismus wird in der historischen Forschung diskutiert, seit Robert L. Koehl im Jahr 1957 eine Geschichte der Reichskommission für die Festigung des Deutschen Volkstums schrieb, deren Führer der Reichsführer-SS Himmler war. Siehe: Robert L. Koehl, RKFDV: German Resettlement and Population Policy 1939 – 1945. A History of the Reich Commission for the Strengthening of Germandom, Cambridge: Harvard University Press 1957. 96 Parsons, Max Weber and the Contemporary Political Crisis, p. 179. Im Original: „That the most distinctive cultural features of our civilization could not long survive such a change, would scarcely seem to need to be pointed out.“ 97 Parsons, The Social System, Glencoe IL.: The Free Press of Glencoe 1951.
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ten im Zweiten Weltkrieg längst errungen war. Der Rückfall in die Barbarei, also der Rückschritt zum rassistischen Patrimonialismus, war in Deutschland bereits rückgängig gemacht. Der Nationalsozialismus wurde nunmehr in drei begrifflichen Zusammenhängen als der Gegentypus der angelsächsischen Demokratie soziologisch betrachtet. Der erste Begriffszusammenhang, in den das NS-Regime gehörte, waren die Strukturtypen der gesellschaftlichen Organisation.98 Ein Tableau von Orientierungsalternativen erläuterte das soziale Handeln. Diese Pattern Variables waren auf der Systemebene der Gesellschaft für die Demokratie die Vorgaben des Universalismus (d. h. Rechts- und Chancengleichheit für alle Bürger) und des Achievement (d. h. Anerkennung für Kompetenz und Leistung im sozialen Leben). Die Verbindung dieser beiden Pattern Variables stand für die moderne demokratische Industriegesellschaft fest. Aber der Nationalsozialismus hatte eine Wertestruktur, die dazu nicht passte. Das nationalsozialistische Wertemuster bestand – so Parsons – aus Universalismus und Ascription.99 Dort wurden die Herkunft und andere angeborenen Merkmale anstatt der individuellen Leistung in den Vordergrund gestellt. Wenn die Rechte und die Chancen institutionell zugemessen wurden, war die Kompetenz nicht entscheidend, sondern stattdessen die so genannte Rasse, die Volkstumsgruppe, das Geschlecht etc. Das Handlungsmuster des Universalismus war allgemein gestört, wenn es mit Ascription vergesellschaftet wurde. Die Rechts- und Chancengleichheit (also der Universalismus) war nicht zu vereinbaren mit der Struktur, wo die gesellschaftlichen Rechte nach etwaiger völkischer Herkunft (also durch Ascription) zugeteilt wurden. Die zwei heterogenen Strukturdimensionen des Universalismus und der Ascription konnten in dasselbe Funktionsmuster nicht ohne 98 Parsons zeichnete ein Tableau aus insgesamt fünf Orientierungsalternativen des sozialen Handelns und – unter Verwendung von zwei dieser Orientierungsalternativen – ein Schema, das vier Typen der gesellschaftlichen Struktur unterschied. Dabei wurde die moderne Industriegesellschaft der USA dort als der eine Prototyp angesehen, und der Nationalsozialismus war ein zweiter. Diese beiden Strukturmuster wurden ausführlich diskutiert, während die zwei verbleibenden Strukturtypen nur am Rande erwähnt wurden. Dazu auch: Uta Gerhardt, Talcott Parsons – An Intellectual Biography, New York: Cambridge University Press 2002, pp. 170 – 172. 99 Das Begriffsgerüst des Social System sah eine Pattern Variable der zweipoligen Wertorientierung vor, die entweder den Universalismus oder den Partikularismus nahelegte. Der Nationalsozialismus hatte laut Social System die Orientierung des Universalismus (nicht mehr des Partikularismus wie in den frühen vierziger Jahren). Parsons änderte also nach dem Ende des Nationalsozialismus seine Sichtweise teilweise. Nunmehr sah er den Universalismus gegebenenfalls als eine verfälschende Ideologie, ein Zerrbild der Gleichheitsvorstellung. Sofern er mit der Ascription vergesellschaftet war, war der Universalismus etwas Anderes als in den Demokratien – wodurch aufgezeigt werden konnte, dass der Universalismus in einer totalitären Gesellschaft wie eine Maske der Modernität wirkte und zur Fassade der Diskriminierung der verfolgten Minderheitsbevölkerungen wurde. Dass die Begriffe Parsonsʼ in den frühen vierziger und den frühen fünfziger Jahren nicht deckungsgleich waren, muss in der Analyse bewusst bleiben. Ein Widerspruch entsteht dadurch nicht, höchstens ein wichtiger Punkt für die werkgenaue Interpretation. Er revidierte seinen Ansatz im Rückblick auf den Nationalsozialismus, um das Anti-Moderne des Nationalsozialismus – und auch des Sowjetkommunismus – noch einmal anders möglichst adäquat zu fassen.
3. Talcott Parsonsʼ Konzeption
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Friktionen eingepasst werden. Wie funktionierte überhaupt eine Gesellschaft, die auf Universalismus und Ascription aufgebaut war? Das Geschehen musste durch Mechanismen zusammengehalten werden, die die unvereinbaren Prinzipien zusammenschweißten. Diese Mechanismen waren der Kitt, der den gesellschaftlichen Zusammenhalt erst herstellte. Zwang und Gewalt spiegelten sich dabei in den drei Mechanismen 1.) des Utopismus, was bedeutete, dass das utopische Ziel der Reinheit der Rasse proklamiert wurde, ein Programm der mörderischen Politik100, 2.) des Kollektivismus, d. h. der Unterdrückung jeglicher individueller Identität, wodurch eine hermetische Volksgemeinschaft entstehen sollte101, und 3.) des Autoritarismus, also eines manichäischen Hierarchiedenkens zur Verfolgung der aus der Volksgemeinschaft ausgeschlossenen Menschen. Der Strukturtyp Universalismus – Ascription, den der Nationalsozialismus verkörperte, wie ihn Parsons in The Social System schilderte, war ein paradigmatisch antidemokratisches Regime. Der zweite Begriffszusammenhang, in dem der Nationalsozialismus als ein Gegentyp der modernen Industriegesellschaft in The Social System diskutiert wurde, hieß Devianz – Devianz war Parsonsʼ Fachausdruck für das verbrecherische Handeln oder ein verbrecherisches Regime.102 Dass der Nationalsozialismus ein Regime war, in dem das Verbrechen – die Devianz – vorherrschte, ließ sich daran ablesen, dass die Deutschen für ihren Antisemitismus, auch bei Mord, nicht gemaßregelt oder bestraft wurden, so erläuterte Parsons. Die Schergen blieben unbehelligt oder wurden sogar belohnt mit Sonderzuteilungen und Beförderungen. Die Legitimation der Verbrechen, nämlich dass die Bevölkerung die Verbrechen hinnahm, lag in dem Vorurteil gegen die Juden, so Parsons weiter. Das Vorurteil besagte, dass Juden nichts Deutsches an sich hätten und dass sie unehrlich oder illoyal wären. Ein solches Vorurteil könne die Diskriminierung und die Verfolgung von Pariabevölkerungen legitimieren. Parsons: „Solange ein derartiger Legitimationsgrund anerkannt wird und durch die Interaktionen innerhalb der Gruppe der Nichtjuden oder eines Teils der nichtjüdischen Bevölkerung bestätigt wird, dürften wir es mit einem sich verstärkenden Muster von deviantem [d. h. kriminellem] Verhalten zu tun haben. Es muss kein einziges Individuum die institutionisierte Rolle eines Devianten [d. h. Kriminellen] einnehmen, und kein Täter wird für seine Untaten bestraft. Es kann sogar soweit kommen, dass derjenige, der sich normal im Sinne der moralischen Prinzipien verhält, stattdessen bestraft und verfolgt wird“.103 Mit anderen Worten: Im Verbrechensregime wird derjenige verfolgt, der sich dem mörderischen Vorurteil oder Tun entzieht oder widersetzt.
100 Parsons, The Social System, p. 191. 101 Ibid., p. 192. 102 Das Thema Devianz wurde in The Social System in Kap. VII behandelt. Dazu auch: Gerhardt, Talcott Parsons, pp. 168 – 170. 103 Parsons, The Social System, p. 290. Im Original: „So long as this type of legitimation is accepted and mutually reinforced within the Gentile group, or a sub-collectivity within it, we can have a reinforced pattern of deviant behavior without any individual having to accept the institutionalized role and the risk of negative sanctions. Indeed, if the process goes far enough it is the person who conforms with the main value pattern who is subject to negative sanctions.“
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II. Der Nationalsozialismus unter Herrschaftssoziologischer Perspektive
Ein dritter Begriffszusammenhang in The Social System, in dem das NS-Regime vorkam, hieß sozialer Wandel.104 Das NS-Regime tauchte dabei in zwei Bezügen auf. Zum einen war der Verfall der Weimarer Republik, also die Selbstpreisgabe der Demokratie in Deutschland, ein sozialer Wandel, und die NS-Bewegung dieser Zeit hatte die Führerherrschaft vorbereitet: „Teilweise gestützt auf die Traditionen des Militarismus und Autoritarismus konnte die NS-Bewegung eine straffe innere Organisation entwickeln, und bald erstand ihr in der Person Hitlers ein erfolgreich expressiver [d. h. an die Gefühle appellierender] Führer. Hitler war ein ‚kleiner Mannʻ, ein Kriegsveteran und auch in anderer Hinsicht ein passendes Sprachrohr, zudem mit der Gabe der Propaganda und einem gewissen Organisationstalent ausgestattet“.105 Die Gegenkräfte, so Parsons, vermochten ihre weltanschauliche Plattform nicht zu verteidigen. Das NS-Regime hatte noch einen zweiten Bezug für Parsons, den er indessen nicht erläuterte, sondern nur kurz erwähnte. Um die Veralltäglichung der charismatischen Herrschaft (einen eigenen Typus des sozialen Wandels) zu erläutern, ging er nicht (mehr) auf das NS-Regime ein. Die Eskalation einer Gewaltherrschaft wurde in The Social System nicht am Nationalsozialismus, sondern am Sowjetkommunismus dargestellt. Denn: „Da die betreffende Entwicklung in Nazideutschland abrupt gestoppt wurde, nehmen wir Sowjetrussland als Beispielfall. Die vierunddreißig Jahre seit der russischen Revolution sind eine ausreichende Zeitspanne, um gewisse Tendenzen der Veralltäglichung des Charisma daran zu verdeutlichen“.106 The Social System sah also den Nationalsozialismus und ebenso den Sowjetkommunismus als Gewaltregimes an. Für Parsons war nur das letztere das Anschauungsmaterial für die Veralltäglichung der charismatischen Herrschaft, denn in Deutschland hatte der Sieg der Alliierten den weiteren Fortgang der Traditionalisierung des charismatischen Regimes abrupt beendet. Zusammenfassend: Parsonsʼ verschiedene Arbeiten der Zeit zwischen 1940 und 1951 schildern das NS-Regime aus der Perspektive der jeweils aktuellen Gegenwartslage. Der Aufstieg des Nationalsozialismus bis ca. 1941/1942 prägte das Gut104 Kap. XI unterschied drei Prozesse des sozialen Wandels. Max Webers Herrschaftssoziologie war dabei wegweisend. Der eine Typus des sozialen Wandels war die Modernisierung der modernen Industriegesellschaft, die als ein rational-legales Regime allzu leicht dazu tendierte, ihre traditionalen Momente zu entwerten und ihre rationalen zu forcieren, so dass Konflikte entstehen konnten, die den Bestand der Demokratie gefährdeten – wenn eine anti-demokratische Protestbewegung sich bildete; der zweite Typus war der Rückfall von der rational-legalen zur charismatischen Herrschaft; und der dritte Typus war die Veralltäglichung des Charisma, also der Übergang von der charismatischen zur traditionalen oder gelegentlich zur rational-legalen Herrschaft. Siehe auch: Gerhardt, Talcott Parsons, pp. 173 – 177. 105 Parsons, The Social System, p. 524. Die Textstelle im Original: „Resting partly on German military and authoritarian traditions, the movement developed a very tight internal organization and soon there emerged a highly efficacious expressive leader in the person of Hitler, who was a ‚little manʻ, a war veteran and in other respects a suitable spokesman, not excepting his great capacity for propaganda activity and for organization on certain levels. … The ideological basis was provided by a highly ingenious combination of appeals of nationalism and of ‚socialismʻ.“ (524) 106 Ibid., p. 525 – 526. Im Original: „Since the relevant development in Nazi Germany was cut off short, we shall take the case of Soviet Russia since in the thirty-four years since the Revolution it has gone far enough for certain things to emerge clearly.“
4. Avantgarde: Herrenrasse und Mentalität im Nationalsozialismus
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achten für den Council for Democracy und bildete noch den Hintergrund von Max Weber and the Contemporary Political Crisis. Der Niedergang des Nationalsozialismus war besiegelt, als The Social System entstand. Insgesamt lässt sich sagen: Das Parsonsʼsche Verständnis des Nationalsozialismus entsprach drei Theoremen Webers im Verständnis der charismatischen Herrschaft. Erstens: Der Führermythos steht nicht für die Legitimität des Regimes. Sondern das „Pflichtmäßige“ – mit Weber gesprochen – in der Unterwerfung unter den Führer sichert die Legitimität, weshalb der Legitimitätsglaube nicht freiwillig entsteht. Der Führerkult ist die Fassade, hinter der sich die Gewalt verbirgt. Zweitens: Die Wirtschaft ist auf Beute und Geschenke angelegt, was Weber andeutete und Parsons aufgriff, um es zum Thema zu machen, das allerdings nur skizzenhaft behandelt wird. Drittens: Die Veralltäglichung des charismatischen Regimes durch die Entwicklung zu einem atavistischen Patrimonialismus rassistischer Satrapenherrschaft fand wegen der Niederlage im Zweiten Weltkrieg als gesellschaftlicher Wandel nicht (mehr) statt. Dieser analytische Ansatz kann auf die Frage eine Antwort geben, wie diese Herrschaft in Deutschland immerhin zwölf Jahre dauern konnte. Das charismatische Regime (wie Weber wusste) besteht zwar nur in statu nascendi und tendiert zu seiner Veralltäglichung zu einem sultanistischen Traditionalismus. Aber das Regime kann durch Mechanismen dauerhaft bzw. weitgehend stabilisiert werden, nämlich Utopismus, Kollektivismus und Autoritarismus. Parsonsʼ soziologisches Verständnis – mit Rekurs auf Weber – zeichnete das charismatische Regime als eine Herrschaft, die durch Zwangsstrukturen den Freiheitsspielraum der europäischen Zivilkultur ersetzte und durch Imperialismus den Verlust von Recht und Rationalität kompensierte
4. AVANTGARDE: HERRENRASSE UND MENTALITÄT IM NATIONALSOZIALISMUS Der Topos Avantgarde setzt einen darüber hinausweisenden Bezugshorizont. Der Vergleich zwischen dem Sowjetkommunismus und dem Nationalsozialismus war bei Parsons ein Anliegen. Auch Hannah Arendt untersuchte den Totalitarismus der beiden Regimes. Die soziologische Analyse dieser Herrschaftssysteme des zwanzigsten Jahrhunderts kann durch Webers Überlegungen nun noch weiter vertieft werden. Das Konzept der Avantgarde eröffnet einen Blick auf die geschichtlichgesellschaftliche Dynamik dieses Herrschaftstypus als Verbrechensregime. Anhand von zwei Themen kann ein wenig beachteter Aspekt des Weberʼschen Herrschaftstypus in den Vordergrund gerückt werden – die vollständige Umformung der gesellschaftlichen Lebensmuster. Die zwei Themen: Das Schema Herrenrasse und der Sozialcharakter Hitlerdeutschlands. Wenn man auf Webers Text noch einmal blickt, stellt man fest, dass bisher nur vier, nicht die fünf Merkmale, die Weber für die charismatische Herrschaft anführte, in den soziologischen Ansätzen verwendet werden. Es sind: 1.) die pflichtmäßige Anerkennung des Führers durch die Beherrschten (wobei die Pflicht mittels Gewaltandrohung oder Gewaltanwendung eingefordert und durch den Glauben an den
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II. Der Nationalsozialismus unter Herrschaftssoziologischer Perspektive
Führer erfüllt wird, der auf Zwang beruht, nicht freiwillig entsteht), 2.) der Erfolgszwang, dem der charismatische Herrscher, um sein Regime zu sichern, unterworfen ist, 3.) ein nicht durch ein satzungs- oder rechtmäßiges Reglement, sondern durch Willkür, genormtes Handeln des charismatischen Verwaltungsstabes und 4.) die Zerstörung des rationalen Wirtschaftens. Weber zählte ein fünftes Merkmal hinzu, nämlich: „Wandlung der zentralen Gesinnungs- und Tatenrichtung unter völliger Neuorientierung aller Einstellungen zu allen einzelnen Lebensformen und zur ‚Weltʻ überhaupt“.107 Das – bei Weber fünfte – Merkmal der vollständigen Umgestaltung sowohl der Gesinnung als auch der Verhaltensweisen ist gesamtgesellschaftlich. Auf Seiten der Bürger entspricht ihm die Umwandlung der Einstellungen und Lebensformen. Unter den drei reinen Typen der legitimen Herrschaft bedeutet nur die charismatische, dass das Regime eine „Wandlung der zentralen Gesinnungs- und Tatenrichtung“ einfordert und dabei verlangt, die bisherigen „Einstellungen zur ‚Weltʻ überhaupt“ preiszugeben. Eine vorgeschriebene Weltsicht wird zur Pflicht, ihre Verletzung mit drastischen Mitteln geahndet. Das rational-legale und das traditionale Regime erfordern demgegenüber keinen solchen Bruch mit dem Vorherigen, und diese beiden Regimetypen bewirken auch keine abrupte Übernahme eines oktroyierten Verhältnisses zur „,Weltʻ überhaupt“. In der charismatischen Herrschaft geht es um die Wandlung der Sinnsysteme. Ziel ist die Zerstörung der erlernten Orientierungen und die Ersetzung von Denkmustern und Bewusstseinsformen durch vorgeformte Doktrinen. Auferlegt wird, die Welt überhaupt vollkommen anders wahrzunehmen. Dazu gehören der Zwang, der kein Ausweichen zulässt, und die Bestrafung, die ansonsten erfolgt. Es geht um eine – den Bürgern ausnahmslos oktroyierte – „Veränderung der Lebensumstände und Lebensprobleme“. Für die ganze Gesellschaft, so Weber, heißt es „Umformung von innen“. Der Bruch mit dem Bisherigen verlangt vom Bürger den Verlust seiner Weltauffassung, denn gefordert ist nun die „völlige Neuorientierung aller Einstellungen zu allen einzelnen Lebensformen und zur ‚Weltʻ überhaupt“. Den Übergang in eine derartige Herrschaft kann man sich als hoch dramatisches Geschehen vorstellen, das allemal Jahre dauert. Biographische und historische Literatur über die Zeit der Machtübernahme der Jahre 1933 und 1934 dokumentiert eindringlich, wie schockiert viele Deutsche über die SA-Schlägertrupps waren, die die Regimegegner niederknüppelten, wie entsetzt viele Honoratioren der Weimarer Zeit über die Emporkömmlinge des Hitlerkreises waren und wie ohnmächtig sich die Repräsentanten der Justiz, der Wissenschaft und der Politik angesichts der Herabwürdigung ihrer Kompetenz und Verdienste vorkamen.108 Die Konsolidierung des Führerstaates – mit Norbert Frei gesprochen – währte unentwegt weiter bis in die Endphase des Regimes. Bis in die letzten Jahre der Hitlerdiktatur war die Naziherrschaft auf Utopismus, Kollektivismus und Autoritaris107 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, p. 142; dort auch die nächsten sechs Zitatstellen. 108 Siehe etwa: Sebastian Haffner, Geschichte eines Deutschen. Die Erinnerungen 1914 – 1933, München: dtv Deutscher Taschenbuch Verlag 2000; Gotthard Jasper, Die gescheiterte Zähmung. Wege zur Machtergreifung 1930 – 1934, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1986; Ulrich Walberer (unter Mitarbeit von Wolfgang Benz) (Hrsg.), Zehnter Mai neunzehnhundertdreiunddreißig. Bücherverbrennung in Deutschland und die Folgen, Frankfurt a. M.: Fischer 1983.
4. Avantgarde: Herrenrasse und Mentalität im Nationalsozialismus
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mus angewiesen. Die angestammten zivilgesellschaftlichen Lebensmuster mussten dauerhaft ge- oder zerstört werden, was der Herrenrasse-Rassismus und der „Volksstaat“ – die unwillkürliche Komplizenschaft der Volksgenossen mit dem Unrecht – bewerkstelligen sollten. Die charismatische NS-Herrschaft, wie sie die Verfassung außer Kraft setzte, wurde von den Bürgern nicht vom ersten Tag an bejubelt. Im Gegenteil: Ein Großteil der Bevölkerung, vielfach die Angesehenen und die Wohlhabenden, glaubten nur an eine kurze Dauer des NS-Herrschaft und dachten, die Hitlerdiktatur werde bald zu Ende sein, und ein weniger grobschlächtiges Regime werde folgen. Viele Emigranten flohen zunächst nach Österreich, in die Tschechoslowakei und nach Frankreich, weil sie glaubten, binnen kurzem wieder zurückkehren zu können. Der Zusammenbruch des Regimes wurde auch im Ausland erwartet, bis 1938/1939 klar wurde, dass die Kriegsvorbereitungen Deutschlands einen Kampf unausweichlich machten. Die Festigung der charismatischen Herrschaft war eine Daueraufgabe. Die Avantgarde, so meine These, entsprach dem Sendungsbewusstsein der Herrenrasse, die die Schaltstellen der Macht besetzte. Die charismatische Elite war die Gruppe oder die Truppe, die die neuartige Weltanschauungsdiktatur verkörperte. Die „völlige Neuorientierung aller Einstellungen“ wurde durch die Clique oder Gruppierung der auserwählten Bonzen und ihrer Getreuen verkörpert. Sie waren die Repräsentanten der Weltanschauung, und sie erzwangen die Übernahme ihrer Weltsicht. Sie wollten die ‚Speerspitze der Revolutionʻ sein, die die Volksgenossen mit sich riss. Sie standen als Avantgarde gegen die mehr oder minder unwillige Masse der Bevölkerung und erhoben sich über die mehr oder minder bereitwillige Schicht der Parteigänger. Die Avantgarde oktroyierte den Rassismus und machte das Unrecht allgemein. Das Herrenrasse-Schema entsprach der Führerdiktatur. Die Studien zum Führungscorps der NSDAP, der SS und der Gestapo sowie die Studien zum „Krieg gegen die Juden“ und zur „Ordnung des Terrors“ in den Konzentrationslagern zeigen die Strukturen dieser Herrenrasse-Regierung. Die SS und die Gestapo waren Organisationen mit einem Freibrief für Entrechten und Töten. Diese Organisationen waren Eliten und verstanden sich als Avantgarde. Hannah Arendt betonte die Rolle der Geheimpolizei im Totalitarismus – neben dem Staatsapparat und den Konzentrationslagern – als entscheidend für die nationalsozialistische (und die sowjetkommunistische) Herrschaft: „Die einzige Institution, in der Staatsmacht und Parteiapparat zusammenzufallen scheinen und die gerade darum sich als das eigentliche Machtzentrum im totalitären Herrschaftsapparat entpuppt, ist die Geheimpolizei. Auffallend hieran ist vorerst die eigentümliche Vernachlässigung der Armee, deren überwältigendem Gewaltpotential offenbar in der Meinung totalitärer Machthaber kein eigentliches Machtpotential entspricht, so daß man sie ungestraft zugunsten der Polizei degradieren darf“.109 Mar-
109 Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft, p. 663. Dazu gehörte die Anmerkung: „Otto Gauweiler, Rechtseinrichtungen und Rechtsaufgaben der Bewegung, 1939, bemerkt ausdrücklich, dass die Sonderstellung Himmlers als Reichsführer-SS und Chef der deutschen Polizei darauf beruhe, dass in der Polizeiverwaltung ‚eine wahrhafte Einheit von Partei und Staatʻ, die nirgendwo sonst auch nur erstrebt wird, verwirklicht sei. (p. 102)“
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II. Der Nationalsozialismus unter Herrschaftssoziologischer Perspektive
tin Broszat schilderte in Nationalsozialistische Polenpolitik 1939 – 1945110 die Vernichtung Polens (d. h. die Vernichtung der Spitzen und Stützen der polnischen Gesellschaft) entsprechend dem Programm der SS. Der Wehrmacht – ergänzend zur SS – war eine ausführende Funktion zugedacht111, während die SS sich zum Vorkämpfer machte: „Hitlers Vorstellungen von der ‚Lösung der Ostfrageʻ … [waren]: Sie erfordere die ‚Vernichtung Polensʻ, die ‚Beseitigung seiner lebendigen Kraftʻ. Es handele sich nicht um ‚Erreichen einer bestimmten Linie oder einer neuen Grenze, sondern um Vernichtung des Feindesʻ. Deshalb habe auch die Durchführung ‚hart und rücksichtslosʻ zu geschehen. Die Wehrmacht müsse sich ‚gegen alle Erwägungen des Mitleids hart machenʻ“112. Anatomie des SS-Staates schilderte die SS als den Vorreiter der Herrenrasse-Einstellungen: Die SS war das sprichwörtliche Herrschaftsinstrument113, und Befehl und Gehorsam wurden in der SS unter die Perspektive gestellt, dass „der Befehl in Weltanschauungssachen“ eine unbedingte Gefolgschaft trotz des persönlichen Widerwillens gegen das Töten wehrloser Menschen verlange.114 Hans Buchheim zitierte im Wortlaut eine Rede des Generalgouverneurs Hans Frank vom 30. Mai 1940 anlässlich einer Besprechung mit Höheren SS- und Polizeioffizieren: „Meine Herren, wir sind keine Mörder. Für den Polizisten und SS-Mann, der auf Grund dieser Maßnahme amtlich oder dienstlich verpflichtet ist, die Exekution durchzuführen, ist das eine furchtbare Aufgabe. Wir können leicht hunderte von Todesurteilen unterzeichnen; aber ihre Durchführung deutschen Männern, anständigen deutschen Soldaten und Kameraden zu übertragen, das bedeutet eine furchtbare Belastung. Aber … jeder Polizei- und SS-Führer, der nun die harte Pflicht hat, diese Urteile zu vollstrecken, muß auch hundertprozentig die Gewißheit haben, dass er hier in Erfüllung eines Richterspruches der deutschen Nation handelt“.115 Der Avantgarde-Auftrag des Mordens wurde in der berüchtigten Rede Himmlers vor SS-Führern am 4. Oktober 1943 in die folgenden Worte gekleidet: „Ein Grundsatz muß für den SS-Mann absolut gelten: ehrlich, anständig, treu und kameradschaftlich haben wir zu Angehörigen unseres eigenen Blutes zu sein und zu sonst niemandem. … Ob bei dem Bau eines Panzergrabens 110 Martin Broszat, Nationalsozialistische Polenpolitik 1939 – 1945, Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt 1961. Als erste Gesamtdarstellung schilderte Broszats Buch die Terrorherrschaft der Höheren Polizei- und SS-Führer sowie der Dienststellen des Reichskommissars für die Festigung des deutschen Volkstums (RKF), den Machtapparat, der die Ghettos, Arbeitslager, Konzentrationslager, SS-Wirtschaftsbetriebe und die Vernichtungslager im Generalgouvernement (GG) und den Reichskommissariaten Ukraine und Ostland verantwortete. 111 Zur Einbeziehung der Wehrmacht in die Verbrechen in Polen, die Broszat deutlich dokumentierte, obwohl in den neunziger Jahren anlässlich der Ausstellung über die Verbrechen der Wehrmacht noch immer dagegen Widerspruch in bestimmten Bevölkerungskreisen erhoben wurde, vgl. neuerdings auch: Jochen Böhler, Auftakt zum Vernichtungskrieg. Die Wehrmacht in Polen 1939, Frankfurt: Fischer 2006. 112 Broszat, Nationalsozialistische Polenpolitik 1939 – 1945, p. 9. 113 Hans Buchheim, Die SS – das Herrschaftsinstrument, in: Buchheim, Anatomie des SS-Staates, Band 1, München: dtv Deutscher Taschenbuch Verlag 1967, pp. 15 – 212. 114 Hans Buchheim, Befehl und Gehorsam, in: Buchheim u. a., Anatomie des SS-Staates, pp. 215 – 318. 115 Ibid., p. 228.
4. Avantgarde: Herrenrasse und Mentalität im Nationalsozialismus
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10 000 russische Weiber an Entkräftung umfallen oder nicht, interessiert mich nur insoweit, als der Panzergraben für Deutschland fertig wird. … Wenn einer kommt und sagt: ‚Ich kann mit den Kindern oder den Frauen den Panzergraben nicht bauen. Das ist unmenschlich, denn dann sterben die daranʻ, – dann muß ich sagen: ‚Du bist ein Mörder an deinem eigenen Blut, denn, wenn der Panzergraben nicht gebaut wird, dann sterben deutsche Soldaten, und das sind Söhne deutscher Mütter. Das ist unser Blutʻ.“116 Die Verbindung zwischen dem Avantgarde-Anspruch und dem Genozid zeichnete Richard Breitmans Studie über Heinrich Himmler als den Architekten des Völkermords.117 Breitman schilderte zunächst, wie der ehrgeizige Himmler sich durch die Morde an SA-Führer Röhm, General von Schleicher und anderen im Sommer 1934, als die konzertierte Mordaktion durchgeführt wurde, bei Hitler unentbehrlich machte. Dadurch konnte er den Ausbau der SS und die Fusion von SS und Polizei erreichen, was den Unterdrückungsapparat perfektionierte. So konnte die Ideologie des Blutes zum Organisationsprinzip werden, was auch besagte: „Untergebene mit Blut an den Händen würden es nicht mehr wagen, ihren Führer und seine Gefolgschaft zu verlassen“.118 Breitman schilderte, wie die SS bereits bei der Vorbereitung des Angriffskriegs gegen Russland plante, die Einsatzgruppen hinter der Ostfront im Namen des Vernichtungskrieges auszusenden, die hunderttausende Morde durchzuführen, um dem Rassenwahn zu genügen. Himmler als Reichskommissar für die Festigung des deutschen Volkstums im Osten, so Breitman, setzte Kriminelle als seine Handlanger mit vollen Verfügungsrechten und Anordnungsbefugnissen ein; sie trafen die logistischen Vorbereitungen, um die Massenmorde durchführbar zu machen. So konnte Odilo Globocnik als der Bevollmächtigte für Auschwitz mit Geheimauftrag aus Berlin eigenmächtig handeln. Über die Wannseekonferenz berichtete Breitman: Reinhard Heydrich, Himmlers ergebener Sicherheitschef, habe das durch Adolf Eichmann erstellte Protokoll mehrmals überarbeitet, um sicherzustellen, dass die Staatssekretäre der verschiedenen Reichsministerien durch ihr offensichtliches Schweigen zu unwillkürlicher Komplizenschaft, also Stillhalten, gezwungen waren: „In seiner offiziellen Zusammenfassung glättete Eichmann die Aussagen, wobei er die üblichen Euphemismen und die in den offiziellen Dokumenten gängigen doppeldeutigen Ausdrücke benutzte. Trotzdem überarbeitete Heydrich das Protokoll drei oder vier Mal, bevor es ins Reine geschrieben und vervielfältigt wurde. Eine der Auslassungen betraf die genaue Angabe über die Methoden, mit denen die Juden getötet wurden. Aber auf der anderen Seite nahm Heydrich genug von den Äußerungen der Staatssekretäre in das Protokoll auf, dass sie
116 Ibid., p. 248. 117 Richard Breitman, The Architect of Genocide. Himmler and the Final Solution, Hanover und London: University Press of New England 1991 beruhte auf Forschungen, die die Unterlagen zugrunde legten, die in der Record Group 242 der National Archives und auch den Archivbeständen des Holocaust Museum in Washington zugänglich sind – den Unterlagen, die dem Nürnberger Tribunal vorlagen, um den Verbrechenscharakter des Naziregimes zu bezeugen. 118 Breitman, p. 43. Im Original: „Subordinates with bloodstained hands were most unlikely to desert their Führer und their cause.“
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II. Der Nationalsozialismus unter Herrschaftssoziologischer Perspektive
nunmehr dadurch auf das Mordprogramm ihrerseits verpflichtet waren – um sie festzunageln, wie Eichmann sich später ausdrückte“.119 Jeffrey Herfs Studie zur antisemitischen Ideologie – erschienen 2006 – zeigte an einem weiteren Thema, wie der Rassismus als die nationalsozialistische Weltanschauung auf die Einstellungen der Bevölkerung einwirkte, wobei die Avantgarde, also die Bonzen des Regimes, sich anheischig machten, der Bevölkerung den Genozid an den Juden als die Verteidigung der Deutschen zu „erklären“.120 The Jewish Enemy widmete sich der Nazipropaganda im Zweiten Weltkrieg. Ein Gedankengebäude aus paranoiden Phantasien, wie Herf schilderte, beschwor einen Weltfeind, der alles Deutsche zerstören wolle. In den Massenmedien und ebenso den geheimen und offiziellen Reden der Naziführer war das Judentum der eine unversöhnliche Gegner, woraus gefolgert werden sollte, der Krieg werde gegen die Juden geführt – und zwar sei es ein Verteidigungskrieg des deutschen Volkes, welches um seine nationale und/oder „rassische“ Selbsterhaltung kämpfe. Der wahnhaft behauptete Krieg gegen die Juden, so Herf, war indessen hinter den Kulissen ein wirkliches Mordprogramm, der Holocaust an Millionen wehrloser Menschen. Herf veranschaulichte die infame Doppelzüngigkeit anhand von Argumentationsfiguren, die ausmalten, entweder die Juden oder die Deutschen wären diejenigen, die durch diesen Krieg ausgerottet würden – eine Denkfigur, die Hitler in seiner Rede vom 30. Januar 1939 zum ersten Mal verwandte und die in den darauf folgenden Jahren bei Naziführern zu einer stehenden Redewendung wurde. Herf zitierte – in englischer Übersetzung – den Leitartikel von Joseph Goebbels aus Das Reich vom 21. Januar 1945: „Who drives the Russians, English, and Americans into the fire, and sacrifices masses of foreign lives in a hopeless struggle against the German people? The Jews! In their newspapers and radio broadcasts, they sing the songs of war, while the peoples they have misled are led to the slaughter. Who invents new programs of hatred and extermination against us, and in so doing makes this war into an awful act of horrendous self-slaughter and self-annihilation of Europeʼs life, its economy, education and culture? The Jews! Who invented, implemented, and jealously watches over the repulsive alliance between England and the USA on the one
119 Ibid., p. 233. Im Original: „In his official summary, Eichmann polished up the comments, using the customary euphemisms and ambiguous terms suitable for an official document. Even so, Heydrich revised the summary three or four times before he let it be copied and distributed. One of the deletions was a discussion of the exact methods of killing Jews. On the other hand, Heydrich wanted some of the state secretariesʼ comments down in the record in order to bind them to the policy – to nail them down, as Eichmann later put it.“ 120 Jeffrey Herf, The Jewish Enemy. Nazi Propaganda During World War II and the Holocaust, Cambridge MA: Harvard University Press 2006. Herfs These: „During World War II, the propaganda of the Nazi regime repeatedly asserted that an actual political subject, an actor called Jewry or international Jewry, was ‚guiltyʻ of starting and prolonging the war and that a Jewish international conspiracy was intent on exterminating Germany and the Germans. These statements rested on a paranoia inherent in the Nazisʼ radical anti-Semitism. In the context of World War II, these beliefs transformed the centuries-old European anti-Semitism from a justification for traditional forms of persecution into what the historian Norman Cohn called a ‚warrant for genocide.ʻ“ (p. 2)
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hand, and bolshevism on the other? Who justifies this perverse political situation and a cynical hypocrisy and fear? … Jews, only the Jews!!“121 Herf thematisierte die Einstellungen der Bevölkerung, die ihnen die Propaganda auferlegte, weil eine hermetische Abschottung der so genannten Arier von den Juden gefordert war und die Identifikation mit den jüdischen Mitbürgern kriminalisiert wurde. Die Infamie war bereits in den so genannten Nürnberger Gesetzen offenkundig, wie Neumann schon in den vierziger Jahren deutlich gemacht hatte – eigentlich handelte es sich um Parteierlasse, die anlässlich eines Parteitages verkündet wurden und denen keinerlei Gesetzgebungsverfahren vorausging. Die Infamie war, dass die Juden und die Nichtjuden gesellschaftlich zu unverträglichen, gar feindlichen, einander zerstörenden Bevölkerungen (Menschen) erklärt wurden: „[Das] ‚Blutschutzgesetzʻ gehört zu den schändlichsten im Repertoire der Nationalsozialisten. … [Es] ist mit der gleichen Grausamkeit auf (von Juden und NichtArien begangene) ‚Rassenschandeʻ wie auf (von Deutschen begangenen) ‚Rassenverratʻ angewendet worden“.122 Das Thema Herrenrasse kann weiterhin durch die Forschung über die Organisation und das System der Konzentrationslager beleuchtet werden. Aus der großen Anzahl der Studien zu diesem Thema seien zwei ausgewählt. Die eine untersucht die Binnenstruktur der Lager als Abbild der nationalsozialistischen Weltanschauungsdiktatur, und die andere schildert das reichsweite System der Konzentrationslager als einen Ort der ausschließlichen Vernichtung von Menschen. Wolfgang Sofsky entwarf unter dem Titel Die Ordnung des Terrors123 ein beklemmend plastisches Bild der dreistufigen Willkürmacht im KZ. Er zeichnete das paradigmatische Organisationsmodell des Terrors im Konzentrationslager. Die allgewaltige SS war dort die Schicht der Schergen, die die Herren über Leben und Tod waren. Diese Avantgarde wurde unterstützt durch eine mittlere Ebene der Kapos und der Funktionshäftlinge, die ihr Leben durch ihre im Namen und als Büttel der SS begangenen Verbrechen an den Mithäftlingen zu erhalten hofften. Die unterste Ebene bestand aus der Masse der Insassen. Sie waren ohne Schutz vor Gewalt. Sie wurden nach ihrer rassischen oder ihrer völkischen Zugehörigkeit oder nach anderen Kriterien in Gruppierungen der abgestuft minimalen Lebensrechte eingeteilt. Die Herrenrasse mit ihrer Entgegensetzung von Avantgarde und Masse wurde daran vorgelebt. Karin Orth befasste sich – unter dem Titel Das System der nationalsozialistischen Konzentrationslager124 – mit der Eskalation von den SA-Schutzhaftlagern des Jahres 1933 bis zu den Vernichtungslagern. Sie untersuchte schwerpunktmäßig die „Konzentrationslager im letzten Kriegsjahr“125, also der Zeit, als die Rüstungsindustrie die KZ-Häftlinge als Arbeitssklaven in den unterirdischen Produktions121 Ibid., p. 255. 122 Franz L. Neumann, Behemoth (1984), pp. 150 – 151. 123 Wolfgang Sofsky, Die Ordnung des Terrors – Das Konzentrationslager, Frankfurt a. M.: Fischer 1993. 124 Karin Orth, Das System der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Hamburg: Hamburger Edition 1998. 125 Ibid., pp. 222 ff.
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II. Der Nationalsozialismus unter Herrschaftssoziologischer Perspektive
stätten ausbeutete und als schließlich die Todesmärsche landesweit den Deutschen das Ausmaß der Verbrechen und den Zustand der Opfer vor Augen führten. Orth zeichnete die Eskalation aus der Sicht der Opfer, so konnte sie die Endphase des Regimes drastisch ins Blickfeld rücken. Ein ganzes Kapitel widmete sie den Elendsmärschen nach der Auflösung der Lagerkomplexe. Das Auffällige war, wie sie festhielt, dass selbst noch im Chaos des Untergangs die Deutschen nicht vermochten, aus Angst oder aus Unfähigkeit, Mitleid mit den Opfern zu fühlen und die Häftlinge von ihren Peinigern zu befreien. Die Herrenrasse entsprach unwillkürlich dem Verhalten der (fast) ganzen deutschen Bevölkerung. Der Anspruch der Avantgarde, ein nie dagewesenes Neues zu verkörpern, das alle bisherigen Maßstäbe sprengte, hieß im Konkreten: Das radikal Neue war der Terrorapparat, der den Deutschen den mörderischen, manichäischen Rassismus oktroyierte. Die NSDAP-Elite, die SS und die Gestapo waren die Organisationen, deren Taten juristisch nicht geahndet wurden, da sie der ordentlichen Gerichtsbarkeit entzogen waren. Sie machten den „Krieg gegen die Juden“ zum Mord an den europäischen Juden, umdefiniert zur Kriegshandlung. Sie erzwangen die „Neuorientierung aller Einstellungen zu allen einzelnen Lebensformen und zur ‚Weltʻ überhaupt“, symbolisiert durch die Hierarchie der Bonzen, die sich als die Inkarnation der Herrenrasse fühlten. Im Konzentrationslager waren die rassistisch zu Herrenmenschen deklarierten SS-Männer die allgewaltigen Herren über Leben und Tod. Dort herrschte die Pyramidenstruktur, die auch in der Gesellschaft des nationalsozialistischen Deutschland angestrebt wurde. Die Avantgarde sollte mit ihrer furchtbaren Schlagkraft den Übergang erzwingen. Wie fügten sich die Deutschen in die Umwertung aller Werte? Das Thema beschäftigte die Sozialwissenschaften bereits in den dreißiger Jahren. Welche Antworten wurden gefunden? Ein Denkansatz des Jahres 1933 hieß The Psychology of Hitlerism.126 Harold Lasswell, ein Politologe, der die Psychoanalyse einbezog, sah den Antisemitismus in Deutschland als das Ventil für die Ressentiments, die aus der psychologischen „Verarbeitung“ der Niederlage des Ersten Weltkrieges stammten und worin sich auch die Krisenerfahrungen der Weimarer Zeit widerspiegelten: „Der Antisemitismus bietet ein Zielobjekt für die Abreaktion der Ressentiments, die aus dem Verlust der Selbstachtung stammen. … Die Attraktivität des Antisemitismus liegt teilweise darin, dass er eine Gelegenheit für Aggression gegen die Reichen und die Erfolgreichen bietet, ohne dass damit gleich der proletarische Sozialismus verbunden zu sein braucht“.127 Und weiter: „Das Anwachsen des Antisemitismus hat in Deutschland außerdem eine politische Zusammenarbeit zwischen den unteren Mittelschichten und den Großagrariern trotz der gegensätzlichen wirtschaftlichen Interes-
126 Harold Lasswell, The Psychology of Hitlerism, The Political Quarterly, vol. 4, 1933, pp. 373 – 384. 127 Ibid., pp. 373 – 374. Im Original: „Anti-semitism provided a target for the discharge of the resentments arising from damaged self-esteem. … The lure of anti-semitism lay partly in the opportunity which it provided for discharging animosity against the rich and successful without espousing proletarian socialism.“
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sen dieser Bevölkerungsgruppen ermöglicht“.128 Lasswell sah im „Hitlerismus“ einen kulturellen Fundamentalismus. Die Deutschen bejahten das fundamentalistische Programm, so Lasswell, weil sie dadurch ihre eigenen Verfehlungen der Kriegs- und der Nachkriegsjahre, die den chaotischen Verhältnissen geschuldet waren, sozusagen ungeschehen machen könnten. Er dachte, dass die Deutschen den Juden – als dem sprichwörtlichen Sündenbock – scheußliche Verfehlungen nachsagten, um dadurch einen Grund zu haben, warum sie hassen könnten, und sie brauchten den Hass, um die Verfolgung dieser Minderheit zu dulden oder mitzumachen: „Die Kämpfe im Krieg, die Mangelernährung, die Inflation und die Arbeitslosigkeit [zwischen 1914 und 1933] haben viele Männer und Frauen dazu verleitet, ‚Verführungenʻ zu erliegen, denen sie nicht zu widerstreben vermochten, und die aus diesen Regelverstößen entstandene Schuld veranlasst nun viele Deutsche zu Sühnehandlungen. In einer gewissen Hinsicht ist das faschistische ‚Erwachen Deutschlandsʻ eine Geste des Strebens nach der moralischen Aufwertung der Deutschen, und der Jude ist dabei der sprichwörtliche Sündenbock“.129 Lasswells These war, dass die Deutschen am Ende der Weimarer Republik bzw. zum Zeitpunkt der Machtergreifung sozialpsychologisch in einem Zustand waren, wo der moralische Nihilismus vorherrschte. Daraus stammten die aggressiven Ressentiments, die wiederum das Regime des „Hitlerismus“ in die Bahnen des Verfolgungsantisemitismus lenken konnte. Ebenfalls in den dreißiger Jahren entstand Erich Fromms These, der Nationalsozialismus entspreche einer Charakterstruktur aus Übermachtstreben und Ohnmacht. In seinem Einleitungsessay zu Studien über Autorität und Familie, dem Sammelwerk des – zur Emigration gezwungenen – Frankfurter Instituts für Sozialforschung, erörterte Fromm den autoritären Sozialcharakter.130 Der Autoritarismus, der in Deutschland ohnehin endemisch sei, habe die Herrschaft des Nationalsozialismus noch begünstigt. Fromm zog psychoanalytische Theoreme heran, um die Unterwerfung unter den Führer als einen Autoritarismus, der aus einem „autoritär-masochistischen Charakter“ stamme, zu erkennen. Die Charakterstruktur sei in Deutschland allerdings seit langem weit verbreitet. Masochismus im Verhältnis zu den Mächtigen, d. h. grenzenlose Ehrfurcht, und Sadismus gegenüber den Wehrlosen, d. h. bodenlose Aggression, seien die zwei Seiten dieses Einstellungssyndroms. Es habe in Deutschland seit langem bestanden und sei durch den Nationalsozialismus in folgenschwere Bahnen gelenkt worden. Fromm: „Die masochistischen Strebungen zielen darauf ab, unter Preisgabe der Individualität der eigenen 128 Ibid, p. 376. Im Original: „The growth of anti-semitism also favoured political collaboration of the lower middle classes with the landed aristocracy, despite conflicting economic interests.“ 129 Ibid., p. 378. Im Original: „The stress of battle, the undernourishment, inflation, and unemployment during these recent eventful years has exposed many men and women to ‚temptationsʻ which they could not resist, and the accumulated weight of guilt arising from these irregularities drives many of them into acts of expiation. In some measure the ‚awakening of Germanyʻ is a cleansing gesture of aspiration for a feeling of moral worth, and the Jew is the sacrificial ram.“ 130 Erich Fromm, Theoretische Entwürfe über Autorität und Familie. Sozialpsychologischer Teil, in: Studien über Autorität und Famile. Forschungsberichte aus dem Institut für Sozialforschung, Paris: Félix Alcan 1936, pp. 77 – 135.
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Persönlichkeit und unter Verzicht auf eigenes Glück das Individuum an die Macht hinzugeben, sich in ihr gleichsam aufzulösen und in dieser Hingabe, die in den pathologischen Fällen bis zum Erleiden körperlicher Schmerzen geht, Lust und Befriedigung zu finden. Die sadistischen Strebungen haben das umgekehrte Ziel, einen andern zum willen- und wehrlosen Instrument des eignen Willens zu machen, ihn absolut und uneingeschränkt zu beherrschen und in den extremen Fällen ihn zum Leiden und den damit verbundenen Gefühlsäußerungen zu zwingen. Auf dieser Triebbasis erwächst die für den sado-masochistischen Charakter typische Einstellung zu Menschen, von der leicht zu sehen ist, daß sie gleichzeitig die des autoritären Charakters ist, von dem wir hier reden“.131 In einem 1937 geschriebenen Aufsatz nannte er den sozialpsychologischen Zustand, in dem sich der Handelnde mit seinem autoritären Charakter befinde, jenen der „Ohnmacht“.132 Fromm sah die Ohnmacht, die im Gefolge der Identifikation mit den übermächtigen aggressiven Autoritäten entstand, als eine Gefühlslage, wo der Handelnde wie in einem Schreckzustand erstarrte. Er fühle sich einer scheinbar übermächtigen Macht willenlos und auf Gedeih und Verderb ausgeliefert: „Menschen dieser Art … sind tief davon überzeugt, daß sie zum Ergebnis nichts tun können. … Die Folge ist häufig, daß solche Menschen bewußt oder unbewußt das Gefühl haben, von anderen vergewaltigt zu werden, wütend darüber sind und doch nicht sehen, daß sie es in erster Linie sind, die sich vergewaltigen lassen“.133 Fromms Rekonstruktion der Ohnmacht als einer sozialpsychologisch bedeutsamen Gefühlslage sollte den Führerglauben erklären. Bereits während der Weimarer Republik gab es Führerkult in Ansätzen: „Man kann in der psychischen Einstellung der breiten Massen und ihrer Führer, speziell der im letzten Krieg unterlegenen Länder, beinahe eine zeitliche Abfolge der … Kompensations-Mechanismen entdecken. Die ersten Jahre nach dem Friedensschluss waren durch eine ausserordentliche politische und soziale Aktivität charakterisiert. Man schuf neue Verfassungen, neue Symbole, neue Gesetze. … Es geschah viel, doch nichts, was an die Fundamente rührte. … Allmählich mußte man aber einsehen, daß die Entwicklung in der gewünschten Richtung nicht nur ausblieb, sondern dass die entgegengesetzte erfolgte. … Dann trat [an die Stelle des Glaubens an die heilende Wirkung der Zeit] mehr und mehr der Glaube an das Wunder. Man verzweifelte daran, dass menschliche Anstrengung überhaupt etwas ändern könne, und erwartete alles von ‚begnadetenʻ Führern und von ‚irgendeinem Wechselʻ in den Verhältnissen. … Diese Hoffnung auf einen Umschwung, wie immer er auch geartet sei, war der Nährboden für das Wachstum der zum Siege des autoritären Staates führenden Ideologien“.134 Fromm erklärte den Sozialcharakter der nationalsozialistischen Herrschaft durch Gefühle, die bei den Deutschen als eine Auswirkung der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse nach dem Ersten Weltkrieg entstanden seien. Die national-
131 Ibid., p. 115. 132 Erich Fromm, Zum Gefühl der Ohnmacht, Zeitschrift für Sozialforschung, Bd, VI, 1937, pp. 95 – 118. 133 Ibid., p. 100. 134 Ibid, pp. 115 – 116.
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sozialistische Herrschaft nutze die schlimmsten Ohnmachtsgefühle und den SadoMasochismus für sich, um die Verbrechen zu befehlen. Mein Essay Charisma und Ohnmacht135 übernahm Fromms These, um zum Verständnis der Gewaltmentalität beizutragen: „Bei ‚Ohnmachtʻ wird unterstellt, die Welt durch rationales Verhalten nicht beeinflussen zu können. Irrationale, stereotype Handlungsstrategien, oftmals erworben durch Identifikation mit aggressiven Autoritäten, denen blindlings gefolgt wird, ersetzen die selbständige Verhaltenskontrolle. Dieser Zustand der Ohnmacht, den Fromm bei den Tätern nationalsozialistischer Gewalthandlungen diagnostiziert, wurde von diesen den Opfern ihres Tuns aufgezwungen. Die Entrechtung und Beraubung der Wehrlosen im Vorfeld der Massenvernichtung und auch als Begleiterscheinung der Gewaltexzesse waren geeignet, die Verfolgten in einen ähnlich hilflos-ohnmächtigen Zustand gänzlicher Selbstpreisgabe zu versetzen, wie ihn die Täter wohl selbst erlebt haben müssen“.136 Die These sah im Führerkult und im Massenmord sozialpsychologisch dieselbe Haltung. Mein zweiter Aufsatz zum Thema der Gewaltmentalität vertiefte diese These.137 Die Gewaltbereitschaft der Täter, also deren geradezu unfassbare Fähigkeit, freiwillig die Morde an Juden auszuführen, mithin genozidale Aggressivität, sei „kompulsive Konformität“, wie sie Parsons in The Social System (im Kapitel über Devianz, d. h. Verbrechen) geschildert hatte, und zugleich sei jene eigentümliche Frustration ausschlaggebend, wie sie der amerikanische Psychologe N. R. F. Maier experimentell nachgewiesen hatte.138 In seinen Studien zeigte Maier in den dreißiger und vierziger Jahren, dass es ein Verhalten gibt, das die Zerstörung oder den Verfall sämtlicher Wirklichkeitsbezüge im Handeln voraussetzt. Gewalttätigkeit werde zur Mentalität, gespeist aus einem Ohnmachtsgefühl. Dieses Ohmachtsgefühl wiederum entstamme der Wahrnehmung, die eigenen Handlungen hätten keinerlei Bezug zu den eigenen Erfahrungen. Die Welt, so meinen die Menschen mit einer solchen Wahrnehmungsstörung, sei weder zu steuern noch zu beeinflussen. Maier benannte diese Weltsicht mit dem Begriff Frustration. Derartige Frustration, so Maier, schaffe als Reaktion auf das Unvermögen, überhaupt eine irgendwie erwartbare Umwelt zu erkennen, stereotypisierte Verhaltensmuster der ziellosen Gewalt. Es entwickle sich eine Art Sucht, ein zwanghafter Drang zum Draufschlagen, ein unstillbares Verlangen nach der Zerstörung von Dingen oder Aggression gegen Menschen. Die Grundhaltung sei das Bedürfnis, möglichst andere Menschen zu quälen und/oder Dinge zu vernichten. Maier: „Wenn eine in diesem Sinne 135 Uta Gerhardt, Charisma und Ohnmacht. Bemerkungen zur These der Verwilderung der Herrschaft als Dynamik der Barbarei, in: Max Miller und Hans-Georg Soeffner (Hrsg.), Modernität und Barbarei, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1996, pp. 175 – 193. 136 Ibid., p. 190. 137 Gerhardt, Charismatische Herrschaft und Massenmord im Nationalsozialismus. Eine soziologische These zum Thema der freiwilligen Verbrechen an Juden, Geschichte und Gesellschaft, Bd. 24, 1998, pp. 503 – 538. 138 Maier fasste seine Forschungen in einem Buch zusammen, das nach dem Krieg erschien: Norman R. F. Maier, Frustration. The Study of Behavior Without a Goal, Ann Arbor: University of Michigan Press 1949.
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an Frustration leidende Person einen Gegner schlägt, tut sie dies nicht, um dessen Widerstand zu brechen oder ihn dadurch zu verletzen. Vielmehr müssen wir davon ausgehen, dass die Person zuschlägt, weil sie diese Frustration empfindet, und ob dabei der Widerstand eines anderen Menschen gebrochen wird oder ob dieser Mensch dabei verletzt wird, ist für diese Person unwichtig oder geschieht wie zufällig. … Man muss sich klarmachen, dass dabei gegen Grenzen angerannt wird oder dass Widerstände gebrochen werden, nur weil gerade jemand sich in den Weg stellt, der deshalb einen solchen Angriff geradezu herausfordert. … Der unschuldige Unbeteiligte ist dafür immer ein willkommenes Opfer. Gesellschaftliche Minderheiten bieten sich für derartige Aggression regelrecht an. … Die Aggression wird jeweils entschuldigt und durch Erklärungen gerechtfertigt, aber man sollte sich nicht darüber täuschen, dass solche vorgeschobenen Gründe und solche wohlfeilen Rechtfertigungen nur zu beschönigen versuchen, was die eigentliche Ursache und der wirkliche Zweck der Gewalt sind. Brutale Eltern etwa rechtfertigen den Missbrauch ihrer Kinder, indem sie behaupten, diese Kinder müssten erzogen werden, aber die Ursache des Missbrauchs ist in Wahrheit die Frustration bei diesen Eltern“.139 In diesem – heute in der Psychologie vergessenen – Ansatz wird die Gewalt als eine Mentalität der Frustration (Ohnmacht) erkannt. Dieser analytische Zugang erlaubt, die Grausamkeit der Menschenvernichtung unter die Perspektive der sozialpsychologischen Verhaltensforschung zu stellen. Man kann die zwecklose Gewalt, die um ihrer selbst willen verübt wird, in diesem Zusammenhang als das extreme Geschehen bei totaler Herrschaft sehen. Man kann die unstillbare Mordlust, wie sie in den Prozessen gegen die NS-Täter berichtet wurde, unter diesem Gesichtspunkt sozialpsychologisch diskutieren. Die Millionen Morde in den besetzten Gebieten des Ostens während des Zweiten Weltkriegs waren wohl das Exerzierfeld für eine Gewaltsucht bei vielen Deutschen, wie sie einer Mentalität der Ohnmacht entsprach.140
139 Maier, Frustration, pp. 103 – 104, cit. Gerhardt, Charismatische Herrschaft und Massenmord im Nationalsozialismus, p. 527. Im Original: „When a frustrated person strikes an opponent he is not doing so to remove an obstacle or to injure someone. Rather we would contend that he strikes because he is frustrated, and if the obstacle is removed or if injury is done it is secondary or incidental. … [It] seems that barriers and obstacles often are attacked because they are convenient objects to attack. … [A]lways the innocent bystander is a convenient object. Attacks on minority groups too are clearly cases in which the object of attack is convenient. … After the [aggressive act] occurs it is rationalized and justified, but such reasons or justifications must not be confused with causes or goals. Brutal parents justify their abuse of their children by contending that the children are being trained, but the cause of the abusive behavior is their own frustration.“ 140 Die Schwierigkeiten der Justiz, den Täterwillen bei den nationalsozialistischen Gewalttätern strafrechtlich festzustellen, schildern die vielen verdienstvollen Arbeiten zur juristischen Ahndung der Naziverbrechen. Dazu: Edgar Wolfrum, Täterbilder. Die Konstruktion der NS-Täter durch die deutsche Nachkriegsjustiz sowie Edith Raim, Der Wiederaufbau der Justiz in Westdeutschland und die Verfolgung der NS-Gewaltverbrechen durch deutsche Gerichte 1945 – 1949; beides in: Hans Braun, Uta Gerhardt, Everhard Holtmann (Hrsg.), Die lange Stunde Null, Baden-Baden: Nomos 2007, pp. 117 – 139 und pp. 141 – 173.
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Die Ubiquität der Mentalität141, wie sie das Regime forderte, war nicht vom ersten Tag der Machtübernahme fraglos. Im Gegenteil: Die nationalsozialistischen Machthaber setzten sich an die Spitze der hermetischen – und zugleich chaotischen – Machtverhältnisse, aber sie mussten sich die Bevölkerung durch Maßnahmen der Konformitätserzwingung und/oder der Komplizenbeschaffung gefügig machen. Zwei Studien, die auch die Vorteilsnahme der Volksgenossen im Nationalsozialismus unter diesem Gesichtspunkt diskutieren, beleuchten diesen Aspekt. Den Zwang zur Konformität schilderte Hans-Ulrich Thamer für die Alltagsgeschichte des NS-Regimes unter dem Titel Verführung und Gewalt.142 Die Konformität, so Thamer, ergab sich aus der Verführung, wobei die Gewalt unwillkürlich verharmlost wurde. Themen bei Thamer: „Adolf Hitler als ‚Führer der Nationʻ“, die Instanzen- und Statushierarchien im SS-Staat, die Rechtlosigkeit als Pendant der allenthalben präsenten Verfolgung, die Hitlerjugend und insgesamt die Erziehung als das ideologische Exerzierfeld, die unentwegt stattfindenden Kultfeiern und schließlich, wie wenig Gegengewicht die Kirchen boten. Thamer zeigte, dass das pflichtmäßige „Führer-wir-folgen-dir“ Repressalien für denjenigen Volksgenossen befürchten ließ, der sich gegen die eigene Rechtlosigkeit, die eigene Angst oder den unwillkürlichen Zynismus durch Widerstand irgendwelcher Art wehrte. Die Deutschen hätten ihre Wehrlosigkeit und ihren Zynismus als den Tribut an das Regime angesehen, den sie zahlen müssten, weil sie sich unterordneten. Sie hätten den unerschütterlichen Glauben an den Führer geheuchelt und die Lippenbekenntnisse für einen Endsieg erbracht als eine Art Selbstbestrafung für ihr Wegsehen angesichts der Verfolgungen. Im Alltag wurde dies durch die Zwangsgeschenke kompensiert, die allemal eine Verführung waren. Allerdings war es allen bewusst, so Thamer: Wer solche „Segnungen“ des Regimes verweigerte, wurde unweigerlich verfolgt. Götz Alys Hitlers Volksstaat143 zeigte, wie die konformen Volksgenossen durch die aufoktroyierte Vorteilsnahme profitierten. Der Raub im rassistischen Krieg bedeutete Bereicherung für breite Kreise der Deutschen, so Aly. Zumal die „Endlösung der Judenfrage“ mit den Programmen der Besiedlung und der „Umvolkung“ der besetzten Gebiete des Ostens verzahnt war144, müsse man fragen, mit welchen „Techniken … die NS-Führung ihre Macht im Inneren immer wieder stabilisierte“.145 Der gesellschaftliche Kontext der Duldung der Massenverbrechen sei vielschichtig: „Dem unmittelbaren Organisator und Exekutor des Verbrechens kommt ein größerer Tatanteil zu als demjenigen, der in wenig durchschaubarer Weise – vermittelt über den Staatshaushalt und Geldkreisläufe – davon profitierte 141 Der Begriff Mentalität wird in der Analyse der Führerherrschaft verwendet, um deren sozialpsychologische Grundlagen zu erfassen. Dazu etwa: Lothar Kettenacker, Sozialpsychologische Aspekte der Führer-Herrschaft, in: Karl-Dietrich Bracher, Manfred Funke, Hans-Adolf Jacobsen (Hrsg.), Nationalsozialistische Diktatur 1933 – 1945, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 1986, pp. 97 – 131. 142 Hans-Ulrich Thamer, Verführung und Gewalt. Deutschland 1933 – 1945, Berlin: Siedler 1995. 143 Götz Aly, Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt a. M.: Fischer 2005. 144 Siehe dazu etwa: Götz Aly, „Endlösung“. Völkerverschiebung und der Mord an den europäischen Juden, Frankfurt a. M.: Fischer 1995. 145 Aly, Hitlers Volksstaat, p. 367; dort auch die nächste Zitatstelle.
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und dem nahegelegt wurde, sich über das Woher seiner kleinen Vorteile keine Gedanken zu machen. Doch muss, um die Genesis des deutschen Massenverbrechens zu verstehen, auch die millionenfache, weithin passive Mittäterschaft in den Blick genommen werden“. Mit anderen Worten: Das Gewaltregime machte die Hehlerei zu einem erzwungenen (sozialen) Handeln. Der „kleine Mann“ profitierte von den „Segnungen“ des nationalsozialistischen „Volksstaats“ – woraus wiederum eine unwillkürliche Komplizenschaft mit den Verbrechen des Regimes erwuchs. Die Vorteilsnahme aus den Enteignungen und Raubzügen wäre allerdings nicht möglich gewesen, so impliziert Aly, hätten die Deutschen eine Mentalität der Menschlichkeit gehabt. Das Regime förderte und forderte – direkt und indirekt – die Mittäterschaft, und der autoritäre Sozialcharakter der Deutschen erleichterte ihnen, sich dem Zwang unterzuordnen. Hätten sie sich der Duldung der Verbrechen nicht gefügt und hätten die hehlerische Vorteilsnahme aus dem organisierten Raub nicht mitgemacht, so lässt sich schlussfolgern, hätten sie ein Wertesystem haben müssen, das ihnen die Mitmenschlichkeit statt der Machtunterwerfung zur moralischen Pflicht machte. Zusammenfassend: Der Avantgarde-Topos fügt einen Aspekt zur Analyse des Nationalsozialismus hinzu, der zu Webers Konzeption der charismatischen Herrschaft gehört, aber in der soziologischen und historischen Diskussion bisher noch nicht berücksichtigt worden ist. Weber betonte, dass dieser Herrschaftstypus einen radikalen Bruch mit den Einstellungen und Lebensformen der früheren Gesellschaft setzt. Da die Masse der Bevölkerung auf Anhieb keinen vollständigen Umbruch mitmacht, so ist meine These, tritt die Avantgarde auf, die den Übergang erzwingt. Die Avantgarde des Nationalsozialismus waren der Führungskader der NSDAP, die SS, die Gestapo und der SD – die verbrecherischen Organisationen, die das Nürnberger Tribunal verurteilte. Sie standen außerhalb der Justiz, hatten einen Freibrief auch für den Mord. Die Frage, wie die Bevölkerung zum charismatischen System stand, wird in der Forschung zum Sozialcharakter aufgeworfen, also in den Arbeiten zur Psychology of Hitlerism, zu Autoritarismus und Ohnmacht, zur Frustration und anderen sozialpsychologischen Haltungen. Den Hintergrund bildeten die Zumutungen, die in dem Zwangsregime des Nationalsozialismus durch die vier verbrecherischen Organisationen auferlegt wurden. Hinzu kam, dass die Deutschen in der Zeit seit 1918/1919 ihre Nation oftmals mit dem Nationalismus identifizierten und also eine Mentalität bzw. einen Sozialcharakter entwickelten, worin nichts Demokratisches lag. Zu den Analysen zum Avantgarde-Thema passt, dass die Mentalität des Gewaltregimes teilweise erklärt wird als eine Reaktion auf die geschichtlich-gesellschaftlichen Schockerlebnisse der Niederlage im Ersten Weltkrieg, der Inflation etc., und teilweise gedeutet wird als Begleiterscheinung der Einschüchterung und der Furcht vor der Verfolgung angesichts der Rechtlosigkeit im totalitären Regime.
5. Herrschaftssoziologische Zwischenbilanz
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5. HERRSCHAFTSSOZIOLOGISCHE ZWISCHENBILANZ Der Nationalsozialismus duldete keine Soziologie, eine Wissenschaft im Beruf des intellektuell redlichen Forschens, in Deutschland. Max Weber klärte in einem Vortrag vor Münchner Studenten, was Wissenschaft als Beruf heißt.146 Er unterschied zwischen dem Beruf des Wissenschaftlers, der mit Leidenschaft ein Problem bearbeitet, und dem „Beruf der Wissenschaft innerhalb des Gesamtlebens der Menschheit“.147 Das heißt, der kulturelle Fortschritt in der Geschichte hin zur rational-legalen Gesellschaftsordnung des Abendlandes war für die Sozialwissenschaften unter ihrem jeweiligen Erkenntnisinteresse ein eigenes Forschungsfeld. Für den akademischen Lehrer, der sich der Wissenschaft verschrieb, war die Begrifflichkeit das A und O: „Da wird man, wenn etwa von ‚Demokratieʻ die Rede ist, deren verschiedene Formen vornehmen, sie analysieren in der Art, wie sie funktionieren, feststellen, welche einzelnen Folgen für die Lebensverhältnisse die eine oder andere hat, dann die anderen nicht demokratischen Formen der politischen Ordnung ihnen gegenüberstellen und versuchen, so weit zu gelangen, daß der Hörer in der Lage ist, den Punkt zu finden, von dem aus er von seinen letzten Idealen aus dazu Stellung nehmen kann. Aber der echte Lehrer wird sich sehr hüten, vom Katheder herunter ihm irgendeine Stellungnahme, sei es ausdrücklich, sei es durch Suggestion – denn das ist die illoyalste Art, wenn man ‚die Tatsachen sprechen läßtʻ – aufzudrängen“.148 Die intellektuelle Rechtschaffenheit, wie sie Weber forderte, war im Großdeutschen Reich nicht mehr möglich. Webers Warnung, „daß der Prophet und der Demagoge nicht auf das Katheder eines Hörsaals gehören“149, hätte nach 1933 nichts mehr bewirkt. Denn die einzigen Hochschullehrer, die noch an den Universitäten verblieben, fügten sich der Ideologie, wie sie der damals zweiundzwanzigjährige Helmut Schelsky in einem NS-Schulungsbrief verkündete150: „Der Staat ist schöpferische Organisation, unbedingtes Mittel für das Volk, damit dies seine Aufgaben in den Lebensgebieten der Kultur verwirklichen kann. Damit hätten wir schon die wichtigste Aufgabe des Staates geklärt: Sie ist die Organisation der Lebensgebiete Religion, Kunst und Wissenschaft. Als organisierte Gebilde sind diese Gebiete dann die Kirche, das Wissenschaftswesen, womit Universitäten, Forschungsinstitute, Bibliotheken gemeint sind und das Kunstwesen, das sich in Akademien, Museen usw. ausgliedert. Hieraus kann ebenfalls schon ersehen werden, dass ein Staat, der seine Aufgaben begriffen hat, all diese Einrichtungen und Gemeinschaften unter seine oberste Bestimmung bringen muß, weil er dem Volk gegenüber der verantwortliche 146 Max Weber, Wissenschaft als Beruf (Januar 1919), Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 3. Auflage, herausgegeben von Johannes Winckelmann, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1968, pp. 587 – 613. 147 Ibid., p. 595. 148 Ibid., p. 601. 149 Ibid., p. 602. 150 Helmut Schelsky, Sozialistische Lebenshaltung. Bildung und Nation – Schriftenreihe zur nationalpolitischen Erziehung, herausgegeben in Verbindung mit dem Leiter des Amtes für politische Schulung, Kreis IV (Mitteldeutschland), des nationalsozialistischen Studentenbundes und der deutschen Studentenschaft, Leipzig: Eichblatt-Verlag 1934.
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Organisator und Ordner aller Lebensgebiete ist. So kann z. B. von einer völligen Unabhängigkeit der wissenschaftlichen Einrichtungen vom Staat in dieser Staatsauffassung gar keine Rede sein“.151 Die nationalsozialistische „Neuorientierung aller Einstellungen“ hinsichtlich Wissenschaft und Universitäten war eingebettet in den verordneten Bruch mit den Lebensformen der Weimarer Demokratie. Schelskys Pamphlet lobte den Verlust der Eigenständigkeit der Kirchen, Museen und Universitäten und rechtfertigte die Unterordnung von Religion, Kunst und Wissenschaft unter die völkische Ideologie. Er nannte den Nazi-Staat den „Organisator und Ordner aller Lebensgebiete“. Die differenzierten Lebenswelten der Weimarer Republik waren entmachtet, entmündigt oder aufgelöst, und nun herrschte die zentralisierte Parteibürokratie. Das Ende der Gewaltenteilung war auch das Ende der Rechtsstaatlichkeit, und die Gleichschaltung der Universitäten bedeutete den Verlust der akademischen Freiheit. Das wissenschaftliche Denken konnte nur im Ausland noch weitergeführt werden. Aber Schelsky votierte für das vormoderne Szenario Nazideutschlands, wo die Wissenschaft nichts mehr galt. Der Nationalsozialismus, eine totale Herrschaft, wurde in der Soziologie der damaligen Zeit nur im Ausland analysiert. In Deutschland war solche wissenschaftliche Arbeit unmöglich.152 Die ins Exil vertriebenen Soziologen – sie waren allerdings die Außenseiter der Weimarer Zeit gewesen – blickten auf ihr Land mit den Begriffen der zwanziger und frühen dreißiger Jahre: Hans Gerth analysierte die NSDAP als eine Kaderpartei153, und Hans Speier vergegenwärtigte sich die totale Herrschaft am Beispiel der faktischen Diktatur der Obersten Heeresleitung am Ende des Ersten Weltkrieges154 – zwei Beispiele für Herrschaftsanalysen im Sinne einer wissenschaftlichen Soziologie. Alfred Schütz veranschaulichte, wie der aus seinem Land vertriebene Deutsche oder Österreicher in der neuen Umgebung des demokratischen Amerika trotz allem ein Fremdling blieb.155 Zu Lebzeiten unveröffentlicht blieb die Analyse Karl Mannheims, der die demokratische Planung abhob gegen die Sozialtechnologie des Naziregimes156, und Theodor Geigers Forderung, angesichts der modernen Massengesellschaft sei eine ideologisch tolerante Demokratie not-
151 Ibid., p. 31. 152 Siehe dazu das Standardwerk The German Universities and National Socialism, das in Studie III gewürdigt wird. 153 Hans Gerth, The Nazi Party: Its Leadership and Composition, American Journal of Sociology, vol. 45, 1939/1940, pp. 517 – 541. 154 Hans Speier, Ludendorff: The German Concept of Total War, in: Edward Mead Earle (ed.), Makers of Modern Strategy, Princeton: Princeton University Press 1943; Nachdruck in Speier, The Truth in Hell and Other Essays on Politics and Culture, 1935 – 1987, New York: Oxford University Press 1989, pp. 97 – 116 sowie gekürzt in: Uta Gerhardt (ed.), German Sociology: T. W. Adorno, M. Horkheimer, G. Simmel, M. Weber, and Others, The German Library vol. 61, New York: Continuum 1998, pp. 67 – 80. 155 Alfred Schütz, The Stranger: An Essay in Social Psychology, The American Journal of Sociology, vol. 49, 1943/1944, pp. 499 – 507. 156 Karl Mannheim, Freedom, Power and Democratic Planning, edited by Hans Gerth und Ernst K. Bramstedt, London: Routledge and Kegan Paul 1950.
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wendig, wurde nach dem Krieg veröffentlicht, als Geiger weiterhin in Dänemark lebte.157 Diese Analysen richteten sich auf die totale Herrschaft in Deutschland aus der Perspektive einer Sozialwissenschaft, die im rational-legalen Regime der Weimarer Zeit möglich gewesen war und in den Demokratien des Westens schließlich allgemein verbindlich wurde. Die Weberʼsche Herrschaftssoziologie, die in diesen Analysen zwar nur ansatzweise vorkam, kannte die Unterschiede zwischen der rationallegalen und der charismatischen Herrschaft. Die ins Exil vertriebenen Soziologen schlossen sich unwillkürlich an Webers Wirtschaft und Gesellschaft an, wenn sie die Gewaltherrschaft in Deutschland zum Gegenprinzip der Demokratie der angelsächsischen (und skandinavischen) Länder erklärten. Eine Analyse des Nationalsozialismus kann allerdings nicht allein auf die wenigen Arbeiten der ins Ausland vertriebenen deutschen Soziologen blicken, die damals Zeitgenossen waren. Denn diese Autoren konnten nur einen Bruchteil der damaligen Geschichte und Gesellschaft überblicken. Erst die Forschungen der Nachkriegszeit haben das Ausmaß der Gewaltherrschaft deutlich gemacht. Die damals ins Ausland vertriebenen Deutschen und die Amerikaner und Briten wussten von den Greueln des Regimes nur das Wenige, das bekannt wurde. Der Nationalsozialismus wurde zwar herrschaftssoziologisch gedeutet, aber erst im späteren zwanzigsten Jahrhundert entstanden die heute klassischen Untersuchungen, die das Verbrechensregime dokumentierten.158 Immerhin waren Behemoth, Franz Neumanns zeitgenössisches Standardwerk (erschienen 1942/1944), und Hannah Arendts The Origins of Totalitarianism, erschienen 1951, zeitgenössisch wertvolle Analysen der damaligen Geschehnisse. Webers Herrschaftssoziologie arbeitete mit neun Typen der legitimen Herrschaft und stellte drei reine Typen heraus – die rationale (rational-legale), die traditionale und die charismatische. Unter den drei reinen Typen bildete die traditionale Herrschaft einen Vorgänger der rationalen und ein Nachfolgeregime der charismatischen. Im Blickfeld standen somit zwei Herrschafts- und Handlungsstrukturen – der rational-legale Typus auf der einen und der charismatisch-traditionale auf der anderen Seite.159 Parsons sah die anomische, durch Gewalt und Verführung zusammengehaltene, Gesellschaft auf der einen und die integrierte, durch freiwillige Identifikation geprägte, Gesellschaft auf der anderen Seite.160 Die herrschaftssoziologische Analyse in wissenschaftlicher Absicht verwendete Webers Kriterien in den dreißiger Jahren in den USA und brachte sie nach dem
157 Theodor Geiger, Demokratie ohne Dogma. Die Gesellschaft zwischen Pathos und Nüchternheit, München: Szczesny 1950; 4. Auflage Berlin: Duncker und Humblot 1991. 158 Dies gilt insbesondere für Leon Poliakiv und Joseph Wulf, Das dritte Reich und die Juden, Berlin: Arani Verlag 1955 und Raul Hilberg, The Destruction of the European Jews, Chicago: Quadrangle Books 1961. 159 Zur Gegenüberstellung dieser zwei Typen bei Parsons in The Structure of Social Action siehe oben, Studie I. 160 Siehe dazu auch: Uta Gerhardt, National Socialism and the Politics of The Structure of Social Action, in: Bernard Barber und Uta Gerhardt (eds.), Agenda for Sociology, pp. 87 – 164.
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II. Der Nationalsozialismus unter Herrschaftssoziologischer Perspektive
Krieg in den zwei Jahrzehnten bis in die sechziger Jahre nach Deutschland zurück. Die Analyse des Nationalsozialismus, die heute gang und gäbe ist, macht die Legitimität zu ihrem Bezugspunkt, aber Diktatur und Demokratie sind unterschiedlich legitime Herrschaftsformen. Man muss die Herrschaftssoziologie Webers durch die Unterscheidung zwischen Anomie und Integration, Diktatur und Demokratie konkretisieren. Ihre Begriffe stützen sich auf die Perspektive Webers hauptsächlich in den Analysen Parsonsʼ. Die moderne rechtsstaatliche Gesellschaft wird seit Georg Simmel durch Differenzierungsvorgänge bestimmt.161 Die Ausdifferenzierung von komplexen Strukturen der Lebensführung bildet das Pendant der Intellektualisierung des „socialen Niveaus“, so Simmel.162 Die soziale Differenzierung setzt die Maßstäbe der Individualisierung und erzeugt die Werte der immer feineren Individualität im Zuge der Entwicklung der spezifischen gesellschaftlichen Institutionen, wie sie wiederum durch die moderne Kultur, Wirtschaft etc. die moderne Gesellschaft bilden.163 Parsons vermerkt in The Social System, dass die Modernisierung der modernen Gesellschaft(en) im Zuge der Differenzierung auch die Risiken der Anomie birgt.164 Dies besagt, wie er noch in den sechziger Jahren hervorhebt, dass die Differenzierung – zusammen mit der Pluralisierung (pluralization) und der Intellektualisierung (upgrading) – zwar der Königsweg der Modernisierung ist, aber auch Gefahren für die demokratische Gesellschaftsordnung enthält.165 Wie der McCarthyismus gezeigt habe, könne eine rational-legale Herrschaft jederzeit durch eine charismatische Bewegung delegitimiert werden.166 Der Zusammenbruch der Demokratie in Deutschland habe den Rückfall in die Barbarei dramatisch vor Augen geführt.167 Allemal war für Parsons selbstverständlich, dass die zwei Herrschaftstypen (Strukturtypen des sozialen Handelns), die Anomie und die Integration, nicht zu demselben Gesellschaftstypus gehören. Sie bilden keine einheitliche Gesellschaft, sondern sind zwei separate Strukturtypen des sozialen Handelns. Keinesfalls dürfe man unterstellen, so schrieb er im Spätherbst 1944, der Nationalsozialismus sei ein 161 Dazu: Georg Simmel, Über sociale Differenzierung (ursprünglich 1890), Nachdruck in: Georg-Simmel-Gesamtausgabe (GSG), Band II, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1989, pp. 109 – 295. 162 Über sociale Differenzierung, Kapitel IV: Das sociale Niveau, pp. 199 – 236. 163 Dazu: Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung (ursprünglich 1908), Nachdruck als: GSG, Band XI, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1992, Kapitel X: Die Erweiterung der Gruppe und die Ausbildung der Individualität, pp. 791 – 863. 164 Siehe dazu: Talcott Parsons, The Social System, Chapter XI: dort pp. 505 – 520. 165 Dazu die Aufsätze der späten fünfziger und sechziger Jahre im Sammelband Politics and Social Structure, erschienen New York: The Free Press 1969. 166 Parsons, McCarthyism and American Social Tension: A Sociologistʼs View (ursprünglich im Januar 1955 in Yale Review), wieder abgedruckt unter dem Titel: Social Strains in America, in Structure and Process in Modern Society (1960) sowie, zusammen mit einem 1962 verfassten „Postscript“ in: Politics and Social Structure (1969), pp. 163 – 184. 167 In einem Aufsatz über die Krise der Universitäten in den sechziger Jahren weist Parsons ausdrücklich auf die Machtübernahme 1933 hin, als die Universitäten unfähig waren, die verfolgten Wissenschaftler zu schützen. Siehe Parsons, The Academic System: A Sociologistʼs View, The Public Interest, vol. 13, 1968, pp. 173 – 197.
5. Herrschaftssoziologische Zwischenbilanz
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modernes Regime (gewesen): Es sei deshalb eine Politik der Militärregierung nach dem Zweiten Weltkrieg gegen das Deutschland, wie es im Nationalsozialismus geworden war, zu richten, die nicht davon ausgehe, Deutschland insgesamt bestrafen zu müssen. Denn es sei nicht zu fürchten, dass ein Deutschland à la Nationalsozialismus wieder erstarke und einen Dritten Weltkrieg vorbereite, wenn die Militärregierung den Wiederaufbau fördere. Die Rückkehr – eigentlich der Fortschritt – zur freien Marktwirtschaft und zur parlamentarischen Demokratie werde keine Rückkehr des Naziregimes begünstigen.168 Im Gegenteil: Da die Regimes der Diktatur und der Demokratie gänzlich unterschiedlichen Typs waren, würde die Demokratisierung durch die Militärherrschaft in Deutschland überhaupt erst zur gesellschaftlichen Modernisierung führen: „Entscheidend ist, dass die Politik eine hoch produktive, expandierende Wirtschaft mit Vollbeschäftigung anstrebt. Die Eigentendenzen der modernen Industriewirtschaft bewirken dabei wie von selbst, dass der Institutionswandel automatisch in die richtige Richtung geht. Andererseits wären eine Stärkung des Partikularismus, ein Abbau der funktionalen Spezialisierung und eine übermäßige Betonung des Zusammenhalts der Deutschen demgegenüber hauptsächlich eine defensive Reaktion auf die Unsicherheit, die mit dem Verfall oder dem Verlust der Chancengleichheit verbunden wäre. Nicht die moderne Industriegesellschaft als solche, sondern im Gegenteil ihre Pathologie und die Behinderung ihrer Entwicklung sind ausschlaggebend für eine Gesellschaft wie den Nationalsozialismus“.169 Die zwei Haupttypen der legitimen Herrschaft, keineswegs gleichermaßen moderne Gesellschaften, unterscheiden sich voneinander in Bezug auf die Prozesse der Legitimierung. Die differenzierten Demokratien des zwanzigsten Jahrhunderts haben eine rational-legal legitime Herrschaft, wo die Verfassung und die gesatzten Verfahren der vielschichtigen Institutionenstruktur gelten. Die entdifferenzierende Diktatur, die die Gewaltenteilung ausschaltet und wie nach 1933 unter dem Propagandaslogan „Ein Reich, ein Volk, ein Führer“ einen manichäischen Einheitsstaat einrichtet, macht die Legitimität zur Sache von Bonzen und Organisationen eines Herrschaftsapparats – dazu gehörten das Führungscorps der NSDAP, die SS, die Gestapo und der SD. Eine solche Herrschaftsstruktur ist nicht modern zu nennen.
168 Zu Parsonsʼ Überlegungen zur Deutschlandpolitik der USA gegen Ende des Zweiten Weltkrieges siehe: Volker Kruse, Geschichte der Soziologie, Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft 2008, pp. 247 – 251. 169 Parsons, The Problem of Controlled Institutional Change: An Essay in Applied Social Theory, in: Talcott Parsons on National Socialism, p. 314. Im Original: „The essential thing is that there should be a policy of fostering a highly productive, full-employment, expanding economy for Germany. The inherent tendencies of the modern, industrial economy are such that if this is achieved its influence on institutional change will be automatically in the right direction. Conversely, tendencies to particularism, the breakdown of functional specialization, overemphasis on group solidarity are overwhelmingly defensive reactions to the insecurity attendant on a contracting field of opportunity. It is not modern industrialism as such, but its pathology and the imcompleteness of its development which fosters these phenomena.“
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II. Der Nationalsozialismus unter Herrschaftssoziologischer Perspektive
Von diesem Standpunkt aus kann man der These Zygmunt Baumans widersprechen, der hermetische Zwangsstaat der Nazizeit bezeuge die Ambivalenz der Moderne.170 Eine Debatte unter Historikern der neunziger Jahre enthielt schlüssige Argumente gegen die These, der Nationalsozialismus sei modern gewesen.171 Norbert Frei172 sah drei Dimensionen der Thematik. Zum einen sah er die „Absicht, die Verbrechen des Nationalsozialismus als ‚rationaleʻ Konsequenz eines potentiell mordbereiten Kapitalismus zu deuten“.173 Dagegen war zu sagen: „Im Mittelpunkt … steht ein extrem reduktionistischer, jeder ethischen Dimensionierung barer Begriff von ökonomischer Rationalität und wissenschaftlicher Modernität. Erst damit wird es möglich, die Sterilisierung von Hunderttausenden ebenso als systemlogisch ‚rationalʻ und ‚modernʻ auszugeben wie die spätere Tötung eines Großteils der Anstaltspatienten – und schließlich sogar die Stigmatisierung, Ausbeutung und Ermordung der über den ganzen Kontinent hinweg verfolgten Juden“.174 Des weiteren monierte Frei eine Tendenz der einschlägigen Literatur, die Sozialpolitik des NSRegimes, dargestellt in den Reden der Parteiführer, ausgesprochen modern zu nennen, mithin einen Fortschritt über vorherige Regimes. Aber man müsse sehen, dass der Begriff der Modernität dabei einen kulturpessimistischen Klang habe und „Fortschrittsskepsis“ signalisiere: „[D]as Konzept ‚Modernisierungʻ [ist] von allen ethischen Normen und politischen Optionen gelöst, und zwar auch von jenen, die jenseits der Orientierung am westlich-demokratischen Politik- und Gesellschaftsmodell gelten müssen“.175 Drittens sei der Begriff der Modernität bei näherem Hinsehen auf vier Sachverhalte zu beziehen: (1) „Deutschland war beim Machtantritt der Nationalsozialisten in einer schweren politischen und gesellschaftlichen Krise, aber fraglos ‚modernʻ. Der Nationalsozialismus war insofern ein Produkt, eine Möglichkeit der Moderne“176; (2) „Eine Vielzahl säkularer Trends hat sich nach 1933, durch den politischen Systemwechsel nicht oder kaum berührt, unverändert fortgesetzt“177; (3) „Einzelne Entwicklungstrends wurden nach 1933 allerdings auch ganz oder zeitweise gestoppt, forciert oder umgebogen“178; und (4) „Unbestreitbar ist die deutsche Gesellschaft aus der mit immensem Leid und unermeßlichen Opfern verbundenen Schlusskatastrophe des Zweiten Weltkriegs tiefgreifend verändert hervorgegangen“. Daraus ergebe sich das Bild eines Gemeinwesens, das 170 Zygmunt Bauman, Modernity and the Holocaust, Cambridge 1989. Siehe auch oben, p. 81 171 Die Debatte wurde ausgelöst durch Rainer Zitelmann, Hitler. Selbstverständnis eines Revolutionärs, Stuttgart: Klett-Cotta 1989 (4. Auflage; München: Herbig 1998) sowie Michael Prinz und Rainer Zitelmann (Hrsg.), Nationalsozialismus und Modernisierung, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1991. 172 Norbert Frei, Wie modern war der Nationalsozialismus? Geschichte und Gesellschaft, 19. Jgg., 1993, pp. 367 – 387. 173 Ibid., p. 369. 174 Ibid., pp. 371 – 372. 175 Ibid., p. 375. 176 Ibid., p. 378; dort auch die nächste Zitatstelle. 177 Dazu gehörte die Fußnote: „Der Genauigkeit halber sei hinzugefügt, daß diese Aussage auf einer kontrafaktischen Annahme beruht und somit empirisch nicht beweisbar ist“. 178 Ibid., p. 379; dort auch die nächste Zitatstelle.
5. Herrschaftssoziologische Zwischenbilanz
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alles andere als modern war, einer „Volksgemeinschaft“179, durch den Zwang zur „Regimeloyalität“180 zusammengehalten: „Das destruktive Potential der nationalsozialistischen ‚Volksgemeinschaftʻ kam allerdings nicht erst während des Krieges zum Vorschein; Abgrenzung und Aggressivität gegenüber allem Fremden, Abweichenden oder für feindlich Erklärten, nach innen wie nach außen, war immer Teil dieses herrschaftsgesteuerten Integrationskonzepts, und als solches war es mit der völkischen Rassenideologie unauflöslich verknüpft. Rassismus war gleichsam sein Fundament“. Die These Baumans, moderne Gesellschaften separierten ihre privilegierten von ihren diskriminierten Bevölkerungsgruppen und seien deshalb wie der Nationalsozialismus, der die Ambivalenz der Moderne drastisch vor Augen führe, kann – mit Frei – zurückgewiesen werden: Der Modernitätsbegriff, der zugrunde gelegt wird, so moniert Frei, entbehre einer „ethischen Dimensionierung“, enthalte Kulturpessimismus, sei historisch fragwürdig und verkenne den Zwangsapparat der „Volksgemeinschaft“. Mit anderen Worten: Das „destruktive Potential“ des Nationalsozialismus war in diesem Regime gegen die Moderne gerichtet – verstanden (mindestens) als „Orientierung am westlich-demokratischen Politik- und Gesellschaftsmodell“. Auch die These Dahrendorfs kann nicht überzeugen181, der Nationalsozialismus habe durch Modernisierung die Nachkriegszeit vorbereitet, weshalb die Politik der Gleichschaltung der Institutionen und der Nivellierung der Standesunterschiede zukunftsweisend gewesen wäre. Den Nachweis führte Jens Alber.182 Anhand der vier Dimensionen der Gesellschaftsentwicklung, wie sie in der These zur Modernisierung durch „Hitlers soziale Revolution“183 behauptet wird, nämlich Wirtschaftsentwicklung, politische Entwicklung, Veränderung der Sozialstruktur und kulturelle Entwicklung, argumentiert Alber gegen Dahrendorf. Er hält mit Verweis auf Hartmut Kaelbles „Sekundäranalyse vorhandenen empirischen Materials“184 fest: „,Modernisierung im Blick auf größere Chancengleichheitʻ [hat] das NS-Regime nach unseren bisherigen Kenntnissen nicht gebracht“. Er stellt schließlich fest: „Als Fazit dieser empirischen Betrachtungen ergibt sich, daß der entscheidende Stoß der deutschen Gesellschaft 179 Frei erläuterte das Zwangs- und Entdifferenzierungsmoment im Begriff „Volksgemeinschaft“ durch ein Hitlerzitat. Er zitierte aus einer Rede Hitlers auf einer NSDAP-Versammlung in Mannheim am 5. November 1930: „Wir müssen wissen, daß wir zusammengehören auf dieser Welt, weil uns eine Allmutter Natur, ein allmächtiger Gott geschaffen hat, und wir müssen verstehen, daß wir auf dieser Welt zueinander gehören, und daß wir das um so leichter hinnehmen können, je mehr wir diese Notwendigkeit einsehen und die Kleinheit des Lebens aus dem Vordergrund rücken und die einzelnen Menschen ihre Wichtigkeit zurücksetzen. Nur so ergibt sich die geistige Voraussetzung für das, was man Volksgemeinschaft heißt.“ Ibid., p. 381. 180 Ibid., p. 383; dort auch die nächste Zitatstelle. 181 Ralf Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland. Siehe auch oben, p. 81. 182 Jens Alber, Nationalsozialismus und Modernisierung. Siehe auch oben, Anmerkung 2. 183 David Schoenbaum, Hitlerʼs Social Revolution: Class and Status in Nazi Germany 1933 – 1939, New York: Norton 1966; übersetzt: Hitlers braune Revolution. Eine Sozialgeschichte des Dritten Reiches, Köln: Kiepenheuer und Witsch 1968. 184 Alber, Nationalsozialismus und Modernisierung, p. 354; dort auch die nächste Zitatstelle.
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II. Der Nationalsozialismus unter Herrschaftssoziologischer Perspektive
in die Modernität nicht in der NS-Zeit, sondern in der Bundesrepublik erfolgte. Als die nationalsozialistische Welt zusammenbrach und die freie Bildung intermediärer Gruppen wieder möglich wurde, verfiel auch der Zauber der Ideologie von ‚Volksgenossenʻ und der ‚Volksgemeinschaftʻ, der sehr viel stärker propagandistisch begründet als sozialstrukturell verankert war“.185 Zum Beleg dokumentiert Alber den Stillstand, gar Rückschritt der Modernisierung durch Verhältniszahlen zur Elitenrekrutierung, zur Erwerbsstruktur, Bildungsentwicklung, Urbanisierung und Steuerquote: „Unbestreitbare Tatsache bleibt, daß die Nationalsozialisten zentrale Merkmale der Modernität ausgemerzt haben – so die politische Partizipation der Bürger in freien Wahlen und die Institutionalisierung der Regelungsmechanismen des industriellen Konflikts. Mit der Zerschlagung der Gewerkschaften und anderer Verbände haben sie der Bevölkerung Bezugsgruppen entzogen, die alternativen Deutungsmustern der politischen und sozialen Ordnung hätten Geltung geben können. Damit wuchs die Wirksamkeit ihrer Propaganda und die Chance, das Gesellschaftsbild der Bürger für die Dauer ihrer Herrschaft wirksam zu beeinflussen“.186 Die Unterscheidung zwischen einer „malignen Sozialität“ und einer modernen Gesellschaft, wie sie gelegentlich in wenig bekannten Debatten gemacht wird, scheint indessen wissenschaftlich problematisch.187 Eine Aussage, auch wenn sie plausibel klingt, muss wissenschaftlich zustande kommen. Das Weberʼsche Konzept der charismatischen Herrschaft, das die „völlige Neuorientierung aller Einstellungen zu allen einzelnen Lebensformen und zur ‚Weltʻ überhaupt“188 hervorhebt, gibt eine begrifflichen Perspektive vor, die nicht durch selbstgemachte Eigenschöpfungen der analytischen Begriffe unwillkürlich realisiert werden sollte. Es ist notwendig, den Weber-Parsonsʼschen Rahmen zu übernehmen: Dadurch können im herrschaftssoziologischen Verständnis auch die Untersuchungen zur Herrenrasse und zum „autoritär-masochistischen“ Sozialcharakter in die Analyse einbezogen werden. Die „Wandlung der zentralen Gesinnungs- und Tatenrichtung“ war für den Nationalsozialismus zentral – die Abkehr von Rechtsstaat, parlamentarischer Demokratie und sozialer Marktwirtschaft und insgesamt den Grundwerten der Zivilgesellschaft.
185 Ibid., p. 355. 186 Ibid., p. 358. 187 Niels Beckenbach beschreibt das Entsprechungsverhältnis zwischen der Unterdrückung durch „ausgeübte Gewalt“ und der Einschränkung der Person durch Kollektivgefühle wie Schuld, Angst, Trauer und auch „paranoid gewordenen Ängsten“ als eine „maligne Sozialität“, die allemal durch Zwang entstehe: „Von Zwang ist … die Rede sowohl in äußerer Hinsicht, als übermäßig-symmetrische Form der Einschränkung oder Unterdrückung des freien Willens von Personen und Gruppen durch ausgeübte Gewalt anderer, ebenso aber hinsichtlich einer inneren gewalthaften Einschränkung unter häufiger und ebenfalls unfreiwilliger Wiederholung (Chronifizierung) von Strebungen und Verhaltensweisen mit entsubjektivierender bzw. objektiv schädigender Wirkung.“ Beckenbach, Kalte Gewalt. Ein Essay über maligne Sozialität, in: Festschrift für Johannes Weiß, Kassel: Selbstverlag 2002, p. 2 (im Manuskript). 188 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, p. 142.
III. EIN AMERIKANER DER STUNDE NULL Edward Y. Hartshorne und die Wiederanfänge 1945 – 1946 EINLEITUNG Als der Zweite Weltkrieg mit der bedingungslosen Kapitulation Nazideutschlands zu Ende ging, wurden alle Universitäten geschlossen. Das Fach Soziologie hatte es an einigen Instituten in einer Version, die dem Führerstaat genehm war, bis zum Ende des Regimes gegeben. Aber solche Soziologie musste nun verschwinden. Damit war das Ende der Lehrmeinungen besiegelt, die vom Denken der Weimarer Zeit ohnehin kaum noch Reste bewahrt hatten. Die Tradition Simmels und Webers gehörte nicht zu dem Wissensbestand an den Universitäten – den wenigen Universitäten, wo überhaupt noch soziologische Institute oder Lehrstühle bestanden. Lippenbekenntnisse zu Weber gab es noch in den vierziger Jahren bei einigen damaligen Hochschullehrern, aber die methodologische Begründung der modernen Soziologie war verloren oder vergessen. Wer die Simmel-Weberʼsche Theorie weiterführte, war in die Emigration gezwungen worden. Deutschland verlor seine Souveränität, und die Entscheidungsgewalt ging an die vier Siegernationen über. Die Herrschaft übte der Alliierte Kontrollrat aus, eine Institution der vier Militärregierungen, wo die gemeinsame Politik auf einstimmigen Beschlüssen beruhen sollte. Eine gemeinsame Politik der vier Siegermächte kam indessen nur in wenigen Bereichen zustande und wurde ab dem Sommer des Jahres 1948 unmöglich. Deutschland – bzw. seine nicht unter polnische oder russische Verwaltung gestellten Gebiete – war in die vier Besatzungszonen aufgeteilt, wo die vier Militärregierungen selbständig handelten. Dies war entscheidend für das künftige Schicksal der Universitäten und auch für die Soziologie. Jeweils eine der Siegermächte war zuständig vor Ort, und jede hatte eine eigene Auffassung über die notwendigen Maßnahmen. Alle Siegermächte waren gleichermaßen entschlossen, ein genozidales Regime in Deutschland nie wieder entstehen zu lassen. Der Neuanfang bzw. der Wiederauf bau der Universitäten und der Wissenschaften diente diesem Zweck. Die Soziologie war aus der Sicht der westlichen Besatzungsmächte entscheidend für die demokratische Entwicklung der Nachkriegszeit. Die Zukunft der Soziologie sollte an den Universitäten durch soziologische Lehrstühle und Institute wieder gesichert werden, und kompetente Fachvertreter sollten gefunden werden. Das amerikanische Besatzungsregime zwischen 1944/1945 und 1946 – und darüber hinaus bis in die fünfziger Jahre – erwartete von den Sozialwissenschaften einen Beitrag zur Entwicklung der Demokratie. Daher sollten die Sozialwissenschaften – darunter insbesondere der Soziologie – eine Vorzugsstellung einnehmen. Die Gesellschaftskonzeption des amerikanischen Besatzungsregimes1 sah für den Übergang eine Nullphase vor. In zwanzig gesellschaftlichen Lebensbereichen 1
Die Gesellschaftskonzeption des amerikanischen Besatzungsregimes wird in Einzelheiten dar-
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III. Ein Amerikaner der Stunde Null
wurden alle Einrichtungen stillgelegt, so in der Politik, der Wirtschaft, der Justiz und im Bildungswesen – um einiges zu nennen; das Personal wurde beurlaubt oder entlassen. Die Organisationen des Nationalsozialismus waren abgeschafft, und ihr Personal – bis zur Klärung strafrechtlicher Schuld – wurde in Lagern interniert. An den Universitäten, die auf unbestimmte Zeit geschlossen waren, wurde der Neuanfang vorbereitet; dazu dienten die Entnazifizierung, eine Entmilitarisierung (wo erforderlich) und allemal die Dezentralisierung (der Nationalsozialismus war zentralistisch gewesen). Die Stunde Null sollte Deutschlands Umwandlung von einem charismatisch-traditionalen zu einem rational-legalen Regime sicherstellen – mit Max Webers Herrschaftssoziologie gesprochen. Der Zwischenzustand, das Übergangsregime war nicht mehr charismatisch-traditional und noch nicht rational-legal. Das Ende der charismatischen Führerdiktatur war zwar besiegelt, aber der Rechtsstaat musste erst wieder während der Besatzungsherrschaft hergestellt werden. Der Zwischenzustand der Stunde Null, das Zwischenstadium, das System des Systemwechsels, war ein Herrschaftssystem der Transformation, das die Demokratie auf den Weg brachte. Die Zeit vom September/Oktober 1944 (als die US-Armee die ersten Detachments der Militärregierung im Westen des ehemaligen Reiches einrichtete) bis zum Sommer bzw. Herbst 1946 (als die Länder der amerikanischen Besatzungszone ihre eigenen Verfassungen durch frei gewählte Landtage beschlossen) war der hauptsächliche Zeitraum des Übergangs. In diese Zeit fiel das Wirken des Soziologen Edward Y. Hartshorne als Universitätsoffizier in der amerikanischen Zone. Die dritte Studie dieser Sammlung behandelt den Neuanfang nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Blick auf eine einzelne Persönlichkeit. In der Stunde Null, als Deutschland in Trümmern lag, verkörperten einzelne Persönlichkeiten jene Welt, die erst wieder entstehen sollte. Hartshorne war ein Amerikaner mit starken Bindungen an Deutschland. Er hatte bereits in den dreißiger Jahren ein Standardwerk über die deutschen Universitäten geschrieben. Als Hochschuloffizier war er 1945 zeitweise zuständig für alle Hochschulen und Universitäten der amerikanischen Zone – Darmstadt, Erlangen, Frankfurt, Giessen, Heidelberg, Marburg, Würzburg und (allerdings erst 1946 nach der Wiedereröffnung) auch München. Das Interessante aus der heutigen Perspektive ist, dass Hartshorne eine Biographie hatte wie ein Emigrant, etwa wie Bert Brecht, der von Land zu Land ziehen und sich dort immer neu einleben musste, um sich im Exil seine selbst bestimmte Existenz zu bewahren. Hartshorne nahm die Probleme Deutschlands als Soziologe wahr. Er verfolgte hinsichtlich Deutschlands ein Konzept der Wissenschaft, das die abendländische Geisteskultur (wieder) ins Blickfeld rücken sollte. Seine Arbeiten, die teilweise unveröffentlicht blieben, suchten einen Weg, Max Webers Handlungstheorie auf den Nationalsozialismus anzuwenden und daraus Einsichten zu gewinnen, die nach dem Krieg der Universitätsreform zugute kamen. Er kam von der HarvardUniversität und hatte mit Talcott Parsons zusammengearbeitet. Als er in die Regierungsdienste der USA im Krieg eintrat und schließlich auf verschiedenen Kriegsgestellt in: Uta Gerhardt, Soziologie der Stunde Null. Die Gesellschaftskonzeption des amerikanischen Besatzungsregimes 1944/1945 – 1946, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005.
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schauplätzen Nordafrikas und Europas sowie schließlich in Deutschland nach Kriegsende stationiert war, hielt er stetigen Kontakt mit Parsons. Beim Wiederaufbau der Universitäten ging es ihm auch um den Neubeginn der Soziologie. Die Parsonsʼsche Theorie war sein Leitgedanke. Die Freiheit der Forschung und Lehre, das eigenständige – nicht staatlich gelenkte – Denken stand im Mittelpunkt. Die moderne Industriegesellschaft, wie sie Parsons auf die Professionalisierung der Wissenshorizonte bezog, musste der Soziologie zum Orientierungsmaßstab werden. Das Erbe der abendländischen Kultur war nach 1945 der Auftrag der Besatzungspolitik. Für Hartshornes Leitbild der Institution Universität waren die kollegialen Formen des geistigen Austauschs zwischen verantwortungsfähigen Individuen das Szenario des Deutschland, das wieder entstehen sollte. Meine Darstellung hat drei Teile. Teil I schildert die Lebensgeschichte vor dem Hintergrund, dass Hartshorne seine akademische Karriere verließ, um 1941 zunächst für Research and Analysis in Washington und ab 1943 an verschiedenen Kriegsschauplätzen zu arbeiten, ehe er 1945 die Aufgaben des Universitätsoffiziers der amerikanischen Besatzungszone übernahm. Seine Studien zu Mentalität und Propaganda Nazideutschlands waren ein wichtiges Stück dieser Lebensgeschichte. Sie widmeten sich der dringendsten Problematik der damaligen Zeit. Teil II rekapituliert seine Analysen über die deutsche Universität und ihre Anwendung in der Situation der Stunde Null 1945/1946. In den dreißiger Jahren war sein The German Universities and National Socialism, bis heute ein Standardwerk, bahnbrechend für das Verständnis der Verluste durch die nationalsozialistische „Revolution“. Nach dem Zweiten Weltkrieg entsprach sein Handeln der Konzeption der Universität, wie er sie in seinem Buch geschildert hatte – es ging um Wiederherstellung des Verhältnisses zwischen Lehrenden und Lernenden, Forschung und Lehre im Humboldtʼschen Sinne. Teil III betrachtet die Rolle Hartshornes bei der Wiederentstehung der Soziologie nach 1945, mit Blick auf das Denken Max Webers und seine Rezeption im Werk Parsonsʼ. Insgesamt: Dieser Soziologe, der die Universität und das Fach Soziologie im Nachkriegsdeutschland wieder beleben half, war ein Denker, der zwischen dem Nationalsozialismus und der Nachkriegszeit keine Kontinuität sah. Der Bruch musste in der Praxis vollzogen werden. Hartshorne half mit, die akademische Kultur ab 1945 wieder im Wissenschaftsverständnis Westdeutschlands zu verankern. Die Soziologie musste (wieder) an das demokratische Ausland herangeführt werden. In den USA war der Fortschritt seit den dreißiger Jahren eklatant (gewesen). Nun musste die deutsche Wissenschaft an den internationalen Stand (wieder) anschließen. Hartshorne widmete sich persönlich diesem Anliegen unermüdlich.
1. EYH IN SEINER ZEIT EYH (wie Edward Yarnall Hartshorne Jr. sich selbst nannte), geboren 1912 als Sohn einer Familie der amerikanischen Oberschicht, schloss im Jahr 1933 seine CollegeAusbildung an der Harvard-Universität ab. In diesem Jahr der Machtergreifung er-
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III. Ein Amerikaner der Stunde Null
schien in den USA ein Buch über Deutschland, das drei Auflagen erreichte. Germany Puts the Clock Back – Autor war Edgar Ansel Mowrer2 – stellte den Staatsstreich 1932 dar, der das sozialdemokratische Preußen vernichtete und das ostelbische Preußen mit den Nationalsozialisten verbündete, so dass der Militarismus der Reichswehr – nach der Entmachtung der wenigen republikanischen Generäle – ab dem März 1933 zur Staatsdoktrin werden konnte. Das Rückwärtsgewandte eines solchen Regimes: „Nicht zu vergessen: Die deutsche Reaktion wirkte grundsätzlich dreifach: anti-republikanisch, anti-Ausland, anti-Arbeiterschaft. Indem sie sich erfolgreich weigerte, die zivilen Regierungen anzuerkennen, würgte die Reichswehr die demokratische Republik unablässig, vielleicht zu Tode“.3 In dieses Szenario passten, wie Mowrer schilderte, die Privatarmeen der SA und des Stahlhelm, aber auch die pöbelhafte Gewalt der Studenten gegen die republikanischen und die jüdischen Professoren. Die Universitäten, die schon in den zwanziger Jahren ein Schauplatz der Intoleranz gegen die rechtsstaatlich orientierten akademischen Lehrer (gewesen) waren4, wurden nun durch die radikalen Studenten zur Vorhut der Gleichschaltung durch den Nationalsozialismus. Die Universität Chicago richtete im Jahr 1933 am Department of History ein Graduate Program für History of Culture ein, wo EYH im Jahr 1934 als Doktorand angenommen wurde. Mit seinem German project war er nun Doktorand Louis Wirths am Department of Sociology and Anthropology in Chicago.5 Als Fellow des Social Science Research Council (SSRC) reiste EYH 1935 – 1936 nach Deutschland, um die Universitäten unter dem Nationalsozialismus zu studieren.6 Welche Einflüsse hinter seiner Themenwahl standen, lässt sich nicht zweifelsfrei rekonstruieren.7 Parsons, der Hartshornes Dissertationsprojekt für den SSRC
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Edgar Ansel Mowrer, Germany Puts the Clock Back, New York: William Morrow 1933. Das Vorwort schrieb die einflussreiche Journalistin Dorothy Thompson. Das Buch hatte drei Auflagen in demselben Jahr. Ibid., p. 85. Im Original: „Be it remembered: The German reaction was fundamentally threefold: anti-republican, anti-foreign, anti-labor. By its successful refusal to submit to the civil authorities, the Reichswehr slowly choked the democratic Republic, perhaps to death.“ Hartshorne berichtete – mit Verweis auf Marianne Webers Max Weber. Ein Lebensbild – von Gewalttätigkeit gegen Weber im Frühjahr 1920, als dieser die sozialistischen Studenten in Schutz nahm, die durch radikale Studenten in Anwesenheit des Rektors der Universität (der untätig blieb) misshandelt wurden, weil sie gegen den Freispruch des Mörders des (ehemaligen) Bayerischen Ministerpräsidenten Kurt Eisner protestierten. Siehe Hartshorne, The German Universities and National Socialism, Cambridge MA: Harvard University Press 1937, p. 43. Wirth war als junger Mann im Jahr 1912 als Emigrant aus Deutschland gekommen und hatte 1927 eine vergleichende Untersuchung über die Ghettos in den USA und dem damaligen Deutschland vorgelegt. The German Universities and National Socialism wird unten in Teil II gewürdigt. Nachweislich kannte Hartshorne das Buch Mowrers.
1. EYH in seiner Zeit
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begutachtete8, könnte sein Gesprächspartner gewesen sein9, als ab April 1933 die Nachrichten über die Kündigung unliebsamer Hochschullehrer und im Mai 1933 die Kunde von den Bücherverbrennungen über den Atlantik drangen. Hartshorne könnte zudem im Hause seines Schwiegervaters, des Harvard-Historikers Sidney B. Fay, der 1928 und 1930 ein in den USA umstrittenes Buch gegen die These der alleinigen Kriegsschuld Deutschlands im Ersten Weltkrieg vorgelegt hatte, mit dem Thema vertraut geworden sein.10 EYH, der fließend Deutsch sprach, wurde anlässlich seines Aufenthaltes in Berlin, wo er sich auf die Friedrich-Wilhelm-Universität in Berlin konzentrierte, durch Friedrich Meinecke unterstützt, den Historiker, dem 1935 die Herausgabe der Historischen Zeitschrift entzogen worden war11 und der 1936 mit der Ehrendoktorwürde der Harvard-Universität geehrt wurde. Über seine Arbeit in der Preußischen Staatsbibliothek dichtete EYH ein Spottlied (auf die Melodie „droben auf dem Berge“), das in seinen nachgelassenen Papieren erhalten geblieben ist: „Die Mehrzahl der Bücher Die er studiert / Sind entweder verboten Oder sekretiert“ – „Die Angestellten, Sie nehmen Acht / Dass all seine Bücher Werden zurückgebracht“ – „Sie sagen ‚Heil Hitler!ʻ Und heben die Hand / Und für sein Schweigen Haben keinen Verstand“.12 Da er seine Beobachtungen vor Ort durch das Zahlenmaterial des Academic Assistance Council in London ergänzen und untermauern konnte, wurde Hartshornes Buch bereits zeitgenössisch zu einem Standardwerk über die Emigration von Wissenschaftlern und den Verlust ganzer Wissenschaftszweige Deutschlands.13
8 Verbürgt ist für die Zeit nach Hartshornes Deutschlandaufenthalt, dass er an der fast legendären Gesprächsrunde im Adams House der Harvard-Universität – zusammen mit Robert Merton, Kingsley Davis, Robert Bierstedt und anderen – teilnahm, wo die Propaganda der Nationalsozialisten, die Herrschaft Nazideutschlands und ähnliche Themen diskutiert wurden. Die Protokolle sind zugänglich im Nachlass Parsonsʼ im Archiv der Harvard-Universität unter der Signatur: HUG(FP) – 42.45.4, Box 1. Die nachgelassenen Papiere Parsonsʼ werden im folgenden zitiert als Parsons-Nachlass und Signatur. 9 Im Frühjahr 1935 sandte Parsons die bereits fertig gestellten Teile seines ersten Hauptwerkes The Structure of Social Action an EYH nach Chicago, und Hartshorne kommentierte die Argumentführung in Briefen vom 14. April und 1. Mai 1935, die insgesamt achtzehn eng beschriebene Seiten umfassten. Parsons-Nachlass HUG(FP) – 42.8.2, Box 2. 10 The German Universities and National Socialism (p. 92) zitierte den Aufsatz S. F. Fay, German Universities Today: The astonishing changes that have taken place in recent decades, The World Today (Encyclopedia Britannica), April 1936, pp. 25 – 27, wo der Verlust deutscher Hochschullehrer durch Emigration nach der Machtergreifung auf 20 Prozent geschätzt wurde. 11 Dazu: Gerhard A. Ritter, Die Verdrängung von Friedrich Meinecke als Herausgeber der Historischen Zeitschrift 1933 – 1935, in: Historie und Leben. Der Historiker als Wissenschaftler und Zeitgenosse. Festschrift für Lothar Gall zum 70. Geburtstag, München: R. Oldenbourg 2006, pp. 65 – 88. 12 Das Spottlied hatte über zwanzig Strophen. Den Nachlass Hartshornes, der sich im Privatbesitz befindet, stellte mir freundlicherweise dessen Sohn, Robin Hartshorne, zur Verfügung. Diese Materialien werden im folgenden als Hartshorne-Nachlass zitiert. 13 Dazu auch: Claus-Dieter Krohn, Wissenschaft im Exil. Deutsche Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler in den USA und die New School for Social Research, Frankfurt/New York: Campus 1987. Zur Genauigkeit der Angaben Hartshornes auch: Michael Grüttner und Sven Kinas,
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Dass die Zerstörung der Institution Universität einer Katastrophe des forschenden Denkens gleichkam, schilderte The German Intellectual of Today, ein teilweise handgeschriebener Text, der offenbar zum eigenen Selbstverständnis Hartshornes diente.14 Er rekonstruierte einzelne Situationen, Beobachtungen und Gespräche mit Deutschen, die aus ihrem bisherigen Leben verjagt worden waren oder die sich dem Regime angepasst hatten, zusammen mit den Topoi der manipulierten Meinungsmache des Propagandaministeriums, sodass ein Bild von den Einstellungen und den Auffassungen in der Atmosphäre des staatlichen Zwangs entstand. Dass dabei aufoktroyiert wurde, welches Denken wahr zu sein habe, wurde geschildert anhand eines Dozenten, der die SA-Uniform auf dem Katheder trug, Max Weber und Vilfredo Pareto zu „falschem“ Denken erklärte und einen Doktoranden, der dennoch Weber verteidigte, im Seminar als Vaterlandsverräter bezeichnete.15 Unter der Überschrift Absurdities notierte er: „Wie kann ein erfahrener Denker das Weltbild ernst nehmen, das auf der Annahme beruht, dass ‚Wissenschaft die Konzeption des Universums ist, die der Nordische Mensch schufʻ? Aber dies ist nur die unverblümteste Absurdität. Hinter den Kulissen gibt es noch viele weitere“.16 Die Intellektuellen in Deutschland, so das Fazit, durften nicht mehr selbständig denken und verloren alle Kreativität und Selbstachtung: „Ihre Lebensauffassung ist geprägt von Fatalismus“.17 In den Jahren 1936 bis 1941 – als Faculty Instructor in Harvard – analysierte er die Struktur und die jüngsten Veränderungen der deutschen (und auch der ameri-
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Die Vertreibung von Wissenschaftlern aus den deutschen Universitäten 1933 – 1945, Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Bd. 55, 2007, pp. 123 – 186, insbes. pp. 125 – 128. The German Intellectual of Today, geschrieben 1936 oder 1937, ist Teil des Hartshorne-Nachlasses. „A young Dozent at the university who wears his Storm Trooper uniform not merely on ceremonial occasions but sometimes on the lecture-platform (as well), is quite convinced that those who are impressed by Max Weber or Pareto are subscribers to the ‚wrongʻ view, while only he and his chief, Gottl-Ottilienfeld, bulwarks of the new order in economic theory, express the ‚rightʻ view. Disagreement from the class simply occasions a louder tone from the rostrum. To the German graduate student, earnestly weighing the evidence, the Dozent is likely to retort at the end of a losing battle: ‚To subscribe to such views as yours is to be a traitor to your people!ʻ“ The German Intellectual of Today, pp. 7 – 8. Ibid., p. 8. Im Original: „How can a well-trained thinker take seriously a world-view which rests on the assumption that ‚science is the conception of the universe created by Nordic Manʻ? That is, however, only the most notorious absurdity. Behind the scences are many others.“ In Parsonsʼ The Structure of Social Action findet sich ein Hinweis auf die Absurdität der Idee des Nordic Man in der Wissenschaft. Siehe: Talcott Parsons, The Structure of Social Action. A Study in Social Theory With Special Reference to a Group of Recent European Writers, New York: MacGraw Hill 1937 (Neudruck und dritte Auflage New York: The Free Press 1968), p. 30. Hartshorne, The German Intellectual of Today, p. 11. Die Textstelle als ganzes: „The intellectual class is traditionally bourgeois, and for a very important reason. A certain modicum of material and spiritual security is indispensable for creative intellectual work. Now in contemporary Germany intellectuals, at least those who are not parrots, have no security. Their philosophy has become one of fatalism. ‚We are but straws in the wind!ʻ.“
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kanischen) Universitäten.18 Außerdem untersuchte er in zwei Projektzusammenhängen das Leben der Deutschen und ihr Denken unter der Diktatur. Zusammen mit Sidney Fay und dem Psychologen Gordon Allport lancierte er ein Preisausschreiben für Emigranten aus Deutschland. Unter dem Titel My Life Before and After January 30, 1933 – entstand die Sammlung der (teilweise hunderte Seiten umfassenden) Biographien von vertriebenen Deutschen, die heute in der Houghton Library der Harvard-Universität zugänglich ist.19 Aus den darin enthaltenen Berichten über den Pogrom des 9. November 1938 stellte er ein Buch zusammen, das die Leiden der Opfer dokumentierte und die zynischen Presseberichte der Nazis wiedergab sowie die Berichterstattung der britischen und der amerikanischen Zeitungen enthielt, die dazu die Tatsachen schilderte.20 Es ist bis heute unveröffentlicht. Um eine soziologische Interpretation der nationalsozialistischen Weltauffassung ging es in drei bzw. vier seiner Arbeiten, die sich direkt oder indirekt auf die Materialien der Life-History-Studie stützten. Den sachlichen Hintergrund bildete die Discussion Group on German Social Structure, die Parsons und Hartshorne als die Vorsitzenden der Harvard Group der landesweiten American Defense im Frühjahr 1941 ausrichteten.21 Parsons referierte am 14. Februar 1941 über den Adel, die 18 Siehe dazu unten, Teil II dieser Studie. 19 Einsendeschluss war der 1. 4. 1940. EYH reiste 1939 und 1940 nach Frankreich, Holland und England, um dort – teilweise illegal lebende – Emigranten zu bitten, ihre Lebensgeschichte unter dem Nationalsozialismus aufzuschreiben. Insgesamt gingen 255 Einsendungen ein; eine Liste der Namen, versehen mit handschriftlichen Notizen und Angaben zur Auswertung durch die drei Betreuer der Studie, wurde der Houghton Library mit den Materialien durch Sidney Fay im Jahr 1958 übergeben. 20 Das über vierhundert Seiten umfassende Manuskript trägt den Titel Nazi Madness. EYH bemühte sich noch im Sommer 1941 erfolglos um einen Verlag für das Buch. Die einzige Analyse der Materialien der Life History Study zu Hartshornes Lebzeiten war ein Aufsatz in der Zeitschrift Character and Personality, wo er nicht unter den Autoren genannt wurde. Die Lebensgeschichte, die der Philosoph Karl Löwith als seine Einsendung verfasste, wurde – ohne Kenntnis der näheren Umstände des Preisausschreibens – als Buch posthum veröffentlicht. Dass der Bericht über die Rettung der Journalistin Käthe Vordtriede, der 1999 erschien, ursprünglich eine Einsendung zum Preisausschreiben war, erwähnte Vordtriede in ihren Briefen, wo sie Hartshorne persönlich Dank abstattete. Siehe: Gordon Allport, Jerome Bruner, Erich Jandorf, Personality Under Social Catastrophe, Character and Personality, vol. 10, 1941, pp. 1 – 22; Karl Löwith, Mein Leben vor und nach 1933, Stuttgart: J. B. Metzler 1986; Käthe Vordtriede, „Es gibt Zeiten, in denen man welkt“. Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Detlef Garz, Lengvil: Libelle 1999; siehe dazu: Vordtriede, „Mir ist es noch wie ein Traum, dass mir diese abenteuerliche Flucht gelang …“ Briefe nach 1933 aus Freiburg im Breisgau, Frauenfeld und New York an ihren Sohn, Werner, Lengvil: Libelle 1998, wo pp. 157, 159, 169 und 175 erwähnt wird, dass Vordtriede an dem Preisausschreiben mit der Arbeit teilnahm, die 1999 veröffentlicht wurde. Für den Hinweis danke ich Dr. Sigrid Faltin. 21 Discussion Group on German Social Structure, Parsons-Nachlass HUG(FP) – 15.2, Box 10. Zu Zweck und Bedeutung von American Defense, einer landesweiten Initiative, die 1940 zur Überwindung des Isolationismus in den USA gegründet wurde und an der Harvard-Universität bis 1945 bestand, siehe Uta Gerhardt, Introduction: Talcott Parsonsʼs Sociology of National Socialism, in: Talcott Parsons on National Socialism, New York: Aldine de Gruyter 1993, pp. 1 – 77, insbesondere pp. 22 – 23, 27, 29.
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Oberschicht, die Intellektuellen, die Arbeiterschaft etc. in der Geschichte vom Kaiserreich bis zur Weimarer Republik, um die Ressentiments zu erläutern, die die Nazis sich hatten zunutze machen können. Hartshorne erläuterte am 7. März 1941, wie der Roman Ernst von Salomons Die Geächteten die Desperado-Mentalität der Freikorps darstellte und dass die nationalistische (auslandsfeindliche) Selbstbezogenheit der Deutschen typisch war. Letzteres bezeuge die Lebensbeschreibung eines Mannes namens Schwartzert aus den Life-History-Materialien, der über „,the German Idealistʻ“ gesagt habe (wie Hartshorne in englischer Übersetzung zitierte): „He will only fight for his own Weltanschauung, by means of which he believes the worldʼs problems will solve themselves“.22 Eine daran anknüpfende soziologische Arbeit rückte die romantischen Züge des nationalen Selbstverständnisses der Deutschen in den Mittelpunkt. Als Nummer 12 in der Serie America in a World of War erschien Hartshornes German Youth and the Nazi Dream of Victory.23 Seine These war, dass die Topoi der Befreiung und des Kampfes eine Art Traumziel der deutschen Politik seit dem 19. Jahrhundert bildeten, was Hitler für seine Zwecke hatte ausnutzen können. Der Traum vom Sieg richte sich auf das Traumziel einer konfliktlosen Welt – einer Welt, wo es keine Kämpfe mehr gäbe. Der militärische Triumph bedeute dabei, da der Feind besiegt wäre, dass das eigenständige Denken überflüssig würde, während andererseits der Zynismus, die Verstellung, der Opportunismus und die Heuchelei vorherrschten, was wiederum im Nazideutschland offensichtlich sei, wo die Angst vor der Gestapo diese Tendenzen noch verstärke.24 Dahinter stehe – als eine psychische Konstellation, worin eine corrosion of character liege – ein nationaler Traum von deutscher Größe, der einer general insecurity neurosis entspreche.25 Dabei begünstigten die Verunsicherung und die Entwurzelung breiter Bevölkerungskreise, also der psychische Zustand im Gefolge der Krisen der jüngsten Zeit, den eklatanten kollektiven Realitätsverlust im gesellschaftlichen Bewusstsein – insbesondere im Kleinbürgertum, bei der Jugend und bei den Frauen. Hartshorne verwandte Materialien aus der Life-History-Studie, um seine These zu erhärten. Eine (unveröffentlichte) Abhandlung über den Realitätsverlust durch Romantisierung war seine nächste Schrift. Darin wurde das gesellschaftliche Bewusstsein Nazideutschlands mit dem Charisma-Begriff Webers analysiert, um die blinde Idealisierung, die den Führerkult prägte, sozialpsychologisch zu deuten.26 Social Struc22 Die Sitzungen der Discussion Group on German Social Structure wurden mitstenographiert und liegen in Abschrift vor. Der deutsche Text aus Schwartzerts Autobiographie war der LifeHistory-Studie entnommen und ins Englische übersetzt. Discussion Group on German Social Structure, Mar 7 – Dr. Hartshorne, p. 8. 23 E. Y. Hartshorne, German Youth and the Nazi Dream of Victory, New York: Farrar & Rinehart 1941. 24 Dazu die Textstelle p. 31: „The demand for constant proof of ‚loyaltyʻ promotes a desperate struggle to vie with others in outward conformity. … The result is an all-pervasive atmosphere of opportunism, dissimulation, hypocrisy, and cynicism. Behind it all, the grim awareness of the Gestapo.“ 25 Ibid., p. 15. 26 Social Structure and Charisma: A Note on Romantic Love and the Fuehrer Complex. Hartshorne-Nachlass.
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ture and Charisma: A Note on Romantic Love and the Fuehrer Complex war eine – bis heute einzigartige – Analyse des Hitler-Mythos. EYH zog die Sozialpsychologie Harold Lasswells sowie die Psychoanalyse Sigmund und Anna Freuds heran, um die Handlungstheorie Webers auf den Nationalsozialismus anzuwenden. Ausgangspunkt waren Kadavergehorsam und Führerschwärmerei (die Worte wurden auf Deutsch verwendet). Derartige Handlungsmuster gehörten zu einem Komplex der Romantisierung, der ähnlich einer Liebesbeziehung funktionierte und mit einem drastischen Realitätsverlust einherging. Durch die Idealisierung eines Idols wurde eine soziale Beziehung zwischen einem Führer und seiner Gefolgschaft gestiftet. Hartshorne zeichnete vier Stufen dieses Romantic love / Fuehrer complex-Prozesses nach: 1.) Den Ausgangspunkt bildete die Verunsicherung (insecurity) durch eine epidemische Existenzangst.27 2.) Das Individuum wollte seine Ängste mindern und reagierte mit Identifikation28, und zwar der Identifikation mit einem idealisierten Anderen oder einer Idee, wobei dieser Andere oder diese Idee mit einem Charisma versehen war, das nun verinnerlicht wurde.29 Daraufhin entstand 3.) eine soziale Beziehung zwischen dem sich identifizierenden (idealisierend liebenden) Subjekt und dem charismatischen Führer (idealisierten Liebesobjekt): „Die Struktur der sozialen Beziehung, die bei einer solchen Identifikation entsteht, ist durch Asymmetrie geprägt. … Funktional stützt sich die Beziehung auf den Glauben. Und der Glaube ist die einseitige Zuwendung von Libido, verbunden mit der selbstlosen, hochgradig emotionalen, partikularistischen, traditionalistischen, funktional diffusen Zuschreibung von legitimer Autorität“.30 Die institutionalisierte charismatische soziale Beziehung 27 Insecurity konnte auch andere Folgewirkungen haben als die Identifikation mit einem Liebesobjekt, wie er erläuterte. Der Identifikationsprozess war also nicht kausal zu verstehen. Die Verunsicherung war ursächlich für die späteren Identifikationsvorgänge nur insofern, als man von der Wirkung her dachte. Die Identifikation mit dem Aggressor oder dem blindlings idealisierten Führer war also der Zustand, von dem man rückschloß auf eine dafür ursächliche Verunsicherung (Existenzangst). 28 Wohlgemerkt: Das Charisma einer Identifikationsfigur (oder einer Idee oder einer durch eine Utopie verführerischen Ideologie) war meistens bereits in der Umgebung der betroffenen Person vorhanden. Hartshorne: „It is clear … that the presence of genuine charisma in the milieu of the insecure individual – whether in the form of lover, parent, leader, teacher, priest, physician or ideology – definitely increases the probability that identification rather than, say, regression or some other ‚defense mechanismʻ, will be chosen as ‚the way out.ʻ“ Ibid., p. 5. 29 Hartshorne bezog sich auf Weber, um zu fordern, dass dessen herrschaftssoziologische Typologie zu untermauern sei durch die sozialpsychologische Erklärung der charismatischen Herrschaftsbeziehung: „Max Weber, father of the term in its sociological connotations, has left it badly in need of further definition. As traditionally used, charisma refers to an undefined magnetic quality in certain individuals which induces in other individuals attitudes of subordination, veneration, enthusiasm, faith, loyalty, self-sacrifice, etc. Now in many cases ideals or ‚myths,ʻ not necessarily associated with any particular leader, have the same effects on individuals. … ‚[C]harismatic ideasʻ never become efficacious except through the medium of individuals; these may or may not be charismatic, provided they are imbued with the Sendung or ‚missionʻ.“ (pp. 5 – 6) 30 Ibid., p. 6. Die Textstelle im Original: „The structure of the social relationship resulting from the identification mechanism shows a characteristic asymmetry. On the one hand individual A identifies; on the other hand individual B is identified with. The first believes in the second; the second accepts and usually seeks to justify the belief. Functionally the relationship depends on
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war indessen nicht von Dauer, denn im vierphasigen Identifikationsprozess stand an letzter Stelle 4.) „die Desorganisationsphase der Identifikationsbeziehung“31, wo das Charisma-Objekt seiner Idealisierung entkleidet wurde, woraus dann entweder Zynismus oder ein völliger Orientierungsverlust entstanden. Hartshorne dachte an Webers Idealtypus, als er klarstellte: „Im ‚reinenʻ Fall wird die Desillusionierung, die der Demaskierung folgt, umso tiefer gehen, je größer die Intensität des Glaubens bei der Identifikation in der sozialen Beziehung ist“.32 Der charismatische Identifikationsprozess, so die These, konnte am Fuehrer complex studiert werden. Die Anomie der Weimarer Zeit und deren Kompensation durch den Hitlerism gehörten zusammen.33 Die Phasen des charismatischen Identifikationsprozesses in Deutschland waren nachvollziehbar: Dort herrschte weithin die dritte Phase vor, also die institutionalisierte soziale Beziehung (charismatische Gefolgschaft à la Weber).34 Die Schlussphase – disillusionment and consequent disintegration of the relationship – stand allerdings noch aus. Dies bedeute, wie EYH fortfuhr, dass man nach den Gegenkräften gegen die Nazi mentality in Deutschland immer wieder fragen müsse, selbst wenn dies der konservativ-traditionale Nationalismus der Armee wäre, denn immerhin sei dieser im Unterschied zu den fanatischen Nazi-Parolen wenigstens ein Weltbild aus eigener Überzeugung.35 Da das Regime durch Gewalt regierte, so Hartshorne, war das Ende der Naziherrschaft noch nicht in Sicht. Die einzige Hoffnung war der vollständige Sieg der Alliierten, wodurch dann die Phase der Ernüchterung den Nazi Dream of Victory für alle Zeiten beenden werde.
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the maintenance of faith. And faith may be described as a one-way investment of libido combined with disinterested, highly affectual, particularistic, traditionalistic, functionally diffuse attribution of legitimate authority.“ Die Begriffe disinterestedness, Affektivität, Partikularismus und funktionale Diffusheit waren der Parsonsʼschen Soziologie entnommen. Disinterestedness bezog sich auf rationales (reziprokes) und durch normative (moralische) Maßstäbe geleitetes Handeln im Sinne des Weberʼschen Typs der (zweck- und wert-)rationalen Handlung und Herrschaft. Die Begriffe Affektivität etc. bezeichneten Handlungsorientierungen (Wertorientierungen) im Sinne des Traditionalismus, wie ihn Weber als einen Typus des sozialen Handelns und der Herrschaft herausgearbeitet hatte. oder des affektuellen Handelns/der charismatischen Herrschaft. Ibid., p. 8. Im Original: „the disorganization phase of the identification relationship“. Ibid., p. 8. Im Original: „In the ‚pureʻ case, the greater the intensity of faith cementing the identification relationship, the greater the disillusionment resulting from the unmasking process.“ Weber hatte den Idealtypus am „reinen“ Fall erläutert. Hartshorne betonte, dass in den empirischen Gesellschaften stets die verschiedenen Typen der Herrschaft und die verschiedenen Stadien des Identifikationsprozesses in unterschiedlicher Intensität nebeneinander bestanden. Zur Literatur, die Hartshorne zum Beleg anführte, gehörten unter anderem: Harold Lasswell, The Psychology of Hitlerism, The Political Quarterly, vol. 4, 1933, pp. 373 – 384, Hans Gerth, The Nazi Party: Its Leadership and Composition, American Journal of Sociology, vol. 45, 1940, 517 – 541 und Handley Cantril, The Psychology of Social Movements, New York 1941. Dazu die Textstelle: „The crucial importance of faith in the regime, Glaube an Deutschland, is induced by the fact that probably no political system in history has ever put more effort into the organization of propaganda than the Nazis. It is not too much to say that the National Socialist State is unthinkable apart from the numerous efficacious mechanisms used for purposes of ‚creating consentʻ and inculcating implicit trust in the Leader.“ (p. 35) Ibid., p. 36.
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Dass die Propaganda der Nazis nicht nur die Deutschen in ihren Bann zog, sondern auch in den USA und anderen Ländern durch psychologische Kriegführung Einfluss hatte, analysierte EYH in einer weiteren Arbeit zur Handlungstheorie im Zusammenhang des Nationalsozialismus. Reactions to the Nazi Threat: A Study of Propaganda and Culture Conflict36 analysierte die Rationalisierungen jener Amerikaner, die durch die Auslandspropaganda der Nazis über die Gefährlichkeit des NS-Regimes hinweggetäuscht wurden. Ausgangspunkt war die Frage, unter welchen Bedingungen und in welcher Weise es gelang, eine offensichtlich verbrecherische Wirklichkeit vollständig der Wahrnehmung zu entziehen oder darauf statt durch Gegenmaßnahmen lediglich durch Dulden oder Unterlassen zu reagieren. Die das soziale Handeln tragenden Einstellungen, so Hartshorne, bestanden aus dem Verhalten, dem Denken und den Emotionen.37 Max Weber hatte das soziale Handeln einschließlich der Untätigkeit, die im Dulden und Unterlassen lag, erfasst. Das Reaktionsmuster auf einen revolutionären sozialen Wandel war normalerweise, dass neue Einstellungen entstanden, die von Pro bis zu Contra reichten. Aber in Deutschland werde durch den Terror keine Bandbreite von positiv bis negativ erlaubt. Nicht nur das Verhalten, sondern auch (wegen der ansonsten allgegenwärtigen Gefahr der Verfolgung) auch das Denken und sogar die Gefühlsebene würden gleichgeschaltet – wobei die conformists zunächst nur in ihrem overt behavior angepasst seien, aber „mit der Zeit feststellen müssen, dass auch ihr Denken und ihre Emotionen regimekonform werden“.38 In den USA, so Hartshorne, entwickelten sich ebenfalls Einstellungen in Reaktion auf das Nazireich, wobei in der Öffentlichkeit auf der einen Seite zur aktiven Bekämpfung dieses „Neuen“ aufgefordert wurde (Interventionismus), aber auf der anderen
36 Hartshorne, Reactions to the Nazi Threat: A Study of Propaganda and Culture Conflict, Public Opinion Quarterly, vol. 5, 1941, pp. 625 – 639. Dem Aufsatz wurde nach dem 7. Dezember 1941 ein Schlusspassus hinzugefügt, da der Überfall Japans auf die USA das Ende des Isolationismus besiegelt hatte. 37 Diese drei Dimensionen des sozialen Handelns entsprachen jeweils Handlungsorientierungen. Parsons – der wiederum Max Weber zugrunde legte – hatte in seinem im Jahr 1940 verfassten (unvollendeten und zu Lebzeiten unveröffentlichten) Buch Actor, Situation and Normative Patterns dargelegt, worauf Hartshorne hinwies, dass diese Typologie der drei Handlungsorientierungen analytisch sinnvoll war. Mit Blick auf seine eigenen Forschungen in der Life-History-Studie fügte EYH allerdings hinzu, dass die Individuen biographisch allemal unterschiedliche Erfahrungen machten und ihre eigene Entwicklung durchliefen, die ihre – die drei Dimensionen je anders verbindenden – Einstellungen prägte. (pp. 633 – 634) 38 Im Original lautete die Textstelle, die auch an Hartshornes Erfahrungen in Deutschland anschloss (p. 630): „The prominence of conformity such as formal greetings and salutes is to be explained as a part of this ‚strategy of terror.ʻ Non-conformists, easily identified, are soon eliminated, while conformists in overt behavior gradually find their minds and emotions ‚regimentedʻ as well.“ Die Berichte aus der Life-History-Studie, fuhr EYH fort, lieferten dafür aussagekräftiges Anschauungsmaterial. Der Ausdruck „Strategie des Terrors“, der den Zeitgenossen geläufig war, verwies auf die den Widerstand gegen Nazideutschland unterminierende Propaganda in Frankreich 1939/1940, wodurch die Niederlage gegen die Deutschen im Sommer 1940 wesentlich vorbereitet wurde. Siehe: Edmund Taylor, The Strategy of Terror: Europeʼs Inner Front, Boston: Houghton Mifflin 1940.
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Seite auch die beschönigenden Rechtfertigungen der America First-Bewegung eine Anhängerschaft hatten, die mehrere Millionen Mitglieder zählte (Isolationismus). Zur Rechtfertigung des Nichthandelns in den USA gegenüber der Hitler-Diktatur diene etwa die Einrede, es gebe genügend Mängel der eigenen Demokratie zu beseitigen, oder man müsse Deutschland mehr humanitäre Hilfe geben anstatt nach dem bloß militärischen Eingreifen zu rufen, oder erst einmal sollten andere Feinde, etwa der Kommunismus, bekämpft werden. Die deutsche Auslandspropaganda mache sich solche Vorbehalte und Vorhaltungen zunutze. Sie suche in den USA das verbreitete Nichthandeln raffiniert zu unterstützen. Die Strategie der Deutschen sei, an die Bequemlichkeit und das Wunschdenken vieler Amerikaner zu appellieren, so Hartshorne, und den Nazis würden ganz bewusst nur gute Absichten unterstellt, was die Amerikaner erst recht in ihrer Untätigkeit bestärken solle.39 Die deutschen Appeasement-Appelle sollten in den USA die Opportunisten erreichen, denen versichert werde, die beiden Länder könnten Partner sein, und außerdem sei es letztlich doch gleichgültig, was man persönlich über die Nazis dächte. Fazit: Das soziale Handeln entsprechend den Einstellungen – auch jenen, die durch die Propaganda einer feindlichen psychologischen Kriegführung unerwünscht gelenkt wurden – war ein wichtiger Gegenstand der sozialwissenschaftlichen Analyse. Der Komplex der Handlungsbegründungen dürfe soziologisch nicht vernachlässigt werden.40 Für das akademische Jahr 1941 – 1942 wurde Hartshorne durch seine Universität beurlaubt, um die Life-History-Studie fertig auszuwerten, nun unter dem Arbeitstitel Social and Psychological Aspects of National Socialism, as Revealed in Life-History Documents.41 Aber es kam ganz anders. Am 1. September 1941 wurde das Office of the Coordinator of Information (COI) in Washington gegründet, eine Institution, die dem Präsidenten Franklin D. 39 Der entsprechende Passus im Original: „Soporific Propaganda (for the Victims of Complacency and Wishful Thinking), aiming to convince the victims of their absolute security and the guileless intentions of the Nazis. Appeals of this sort are described in the German literature as Beruhigungspille.“ (p. 636) 40 Hartshornes Aufsatz endete mit einer Hypothese: „If Erich Fromm is correct in his diagnosis of the sado-masochistic core in Nazi-German psychology, as contrasted with the Anglo-American pattern, then one would expect the Nazi propaganda broadside to be more effective when operating on the German than on the American psyche – as indeed, has been the case“ – eine Hypothese, die allerdings nicht ausschloss, dass dennoch viele Amerikaner, die sich des Bedrohlichen wegen ihrer Realitätsverleugnung nicht bewusst waren, zur Realitätsblindheit verführt werden mochten. Dazu: Erich Fromm, Escape from Freedom, New York: Rinehart and Farrar 1941. 41 Ein gemeinsames Buchprojekt, das den Arbeitstitel German Social Structure and National Psychology trug, planten Parsons und Hartshorne im November 1941, also kurz vor dem Überfall der japanischen Luftwaffe auf Pearl Harbor, wodurch der European War zum Zweiten Weltkrieg wurde. Parsons schrieb dazu ein Memorandum Some Aspects of German Authority, dessen Titel handschriftlich geändert wurde in Some Aspects of German Social Structure and National Psychology, worüber er mit dem Psychoanalytiker Robert Waelder korrespondierte. Der Buchaufriss Outline of a Proposed Book on German Social Structure and National Psychology entwarf die allgemeine Idee, „to interpret certain of the principal factors in the genesis of the National Socialist movement and in the orientation of the German nation to its leadership, to a militaristic and aggressive expansionism“ und skizzierte sodann sieben Kapitel. Siehe Parsons-Nachlass, HUG(FP) – 15.2, Box 10 und Box 11.
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Roosevelt durch die Auswertung der Materialien zuarbeitete, die der Library of Congress zur Verfügung standen.42 Hunderte Sozialwissenschaftler wurden landesweit angeworben. Ihre fachnahe Tätigkeit in Washington bestand aus Analysen der Weltlage in Kriegszeiten – bis Dezember 1941 war es der European War. Hartshorne übernahm am 1. September 1941 eine Tätigkeit als Social Science Analyst der Psychology Section des COI. Als das COI im Juni 1942 zum Office of Strategic Services (OSS) und Office of War Information (OWI)43 um- bzw. ausgebaut wurde, gehörte er – bis März 1943 – zur Research and Analysis Branch (R&A) der Central European Section des OSS.44 Seine Aufgabe war, Analysen zur Kriegslage zu erstellen, die die besondere Problematik der psychologischen Kriegführung behandelten. Obwohl die R&A-Memoranden nicht namentlich gekennzeichnet waren, lässt sich das Memorandum No. 21 (COI) – umsigniert auf No. 609 (OSS)45 – zweifelsfrei Hartshorne zuordnen.46 Current German Attitudes and the German War Effort untersuchte die Einstellungen der deutschen Bevölkerung in den verschiedenen Alters-, Geschlechts-, Religions-, Regional-, politischen, Berufs- und Bildungsgruppen sowie den sozialen Schichten unter der Fragestellung, ob es dort typische Haltungen gegen den Nationalsozialismus gebe, die auf Widerstand schließen ließen. Fazit: Die Einstellungen der Deutschen hingen davon ab, dass sie glaubten, den Krieg gewinnen zu können; solange ihnen darauf Hoffnung gemacht werde, seien sie mehrheitlich nicht bereit, sich gegen den Nationalsozialismus zu wenden. Dasselbe Ergebnis ergebe sich, 42 Zur Vorgeschichte der Intelligence-Institutionen, die den Sachverstand von Wissenschaftlern für die Entscheidungsfindung der Kriegführung nutzten, siehe: Richard W. Steele, Preparing the Public for War: Efforts to Establish a National Propaganda Agency, 1940 – 1941, American Historical Review, vol. 75, 1970, pp. 1640 – 1653. 43 Zum OWI siehe: Allan M. Winkler, The Politics of Propaganda: The Office of War Information 1942 – 1945, New Haven: Yale University Press 1978. 44 Eine umfassende Darstellung der Arbeit der Research and Analysis Branch liegt bisher nicht vor. In den – ca. viertausend – Memoranden wurde dort die Kriegslage analysiert, was in der Rückschau erforderlich macht, die jeweiligen Ausgangssituationen der Memoranden in die Betrachtung einzubeziehen. Ein beschreibender Aufriss ist: Petra Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen über Deutschland 1942 – 1949, München: Oldenbourg 1995. Eine anschauliche Schilderung der Arbeit der Central European Section des OSS anhand der Biographien und Leistungen ausgewählter Wissenschaftler, die dort tätig waren, so (unter anderem) der Historiker Hajo Holborn und Felix Gilbert, des Politologen Franz L. Neumann, des Staatsrechtlers Otto Kirchheimer und des Kulturphilosophen Herbert Marcuse, gibt Barry M. Katz, Foreign Intelligence: Research and Analysis in the Office of Strategic Services 1942 – 1945, Cambridge MA: Harvard University Press 1989. 45 Coordinator of Information, Research and Analysis Branch, Psychology Division, Current German Attitudes and the German War Effort, Report No. 21 (durchgestrichen und handschriftlich ersetzt durch R & A 609), March 19, 1942. Der Report ist zugänglich in der Harvard College Library. 46 Hartshornes Autorenschaft lässt sich erschließen aus den unter Sources (p. 41) gemachten Angaben. Bei General Classes of Material werden dort auch Interviews (outside COI) erwähnt, und zwar unter anderem Interviews mit S. B. Fay und Talcott Parsons. Außerdem werden die Unpublished documents in the German Life-History Archive, Widener Library, Harvard University angeführt. Schließlich wird unter den Specific Items Not Mentioned in the Text als Literatur unter anderem German Youth and the Nazi Dream of Victory genannt.
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wenn man die Einstellungen unter dem Gesichtspunkt betrachte, welche Anlässe für die Kritik am Regime sorgten. Zwar sei die Stimmung insgesamt eher schlecht wegen der häufigen Versorgungsengpässe oder auch wegen der Luftangriffe oder weil die Soldaten an der Front ihr Leben riskierten, während ihre Arbeitsplätze durch die Zwangsarbeiter eingenommen würden. Aber jeder Sieg oder jede Propagandakampagne, die die Deutschen zum Durchhalten verpflichte, wobei man sie auf den Endsieg vertröste, verminderte wieder die regimekritischen Einstellungen. Hartshorne: „Der endgültige Zerfall des Regimes hängt davon ab, ob die Frustration lange genug anhält und ob die Sinnlosigkeit des Kampfes allgemein eingesehen wird. Entscheidend dafür wäre der Zusammenbruch ganzer Zentralbereiche wie der Verteidigung, der Verwaltung oder der Versorgung“.47 Das Fazit: Der Terror- und der Propagandaapparat zusammen schufen einen inneren Zusammenhalt des Reiches. Die Bevölkerung mochte dem Regime ihre Gefolgschaft erst versagen, wenn überhaupt keine Hoffnung mehr bestand. Mit anderen Worten: Das soziale Handeln der Deutschen war mehrheitlich fest im Griff des charismatischen Führerregimes. Ab Frühjahr 1943 gab es für Hartshorne dauernde Wechsel seines Wirkens. Er verließ das OSS am 1. März 1943, um zum Office of War Information (OWI) zu gehen. Er wurde Intelligence Instructor des Technical Center des OWI auf Long Island N.Y. und bildete künftige Intelligence Officers unter anderem für die Befragung deutscher Kriegsgefangener aus. Er hielt Vorlesungen über Nazideutschland für die Offiziere der Psychological Warfare, um sie auf den europäischen Kriegsschauplatz vorzubereiten.48 Am 1. Oktober 1943 ließ er sich an die Front versetzen. Er wurde nun Chef der German Intelligence Section der Psychological Warfare Branch (der späteren Psychological Warfare Division), die dem War Department unterstand. Nach einem Monat Vorbereitungszeit in London wurde er nach Algier beordert. Seine Einheit führte dort die interrogations von Deutschen in Kriegsgefangenschaft durch. Ab November/Dezember 1943 wurde das Team, den alliierten Truppen folgend, zunächst in Sizilien, dann in Apulien und schließlich in Süditalien eingesetzt. In Rom war EYH ab Mai oder Juni 1944 stationiert. Er war dort Verbindungsmann zum deutschen Widerstand. Der Botschafter beim Vatikan, der sich für Verhandlungen mit den USA und Großbritannien für den Fall eines Erfolgs des Attentates vom 20. Juli 1944 bereit hielt, hatte in Rom mit Hartshorne einen seither bezeugten Kontakt.49 Von September bis Anfang November 1944 arbeitete er in 47 Current German Attitudes and the German War Effort, p. 28. Im Original: „Ultimate disorganization can take place only after prolonged frustration and general recognition of the hopelessness of continuing the struggle. Disorganization in crucial areas, such as defense, administration or supply, may be of decisive importance.“ Der gesamte Passus war im Original unterstrichen. 48 Eine Reihe Vorlesungsskripte sind erhalten geblieben und gehören zum Nachlass. 49 Die Quelle dafür ist William Frend, ein britischer ehemaliger Geheimdienstoffizier, der in Rom im Sommer 1944 der Verbindungsmann für Großbritannien mit ähnlichen Aufgaben wie Hartshorne für die USA war. Frend schrieb darüber in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 12. Juli 1997. Sein Artikel begann mit dem Passus: „,Hier spricht Vatikan Nummer 636.ʻ Der Anrufer sprach Englisch, mit einem leichten, aber unverkennbar deutschen Akzent. Unsere Sekretärin Leni Bocchianti (Helene Deckmann) reichte mir den Hörer. Die Nummer wurde wieder-
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London an den Filmanalysen mit, die dem Kulturprogramm des Besatzungsregimes vorausgingen.50 Dann kehrte er für etwa zwei Monate in die USA zurück. Dort war er im Dezember 1944 in Washington beratend für den United States Strategic Bombing Survey tätig, ein soziologisches Forschungsvorhaben der Surveys Analysis Branch des OWI, das von März bis Juli 1945 in Deutschland durchgeführt werden sollte.51 Ab Januar 1945 war EYH wieder in Europa. Von Januar bis Juni 1945 war er German Intelligence Evaluator des United States Group Control Council (USGCC), der Vorläuferinstitution des Office of Military Government in Germany unter dem organisatorischen Dach der Supreme Headquarters Allied Expeditionary Force (SHAEF). Nunmehr war er mit der interrogation deutscher Zivilpersonen betraut. Etwa wirkte er bei der Entnazifizierung von Presseverlagen – nachweislich der Kölner Zeitung – mit, wo die Nazivergangenheit des gesamten Personals (vom Verlagsleiter bis zum Hauspersonal) offen gelegt werden musste, ehe über deren Entlassung oder Wiederbeschäftigung zu entscheiden war. Im Januar und Februar 1945 war er in Paris stationiert und reiste von dort aus häufig nach Deutschland. Im März 1945 siedelte er nach Deutschland über, wo er zunächst von Höchst am Main aus (nunmehr dem Sitz der USGCC) an verschiedene Orte der amerikanischen Zone beordert wurde, um die Aufgaben der Entnazifizierung wahrzunehmen. Im April 1945 nahm er seinen Wohnsitz in Marburg – dem Ort, wo der Philosoph Charles Hartshorne, sein Cousin, studiert hatte. Die vorbildliche Umgestaltung der Marburger Universität ab Mai 1945 war das Werk Hartshornes. Im Juni 1945 wurde er University Control Officer, zunächst bis Herbst 1945 zuständig für die gesamte US-Zone. Er betreute also nicht nur die Wiedereröffnung der Universitäten Marburg und Frankfurt, sondern er bereitete auch die Wiedereröffnung Heidelbergs und Erlangens vor. Zeitweise war er für die Universitäten Gießen und Würzburg sowie die Technische Hochschule Darmstadt ebenfalls zuständig. Ab Oktober 1945 war er, nunmehr University Officer des – unter der Militärregierung neu gegründeten – Landes Großhessen, nur noch für die Universitäten holt, und dann hieß es: ‚Wir haben den Aliierten etwas Wichtiges mitzuteilen, können Sie das entgegennehmen?ʻ Auf diese Mitteilung hatten mein Kollege Edward Y. Hartshorne vom Office of Strategic Services (OSS) und ich schon sehnlichst gewartet. Um 10 Uhr 15 am Morgen dieses 22. Juli …“ William Frend, Ein Beweis der tiefen Uneinigkeit. Ernst von Weizsäcker, die deutsche Botschaft und der englische Geheimdienst im Rom des Jahres 1944, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12. Juli 1997, Nummer 139. Ich danke Manfred Heinemann für den Hinweis. 50 Dazu hatte er bereits 1943 einen Report für das OSS geschrieben, nämlich: E. Y. Hartshorne, The Nazi Use of Films in Psychological Warfare. O. S. S. Research and Analysis Branch, Report No. 113, Feb. 22, 1943, wie er in dem Skript erwähnte, das den Titel trug: Regional Orientation Lecture # 1, The Nazi Propaganda Machine. Introduction. Example: The Nazi Use of Films in Psychological Warfare, p. 3. Hartshorne-Nachlass. 51 Die Materialien dieser Untersuchung bilden heute die Record Group 243 der National Archives in Washington. Die Ergebnisse des USSBS wurden in zwei Berichten im Dezember 1946 und Mai 1947 vorgelegt: The United States Strategic Bombing Survey, The Effects of Strategic Bombing on German Morale, volume 1, Morale Division (May 1947), Washington DC: Government Printing Office 1947 sowie volume II, Morale Division (December 1946), Washington DC: Government Printing Office 1946.
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Hessens zuständig. Ab 1. August 1946 wurde er noch einmal mit einer neuen Aufgabe betraut. Vorübergehend sollte er als Entnazifizierungsoffizier für Bayern zuständig sein, mit dem ausdrücklichen Auftrag, die Krise an der Universität München lösen zu helfen.52 In diesen Jahren der häufigen Orts- und Funktionswechsel entstanden Texte Hartshornes, die seine jeweiligen Aufgaben widerspiegelten und dabei gesellschaftspolitische und soziologische Fragen diskutierten. Zu diesen Texten gehörten die Skripten seiner Lectures am Training Center des OWI, seine Tagebücher53, seine umfangreiche Korrespondenz mit Parsons und außerdem seine Texte über die Probleme der Stunde Null. Dazu zählten seine Analyse der Reaktion auf die Konzentrationslager, seine Arbeitsberichte als Universitätsoffizier und schließlich seine veröffentlichten und unveröffentlichten Betrachtungen über die deutschen Universitäten. Diese Arbeiten sind einzigartige Dokumente zum soziologischen Verständnis des Zusammenbruchs des Naziregimes und seiner Nachwirkungen einschließlich der Probleme der Wiederbelebung der Zivilgesellschaft und der Universität(en) nach Kriegsende. Das Vorlesungsprogramm für PWD-Offiziere am Training Center des OWI sah für EYH fünfzehn Themen vor. Dazu gehörten The Nazi Propaganda Machine, Nazi Undercover Operations Abroad und German Prisoners of War as a Source of Intelligence for Psychological Warfare, und auch Party and State in the Nazi System, Youth and Education in Germany Today, Practice and Purpose of Nazi Concentration Camps (anhand von Material über den November-Pogrom 1938) sowie Germany and Japan: „Aggressor Nations“, ergänzt durch weitere Themen, die wahlweise zu behandeln waren, darunter Germany and the Post-War World und Hitlerʼs Army for the Fourth Front, the S.S.54 Dass die psychologische Kriegführung zum System der Gewalt gehörte, behandelte er nicht nur unter Scope and Methods of Irregular Warfare55, sondern auch unter dem Titel Subversive Activities – nämlich anhand der Unterdrückung jeder individuellen Äußerung durch den deutschen Terrorapparat sowohl im eigenen Land als auch in den besetzten Ländern 52 Die Krise an der Universität München entstand durch die absichtlich mangelhafte Entnazifizierung der Universitätsangehörigen, wie sie durch eine Pressekampagne in den USA im Sommer 1946 bekannt wurde. Die Militärregierung reagierte darauf mit der Entsendung Hartshornes als Entnazifizierungsoffizier im Sommer 1946 und – nach Hartshornes Tod – ab 1947 durch die Einrichtung einer Sociological Section des Office of Military Government Bavaria. Die Einzelheiten der Krise an der Münchner Universität und des Wirkens Hartshornes werden geschildert in James F. Tent, Mission on the Rhine: Denazification and Reeducation in American Occupied Germany, Chicago: Chicago University Press 1982, insbes. pp. 87 – 98. 53 Die Tagebücher der Zeitraums vom 5. Mai bis 24. Oktober 1945, ergänzt durch den Arbeitsbericht für den Zeitraum 11. April bis 6. Mai 1945 und Briefe an Hartshornes Frau Elsa zwischen 15. April 1945 und 13. Mai 1946, liegen im Druck vor: James F. Tent (ed.), Academic Proconsul: Harvard Sociologist Edward Y. Hartshorne and the Reopening of German Universities, 1945 – 1946. His Personal Account. Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 1998. 54 Siehe: Memorandum Robert B. McLeod to Edward Y. Hartshorne, Reading materials for orientation with respect to „Psychological Warfare“, March 11, 1943, p. 6: Titles of Mr. Hartshorneʼs Lectures. Hartshorne-Nachlass. 55 Das Vorlesungsskript trug das Datum 17. September 1943.
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und außerdem durch die „Fünfte Kolonne“ im Ausland. Zu seinen Lehrmaterialien gehörte ein handschriftliches Schaubild Police Control and Espionage, das von der Doppelspitze Hitler-Himmler her die NSDAP-Organe, vor allem die SS und die Stabsstellen der Ordnungspolizei und der Sicherheitspolizei, die im In- und Ausland tätig waren, als einen riesigen Herrschaftsapparat veranschaulichte. Zum Auslandssicherheitsdienst notierte er sich: „Fahndet nach Regimekritik, Verrat etc. [und] meldet die Fälle an die Gestapo“.56 Bei dem Themenpunkt der Propaganda des Propagandaministeriums war notiert: „Joseph Goebbels, der hinkende Teufel, schlau und ohne irgendwelche moralischen Skrupel, Verachtung der Massen. Ein Ästhet, der seine Erfolglosigkeit als Schriftsteller kompensiert, indem er die Juden für sein Versagen verantwortlich macht“.57 Als der Sieg über Nazideutschland absehbar war, hätte EYH nach Cambridge zurückkehren können; er hätte seine Universitätskarriere fortsetzen können. Aber er entschied sich für eine Tätigkeit im Deutschland der Stunde Null. Seine Tagebücher des Winters 1944 – 1945 gaben Auskunft, warum und wann er sich für die Tätigkeit als Universitätsoffizier entschied. Der Eintrag für den 15. Oktober 1944, einen Sonntag, lautete: „Kam vom PX zurück und las im German Handbook das Kapitel über das Bildungswesen. Viel davon klingt wie mein Zeug, allerdings besser geschrieben, mit mehr Sinn für die Perspektive“.58 Am 16. Oktober notierte er sich: „Ich bin jetzt am Tiefpunkt meines Pessimismus über ein Leben im besetzten Deutschland angekommen. Ich wünschte, ich fände ehrenhaft einen Ausweg aus dem Dilemma hinsichtlich meiner zukünftigen Tätigkeit“.59 Und am 8. Januar 1945 (wieder in London) notierte er, dass der Chef des Auslandsstabes des OWI Michael Balfour aus Paris zurückgekommen sei, um ihm, EYH, eine Funktion bei der Besetzung Deutschlands anzubieten: „Mein Job wäre es, a.) spezielle Lageberichte zu schreiben und … mit den Verhörspezialisten wie Padover und Gittler Kontakt zu halten, b.) einige Fortbildungsveranstaltungen für die USGCC-Leute in Rambouillet abzuhalten“.60 Als er im Februar 1945, nun bereits in Deutschland tätig, tagsüber 56 Im Original: „Auslandssicherheitsdienst. (Watches disaffection, treason etc. turns over cases to Gestapo).“ Hartshorne-Nachlass. 57 Der Passus im Original: „General Propaganda (Black and White). Directed by PROMI (Propaganda Ministerium) deaded [sic] by Joseph Goebbels, der hinkende Teufel, clever and utterly without moral scruples, contempt for masses. An aesthete: disappointed by failure to make good as creative writer and blames Jews for failure.“ Hartshorne-Nachlass. 58 Im Original: „Returned to lounge + studied German Handbook, Ch. on Education. A lot of my stuff there, but better written, with more sense of perspective.“ Sunday, Oct. 15 (Er war wenige Tage vorher aus einem Krankenhaus in London entlassen worden.) Hartshorne-Nachlass. Das Handbook for Military Government for Germany, ein – in der (vorläufigen) Fassung des September 1944 – über hundertseitiges Werk, gab detaillierte Anweisungen, wie hinsichtlich der insgesamt zwanzig gesellschaftlichen Lebensbereiche in Deutschland zu verfahren war, wenn die amerikanischen Truppen ein Gebiet besetzten und dort ein Detachment der Militärregierung einrichteten. Dazu: Uta Gerhardt, Soziologie der Stunde Null, insbes. Kap. II, pp. 71 – 137. Zu den Bildungseinrichtungen siehe dort pp. 101 – 105. 59 Im Original: „I seem to have reached the lowest ebb yet in my pessimism about life in occupied Germany. I wish I could find an honorable escape from that assignment.“ Monday Oct 16. Hartshorne-Nachlass. 60 Die Textstelle im Original: „Michael Balfour … just back from Paris where he has apparently
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mit den Befragungen beschäftigt war, die zur Entnazifizierung gehörten, dachte er nachts darüber nach, wie die Life-History-Studie um die Lebensgeschichten von Nazigegnern, die den Nationalsozialismus überlebt hatten, erweitert werden könne: „Wir müssen die Lebensgeschichten aller dieser Anti-Nazis systematisch sammeln und dann einen Forschungsbericht schreiben, der in die Kapitel unterteilt ist: ‚Wer sind sie?ʻ, ‚Wie sie ihre Anti-Nazi-Tendenzen entwickeln konntenʻ, ‚Was sie vor 1937 warenʻ, ‚Wie sie das Hitler-Regime überlebtenʻ und ‚Was sie jetzt tun können und was nichtʻ.“61 Die Korrespondenz mit Parsons drehte sich immer wieder auch um die Frage, ob nicht eine baldige Rückkehr an die Universität sinnvoll wäre, was zudem Parsons eindringlich empfahl. Zwar verlor Hartshorne die Soziologie nicht aus den Augen, aber er widmete sich bis zu seinem Lebensende den Problemen der Stunde Null. Am 11. April 1944 berichtete er aus Italien, er habe eine Übersetzung Max Webers „,Parlamento e Governo nel nuovo ordimento della Germaniaʻ (1919)“ in einem Buchladen gefunden: „Es ist ein schöner Gedanke (wie der New Yorker sagen würde), dass M. W. eine Rolle spielt bei der Entstehung demokratischer Ideen im Nachkriegs-Italien und auch in Deutschland“.62 Er berichtete, dass sein Stab von been partly [ein Wort unleserlich] of effort to get me into intelligence there, with him and Gurfein. My job would be (a) to write special intelligence reports + generally supervise P/W and German Civilian reports, under Janowitz + Lt. Lerner (NYU) respectively, which would involve ‚going forwardʻ + keeping in touch with interrogators like Padover + Gittler, + (b) doing some instructing to US control teams concentrated at Rambouillet. I mentioned my control team assignment possibility [zwei Worte unleserlich] mean doing some training [ein Wort unleserlich] in England or Belgium. Also Bombing Survey. Latter would seem hard to work on directly. No objection to hopping off into a control team at proper time.“ Monday, Jan 8. Hartshorne-Nachlass. Die namentlich erwähnten Personen: Lieutenant Colonel Murray I. Gurfein war der Chef der Psychological Warfare Division (PWD), Morris Janowitz war ein Soziologe, der zur PWD gehörte und später an einer Gesamtdarstellung der psychologischen Kriegführung mitwirkte, Daniel Lerner war ein Politologe der New York University, der unter anderem eine Geschichte der PWD des Zeitraums Juni 1944 – Mai 1945 schrieb, Saul Padover war ein Verfassungshistoriker, der über seine Arbeit im PWD-Team in einem Buch 1946 berichtete, und Lou F. Gittler war ein Psychologe, der im Jahr 1941 am Kompendium des National Morale Committee über die psychologische Kriegführung der Wehrmacht mitgearbeitet hatte. Siehe: William E. Daugherty in collaboration with Morris Janowitz, A Psychological Warfare Casebook, Baltimore MD: Johns Hopkins University Operations Research Office 1958; Daniel Lerner, Psychological Warfare Against Nazi Germany: The Sykewar Campaign, D-Day to VEDay, New York: Stewart 1949; Saul Padover, Experiment in Germany. The Story of an American Intelligence Officer, New York: Duell, Sloane and Pearce 1946; German Psychological Warfare: Survey and Bibliography. Edited by Ladislas Farago, L. F. Gittler in cooperation of Gordon W. Allport, John G. Beebe-Center, Edwin G. Boring, Floyd L. Ruch, Stanley S. Stevens, New York: National Morale Committee 1941. 61 Im Original: „We must do a systematic collection of life-histories from all the Anti-Nazis + then write up a report divided into chapters on ‚Who are they?ʻ ‚How they happened to develop anti-Nazi tendencies,ʻ ‚What they were before 1937ʻ, ‚How they survived the Hitler regimeʻ and ‚What they can or cannot do nowʻ.“ Monday, Feb 17, 1945. Hartshorne-Nachlass. 62 Im Original: „It is nice to think (as the New Yorker would say) that M.W. played a role in the evolution of democratic ideas in post-war Italy as well as in Germany.“ Brief Hartshorne an Parsons, 11. April 1944. Parsons-Nachlass, HUG(FP) – 15.2, Box 11.
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zwölf Mitarbeitern auch eine Art Life-History-Interviews mit kooperationsbereiten Kriegsgefangenen durchführe, woraus interessante Datenmaterialien entstünden, die allerdings vor Ort nicht ausgewertet werden könnten.63 Am 19. Juli 1944 berichtete Parsons an Hartshorne von der Konferenzserie Germany After the War, die der Psychiater Richard Brickner organisiert hatte und wo die Kulturanthropologin Margaret Mead ein Arbeitspapier über die ambivalente Struktur des deutschen Nationalcharakters vorlegte.64 Am 28. Dezember 1944 ließ Hartshorne wissen, dass er eines der vier PWD-Teams als Chief, Plans and Policy leiten werde, die demnächst hinter der kämpfenden Truppe in Deutschland eingesetzt würden. Am 27. März teilte er Parsons mit, er habe den Report der Brickner-Konferenz weitergegeben: „Sie würden erstaunt sein, auf wieviel Interesse das Brickner-Material bei unseren Mitarbeitern und Arbeitskollegen gestoßen ist. Es scheint als ob der Krieg endlich dazu geführt hat, dass [bei Amerikanern und Briten] ein gemeinsames Verständnis des deutschen Problems sich entwickelt“.65 Außerdem bat er Parsons, ihm durch Gordon Allport sechs Kopien des Berichts Bruno Bettelheims über die Konzentrationslager aus dem Journal of Abnormal and Social Psychology zu besorgen.66 Unter dem Datum des 21. Juni 1945 entstand ein (nicht namentlich gezeichneter) Bericht über eine Befragung von hundert Deutschen, denen die Broschüre KZ
63 Eine Textstelle in demselben Brief: „The detailed interview with selected P/W is quite feasible, and we are doing it, but I feel we are overlooking the wider possibilities of our position in terms of studying German personality and character structure. For one thing, der autoritäre Mensch is the god-damnedest perfect sociological guinea pig you could imagine. You march fifty Soldaten into a room, seat them at tables, pass out a questionnaire, give them a short speech on what to do and then bellow ‚Ausfüllen!ʻ and lo, it is done. Clearly this is an opportunity not to be missed. Future historians will no doubt have something to say about ‚Sociologyʼs Debt to Totalitarianismʻ. (Unanticipated Consequences Dept.)“ 64 Brief, Parsons an Hartshorne, 19 July 1944. Parsons-Nachlass HUG(FP) – 15.2, Box 11. Das Memorandum Meads wurde veröffentlicht im (nach Kriegsende zugänglichen) Konferenzbericht: Germany After the War. Round Table – 1945, American Journal of Orthopsychiatry, vol. 15, 1945, pp. 381 – 441, dort pp. 386 – 395. Siehe dazu: Uta Gerhardt, A Hidden Agenda of Recovery: The Psychiatric Conceptualization of Re-education for Germany in the United States during World War II, German History, vol. 14, 1996, pp. 297 – 324 sowie Gerhardt, „… applying psychiatric therapy to Germany“: Die Denkfigur der Reeducation in den amerikanischen Sozialwissenschaften und der Besatzungskonzeption, in: Gerhardt, Denken der Demokratie. Die Soziologie im atlantischen Transfer des Besatzungsregimes (Abhandlung I), Stuttgart: Steiner 2007, pp. 33 – 97. 65 Die Briefstelle im Original: „The Brickner report which you sent me has now arrived and I have been able to forward it to McGranahan as we now have a copy ourselves. It would interest you to see the amount of stimulation the Brickner materials have given to our staff and collaborators. It really seems at this stage in the war that we are finally able to achieve a certain integrated perspective with respect to the German problem, and it is most encouraging to see the combined efforts of British and Americans, officials and laymen, all flowing together in the same direction.“ Brief, Hartshorne an Parsons, 27 March 1945. Parsons-Nachlass HUG(FP) – 15.2, Box 11. 66 Es war Bruno Bettelheim, Individual and Mass Behavior in Extreme Situations, Journal of Abnormal and Social Psychology, vol. 38, 1943, pp. 417 – 452.
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Bildbericht aus fünf Konzentrationslagern gezeigt worden war.67 Der Bericht schilderte „nicht nur die Reaktionen speziell auf die KZ-Broschüre, sondern darüber hinaus die Einstellungen der deutschen Bevölkerung zum Problem der Gräuel“.68 Die fünf Themen des Berichts und insbesondere der Anhang, der die Interviewmaterialien dokumentierte, verwiesen auf Hartshorne entweder als den Verfasser oder den Bearbeiter. Die folgenden Befunde wurden berichtet: 1.) Die Aufklärungskampagne der Alliierten über die Konzentrationslager erreichte weite Kreise der Bevölkerung, so dass die Wahrheit über die KZs nun bekannt sei. 2.) Die Schuld an den Gräueln gebe man der NSDAP-Führung und der SS, und die einfachen Deutschen sähen für sich keine Schuld: „Nur drei aus siebzig Befragten sahen irgendeine Schuld bei den Deutschen insgesamt.“69 3.) Viele seien bereit, die Broschüre KZ zu lesen, und in Kaiserlautern und Heidelberg, wo die Broschüre durch Beauftragte der Militärregierung für 50 Pfennig in Lebensmittelgeschäften und Buchläden angeboten wurde, seien die 2000 Exemplare nach einer Stunde ausverkauft gewesen. Allerdings: „Es ist auffallend, wie selten die Leser der KZ-Broschüre sich spontan erboten, bei der Rehabilitation der Opfer der Konzentrationslager mitzuhelfen“.70 4.) Viele Nazigegner kritisierten die Broschüre, denn sie mache keinen Unterschied zwischen den Nazis und den Anti-Nazis. Viele Kritiker sähen strategische Absichten hinter der Aufklärung über die Konzentrationslager, und sie fürchteten sogar, die Russen könnten sich diese Aufklärung zunutze machen, um „die deutschen Massen“ (the German masses) zu beeinflussen. 5.) Dass sie vor dem Einmarsch der Alliierten von den Gräueln gewusst hätten, mochten wenige eingestehen: „Als beispielsweise eine Gruppe Anti-Nazis der Universität Heidelberg gefragt wurde, wieviel das deutsche Volk über die Konzentrationslager vor 1939 gewusst habe, antworteten sie, dass ‚der Durchschnittsbürger zwar wusste, dass die Konzentrationslager existierten, aber keine klare Vorstellung von den Lebensbedingungen in diesen Lagern gehabt habeʻ.“71 Der Hauptteil des Berichts schloss mit der Feststellung ab: 67 Supreme Headquarters Allied Expeditionary Force, Psychological Warfare Division, Intelligence Section, 319.1 (InT), 21 June 1945, SUBJECT: Atrocities: A Study of German Reactions. Dass Hartshorne der Autor war, ist nicht zweifelsfrei festzustellen. Ein Exemplar der Broschüre KZ Bildbericht aus fünf Konzentrationslagern ist – mit der handschriftlichen Aufschrift Draft (Entwurfsfassung) – im Hartshorne-Nachlass vorhanden. 68 Im Original: „The … report attempts to set forth not only reactions to the specific KZ booklet, but the broader attitudes of the German population to the problem of atrocities. It is based on previous reports of PWD field interrogators as well as the interrogations carried out in connection with the pretest of the KZ booklet in the cities of Cologne, Kassel, Erfurt, Koblenz, Kaiserslautern, Marburg, Heidelberg, and a number of small villages.“ (p. 1) 69 Ibid., p. 3. Im Original: „[O]ut of the total 70 German civilians interrogated in connection with the KZ booklet …, only 3 ascribed some element of guilt to the German people as a whole.“ Dazu wurde eine Interviewstelle zitiert: „You Americans can hardly understand the conditions under which we were living. It was as if all of Germany were a concentration camp and we were occupied by a foreign power. We were unable to do anything to oppose them. What would one person do against that powerful organization?“ 70 Ibid., p. 6. Im Original: „It is particularly significant to note how seldom readers of the KZ booklet spontaneously offered to help rehabilitate the inmates of concentration camps.“ 71 Ibid., pp. 9 – 10. Im Original: „When, for example, a group of anti-Nazi university people in Heidelberg were asked how much the German people knew about concentration camps before
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„Psychologische Verdrängung, d. h. der Wunsch der meisten Deutschen, die unerfreulichen Seiten des Nationalsozialismus nicht zur Kenntnis zu nehmen, schuf ein deutliches Vakuum“.72 Die analytischen Aussagen wurden sodann in einem ausführlichen Anhang durch Zitate und Paraphrasierungen belegt, die aus den Interviews mit Heidelberger Anti-Nazis, mit dem Rektor der Universität Marburg, einem unpolitischen Zeitungsverleger, einem vierzigjährigen Manager, einer dreiunddreißigjährigen Halbjüdin aus Marburg73 sowie einer einundzwanzigjährigen Krankenschwester stammten, die eine überzeugte Nationalsozialistin gewesen war – was im Stil der Life-History-Materialien dargeboten wurde. Ein Text aus dem Jahr 1946 dürfte ebenfalls zumindest teilweise aus der Feder Hartshornes stammen. Das Memorandum A Report on Our Problem in Germany74 hatte die sechs Teile The German Culture, The Channels of German Culture, The Present State of the German Mind, The Present Situation, Opportunities and Tasks und Recommendations. Die Befunde, die in diesen sechs Teilen mitgeteilt wurden: 1.) Die deutsche Kultur war gefährlich, sofern sie jene utopistisch-sentimentalen Züge enthielt, die die Nazis für sich hatten nutzen können, und sie war pathologisch, wo alle Nachbarn als feindlich angesehen wurden, denn das Denken der Deutschen und die Organisation der deutschen Gesellschaft hatten „für Bismarck, Kaiser Wilhelm und Hitler [ermöglicht], Krieg zu führen“.75 2.) Die Familie, die Schule und die Kirche waren die Lernmilieus, wo diese Art Kultur tradiert wurde. 3.) Das Denken der Deutschen (The Present State of the German Mind) war von der Demokratie noch weit entfernt, denn der Autoritarismus schien ungebrochen, und die Haltung gegenüber der Besatzungsmacht bestand aus Unterwürfigkeit, gepaart mit der Hoffnung, im Anschluss an den Abzug der Alliierten ein undemokratisches Regime wieder zu errichten: „Dieser Wunsch nach Diktatur würde sich wieder erfüllen, wenn wir es zulassen“.76 Aber es gebe auch atypische Deutsche, und auf ihnen ruhten die Hoffnungen der Alliierten für eine langfristig stabile Demokratie. 4.) Ein Jahr nach Kriegsende war die deutsche Familie kein Hort der Toleranz; im politischen Leben herrschten weithin nationalistische Vorstellungen; die Kirchen waren autoritär; aber die Zeitungen (Information Media) bildeten einen Lichtblick: „Insgesamt schüren die Informationsmedien nun nicht mehr den Hass gegen die Nachbarn Deutschlands,
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1939, they answered that the ‚average person knew that concentration camps existed but had no clear idea of the conditions within these camps.ʻ“ Ibid., p. 10. Im Original: „Psychological repression, that is, the desire to avoid knowing the unacceptable aspects of National Socialism on the part of most Germans, helped to maintain the vacuum.“ Ibid., p. 23, im Original: „Thirty-three Years Old Mischling at Marburg“. A Report on Our Problem in Germany (unterzeichnet durch Alfred Tooms, Chief, Intelligence Branch, Office of the Director of Information Control), National Archives, Record Group 260, Office of Military Government for Germany, Information Control Division, Division Headquarters, Information Services Reports and Historical Office 1945 – 1949, Box 69, Folder: History. Auf dem Deckblatt ist handschriftlich 1 July 1946 vermerkt. Ibid., p. 7. Im Original: „It is this thinking and this organization which made it possible for Bismarck, Kaiser Wilhelm and Hitler to direct wars.“ Ibid., p. 17. Im Original: „This desire for dictatorship would eventually become reality if we permit it to.“
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und sie plädieren auch nicht mehr für eine Zukunft der autoritären Gesellschaft in Deutschland“.77 5.) Zu den Opportunities and Tasks gehöre, dass die Militärregierung weiterhin demokratische Persönlichkeiten in die einflussreichen Positionen einsetze und deren Arbeit unterstütze. Aber: „Realistischerweise … muss man sich eingestehen, dass man den Krieg der Deutschen gegen die ganze Welt nicht beendet – auch wenn man die Grenzen verschiebt, die Industrie stilllegt und sogar Blutvergießen riskiert – wenn man nicht den deutschen Charakter und die deutsche Kultur verändert“.78 6.) Daraus ergebe sich gesellschaftspolitisch, dass die Familie, die gesellschaftliche Stellung der Frau, die Schule, die Jugendorganisationen, die politischen Parteien, die Wirtschaft, die Kirche und das kulturelle Leben insgesamt durch bewusste Unterstützung der demokratischen Elemente verändert werden müssten. Dazu zähle auch, dass das amerikanische Kriegsministerium ein Programm für die Beschaffung von Büchern und Filmen über die demokratische Lebensführung auflege – ein Programm, an dem bekanntlich Hartshorne durch die Einrichtung des International Reading Room in Marburg, durch die Einwerbung von Bücherspenden in den USA für die Universität Marburg und durch die Schaffung des Forum Academicum in Frankfurt und Darmstadt – um einiges zu nennen – teilhatte. Am 26. August 1946 nahm er an einer Tagung über Methodenprobleme teil, die in Alpach/Tirol stattfand. Am 28. August 1946 wurde er bei seiner Rückreise nach Marburg auf der Autobahn nahe Nürnberg durch Schüsse, die aus einem fahrenden Auto abgefeuert wurden, tödlich verletzt. Er starb, ohne das Bewusstsein wieder zu erlangen, am 30. August 1946 in einem Militärhospital in Nürnberg. Zusammenfassend: Hartshorne war ein Soziologe, der über seine Analysen der Universität hinaus auch eine Handlungstheorie des Nationalsozialismus – einer charismatischen Herrschaft à la Weber – entwarf. Er sah im Denken und in der Mentalität – dem Nazi Dream of Victory – die Ermöglichungsgrundlage für die verbrecherische Diktatur. Er analysierte die Propaganda als einen wichtigen Einfluss auf das Handeln, sowohl in Deutschland als auch den USA. Er untersuchte die Lebensgeschichten von Nicht-Nazis und auch Nazis für die Zeit nach 1933. Er befasste sich, als er in Deutschland Universitätsoffizier war, mit dem Wissen der Deutschen über die Verbrechen in den Konzentrationslagern. 2. EYH UND DIE DEUTSCHE UNIVERSITÄT NACH 1933 UND 1945 Nach dem Pogrom des November 1938 schrieb Parsons für die Radcliffe News, das Mitteilungsblatt des mit der Harvard-Universität verbundenen Radcliffe College, einen Beitrag über die Zerstörung der Universität und die Zersetzung der Kirche(n)
77 Ibid., p. 23. Im Original: „In all, the media of information no longer preach hatred of Germanyʼs neighbors, nor do they encourage the preservation of an authoritarian society.“ 78 Ibid., p. 25. Im Original: „[B]eing … realistic, we cannot expect to end the German war against the world – no matter how many boundaries are changed, how much industry is destroyed or how much blood is spilled – unless we change the German character and the German culture.“
2. EYH und die deutsche Universität nach 1933 und 1945
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als Institutionen der modernen Gesellschaft in Nazideutschland.79 Nazis Destroy Learning, Challenge Religion hielt fest, dass sowohl die Wissenschaft, also das problemorientierte Denken, als auch die Wissenschaftler, also die verantwortungsbewussten Denker, nicht geduldet wurden: „Der Nationalsozialismus bekämpft speziell mit allen Mitteln den Geist der Wissenschaft und die große akademische Tradition und allgemein die große kulturelle und institutionelle Tradition, woraus diese sich herleiten“.80 Im Spätsommer 1939 schrieb er einen weiteren – zu seinen Lebzeiten unveröffentlichten – Essay mit dem Arbeitstitel Academic Freedom (1939).81 Er suchte zu begründen, was der Rückfall in atavistische anomische Zwangsstrukturen in Deutschland bedeutete, der die Tradition der Universität auslöschte. Seine These: Die Errungenschaften der westlichen Kultur seit der Renaissance waren in Gefahr. Drei entscheidende Entwicklungen der abendländischen Welt wurden negiert. Erstens hatten sich seit der Renaissance funktional spezifische, akademische Berufe zunächst im Umkreis der traditionellen Fakultäten – Theologie, Jura und Medizin – herausgebildet. Das wissenschaftlich begründete Wissen wurde in Berufen mit einer akademischen Ausbildung – den professions – zur Grundlage der unpersönlich geltenden Autorität. Dies wurde nun zerstört. Die disinterestedness (also das Handeln im Interesse und zum Wohl eines Patienten oder Klienten) wurde unter den Nazis be- oder verhindert. Stattdessen sollte das Interesse oder das Heil des Staates oder des Volkes oder des Volkstums handlungsbestimmend sein. Der Sachverstand hatte keine gesellschaftliche Heimstatt mehr. Zweitens war die Universität seit der Renaissance auch Garant einer nicht gesinnungsethisch legitimierten Erkenntnis. Die Freiheit der Forschung ermöglichte den wissenschaftlichen Fortschritt, weil und wo das problemorientierte Denken vorherrschte, das die scientific community prägte. Dies war nun zerstört. Statt der Forschung, die sich durch Denken ihre Fragestellung erarbeitete, diktierte nun der Staat, welche Erkenntnisse erlaubt waren. Durch staatlichen Oktroi wurde festgelegt, welches Wissen in Lehrveranstaltungen vermittelt und in Publikationen verbreitet werden durfte. Drittens hatte sich die kollegiale Struktur der Fakultäten historisch entwickelt. Die kollegiale Verfasstheit der Universität bedeutete, dass die „Objektivität“ der Erkenntnis – im Sinne Max Webers – den Vorrang vor etwaigen Persönlichkeitseigenschaften oder Personmerkmalen der Wissenschaftler hatte. Dies galt nun nicht mehr. Die Merkmale der Person – nämlich ob man „Arier“ oder „zuverlässig“ im Sinne des Regimes war – waren ausschlaggebend sogar für die Möglichkeit, überhaupt wissenschaftlich arbeiten zu dürfen. Hartshornes The German Universities and National Socialism war den zwei Parsonsʼschen Texten vorausgegangen. Er hatte durch seine genaue Berichterstat-
79 Talcott Parsons, Nazis Destroy Learning, Challenge Religion (ursprünglich 1938), in: Talcott Parsons on National Socialism, pp. 81 – 83. 80 Ibid., p. 83. Im Original: „National Socialism is deeply hostile, in particular to the spirit of science and the great academic tradition, and more generally to the whole great cultural and institutional tradition of which these are an integral part.“ 81 Parsons, Academic Freedom (1939), in: Talcott Parsons on National Socialism, pp. 85 – 100.
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tung über die Geschehnisse in Deutschland einen Rahmen für das Verdikt Parsonsʼ geschaffen. Hartshornes Buch zeichnete ein Bild der nationalsozialistischen Umgestaltung der Universitäten, dem Parsons folgte. Um zu verstehen, inwiefern die anomische Gesellschaft im Sinne Parsonsʼ im Nationalsozialismus auf die Universitäten übergriff, muss man Hartshornes Darstellung im einzelnen schildern. Das Buch unterschied fünf Ebenen der Umgestaltung der Universitäten durch den nationalsozialistischen Staat. Die erste Ebene war eine Verwaltungsreform (administrative reform), die die hierarchische Organisation schuf, die unter dem Führerprinzip stand und der Kontrolle des nationalsozialistischen Erziehungsministeriums unterstand. Die zweite Ebene waren wirtschaftliche Maßnahmen, wozu die Politik der Verminderung der Zahl der Studenten und der Dozentenstellen zählte. Eine dritte Ebene war die militärische Indienstnahme der Universität – durch ihre Verbindung mit dem Arbeitsdienst und durch ihre Öffnung für die SA und die SS, die ihre (22 Wochenstunden umfassenden) Pflichtprogramme der körperlichen Ertüchtigung abhalten konnten. Die vierte Ebene – Eugenik – bedeutete, dass die Juden systematisch vertrieben wurden und dass die Dozenten und die Studenten so genannte Ariernachweise erbringen mussten. Die fünfte Ebene war die ideologische Reform, wobei die Lehrpläne und die Lehrinhalte auf die nationalsozialistische Weltanschauung festgelegt wurden.82 Die Verwaltungsreform, so zeigte er im einzelnen, zerstörte die Selbstverwaltung, die traditionell zwei Säulen hatte, nämlich die Universitätsverwaltung auf der einen und die akademische Selbstverwaltung bei Forschung und Lehre auf der anderen Seite. Diese duale Struktur wurde zerstört. Das nationalsozialistische Regime brach vollständig mit der Tradition der Selbstverwaltung und organisierte stattdessen hierarchisch eine Hochschule nach dem Führerprinzip.83 Die akademische Atmosphäre, so Hartshorne, war seit 1919 bereits durch den systematischen Boykott 82 Hartshorne erläuterte die fünf Ebenen der Umgestaltung am Ende des ersten Kapitels zusammenfassend: „Each part of the national reform programme had its specific effect upon the universities. As part of the Administrative Reform their administration was centralized in accordance with the Leadership Principle. As part of the Economic Reform the entry of students to the institutions of higher learning was reduced, new standards were set up to eliminate the unfit, and the ranks of the teaching classes were drastically cut by the new Civil Service Law. As part of the Military Reform the youth of the land were sent back to military service and taught to revere time-honored ideals, and the university curriculum was permeated with the new spirit. As part of the Eugenic Reform the entire system of educational institutions was reorganized to serve as one huge selective agency for the training of a new ‚raceʻ and especially of a new class of leaders of the state, to replace the nobility and the middle classes, which had in many respects (according to the National Socialists) forfeited their social privileges by having failed to perform their political function. Finally, as part of the Ideological Reform the centres of scientific study as well as the schools were made to lend the weight of their authority in the great campaign to build up a new faith, and their technical knowledge to help mitigate the nationʼs need.“ Hartshorne, The German Universities and National Socialism, p. 36. 83 Hartshornes Quelle zur traditionellen Struktur der Universität war: Carl Heinrich Becker, Vom Wesen der deutschen Universität, Leipzig: Quelle und Meyer 1925. Becker war Preußischer Minister für Wissenschaft, Kultus und Unterricht bis 1932. Hartshornes Quelle zur nationalsozialistischen Umgestaltung war Arnold Köttgen, Deutsches Universitätsrecht, Tübingen: Mohr 1933.
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der radikalen Studenten gegen die liberalen und die jüdischen Hochschullehrer in ihrer Substanz bedroht gewesen. In dem Klima der Verächtlichmachung und der Hetze waren die angefeindeten Hochschullehrer weithin ohne den Schutz ihrer Fakultäten geblieben84, und nun wurden sie offen verfolgt und von den Universitäten vertrieben.85 Die Universität konnte ihre Autonomie nicht bewahren. Der nationalsozialistische Staat machte sich die Bedrängnis der Institution aus der Zeit der Weimarer Republik zunutze. Das Bildungswesen, so Hartshorne, solle nun funktionieren wie die Reichspost.86 Es galt allein die Weisungsbefugnis des Erziehungsministeriums, das den Universitäten befahl und die Fakultäten maßregelte.87 Die Dozenten mussten durch den NS-Dozentenbund, eine NSDAP-Organisation, und die Studenten (nachdem alle anderen studentischen Verbände verboten waren) durch den NS-Studentenbund vertreten werden. Beides waren Erfüllungsgehilfen des Regimes. Die angestammten Fakultätsrechte verblieben lediglich als das schmückende Beiwerk der autoritären Gängelung.88 Die Dozenten wurden durch das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ im Sinne des Regimes ausgesiebt. Wer nicht entlassen oder zwangs84 Dies veranschaulichen die Schilderungen der Störaktionen der (radikalen) Studenten und ihrer Provokation der Fakultäten und der Kultusministerien bei Helmut Heiber, Universität unterm Hakenkreuz, Teil I: Der Professor im Dritten Reich. Bilder aus der akademischen Provinz, München: K. G. Saur 1991, pp. 41 – 51 sowie die „Fälle“ der von ihren Fakultäten desavouierten Professoren Gerhard Kessler (eines Soziologen) und Emil Gumbel (eines Statistikers) sowie anderer, wobei die Fakultäten dem Appell an das nationale Empfinden und der Hetze gegen die angegriffenen Kollegen letztlich nicht standzuhalten vermochten, pp. 52 – 131. 85 Aus der Flut der Literatur zum Exil der Wissenschaften seien genannt: Helge Pross, Die deutsche akademische Emigration in die Vereinigten Staaten, 1933 – 1941, Berlin: Colloquium 1955, Bernard Bailyn und Donald Fleming (eds.), The Intellectual Migration: Europe and America, 1930 – 1960, Cambridge MA: Harvard University Press 1969, Horst Möller, Exodus der Kultur: Schriftsteller, Wissenschaftler und Künstler in der Emigration nach 1933, München: Beck 1983, Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933, herausgegeben vom Institut für Zeitgeschichte München und der Research Foundation for Jewish Immigration New York unter der Gesamtleitung von Werner Röder, 2 Bde, München: Saur 1983. 86 The German Universities and National Socialism, p. 71. 87 Dass dies allerdings nicht reibungslos funktionierte, sondern eine anomische Situation der Konkurrenz zwischen nationalsozialistischen Instanzen und Stellen heraufbeschwor, die sich gegenseitig konterkarierten, schildert Michael Grüttner, Die deutschen Universitäten unter dem Hakenkreuz, in: John Connelly und Michael Grüttner (Hrsg.), Zwischen Autonomie und Anpassung: Universitäten in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts, Paderborn etc.: Schöningh 2003, pp. 67 – 100, insbes. pp. 77 – 87. 88 Hartshorne: „The representative institutions of the dominant social groups, in this case the faculties, have been abolished or retained only for ornamental or possibly instrumental purposes. The ‚great massesʻ, on the other hand, the students, have superficially been elevated to a position of greater political prestige: their ‚leaderʻ stands on a level with the ‚leaderʻ of the teaching-staff, next to the Rector and through him responsible to the Minister. … The Ministry, on the other hand, persists in its efforts to recall the students to their work, to enforce quiet and order in the university and ensure a satisfactory output of scientific workers for the nationʼs research laboratories. In the end it is possible that the demands of the State will be met, but the claims of the students will thereby be rejected. The university may easily become as much a state institution as the post office …“. Ibid., pp. 69, 70 – 71.
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emeritiert war, wie EYH berichtete, konnte durch Versetzung aus seinem angestammten Institut vertrieben werden: „Zusätzlich zu den über tausend Entlassungen gibt es Hunderte Versetzungen an eine andere Universität. Vorhandene ‚Schulenbildungʻ wird bewusst aufgebrochen oder missachtet. Bekannte Persönlichkeiten werden von einem großen Universitätszentrum an eine Provinzuniversität oder aus einer angesehenen in eine bedeutungslose Fakultät versetzt. Manche Universitätslehrer werden in einem einzigen Jahr dreimal an verschiedene Universitäten beordert …“.89 Ein Professor, der dies mitmache, sei kein akademischer Lehrer im Sinne Wilhelm von Humboldts mehr, sondern ein in Existenzangst lebender und durch Opportunismus gefügiger Diener der neuen Herren.90 Der Hochschullehrer des Nationalsozialismus habe jedenfalls mit dem Forscher und Denker nichts mehr zu tun, wie es Max Weber in Wissenschaft als Beruf geschildert hatte: „In einer universitas litterarum, die keinen Respekt mehr vor dem geschriebenen oder gesprochenen Wort hat und wahrhaft zu einer Karikatur der alten civitas academica geworden ist, wo nun die Einsamkeit des Gelehrten sogar als ein politisches Fehlverhalten verteufelt wird, … hat die altehrwürdige ‚Berufungʻ zur Wissenschaft, nämlich die ‚Wissenschaft als Berufʻ, ihren Sinn vollständig verloren“. 91 Die Eingriffe im Namen der nationalen Erneuerung betrafen auch die Studenten, wie Hartshorne nachwies. Die Zahl der Studienplätze wurde ab dem Sommersemester 1933 drastisch gesenkt92, nachdem sie seit 1928 bereits leicht gesun89 Ibid., pp. 100 – 101. Im Original: „Besides over a thousand dismissals there have been hundreds of ‚transferralsʻ (Versetzungen) from one university to another. Former ‚schoolsʻ were deliberately broken up or disregarded. Outstanding men in large university centres were removed to provincial institutions, or from an illustrious to a mediocre faculty. Occasionally, a man would have to teach in three different universities in the same year …“. 90 Hartshorne: „Uncertain of the duration of his appointment and even of his salary; continually on his guard before non-intellectual critics; competing with glamorous, quasi-militaristic extracurricular appeals for the interest of his students; lecturing before rows of brown-shirts, flanked in his seminars and informal discussion groups by zealous young Nazi teachers; in his freetime called upon to participate in official functions, and to read official papers and periodicals; harassed by the thought of his banished and often expatriated colleagues and masters; disgusted at the habit of compromise and self-deception practiced by others and even forced upon himself; fearful and cynical with regard to the future, the university teacher lives a truly unenviable existence.“ Ibid., pp. 101 – 102. 91 Ibid., p. 102. Im Original: „[I]n a universitas litterarum which has lost its respect for Letters, a veritable caricature of the old civitas academica, in which scholarly seclusiveness is decried as a political sin, … the worthy old German ‚callingʻ of Science, ‚Wissenschaft als Beruf,ʻ has well-nigh lost its meaning.“ 92 Hartshorne verwies zur Dokumentation (auch der ideologischen Rationalisierung) auf Franz Alfred Six, Nachwuchs und Auslese auf den deutschen Hochschulen, Der deutsche Student, 1935, pp. 186 – 198, eine weltanschauliche Begründung für die weitere Beschränkung der Studentenzahlen. Es hieß dort: „Der Maßstab einer zukünftigen Auslese für die Hochschule wird darin liegen müssen, in welchem Verhältnis die geistige Fähigkeit zu den Charakter- und Führereigenschaften in der Gruppen- und Mannschaftserziehung der politischen Gliederung steht.“ (p. 192) Six, der der SS angehörte und eine Karriere im SD und als Amtsleiter im Reichssicherheitshauptamt machte (er wurde in den Nürnberger Nachfolgeprozessen zu 20 Jahren Haft verurteilt), hatte bei Arnold Bergstraesser in Heidelberg 1934 promoviert. (Six könnte der Dozent gewesen sein, der in Uniform auftrat und seinen Doktoranden bedrohte, als dieser sich zu
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ken war. Die „nicht-arischen“ Studenten wurden hinausgedrängt und diejenigen aus Arbeiter- und Bauernfamilien bevorzugt. Die Studierenden reagierten auf die ideologische Gängelung zunächst, indem sie die Fächer bevorzugten, die weniger davon berührt schienen, so die Agrarwirtschaft, die Technikdisziplinen und die Katholische Theologie, und demgegenüber deutlich seltener sich für die Sozialwissenschaften, die Naturwissenschaften oder auch die Medizin entschieden.93 Kapitel IV vervollständigte das Bild. Was in den Lehrveranstaltungen den Studenten, der kommenden Generation, nahe gebracht werde, sei kein wissenschaftliches Wissen mehr. Auch für die Natur- und die Technikwissenschaften gelte, dass nur die Erkenntnisse „arischer“ Männer zugelassen waren, also etwa die „deutsche Physik“ regiere, die jede „jüdische Wissenschaft“ (so die Erkenntnisse Albert Einsteins) aus den Lehrplänen, Lehrveranstaltungen und Publikationen verdrängte. Gegebenenfalls wurden Zuwiderhandelnde gemaßregelt. Die für praktische Zwecke nicht verwertbaren Geistes- und Sozialwissenschaften mussten sich zu Propagandazwecken missbrauchen lassen.94 Die Psychologie, die Historie und die Soziologie, so Hartshorne, wurden zu „Instrumenten, mittels derer die ‚Stimmungs-InWeber bekannte.) Siehe: Carsten Klingemann, Soziologie im Dritten Reich, Baden-Baden: Nomos 1996, pp. 134 – 136. 93 EYH ergänzte die Zahlen seines Buches noch in späteren Schriften, um die Entwicklung sowohl für Deutschland als auch Österreich langfristig(er) zu dokumentieren. Siehe: Edward Y. Hartshorne, The German Universities and the Government (private edition, distributed by The University of Chicago Libraries Chicago, Illinois). Reprinted from The Annals of the American Academy of Political and Social Science, vol. 200, November, 1938; Hartshorne, Metabolism Indices and the Annexation of Austria: A Note on Method, American Journal of Sociology, vol. 45, 1939/40, pp. 899 – 917. 94 Das im Jahr 2005 erschienene Werk Die Berliner Universität in der NS-Zeit – Band II: Fachbereiche und Fakultäten – schildert für zahlreiche Geistes- und Sozialwissenschaften, wie diese Indienstnahme aussah: Willi Oberkrone stellt für die Geschichtswissenschaft dar, dass nunmehr das nationalsozialistische Reichsinstitut für die Geschichte des neuen Deutschland eine Autoritätsstellung bei der Ausrichtung der Geschichtswissenschaft an den Universitäten auf völkische Themen innehatte und dabei eine Volkstumsforschung gefordert war, woran maßgeblich die auch späterhin noch aktiven Soziologen Hans Linde und Karl-Heinz Pfeffer beteiligt waren. Leonore Scholze-Irrlitz skizziert die „Universitätsvolkskunde“, ein sozialdemographisch ausgerichtetes Fach mit eindeutig weltanschaulichem Selbstverständnis, wobei etwa die „Urformen des geistig-seelischen Volksmenschen“ erforscht werden sollten. Reinhard Mehring stellt dar, wie die Philosophie – wo für Alfred Baeumler per Oktroi ein Lehrstuhl eingerichtet wurde – zum Tummelplatz der Regimetreue gemacht werden sollte: „Schon vor 1933 war Baeumler philosophisch uninteressant. … Ohne den Nationalsozialismus hätte Baeumler in Berlin keine Chance gehabt, was er nach 1933 schrieb, ist ganz erbärmlich“ (p. 203). Bekanntlich nahm Baeumler durch seine Positionen im Ministerium und im Amt Rosenberg eine Schlüsselstellung ein, wo er über Habilitationen entschied und Zensor der wissenschaftlichen Kontakte seiner Kollegen war. Siehe: Die Berliner Universität in der NS-Zeit. Band II: Fachbereiche und Fakultäten, herausgegeben von Rüdiger vom Bruch unter Mitarbeit von Rebecca Schaarschmidt, Stuttgart: Steiner 2005 und dort vor allem die Beiträge: Willi Oberkrone, Geistige Leibgardisten und völkische Neuordner. Varianten der Berliner universitären Geschichtswissenschaft im Nationalsozialismus, pp. 123 – 132, Leonore Scholze-Irrlitz, Universitätsvolkskunde im Nationalsozialismus. Skizzen zur Fachetablierung und Öffentlichkeitsarbeit in Berlin, pp. 133 – 148, Reinhard Mehring, Tradition und Revolution in der Berliner Universitätsphilosophie, pp. 199 – 214.
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genieureʻ der Diktatur deren Zugriff auf die Bevölkerung noch steigern“.95 Er zitierte aus einem Studienführer für die Wirtschaftswissenschaften (ins Englische übersetzt): „In the first two Semesters the student is to become acquainted with the racial foundations of science. Lectures on Race and Tribe, Anthropology and PreHistory, on the political development of the German people, especially in the last hundred years, belong to the beginning of every study in the humanities“.96 Ein derart reglementiertes Fachstudium hatte mit der Universität oder mit der Wissenschaft wahrlich nichts mehr zu tun. Den Verlust der Lehr- und Lernfreiheit mochte Hartshorne indessen nicht als einen fait accompli hinnehmen: „Die Zukunft wird zeigen, ob nicht die Politik der bewussten Praxisorientierung, vor allem wenn sie unter der politischen Knute steht, letztlich selbstzerstörerisch ist“.97 Vor diesem Hintergrund analysierte er – da daran die Zerstörung der Institution abzulesen war – die University Atmosphere. Die Frage war, wie die Universität aussah, wenn sie keine Institution (mit Autonomie) mehr war und wenn sie ein Selbstverständnis der Professoren im Sinne der Wissenschaft nicht mehr zuließ. Dass die Voraussetzungen für eine irgendwie produktive Forschung nicht mehr gegeben waren, verdeutlichten sieben Einzelheiten der Universitätswirklichkeit, die Hartshorne aus seiner Berliner Erfahrung schilderte: 1.) Die Dozenten und die Studenten mussten auf Veranlassung der Universitätsleitung an den nationalsozialistischen Veranstaltungen teilnehmen; bei Nichterscheinen wurden sie disziplinarisch gemaßregelt. 2.) Die Dozenten wurden gezwungen, nationalsozialistische Publikationen zu abonnieren, und bei Strafe, als hätten sie gegen ihren Diensteid verstoßen, mussten sie über die Abstammung ihrer Eltern und ihrer Großeltern dem Rektor schriftlich Bericht abstatten. 3.) Durch eine Flut von Rundschreiben und außerdem durch persönliche Schreiben wurden die Dozenten wegen ihrer Grußpflichten, wegen der höchst restriktiven Annahme von Einladungen aus dem In- und Ausland sowie zum Ausfüllen der Abstammungsfragebogen etc. angewiesen, wogegen es keine Einspruchsmöglichkeit gab. 4.) Fritz Haber wurde entlassen, obwohl er Nobelpreisträger war, und nach seinem Tod verbot der Rektor den Beamten, an der 95 The German Universities and National Socialism, p. 116. Im Original: „valuable instruments by which the ‚emotional engineersʻ of a dictatorship can strengthen their hold on the popular mind.“ Die Soziologie (wie er fortfuhr) wurde zu einem Arsenal der Propaganda, indem das Volk, das Volkstum und die Rasse oder der totalitäre Staat zu soziologischen Themen gemacht wurden. Dazu Hartshorne: „Sociology becomes ‚the theory of the structure of the Folk-Community.ʻ As a contrast to ‚liberalʻ social science, which maintained a distinction between State and Society, the new social science is really identical with State science. Gesellschaftswissenschaft is absorbed by Staatswissenschaft. (Hans Freyer: ‚Die Gegenwartsaufgaben der deutschen Soziologie,ʻ Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, 95 (November 1934), 116 – 44. There is a striking contrast between the articles in this number of the Journal and a pamphlet published under the same title by the same publishers in 1932 by Karl Mannheim. Erich Rothackerʼs ‚Nationale Soziologieʻ (Westdeutsche Akademische Rundschau, 1.1.33) expresses the Nazi instrumentalist view of social science.“ Die Klammern im Zitat – einschließlich des Fehlens einer Schlussklammer – entsprechen dem Original. 96 Ibid., p. 120. 97 Ibid., p. 125. Im Original: „[W]hether a policy of deliberate practicalization, especially under the direction of politically motivated taskmasters, is not to some extent self-defeating, only the future can tell.“
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Trauerfeier teilzunehmen. 5.) Für die Universitätsveranstaltungen wurde eine Kleiderordnung im Sinne des Nationalsozialismus per Ukas durch den Rektor gemeinsam mit dem NS-Dozentenführer erlassen. 6.) Die Maßnahmen, die einen Hochschullehrer betrafen – auch seine Entlassung oder seine Versetzung – wurden ihm brieflich ohne irgendwelche Vorwarnung oder Begründung oder sogar universitätsöffentlich durch ein Rundschreiben mitgeteilt. 7.) Bei einer (für alle Universitätsangehörigen obligatorischen) Nazifeier an der Friedrich-Wilhelm-Universität im Jahr 1936 waren die Dozenten gezwungen, den einstudierten Sprechchören zweier Studentenformationen in Uniform zuzuhören, ohne dass überhaupt Ansprachen vorgesehen waren. Für Hartshorne waren dies die deutlichen Anzeichen für eine University Atmosphere, wo das wissenschaftliche Arbeiten unsäglich erschwert oder regelrecht unmöglich wurde. Fazit war, dass der Pessimismus und der Fatalismus seit der Wilhelminischen Zeit und vor allem in der Weimarer Republik den Boden für den Verlust der Integrität der Hochschullehrer unter dem Nationalsozialismus bereitet hatten. Die Gefahr war nun, dass die deutsche Wissenschaft unter der faschistischen Herrschaft zur Mittelmäßigkeit herabsank.98 Der Opportunismus als Reaktion auf die fast totale Kontrolle der Arbeitsbedingungen und der Tätigkeit verhindere das eigenständige Denken und mache den Hochschullehrer zum Handlanger des Regimes. Damit sei die Universität im Sinne Wilhelm von Humboldts, wie sie die Einheit von Forschung und Lehre, die Einheit von Lehren und Lernen und die Einheit der Wissenschaften in der Philosophie institutionalisierte, unwiderruflich verloren. Noch größer als der Verlust der besten Wissenschaftler durch ihre Vertreibung in die Emigration, so Hartshorne, war infolgedessen der Verlust, den die schleichende Vorherrschaft von Selbstbetrug, Heuchelei und faulem Kompromiss enthielt: „Wenn die jetzige Entwicklung an den Universitäten sich fortsetzt, wird es in den kommenden Generationen kaum noch anerkennenswürdige Leistungen der deutschen Wissenschaft geben, weil die Tradition der geistigen Atmosphäre zerstört ist, jenes sensible Zusammenspiel von Faktoren, die das Ergebnis einer langen Entwicklungsgeschichte sind und deren Verlust einen kaum wieder gut zu machenden Schaden an der Wissenschaft der Zukunft für die Forschung und die Lehre hinterlässt“.99 Hartshornes Analyse schilderte das Ende der Universität als Institution.100 Zu deren Politisierung gehöre auch, wie er unterstrich, die Denunziation bei der Ge98 Grüttner führt aus, dass der Kahlschlag der Wissenschaften nur in der ersten Phase des Nationalsozialismus erfolgte (1933 – 1936), also dem Zeitraum, den Hartshorne überblickte, während in den späteren drei Phasen (1937 – 1939, 1939 – 1942, 1942 – 1944/45) einige Disziplinen bzw. Zweige, die dem NS-Staat zugute kamen und dessen technische – vor allem kriegstechnische – Überlegenheit signalisieren sollten, privilegiert und gefördert wurden. Siehe Michael Grüttner, Die deutschen Wissenschaften unter dem Hakenkreuz, insbes. pp. 94 – 99. 99 Ibid., p. 171. Im Original: „The major reason to doubt the achievements of German science in coming generations, given a continuance of present tendencies in higher education, lies in the destruction of the traditional academic atmosphere, a delicate combination of factors which is a result of a long evolution and the loss of which may work serious harm for scientific instruction and research in the future.“ 100 Zur Entdifferenzierung, die ein wesentliches Moment der Entinstitutionalisierung darstellt, zitiert Oberkrone in seinem Aufsatz zur Geschichtswissenschaft in Berlin während des Nationalsozia-
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stapo, die gang und gäbe sei. So entstehe jene Atmosphäre, wie sie EYH im Jahr 1940 in einem Essay für die New York Times schildern konnte: Wegen der möglichen Denunziation bei der Gestapo befürchteten die Dozenten, dass ihre Äußerungen im Seminar ihnen zum Verhängnis werden könnten, und sie mussten unter den Studierenden vor allem NS-Studentenfunktionäre fürchten wie jenen, der sich gebrüstet hatte, er habe vor seinem Examen dem Professor nahe gelegt, ihm, dem Studenten, die Prüfungsfragen im voraus zugänglich zu machen, was auch geschehen sei: „,Es war gut für ihn, dass er das getan hatʻ, erklärte der Naziführer seinen Freunden“.101 Hartshornes Fazit: Mehr noch als die numerical losses war ein Zeichen für die Zerstörung der Institution102, „dass grundsätzlich jede freie Diskussion unterbleibt, die dogmatische Weltanschauung offiziell vorgeschrieben wird, die akademische Lehre politisch gesteuert wird und durch Regierungserlass von Universität zu Universität gleichartig durch einen Lehrplan reglementiert ist“.103 Der Verlust der Integrität der Hochschullehrer war das entscheidende Moment der nationalsozialistischen Politisierung des akademischen Lebens.104
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lismus eine Arbeit von Otto Gerhard Oexle: er spricht von „einer ‚Rationalität der „Ent-Differenzierung“ und der „Ent-Institutionalisierung“ und einer offenkundigen „Entsublimierung“, ja Enthemmungʻ, die nach Otto Gerhard Oexle ‚das Deuten und Handeln vieler Geisteswissenschaftlerʻ während des ‚Dritten Reichesʻ prägte.“ Oberkrone, Geistige Leibgardisten und völkische Neuordnung, in: Die Berliner Universität in der NS-Zeit, Band II, p. 125, cit. Otto Gerhard Oexle, Zusammenarbeit mit Baal. Über die Mentalitäten deutscher Geisteswissenschaftler 1933 – und nach 1945, Historische Anthropologie, Bd. 8, 2000 (Heft 1), pp. 1 – 27, cit. p. 12. Harvard Instructor Reveals Nazisʼ Effect on Education. Edward Y. Hartshorne Hits at Student Opposition to Our National Defense Plans. By Edward Y. Hartshorne, Department of Sociology, Harvard University. The New York Times (ohne Datum), 4 D, „Education News.“ Hartshorne-Nachlass. Im Original: „,It was a good thing for him that he did,ʻ remarked the Nazi student leader to his friends.“ Helmut Schelsky rechtfertigte in einer Schrift, die in „Bildung und Nation“ erschien, einer Schriftenreihe zur nationalpolitischen Erziehung, dass die Universität keine Eigenständigkeit gegenüber dem Führerstaat bewahren durfte: „[D]ie wichtigste Aufgabe des Staates … ist die Organisation der Lebensgebiete Religion, Kunst und Wissenschaft. … [D]ie Kirche, das Wissenschaftswesen, womit Universitäten, Forschungsinstitute, Bibliotheken gemeint sind …, [muss] der Staat, der seine Aufgaben begriffen hat, … unter seine oberste Bestimmung bringen …, weil er dem Volk gegenüber der verantwortliche Organisator und Ordner aller Lebensgebiete ist. So kann z. B. von einer völligen Unabhängigkeit der wissenschaftlichen Einrichtungen vom Staat in dieser Staatsauffassung gar keine Rede sein.“ Helmut Schelsky, Sozialistische Lebenshaltung. Bildung und Nation, Schriftenreihe für nationalpolitische Erziehung, herausgegeben in Verbindung mit dem Leiter des Amts für politische Schulung, Kreis IV (Mitteldeutschland) des nationalsozialistischen Studentenbundes und der deutschen Studentenschaft, Leipzig: Eichblatt-Verlag 1934, p. 31. Siehe auch oben, pp. 123–124. Hartshorne, The German Universities and National Socialism, p. 171. Im Original: „the implication of the wholesale annihilation of free discussion on principle, the prescription of an official dogmatic Weltanschauung, the politicization of the classroom, and the creation of a governmental fiat of uniform study-plans from university to university.“ Diese Interpretation entsprach weitgehend derjenigen Robert Mertons, eines anderen amerikanischen Soziologen aus dem Umkreis Parsonsʼ. Siehe dazu: Robert Merton, Science and the Social Order, Philosophy of Science, vol. 5, 1938, pp. 321 – 337 (im Nachdruck in The Sociology of Science: Theoretical and Empirical Investigations, Chicago: University of Chicago Press 1973 heißt es p. 254: „The writer is indebted to Talcott Parsons, E. Y. Hartshorne, and E.
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Ab 1942 diskutierte Parsons den Rückweg von der charismatisch-traditionalen zur rational-legalen Gesellschaftsordnung in Deutschland.105 Hartshorne behandelte in seinen Lectures an dem OWI Training Centre das Thema „Education“ auch im Hinblick auf das Ende der nationalsozialistischen Gleichschaltung.106 Er hob dort hervor, dass die totalitäre Steuerung in Deutschland nicht nur den Einfluss des Auslandes, sondern sogar das kulturelle Erbe Deutschlands ausblende, und zwar insbesondere bei der Erziehung der Jugend. Aber gerade darin liege die Schwäche des Regimes: „Wenn der gleißende Traum des Sieges über die Welt ausgeträumt ist, werden ihnen ihre Nazi-‚Erzieherʻ nichts hinterlassen, worauf sie ein erfolgreiches und produktives Leben aufbauen können“.107 Gerade dann schlage indessen die Stunde der Bildung im Sinne der Wiederbelebung des akademischen Geistes. In einer Podiumsdiskussion an der Universität Chicago, die am 14. Februar 1943 im Radio gesendet wurde, diskutierten Hartshorne, Richard McKeon, Professor für griechische Philosophie in Chicago, und Daniel A. Prescott, Professor der Erziehungswissenschaft, über Germany: Its Education and Re-education.108 McKeon schlug für die Zeit nach der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands vor, „die Demokraten oder die Demokratiefähigen unter den Deutschen zu finden“, um den Neuanfang zu machen. Prescott sagte, „wenn wir über demokratische Erziehung sprechen, müssen wir jene Deutschen finden, die bereit sind, sich selbständig ein Urteil zu bilden, anstatt sich
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P. Hutchinson for their helpful suggestions“) und ferner: Merton, Science and Technology in a Democratic Order, Journal of Legal and Political Sociology, vol. 1, 1942, pp. 115 – 126. Die jüngere Wissenschaftsgeschichte widerspricht der Mertonʼschen wissenssoziologischen Auffassung. Margit Szöllösi-Janze bezweifelt Mertons These, dass der Nationalsozialismus keinerlei Wissenschaft mehr zuließ, und behauptet stattdessen, eine Ansicht sei für Wissenschaft zu halten, wenn sie sich in der Meinung des jeweiligen Wissenschaftlers selbst als wissenschaftlich versteht: „Die selbst ideologische Unterscheidung zwischen ‚schlechterʻ, verzerrter Wissenschaft und ‚guterʻ, ‚reinerʻ Wissenschaft wich nun einer nüchternen, wertneutralen Definition: Wissenschaft ist das, was Wissenschaftler machen“. Margit Szöllösi-Janze, „Wir Wissenschaftler bauen mit“ – Universitäten und Wissenschaften im Dritten Reich, in: Bernd Sösemann (Hrsg.), Der Nationalsozialismus und die deutsche Gesellschaft. Einführung und Überblick, Stuttgart/München: Deutsche Verlags-Anstalt 2002, pp. 155 – 171, cit. p. 162. Dazu: Uta Gerhardt, Introduction: Talcott Parsonsʼs Sociology of National Socialism, in: Talcott Parsons on National Socialism, pp. 1–77, insb. pp. 27 – 40. Zu den frühesten Texten Parsonsʼ zur Reeducation nach Kriegsende gehörte ein Radiovortrag vom 21. Mai 1942, wo er vorschlug, die unterdrückten und keineswegs vollends zerstörten kulturellen Tendenzen wieder mit Leben zu erfüllen, sobald Deutschland eines Tages besiegt wäre. Von den Kulturwerten sagte er: „[They] have by no means been eliminated, but may quite possibly be reawakened under new conditions.“ Zu diesen „new conditions“ gehöre interessanterweise auch, „for the German people as such to cease to be [a separate] unit but be incorporated into a larger one such as a central European Federation.“ Siehe Parsons, National Socialism and the German People, in: Talcott Parsons on National Socialism, pp. 219 – 224, cit. pp. 223 und 224. Summary on „Education“. Hartshorne-Nachlass. Ibid., p. 5. Im Original: „When the glowing dream of world victory fades out, they will have been left with little by their Nazi ‚educatorsʻ on which to build a useful and creative life.“ The University of Chicago. Round Table. Germany: Its Education and Re-education. A Radio Discussion by E. Y. Hartshorne, Richard McKeon and Daniel Prescott. 468th Broadcast in cooperation with the National Broadcasting Company, Number 256, February 14, 1943. Hartshorne-Nachlass.
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wie selbstverständlich einer Autorität unterzuordnen“. Hartshorne warnte, viele Deutsche, die unter dem Naziregime mitmachten, würden nach dessen Ende als angebliche Nazigegner auftreten. McKeon erwiderte, das Wichtigste sei, how to tell a democrat. Prescott erkannte darin den Auftrag „zur Überwachung und zur Inspektion, in gewisser Hinsicht zur Überprüfung aller am Bildungswesen beteiligten Personen“. Und Hartshorne fügte hinzu, die Amerikaner müssten diese Aufgabe ernst nehmen, denn ansonsten würden die Deutschen sich durch Lügen oder durch Vortäuschen anstatt Reeducation ihrer notwendigen Umkehr entziehen.109 In der Stunde Null der Transformation Deutschlands wurden alle öffentlichen Einrichtungen, wie dies die Handbücher, Direktiven und Technical Manuals der Besatzungsplanung verfügten, zunächst geschlossen – auch die Universitäten. Vom Winter 1944 oder Frühjahr 1945 bis zum August bzw. November 1945 (und teilweise bis zum Januar oder Februar 1946) waren die Universitäten stillgelegt. In dieser Zeit waren die Maßnahmen der „vier Dʼs“110 – an den Universitäten insbesondere die Entnazifizierung – durchzuführen.111 Hartshornes Vorgehen bei der Entnazifizierung im Vorfeld der Wiedereröffnung der Universitäten entsprechend den Vorgaben der Weiterbeschäftigung (oder Entlas-
109 Ibid., pp. 14 – 17. Der Text im Wortlaut: „Mr. McKEON: … If weʼre going to educate the Germans, we must learn how to divide them and find the democrats, or the potential democrats, among them. Mr. HARTSHORNE: … Who among the Germans would you say, Prescott, are the ones we could work with? Mr. PRESCOTT: … [W]e would have to look for the Germans who are accustomed to make independent judgments rather than those who have accepted the habit of acting entirely on authority. … Mr. HARTSHORNE: That stresses one of the most dangerous features of the Nazi system, since it enables individuals to disclaim any responsibility for their actions. … Mr. McKEON: That underlines what I think is the most important of our problems – how to tell a democrat. … But our real problem will … be … rather in uncovering all the disguised democrats – the Fascists and pro-Fascists, who will then discover it is to their advantage to save their skin and to take on the new coloration. Mr. PRESCOTT: That certainly implies … that we shall have the task of supervising or inspecting, or in some way examining, the persons who are going to be responsible for education. … Mr. HARTSHORNE: Until Germans are convinced that Americans are ready and determined to fulfil their role in international relations, Germans may still think that they can get away with whatever they want.“ 110 Die „vier Dʼs“ waren denazification, demilitarization, decentralization, decartelization – jeweils anzuwenden je nach Kontext. Bei den Universitäten ging es vor allem um denazification und decentralization – letzteres hieß, dass die Universität vor Ort zu entnazifizieren war, da eine zentrale Instanz, nämlich das Reichserziehungsministerium, nicht mehr existierte. 111 Die Entnazifizierung verlief bekanntlich in zwei Phasen in der Zeit von 1944/1945 bis 1949. Die erste Phase reichte in der amerikanischen Zone vom Beginn der Militärregierung bis zum März 1946. Sie legte die Entnazifizierung ausschließlich in die Hände der Militärregierungsoffiziere. Dabei arbeitete die Special Branch mit dem Counter Intelligence Corps (CIC) zusammen. Für die Universitäten waren die Universitätsoffiziere – in Zusammenarbeit mit dem CIC – zuständig. In der zweiten Phase – ab März bzw. Juni 1946 – wurden Spruchkammern gebildet, die mit Deutschen besetzt waren und die Sühne und Rehabilitation der Belasteten festlegten. Siehe: Uta Gerhardt und Gösta Gantner, RitualProzeß Entnazifizierung. Eine These zur gesellschaftlichen Transformation der Nachkriegszeit. Forum Ritualdynamik. Diskussionsbeiträge des SFB 619 „Ritualdynamik“ der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Nr. 7, Juli 2004.
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sung) von Universitätsangehörigen112 war die Überprüfung jeder einzelnen Person oder Persönlichkeit. Er notierte sich in sein Tagebuch am 1. Juli 1945, dass die folgenden Unterlagen für Heidelberg ein angemessenes Bild gäben: „A.) Der Bericht 7 A des 307ten CIC-Detachment vom 9. April 1945 über die Universität Heidelberg (woraus hervorgeht, dass die Fragebogen ausgefüllt vorliegen), B.) der Bericht des Adjutant General der Publicity and Psychological Warfare vom 26. Juni 1945, C.) die Satzung der Universität Heidelberg (Entwurf Karl Jaspers, Karl Engisch, Walter Jellinek), D.) der Brief des Rektors an Col. Winning [den Kommandierenden Offizier des Militärregierungs-Detachment Mannheim/Heidelberg] betreffend die Universitätsbibliothek vom 25. Juni 1945, E.) die Statistik für das Jahr 1944 für die Chirurgische Klinik Heidelberg, F.) der Bericht Augenblicklicher Stand der medizinischen Forschung der Chirurgischen Klinik vom 18. Juni 1945, G.) der Brief des Badischen Ministers für Kultus und Unterricht vom 4. Juli 1944 betreffend bestimmte Heidelberger Professoren, H.) weitere Personalien, Weiße Liste und Schwarze Liste“.113 Im Tagebuch notierte er für den 12. Juli 1945: „Die Überprüfung muss sehr gewissenhaft durchgeführt warden. Ich sollte jeden Hochschul-Fragebogen lesen und eine schriftliche Auswertung vornehmen. Wilimann [sein Assistent] wird Zeugen befragen lassen und darüber einen Bericht anfertigen und außerdem sich beim CIC über die Angaben aus den normalen Fragebogen informieren. Außerdem muss jemand die allgemeinen Fragebogen mit den Universitätsakten abgleichen, die sich jetzt im Document Center befinden (Lt. Eiltz). Und ich schicke jemanden nach Tauberbischofsheim bei Würzburg, wo die Universitätsakten ab 1900 ausgelagert sind“.114 Mit anderen Wor112 Unter dem Datum des Friday, 20 July (1945) wurden in Hartshornes Tagebuch die vier Kriteriengruppen aufgeführt, in die die Universitätsangehörigen einzuteilen waren: „a) Exclusion of certain names unconditionally; b) Provisional exclusion pending examination and approval; c) Provisional acceptance supported by defense petition from Faculty; d) Unconditional acceptance.“ Academic Proconsul, p. 76 113 Academic Proconsul, p. 66. „A. CIC Report, 7 A (307th CIC Detachment), 9 April 1945 ‚Heidelberg Universityʻ (stating that Fragebogen have been filled out). B. 12 AG P&PW Report by Müller, 26 June 1945. C. Satzung der University Heidelberg (Jaspers, Engisch, Jellinek). D. Rector to Colonel Winning, re: Universitätsbibliothek, 25 June 1945. E. Surgical Clinics of Univ. of Heidelberg, 1944 Statistics. F. Augenblicklicher Stand der medizinischen Forschung der Chirurgischen Klinik, 18 June 1945. G. Letter from Badischer Minister für Kultus und Unterricht, concerning certain Heidelberg professors, 4 July 1944. H. Miscellaneous personalia, W+B lists.“ Zur Erläuterung: Es gab zwei Fragebogen (der deutsche Ausdruck wurde im Englischen benutzt), nämlich zum einen den Fragebogen für alle Deutschen (MG-Fragebogen), der nach den Mitgliedschaften in den nationalsozialistischen Organisationen fragte, und zum anderen einen eigenen Fragebogen für Hochschullehrer (HS-Fragebogen), der auch nach der Verbreitung nationalsozialistischen Ideenguts in den Publikationen und Vorträgen fragte; die Angaben über die Chirurgische Klinik waren wichtig, da deren Direktor das Amt des Universitätsrektors anstrebte; die White List war eine Namensliste der nationalsozialistisch Unbelasteten, und die Black List enthielt die Namen nationalsozialistisch offenkundig Belasteter. 114 Academic Proconsul, p. 70. Im Original: „Screening must be done most assiduously. I should read all Hochschul-Fragebogen and write an opinion. Wilimann will send out sleuths for witness reports and check with CIC on screening of regular MG Fragebogen. And someone will also check the general Fragebogen records on university personnel now in the Document Center (Lieutenant Eiltz). I will also send a man to Tauberbischofsheim, near Würzburg, to get University records since 1900.“
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ten: Er las alle Hochschulfragebogen persönlich und machte sich Listen mit den Angaben (er nannte sie Action Sheets), die er wiederum abglich mit den durch das Counter Intelligence Corps (CIC) bearbeiteten Fragebogen (MG Fragebogen) und auch den Personalakten der Universität, die von Tauberbischofsheim herbeigeschafft werden mussten – was auch geschah. Der auf die einzelne Person oder Persönlichkeit gerichtete Ansatz, die Verstrickung in den Nationalsozialismus zu erkennen und demgegenüber die eventuell noch vorhandene Integrität zu würdigen, war charakteristisch. Die Entnazifizierung, die die nationalsozialistisch Belasteten aus dem Universitätsleben ausschloss, war die Voraussetzung für die Wiedereröffnung einer Hochschule. Die Entnazifizierung, wie sie Hartshorne verstand, suchte nach den Persönlichkeiten, die sich ihre Integrität bewahrt hatten. Diese Entnazifizierung beruhte auf der Überprüfung anhand von Akten, wodurch auch festzustellen war, ob ein Betroffener unrichtige Angaben in seinem Fragebogen gemacht hatte. Persönliche Gespräche mit den Betroffenen, denen Hartshorne die den Akten entnommenen Fakten entgegenhielt, erleichterten die Entscheidung, ob ein Professor wegen seiner Haltung im Nationalsozialismus zunächst zu entlassen war. In seinem Tagebuch vermerkte Hartshorne auch, dass manche Kollegen sich für andere mit Nazivergangenheit verbürgten, obwohl ihm dies unverständlich blieb.115 An der Universität Marburg, dem Vorreiter des Neuanfangs, wurde das Konzept beispielhaft verwirklicht. Hier war eine einzelne Persönlichkeit, der Philosoph Julius Ebbinghaus, entscheidend für die Erneuerung. Am 24. Mai 1945 trug EYH in sein Tagebuch ein, dass er den Fragebogen, den er mit Robert Belfrage entworfen hatte, für eine Gruppe Zeitungsverleger hinterlegt habe, und fuhr fort: „Hinterher sprach ich kurz mit Ebbinghaus, wobei ich seine Meinung über die Schuldfrage wissen wollte, und er sagte mir, dass man das wirklich schwierige Problem nicht beiseite schieben darf. Ansonsten würden wir uns zu engstirnig verhalten“.116 Die Eintragung lässt ahnen: Ebbinghaus hat an diesem Tag für EYH überzeugend seine Ansicht zur deutschen Schuld an den Naziverbrechen dargelegt. Wenig später wurde Ebbinghaus mit der Vorbereitung der Wiedereröffnung für Marburg betraut. Ebbinghaus schrieb (wohl Anfang Juni) einen langen Brief an EYH, der das Gespräch vertiefte.117 Das Thema war „die Verantwortlichkeit der Deutschen für das Hitlerregime und seine Schandtaten“, und Ebbinghaus mahnte: „Ich denke, daß es wirklich sehr wichtig ist, dieser 115 Am 24. Juli 1945 notierte er: „The proclivity of ‚einwandfreieʻ Germans to rush to the support of their colleagues who were fools enough to compromise themselves with the Nazi cause is surely one of the most startling and depressing aspects of post-Nazi German academic society.“ Academic Proconsul, p. 82. 116 Ibid., pp. 58 – 59. Im Original lautete die Textstelle: „Left the Belfrage-Hartshorne Fragebogen for Bauer and five of his editor-colleagues to fill in, to be collected by Arnold next Monday. … I talked briefly with Ebbinghaus afterwards, getting his views on the guilt question, which he says must be treated as a complex problem. Otherwise we show ourselves too single-minded.“ 117 Der Brief Ebbinghausʼ an Hartshorne, „Brief an einen Amerikaner über die Schuldfrage“ datiert „Anfang Juni 1945“ bezog sich „auf unsere Unterhaltung vom 25. 5. 1945“. Er wurde zeitgenössisch veröffentlicht in einem Band aus Briefen und Reden Ebbinghausʼ, der 1947 erschien: Julius Ebbinghaus, Zu Deutschlands Schicksalswende, Frankfurt: Klostermann 1947, pp. 155 – 164.
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Angelegenheit auf den Grund zu gehen, wenn sich die für den künftigen Neuaufbau notwendige Gemeinschaft zwischen der alliierten Regierung und den Besiegten bilden soll“.118 Ebbinghaus war ab 1941 der Dekan der Philosophischen Fakultät gewesen. Aber er war ein Wissenschaftler, wie ihn EYH für den Neubeginn brauchte: Seine Fähigkeit zur eigenen Urteilsbildung war nicht verloren gegangen, und Opportunismus oder Heuchelei waren ihm fremd geblieben. Hartshorne machte ihn zur Schlüsselfigur der Wiedereröffnung, der wiederum die Entnazifizierung der Fakultäten, und zwar durch die eigenen Fakultätskollegen, vorausging. Das Verfahren, das später für alle Universitäten der amerikanischen Zone vorgeschrieben wurde119, sah vor: Ein nationalsozialistisch unbelasteter Hochschullehrer wurde durch den Universitätsoffizier mit der Bildung eines Gremium nationalsozialistisch Unbelasteter beauftragt. Dieses University Planning Committee (UPC) hatte zunächst die Aufgabe, in den Fakultäten sogenannte Screening Committees zu bilden (aus Kollegen, die nationalsozialistisch nicht verstrickt waren, was die Special Branch und das CIC nachprüften). Diese schlugen die im Nationalsozialismus kompromittierten Mitglieder der Fakultät zur Entlassung vor. In seinem Jahresbericht für die Higher Education des Landes Großhessen – Stichtag war der 30. Juni 1946 – schrieb Hartshorne über die Vorgänge in Marburg, die vorbildlich waren: „Die erste Hochschule, die die Überprüfung und Umgestaltung durchführte, war die Universität Marburg. Das Verfahren der Entnazifizierung wurde durch das University Screening Committee in den Fakultäten durchgeführt. Das Ergebnis dieser Entnazifizierung: … Entlassung 18% der Professoren und 32% der Assistenten an der Medizinischen Fakultät, 30% der Professoren und 23% der Assistenten an der Philosophischen Fakultät, 51% der Professoren und 52% der Assistenten an der Juristischen Fakultät, 12% der Professoren und 10% der Assistenten an der Theologischen Fakultät“.120 118 Die beiden Briefstellen: Ibid., p. 155. Weiter unten schrieb er: „Der Mensch ist zwar nicht verpflichtet, sich nicht zu irren, wohl aber ist er verpflichtet, die Unterlagen seiner Urteile gewissenhaft zu prüfen. Dass gegen die Pflicht in Deutschland grenzenlos gesündigt worden ist, ist leider nur zu wahr, und ebenso wahr ist es, dass jeder, der auf Grund solcher schuldhaften Unwissenheit gehandelt hat, für das Böse, das aus diesen seinen Handlungen entstanden oder dadurch ermöglicht worden ist, mitverantwortlich ist. Ihr ‚wusstetʻ freilich nicht, was in den Konzentrationslagern vorging, aber reichte das, was ihr wirklich von den Grundsätzen der Partei wusstet, nicht bei einigem Nachdenken hin zu der Vermutung, dass da sehr schreckliche Dinge vorgingen oder sogar zu der Gewissheit, dass es keine Schandtat in der Welt gab, die unter diesem Regime, das angeblich das Wohl des deutschen Volkes, in Wirklichkeit seine eigene Sicherheit zum obersten Grundsatz aller seiner Handlungen nahm, nicht hätte geschehen können?“ (pp. 156 – 157). 119 Die Directive for the Reopening of the Universities and Institutions of Higher Learning, deren endgültigen Wortlaut EYH im Entwurf ausarbeitete, wurde durch den (Stellvertretenden) Militärgouverneur der amerikanischen Besatzungszone, Lucius D. Clay, am 21. November 1945 offiziell erlassen. Die Direktive ist zugänglich auf Mikrofiche im Bayerischen Haupt- und Staatsarchiv unter der Signatur OMGUS 10/19-2/9. Siehe auch: James F. Tent, Mission on the Rhine, pp. 61 – 69. 120 Annual History. Education and Religious Affairs Division. Higher Education. Office of Military Government Land Greater Hesse. June 1946, p. 26. Im Original:„The first university to get underway on screening and reorganization was the University of Marburg. The procedure of
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In einem Rückblick im Mai 1946 erläuterte Hartshorne für Amerikaner, die in der Militärregierung tätig waren, das Verfahren der Wiedereröffnung der deutschen Universitäten durch die UPCʼs.121 Er schilderte in einem Artikel im Weekly Information Bulletin, dass in Marburg und anderswo jeder Universitätsangehörige einzeln überprüft wurde (was im Spätsommer 1946 noch einmal geschah). Man knüpfe an the tradition of self-government stretching back to the Middle Ages an: „Aus dem Personal, das nach der Niederlage der Nazis verblieben ist, bildet jede Universität ein solches ‚Bürgerkomitteeʻ. Dieses übernimmt die Aufgabe der Entnazifizierung selbstständig und folgt nicht lediglich den Anweisungen der Militärregierung. Dabei wird die Arbeit – unsere Arbeit – in jeder Hinsicht in unserem Sinne erledigt, und zwar besser als wir dies selbst könnten“.122 Man dürfe diese Deutschen, so fuhr er fort, allerdings nicht allein lassen. Nicht einmal die Kultusbürokratie der neu geschaffenen Länder sei auf die neuen Formen des Universitätslebens vorbereitet: „Die amerikanischen Universitätsoffiziere mussten in vielen Fällen den Universitäten Hilfestellung geben, weil die deutschen Kultusministerien dazu nicht fähig waren“.123 Für Leser in den USA schrieb Hartshorne einen Aufsatz, der dies für Außenstehende erläuterte. Zunächst unter dem Arbeitstitel German Universities 1945 – An American Problem? und German Universities, 1945 – Our Problem und schließlich unter dem Titel Our Responsibility for German Universities (veröffentlicht unter dem Namen Sidney Fay in der Zeitschrift Forum) warb er für die Universitätspolitik der Militärregierung.124 Alle drei Versionen des Aufsatzes hielten fest, „dass die Hochschule praktisch von Grund auf neu aufgebaut werden muss“.125
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denazification was applied to the faculty by the university screening committee. At the end of this procedure the denazification showed the following results: … Dismissed Med. Fac. Profs. 18%, Assts. 32%, Phil. Fac. Profs. 30%, Assts. 23%, Law Fac. Profs. 51%, Assts. 52%, Theol. Fac. Profs. 12%, Assts. 10%.“ Der Bericht wurde ca. Ende Juli 1946 fertig gestellt. Er ist als Mikrofiche zugänglich im Bundesarchiv sowie im Hessischen Staatsarchiv Marburg unter der Signatur RG 260 OMGH 8/16-1/39. Hartshorne, Reopening German Universities, Weekly Information Bulletin, No. 43, 27 May 1946, pp. 5 – 9. Ibid., p. 5. Im Original: „[O]ut of the wreckage of defeat each university [is] able to put forward a ‚citizensʻ committeeʼ of this sort capable of taking charge and not merely working under MG directives but of doing the job – our job – to all intents and purposes for us, and better than we could have done it ourselves.“ Ibid., p. 9. Im Original: „American Educational Officers have in some instances had to display more initiative in helping the universities to get on their feet than the German ministerial officials themselves.“ German Universities 1945 – An American Problem? E. Y. Hartshorne, Paris, 2 October 1945, German Universities, 1945 – Our Problem (ohne Autor oder Datum), beide: Hartshorne-Nachlass. Dem Artikel Sidney B. Fay, Our Responsibility for German Universities, Forum, vol. 106, 1946 (January), pp. 396 – 402 ist in dem Band in der Harvard College Library eine handschriftliche Notiz beigefügt: „Written by my son-in-law, Edward Y. Hartshorne, University Officer, Land Gross-Hessen (Mil. Gov., APO 572, care of Postmaster, New York City), but edited and published under my name because of censors in restri[unleserlich] existing then but since removed. S. B. Fay.“ Hartshorne, German Universities 1945 – An American Problem?, p. 12; German Universities, 1945 – Our Problem, p. 14; Our Responsibility for German Universities, p. 402. Im Original: „the higher educational system must be rebuilt virtually from the foundations.“
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Zunächst klärte er, dass Unterwürfigkeit und Ressentiments gegen die Amerikaner bei den deutschen Professoren ein Überbleibsel der Nazizeit waren. Umso mehr sei anzuerkennen, wenn ein Dekan – wie in Marburg – sich weigere, eine Entlassung vorzuschlagen, die dem Betroffenen ermögliche, sich als Märtyrer der Amerikaner aufzuspielen. Außerdem: „Es gibt immer noch Deutsche, sogar Akademiker, die zu dem verführerischen Mittel der Denunziation greifen“.126 Ein Problem sei die mangelnde wissenschaftliche Qualität derjenigen, die an den Universitäten nun noch vorhanden waren. Die Nazis hatten die Besten ins Exil verjagt und die noch Verbleibenden eingeschüchtert sowie durchweg mediokre Lehrstuhlinhaber eingesetzt. Dazu Hartshorne: „Die neuen Dekane und Rektoren müssen sich mit dem Problem herumschlagen, wie man die politischen (und wissenschaftlichen!) Blindgänger loswerden kann, die unter dem Naziregime ernannt wurden“.127 Was könne in dieser Situation geschehen? Hartshorne wusste: Das Dilemma der USA bzw. der Alliierten war, dass sie ein Zerbrechen der Universität in Fachhochschulen verhindern wollten. Zugleich müsse man das Personal und die Fakultäten weiter verwenden, die dem Nationalsozialismus gedient und die Zerstörung der universitas litterarum mitgemacht hatten. Die Antwort hieß: „Man gestattet das volle akademische Lehrprogramm und vertraut auf die integren Persönlichkeiten und die Philosophen, dass sie ihren Studenten jene ‚Re-educationʻ vermitteln, die dann darauf hoffen lässt, dass die Führungskräfte der nächsten Generation die Ergebnisse der Forschung zum Nutzen der Menschheit verwenden.“128 Der Wert der einzelnen Persönlichkeit war entscheidend. Der Rektor der Universität Marburg – wie dazu der Bericht Atrocities: A Study of German Reactions schilderte – war der Auffassung, dass die Deutschen mehrheitlich nichts mit dem Holocaust zu tun hätten.129 Jaspers, der anlässlich der Wiedereröffnung der Medizi126 German Universities, 1945 – Our Problem, p. 6. Im Original: „There are still Germans, even academes, who will abuse the tempting weapon of denunciation.“ 127 German Universities Today – An American Problem?, p. 5. Im Original: „How to unload this Nazi-appointed but politically (and academically!) innocuous ‚dead woodʻ is one of the problems worrying the new Deans and Rectors of German universities today.“ 128 Our Responsibility for German Universities, p. 402. Der Satz war wortgleich auf p.11 der frühesten und p. 13 der mittleren Version des Textes zu finden. Im Original: „[P]ermit a full curriculum, trusting to the effort of the humanists and the philosophers to ‚re-educateʻ their charges, so that future leaders of the nation will not be tempted to misuse the fruits of science to the detriment of humanity.“ 129 Der Bericht: „His remarks revealed that he was fully aware of the goals of our information policy on atrocities. … He felt certain that the people already knew and believed these facts, and further emphasis on this subject seemed to have little point. Yet he admitted that the German people still failed to understand the relationship between the growth of National Socialism and its final achievements of mass murder and that knowing the facts of atrocities had not as yet developed in them a sense of political responsibility which would prevent a repetition. In part, his attitude in this respect rose out of his implied consideration that the mass of the people are hardly able to cope with such political problems. Education, he claims, must be directed to the important leaders who will fashion and mold the future of Germany. He was amazingly vague on the direction which such a re-educational program should take.“ SHAEF, PWD, Intelligence Section, 21 June 1945, SUBJECT: Atrocities: A Study of German Reactions, pp. 13 – 14. Siehe auch oben, p. 150
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nischen Fakultät in Heidelberg am 15. August 1945 sprach (zunächst nur für kriegsapprobierte Ärzte, die ihr Studium regulär abschließen wollten), beschwor Die Erneuerung der Universität130: „Wohl hat der Kern der Universität in der Verborgenheit standgehalten. … Weil der wissenschaftliche Geist tatsächlich noch nicht zerstört werden konnte, vermag heute die Universität sogleich wieder zu beginnen, wenn auch nur in einem beschränkten Umfange. Daß wir wieder arbeiten dürfen, verdanken wir dem Einverständnis der Besatzungsmacht“.131 Hartshorne notierte in sein Tagebuch: „[Jaspers] sprach wundervoll und mit großem Mut gegen die Verfolgung der Juden, gegen die Diktatur, gegen die Gottlosigkeit und gegen den Anti-Intellektualismus. … Die Feier war wirklich wohltuend. Man spürt den Ernst und die Entschlossenheit. Man sieht, dass das Schlimmste nicht geleugnet wird und dass der Wunsch besteht, sich den Problemen zu stellen, und die Verpflichtung erkannt wird, die Verantwortung für die Zukunft zu übernehmen“.132 Vom 12. bis 15. Juni 1946 veranstaltete die Universität Marburg die Marburger Hochgespräche, eine Tagung über die Zukunft der Universitäten in Deutschland. Die Universität solle wieder der Hort der Wissenschaft und der Ort der Lehr- und der Lernfreiheit sein.133 Die Tagung war ein Höhepunkt der Bemühungen Hartshornes um die Wiederbelebung der Diskussionskultur, die den Kern der Wissenschaft und der Universität bilden müsse. In seiner kurzen – auf Deutsch gehaltenen – Einführungsansprache erwähnte EYH, dass zehn Jahre vorher die NaziHerrschaft an den Universitäten sein Dissertationsthema gewesen war, und fuhr dann fort, seither habe sich soviel verändert, dass die Deutschen nun wieder zur academic community gehören könnten: „Ich stehe nicht allein in Deutschland als einzelner Forscher, sondern als Glied einer großen Besatzungsarmee, und Sie, meine Damen und Herren, brauchen keinen Ausländer mehr und keinen Emigranten, um für Ihre eigenen Gedanken eine Stimme zu finden. Aber die Methoden und die Gewohnheiten eines echten Gedankenaustausches sind schwer wieder zu beleben. Sehr viel, aber nicht zuviel ist geschehen. Es ist schwer von beiden Seiten 130 Karl Jaspers, Die Erneuerung der Universität. Rede bei der Feier der Eröffnung der medizinischen Kurse an der Universität Heidelberg am 15. 8. 1945. In: Vom neuen Geist der Universität. Dokumente, Reden und Vorträge 1945/46, herausgegeben von K. H. Bauer, Berlin und Heidelberg: Springer-Verlag 1947, pp. 18 – 26. 131 Ibid., p. 19. Hervorhebung im Original. 132 Academic Proconsul, p. 101. Im Original: „[Jaspers] spoke wonderfully and with great courage against the persecution of the Jews, against dictatorship, against godlessness, and against antiintellectualism. … The ceremony was really very satisfying. One had the feeling of seriousness and purpose, consciousness of evil done and the desire to face the music and shoulder the responsibility for the future.“ 133 Marburger Hochschulgespräche. 12. bis 15. Juni 1946: Referate und Diskussionen, Frankfurt: Vittorio Klostermann 1947. Referate über Wissenschaft und Wissenschaftsreform hielten der Marburger Kunsthistoriker Richard Hamann sowie Julius Ebbinghaus, über Wissenschaft und Politik sprach unter anderem Heinz Sauermann, ein während der Nazizeit bedrängter und seit 1945 als Ordinarius in Frankfurt etablierter Nationalökonom, und über Forschung, Lehre und Berufsausbildung referierte unter anderem Alfred Weber aus Heidelberg. Als Soziologen waren in der Anwesenheitsliste vermerkt: Karl Loewenstein, ehemals ein Doktorand Max Webers und nun Leiter der Education and Religious Affairs Branch der Militärregierung Bayerns, Alexander Mitscherlich aus Heidelberg sowie Walter Rüegg aus Zürich.
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her: aus einer Besatzung Kulturvermittler zu bilden und aus einer besiegten Nation einen fröhlichen Partner einer internationalen Gemeinschaft“.134 Der Ansatz war, die Universität durch die Personen und die Persönlichkeiten wieder erstehen zu lassen. Sie mochten den Geist der Institution am ehesten verkörpern. Dies bedeutete zweierlei. Es hieß, jene Deutschen zu stützen, die im Nationalsozialismus isoliert oder aus ihren Stellen vertrieben worden waren und die ihrerseits oft durch ihre Landsleute im Nachkriegsdeutschland angefeindet wurden. Und es hieß auch, jene möglichst nicht zu schützen, die sich schuldig gemacht hatten, was allerdings aktenkundig erwiesen sein musste und auf dem Dienstweg zu geschehen hatte. Dass die Marburger Gelehrten, denen Hartshorne die Wiederentstehung der Universität anvertraute, kein leichtes Leben hatten, berichtete ein Zeitzeuge. Hans Speier, Soziologe135, war 1933 aus Deutschland geflohen und bereiste die amerikanische Zone und Österreich im November 1945 und Februar/März 1946 als Beauftragter des State Department und Gast der Information Control Division. Speiers Briefe, veröffentlicht fünfunddreißig Jahre später136, gaben ein anschauliches Bild. Er schrieb über Ebbinghaus: „Er gibt sich offen als Anti-Nationalsozialist zu erkennen und hat aus diesem Grunde Schwierigkeiten mit seinen Kollegen“.137 Über Rudolf Bultmann, den angesehenen Marburger Theologen, der dem UPC angehörte, schrieb er: „Bultmann ist ein alter Mann, klein, mit einer Gehbehinderung; sein Blick ist durchdringend und still beobachtend. Seine Stimme ist sehr klar. Er macht kaum Gesten, wenn er spricht. Sein Gesicht strahlt Güte und Intelligenz aus. … Bultmann ist durch und durch redlich und ohne eine Spur von Servilität, Schwadronieren oder übertriebene Selbstdarstellung. … [Aber es] gibt nationalistischen 134 Ansprache des Universitätsoffiziers der amerikanischen Militärregierung in Marburger Hochschulgespräche, pp. 7–8, cit. p. 7 (Hartshorne sprach auf Deutsch). 135 Hans Speier hatte in den zwanziger Jahren in Heidelberg bei Emil Lederer Soziologie studiert und 1929 promoviert. (Er hatte dort 1925/1926 Talcott Parsons kennengelernt, der ihm später das Affidavit für die Einreise in die USA stellte.) Er war mit Lederer 1930 – 1933 an die Hochschule für Politik nach Berlin gewechselt und 1933 an die New School for Social Research übersiedelt. Dort gehörte er zur University in Exile, bis er 1942 zur R&A-Branch des OSS nach Washington wechselte, wo er EYH kennen lernte. Nach dem Krieg übernahm er Geheimaufträge in Deutschland für das Außenministerium und wurde 1946 Stellvertretender Leiter der Division Occupied Areas des State Department, wo er maßgeblich am Lang-Range Policy Statement on German Reeducation mitwirkte, das zur Direktive No. 269 des für die Deutschlandpolitik zuständigen interministeriellen State-War-Navy Coordinating Committee wurde. Siehe: Hans Speier, Nicht die Auswanderung, sondern der Triumph Hitlers war die wichtige Erfahrung. Autobiographische Notizen eines Soziologen, in: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch, Band 6: Vertreibung der Wissenschaften und andere Themen, München: edition Text und Kritik 1988, pp. 152 – 173; Uta Gerhardt, German Sociology: T. W. Adorno, M. Horkheimer, G. Simmel, M. Weber, and Others, German Library Bd. 61, New York: Continuum 1998, pp. 67 – 80 und 318 (über Hans Speier); Gerhardt, Von der Potsdamer Konferenz zum Marshallplan: Vorgeschichte und Folgen des Long-Range Policy Statement on German Reeducation, in: Manfred Berg und Philipp Gassert (Hrsg.), Deutschland und die USA in der Internationalen Geschichte des 20. Jahrhunderts, Stuttgart: Steiner 2004, pp. 386 – 406. 136 Hans Speier, From the Ashes of Disgrace. A Journal from Germany 1945 – 1955, Amherst: The University of Massachusetts Press 1981. 137 Ibid., p. 54. Im Original: „He is openly anti-Nazi and has difficulties among his colleagues for this reason.“
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Widerstand an der Universität. Einige evangelische Pfarrer, die den Studenten Vorträge über Religion halten, sehen den Humanismus als den Anfang allen Übels, das in den Nihilismus und den Bolschewismus geführt habe. … Was Karl Barth betrifft, so ist das einzige Exemplar seines neuen Buches im persönlichen Besitz Bultmanns; niemand sonst hat es. Es ist nicht erhältlich“.138 Aber über Jaspers, der in den Konflikten um die Wiedereröffnung der Universität Heidelberg eine zwielichtige Rolle spielte139, vermerkte er: „Sogar ein Mann wie Jaspers – der vielleicht einer der besten Deutschen war, die wir 1933 in Deutschland zurückgelassen haben, oder doch einer der besten Denker – scheint es nicht wahrnehmen zu wollen, wieviel Deutschland in Europa zerstört hat. Stattdessen konzentrieren solche Leute sich darauf, was die Nazis Deutschland angetan haben“.140 Dass Hartshornes Bemühungen oft erfolglos blieben, bezeugen Eintragungen seiner Tagebücher. Die Deutschen, denen er sich verbunden fühlte, waren oft wenig anerkannt an ihren Universitäten. Mehrmals musste er diese Deutschen vor amerikanischen Zugriffen schützen – so gelang ihm nur mit Mühe, Bultmann vor der Beschlagnahme seines Hauses durch das Militär zu bewahren. Viele Militärangehörige sahen nicht, dass es notwendig war, auch mit Deutschen zusammen zu arbeiten, wenn die Reeducation, die für die Demokratie unerlässlich war, gelingen sollte. Viele Deutsche wollten sich von den Amerikanern nichts vorschreiben lassen. Und schlimmer: Manche Deutsche bemühten sich, ihre NS-Vergangenheit vor den Amerikanern zu verbergen. Hartshorne war unerschrocken, wenn Belastete des Naziregimes ausgeschaltet werden mussten. Um eine angemessene University Atmosphere überhaupt möglich zu machen, mussten sie ausgeschaltet werden. Sein Vorgehen gegen nationalsozialistisch Belastete in drei Fällen ist aktenkundig. In Heidelberg wurde ihm als Mitarbeiter bei der Entnazifizierung ein Dr. Fuhrmann zugewiesen, dessen Namen er dann in den Naziakten verzeichnet fand: Er leitete die Unterlagen an das CIC weiter.141 Im Sinne des Besatzungsregimes unbefriedigend 138 Ibid., p. 52 – 53. Im Original: „Bultmann is an old man, small, limping; his eyes are penetrating and quietly observing. His voice is very clear. He gestures little when he speaks. His face shows kindliness and intelligence. … Bultmann is altogether upright without any trace of servility, muddleheadedness, or a pointed sense of self-importance. … There is a nationalistic opposition at the university. Some Protestant ministers who give religious talks to students present humanism as the beginning of all evil that led to nihilism and bolshevism. … As to Karl Barth, the only copy of his new book in Marburg is the one owned by Bultmann; nobody has the book. It is not available.“ Es könnte sich um das im Jahr 1945 erschienene Werk Barths Eine Schweizer Stimme 1938 – 1945, Zöllikon-Zürich 1945 gehandelt haben, das pp. 371 – 381 einen Beitrag zum Thema „Wie können die Deutschen gesund werden?“ enthielt. 139 Dazu: Uta Gerhardt, Die Amerikanischen Militärregierungsoffiziere und der Konflikt um die Wiedereröffnung der Universität Heidelberg 1945 – 1946, in: Jürgen C. Heß, Hartmut Lehmann und Volker Sellin (Hrsg.), Heidelberg 1945, Stuttgart: Steiner 1996, pp. 28 – 52. 140 Hans Speier, From the Ashes of Disgrace, p. 38. Im Original: „[E]ven men like Jaspers – who probably were among the best Germans we left behind us in 1933, or at least the most thoughtful ones – appear not to have realized what the Germans did to Europe. Instead, they concentrate on what the Nazis have done to Germany.“ 141 Dazu die Tagebuchstelle: „I almost took a man with me to look at university files, a man recommended by Freudenberg, Fuhrmann, Sekretär des Rektorats (or some such office). I found
2. EYH und die deutsche Universität nach 1933 und 1945
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endete der „Fall“ Karl Heinrich Bauer. Bauer hatte sich im August 1945 ohne Zustimmung der Militärregierung durch den Akademischen Senat zum Rektor in Heidelberg wählen lassen und konnte letztlich verhindern, dass seine Tätigkeit unter den Nazis ihm gefährlich wurde.142 Gegen den zuständigen CIC-Beauftragten für Heidelberg, der Bauers NS-Vergangenheit und auch die Verfehlungen des Verfassungsrechtlers Ernst Forsthoff143 aufdeckte, inszenierte Bauer (unter Mithilfe von Jaspers) eine regelrechte Hetzkampagne. Das Ergebnis war, dass der CIC-Mann in die USA zurückkehren musste und die Position des Heidelberger Universitätsoffiziers vom Stellenplan der Militärregierung gestrichen wurde, während Bauer als Rektor weiter amtierte.144 Ein weiterer Fall, wo Hartshorne einen Nazitäter im Visier hatte, war Otmar von Verschuer, der ehemalige Direktor des (wie EYH in seinem Jahresbericht meinte) Kaiser Wilhelm Institut fuer Psychologische Anthropologie. Der Bericht – der Berichtszeitraum reichte bis Ende Juli 1946 – hielt fest, dass „der frühere Direktor des Instituts, Professor Freiherr von Verschuer, in die nationalsozialistische Rassentheorie und Rassenforschung verstrickt war“.145 Verschuer bemühte sich um eine Anstellung an der Universität Frankfurt, und EYH hatte das CIC eingeschaltet. Der Jahresbericht: „Wenige Tage darauf wurde festgestellt, dass Verschuer auf der Liste der NS-Verbrecher steht, die die G-2-Abteilung des USFET erstellt hat. Er wurde noch nicht verhaftet, aber vorgewarnt, und er kann den Umzug nach Frankfurt nur solange vorbereiten, bis er interniert wird. Dazu hat das CIC Marburg nun das CIC Fulda eingeschaltet, und der Universitätsoffizier hat sich überzeugt, dass seine Anordnungen befolgt wer-
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his file there with evidence of strong interest in geopolitics and definite political reporting on the ‚Jewish pressʻ etc. during a trip to the United States in 1938. I shall have him fill out a Fragebogen and see what he answers to the question on dissemination of NS propaganda!“ Academic Proconsul, p. 82. Bauer hatte im Jahr 1926 ein Buch nach einer Vorlesungsreihe über Rassenhygiene veröffentlicht und im Jahr 1936 ein Kompendium zur Zwangssterilisierung (mit einem jüngeren Kollegen) herausgegeben. Hartshorne in seinem Tagebuch: „Bauer must evidently be carefully watched. God help us if his indiscretions ever get out of hand and we have to ‚crack downʻ on him.“ Eintrag für Wednesday, 12 September 1945, Academic Proconsul, pp. 120 – 121. Das Problem war, ob Heidelberg wegen der Intransigenz Bauers – nach der Wiedereröffnung – noch einmal geschlossen werden musste, um die Entnazifizierung zu gewährleisten. In demselben Eintrag monierte EYH: „The Germans cannot understand: a) that a university is not a place to absorb unemployed youth, … e) that universities should turn out fewer good doctors rather than many mediocre ones.“ Ibid., p. 121. Ernst Forsthoff hatte 1933 ein Bekenntnis zum totalen Staat abgelegt, wo er gegen Weimar polemisierte und eine „Herrschaftsordnung“ und eine „Volksordnung“ des totalen Staates proklamierte: Ernst Forsthoff, Der totale Staat, Hamburg: Hanseatische Verlagsanstalt 1933. Dazu: Gerhardt, Die Amerikanischen Militärregierungsoffiziere und der Konflikt um die Wiedereröffnung der Universität Heidelberg 1945 – 1946, insbes. pp. 49 – 51; Steve Remy, The Heidelberg Myth. The Nazification and Denazification of Heidelberg University, 1933 – 1957, Cambridge MA: Harvard University Press 2002. Annual History. Education and Religious Affairs Division. Higher Education. Office of Military Government Land Greater Hesse. June 1946, p. 47. Im Original: „the former director of the Institute, Professor Freiherr von Verschur (sic), who had a record of involvement with Nazi race theories and research.“ Der Bericht zu ERA im Land Großhessen (aus der Feder Hartshornes) ist im Hessischen Staatsarchiv Marburg zugänglich.
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III. Ein Amerikaner der Stunde Null
den“146 – nämlich dass Verschuer in einem Internierungslager bis zu seinem Spruchkammerverfahren einsitzen werde: Seit Juni 1946 waren nunmehr die Spruchkammern für die Belasteten des Naziregimes zuständig. Die zuständige Spruchkammer solle „sich Verschuer genauestens vornehmen, ehe die Militärregierung ihm irgendeine Erlaubnis erteilt, eventuell eine Tätigkeit fortsetzen zu können“.147 Zusammenfassend: The German Universities and National Socialism analysierte die Zerstörung der traditionellen deutschen Universität durch die Politik der Nationalsozialisten. Die University Atmosphere, der Alltag der Hochschullehrer und der Studierenden, zeigte, wie tief der Kahlschlag der Wissenschaft und des Denkens ging. Nach dem Krieg war EYH zuständig für die Wiederherstellung der Institution Universität. Er widmete sich dieser Aufgabe an zwei Schwerpunkten. Der eine war die Entnazifizierung, um Persönlichkeiten, die sich ihre Integrität bewahrt hatten, zu Trägern des Neuanfangs – mit amerikanischer Unterstützung – zu machen. Der andere Schwerpunkt war die wissenschaftliche Diskussion, so dass an den Universitäten der Humboldtʼsche Geist wieder einziehen konnte. In einem Vortrag, den er auf Deutsch hielt und der posthum veröffentlicht wurde, sagte er: „Etwas und in der Hauptsache einige Menschen blieben aus den großen Tagen übrig; aber sehr, sehr viel ist unter dem Schutt der Jahre und der tragischen Irrtümer für immer verschwunden“. „Noch in der Zukunft“, so meinte er weiter, liege die Internationisierung, wodurch an die Traditionen angeknüpft werde, wie sie in den USA übernommen und jenseits aller Nazieinflüsse gepflegt worden waren: „Tatsache ist, daß Amerika sehr viel Gutes von Deutschland gelernt hat. … Viel wichtiger ist die Tatsache, dass jeder denkende Deutsche zugeben wird, daß Deutschland sehr viel Gutes von seinen eigenen Traditionen verloren hat, und daß – und hier ist der wichtigste Punkt – sehr viel von diesen guten deutschen Traditionen, die in Deutschland selbst verloren gegangen sind, inzwischen in Amerika nicht nur erhalten geblieben, sondern durch die dortige Verflechtung mit westeuropäischen Vererbungen und einheimischen amerikanischen Tendenzen sogar reicher und wertvoller geworden ist“.148
146 Ibid., p. 48. Im Original: „Information was received a few days later that Verschur was on the USFET G-2 ‚wanted listʻ, but as he had not yet been arrested it was suggested that he be allowed to continue the move of his Institute to Frankfurt before a drastic step be taken. This was taken up by CIC, Marburg, with CIC, Fulda, on 19 July and the University Officer was given assurance that his suggestion would be followed“. USFET stand für United States Forces European Theater, und die G-2-Abteilung war zuständig für Intelligence, also auch die Ausschaltung der Nazis. 147 Ibid. Im Original: „[H]e would have to be most carefully investigated by the Spruchkammer and that until that time Military Government could not give him permission to function in any official capacity.“ Verschuer wurde bekanntlich in der amerikanischen Zone nicht wieder an eine Universität berufen. Er konnte allerdings im Jahr 1951 die Wiedereröffnung seines Instituts an der Universität Mainz erreichen, die zur französischen Besatzungszone gehört hatte. 148 Die Krise der deutschen Hochschulen. Von Prof. E. Y. Hartshorne + (Harvard), Die Neue Zeitung, 29. November 1946, Seite 6. Hervorhebung im Original. Das Wort „Vererbungen“ könnte eine Übersetzung des englischen heritages sein, wofür Hartshorne das Wort „Traditionen“ hätte wählen sollen.
3. Zur Soziologie der Stunde Null
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3. ZUR SOZIOLOGIE DER STUNDE NULL EYH ist der Wiederbeginn der Soziologie in der amerikanischen Zone bzw. in Westdeutschland im ersten Jahr nach Kriegsende zu danken. Seine Leistungen: Er konnte Leopold von Wiese, den Nestor der deutschen Soziologie (geboren 1875) dafür gewinnen, am 5. und 6. April 1946 eine Versammlung nach Bad Godesberg einzuberufen (wofür Hartshorne die interzonalen Reisegenehmigungen erwirkte); dort wurde die Deutsche Gesellschaft für Soziologie wieder gegründet. Er veranstaltete nicht nur die Marburger Hochschulgespräche, sondern machte den Vorschlag, der dankbar aufgenommen wurde, einen Soziologentag in Frankfurt im September 1946 auszurichten. Anlässlich des Achten Deutschen Soziologentages, der vom 19. – 21. September 1946 in Frankfurt stattfand, beklagten die sechs Redner, die ein Grußwort sprachen oder einen Einführungsvortrag hielten, den großen Verlust, den Hartshornes Tod bedeutete.149 Heinz Sauermann, dessen Berufung – mit Lehrbefugnis unter anderem für die Soziologie – Hartshorne gefördert hatte150, sagte in seiner Ansprache als Vorsitzender des Vorbereitungskomittees: „Er machte uns Mut, die Schwierigkeiten der Formalitäten nicht zu überschätzen, vorbereitende Arbeiten nicht zu überdehnen, das Wagnis eines Kongresses zu übernehmen“.151 Der Frankfurter Rektor Walter Hallstein zitierte Pestalozzi: „,Laßt uns Menschen werden, damit wir wieder Staaten werden können und nicht durch Unmenschlichkeit zur Unfähigkeit des Bürgersinns und durch Unfähigkeit zum Bürgersinn zur Auflösung aller Staatskraft, in welcher Form es auch immer geschehe, versinken.ʻ In dem Geist solcher Verantwortung ist es gemeint, wenn ich diesem Soziologentag allen Erfolg für seine Arbeit wünsche. Es ist zugleich im Sinne des Mannes, dessen Wirken wir zu einem großen Teil sein Zustandekommen verdanken, Dr. Hartshornes, dessen Namen noch einmal auszusprechen mir ein Bedürfnis ist in diesem Haus, in dem er so oft an den ersten Nöten unserer Wiederbelebung teilgenommen hat“.152 Der Stand des soziologischen Denkens, den der Soziologentag offenbarte, entsprach allenfalls den Lehren der Weimarer Zeit – minus dem Erkenntnisstand der Emigranten, von denen kein einziger eingeladen war. Leopold von Wiese votierte in seinem Vorwort gegen das Prinzip der „werturteilsfreien Diskussion“ Max Webers, da dadurch die freie Meinungsäußerung unterbunden werde.153 In seinem Er149 Schriften der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, Verhandlungen des Achten Deutschen Soziologentages vom 19. bis 21. September 1946 in Frankfurt a. M. – Vorträge und Diskussionen in der Hauptversammlung und in den Sitzungen der Untergruppen, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1948. 150 Zu Sauermanns mühsamem Überleben bis 1945 und Karriere erst nach dem Zweiten Weltkrieg siehe Jan-Otmar Hesse, Die permanente Bewährungsprobe. Heinz Sauermann in der Frankfurter Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät 1937–1945, in: Jörn Kobes und Jan-Otmar Hesse (Hrsg.), Frankfurter Wissenschaftler zwischen 1933 und 1945, Göttingen: Wallstein 2008, pp.157–181. 151 Zweites Vorwort, Verhandlungen des Achten Deutschen Soziologentages, p. 7. 152 Prof. Dr. Hallstein, Magifizenz, ibid., p. 18. 153 Erstes Vorwort, ibid., p. 1: „Max Weber wollte die Gesellschaft zu einem Forum für werturteilsfreie Diskussion gesellschaftlicher Probleme machen. Die damals [anläßlich des Ersten
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III. Ein Amerikaner der Stunde Null
öffnungsvortrag plädierte er für eine – seine eigene – Beziehungslehre der sozialen Gebilde, die zur Grundlage eines neuen gesellschaftlichen Bewusstseins werden müsse: „Die große sozialethische Aufgabe für die kommenden Generationen ist die Ausdehnung altruistischer Denk- und Gefühlsweise auf die sozialen Gebilde“.154 Max Graf Solms, dessen eigener Vortrag über „Gesellungslehre“ mit dem Ausruf „Die Wahrheit!“ endete155, dankte als Verhandlungsleiter von Wiese für dessen „ernste umfassende Darstellung Ihrer wissenschaftlichen Position, die uns bekannt und vertraut ist, und die in ihrer Geschlossenheit auf alle Anwesenden einen besonderen Eindruck gemacht hat“.156 Julius Ebbinghaus konnte sich in der Diskussion über Heinz Sauermanns Vortrag Die soziale Umschichtung allerdings nicht verkneifen, den Versammelten vorzuhalten, um wieviel lebhafter und engagierter die Diskussionen „in Marburg auf der Hochschulwoche“ gewesen waren.157 Dass die Soziologie am Ende des Nationalsozialismus in einem beklagenswerten Zustand der begrifflichen Erstarrung war, schilderte Speier anhand seines Besuchs – zusammen mit Hartshorne – bei Solms in Marburg vom Dezember 1945. Solms, so Speier im Brief an seine Frau, „konstruiert ein neues System der Soziologie – wahrhaftig. … In Solmsʼ Arbeitszimmer hängt eine Photographie Max Webers und eine gerahmte Seite des Originalmanuskripts von Wirtschaft und Gesellschaft. … Was das System betrifft, so war die eine Wand seines Arbeitszimmers vollständig bedeckt mit einer riesigen Schautafel mit den überdimensionierten Teilüberschriften: VORAUSSETZUNGEN – STRUKTUREN – LEHRE – AUFBAU – GESCHICHTLICHKEIT – METHODOLOGIE und so weiter“. Speier schlug Solms vor, etwa die Wohnsituation, die Ernährungslage, die Bevölkerungsumschichtungen, den gesellschaftlichen Statusverlust oder die politischen Einstellungen in Marburg empirisch zu untersuchen. Sei dies nicht ein spannendes Thema für einen Soziologen? „Antwort: ‚Ja, ich habe mich früher auch einmal mit der Soziographie beschäftigtʻ. Und später: ‚Man müsste dazu allerdings eine historische Fragestellung wählenʻ.“158
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Deutschen Soziologentages 1910] viel besprochene Frage der Werturteile wurde in der Hauptsache in Webers Sinne gelöst, wonach sich die Soziologie als theoretische Wissenschaft völlig der ethischen und politischen Urteile zu enthalten habe. Aber diese gerechtfertigte Forderung wurde, grade weil so temperamentvolle Männer wie Weber, Tönnies, Sombart und Simmel sie vertraten, bald überspitzt und führte zur Unterbindung freier Meinungsäußerung“. Erster Vortrag. Leopold von Wiese, Die gegenwärtige Situation, soziologisch betrachtet, in: Verhandlungen des Achten Deutschen Soziologentages, pp. 20 – 40, cit. p. 38. Zweiter Vortrag. Max Graf Solms, Gesellungslehre, ibid., pp. 57 – 90 (einschließlich Anhang), cit. p. 82. Prof. Graf Solms (als Verhandlungsleiter), ibid., p. 40. Diskussionen des dritten Vortrages, Magn. Prof. Dr. Julius Ebbinghaus, ibid., p. 112. Hans Speier, From the Ashes of Disgrace, p. 52. Im Original: „Graf Solms, a student of Toennies, is constructing a new system of sociology – no less. … In Solmsʼs study there is a photographic portrait of Max Weber and a framed page of the original manuscript of Weberʼs Wirtschaft und Gesellschaft. … As to his system, one wall of the study was covered by an enormous chart showing various parts of it in huge headings: PRECONDITIONS – STRUCTURES – DOGMA – SCAFFOLDING – HISTORICITY – METHODOLOGY, and so on. … [I remarked that there is an unprecedentally fertile field for sociological studies in Germany today.]
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Das soziologische Denken in Deutschland am Ende des Zweiten Weltkriegs hatte nichts mehr mit Georg Simmels oder Max Webers Werk zu tun. Es dauerte bis zum Wintersemester 1949/1950, bis die ersten Emigranten an die Universitäten zurückkehrten – René König nach Köln und Theodor W. Adorno in Vertretung Max Horkheimers an die Universität Frankfurt.159 Dennoch war die Soziologie der damaligen Zeit nicht abgekoppelt von den zeitgenössischen Theorien des sozialen Wandels zur modernen Industriegesellschaft. Die Probleme des Übergangs zu einem rational-legalen Herrschaftssystem im Sinne Max Webers wurden in den USA mit Blick auf Deutschland soziologisch erörtert – woran EYH durch seine enge Verbindung zu Parsons teilhatte. Im Spätherbst 1944 schrieb Parsons – zunächst als seinen Beitrag zu dem Konferenzbericht Germany After the War – eine Abhandlung über The Problem of Controlled Institutional Change: An Essay in Applied Social Science.160 Sein Thema war, ob und mit welchem Programm die amerikanische Besatzungspolitik in Deutschland dazu beitragen könne, aus dem rassistischen Regime einen Rechtsstaat und aus der Diktatur eine Demokratie zu machen. Er legte dar, dass die soziologische Theorie einer modernen Industriegesellschaft nach den Handlungsorientierungen der achievement orientation und des universalism frage161 – also Handlungsorientierungen, die durch den sozialen Wandel, den die Besatzungsherrschaft in Deutschland einleitete, zu institutionalisieren seien. Der zweite Teil der Abhandlung untersuchte The Case of Germany. Drei Politikformen kennzeichneten den sozialen Wandel der Stunde Null: die repressiven Answer: ‚Yes, I, too, have been interested in sociographyʻ. And later: ‚One ought to do this, however, in a historical context.ʻ“ 159 Uta Gerhardt, Die Wiederanfänge der Soziologie nach 1945 und die Besatzungsherrschaft, in: Bettina Franke, Kurt Hammerich (Hrsg.), Soziologie an deutschen Universitäten: Gestern – heute – morgen, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2006, pp. 31 – 114. 160 Parsons, The Problem of Controlled Institutional Change: An Essay in Applied Social Science, in: Talcott Parsons on National Socialism, pp. 291 – 324. Die Abhandlung ging nur in Teilen in den – durch Richard Brickner verfassten – Konferenzbericht Germany After the War ein und wurde vollständig im Februar 1945 in der Zeitschrift Psychiatry veröffentlicht. Parsons verschickte hundert Sonderdrucke auch an Adressaten, die ihm Hartshorne empfahl, damit die Abhandlung möglichst in die Hände der Verantwortlichen der Deutschlandpolitik im Außenund Kriegsministerium gelangte. Hartshorne veranlasste außerdem einen Nachdruck des Berichts Brickners über die Konferenzserie Germany After the War in England, wofür Col. Henry Dicks ein Vorwort schrieb, ein Experte für Psychologie der Deutschen unter dem Nationalsozialismus: Dadurch sollte die Konzeption des „Gesunde-Anteile-Stärkens“ im Zuge des controlled institutional change auch den Planern der britischen Besatzungspolitik bekannt werden, wie Hartshorne an Parsons schrieb. Siehe Parsons-Nachlass HUG(FP) – 15.2, Box 11 und Hartshorne-Nachlass. Sie auch oben, Studie II. 161 Achievement orientation, also die Bewertung von Handlungen nach dem Sachverstand des Handelnden und der Qualität der geleisteten Arbeit, und universalism, also die Chancengleichheit beim Zugang zu Bildungsmöglichkeiten und im Berufsleben, erläuterte Parsons in seinem zweiten Hauptwerk The Social System näher. Sie waren die institutionalisierten Handlungsorientierungen, die die soziale Struktur der modernen Industriegesellschaft kennzeichneten – und zu Beginn der fünfziger Jahre gehörte dazu zeitgenössisch auch Westdeutschland. Talcott Parsons, The Social System, Glencoe IL: The Free Press of Glencoe 1951.
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Maßnahmen desavouierten oder eliminierten die mit dem Nazistaat verflochtenen Instanzen – die Großindustrie, die elitäre Ministerialbürokratie, das Militär und die NSDAP. Die permissive Politik förderte die „gesunden Anteile“ der institutionellen und der individuellen Orientierungen. Und die direkte Kontrolle – etwa das Verbot der Volksverhetzung – kriminalisierte das nationalsozialistische Gedankengut. Am wichtigsten für den Neuanfang, so Parsons, war die permissive control. Das Permissive, wie er in einem seiner Memoranden für die Planungsabteilung der Foreign Economic Administration Enemy Branch darlegte162, mache die Deutschen zu Bundesgenossen der neuen Politik. Die Deutschen selbst müssten den Autoritarismus, den Rassismus und den Elitismus ablehnen und davon abrücken. Eine umsichtige permissive control, so Parsons, könne den Übergang zur Demokratie bewirken, wenn die Rückkehr zur abendländischen Kulturtradition der moralischen Werte und der Menschenrechte gelinge – wobei die Wissenschaft und die Freiheit der Forschung ein wichtiges Stück Neuanfang seien: „Die westliche Zivilisation als ganzes gehört geschichtlich zu einer moralischen Gemeinschaft – obwohl sie bisher noch nirgendwo voll entwickelt worden ist. Die Grundlage für die Zivilisation bilden die christlichen Werte sowie die daraus begründeten oder damit zusammenhängenden säkularen Werte – etwa die Wissenschaft und die Freiheit des Forschens, die Würde der Person, sogar die Chancengleichheit. Trotz Verwässerung, Verbiegung und Anfeindung sind diese Werte in Deutschland nie ganz verschwunden. … Ein umsichtiger Appell an die Überzeugungen, wie sie diesen Werten entsprechen – und zwar in Worten und Taten –, dürfte eine gewisse Wirkung nicht verfehlen“.163 Der Schlusspassus las sich wie ein guter Ratschlag an Hartshorne: „Obwohl manche Vorschläge für eine demokratisierende Besatzungspolitik unpraktisch klingen mögen, sollte man dennoch jeden einzelnen unter den folgenden zwei Gesichtspunkten sehr genau prüfen: Welche Reformen können das System in die richtige Richtung verändern? und: Können etwaige Reaktionen des sozialen Systems auf die Reformen unwillkürlich den Neuanfang gefährden? Sollte sich abzeichnen, was durchaus möglich ist, dass ein Reformprogramm eher schädlich als nützlich wäre, einen gewünschten sozialen Wandel herbeizuführen, so achte man darauf, dass die Gegenkräfte wenigstens so schwach sind, dass sie das 162 Zu Parsonsʼ Memoranden für die Foreign Economic Administration Enemy Branch über die Politik des sozialen Wandels für Deutschland siehe: Uta Gerhardt, Talcott Parsons – An Intellectual Biography, New York: Cambridge University Press 2002, pp. 120 – 126. 163 Parsons, The Problem of Controlled Institutional Change, p. 321. Im Original: „Western civilization as a whole has been a moral community historically – although never anywhere nearly perfectly integrated. This has been based on the values of Christianity and certain derived or closely related secular values – such as those of science and free inquiry, the dignity of the person, even equality of opportunity. Despite differentiated versions, distortions, and contradictory values there, these values are by no means dead in Germany. … A cautious propaganda appeal to these sentiments may be considered – by word and deed.“
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Ergebnis nicht torpedieren, oder dass die Maßnahme so gewählt ist, dass sie ihren Zweck trotzdem erreicht, denn andernfalls sollte man bereit sein, das betreffende Politikprogramm lieber fallen zu lassen“.164 Hartshornes Wirken als Universitätsoffizier entsprach diesen Maximen. Bei der Entnazifizierung suchte er nach den „einwandfreien“ Deutschen – er verwandte in seinem Tagebuch das deutsche Wort. Die UPCʼs machten die Deutschen zu den Hütern ihrer eigenen Tradition – unter der wachsamen Kontrolle der Besatzungsmacht. Der Bericht über die Higher Education Großhessens beschrieb weitere Tätigkeitsfelder. Es wurde, wie der Bericht über die Tätigkeit der Universitätsabteilung der ERA (Verfasser: Hartshorne) festhielt, ein „Beauftragter des Rektors für Studienangelegenheiten“ eingesetzt, es wurden Studentenvertreter in die Fakultäten entsandt, der ASTA an den Universitäten wurde gegründet und Studentenhäuser wurden eingerichtet. Der Auf- und Ausbau der Bibliotheken – zunächst der Reading Rooms, der Vorläufer der Amerikahäuser, mit den neuesten Zeitschriften und Büchern aus den USA – verbesserte die Voraussetzungen für Studium und Forschung. Die Diskussionen anlässlich der Marburger Hochschulgespräche waren sachliche Auseinandersetzungen über die Probleme der Universität. Die Vortragsreihen, an denen EYH sich – offenbar auf Deutsch – selbst beteiligte, behandelten aktuelle Themen. Darin lag unzweifelhaft ein permissives Programm. Hartshornes Sicht 1945 – 1946 entsprach der doppelten Perspektive, dass die Mentalität des Faschismus unmissverständlich desavouiert – gegebenenfalls kriminalisiert – und dass der Geist der academic freedom durch eine permissive Politik gestärkt werden musste. Die Deutschen – geeignete, verantwortlich denkende Deutsche – hatten bei dieser Wiederentstehung der Institution Universität eine bewusst eingeplante wichtige Rolle. In seinen Aufzeichnungen – auf Deutsch – für einen Redetext zur Eröffnung einer Diskussion mit Jugendlichen oder Studenten in Marburg (überschrieben: „Persönliche Bemerkungen – Würde gern ihre Meinung hören“) schilderte Hartshorne – wohl im Sommer 1946 – das offensichtliche Dilemma und die dennoch erfolgreiche Mission der Stunde Null folgendermaßen: „Nichts wirkt so erzieherisch wie die Erfahrung, bei Nationen ebenso wie Individuen. So kann man im Ausland noch zweifeln, ob die deutsche Jugend überhaupt noch erziehbar sei. Hauptfrage des Auslandes: Welche Garantie gibt es, dass die deutsche Jugend nicht noch einmal als Mittel (zum willigen Mittel) der Welteroberung und Völkerunterordnung ausgenutzt werden kann? Hier, die Verantwortlichkeit der älteren Genera164 Ibid., p. 322. Die Schreibweise des Zitats entspricht dem Original. Im Original: „Although some openings for control are far more strategic than others, in general there are two fundamental maxims: Utilize every opening for control which is practicable and can be shown to influence the system in the right direction, but Analyze the repercussions of such change throughout the system as carefully as possible. Where there is reason to believe that these, as will frequently be the case, include processes which tend to neutralize or nullify the change, make sure that one or more of the following conditions is fulfilled: that the counteracting force is of sufficiently small magnitude so that the net gain is substantial; that measures are feasible which can be expected effectively to neutralize it; or, that the proposal for change is abandoned.“
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III. Ein Amerikaner der Stunde Null
tion in Deutschland – und der Welt. Wir werden helfen wo wir können, aber ohne bedingungslose Hingabe zur Sache seitens der Deutschen wird das Ziel kaum erreichbar sein. Es ist bedrückend zu sehen, wie viele Deutsche ihre Hauptaufgabe immer noch darin sehen, durch Zurückhaltung, oder sagen wir Opposition, einer missverstandenen nationalen Ehre gerecht zu werden. So wird das Ausland verstimmt und müde. Auf der anderen Seite ist es fast ein Mirakel, dass so viel Vernunft und so viele vernünftige Menschen besonders unter der Jugend noch übrig geblieben sind nach der erbarmungslosen Ausmerzungsarbeit der zwölf Jahre Diktatur“.165
165 Maschinenschriftliche Notizen mit handschriftlichen Zusätzen (4 pp.), überschrieben (handschriftlich) Persönliche Bemerkungen Würde gern ihre Meinung hören. Ohne Datum. Hartshorne-Nachlass.
IV. DER NEUBEGINN DER EMPIRISCHEN SOZIALFORSCHUNG UND DIE SOZIOLOGIE DER FRÜHEN BUNDESREPUBLIK „Amerikanischer Import“ und die fünfziger Jahre EINLEITUNG Anlässlich der Tagung Wissenschaften und Wissenschaftspolitik im Jahr 2000, die sich mit den Brüchen und Kontinuitäten in der Wissenschaftsgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts befasste und zugleich den Auftakt des Schwerpunktprogramms der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) Wissenschaft, Politik und Gesellschaft Deutschlands im internationalen Zusammenhang im 19. und 20. Jahrhunderts (SPP 1143) leistete, formulierte Carsten Klingemann, der langjährige Koordinator der Arbeitsgruppe „Ideengeschichte der soziologischen Theorie“ in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS), einen Diskussionsbeitrag zum Thema der empirischen Sozialforschung in Deutschland. Im Konferenzband der Tagung unterstrich Klingemann anhand zahlreicher Karrieren von Soziologen der Nachkriegszeit, die bereits während des Nationalsozialismus in der Forschung tätig gewesen waren, wie stark die Kontinuität insbesondere der empirischen Sozialforschung zwischen der Nazizeit und der Nachkriegszeit (gewesen) sei.1 Im Nationalsozialismus sei die sozialwissenschaftliche Tatsachenforschung zweifelsohne ein Schwerpunkt – und das Arbeitsfeld zahlreicher späterer Fachvertreter – gewesen.2 Die empirische Soziologie, so Klingemann, habe durchaus im Dritten Reich bereits bestanden. Mehr noch – sie sei die eigentliche Errungenschaft der nationalsozialistischen Epoche. Zwar hatte die abstrakte Beziehungslehre Leopold von Wieses und das andere Theoriewissen der Weimarer Zeit in der NS-Zeit wenig Befürworter in den Kontrollgremien, wo die Forschungsaufträge vergeben wurden, so Klinge1
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Carsten Klingemann, Wissenschaftliches Engagement vor und nach 1945. Soziologie im Dritten Reich und in Westdeutschland, in: Rüdiger vom Bruch und Brigitte Kaderas (Hrsg.), Wissenschaften und Wissenschaftspolitik. Bestandsaufnahmen zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Stuttgart: Steiner 2002, pp. 409 – 431. Viele Fachvertreter, die in der Nachkriegszeit einen Lehrstuhl für Soziologie innehatten, hatten Wirtschaftswissenschaften, Bevölkerungswissenschaften und andere Fächer studiert. Sie waren im Nationalsozialismus zu den Forschungen, die unter anderem die Reichsstelle für die Festigung des Deutschen Volkstums koordinierte, herangezogen worden. Die Sozialforschungsstelle Dortmund an der Universität Münster diente bekanntlich ehemaligen Nationalsozialisten mit mehr oder minder soziologischer Vorbildung in den ersten Nachkriegsjahren als Refugium für aus der NS-Zeit belastete Forscher – so etwa Wilhelm Brepohl, Hans Linde und KarlHeinz Pfeffer, um nur wenige zu nennen. Siehe dazu: Johannes Weyer, Westdeutsche Soziologie 1945 – 1960. Deutsche Kontinuitäten und nordamerikanischer Einfluss, Berlin: Duncker und Humblot 1984, insbes. pp. 207 – 306.
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IV. Der Neubeginn der empirischen Sozialforschung
mann. Aber empirische Forschungsvorhaben hätte man im Nationalsozialismus weithin gefördert. Wie zahlreiche Beispiele lehrten, hätten die nach 1945 (wieder) Tätigen an den Programmen der soziographischen Kartographierung der Volkstumsgruppen und Regionen und anderen Forschungsinitiativen bereitwillig mitgewirkt: „Die Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung, deren wissenschaftlicher Leiter … der auch nach 1945 in Berlin Soziologie lehrende Friedrich Bülow war, koordinierte die Forschungsarbeiten von 51 interdisziplinär zusammengesetzten Hochschularbeitsgemeinschaften, deren Projekte der wissenschaftlichen Vorbereitung und Planung der NS-‚Neuordnungsʻ- und Expansionspolitik dienten, was millionenfache Vertreibung, Unterwerfung und Völkermord bedeutete“.3 Klingemanns Opponent bei der Tagung in Berlin im Jahr 2000 – allerdings bei diesem Anlass nicht anwesend – war Erwin K. Scheuch, der streitbare Kölner Doyen der empirischen Sozialforschung (Surveyforschung) der Bundesrepublik.4 Seit den fünfziger Jahren war Scheuch eine Hauptperson und öffentlichkeitswirksame Galionsfigur jener empirischen Sozialforschung, die auf den Errungenschaften der amerikanischen Surveyforschung aufbaute, wie sie in den dreißiger und vierziger Jahren entstanden war. Scheuch hatte als Student in den USA im Rahmen des Cultural Relations Program die neue Methodik kennen gelernt und zu Beginn der fünfziger Jahre im UNESCO-Institut für Sozialwissenschaften in Köln gearbeitet, das ab 1952 durch den Amerikaner Nels Anderson geleitet wurde.5 Gegen Klingemanns These stand Scheuchs Gegenthese. Statt der These, die empirische Sozialforschung sei der eigentliche Beitrag der nationalsozialistischen Zeit zur Fachentwicklung der Soziologie nach Kriegsende (gewesen), setzte er ohne Wenn und Aber eine nicht weniger apodiktische Gegenthese: „Alle anerkannten Wissenschaftler, die sich mit dieser Zeit zwischen 1930 und 1936 befasst haben, stimmen überein: Zwischen 1933 und 1936 wurde die Soziologie in Deutschland hingerichtet“.6 Die 3
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Klingemann, Wissenschaftliches Engagement vor und nach 1945, p. 423. Zur Berichtigung sei vermerkt, dass Bülow zwar Mitarbeiter des durch Wilhelm Bernsdorf in den fünfziger Jahren betreuten Lexikons Wörterbuch der Soziologie war, aber an der Freien Universität Berlin das Fachgebiet Wirtschaftswissenschaften lehrte. Siehe Wilhelm Bernsdorf (Hrsg.), Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart: Enke 1955. Zu Scheuch (1928 – 2003) siehe Ute Scheuch, Es musste nicht Soziologie sein, aber es war besser so. Eine Biographie. Bad Schussenried: Gerhard Hess Verlag 2008. Siehe zu den Austauschprogrammen, die deutsche Studenten zum Studium in die USA vermittelten: Henry J. Kellermann, Cultural Relations Programs of the U.S. Department of State. Historical Studies No. 3, Washington DC: Educational and Cultural Affairs in the Department of State 1978; Ellen Latzin, Lernen von Amerika? Das US-Kulturaustauschprogramm für Bayern und seine Absolventen, Stuttgart: Steiner 2005; Alexia Arnold „… evidence of progress“. Die UNESCO-Institute für Sozialwissenschaften, Pädagogik und Jugend in den 1950er Jahren, in: Hans Braun, Uta Gerhardt, Everhard Holtmann (Hrsg.), Die lange Stunde Null. Gelenkter sozialer Wandel in Westdeutschland nach 1945, Baden-Baden: Nomos 2007, pp. 251 – 290. Erwin K. Scheuch, Von der deutschen Soziologie zur Soziologie in der Bundesrepublik, Österreichische Zeitschrift für Soziologie, Bd. 15, 1990, pp. 30 – 50, cit. pp. 40 – 41. Die Literatur, auf die sich Scheuch stützte, konnte seine These allerdings nicht ausreichend belegen. Scheuch berief sich auf einen Überblick Heinz Mausʼ über die Soziologie von 1933 bis 1945 aus dem Jahr 1959 (wo Maus gewisse Verdienste der Nazizeit allerdings durchaus anerkannte), M. Rainer Lepsiusʼ Bericht über die Soziologie in der Emigration aus dem Sonderheft der Kölner
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enorme Entwicklung der empirischen Sozialforschung habe rückblickend, wenn man genau hinsehe, einen anderen Anfang: „All das war selbstverständlich durch den Krieg unterbrochen worden. Gefördert durch die Besatzungsmächte nach 1945, dabei insbesondere englische und amerikanische Initiativen, lernten Deutsche die Techniken der Forschung als Importe“.7 Klingemann verwarf indessen Scheuchs These, nämlich die Behauptung, „,Sozialforschung wurde als Importe rezipiertʻ“8, und er höhnte, indem er auf die Wirkung Hans Freyers anspielte, der nach dem Zweiten Weltkrieg in Münster lehrte und zur Nazizeit in Leipzig einen der wenigen Lehrstühle für Soziologie innegehabt hatte: „Im Gegensatz zur Auffassung von Erwin K. Scheuch, die Leipziger Soziologie sei durch das Etikett ‚deutsche Soziologieʻ als weltanschauliche Heilslehre zu definieren, ist die dort tatsächlich praktizierte empirische Soziologie dadurch gekennzeichnet, dass gerade jene Sozialforscher, die sich mit dem NS-Regime identifizierten, ihm nur dienen konnten, wenn sie eine realitätstüchtige empirische Soziologie betrieben“. Der Knackpunkt ist, dass Scheuch recht hatte.9 Man muss ihm zustimmen aus einem Grund, den er selbst niemals explizit gegen seinen Widersacher ins Feld
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Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie zur Soziologie zwischen 1933 und 1945, René Königs Fischer-Lexikon der Soziologie (wobei Scheuch eine späte Ausgabe der Neubearbeitung benutzte) und außerdem interessanterweise einen Beitrag aus Helmut Schelsky als Soziologe und politischer Denker, einem Sammelband aus dem Jahr 1985. Siehe: Heinz Maus, Bericht über die Soziologie in Deutschland 1933 bis 1945, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Bd. 11, 1959, pp. 72 – 99; M. Rainer Lepsius, Die sozialwissenschaftliche Emigration und ihre Folgen, in: Ders. (Hrsg.), Soziologie in Deutschland und Österreich 1918 – 1945. Materialien zur Entwicklung, Emigration und Wirkungsgeschichte, Sonderheft 23 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Opladen: Westdeutscher Verlag 1981, pp. 461 – 500; Das Fischer Lexikon – Neubearbeitung Soziologie, herausgegeben von René König (ursprünglich 1958), Frankfurt: Fischer 1967 (203. – 227. Tausend: März 1968); Gerald Mozetic, Die Soziologie, diese unglückliche Wissenschaft, in: Ota Weinberger und Werner Krawitz (Hrsg.), Helmut Schelsky als Soziologe und politischer Denker, Stuttgart: Franz-Steiner-Verlag-Wiesbaden 1985, pp. 23 – 56. Erwin K. Scheuch, Die Entwicklung der Umfrageforschung in der Bundesrepublik Deutschland in den siebziger und achtziger Jahren, ZUMA-Nachrichten, Nr. 45, November 1999, pp. 7 – 22, cit. p. 8. Klingemann, Wissenschaftliches Engagement vor und nach 1945, p. 425; dort auch die nächste Zitatstellen. Zwei Jahrzehnte früher als die Kontroverse zwischen Klingemann und Scheuch entstand eine Kontroverse um dasselbe Problem zwischen M. Rainer Lepsius, der im Sonderheft 21 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie (1979) einen Aufriss der Nachkriegssoziologie vorlegte, und Helmut Schelsky, der darauf in einem offenen Brief an Lepsius mit Vorwürfen und Richtigstellungen reagierte. In dieser Kontroverse, als er sie in seiner Geschichte der Sozialforschung referierte, nahm Horst Kern in Empirische Sozialforschung, einer ansonsten kenntnisreichen Darstellung der Geschichte der empirischen Soziologie in Deutschland (einschließlich der Vorgeschichte in den USA), bemerkenswerterweise den Standpunkt Schelskys, nicht Lepsiusʼ, ein: „Trotz [der] ‚Säuberungenʻ steckt aber in Lepsiusʼ … These von der ‚faktischen Auflösung der Soziologieʻ eine Vereinfachung, die die Sache nicht ganz trifft. Auch wenn Gefolgsleute des Regimes die Soziologie … als ‚eine den Juden (…) willkommene Waffeʻ …, auch maßvoller als ‚Luxusfachʻ … kennzeichneten, galt doch der Angriff auffälligen und besonders missliebigen geistigen Positionen und nicht so sehr dem Fach in seiner ganzen Breite. … Was vor allem in Grenzgebieten der Soziologie – der Siedlungs- und Bevöl-
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führte. Für Klingemann war nämlich die empirische Sozialforschung, wie sie während des NS-Regimes von Regierungsseite gefördert wurde, dieselbe Art Sozialforschung wie diejenige, wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg entstand. Die Surveyforschung, die im Zuge des atlantischen Transfers nach Europa kam, war für Klingemann nichts anderes als die Soziographie der Nazizeit. Dass kein Unterschied bestehe, bekräftigte Klingemann im Vorwort seiner Aufsatzsammlung Soziologie im Dritten Reich.10 Dort hieß es: „Die Befassung mit der tatsächlich praktizierten Sozialforschung lässt diese dann auch als ein besonderes Kapitel in der Geschichte der immer schon politisch institutionalisierten und instrumentalisierten Sozialwissenschaften erscheinen. Parellel zu den von der NS-Politik intendierten wie gezwungenermaßen nur akzeptierten Modernisierungsschübe bedeutet die Empirisierung der Sozialforschung nach 1933 gemessen am Entwicklungsstand der USA eine ebensolche Modernisierung der deutschen Soziologie, die auch nach 1945 von ehemaligen Reichssoziologen maßgeblich mit vorangetrieben wurde“.11 Man muss im Einzelnen den Nachweis führen, den Scheuch in seiner Richtigstellung gegen Klingemann fraglos voraussetzte. Man muss zeigen, dass die empirische Sozialforschung als die Surveyforschung, wie sie heute selbstverständlich ist, ein ‚Import aus den USAʻ war. Scheuch, so muss man schildern, hatte recht, als er von „einer nach 1945 in Deutschland wieder neu entwickelten Soziologie“12 kerungswissenschaft, der Volkskunde, der Raumforschung, der Agrargeschichte usw. – zwischen 1933 und 1945 auch an echten, unvoreingenommenen Forschungsleistungen erbracht worden ist, wäre in einer genauen Aufarbeitung erst einmal zu ermitteln“. Horst Kern, Empirische Sozialforschung. Ursprünge, Ansätze, Entwicklungslinien, München: Beck 1982, p. 211. Dazu: M. Rainer Lepsius, Die Entwicklung der Soziologie nach dem Zweiten Weltkrieg 1945 bis 1967, in: Deutsche Soziologie seit 1945. Sonderheft 21 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, herausgegeben von Günther Lüschen, Opladen: Westdeutscher Verlag 1979, pp. 25 – 70 sowie Helmut Schelsky, Zur Entstehungsgeschichte der bundesdeutschen Soziologie. Ein Brief an Rainer Lepsius, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Bd. 32, 1980, pp. 417 – 456. 10 Klingemann, Soziologie im Dritten Reich, Baden-Baden: Nomos 1996. Der Band, der zu lebhaften Auseinandersetzungen in Soziologie führte, dem Mitteilungsblatt der DGS (Heft 3 und 4 des Jahres 1997 und Heft 1 des Jahres 1998), versammelte (mit zwei Ausnahmen) seit Mitte der achtziger Jahre entstandene Arbeiten zur Disziplingeschichte zwischen 1933 und 1945 (bzw. 1949). Die These war, dass es eine rege Tätigkeit der Soziologie unter dem Nationalsozialismus trotz der totalitären Wissenschaftskontrolle gegeben habe – was die Kompendien der Soziologiegeschichte offensichtlich zu leugnen wünschten. Siehe dazu unter dem (auf die deutsche Übersetzung von Daniel Goldhagens Hitlers willige Vollstrecker anspielenden) Titel Hitlers willfährige Soziologen?: Dirk Kaesler, Soziologie und Nationalsozialismus. Über den öffentlichen Gebrauch der Historie, Soziologie 3/1997, pp. 20 – 32, Carsten Klingemann, Der Oberförster jagt den Nazijäger. Rufmord als letztes Mittel der Vergangenheitsbewältigung, Soziologie 3/1997, pp. 33 – 52, Otthein Rammstedt, Über die Grenzen des Erlaubten. Die Behandlung Alfred Webers durch Carsten Klingemann und ihre Rezension durch Dirk Kaesler, Soziologie 3/1997, pp. 52 – 57; Hitlers willfährige Soziologen? – Fortsetzung einer Kontroverse. Zurufe von Arnold Schmieder und Jörg Gutberger, Soziologie 4/1997, pp. 19 – 24; Uta Gerhardt, Gab es Soziologie im Dritten Reich? Soziologie 1/1998, pp. 5 – 8. 11 Klingemann, Soziologie im Dritten Reich, pp. 9 – 10. 12 Erwin K. Scheuch, Von der Pioniertat zur Institution. Beobachtungen zur Entwicklung der empirischen Sozialforschung (ursprünglich 1990), wieder abgedruckt in: Erwin K. Scheuch,
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sprach. Scheuch ist außerdem zuzustimmen, wo er über den „Grundsatzstreit über deutsche Soziologie“ in den fünfziger Jahren – rückblickend von den neunziger Jahren her – festhielt: „Zunächst wurde die Soziologie hierzulande wesentlich bestimmt durch Re-Emigranten (wie René König, Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Siegfried Landshut, Helmut Plessner, Arnold Bergstraesser und Emerich K. Francis), die oft durch die Entwicklung in Amerika beeinflusst waren. Hinzu kam, dass Soziologen damals auf amerikanisches Schrifttum angewiesen waren. Soziologie als Profession und amerikanische Soziologie schienen damit weitgehend die gleiche Sache zu sein“. Was Scheuch voraussetzte und Klingemann nicht wahrhaben mochte, muss wissenschaftsgeschichtlich nachgezeichnet werden. So lassen sich die Fortschritte der empirischen Sozialforschung hin zur systematischen Surveyforschung erkennen. Die Entwicklung in den USA der dreißiger und frühen vierziger Jahre sollte nach Kriegsende in Deutschland rezipiert werden. Man muss schildern, wie die Entwicklung verlief, die die methodisch innovative Surveyforschung von den USA nach Westdeutschland transponierte. Daraus lässt sich begründen, inwiefern die empirische Sozialforschung im Nachkriegsdeutschland als Surveyforschung etwas ganz anderes war als die politisch willfährige Soziographie der Nazizeit. In dieser neuen Gestalt, was einen radikalen Bruch gegenüber der Forschungspraxis vor 1945 darstellte, wurde die empirische Sozialforschung erkenntnisleitend für die professionelle Fachdisziplin Nachkriegs(west)deutschlands. Die Entwicklung wird in fünf Schritten bis ans Ende der fünfziger Jahre nachgezeichnet. Den ersten Schritt tat die Surveyforschung in den USA in den dreißiger und frühen vierziger Jahren. Dort wurden die Fortschritte der Wahrscheinlichkeitsrechnung der Statistik umgesetzt in die zufallsgenerierte Stichprobenziehung sowie die multivariate Datenanalyse, so dass erstmals stochastisch begründbare Kausalaussagen möglich waren. Der zweite Schritt war die Arbeit der Opinion Surveys Branch bzw. der Survey Analysis Section der Information Control Division der amerikanischen Militärregierung in Deutschland. Dort diente die neuartige Surveyforschung dazu, die Einstellungen der Deutschen zu untersuchen. Daraus entstanden fast zweihundert Survey Reports bis Ende 1949, also Forschungsberichte zu Themen des Übergangs zwischen Nationalsozialismus und Nachkriegsdemokratie – mit einer Fortsetzung durch die Surveyforschung des Reactions Analysis Staff der High Commission for Germany (HICOG) bis 1955 und darüber hinaus. Den dritten Schritt – und, so Scheuch, den entscheidenden Wendepunkt der Entwicklung der empirischen Sozialforschung in Deutschland – bildete die Konferenz über empirische Sozialforschung, die das Institut zur Förderung öffentlicher Angelegenheiten e.V. (ein mit der HICOG zusammen arbeitendes Institut mit Sitz in Frankfurt am Main) in Weinheim vom 14. bis 16. Dezember 1951 ausrichtete. Zu Infrastrukturen für die sozialwissenschaftliche Forschung. Gesammelte Aufsätze. Im Auftrag der Arbeitsgemeinschaft Sozialwissenschaftlicher Institute e.V. (ASI) herausgegeben von Heiner Meulemann, Bonn: Informationszentrum Sozialwissenschaften 2004, pp. 69 – 86, cit. p. 75; meine Hervorhebung. Dort auch die nächsten zwei Zitatstellen.
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dieser Tagung wurden weit über hundert Sozialforscher aus (fast) allen Forschungsinstitutionen und -instituten Nachkriegs(west)deutschlands eingeladen. Im vierten Teil sind die Leistungen der empirischen Sozialforschung in den fünfziger Jahren zu schildern. Forschungsvorhaben an Instituten und Institutionen, die mit den Universitäten Köln, Frankfurt und Hamburg verbunden waren, können bezeugen, wie die empirische Soziologie zum Programm der professionellen Fachdisziplin im Laufe der fünfziger Jahre wurde. Den Höhepunkt der Surveyforschung bildete eine Studie zum Wahlverhalten des Jahres 1957, die am DIVO-Institut, einem (außeruniversitären) Institut der Markt- und Meinungsforschung, betreut wurde. Peter Schmitt, der diese Studie leitete, hatte bis 1953 dem Reactions Analysis Staff der HICOG angehört. Schließlich sollte man nicht verschweigen, dass die empirische Sozialforschung – zumal die Surveyforschung und auch die amerikanische soziologische Theorie, die (aus der deutschen Perspektive) vielfach mit dieser Forschung ein gemeinsames Themenfeld bildete – in den fünfziger Jahren auf Kritik der westdeutschen Soziologie traf. Im Besonderen soll an Theodor W. Adornos Essay Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie aus dem Jahr 1955, Ralf Dahrendorfs Traktat Homo Sociologicus aus dem Jahr 1958 und Helmuth Plessners Abhandlung Die verspätete Nation aus dem Jahr 1959 erinnert werden. 1. DIE ENTSTEHUNG DER SURVEYFORSCHUNG IN DEN USA Der spektakuläre Gallup Poll des Jahres 1936, als der Wahlsieg des kontroversen Franklin D. Roosevelt, des Präsidenten des New Deal, gegen seinen populären Gegenkandidaten korrekt vorausgesagt wurde, legte eine Befragtenauswahl nach dem Quotenverfahren zugrunde – also ein Verfahren, das annähernd gleiche Größenverhältnisse für ausgewählte Merkmalsklassen zwischen der Stichprobe und der Grundgesamtheit (Gesamtbevölkerung) herstellte.13 Dieses Verfahren wurde nun zwar als die neueste Errungenschaft der Sozialforschung in der Öffentlichkeit bestaunt und in den folgenden Jahrzehnten auch weiter verwendet, obwohl darin bereits in den dreißiger Jahren eigentlich eine veraltete Technik des Sampling lag. Die bahnbrechenden britischen Statistiker Karl Pearson und R. A. Fisher, die sich auf die Wahrscheinlichkeitstheorie der Mathematik stützten, hatten am Übergang der zwanziger zu den dreißiger Jahren das Prinzip der Randomisierung der Untersuchungseinheiten bei der Stichprobenziehung entdeckt. Darauf stützte sich das Survey Sampling, ein geradezu revolutionäres Verfahren.14 Befunde, die an einer nach dem Zufallsverfahren ermittelten Auswahlpopulation gewonnen waren, erlaubten 13 Zum Gallup-Poll, der nach dem Quotenverfahren arbeitete, im Unterschied zur ebenfalls das Quotenverfahren verwendenden Wahlforschung des Jahres 1948, als der Wahlsieg Harry S. Trumans anlässlich der Wiederwahl zum Präsidenten 1948 nicht vorausgesagt werden konnte: Hadley Cantril, Polls and the 1948 U.S. Presidential Election, International Journal of Opinion and Attitude Research, vol. 2, 1948, pp. 309 – 321; Rensis Likert, Why Opinion Polls Were So Wrong, U.S. News, November 12, 1948, # 25, pp. 24 – 25. 14 Siehe: Joseph W. Duncan und William C. Shelton, Revolution in United States Government
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wirklichkeitsadäquate Aussagen über die Verteilung von Eigenschaften oder Einstellungen in einer Gesamtbevölkerung (Grundgesamtheit). Objektiv gültige, systematisch nachprüfbare Erkenntnisse über die Bevölkerung insgesamt wurden also durch die Untersuchung einer Zufallsstichprobe möglich. Die Diskussion um das repräsentative Sampling erreichte 1934 einen ersten Meilenstein. Der Statistiker Jerzy Neyman erkannte die Differenz zwischen The Method of Stratified Sampling und The Method of Purposive Selection. Er plädierte für eine Weiterentwicklung des bis dahin gebräuchlichen Stratified Sampling zu einem Survey Sampling und optierte gegen die Purposive Selection (also die Quotenauswahl), da sie keine sichere Grundlage für die Berechnung des Auswahlfehlers bot.15 Die erste Großstudie, deren Auswahlverfahren dem Survey Sampling nahe kam, war eine Begleituntersuchung des Census on Unemployment im Jahr 1937, ein Enumerative Check Census, der die Zuverlässigkeit der (parallel durchgeführten) Gesamterhebung mittels einer (fast) systematisch gebildeten Stichprobe überprüfen sollte.16 Der erste Survey mit einem Sample, das die gesamte Bevölkerung der USA zugrunde legte, wurde durch das – seinerzeit äußerst einflussreiche – Landwirtschaftsministerium durchgeführt.17 Im Jahr 1940 wurde das Office of Public Opinion Research (OPOR) an der Princeton University gegründet, das dem regierungsnahen Office of Facts and Figures (OFF) verbunden war, und 1941 entstand das National Opinion Research Center (NORC) an der Universität Chicago. Diese Forschungseinrichtungen machten das Sampling nach dem Zufallsprinzip zu einer regulären Praxis: Die Großforschung der Kriegsjahre, deren Feldarbeit das OPOR und das NORC durchführten, und die umfangreichen Untersuchungen zur Berufs- und Schichtstruktur der USA, worüber das NORC ab der zweiten Hälfte der vierziger Jahre publizierte, stützten sich auf nach dem Zufallsprinzip generierte Bevölkerungsstichproben.18
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Statistics 1926 – 1976, Washington DC: U.S. Department of Commerce, Office of Federal Statistical Policy and Standards 1978. Jerzy Neyman, On the Two Different Aspects of the Representative Method: The Method of Stratified Sampling and the Method of Purposive Selection, Journal of the Royal Statistical Society, vol. 97, 1934, pp. 558 – 606 (mit einer Diskussion pp. 607 – 625). Zur Bedeutung des Neyman-Aufsatzes: Morris H. Hansen und William G. Madow, Some Important Events in the Historical Development of Sample Surveys, in: On the History of Statistics and Probability. Proceedings of a Symposium on the American Mathematical Heritage to Celebrate the Bicentennial of the United States of America, held at Southern Methodist University, May 27 – 29, 1974, edited by D. B. Owen, New York/Basel: Marcel Dekker 1976, pp. 73 – 102, dort bes. p. 80. Ibid., p. 88. Dazu auch: Jean Converse, Survey Research in the United States: Roots and Emergence 1890 – 1960, Berkeley: University of California Press 1987, p. 46. Das Landwirtschaftsministerium verfügte über eine eigene Forschungsabteilung, das Bureau of Agricultural Economics (BAE), dessen Forschungen eng mit der Landwirtschaftspolitik des New Deal verbunden waren: Durch empirische Untersuchungen wurde deren Wirkung anhand der Reaktionen (inklusive der Einstellungen) der Farmer getestet. Der Surveyforschung der Kriegsjahre widmete Converse die Kapitel 6 und 7 „The Wartime Experience in Science“ I und II) und dem NORC das Kapitel 10 „The National Opinion Research Center: From the Margins of Commercial Polling“ in Survey Research in the United States. Siehe dort: pp. 186 – 236 sowie pp. 305 – 339.
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IV. Der Neubeginn der empirischen Sozialforschung
Die Weiterentwicklung der Pearson-Fisherʼschen Entdeckungen für die Sozialforschung der USA war mit den Namen von vier (heute berühmten oder fast vergessenen) Soziologen bzw. Sozialpsychologen verbunden – Hadley Cantril (1906 – 1969), Paul F. Lazarsfeld (1906 – 1976), Rensis Likert (1903 – 1981) und Samuel Stouffer (1900 – 1960). Cantril, der mit Lazarsfeld im Princeton Radio Research Project einige Aspekte der neuen Verfahren ausprobierte, konnte nachweisen, dass statistisch aussagekräftige Ergebnisse durch systematisches Vorgehen auch bei der Fragebogenkonstruktion besser zu erreichen waren.19 Er war an der Gründung der American Association of Public Opinion Research (AAPOR) und der Zeitschrift Public Opinion Quarterly (POQ) beteiligt, die ein Forum der Diskussion der methodischen Probleme bei der Gewinnung und Interpretation von Umfragedaten waren. Cantril hatte persönlichen Zugang zu Präsident Roosevelt und wurde 1940 zum Leiter des Office of Public Opinion Research (OPOR) an der Princeton University bestellt, das eine landesweite Bevölkerungsstichprobe für die Surveys der Kriegszeit bereithielt. Er gehörte außerdem dem Board of Trustees des NORC an. Lazarsfeld, ein Emigrant aus Österreich, arbeitete mit Stouffer bei einem Vorhaben des Social Science Research Council (SSRC)20 und mit Cantril im Princeton Radio Research Project zusammen.21 Er analysierte in seinen frühen Studien, vorwiegend Marktforschung, die Befragungsdaten (zu Produktpräferenzen) vorzugsweise mittels multivariater Tabellierungen, um die sozialdemographischen Merkmale mit dem (im Interview berichteten) Verhalten in Beziehung zu setzen.22 Typen wurden für eine Merkmalskombination gebildet, die empirisch beobachtbar und/ oder theoretisch begründbar war.23 Bei den Interviews war es für Lazarsfeld wichtig, dass durch eine sensible Frageformulierung (und sorgfältige Interviewerschulung) möglichst eine intersubjektiv standardisierte Ermittlung der Meinungen und Handlungen (d. h. der berichteten subjektiven Präferenzen) möglich wurde.24 La19 Hadley Cantril, Experiments with the Wording of Questions, Public Opinion Quarterly, vol. 4, 1940, pp. 212 – 217. 20 Studies in the Social Aspects of the Depression. Research Memorandum on the Family in the Depression, By Samuel A. Stouffer and Paul F. Lazarsfeld, Prepared under the Direction of the Committee on Studies in Social Aspects of the Depression, Bulletin 29, 1937, New York: Social Science Research Council 1937 (Reprint New York: Arno Press 1972). 21 Lazarsfeld, Radio Research and Applied Psychology. Princeton Radio Research Project and Other Surveys: Symposium, Journal of Applied Psychology, vol. 23, 1939, pp. 1 – 206. Lazarsfeld führte in den vierziger Jahren weitere Untersuchungen zur Radio Communication in Kriegszeiten durch und verfolgte die Forschungsrichtung des Radio Research bzw. die Analyse der Wirkung dieses Massenkommunikationsmittels bis weit in die fünfziger Jahre weiter. 22 Lazarsfeld ging es um das gesellschaftliche Verhalten, nicht (nur) um die Einstellungen der Befragten, wie – zu Recht – durch die Sammlung ausgewählter Schriften Lazarsfelds belegt wird, die seit kurzem in deutscher Übersetzung vorliegt: Paul F. Lazarsfeld, Empirische Analyse des Handelns. Ausgewählte Schriften. Übersetzt von Hella Beister, herausgegeben von Nico Stehr, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2007. 23 Dazu: Lazarsfeld, Some Remarks on the Typological Procedures in Social Research, Zeitschrift für Sozialforschung, Bd. 6, 1937, pp. 119 – 138. Die deutsche Übersetzung enthält Empirische Analyse des Handelns. 24 Lazarsfeld, The Art of Asking Why, National Marketing Review, vol. 1, 1935, pp. 26 – 38. Eine deutsche Übersetzung liegt vor in Empirische Analyse des Handelns.
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zarsfeld war während des Krieges an zahlreichen Projekten der Sozialforschung beteiligt, nachdem er im Jahr 1940 das Bureau of Applied Social Research an der Columbia University hatte gründen können.25 Likert, ein Psychologe, löste im Jahr 1932 ein heiß diskutiertes Problem der Einstellungsmessung. Er legte den Befragten Antwortskalen (auf ein item, also eine Aussage, deren Wahrheitswert zu beurteilen war) für eine von Strongly Approve bis zu Strongly Disapprove abgestufte Reaktion vor – wodurch die bis dato erforderlichen judges bei der Auswertung von Einstellungsdaten überflüssig wurden.26 Als Direktor der Program Surveys des Bureau of Agricultural Economics (BAE) des Landwirtschaftsministeriums (1939 – 1946) führte Likert die durch Cantril und Lazarsfeld entwickelten Verbesserungen der Befragtenauswahl, der Fragebogenkonstruktion und der Datenanalyse bei den Surveys des – für diese Neuerungen aufgeschlossenen – Ministeriums ein. Likert leitete vorübergehend in Personalunion die Division of Program Surveys des BAE und die Surveys Division des Bureau of Intelligence des – 1942 gegründeten – Office of War Information (OWI).27 Stouffer, der von 1934 bis 1936 dem regierungsnahen Committee on Government Statistics and Information Services (COGSIS) angehörte, konnte nach einem Studienaufenthalt in England wesentlich zur Verbesserung der Datenanalyse in der soziologischen Forschung beitragen. Ihm gelang, die Verwendbarkeit der Korrelationsstatistik für soziologische Untersuchungen nachzuweisen. Er zeigte, dass die „weichen“ Variablen der Sozialforschung durchaus für kausale Aussagen taugten, wenn sie als Nominal- oder Ordinalskalen aufgefasst wurden. Pearsons Entdeckungen konnten nun zum Nachweis eines systematischen Zusammenhangs zwischen Variablen – also zur Ermittlung der Signifikanz empirischer Befunde – herangezogen werden.28 Stouffer führte den Nachweis anhand zweier gesellschaftlich aussagekräftiger Variablen, nämlich den Merkmalen gebürtiger Amerikaner – Einwanderer und erstverurteilter Krimineller – Wiederholungstäter.29 Erst die Vorbereitung der USA auf den Weltkrieg und die großzügige Förderung der ab 1940 entstehenden regierungsnahen Institutionen, die unter anderem mit der Surveyforschung befasst waren (zunächst das Office of Facts and Figures und später unter anderem das Office of War Information), ermöglichten den beispiellosen Aufschwung der empirischen Sozialforschung in den frühen vierziger Jahren. Zwei Institutionen waren federführend für die Verbindung des Survey 25 Zu den Forschungsfeldern und Leistungen des Bureau of Applied Social Research siehe Jean Converse, Survey Research in the United States, Ch. 9, pp. 267 – 304. 26 Siehe dazu: Jean Converse, Survey Research in the United States, pp. 72 – 86. 27 Zur „strategy of truth“ als der Arbeitsgrundlage des OWI, das für die Information der Bevölkerung im Krieg unter Heranziehung sozialwissenschaftlicher Experten und auf der Grundlage von Sozialforschung zuständig war, siehe: Carl J. Friedrich, Principles of Informational Strategy, Public Opinion Quarterly, vol. 7, 1943, pp. 77 – 89. Jede Ausgabe des Public Opinion Quarterly enthielt einen Bericht über aktuell durchgeführte Gallup and Fortune Polls oder auch Public Opionion Polls im Umfang von zwanzig bis dreißig Seiten. 28 Clark Tibbitts und Samuel A. Stouffer, Testing the Significance of Sociological Data, American Journal of Sociology, vol. 40, 1934, pp. 357 – 363. 29 Samuel A. Stouffer, Problems in the Application of Correlation to Sociology, Journal of the American Statistical Association, vol. 30, 1935, pp. 52 – 58.
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Sampling mit der Fragebogenkonstruktion (und Interviewerschulung) sowie der systematischen Datenaufbereitung und -analyse30: – die (spätere) Education and Information Branch des Kriegsministeriums und die Surveys Division des OWI. Die Research Branch der Division of Morale U.S. Army (später umbenannt in Education and Information Branch) führte unter ihrem Direktor Stouffer jene bahnbrechenden Studien durch, die unter dem Titel The American Soldier in zwei Bänden31 – ergänzt um einen dritten Band zu experimentell angelegten Einzelstudien und einen vierten Band zu Measurement and Prediction32 – nach Kriegsende veröffentlicht wurden. In einem 1948 verfassten Gutachten für den SSRC, das die Errungenschaften der Sozialforschung während des Zweiten Weltkriegs auflistete, schrieb Talcott Parsons über die Surveyforschung der Education and Information Branch: „Die Methode in diesen Studien war hauptsächlich die Befragung mittels Fragebogen von Stichproben aus einer bestimmten Bevölkerungsgruppierung, wobei die Stichprobe sorgfältig aus der Grundgesamtheit ausgewählt wurde, für die sie repräsentativ war. Dies erforderte eine hohe technische Kompetenz in der Stichprobenziehung und der Fragebogenkonstruktion. Diese Methode wurde möglichst noch ergänzt durch andere Verfahren, nämlich teilnehmende Beobachtung und Interviews mit offenen Fragen, sowie ergänzend den Rückgriff auf Daten, die aus vielen anderen Quellen stammten, und ferner ein Programm experimenteller Studien. … Zudem wurden theoretische Konzepte bei der Erarbeitung der Problemstellung und in der Dateninterpretation heranzogen, wobei laut Forschungsbericht vier theoretische Richtungen maßgeblich waren“.33 Parsons verband sein hohes Lob mit 30 Converse führt insgesamt sieben bzw. neun solche Institutionen auf, nämlich „(1) Division of Program Surveys, Department of Agriculture; (2) Surveys Division, OWI; (3) Office of Civilian Requirements, Civilian Relations Branch, War Production Board; (4) Research Branch, Morale Division, War Department; (5) Committee on Food Habits, National Research Council; (6) Special Surveys Division, Bureau of the Census; and (7) Surveys Division, Information Department, Office of Price Administration. … There were others: a survey group in the Psychological Warfare Division of the Supreme Headquarters Allied Expeditionary Force (SHAEF); and a Public Affairs Division in the Department of State, for which NORC did fieldwork.“ Converse, p. 464. 31 Samuel A. Stouffer, Edward A. Suchman, L. C. DeVinney, Shirley A. Star und Robin M. Williams Jr., The American Soldier, vol. I: Adjustment During Army Life, New York: Wiley, Science Editions 1949; Samuel A. Stouffer, Arthur A. Lumsdaine, Marion Harper Lumsdaine, Robin M. Williams Jr., M. Brewster Smith, Irving L. Janis, Shirley A. Star, and Leonard S. Cottrell, Jr., The American Soldier, vol. II: Combat and Its Aftermath, Princeton: Princeton University Press 1949. 32 Carl I. Hovland, Arthur A. Lumsdaine und Fred D. Sheffield (eds.), Experiments on Mass Communication, Princeton: Princeton University Press 1949; Samuel A. Stouffer, Louis Guttman und Edward A. Suchman, Measurement and Prediction. Princeton: Princeton University Press 1950. 33 Social Science Research Council, July 1948 (Preliminary Draft). Social Science: A Basic National Resource. A Report Prepared for the Social Science Research Council by Talcott Parsons, p. 56. Im Original: „The fundamental method used in its studies was the administration of questionnaires to samples of the relevant populations carefully selected to be representative of the whole. This involved high technical competence in the specific fields of sampling and questionnaire construction. This method was, however, supplemented by a variety of others wherever feasible, by direct participant observation and informal interviewing, and by use of sup-
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einem Bekenntnis zur Demokratie der USA trotz Krieg: „Die Leistungen der Forschungsgruppe sind eindrucksvoll. Aber vielleicht ist noch wichtiger für die Zukunft, dass Forschung, deren Qualität höchsten Ansprüchen genügt, im Rahmen einer großen demokratischen Armee im Krieg möglich war“.34 Die Program Surveys Division des Office of War Information (OWI) wurde durch Elmo C. Wilson geleitet, einen Marktforscher aus dem Gallup Institute. Bis 1944 veröffentlichte diese Forschungsstelle etwa 160 Reports – führte also bis zu einhundert Surveys durch – zu Themen der Kriegsmaßnahmen und der Nachkriegserwartungen der Bevölkerung.35 Die Feldarbeit, die in den Händen des OPOR lag, stützte sich auf eine zufallsgenerierte Bevölkerungsstichprobe. Die Ergebnisse waren repräsentativ für die Bevölkerung der USA und bildeten den Stand der öffentlichen Meinung zu den verschiedenen Zeitpunkten der Kriegsentwicklung und der Friedensvorbereitungen zuverlässig ab. Außerdem führte die Program Surveys Division des OWI landesweite Surveys im Auftrag des Finanzministeriums und des War Production Board durch, um die Einstellung der Bevölkerung zu Kriegsanleihen und anderen ökonomischen Fragen der Zeit zu erheben. Likert übernahm im Herbst 1944 die Verantwortung für ein weiteres Projekt der Surveyforschung. Der United States Strategic Bombing Survey (USSBS) sollte durch Umfragen, die in Deutschland (und Japan) unmittelbar nach dem Ende der Kriegshandlungen durchgeführt wurden, eine Aussage über die Wirkung des Bombenkriegs auf die Deutschen ermöglichen. Die repräsentative Studie sollte außerdem ein Zustandsbild der Gesellschaft Deutschlands zum Zeitpunkt des Zusammenbruchs der Naziherrschaft ergeben.36 plementary data drawn from all other available sources and by a program of experimental studies. … [I]n stating their problems and interpreting their data [the staff] sought to make explicit use of theoretical concepts, drawn as the report says from four main theoretical traditions.“ Die entsprechenden theoretischen Richtungen waren in der Psychologie „the traditions of dynamic psychology and learning theory“ und außerdem in der Soziologie sowie der Anthropologie „[the] conceptions of the multiple roles people played in a variety of different groups and of social class status and mobility, and the aspects of the social system which could be understood in abstraction from the individual motives and situations of the component personalities.“ (ibid.) Das Memorandum Parsonsʼ blieb zu seinen Lebzeiten unveröffentlicht, und seine positive Bewertung der Surveyforschung der Education and Information Branch (und fünf weiterer Szenarien der Sozialforschung im Zweiten Weltkrieg) blieb bis heute weitgehend unbekannt. Siehe dazu auch: Uta Gerhardt, Talcott Parsons – An Intellectual Biography, New York: Cambridge University Press 2002, insbesondere Ch. 3 sowie Gerhardt, Why Read The Social System Today? Three Reasons and a Plea, Journal of Classical Sociology, vol. 5, 2006, pp. 267 – 301, insbes. pp. 280 – 287. Das Memorandum Social Science: A Basic National Resource ist zugänglich im Nachlass Parsonsʼ in den Harvard University Archives. 34 Parsons, Social Science – A Basic National Resource, p. 61. Im Original: „The achievement of this group is impressive. But probably more important still is the promise for the future implicit in the fact that work of this calibre could be done in the context of a great democratic army at war.“ 35 Eine Sammlung der – knapp gehaltenen – Ergebnisberichte der OWI-Surveys ist in der Harvard College Library, Cambridge MA zugänglich. 36 Der USSBS wurde mit einem Beirat aus zwölf Persönlichkeiten durch Beschluss des amerikanischen Kongresses im November 1944 eingerichtet und lieferte bis 1946 bzw. 1947 hunderte Einzelberichte sowie für Deutschland drei größere Berichte zu Themen der Morale (also der
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Der USSBS – einzigartig in der Geschichte der Kriegsfolgenabschätzung – ermittelte die Auswirkung des Flächenbombardements auf die Zivilbevölkerung. Ein Fragebogen – geteilt in ein Schedule A und ein Schedule B – erhob die Einstellungen (Attitudes) der Deutschen. Die Auswahl der Befragten folgte einem zweistufigen Randomverfahren: Zunächst wurden die Städte Deutschlands (ohne den sowjetisch kontrollierten Teil des Landes) in vier Gruppen nach dem Grad der Bombardierung(en) aufgeteilt, und nach dem Zufallsprinzip wurden Städte aus allen vier Kategorien ausgewählt, die das Sample bildeten. Sodann wurden, um das Sample der Befragten zu bilden, in diesen Städten die Namenslisten der Ernährungsämter herangezogen, die die Lebensmittelkarten ausgaben und ihre Einwohnerkartei monatlich aktualisierten. Daraus wurden – nach dem Zufallsprinzip – die 3711 Personen ermittelt, die in face-to-face-Befragungen37 über ihre Erfahrungen im Luftkrieg sowie ihren Durchhaltewillen während der Nazizeit und ihre Einstellung zur amerikanischen Besatzung interviewt wurden.38 Das Ergebnis der Studie war unter anderem, dass die Morale der Deutschen (also ihre Entschlossenheit, den Krieg fortzusetzen bzw. weiter an den Führer zu glauben) durch das Ausmaß der Bombardierung ihrer Stadt durchaus – wiewohl nicht dramatisch – beeinflusst worden war.39 Zum Ertrag des Surveys gehörte eine Analyse, die die Nazis und die Nicht-Nazis unter den Deutschen sozialwissenschaftlich verglich. Helen Peaks Observations on the Characteristics and Distribution of German Nazis lag Ende 1945 vor.40 Die Nationalsozialisten wurden dort nach ihren sozialdemographischen Merkmalen, also ihrer beruflichen Position, ih-
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Stimmung der Bevölkerung) und der Wirtschaft. Die Fragestellung des USSBS war, welche Wirkung die Bombardierungen durch die alliierten Luftstreitkräfte (gehabt) hatten, was die Surveys feststellen sollten. Ein Stab aus hunderten Mitarbeitern war in Deutschland sowie den USA tätig. Siehe für Deutschland die Berichte: The United States Strategic Bombing Survey, The Effects of Strategic Bombing on German Morale, volume I, Morale Division (Dates of Surveys: March-July, 1945), Washington DC: Government Printing Office 1947 sowie The Effects of Strategic Bombing on German Morale, volume II, Morale Division (Dates of Survey: March-July, 1945), Washington DC: Government Printing Office 1946; The United States Strategic Bombing Survey, The Effects of Strategic Bombing on the German War Economy, Overall Economic Effects Division, October 31, 1945 (o. O., Washington DC: Government Printing Office 1945). Die ausgefüllten Original-Fragebögen sind in den National Archives unter der Record Group 243 zugänglich. Die RG 243 enthält ausschließlich Materialien des USSBS. Das Sample bestand aus 38% Männern und 62% Frauen, was fast deckungsgleich mit der Verteilung der Geschlechter bei der damals in Westdeutschland ansässigen Bevölkerung war. Siehe The Effects of Strategic Bombing on German Morale, vol. 1, Appendix A, pp. 126 – 129. Dazu: Ibid., p. 23, p. 29. Der Index, mit dem die Morale Factors gemessen wurden, verband zwei Dimensionen: Die eine Dimension reichte von Expressing Anxiety über Showing War Weariness, Changing Opinion That Germany Should Win, Showing Apathy and Fatigue, Believing Leaders Have Best Interest at Heart bis zu Reporting Little or No Fear; die andere Dimension reichte von Showing Increased Fear über Listening to Allied Broadcast, Showing Weakened Desire to Continue the War bis zu Willing to Surrender – was zusammen ergab, dass ein hoher Indexwert für High Morale bei durchschnittlich 59% der Bewohner von Städten erreicht wurde, die keine Luftangriffe erlebt hatten, aber nur 44% durchschnittlich in Städten, die am stärksten bombardiert worden waren. Observations on the Characteristics And Distribution of German Nazis, by Helen Peak. Pub-
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rer Religionszugehörigkeit etc. den Nicht-Nationalsozialisten gegenübergestellt. Die Einstellungen dieser Gruppierungen zu den wichtigen Problemen des NachNationalsozialismus und der Aussicht auf demokratischen Wandel waren: Höchstens 10 Prozent der Deutschen, so berichtete Peak, waren (noch immer) überzeugte Nationalsozialisten, aber 60 Prozent waren nun keine Nazis mehr (was nach den sozialdemographischen Merkmalen weiter aufgeschlüsselt wurde). Für die Luftangriffe machten 70 Prozent Nazis – aber weniger als 20 Prozent Nicht-Nazis – die Alliierten verantwortlich. Für den Krieg verantwortlich sahen 32 Prozent Nazis und 79 Prozent Nicht-Nazis die Nationalsozialisten oder Deutschland und die Achsenmächte.41 Die Studie hielt außerdem fest: Unter den 21% Deutschen, die Mitglieder der NSDAP (gewesen) waren, war ein Viertel von der Nazi-Ideologie (noch) überzeugt, aber auch etwa die Hälfte derer, die keine PGʼs (gewesen) waren, billigten die Nazi-Ideologie (immer noch) zumindest teilweise.42 Peak unterstrich, dass der Survey kein Schwarz-Weiß-Denken nahelegte, was die Nazimentalität betraf: „Auch wo deutliche Differenzen zwischen den Nazis und den Nicht-Nazis gefunden wurden, gibt es überall eine Gruppe, die zwischen den Extremen liegt und eine mittlere Position bezüglich der Einstellungen einnimmt, die untersucht wurden. Es gibt in der deutschen Bevölkerung keine deutliche Demarkationslinie zwischen den Bevölkerungsgruppen [der Nazis und der Nicht-Nazis], so zeigt unsere Studie“.43 Der USSBS war der Höhepunkt und in gewisser Weise der krönende Abschluss der Surveyforschung der vierziger Jahre. Deren hohe Kosten hatte während des Krieges der amerikanische Kongress – mehr oder minder bereitwillig – genehmigt. Aber mit dem Sieg in Europa (und Ostasien) wurden das OWI und die anderen Institutionen aufgelöst, die im Krieg Surveyforschung betreut hatten. Erhalten blieben nur das Bureau of Applied Social Research an der Columbia University, das NORC und weitere universitätsnahe Institute, die die Surveyforschung in kleinerem Maßstab und mit ausgesprochen wissenschaftlichem Anspruch weiterführten (wobei es weiterhin Aufträge der Regierung oder der Streitkräfte gab, auch für Großstudien).44 Während der vierziger und fünfziger Jahre – vor allem im Jahrzehnt nach Kriegsende – entstanden die Kompendien und Lehrbücher, die das Vorgehen und die Erkenntnisleistung der neuen Forschungsrichtung darstellten.45 Für die Survey-
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lished by the American Psychological Association, Washington DC. Psychological Monographs, vol. 59, No. 6, Whole No. 276, 1945. Peak, p. 25. Peak, p. 33. Ibid., p. 31. Im Original: „In every case where clear differences have been found between Nazis and non-Nazis, an intermediate group falling between the extremes in Naziness takes an intermediate position in the frequency with which a given attitude is expressed. There is no sharp dividing line in the population on any of these measures.“ Zum Ende der regierungsnahen Surveyforschung bei Kriegsende siehe Converse, Survey Research in the United States, pp. 180 – 182. Für die fünfziger Jahre wären etwa zu nennen: Mildred Parten, Surveys, Polls, and Samples: Practical Procedures, New York: Harper and Brothers 1950; William Goode und Paul K. Hatt, Methods in Social Research, New York: McGraw Hill 1952; Herbert H. Hyman (with William C. Cobb, Jacob J. Feldman, Clyde W. Hart, Charles Herbert Stember), Interviewing in Social
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IV. Der Neubeginn der empirischen Sozialforschung
forschung waren während ihrer Entstehungszeit einige Werke besonders wichtig, die noch im Krieg erschienen. Dazu zählte Margaret Hagood Statistics for Sociologists, erschienen 1941, eine vorbildliche Einführung in die Datenanalyse mit den stochastisch begründeten Verfahren.46 Dazu rechnete auch Hadley Cantril Gauging Public Opinion, erschienen 1944 und weltweit beachtet, ein Aufriss vom Projektdesign bis zur Dateninterpretation, ergänzt durch eine illustrative Erläuterung der Measurement of Civilian Morale und außerdem fünf Technical Notes zu Einzelproblemen.47 Zusammenfassend: Die Entstehung der Surveyforschung seit den dreißiger Jahren verband verschiedene Stränge der Wissenschaftsentwicklung in den USA miteinander. Die neuen Erkenntnisse der Statistik führten zum Survey Sampling und der Korrelationsanalyse, die Art of Asking Why hieß systematische Fragebogenkonstruktion, und die Likert-Skalen verbesserten die Einstellungsmessung. Komplexe sozialwissenschaftliche Fragestellungen konnten für ganze Bevölkerungen (oder ausgewählte Bevölkerungsgruppen) systematisch geklärt werden. Sozialforschung konnte nunmehr systematisch wissenschaftliche Aussagen machen. Das wahrscheinlichkeitstheoretisch abgesicherte Auswahlverfahren und die problembezogene Projektplanung und -durchführung in allen Stadien des Forschungsprozesses ermöglichten Aussagen von historisch beispielloser empirischer Genauigkeit. 2. DIE SURVEYS IN DER ZEIT DES AMERIKANISCHEN BESATZUNGSREGIMES Zwei vergebliche Anläufe, die Surveyforschung unter der amerikanischen Militärregierung zur Ermittlung der Einstellungen der Deutschen in der Zeit des Alliierten Oberkommandos einzusetzen (Supreme Headquarters Allied Expeditionary Force [SHAEF] bis zum 30. Juni 1945), waren die ersten Anfänge. Im März 1945 sollte eine Surveyforschungsstelle der Psychological Warfare Division (PWD) eingerichtet werden, und im Juni 1945 sollte das Team der Morale Division des USSBS, das noch bis Juli 1945 in Deutschland tätig war, danach als Forschungsgruppe des OfResearch, Chicago: University of Chicago Press 1954; Paul F. Lazarsfeld und Morris Rosenberg (eds.), The Language of Social Research, New York: The Free Press 1955 und Robert L. Kahn und Charles F. Cannell, The Dynamics of Interviewing, New York: John Wiley 1957. 46 Margaret Jarman Hagood, Statistics for Sociologists, New York: Henry Holt 1941. 47 Gauging Public Opinion, by Hadley Cantril and Research Associates in the Office of Public Opinion Research Princeton University, Princeton: Princeton University Press 1944 (Neuauflage 1947). Dieses Buch wurde für die jungen Sozialforscher im Nachkriegsdeutschland wahrhaft zum Lehrbuch, wie Ludwig von Friedeburg berichtet, der in den ersten Nachkriegsjahren am Institut für Demoskopie in Allensbach am Bodensee arbeitete und in den frühen fünfziger Jahren an das Institut für Sozialforschung in Frankfurt wechselte. Siehe dazu: Ludwig von Friedeburg, Wie war das damals? Zur Erinnerung an die erste Arbeitstagung über empirische Sozialforschung in der Bundesrepublik, in: Heinz Sahner (Hrsg.), Fünfzig Jahre nach Weinheim. Empirische Markt- und Sozialforschung gestern, heute, morgen, Baden-Baden: Nomos 2002, pp. 23 – 28.
2. Die Surveys in der Zeit des amerikanischen Besatzungsregimes
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fice of Military Government in Germany (OMGUS) weiterarbeiten können. Der Political Adviser des inoffiziell bereits amtierenden (Stellvertretenden) Militärgouverneurs empfahl dies in einem Memorandum vom 25. Juni 1945: „Die indirekte wissenschaftliche ‚Stichprobenʻ-Untersuchung, die der USSBS verwendet, wobei IBM-Maschinen zur Analyse eingesetzt werden, ist besonders geeignet zur Untersuchung der politischen Tendenzen der Bevölkerung. … Das System ist ganz und gar zuverlässig, und die Zahl der Studien, die aus einem oder mehr als einem Datensatz einer Befragung dabei erstellt werden können, ist praktisch unbegrenzt“.48 Aber das USSBS-Team wurde nicht übernommen.49 Erst im Oktober 1945 und mit wesentlich geringerem Personalbestand – indessen bei Übernahme der Hollerith-Maschinen des USSBS-Projekts in Bad Nauheim – entstand die Survey Section der Information Control Division (ICD) des OMGUS. Ihr Direktor wurde Frederick Williams, ein enger Mitarbeiter Cantrils aus Princeton, wo er der Stellvertretende Direktor des OPOR gewesen war.50 Er leitete ein Team aus zehn Amerikanern und etwa sechzig Deutschen. Die Amerikaner waren für die Projektplanung sowie die Datenauswertung und -analyse zuständig, während die Deutschen die Interviews durchführten – wofür sie durch professionelle Interviewerschulung ausgebildet wurden. Der (Stellvertretende) Militärgouverneur Clay erläuterte dem Leiter der Civil Affairs Division im Kriegsministerium, dass es aus Kostengründen sinnvoll sei, „unsere Erkenntnisse über die Meinungen der Deutschen unter Mithilfe von Deutschen zu gewinnen“.51 Aber natürlich würden die Amerikaner der For-
48 Memorandum. From: Ambassador Murphy. To: Lieut. Gen. Lucius D. Clay, Deputy Military Governor. Subject: Recommendation to Incorporate the Morale Division of the U.S. Strategic Bombing Survey in the Political Division of the US GP CC/G, June 25, 1945. National Archives, Record Group 260, United States Group Control Council for Germany 1944 – 1945 (Box 13). Im Original: “This type of scientific indirect ‚sampleʻ interrogation used by this organization, in which analysis is made by IBM machines, is peculiarly adapted to investigate political trends in populations. … The system is thoroughly sound and the number of studies obtained from any set of interrogations is extremely large.“ 49 Der (Stellvertretende) Militärgouverneur Clay begründete seine Entscheidung, der Empfehlung Murphys nicht zu folgen, mit den hohen Kosten des siebzigköpfigen Personals des USSBS in Deutschland, die angesichts der ohnehin bereits hohen Besatzungskosten nicht gerechtfertigt schienen. Siehe: Uta Gerhardt, Zweimal Surveyforschung. Der Neuanfang der empirischen Sozialforschung nach dem Nationalsozialismus, in: Dies., Denken der Demokratie. Die Soziologie im atlantischen Transfer des Besatzungsregimes. Vier Abhandlungen, Stuttgart: Steiner 2007 (Abhandlung III), pp. 167 – 239, insbes. p. 183 – 185. 50 Williams hatte an Gauging Public Opinion mitgearbeitet. Siehe: American Men of Science. A Biographical Directory, vol. III, The Social and Behavioral Sciences, edited by Jaques Cattrell, 9th edition, New York: Bowker 1956, p. 733. 51 Brief, Lucius D. Clay an John H. Hilldring, Director, Civil Affairs Division, War Department, 19 November 1945; dort auch die nächste Zitatstelle. Die Textstelle des Briefes im Wortlaut: „I have made a special effort to recruit the civilians on this unit [des Morale-Teams des USSBS] who were willing to enter Military Government because of their special talents. However, the plans presented to me for the utilization of a sampling unit involved a larger staff and a much greater expense than I felt was justified in view of the already large costs of Military Government. As it is, we must depend on securing our information relative to German opinion largely from Germans, using our own staff to so correlate and coordinate the information as to obtain
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IV. Der Neubeginn der empirischen Sozialforschung
schungsgruppe „die Daten korrelieren und koordinieren, so dass ein einigermaßen genaues Bild entsteht“. Die Surveys Section – sie wurde mehrfach umbenannt – führte ab Oktober 1945 wöchentliche und in späterer Zeit zwei- bzw. dreiwöchige Surveys durch. Insgesamt wurden zwischen dem Oktober 1945 und dem September 1949 zweiundsiebzig – großenteils zonenweite – Surveys mit Zufallsstichprobe durchgeführt.52 Die Erstellung der Samples – darin wurde an den USSBS angeknüpft – erfolgte über die Einwohnerlisten der Ernährungsämter. Die Fragebogen wurden aus Fragebatterien zu Themen zusammengestellt, die durch verschiedene Abteilungen der Militärregierung sowie das Außen- oder Kriegsministerium in Washington angeregt wurden. Alle Erhebungsinstrumente wurden in einem Pretest geprüft. Die Vercodung erfolgte nach vorbereiteten Codeplänen.53 Die Ergebnisse wurden im ersten Halbjahr im Weekly Operations Bulletin bzw. dem Information Control Intelligence Summary (ICIS) veröffentlicht, einem Amtsblatt für Angehörige der Militärregierung, das wöchentlich erschien. Ab dem 1. März 1946 wurden zu den Problemen, die die Surveys untersuchten, Survey Reports veröffentlicht, die die empirischen Befunde zu Themen im besonderen Interesse der Militärregierung darstellten. Bis zum September 1949 entstanden 194 Survey Reports.54 Die Themen reichten von der Politik über die Wirtschaft bis zu Einstellungen im Bereich der Kultur.55 Sie bildeten die öffentliche Meinung Nachkriegsdeutschlands (bzw. der amerikanischen Besatzungszone) verlässlich ab.56
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a reasonably accurate picture.“ Institut für Zeitgeschichte, Bestand der Microfiches, Record Group 260, OMGUS 44 – 45/13/4. Das genaue Datum dieser zweiundsiebzig Surveys wird angegeben bei Anna J. Merritt und Richard L. Merritt, Public Opinion in Occupied Germany: The OMGUS Surveys, 1945 – 1949, Urbana: University of Illinois Press 1970, p. 6. Außer den zonenweiten Surveys wurden regionale Surveys in den Ländern der US-Zone durchgeführt sowie – qualitative – Erhebungen zu den Meinungen der Bevölkerung, die in so genannten Stimmungsberichten monatlich zusammengestellt wurden. Die Fragebogen – und zwar sowohl die englischsprachige Fassung als auch vielfach die ins Deutsche übersetzte Fassung – und außerdem die Codepläne für diese Surveys sind in den National Archives unter der RG 260 zugänglich. Die offizielle Zählung reichte bis No. 191, da drei Survey Reports mit dem Zusatz A versehen in die Zählung eingefügt wurden, so etwa der Bericht No. 14A, der sich mit dem Verhältnis zwischen Einheimischen und Heimatvertriebenen in Württemberg-Baden befasste. Zur Analyse dieser Themen siehe: Hans Braun und Stephan Articus, Sozialwissenschaftliche Forschung im Rahmen der amerikanischen Besatzungspolitik 1945 – 1949, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Bd. 36, 1984, pp. 703 – 737. Zur Analyse siehe: Uta Gerhardt, Re-Demokratisierung nach 1945 im Spiegel der zeitgenössischen Sozialforschung und sozialwissenschaftlichen Literatur, in: Dies. und Ekkehard Mochmann (Hrsg.), Gesellschaftlicher Umbruch 1945 – 1990. Re-Demokratisierung und Lebensverhältnisse, München: Oldenbourg 1992, pp. 27 – 57; Gerhardt, Wandlungen der Sozialstruktur in Westdeutschland 1945 bis 1949, in: Wolfgang Glatzer und Ilona Ostner (Hrsg.), Deutschland im Wandel. Sozialstrukturelle Analysen, Opladen: Leske und Budrich 1999, pp. 49 – 64; Gerhardt, „… a democratic and peace-loving German society“. Die Probleme der gesellschaftlichen Demokratisierung in der Vorgeschichte der Bundesrepublik als Thema der amerikanischen Soziologie, in: Denken der Demokratie. Die Soziologie im atlantischen Transfer des Besatzungsregimes, Abhandlung IV, pp. 241 – 310.
2. Die Surveys in der Zeit des amerikanischen Besatzungsregimes
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Die höchst erfolgreiche Arbeit der Opinion Surveys Branch – so lautete zu dieser Zeit die aktuelle Bezeichnung – wurde 1948, als Williams als Direktor ausschied, um zur Psychological Research Division des U.S. Department of the Air Force zu wechseln, durch Leo Crespi fortgeführt, einen Psychologen der Princeton University. Unter Crespi, der bis 1953 im Amt blieb, wurde die Survey-Abteilung 1949 in den Reactions Analysis Staff der HICOG übergeleitet. Diese Forschungsstelle der Hohen Kommission erarbeitete weitere 214 Survey Reports. Sie behandelten die Fragen zu Deutschland, die die USA nunmehr vor allem wichtig fanden – so etwa die Einstellung der Bevölkerung zur Wiederbewaffnung, zum OstWest-Konflikt etc.57 Insgesamt lassen sich die 194 Survey Reports der ICD folgendermaßen nach ihrer Problemstellung aufschlüsseln58: Das Politische bei Einstellungen und Verhaltensweisen war das Thema in 59 Reports bis Ende 1949.59 Hinzu kamen 38 Reports, die das politische Handeln in einen kulturellen Kontext stellten.60 Oder ein politisches wurde mit einem Wirtschaftsthema verkoppelt (etwa wie die Deutschen zu Streiks in der Wirtschaft oder im politischen Leben standen [#170]), worüber 14 Reports handelten.61 Außerdem behandelten 20 Reports die politischen zusammen mit den wirtschaftlichen und/ oder den kulturellen Dingen (so etwa Report #36, der die soziale Schichtung ermittelte), wovon 7 Reports einen Aufriss über mehrere Surveys hinweg gaben, also longitudinal angelegt waren.62
57 Die einzige Analyse, die über den gesamten Zeitraum der amerikanischen Surveys in Deutschland 1945 – 1965 reicht, behandelt allerdings ein begrenztes Thema: H. H. Fischer, Das Amerikabild in der deutschen Bevölkerung nach dem Zweiten Weltkrieg. Eine Untersuchung auf der Basis der OMGUS- und HICOG-Berichte, ZA-Information Nr. 17, November 1985, pp. 51 – 60 sowie Fischer, Das Amerikabild in der deutschen Bevölkerung nach dem Zweiten Weltkrieg. Eine Untersuchung auf der Basis der OMGUS-, HICOG- und EMBASSY-Berichte, ZA-Information, Nr. 18, Mai 1986, pp. 56 – 66. 58 Eine vollständige Sammlung der OMGUS- und der HICOG-Survey Reports steht am Lehrstuhl II für Soziologie an der Universität Heidelberg zur Verfügung. Für die Aufschlüsselung der Problemstellung der Reports nach Politisch – Wirtschaftlich – Kulturell danke ich Francesca Morlok-Maltese. 59 Es handelte sich um die Survey Reports #3, #5, #7, #10, #11, #14A, #17, #26, #28. #33, #54, #55, #62, #63, #65, #67, #68, #69. #71, #74, #75, #76, #80, #86, #87, #88, #93, # 93A, #96, #98, #104, #105, #107, #111, #113, #117, #123, #125, #131, #136, #140, #141, #143, #144, #147, #149, #151, #155, #159, #160, #166, #167, #174, #180, #182, #185, #186, #187, #191. 60 Dies waren die Reports #9, #12, #16, #19, #24, #35, #37, #46, #47, #48, #49, #50, #51, #56, #61, #72, #73, #81, #89, #91, #95, #97, #99, #101, #102, #103, #112, #114, #114A, #115, #120, #122, #126, #127, #129, #152, #156, #164. 61 Siehe die Reports #22, #25, #52, #59, #79, #82, #90, #161, #165, #170, #178, #179, #183, #190. 62 Die longitudinalen Auswertungen waren in den Reports # 60, # 72 (nur Politik/Kultur), #85, #100, #110, #139, #175 zu finden. Die Reports #15, #18, #29, #36, #42, #44, #64, #70, #124, #130, #132, #162, #163 konzentrierten sich mit einer alle drei Bereiche betreffenden Fragestellung auf einen bestimmten Zeitpunkt.
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IV. Der Neubeginn der empirischen Sozialforschung
Die Wirtschaft (ohne Politik) war das Thema in 17 Reports. Darunter waren 13 Reports, die über Einstellungen zu ausschließlich wirtschaftlichen Problemen berichteten, und 4 Reports, die auch kulturelle Aspekte einbezogen.63 Schließlich befassten sich 47 Reports mit ausschließlich kulturellen Themen (z. B. #66 behandelte die Prügelstrafe an Kindern).64 (Rechnet man noch diejenigen hinzu, die auch wirtschaftliche und politische Themen [longitudinal] klärten, und ferner die 37 Reports, die auch politische, und die 4 Reports, die auch wirtschaftliche Fragen mit behandelten, so wurde die kulturelle Mentalität – und ihre Veränderung – in insgesamt 108 Reports untersucht, also mehr als der Hälfte der Forschungsberichte.) Im Überblick standen die politischen Einstellungen und Einschätzungen der Deutschen im Vordergrund – sie wurden in 130 Reports untersucht (67 Prozent). An zweiter Stelle standen die kulturelle Mentalität und das Alltagshandeln (108 Reports, 55 Prozent). An dritter Stelle – überhaupt häufiger erst im letzten Jahr der Militärherrschaft – waren die Themen des Wirtschaftsdenkens (50 Reports, 26 Prozent).65 Das Forschungsdesign war professionell ausgearbeitet. Zum Beispiel behandelte der Survey Report #19 – Veröffentlichungsdatum August 1945 – die Frage des Sozialcharakters der Deutschen.66 Mittels einer eigens für derartige Persönlichkeitsmessung konstruierten German Attitude Scale wurde untersucht, wie autoritär (nicht-demokratisch) die Einstellungen der Deutschen waren. Auf acht Dimensionen anhand von elf Skalen wurde nachgeprüft, inwieweit die Deutschen des Jahres 1946 eher autoritäre oder eher demokratische Einstellungen (Persönlichkeits- und Handlungstendenzen) hatten. Die Dimensionen, auf denen dies gemessen wurde (wobei zunächst daran gedacht war, die Antworten könnten eine Guttman-Skala ergeben), waren: Innerfamiliäres Rollenverständnis (autoritär vs. partnerschaftlich)67, rechtsstaatliches Denken68, Antisemitismus69, Abwehr der deutschen Schuld am Holocaust oder am Nationalsozialismus, Anerkennung der Besatzungsmächte als den Helfern bei der Demokratisierung Deutschlands, Ehrlichkeit/Unehrlichkeit in den Antworten (Überprüfung, ob die Befragten antworteten, was die Interviewer 63 Ausschließlich wirtschaftliche Themen behandelten die Reports #4, #6, #8, #40, #41, #128, #133, #142, #150, #157, #168, #169, #189, und auch kulturelle Aspekte berichteten die Reports #31, #32, #38, #171. 64 Es handelte sich um die Reports #1, #2, #13, #14, #20, #21, #23, #27, #30, #34, #39, #43, #45, #53, #57, #58, #66, #77, #78, #83, #84, #92, #94, #106, #108, #109, #116, #118, #119, #121, #134, #135, #137, #138, #145, #146, #148, #153, #154, #158, #172, #173, #176, #177, #181, #184, #188. 65 Die Summe der Prozentwerte liegt über 100%, da zahlreiche Reports über mehr als einen Bereich handelten. 66 Basic Attitudes Explored by the German Attitude Scale. 19 August 1946. Surveys Branch, Office of the Director of Information Control, OMGUS (Rear), Report No. 19, ICD Opinion Surveys, OMGUS, Berlin Germany. 67 Dazu gehörte das item: „In a family a boy is more important than a girl.“ Bei diesem item war demokratisch, dass die Aussage verneint wurde. 68 Dazu gehörte das item: „It was wrong to force foreigners to work in German factories.“ Bei diesem item war die demokratische Antwort, dass die Aussage bejaht wurde. 69 Dazu gehörte das item: „A musical composition can be beautiful in spite of the racial background of the composer.“
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bzw. die Amerikaner mutmaßlich von ihnen hören wollten)70, Militarismus und Kriegsbegeisterung sowie – aus vier Skalen gebildet – Einstellung zur Regierung und zur Politik überhaupt. Die Ergebnisse ließen sich nicht zu Guttman-Skalen ordnen, weder in den einzelnen Dimensionen noch für bestimmte Bevölkerungsgruppierungen – und erst recht nicht über mehrere Dimensionen für breite Bevölkerungskreise. Nur drei Cluster ließen sich bilden: Am ehesten demokratische Einstellungen fanden sich im Cluster aus rechtsstaatlichem Denken, (Anti-)Militarismus-Kriegsbegeisterung und eigenständiger Meinungsbildung hinsichtlich Politik und Regierung. Am wenigsten demokratische Einstellungen enthielt der Cluster aus Schuld, Besatzungsherrschaft und Ehrlichkeit/Unehrlichkeit.71 Bei der Auswertung zum Antisemitismus zeigte sich: Ein Drittel (33 Prozent) der Befragten war nicht antisemitisch (antwortete also im demokratischen Sinn auf die entsprechenden items), und weitere 43 Prozent waren nur geringfügig antisemitisch. Dazu der Report #19: „Die Daten weisen darauf hin, dass eine deutliche Mehrheit der Deutschen in beträchtlichem Ausmaß ethnozentrisch denkt, aber etwa ein Drittel ist offensichtlich nicht antisemitisch eingestellt“.72 Noch einmal auf Anregung des Kriegsministeriums in Washington wurde im Dezember 1946 diese letztere Frage geklärt. Der Report #49 – Veröffentlichungsdatum 3. März 1947 – behandelte Anti-Semitism in the American Zone.73 War der Antisemitismus ein Ventil für Aggressionen der Bevölkerung? Offenbar gab es sogar eine Steigerung seit Kriegsende: „Folgende Ursachen werden für diese Steigerung verantwortlich gemacht: a.) Gewohnheitsmäßig suchen die Deutschen nach Sündenböcken, wie man es ihnen seit langem beigebracht hat, b.) die Aggression entsteht im Gefolge der Frustration wegen der schlechten Lebensverhältnisse der meisten Deutschen, c.) der Antisemitismus ist die Reaktion auf die massive Zuwanderung von Vertriebenen aus Polen oder d.) darin liegt eine Reaktion auf den Zustrom von ehemaligen Lagerinsassen, die auf den Wohnungsmarkt und ins Berufsleben drängen“.74 Eine mehrdimensionale Einstellungsskala prüfte den Antisemitismus, den Rassismus und den Nationalismus und fand fünf Abstufungen des Vorurteils: 39 Prozent der Deutschen waren Antisemiten, darunter 18 Prozent überzeugte (intense) Antisemiten; weitere 22 Prozent waren nicht antisemitisch, wohl aber „nur“ rassistisch eingestellt; insgesamt 62 Prozent dachten mithin allemal (mindestens) rassistisch, davon zwei Drittel antisemitisch. Auf der anderen Seite 70 Dazu gehörte das item: „The air forces of the Allies bombed only military objectives in Germany“ – was immerhin 18% der Befragten bejahten! 71 Siehe auch: Gerhardt, „… a democratic and peace-loving German society“, in: Denken der Demokratie, pp. 269 – 273. 72 Report # 19, p. 12. Im Original: „From these data it must be maintained that a clear majority of the German public holds some appreciable degree of ethnocentrism, and that about one-third of the public must be said to be not obviously tainted with an anti-semitic disposition.“ 73 Anti-Semitism in the American Zone. Report Number 49. 3 March 1947. ODIC, Opinion Surveys Headquarters, OMGUS (Rear). 74 Ibid., p. 1. Im Original: „The causes for such growth have been named as a) the traditional scape-goatism which was so thoroughly taught in Germany, b) an aggressive outlet for the frustrating existence endured by most Germans, c) a reaction to the infiltration of Polish refugees, and d) reaction to the movement from camps to civil life of other displaced persons.“
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IV. Der Neubeginn der empirischen Sozialforschung
waren 39 Prozent keine Antisemiten, wobei 18 Prozent nationalistisch dachten. 20 Prozent der Deutschen hatten keine Vorurteile – sie waren also weder nationalistisch noch rassistisch und erst recht nicht antisemitisch. Das Bild veränderte sich insgesamt wenig bis zum Frühjahr 1948. Der Report #122 berichtete, dass dieselbe Skala wie im Survey des Dezember 1946 noch einmal (in verkürzter Form) verwendet wurde, um zu testen, wie antisemitisch die Deutschen (immer noch) waren.75 Die Zusammenfassung hielt fest: Der Vergleich zwischen den beiden Studien erbrachte, dass der Antisemitismus – zumindest in Hessen und in Württemberg-Baden – deutlich gesunken war, „ABER zugleich sind die rassistischen Einstellungen – die Grundlage für den Antisemitismus – sehr stark in der gesamten Besatzungszone angestiegen“.76 Insgesamt klärte der Report #17577 (offizieller Veröffentlichungstermin Juni 1949) im Überblick, wie sich die Einstellungen seit 1945 entwickelt hatten. Die Deutschen hatten auf die Frage, ob einige Rassen weniger wert seien als andere, im Jahr 1945 zu 40 Prozent und im September 1949 zu 35 Prozent dies bejaht. Auf der anderen Seite sagten im Dezember 1945 40 Prozent und im November 1949 30 Prozent, der Nationalsozialismus sei a bad idea gewesen, doch 1945 sagten etwas über 50 Prozent und 1949 60 Prozent, der Nationalsozialismus sei a good idea, badly carried out gewesen.78 Die politischen Themen umfassten die politischen Parteien, die nach 1945 neu gegründet oder wieder zugelassen wurden, also welche Nachkriegsdeutschen diese neuen Parteien wählten (und ob sie überhaupt wählten) etc. Der Report #26 (veröffentlicht im November 1946)79 stellte fest, dass immerhin 80 Prozent der Befragten zur Wahl gehen wollten, und dieser Anteil war höher, wenn sie eine Partei nennen konnten, der sie persönlich nahe standen. Nach Altersgruppen war die Bereitschaft, zur Wahl zu gehen, am niedrigsten bei den 20-bis 29-Jährigen und am höchsten bei den 60-bis 69-Jährigen. Nach sozialer Schicht gingen mehr Oberschicht- als Unterschichtangehörige zur Wahl. Das Bild war ermutigend. Der Report #11180 berichtete über die Reaktion auf die Gründung der Bayernpartei – es war eine Interessenpartei, die sich für die Rückkehr der Monarchie einsetzte, was dem Demokratisie75 Prejudice and Anti-Semitism. Report No. 122. 22 May 1948. ICD Opinion Surveys, OMGUS, Berlin Germany. 76 Ibid., p. 2. Im Original: „BUT, at the same time, racist attitudes – the basis of anti-Semitism – have increased sharply throughout the Zone.“ 77 Trends in German Public Opinion 1946 Thru 1949, Office of the High Commissioner for Germany, Office of Public Affairs, Reactions Analysis Staff. Der Report #175 erschien im Frühjahr 1950, wurde indessen in den offiziellen Verzeichnissen mit einem Erscheinungsdatum June, 1949 angegeben. 78 Ibid., p. 5. Zu diesem Befund siehe auch: Erwin K. Scheuch, Der Umbruch nach 1945 im Spiegel der Umfragen, in: Uta Gerhardt und Ekkehard Mochmann (Hrsg.), Gesellschaftlicher Umbruch 1945 – 1990, pp. 9 – 25, bes. p. 16. 79 Information About the Land Constitutions and Intention to Vote in the Constitutional Elections, 13 November 1946. Report No. 26. Surveys Branch, Information Control Division, OMGUS (Rear). 80 Attitudes Toward the Bavarian Party. Report No. 111, 9 April 1948. ICD Opinion Surveys, OMGUS, Berlin Germany
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rungsprogramm der Militärregierung zuwiderlief – und fand wenig Beunruhigendes: Lediglich Personen der Oberschicht, Männer sowie diejenigen, die nicht regelmäßig in die Kirche gingen, wollten überhaupt zur Bayernpartei etwas sagen. Und der Report vermeldete, dass 66 Prozent dieser Befragten derogatory remarks machten und nur one third (34%) speaks favorably of it.81 Man kann sagen: Die Surveys des OMGUS, worüber die Survey Reports berichteten, waren Sozialforschung auf höchstem Niveau. Projektplanung, Feldarbeit sowie Datenaufbereitung und -analyse waren vorbildlich. Die Surveys erfassten die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Seiten Nachkriegsdeutschlands. Ein zweiter Bereich entwickelte sich parallel – wenngleich in kleinerem Umfang. Ebenfalls während des Besatzungsregimes (zunächst in der amerikanischen Zone) wurden Community Surveys „importiert“ – um den Ausdruck Scheuchs zu verwenden. Der Community Survey war seit den zwanziger und dreißiger Jahren in den USA ein systematischer Forschungsansatz. Ein 1939 erschienenes Lehrbuch gab einen ausgezeichneten Überblick.82 Nels Anderson, der als Stadtsoziologe eigene Forschungen in Chicago und New York durchgeführt hatte, leitete ab Frühjahr 1948 die Labor and Management Technics Branch der Manpower Division des OMGUS. Er regte im Herbst 1948 eine – zunächst vergleichend geplante – stadtsoziologische Untersuchung in Gestalt eines Community Survey an.83 Daraus entstand ab 1949 der Darmstadt Community Survey – eine Großstudie, die bis zum Ende des Jahres 1951 zeitweise sechzig Mitarbeiter beschäftigte und deren Ergebnisse in neun Monographien vorgelegt wurden.84 Der Darmstadt Community Survey wurde im eigens gegründeten Institut für sozialwissenschaftliche Forschung Darmstadt durchgeführt. Die Mitarbeiter des Projekts wurden durch amerikanische Sozialforscher beraten. Diese kamen als Cultural Experts und wurden für diese Aufgabe durch das State Departement finanziert. Die Berater aus den USA führten die Forscher in Darmstadt in die Methoden der Surveyforschung ein – dabei mussten die Stichproben nunmehr auf eine einzelne Stadt und deren hinterland (der deutsche Ausdruck wurde im Englischen verwendet) bezogen und die Problemstel81 Ibid., p. 1. 82 Pauline Young, Scientific Social Surveys and Research. An Introduction to the Background, Content, Methods, and Analysis of Social Studies. With Chapters on Statistics, Graphic Presentation, and Ecology by Calvin F. Schmid, New York: Prentice Hall 1939. 83 Gerhardt, Zweimal Surveyforschung, bes. pp. 201 – 206. 84 Die Monographien: Herbert Kötter, Struktur und Funktion von Landgemeinden im Einflussbereich einer deutschen Mittelstadt, Darmstadt: Roether 1952; Karl-Guenther Grüneisen, Landbevölkerung im Kraftfeld der Stadt, Darmstadt: Roether 1952; Gerhard Teiwes, Der Nebenerwerbslandwirt und seine Familie im Schnittpunkt ländlicher und städtischer Lebensform, Darmstadt: Roether 1952; Gerhard Baumert, Jugend der Nachkriegszeit. Lebensverhältnisse und Reaktionsweisen, Darmstadt: Roether 1952; Gerhard Baumert unter Mitwirkung von Edith Hünniger, Deutsche Familien nach dem Kriege. Struktur, Typen und Verhalten, Darmstadt: Roether 1954; Irma Kuhr, Schule und Jugend in einer ausgebombten Stadt, Darmstadt: Roether 1952; Giselheid Koepnick, Mädchen einer Oberprima. Eine Gruppenstudie, Darmstadt: Roether 1952; Lindemann, Klaus A., Behörde und Bürger. Das Verhältnis zwischen Verwaltung und Bevölkerung in einer deutschen Mittelstadt, Darmstadt: Roether 1952 sowie Anneliese Mausolff, Gewerkschaft und Betriebsrat im Urteil der Arbeitnehmer, Darmstadt: Roether 1952.
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IV. Der Neubeginn der empirischen Sozialforschung
lungen, für die die Fragebogen erstellt wurden, auf die Verhältnisse in Darmstadt zugeschnitten werden. Die vier Themenbereiche: Erstens war das ländliche Einzugsgebiet ein Untersuchungsfeld für Verstädterung der Einstellungen85; zweitens waren die Schule, die Jugend und die Familie wichtig; drittens ging es um das Verhältnis zwischen den Bürgern und der neu entstandenen städtischen Verwaltung; und der vierte Themenbereich war die Arbeitswelt86. Den Erhebungen lagen vorgetestete Fragebogen zugrunde. Die Stichproben wurden nach dem Zufallsverfahren gezogen aus unterschiedlichen Unterlagen – den Karteien der Einwohnermeldeämter, den Mitgliederlisten der Gewerkschaften etc. Die Datenauswertung arbeitete mit Codeplänen mit vorverschlüsselten Antwortkategorien. Die Datenanalyse verwendete Kreuztabellen, das zeitgenössisch modernste Verfahren der Ergebnisdarstellung.87 Im November 1950 ging die Leitung des Projekts an den Agrarwissenschaftler Max Rolfes, Leiter des Instituts für landwirtschaftliche Betriebslehre an der Justus Liebig-Hochschule Gießen, und den Frankfurter Sozialphilosophen Theodor W. Adorno über. Adorno hatte in den USA an der Großstudie über die autoritäre Persönlichkeitsstruktur mitgewirkt, die mittels Likert-Skalen faschistische Potentiale bei ausgewählten Bevölkerungsgruppen feststellen konnte.88 Adorno regte an, die Feldarbeit in einigen Teilprojekten der Darmstadt-Studie durch Zusatzerhebungen zu ergänzen.89 Die Einstellungsskalen, die nun entwickelt wurden, wurden vorge85 Zu den drei Teilstudien, die das Stadt-Land-Verhältnis analysierten, siehe: Uta Gerhardt und Alexia Arnold, Von Chicago nach Darmstadt. Das Verhältnis zwischen der Chicago-Soziologie und der Darmstadt-Studie. Zur Kontinuität und Diskontinuität der Gesellschaftskonzeption(en) im Blickfeld der Stadt-Land-Thematik, in: Rüdiger vom Bruch, Uta Gerhardt und Aleksandra Pawliczek (Hrsg.), Kontinuitäten und Diskontinuitäten in der Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts, Stuttgart: Steiner 2006, pp. 195 – 222. 86 Insgesamt schlugen die amerikanischen Projektberater acht Themenfelder vor, die für Darmstadt untersucht werden sollten. Diese wurden nur teilweise in die Analyse einbezogen, da das Forschungsteam aus zehn bzw. neun hauptamtlichen Mitarbeitern die verschiedenen methodischen Schritte der Untersuchung erst aus Lehrbüchern etc. erarbeiten musste, ehe die Erhebungsinstrumente erstellt und getestet, die Daten aufbereitet und ausgewertet etc. werden konnten, weshalb schließlich nur ein Ausschnitt des Projektentwurfs verwirklicht werden konnte. 87 Hinzu kamen – je nach Einzelvorhaben – qualitative Materialien, etwa die Niederschriften von Schulkindern über ihre Lebenssituation oder die Fallanalysen ganzer Familien – so genannte Familienbiographien – mit ausführlichen Lebensbeschreibungen. Ferner wurden Skalen zur Messung der autoritären oder der demokratischen Einstellungen etwa hinsichtlich der Familienstruktur oder des Wirtschaftssystems – angelehnt an The Authoritarian Personality – entwickelt und eingesetzt. Dazu im einzelnen: Alexia Arnold, Die Darmstadt-Studie – eine wissenschaftsgeschichtliche Rekonstruktion (Arbeitstitel, in Vorbereitung). 88 Theodor W. Adorno, Else Frenkel-Brunswik, Daniel Levinson und R. Nevitt Sanford, The Authoritarian Personality, New York: Harper and Brothers 1950. Siehe auch unten. 89 Die Unterlagen, die im Archiv des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt am Main (IfS) zugänglich sind, geben beredtes Zeugnis von Adornos Bemühungen, den in einem halbfertigen Endbericht festgefahrenen Stand der Untersuchung vom November 1950 durch zwei Anregungen zu einem guten Ende zu führen. Adorno regte an, nicht einen umfassenden Abschlußbericht anzustreben, für den ihm nicht ausreichend stringente Materialien vorzuliegen schienen, sondern stattdessen die Einzelstudien zu Monographien auszuarbeiten – woraus schließlich neun Monographien wurden. Adorno empfahl ferner in persönlicher Zusammenarbeit mit je-
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testet, ehe sie eingesetzt wurden. Der Grad des Autoritarismus der städtischen im Unterschied zur ländlichen Bevölkerung war beispielsweise ein solches Zusatzthema. Die Ergänzungen rundeten das ursprüngliche Forschungsprogramm ab und waren – wegen ihrer methodischen Stringenz – ein wichtiger Teil dieses ersten Community Survey in Deutschland. Zusammenfassend: Die Surveys unter dem amerikanischen Besatzungsregime übertrugen den neuesten Stand der empirischen Sozialforschung von den USA auf Nachkriegsdeutschland. Den einen Strang bildeten die Surveys der ICD, die bis Ende 1949 zu fast zweihundert Reports führten. Diese Surveys waren auf dem höchsten Stand der damaligen Methodenentwicklung und verkörperten die zeitgenössischen Fortschritte der empirischen Forschung. Dafür bürgten die beiden Direktoren der Survey Branch bzw. Opinion Surveys Branch – Frederick Williams und Leo Crespi – : Sie hatten in Princeton im Umkreis von Cantril an der Entwicklung der Methoden mitgewirkt, die in Gauging Public Opinion dargestellt waren. Den zweiten Strang der Surveyforschung bildete der Darmstadt Community Survey. Diese Großstudie leitete ab November 1950 Theodor W. Adorno als federführender Projektberater. Die Studie, die zu neun Monographien führte, war in ihrem systematischen Aufbau und ihrem methodischen Vorgehen ein veritabler „amerikanischer Import“ – um noch einmal den Ausdruck Scheuchs zu verwenden. 3. DIE WEINHEIM-TAGUNG Vom 14. bis 16. Dezember 1951 fand in Weinheim an der Bergstraße der Kongress Empirische Sozialforschung statt, den das Institut zur Förderung öffentlicher Angelegenheiten e.V. in Frankfurt am Main im Auftrag der HICOG ausrichtete.90 Zu diesem ersten Kongress über empirische Sozialforschung in Deutschland wurden – auf Kosten der HICOG – einhundertvierunddreißig Teilnehmer eingeladen, darunter 122 Deutsche und 12 Amerikaner.91 dem einzelnen Autor der neun Monographien und unterstützt durch Friedrich Pollock (den Forschungsdirektor des IfS), die verschiedenen Themen noch weiter durch Zusatzerhebungen zu vertiefen, so etwa die Messung der autoritären bzw. demokratischen Einstellungen mittels Likert-Skalen ergänzend in das Projekt aufzunehmen. 90 Der Kongress wurde durch ein Vorbereitungskomittee geplant, dem unter anderem Theodor W. Adorno, Elisabeth Noelle-Neumann sowie Hans Sittenfeld angehörten. Letzterer, ein junger Sozialforscher, wechselte kurz vor der Weinheim-Tagung vom Institut für Demoskopie in Allensbach am Bodensee an das Institut für Sozialforschung an der Universität Frankfurt am Main über, wo er während der fünfziger Jahre zum Direktor der Forschungsabteilung aufstieg. Die Referate der Weinheim-Tagung sowie Zusammenfassungen der Diskussionen wurden (unter Federführung des Allensbacher Instituts) veröffentlicht als: Empirische Sozialforschung. Meinungs- und Marktforschung. Methoden und Probleme. Frankfurt am Main: Institut zur Förderung öffentlicher Angelegenheiten e.V. 1952 (Wissenschaftliche Schriftenreihe des Instituts zur Förderung öffentlicher Angelegenheiten e.V., Band 13). 91 Die Deutschen kamen nicht nur aus den Universitäten, sondern auch den Statistischen Landesämtern, den Wahlämtern großer Städte, den Meinungs- und Marktforschungsinstituten und anderen Institutionen, die mit empirischen Daten oder mit Sozialforschung befasst waren. Die Amerikaner gehörten zum Reactions Analysis Staff der HICOG oder waren in Deutschland im
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Erwin Scheuch sah in der Weinheim-Tagung den Wendepunkt der Verwissenschaftlichung der westdeutschen Sozialforschung. Er erinnerte in seinem Rückblick zum fünfzigjährigen Jubiläum insbesondere an zwei Teilnehmer.92 Erich Peter Neumann, der Ko-Direktor des Instituts für Demoskopie in Allensbach am Bodensee, habe die Meinungsforschung eine „demokratische Methode“ genannt, wie sie in den angelsächsischen Ländern „gleichsam eine Funktion des öffentlichen Lebens“ ausübe.93 Und Leo Crespi, der „sich als eine Art Hebamme für diese Tagung und für den Import amerikanischer Sozialtechniken der Meinungsforschung nach Deutschland bezeichnete“94, habe gesagt: „[P]ublic opinion research has so much to contribute to the really democratic functioning of social institutions“.95 Indessen hatte Scheuchs Rückblick zwei Schönheitsfehler. Zwar verglich Crespi tatsächlich in seiner kurzen Ansprache den Reactions Analysis Staff mit einer Hebamme, als er die Surveyforschung in Deutschland heimisch zu machen hoffte, indem er von der Geburt der wissenschaftlich adäquaten Sozialforschung sprach. Aber Scheuch hätte Crespis Verdienste deutlicher hervorheben sollen. Denn Crespi, der die Surveyforschung in Westdeutschland zur allgemeinen Praxis machen wollte, wozu die Tagung beitragen sollte, konnte auf beträchtliche Anstrengungen der HICOG verweisen: „Die Argumente, mit denen der Reactions Analysis Staff für die richtige Meinungsforschung in Deutschland eingetreten ist und insbesondere deren ausdrückliche Förderung empfohlen hat, hat die Kollegen in den Gremien überzeugt, die die Finanzierung [dieser Tagung] genehmigt haben. So kam es, dass unsere leisen Hoffnungen von vor zwei Jahren nun ganz und gar in Erfüllung gegangen sind – nun kann diese Zusammenkunft aller führenden empirischen Sozialforscher in Westdeutschland stattfinden. Sie alle sind hier versammelt und widmen sich miteinander dem gegenwärtigen Stand und den Problemen der empirischen Sozialforschung in Deutschland. Darin liegt eine Aussicht auf weitere Erfolge, die wir der geplanten Entwicklung dieser neuen empirischen Fachdisziplin in Deutschland wünschen – der Surveyforschung“.96
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Rahmen eines – im Teilnehmerverzeichnis nicht näher bezeichneten – U.S. Air Force Project, das seinen Sitz in Wiesbaden hatte. Es könnte sich dabei um das durch Paul F. Lazarsfeld geleitete Projekt über sechs Großstädte in verschiedenen Regionen der Welt gehandelt haben, das zu dieser Zeit international durchgeführt wurde. Ich danke Suzanne Keller, heute Princeton University, die als junge Projektmitarbeiterin an dieser Tagung teilnahm, für diese Auskunft. Erwin K. Scheuch, Der Aufstieg der empirischen Sozialforschung aus dem Geist des New Deal, in: Heinz Sahner (Hrsg.), Fünfzig Jahre nach Weinheim. Empirische Markt- und Meinungsforschung gestern, heute, morgen. Wissenschaftliche Jahrestagung der Arbeitsgemeinschaft Sozialwissenschaftliche Institute e.V. (ASI) vom 25. – 26. Oktober 2001, Weinheim, Baden-Baden: Nomos 2002, pp. 51 – 58. Ibid., p. 51. Das Zitat stammte aus: Erich Peter Neumann, Politische und soziale Meinungsforschung in Deutschland, in: Empirische Sozialforschung, pp. 44 – 51, cit. p. 44. Scheuch, Der Aufstieg der empirischen Sozialforschung aus dem Geist des New Deal, p. 51. Das Zitat stammte aus: Leo Crespi, Americaʼs Interest in German Survey Research, in: Empirische Sozialforschung, pp. 215 – 217, cit. p. 215. Der Satz bei Crespi lautete allerdings etwas anders: „[W]e feel that public opinion research has so much to contribute to really democratic functioning of social institutions.“ Leo P. Crespi, Americaʼs Interest in German Survey Research, pp. 216 – 217. Im Original: „The arguments that the Reactions Analysis Staff has adduced for the general value of sound public
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Befremdlich ist auch, dass Scheuch zwar Neumanns Referat in Weinheim, aber nicht den Einführungsvortrag Adornos erwähnte. Das Thema Scheuchs – Der Aufstieg der empirischen Sozialforschung aus dem Geist des New Deal – hätte gut zu Adornos Lob für den „Social Research“ gepasst (bei Adorno war das Wort männlich). Adornos Bekenntnis zum New Deal war unüberhörbar. Er sagte zu Beginn seines Einführungsreferats: „Der Typus Wissenschaft, den diese Tagung vertritt und für den es an einem Namen fehlt, während das Gemeinsame unverkennbar ist, dieser Typus Wissenschaft ist in Deutschland erst in den letzten Jahren stärker hervorgetreten. … Während der Hitler-Diktatur war er, nach dem damals üblichen Jargon, unerwünscht. Insbesondere im ‚Public Opinion Researchʻ, in dem Bereich, für den sich mittlerweile das unglückliche Wort ‚Meinungsforschungʻ eingebürgert hat, sahen die Nazis mit gutem Instinkt ein demokratisches Potential. Daß der statistischen Auswertung jede Stimme gleich viel gilt, daß der bei der Bildung von Querschnitten so wichtige Begriff des Repräsentativen kein Privileg kennt, erinnerte allzu sehr an die freie und geheime Wahl, mit der dann auch die einschlägigen Erhebungen den Namen ‚Pollsʻ teilen“.97 Die Teilnehmer in Weinheim kamen aus den Universitäten, so Hans Achinger von der Universität Frankfurt oder Karl Gustav Specht vom Forschungsinstitut für Sozial- und Verwaltungswissenschaften an der Universität zu Köln, von universitätsnahen Instituten, so Gerhard Baumert vom Institut für sozialwissenschaftliche Forschung Darmstadt oder Friedrich Pollock vom Institut für Sozialforschung Frankfurt, von außeruniversitären Forschungsinstituten, so Wilhelm Brepohl von der Sozialforschungsstelle Dortmund an der Universität Münster oder Jan Schokking vom UNESCO-Institut für Sozialwissenschaften in Köln98, von Statistischen Ämtern, so Karl Asemann vom Statistischen Amt und Wahlamt der Stadt Frankfurt und Hans Kellerer vom Bayerischen Statistischen Landesamt, von Markt- und Meinungsforschungsinstituten, so Liselotte Aschpurwis von der Gesellschaft für Wirtschaftsanalyse und Markterkundung in Hamburg und Karl-Georg von Stackelberg vom EMNID-Institut in Bielefeld sowie Hans-Jürgen Otten vom Deutschen Institut für statistische Markt- und Meinungsforschung DISMA in Hamburg und Ernst Günther Riemschneider von der DIVO Gesellschaft für Markt- und Meinungsforschung mbH in Berlin – um einige zu nennen. Das Programm (abgesehen von der Eröffnungs- und Schlusssitzung) hatte drei Teile. Der erste Teil Anwendungsbereiche empirischer Sozialforschung enthielt unter anderem Referate von Neumann opinion polling in Germany, and specifically the importance of its early establishment on a firm organizational basis, received sympathetic audience among those of our colleagues who controlled the allotment of funds. The upshot is that what was only a hope two years ago has come to life today – a convocation of all the outstanding empiricial social researchers in West Germany gathered around one table, pooling their common talents toward clarifying the present status and problems of empirical social research in Germany and toward drawing up the most auspicious blueprint for the continued sound development in Germany of the new empirical social discipline – survey research.“ 97 Theodor W. Adorno, Zur gegenwärtigen Stellung der empirischen Sozialforschung in Deutschland, in: Empirische Sozialforschung, pp. 27 – 39, cit. p. 27. 98 Im Teilnehmerverzeichnis war Schokking irrtümlich einem UNESCO-Institut für Sozialforschung zugeordnet.
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über politische und soziale Meinungsforschung, Erich Reigrotzki über Betriebsumfragen und Karl Christian Behrens (Berlin) über betriebswirtschaftliche Markt- und Absatzforschung. Der zweite Teil behandelte Sampling und Normen mit Referaten von Hans Kellerer über Stichprobenverfahren und Ulrich Jetter vom Institut für Demoskopie über Wert und Grenzen repräsentativer Auswahlmethoden. Schließlich wurden drittens die Erhebungs- und Auswertungsverfahren diskutiert anhand von Referaten von Ludwig Neundörfer über Soziographie, Jürgen Weisker (damals federführender Direktor der DIVO-Institute) über Interviewerschulung und Friedrich Tennstädt (einem Mitarbeiter des Allensbacher Instituts) über die Quotenauswahl im Vergleich zur Random-Stichprobe – wobei Tennstädt betonte, das Quotenverfahren sei im Aussagewert ebenso repräsentativ (und dabei kostengünstiger in der Finanzierung) wie die Zufallsstichprobe. Anlässlich der Weinheim-Tagung trafen höchst verschiedene Richtungen der empirischen Sozialforschung aufeinander. Einige hatten sich aus den vierziger Jahren noch erhalten, andere waren seit 1945 neu entstanden. Den Stand der Diskussion im Jahr 1951 veranschaulichten drei Richtungen der damals aktuellen Diskussion. Es waren die seinerzeit in Westdeutschland vorherrschenden „Schulen“ des Denkens. Die Tagungsteilnehmer aus dem Institut für Sozialforschung an der Universität Frankfurt am Main (und auch teilweise dem Institut für sozialwissenschaftliche Forschung Darmstadt, dessen Darmstadt Community Survey seit November 1950 durch Adorno betreut wurde) vertraten eine Sozialforschung, die sich gesellschaftstheoretisch an der Sozialphilosophie der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule99 orientierte. Die Teilnehmer aus dem Institut für Demoskopie in Allensbach am Bodensee vertraten eine Meinungsforschung, die durch Massenumfragen zu Bestandsaufnahmen der öffentlichen Meinung gelangte. Und diejenigen aus dem Reaction Analysis Staff standen für eine Sozialforschung, die sich auf Surveys stützte und die stochastisch begründete Datenanalyse verwandte. Die drei Richtungen standen jeweils für eine eigene Vorgeschichte und Einwirkung aus den USA auf die empirische Soziologie Nachkriegsdeutschlands. Adorno begründete in seinem Einführungsreferat, warum er, ein Sozialphilosoph, sich für die empirische Sozialforschung einsetzte: „Diese objektive, in der Sache gelegene Beziehung zur Aufklärung, zur Auflösung blinder, dogmatischer und willkürlicher Thesen ist es, was mich als Philosophen mit der empirischen Sozialforschung verbindet“.100 Er wandte sich gegen die Soziologie Simmels oder Webers, deren geisteswissenschaftliches Verständnis dazu verführe, „die Härte dessen, was ist“101 zu verharmlosen: „In einer Welt, die weithin beherrscht wird von ökonomischen Gesetzen, die sich über den Köpfen der Menschen durchsetzen, wäre es illusionär, die sozialen Phänomene prinzipiell als ‚sinnhaftʻ verstehen zu wollen“.102 Dagegen stand die Sozialforschung im Rampenlicht, die durch „fact-finding me-
99 Siehe dazu: Rolf Wiggershaus, Die Frankfurter Schule. Geschichte, theoretische Entwicklung, politische Bedeutung, München: Carl Hanser 1986. 100 Adorno, Zur gegenwärtigen Stellung der empirischen Sozialforschung in Deutschland, p. 31. 101 Ibid., p. 30. 102 Ibid., p. 31; dort auch die nächste Zitatstelle.
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thods“103 dazu beitrug, die gesellschaftlichen Verhältnisse des Spätkapitalismus aufzudecken: „Die vielgescholtene Inhumanität der empirischen Methoden ist immer noch humaner als die Humanisierung des Unmenschlichen“.104 Aber Adorno warnte vor einer Sozialforschung, die – wie bei Lazarsfeld – „administrative research“ und „critical research“ voneinander trennte.105 Er fürchtete eine unwillkürliche „Abspaltung der Methoden von ihrem Gegenstand“106: „Man resigniert, wo man doch keine Macht hat gegenüber den Zielen, und beschränkt sich umso lieber darauf, herauszubekommen, wie man vorgegebene Aufgaben, den Verkauf einer Ware, die Beeinflussung einer Menschengruppe, am wirkungsvollsten und ökonomischsten lösen kann, als in der gegenwärtigen Phase derlei Tätigkeiten recht begehrt sind“.107 Adorno hatte seine Forschungserfahrung – und für ihn war die empirische Sozialforschung ausdrücklich einen Meilenstein auf dem „Weg des realen Humanismus“108 – in den vierziger Jahren in den USA erworben. Im Sommer 1944 entstand unter dem organisatorischen Dach des American Jewish Committee (AJC) das Projekt der Studies in Prejudice, fünf Monographien, die zeitgleich im Jahr 1950 erschienen.109 Das Projekt untersuchte die Verbreitung antisemitischer Einstellungen 103 Interessanterweise, so sei bemerkt, hatte Talcott Parsons in seinem Gutachten für den SSRC, das er im Jahr 1951 ein letztes Mal – zusammen mit dem Ko-Autor John Riley – überarbeitete, zwischen „fact-centered research“ und „theory-centered research“ unterschieden, wobei gerade die letztere Forschungsrichtung – also „theory-centered research“ – dringend mehr Förderung verdiene. Es ginge, wie Parsons betonte, um eine Konzeption der soziologischen Forschung „in which theoretical problems play an explicit role. Here the specific objective is to establish generalized logical relationships between specific variables.“ John W. Riley und Talcott Parsons, Social Science. A National Resource. Unveröffentliches Manuskript (1951), Harvard University Archives (301pp.), p. 8 – 11 (die Seiten für jedes Kapitel – hier Kapitel 8 – wurden jeweils einzeln gezählt, also hier p. 11 des Kapitels 8). 104 Adorno, Zur gesellschaftlichen Stellung der empirischen Sozialforschung, p. 31. 105 Es ging um Paul F. Lazarsfeld, Remarks on Administrative and Critical Communication Research, Studies in Philosophy and Social Science (Zeitschrift für Sozialforschung), vol. IX, 1941, pp. 2 – 16. 106 Adorno, Zur gegenwärtigen Stellung der empirischen Sozialforschung in Deutschland, p. 38. 107 Ibid., pp. 38 – 39. Siehe auch Ludwig von Friedeburg, Empirische Sozialforschung am Anfang der Bundesrepublik und die Verkehrung ihres demokratischen Potentials, in: Dieter Jaufmann, Ernst Kistler, Klaus Meier, Karl-Heinz Strech (Hrsg.), Empirische Sozialforschung im vereinten Deutschland. Bestandsaufnahme und Perspektiven, Frankfurt/New York: Campus 1992, pp. 37 – 45. v. Friedeburg sieht heute eine Abkehr vom demokratischen Potential in der Demoskopie, und diese herrsche im Institut für Demoskopie seit den späten fünfziger Jahren. Ähnlich urteilt er über die so genannte Echo-Demoskopie zur Eruierung von Meinungen etc. hinsichtlich der ehemaligen DDR, wie sie das Institut für Demoskopie bis zum Beginn der neunziger Jahre durchführte, was Elisabeth Noelle-Neumann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung allerdings ausdrücklich rechtfertigte, wie von Friedeburg zitiert. 108 Adorno, Zur gegenwärtigen Stellung der empirischen Sozialforschung in Deutschland, p. 39. 109 Die fünf Monographien: Theodor W. Adorno, Else Frenkel-Brunswik, Daniel J. Levinson und R. Nevitt Sanford, The Authoritarian Personality; Nathan Ackerman und Marie Jahoda, AntiSemitism and Emotional Disorder: A Psychoanalytic Interpretation; Bruno Bettelheim und Morris Janowitz, Dynamics of Prejudice: A Psychoanalytic and Sociological Study of Veterans; Leo Lowenthal und Norbert Guterman, Prophets of Deceit: A Study of the Techniques of the American Agitator; sowie Paul W. Massing, Rehearsal for Destruction: A Study of Political Anti-Semitism in Imperial Germany. Sämtliche Bände erschienen in New York bei Harper and
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IV. Der Neubeginn der empirischen Sozialforschung
bzw. antidemokratischer Persönlichkeitsstrukturen. Adorno hatte dazu an Horkheimer im Jahr 1944 in einem Brief berichtet, mittels Likert-Skalen sei eine Bestimmung des faschistischen Potentials möglich: „Wie Sie sich vielleicht erinnern werden, sagte ich Ihnen von einer neuen Idee, über der ich brütete. Es handelt sich dabei um die Ermittlung von potentiellen und aktuellen Antisemiten lediglich durch indirekte Indices, also ohne daß Fragen über Juden oder über Gegenstände, die in einem unmittelbar einsichtigen Zusammenhang mit Antisemitismus stehen, wie Negerfeindschaft, politischer Faschismus usw. vorkommen. … Die Vorteile brauche ich Ihnen nicht auszuführen“.110 Als das Frankfurter Institut für Sozialforschung im Jahr 1949 wieder gegründet wurde und Adorno zunächst als Lehrstuhlvertreter für Horkheimer im Wintersemester 1949/1950 nach Deutschland zurückkehrte, war ihm wichtig, die Sozialforschung in Deutschland heimisch zu machen, wie er sie in den USA kennen gelernt hatte. The Authoritarian Personality war bei Erscheinen in den USA ein weithin beachtetes Werk.111 Zur Zeit der Weinheim-Tagung war der Ausbau der empirischen Sozialforschung am Institut für Sozialforschung weit vorangeschritten: Zehn Teilnehmer, mehr als aus irgendeinem anderen Forschungsinstitut, kamen von dort.112 Elisabeth Noelle-Neumann hatte ihre Kenntnisse der empirischen Sozialforschung ebenfalls in den USA erworben. Allerdings entsprachen die Methoden, die sie kennen gelernt hatte, einem früheren Stand der Entwicklung als der Ansatz der Authoritarian Personality und auch als die Surveyforschung. 1937 – 1938 verbrachte Elisabeth Noelle einen einjährigen Studienaufenthalt in den USA und trug die Materialien ihrer Dissertation Amerikanische Massenbefragungen über Politik und Presse zusammen.113 Noelle beschrieb dort den Fragebogen, der vor allem geschlossene Fragen verwendete, wie er bei den großen Befragtenzahlen („Massenbefragungen“) in den USA üblich sei, und sie referierte die Ergebnisse, die damit (bis zur Mitte der dreißiger Jahre) hatten erzielt werden können. Sie berichtete von Häufigkeitsauszählungen entsprechend den Antwortkategorien, die im Fragebogen vor-
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Brothers 1950. Max Horkheimer war – zusammen mit Samuel H. Flowerman vom AJC – der Koordinator des Projekts insgesamt und Herausgeber der fünf Bände der Studies in Prejudice. Brief, Adorno an Horkheimer, 26. Oktober 1944, p. 5. Max-Horkheimer-Archiv der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt am Main, Signatur VI 1 B, 207 – 214. Im Jahr 1954 behandelte der zweite Band einer (durch Paul F. Lazarsfeld und Robert K. Merton herausgegebenen) Reihe, die damals die neuesten Forschungsprojekte kommentierte (der erste Band hatte The American Soldier diskutiert), dieses Buch: Richard Christie und Marie Jahoda (eds.), Studies in the Scope and Method of „The Authoritarian Personality“, Glencoe IL: The Free Press of Glencoe 1954. Ihre Namen: Adorno, Jacques Décamps, J. R. Dickinson, Lothar Herberger, Heinz Maus, Harald Mehner, Diedrich Osmer, Friedrich Pollock, Karl Sardemann und Hans Sittenfeld. Herberger, der vom Reactions Analysis Staff zum Institut für Sozialforschung gewechselt hatte, ging bald darauf an das Statistische Bundesamt, wo er maßgeblich an der Einrichtung des Mikrozensus beteiligt war, der erstmals 1957 in der Bundesrepublik durchgeführt wurde. Elisabeth Noelle, Amerikanische Massenbefragungen über Politik und Presse. Inaugural-Disseration zur Erlangung des Doktorgrades der Philosophischen Fakultät der Friedrich-WilhelmsUniversität zu Berlin. Limburg an der Lahn: Limburger Verlagsdruckerei 1940.
3. Die Weinheim-Tagung
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gegeben waren. Sie sah darin ein eindrucksvoll effizientes Verfahren, um die Meinungen und Einstellungen der Bevölkerung über Politik und Presse abzubilden. Im November 1946 konnte Noelle zusammen mit Erich Peter Neumann durch Genehmigung des Directeur de lʼéducation publique der französischen Besatzungszone das Institut für Demoskopie in Allensbach am Bodensee gründen. Späterhin beschrieb Noelle die erste Umfrage des Allensbacher Instituts (als wäre eine repräsentative Stichprobe im Hinblick auf eine einzige bzw. einzelne Schule dabei gebildet worden): „Am 8. Mai 1947 führten wir die erste Jugendumfrage in der Volksschule von Ludwigshafen/Bodensee auf der Grundlage einer repräsentativen Stichprobe und eines strukturierten Fragebogens durch“.114 Der Ansatz der empirischen Sozialforschung im Allensbacher Institut war aus den USA übernommen. (Die Soziographie der Nazizeit blieb weit hinter dem Stand der „Massenbefragungen“ zurück, wie sie das Allensbacher Institut durchführte.) Andererseits entsprach der Anspruch der Demoskopie, durch Häufigkeitsverteilungen der Antworten auf standardisierte Fragen ein gesellschaftliches Phänomen – die „Öffentliche Meinung“ – abzubilden, dem Leistungsniveau der Surveyforschung nicht, wie sie bereits seit den frühen vierziger Jahren in den USA vorherrschte. Noelle erlebte die Fortschritte (noch) nicht mit, die durch die Arbeiten Neymans, Stouffers und anderer Pioniere möglich wurden. Im Jahr 1937, als Noelle in den USA weilte, wurde zum ersten Mal im Enumerative Check Census des Unemployment Census eine Art Zufallsstichprobe gebildet. Dazu lagen noch keinerlei Veröffentlichungen vor, als sie nach Deutschland zurückkehrte. Nun konzentrierte sich das Institut für Demoskopie – wie Noelle es in den USA gelernt hatte – auf die Öffentliche Meinung, die als ein „Kraftfeld“ vorgestellt wurde: Diese Metapher gebrauchten Neumann und Noelle in einem 1954 erschienenen Buch, wo sie – wie ab 1956 die regelmäßig erscheinenden Jahrbücher der öffentlichen Meinung – die Häufigkeitsverteilungen von repräsentativen Auswahlpopulationen schilderten (bis zum Ende der fünfziger Jahre wurde in Allensbach das Quotenverfahren verwendet): „Dabei tritt nur, was im weitesten Sinne des Wortes typisch ist, in Erscheinung, weil sich nur beim Typischen die Kraft- und Strömungslinien ordnen oder häufen können. … [D]ie Individuen sind in doppelter Hinsicht die Ansatzpunkte dieses Kraftfeldes, denn einerseits erzeugen sie dieses Feld, und andererseits sind sie darin eingebettet und werden von dem Kraftfeld beeinflusst“.115 In Weinheim vertraten Noelle, die zum Vorbereitungskomittee gehörte und eine der drei Sitzungen leitete, und Neumann, der ein Referat hielt und sich rege an den Diskussionen beteiligte, den Standpunkt, die Öffentliche Meinung sei ein Macht114 Elisabeth Noelle-Neumann, Über den Fortschritt der Publizistikwissenschaft durch Anwendung empirischer Forschungsmethoden. Eine autobiographische Aufzeichnung, in: Arnulf Kutsch, Horst Pöttker (Hrsg.), Kommunikationswissenschaft – autobiographisch. Publizistik, Sonderheft 1/1997, Opladen: Westdeutscher Verlag 1997, pp. 36 – 61, cit. pp. 43 – 44. 115 Erich Peter Neumann, Elisabeth Noelle, Antworten. Politik im Kraftfeld der Öffentlichen Meinung, Allensbach am Bodensee: Verlag für Demoskopie 1954. Die Vorbemerkung, der das Zitat entnommen ist, ist nicht paginiert. Die Kapitel, die jeweils die Antworten auf ausgewählte Fragen nacheinander aufzählten, waren überschrieben: Das Dritte Reich, Die deutsche Mentalität, Kulissenwechsel 1948, Die zweite Republik, Die soziale Spannung sowie Zwischen Oder und Saar, wo es um die Grenzen Deutschlands und das Ost-West-Verhältnis ging.
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IV. Der Neubeginn der empirischen Sozialforschung
und zugleich ein Ordnungsfaktor. Die Allensbacher Auffassung dominierte das Tagungsgeschehen. Obwohl nur sieben Teilnehmer aus dem Institut für Demoskopie kamen, hielten sie vier Referate – zusätzlich zu Noelle-Neumanns Einführung in die Sitzung zu Erhebungs- und Auswertungsverfahren – und wurden in den Diskussionsberichten im Tagungsband ausführlich zitiert.116 Ihre Auffassung entsprach dem Wissensstand der frühen bzw. der Mitte der dreißiger Jahre in den USA. Die Denkvoraussetzung war, dass die Public Opinion kein methodologisch zu begründendes Konstrukt, sondern ein Gebilde des gesellschaftlichen Lebens sei. Der Lerneffekt, der die Demoskopie des Allensbacher Instituts auf die USA schauen ließ, war allerdings vorhanden. Leo Crespi vertrat in Weinheim die Surveyforschung, wie sie zeitgenössisch aus den USA kam. Außer Crespi kam nur Wolfgang Schaefer, ein Senior Research Analyst des Reactions Analysis Staff, anlässlich der Tagung zu Wort, während alle anderen Amerikaner und ihre deutschen Mitarbeiter schwiegen (oder jedenfalls im Tagungsband nicht erwähnt wurden). Deshalb sei die Leistung Crespis als Direktor der Forschungsabteilung der HICOG kurz gewürdigt. Als er 1948 nach Deutschland kam, regte er an, die Zuverlässigkeit der Antworten in den Interviews experimentell zu überprüfen. Er klärte in einem Aufsatz, ob ein Bias in den Surveys dem Umstand geschuldet sei, dass die Interviewer im Dienst der Militärregierung standen.117 Er fand heraus, dass auch ehemalige Mitglieder der NSDAP im Interview nicht zögerten, den Nationalsozialismus a good idea, badly carried out zu nennen, jedenfalls nicht mehr und nicht weniger als die Nicht-Nazis oder die Angehörigen früherer PGs. Man konnte also davon ausgehen, dass kein eindeutig verzerrender Einfluss in den Opinion Surveys bei den politischen Fragen herrschte, die den Amerikanern wichtig waren. Ein weiterer Aufsatz Crespis klärte, wieviel Wirkung der Reorientation-Programme auf die Deutschen empirisch festzustellen war – gemessen mittels ihrer Einschätzung des amerikanisch-deutschen Verhältnisses. Gefragt wurde in einem Survey, ob und was die Deutschen von den Amerikanern und die Amerikaner von den Deutschen lernen könnten oder gelernt hätten. Die Antworten zeigten, dass die oberen Schichten, die Personen mit den höchsten Bildungsabschlüssen und die Männer (um einige Gruppierungen zu nennen) am ehesten glaubten, die Deutschen könnten etwas von den Amerikanern lernen oder hätten etwas gelernt – allemal eher die Bevölkerungsgruppen mit dem höchsten bzw. höheren gesellschaftlichen Prestige. Durch Kreuztabellierung zeigte sich allerdings: „Obwohl diejenigen mit den höchsten Bildungsabschlüssen am aufgeschlossensten auf die amerikanischen Demokratisierungsprogramme ansprechen, sagt ein beträchtlicher Anteil (40%), dass die Wirkung dieser Programme auf die Deutschen allgemein nach ihrer Meinung dennoch fraglich ist“.118 Solche Aussagen waren mit einer Zufallsstichprobe und anhand multivariater Datenanalyse gewonnen. 116 Die Redaktion des Tagungsbandes wurde in Allensbach durchgeführt. 117 Leo P. Crespi, The Influence of Military Government Sponsorship in German Opinion Polling, International Journal of Opinion and Attitude Research, vol. 4, 1950, pp. 151 – 178. 118 Leo P. Crespi, Germans View the U.S. Reorientation Program. I. Extent of Receptivity to American Ideas, International Journal of Opinion and Attitude Research, vol. 5, 1951, pp. 179 – 190 und II. Reactions to American Democratization Effort, ibid., pp. 335 – 346, cit.
3. Die Weinheim-Tagung
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Der einzige Bundesgenosse Crespis unter den Deutschen, der die neuen empirischen Methoden in seiner eigenen Forschung einsetzte, war Hans Kellerer – Privatdozent in München und Abteilungsleiter im Bayerischen Statistischen Landesamt. Kellerer, der in Weinheim ein Referat hielt, das kaum diskutiert wurde, war der einzige Deutsche, der die Stichprobenziehung nach dem Zufallsverfahren in seiner eigenen Arbeit anwandte119 und sie in seinem Vortrag diskutierte. Kellerer, der ein bis heute wegweisendes Kompendium Theorie und Technik des Stichprobenverfahrens in den frühen fünfziger Jahren vorlegte120, schilderte in einem Aufsatz des Jahres 1951 die Ansätze der verschiedenen Forschungsinstitute in Deutschland.121 Nachdem er das Vorgehen des Bayerischen Statistischen Landesamtes bei einer 1950 veröffentlichen Studie122 als methodisch angemessen geschildert hatte, äußerte er dort die Hoffnung: „Es wäre zu wünschen, daß auch andere Institutionen in Deutschland, die mit Meinungsforschung befaßt sind, die Zufallsstichprobe eher als die Quotenauswahl verwenden“.123 Zusammenfassend: Die Weinheim-Tagung vom 14. bis 16. Dezember 1951 gab einen Einblick in das Potential des „amerikanischen Imports“ – wie Scheuch die neuen Methoden der Surveyforschung nannte. Dabei zeigte sich, dass dieser „Import“ nicht nur die Surveymethoden transatlantisch einführte. Vielmehr konnten drei verschiedene Richtungen der Sozialforschung für sich in Anspruch nehmen, einen Einfluss der USA auf die empirische Soziologie Nachkriegsdeutschlands zu verkörpern. Das Frankfurter Institut für Sozialforschung – Adorno war sein prominenter Denker – widmete sich der Meinungsforschung über prekäre Themen und verwendete die Methodik, wie sie in den Studies in Prejudice erprobt war. Das Institut für Demoskopie – wie viele andere Institute der damaligen Zeit – führte Meinungsforschung durch, die strikt beschreibend die Häufigkeitsauszählungen dokumentierte, denen eine Quotenauswahl zugrunde lag. Aber wenigstens wurden eine professionelle Fragebogenkonstruktion und eine systematische Datenauswertung durchgeführt. Daran zeigte sich der Einfluss der USA aus den dreißiger Jahren, als Elisabeth Noelle die „Massenumfragen“ anlässlich ihres Amerikaaufenthaltes
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p. 339. Im Original: „[T]hough most of the best educated are responsive to American democratization efforts, a sizable proportion of them (40%) are not at all optimistic about it having much effect on the Germans.“ Hans Kellerer, Das Stichprobenverfahren, insbesondere in der amtlichen Statistik, Allgemeines Statistisches Archiv, Bd. 34, 1950, pp. 291 – 302. Hans Kellerer, Theorie und Technik des Stichprobenverfahrens. Eine Einführung unter besonderer Berücksichtigung der Anwendung auf wirtschaftliche und soziale Massenerscheinungen, Einzelschriften der Deutschen Statistischen Gesellschaft, Nr. 5, 2. Auflage, München: Deutsche Statistische Gesellschaft 1953. Hans Kellerer, Opinion and Attitude Research in Western Germany and West-Berlin, International Journal of Opinion and Attitude Research, vol. 5, 1951, pp. 511–518. Bayerisches Statistisches Landesamt, Die Vertriebenen in Bayern. Ihre berufliche und soziale Eingliederung bis Anfang 1950. Heft 151 der Beiträge zur Statistik Bayerns, München: Bayerisches Statistisches Landesamt 1950. Hans Kellerer, Opinion and Attitude Research in Western Germany and West-Berlin, p. 518. Im Original: „It would be desirable that also the other agencies in Germany engaged in opinion research seriously endeavor to give preference to random sampling over the quota method.“
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IV. Der Neubeginn der empirischen Sozialforschung
studiert hatte. Die Amerikaner – vertreten durch Crespi und den Reactions Analysis Staff – vertraten nach dem neuesten Stand die Surveyforschung. Ihrer Forschungsleistung entsprach auf deutscher Seite der Ansatz des Bayerischen Statistischen Landesamts. Dort war Hans Kellerer der Vorreiter für die methodisch adäquate Sozialforschung der Bundesrepublik. 4. DIE GROSSEN FORSCHUNGSPROJEKTE DER FÜNFZIGER JAHRE Im Laufe der fünfziger Jahre – erstmals 1952 und danach in rascher Folge bis zum Ende des Jahrzehnts – erschienen umfangreiche Forschungsberichte über groß angelegte empirische Studien zur sozialen Struktur und zu Problemen und Problemgruppen der Bundesrepublik Deutschland.124 Vier Projektberichte können dokumentieren, wie diese Forschungsliteratur der fünfziger Jahre aussah – welche Vorhaben durchgeführt, welcher methodische Zugang gewählt, welche Ergebnisse erzielt und wie sie interpretiert wurden. Erstens: Unter den neun Monographien der Darmstadt-Studie war Gerhard Baumerts Jugend der Nachkriegszeit125 die Nummer vier. Der Untersuchungsansatz dieses Community Survey wurde dabei auf den Bereich Jugend-Familie-Schule, einen der vier Themenbereiche dieses Forschungsvorhabens, gerichtet.126 Baumerts Fragestellung: „Unter welchen materiellen, sozialen und psychischen Bedingungen wachsen Kinder und Jugendliche der Nachkriegszeit auf und in welcher Weise manifestieren sich diese Bedingungen in den Verhaltensweisen?“127 Um dieses Problem zu klären, wurden dreierlei Materialien aus dem Themenfeld Jugend - Familie - Schule verwendet: Erstens wurde ein nach dem Zufallsprinzip ausgewähltes Sample der 10-Jährigen, 13-14-Jährigen und 18-Jährigen für den Stadtbereich und das ländliche Umfeld Darmstadts (die Altersgruppen wurden zu mindestens fünfzig Prozent dabei ausgeschöpft) durch Fragebogen sowie mündliche Interviews und für die Jüngsten durch Niederschriften über ihre alltägliche Welt und deren Probleme sowie ihre Zukunftsvorstellungen untersucht. Zweitens wurde durch eine Elternbefragung, durch Experteninterviews mit Fürsorgerinnen und außerdem durch teilnehmende Beobachtung in Jugendgruppen weiteres Mate124 Für einen Überblick über die Problemlagen der Gesellschaft, wie sie in der empirischen Forschung der späten vierziger und frühen fünfziger Jahre untersucht wurden, siehe: Hans Braun, Die gesellschaftliche Ausgangslage der Bundesrepublik als Gegenstand der zeitgenössischen soziologischen Forschung. Ein Beitrag zur Geschichte der neueren deutschen Soziologie, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Bd. 31, 1979, pp. 766 – 795. 125 Gerhard Baumert, Jugend der Nachkriegszeit. Lebensverhältnisse und Reaktionsweisen. Zur Darmstadt-Studie siehe auch oben. 126 Die vier Themenbereiche: Stadt-Land-Verhältnis, Jugend-Familie-Schule, Politik (Verwaltung und Bürger), Arbeitswelt-Gewerkschaften. Der Themenbereich Jugend-Familie-Schule wurde außerdem durch drei weitere Monographien abgedeckt, nämlich Irma Kuhr, Schule und Jugend in einer ausgebombten Stadt, Gieselheid Koepnick, Mädchen einer Oberprima und Gerhard Baumert unter Mitwirkung von Edith Hünninger, Deutsche Familien nach dem Kriege. Siehe auch oben, Anm. 84. 127 Baumert, Jugend der Nachkriegszeit, p. 1.
4. Die großen Forschungsprojekte der fünfziger Jahre
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rial erarbeitet, das ergänzend zu den Angaben der Kinder und Jugendlichen herangezogen wurde. Drittens wurde die Schichtzugehörigkeit durch den Status auf drei Ebenen bestimmt, nämlich den sozioökonomischen Status (Berufsgruppe des Vaters/der Mutter), den kriegsbedingten Status (also Evakuierung, Ausgebombtsein, Flüchtlingsexistenz etc.) sowie die Gesellschaftsschicht, wobei fünf Stufen von der Oberschicht bis zur unteren Unterschicht verwendet wurden, wie sie in der Yankeetown-Studie (unter W. Lloyd Warner)128 und der Elmtown-Studie (unter August Hollingshead)129 bestimmt worden waren. Die Ergebnisse zeigten hinsichtlich der materiellen Lebensbedingungen der Kinder und Jugendlichen, dass weithin Not und Mangel herrschten. Mehr als ein Drittel der 10-Jährigen und ein Viertel der 14-Jährigen hatten nicht einmal ein Bett für sich allein; weniger als 10 Prozent der Kinder und Jugendlichen (auf dem Land ebenso wie in der Stadt) hatten ein eigenes Zimmer. Die sozialen Verhältnisse, in denen sie lebten, also die Familie und die Schule, waren oft spannungsreich. Viele Kinder waren Kriegswaisen, viele Eltern lebten in Scheidung oder waren durch die Kriegsfolgen aus dem Muster der Normalfamilie, wo der Vater das Familienoberhaupt und der Hauptverdiener war, abgedrängt worden (wie die Kinder es empfanden). Die Schule ebenso wie die Familie waren sehr häufig der Ort auch der körperlichen Züchtigung. Berufswünsche wurden weithin durch die Eltern mitbestimmt, wobei die Vorstellung der Tradierung des Status des Vaters (selten der Mutter) vorherrschte. Baumert vervollständigte dieses Bild durch eine Analyse der sozialpsychologischen Lage der Kinder. Er sah ihr gesellschaftliches Bewusstsein als eine Reaktion auf die Lebensverhältnisse, und er ermittelte über Die Reaktionsweisen (wie Teil II seiner Monographie überschrieben war) dreierlei: Erstens waren die Kinder und Jugendlichen erstaunlich wenig bereit oder fähig, sich an das Trauma der Bombennächte zu erinnern, aber sie waren offensichtlich mit den Folgen befasst, wenn sie „die dingliche Umwelt“130 (also Besitz etc.) zum Hauptanliegen ihrer Zukunftswünsche machten. Zweitens wurden die Kinder und Jugendlichen von der Diskriminierung etwa der Evakuierten oder der Heimatvertriebenen und Flüchtlinge auch persönlich betroffen (oder nahmen daran teil, wenn sie zu den Einheimischen gehörten), was insgesamt ein „Empfinden sozialer Differenzierungen“131 bewirkte. Drittens war in den Freundschaften, Berufserwartungen, Einstellungen zu Ehe und Familie sowie den politischen Interessen und Erwartungen eine gewisse Polarisierung zwischen denjenigen mit autoritären Neigungen und denjenigen mit demokra128 Die Yankeetown-Studie, ein Community Survey der späten dreißiger und frühen vierziger Jahre (Leitung: W. Lloyd Warner), war den Forschern der Darmstadt-Studie bekannt. Baumert bezog sich auf den ersten der drei bis 1945 erschienenen Bände, der die Messung der sozialen Schicht erläuterte: William Lloyd Warner und Paul S. Lunt, The Social Life of a Modern Community, New Haven: Yale University Press 1941. 129 Diese Jugendstudie zog Baumert mehrfach zum Vergleich heran, um die Ergebnisse seiner eigenen Untersuchung zu beleuchten. Siehe: August Hollingshead, Elmtownʼs Youth: The Impact of Social Classes on Adolescence, New York: Wiley 1949. 130 Baumert, Jugend der Nachkriegszeit, p. 119 ff. 131 Ibid., pp. 151 – 157.
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IV. Der Neubeginn der empirischen Sozialforschung
tischem Denken unverkennbar: „Den politisch aktiven, nationalistisch orientierten Jugendlichen steht eine andere Gruppe von politisch aktiven Jugendlichen mit aufgeschlossenen selbstkritischen Anschauungen gegenüber. Diese beiden Gruppen – gegenüber der großen Masse der Passiven relativ klein – sind die entscheidenden Triebkräfte in der deutschen Nachkriegsjugend. Von der Intensität, mit der sie auf die Uninteressierten, Gleichgültigen oder Apathischen einwirken, wird das spätere politische Verhalten dieser Generation bestimmt werden“.132 Dabei stützte Baumert solche Überlegungen auch auf die Studien über Autorität und Familie, die das Institut für Sozialforschung zum Problem des autoritären Sozialcharakters und der autoritären Familienstruktur in den dreißiger Jahren vorgelegt hatte133, und er zog Bertram Schaffners Untersuchung zum Autoritarismus im Nachkriegsdeutschland heran, die im Jahr 1948 unter dem Titel Father Land erschienen war.134 Er sah insgesamt eher eine „opportunistische Grundhaltung … mit starker materieller Ursache“135 als eine langfristig stabile „,demokratische Gesinnungʻ“ bei den Kindern und Jugendlichen Darmstadts. Zweitens: Im Unterschied zu Baumerts Studie war ein ebenfalls im Jahr 1952 erschienenes Werk gänzlich unberührt von den Einflüssen der amerikanischen Sozialforschung. Helmut Schelsky war der wissenschaftliche Leiter des teilweise durch den Deutschen Gewerkschaftsbund und teilweise durch die Rockefeller Foundation finanzierten Projekts Arbeitslosigkeit und Berufsnot der Jugend.136 Schelsky erläuterte im ersten Band des Projektberichts, der aus sechzehn Beiträgen (von acht Autoren) bestand: „Diese Forschungen sollten vor allem dazu beitragen, mit größerer Klarheit festzustellen, welche Mittel und Wege zur Behebung oder Milderung der Jugendarbeitslosigkeit und ihrer Folgen heute zur Verfügung stehen“.137 Das Thema sei, die „sozialwissenschaftlich-soziologischen Aspekte der ‚Arbeitslosigkeit und Berufsnot der gegenwärtigen deutschen Jugendʻ“138 gegenüber etwa wirtschaftspolitischen oder berufspädagogischen Aspekten in den Vordergrund zu stellen. Dabei umfasse der Begriff „Jugend“ die bis 25-Jährigen, und der Begriff „Arbeitslosigkeit“ auch jene, die nicht als erwerbslos bei einem Arbeitsamt gemeldet 132 Ibid., p. 197. 133 Studien über Autorität und Familie. Forschungsberichte aus dem Institut für Sozialforschung, Paris: Librairie Félix Alcan 1936. 134 Bertram Schaffner, Father Land: A Study in Authoritarianism in the German Family, New York: Columbia University Press 1948. Schaffner war ein Psychiater, der zeitweise zum Diskussionskreis um die Kulturanthropologin Margaret Mead gehörte und von 1946 bis 1948 das Screening Center der Information Control Division für deutsche Anwärter auf Positionen bei Presse und Rundfunk leitete. Die Materialien in Father Land stammten aus den Untersuchungen des Screening Center. 135 Baumert, Jugend der Nachkriegszeit, p. 198; dort auch die nächste Zitatstelle. 136 Arbeitslosigkeit und Berufsnot der Jugend. Herausgegeben vom Deutschen Gewerkschaftsbund, Bundesvorstand Düsseldorf, Hauptabteilung Jugend. Erarbeitet von der Sozialwissenschaftlichen Arbeitsgemeinschaft zur Erforschung von Jugendfragen unter der wissenschaftlichen Leitung von Dr. Helmut Schelsky ord. Professor für Soziologie an der Akademie für Gemeinwirtschaft, Hamburg, 2 Bde, Köln: Bund-Verlag 1952. 137 Helmut Schelsky, Einleitung: Anlage, Ziele und Durchführung der Untersuchung, in: Arbeitslosigkeit und Berufsnot der Jugend, Bd. I, pp. 9 – 18, cit. pp. 10 – 11 138 Ibid., p. 11.
4. Die großen Forschungsprojekte der fünfziger Jahre
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waren. In vier Bundesländern wurde eine „formale Fragebogenbefragung“139, ergänzt durch „Intensivbefragungen und biographische Untersuchungen“, durchgeführt. Ferner wurden „soziographische Untersuchungen ausgewählter und typischer regionaler Gebiete“ vorgenommen, ergänzt durch „soziographische Untersuchungen gewisser Gruppen von Jugendlichen (Gruppenuntersuchungen)“. Des weiteren wurden die amtlichen Statistiken herangezogen, deren Aussagekraft indessen durch „die sogenannten Institutionenuntersuchungen“ überprüft werden sollte, etwa Berufsberatung und Arbeitsvermittlung für Jugendliche oder Sondereinrichtungen zur Betreuung jugendlicher Arbeitsloser wie etwa Übergangswohnheime. Die Zusammenführung der verschiedenen Daten, also die „zentrale Aufbereitung und Auswertung des Untersuchungsmaterials“, so berichtete Schelsky, nahm die Monate von September bis Dezember 1951 in Anspruch.140 Er teilte mit, dass erst einmal insgesamt einundsechzig „Einzeluntersuchungen“ erstellt wurden, also themenbezogene Materialbeschreibungen.141 Diese Monographien, wie sie hießen, wurden sodann konfrontiert bzw. kontrastiert mit statistischen Befunden, die durch die Volkszählung und ähnliche Quellen bekannt waren. Daraus ergab sich die Analyse von Walter Meis, der über Jugendarbeitslosigkeit und Nachwuchsfragen berichtete und dazu im Titel erläuternd klärte: im Rahmen des Bevölkerungsaufbaus, der Berufsausbildungs- und Arbeitsmarktsituation in der Bundesrepublik und Westberlin.142 Meis gab eine Aufstellung der verschiedenen Gruppierungen der offiziellen Statistik der jugendlichen Arbeitslosen bzw. Jugendlichen, ehe er von „zehn primärstatistischen Regionalerhebungen“143 berichtete, die im Rahmen des Forschungsprojekts durchgeführt worden waren. Dabei seien drei Verfahren angewandt worden: „A) Zufallsstreuung (random). Auswahl jedes 5., 10. usw. Jugendlichen aus der Einwohnermeldekartei oder anderen Erfassung und Befragung wie oben. B) Quotensystem. … Hier wurden also vorher die genauen Zahlen für die zu befragenden Jugendlichen nach Geschlecht, Alter, Familienstand, Flüchtlingen, Einheimischen, lebenden und gestorbenen Elternteilen, Hauptberufsgruppen usw. festgelegt. C) Breschensystem. In bestimmten Gebieten, meist Mittelstädten, wurden zehn bis zwanzig Straßenzüge ausgewählt, die nach Auffassung von besonders ortskundigen Personen in ihrer Gesamtheit im wesentlichen der sozialen Grundstruktur des Untersuchungsraumes entsprachen. … In diesen Straßenzügen (z.T. auch Berücksichtigung von Flüchtlingslagern und -heimen) wurde planmäßig Haus für Haus, Wohnung für Wohnung oft unter Zuhilfenahme der Hausmeisterkenntnisse nach Jugendlichen im Alter von 15 bis 25 Jahren abgefragt“.144 Das Ergebnis 139 Ibid., p. 14; dort auch die nächsten fünf Zitatstellen. 140 Schelsky nahm an der Weinheim-Tagung nicht teil. Allerdings war Heinz Kluth von der Sozialwissenschaftlichen Arbeitsgemeinschaft Hamburg unter den Teilnehmern in Weinheim. 141 Diese „Einzeluntersuchungen“ hatten einen Umfang von je bis zu 300 Seiten. Ihre Themen, die Methode(n) und die Ergebnisse wurden aufgelistet in: Gerhard Wurzbacher, Materialübersicht (Bibliographie résumée), in: Arbeitslosigkeit und Berufsnot der Jugend, Bd. I, pp. 19 – 70. 142 Walter Meis, Jugendarbeitslosigkeit und Nachwuchsfragen in Westdeutschland – im Rahmen des Bevölkerungsaufbaus, der Berufsausbildungs- und Arbeitsmarktsituation in der Bundesrepublik und Westberlin, in: Arbeitslosigkeit und Berufsnot der Jugend, Bd. I, pp. 71 – 236. 143 Walter Meis, Jugendarbeitslosigkeit und Nachwuchsfragen in Westdeutschland, pp. 159 ff. 144 Ibid., p. 161.
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IV. Der Neubeginn der empirischen Sozialforschung
dieser umfangreichen Untersuchungen war, dass die Arbeitsamtsstatistik ergänzt werden konnte: „Das erarbeitete Material lieferte uns aber doch eine Reihe von Gesichtspunkten und Grundlagen, die uns befähigten, mit einer gewissen Sicherheit die ungefähre Zahl der latenten und der unechten jugendlichen Arbeitslosen abzuschätzen und so die amtlichen Zahlen zu erweitern bzw. zu bereinigen“.145 Dies leitete über zur Beschreibung der tatsächlichen Arbeitslosigkeit und der Probleme der Lehrlinge der verschiedenen Berufszweige, die einzeln nacheinander abgehandelt wurden.146 Den Anspruch der Studie, Aussagen über die Industriegesellschaft der Bundesrepublik vorzulegen, formulierte Schelsky in seinem Beitrag zum zweiten Band des Forschungsberichts.147 Er hielt fest, dass in der „industriell-bürokratischen Gesellschaft“ der Gegenwart148 zwar die „Aufstiegsideale der nivellierten Mittelstandgesellschaft“149 galten, aber Millionen Menschen durch die Verlusterlebnisse der Kriegszeit und die Vertreibungen der Nachkriegszeit sozial deklassiert seien. Die Familie sei eine Art Hort „in den sozialen Krisen unserer Zeit“150, aber viele Jugendliche fänden keine Verortung in der Gesellschaft, die sie indessen dringend für ihre Zukunft brauchten. Und er folgerte: „Schließlich zeigt die aus der Struktur der 145 Ibid., p. 175. 146 Erwin Scheuch legte in zwei Heften der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie des Jahres 1956 eine ausführliche Würdigung des Forschungsvorhabens Arbeitslosigkeit und Berufsnot der Jugend vor. Scheuch referierte Meisʼ Beitrag ausführlich und fand den Ansatz unbefriedigend, insbesondere wo Meis eine Prognose über die Arbeitslosigkeit und die beruflichen Probleme der Zukunft vorlege: „Nach der Lektüre dieses Teils gewinnt man wieder einmal mehr den Eindruck, wie begrenzt die Fähigkeit der Sozialstatistiker ist, die für diese Voraussagen [die Vorausberechnung des Bevölkerungsaufbaus und der Arbeitsmarktsituation für Westdeutschland bis zum Jahr 1970] wichtigen Faktoren zu isolieren. Wenn die Arbeit von Meis zweifellos einige häufige Fehler vermeidet, möchten wir doch das Übergehen wichtiger und allgemein übersehener Einflüsse besonders hervorheben. Ebenso stark wie die Veränderung der Geburtenziffern, der Sterbeziffern oder der Zahl der Zu- und Auswanderer wirkt sich nämlich zweifellos eine Veränderung des durchschnittlichen Heiratsalters aus und des damit in engem Zusammenhang stehenden Alters, in dem die Mütter die Kinder gebären“. Erwin K. Scheuch, Untersuchungen über die heutige Situation der deutschen Jugend (Teil IV: Literaturberichte und Diskussionen), Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Bd. 8, 1956, pp. 124 – 142, pp. 329 – 346, cit. p. 127. 147 Helmut Schelsky, Die Jugend der industriellen Gesellschaft und die Arbeitslosigkeit, Arbeitslosigkeit und Berufsnot der Jugend, Bd. II, pp. 269 – 314. 148 Ibid., pp. 275 ff. 149 Ibid., p. 285. Das Konzept der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ wurde bekanntlich in Schelskys Arbeiten der fünfziger Jahre mehrfach verwendet. Es wurde schließlich zur Metapher für die Gesellschaft der fünfziger Jahre, wie sie aus der Sicht der Soziologie sich zeige oder ausgesehen habe. Siehe dazu: Hans Braun, Helmut Schelskys Konzept der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ und die Bundesrepublik der 50er Jahre, Archiv für Sozialgeschichte, 29. Band, 1989, pp. 199 – 223. Zur Verallgemeinerung des Konzepts Schelskys, als handele es sich dabei um eine wirklichkeitsadäquate Aussage über die Gesellschaft der Nachkriegszeit, siehe: Paul Nolte, Die Ordnung der deutschen Gesellschaft. Selbstentwurf und Selbstbeschreibung im 20. Jahrhundert, München: C.H. Beck 2000, insbes. Kap. IV: „Der Abschied von der Utopie und die wiedergefundene Mitte. Westdeutschland 1945 – 1965“, dort pp. 318 – 351. 150 Schelsky, Die Jugend der industriellen Gesellschaft und die Arbeitslosigkeit, p. 297.
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modernen Öffentlichkeit und ihrer Organisationsformen erwachsende Fremdheit der Jugend ihr gegenüber, daß eine der Vorstellungsfähigkeit und Erfahrungswelt der Jugendlichen angemessene Kommunikationsform von den Behörden und Organisationen entwickelt werden muß, … um zugleich mit diesen Unterstützungsleistungen die Jugend zur verständnisvollen Mitarbeit an den gesamtgesellschaftlichen Maßnahmen und Angelegenheiten zu erziehen“.151 Drittens: Ein zeitgeschichtlich brisantes Thema behandelte die Studie Gruppenexperiment, die das Institut für Sozialforschung im Jahr 1955 vorlegte.152 Im Winter 1950/1951 – also ein Jahr nach Adornos Rückkehr nach Deutschland und weniger als sechs Jahre nach Kriegsende – wurden 137 Diskussionsgruppen mit 1635 Teilnehmern mit Fragen des politischen Bewusstseins, insbesondere zur Aufarbeitung des Faschismus, konfrontiert. Das Vorhaben verstand sich als Gruppenexperiment im Sinne der experimentellen Studien zu The American Soldier153 und der Sozialpsychologie der Group Dynamics in den USA.154 Die Diskussionen über den Nationalsozialismus und die Nachkriegszeit wurden protokolliert, und diese Protokolle bildeten die Materialien, die den Interpretationen zugrunde lagen. Der Bezug zur Meinungsforschung wurde im Projektbericht durch eine einleitend vorgetragene Kritik an der allzu oberflächlichen Konsumentenbefragung hergestellt, und außerdem wurde reflektiert, dass die Meinungsbildung nicht jenseits der Ohnmacht des modernen Menschen in der spätkapitalistischen Gesellschaft gesehen werden dürfe.155 Außerdem sollten psychoanalytische Vorstellungen über die Urteilsbildung und insbesondere Sigmund Freuds Erkenntnisse über die Ambivalenz psychischer Tendenzen in die Untersuchung der Meinungsbildung einfließen. Die Studie wollte die Einstellung der Deutschen zur Demokratie und zu den USA erkunden, ihr Urteil über die Verbrechen des Nationalsozialismus erheben und außerdem ihren Ethnozentrismus und ihren Antisemitismus messen. Dem entsprach das komplexe Design der Studie. Als Aufhänger für die Gruppendiskussionen diente ein so genannter Grundreiz, d. h. ein – allerdings fiktiver – Brief eines amerika151 Ibid., pp. 313 – 314. 152 Gruppenexperiment. Ein Studienbericht. Bearbeitet von Friedrich Pollock. Frankfurter Beiträge zur Soziologie, im Auftrag des Instituts für Sozialforschung herausgegeben von Theodor W. Adorno und Walter Dirks, Band 2, Frankfurt: Europäische Verlagsanstalt 1955. 153 Experimentelle Studien in den Untersuchungen zu The American Soldier wurden im dritten Band der Ergebnisberichte dieses Projektvorhabens geschildert; es ging um die kollektive Meinungsbildung: Carl I. Hovland, Arthur Lumsdaine und Fred D. Sheffield (eds.), Experiments on Mass Communication, siehe oben Anm. 32. 154 Die Forschungsrichtung im Überblick: Dorwin Cartwright und Alvin Zander (eds.), Group Dynamics. Research and Theory, New York: Harper and Row 1953/London: Tavistock 1953. Das Buch hatte drei Auflagen sowohl in den USA als auch in England (bis 1968). 155 Dazu wurde mit einem Hinweis auf Max Horkheimers Traktat Eclipse of Reason, New York: Oxford University Press 1947 erläutert: „Der Meinungsbegriff der üblichen Meinungsforschung, der sich selbst wissenschaftlich voraussetzungslos dünkt, setzt in Wahrheit eine nominalistische Erkenntnistheorie voraus. Er operiert mit einem subjektiven Wahrheitsbegriff, ohne auch nur das Problem des objektiven zu visieren. Die Objektivität, auf die er sich soviel zugute tut, ist nichts anderes, als ein aus solchen Subjektivitäten abstrahiertes Allgemeines, gleichsam der Generalnenner der Meinungen ohne Rücksicht auf ihre objektive Stimmigkeit“. Gruppenexperiment, p. 18.
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nischen (britischen) Militärs über Deutschland und die Deutschen. Die Diskussionsteilnehmer artikulierten ihre Auffassungen zunächst in Reaktion auf diesen Grundreiz und wurden dann durch den Versuchsleiter im zweiten Teil der zweistündigen Diskussionen auf Themen hingeführt, die als „standardisierte Argumente“156 in das Gruppengespräch eingebracht wurden. Die Auswertung, wie sie das Buch schilderte, hatte drei Teile: Entsprechend einem beschreibenden, einem quantitativen und einem qualitativen Vorgehen waren die Ergebnisse zustande gekommen. Im beschreibenden Aufriss wurde der Teilnehmerkreis nach Sozialmerkmalen erläutert und die Zusammensetzung der relativ homogenen Gruppen nach ihrer „soziologischen Klassifizierung“157 dargestellt – es waren Frauengruppen, Gruppen ehemaliger Offiziere oder auch Gruppen in materieller Notlage, nämlich Arbeitslose oder Flüchtlinge aus einem Barackenlager. Die quantitative Auswertung, ein Hauptschritt der Interpretation, vercodete die Äußerungen der Teilnehmer nach einem Schema, das sowohl die Thematik als auch die Einschätzung durch die Befragten berücksichtigte und zudem der Ambivalenz bei bestimmten Einstellungen – zu den Themen „Osten“ oder „Deutsche“ oder „Juden“ – gerecht werden sollte. Die Äußerungen wurden verschlüsselt nach dem Vorbild der Einstellungsmessung. Allerdings erfolgte diese Verschlüsselung nach der Transkription der Diskussionsäußerungen, nicht wie ansonsten in der Sozialpsychologie im Vorfeld der Feldarbeit. Diese quantitative Analyse, wo jede Antwortkategorie durch Textpassagen verdeutlicht wurde, erbrachte die Meinungsverteilung gemäß sieben Hauptthemen – nämlich Einstellung zur Demokratie, zur Schuld, zu den Juden, zum westlichen Ausland, zum Osten und zur Remilitarisierung sowie dem Thema „Deutsche Selbstbeurteilung“. Außerdem wurden Profile für die „einzelnen statistischen Gruppen“158 erstellt, also für die Frauen, die Männer, die vier verschiedenen Altersgruppen (sie unterschieden sich, so die Vorannahme, entsprechend den Erlebnissen und Erfahrungen ihrer Lebensspanne), den Abiturienten, den Akademikern, den Bauern etc. etc. Der Höhepunkt – und in der Sekundärliteratur weithin ihr allein wahrgenommenes Ergebnis – war die qualitative Analyse der Materialien. Es wurden insgesamt vier so genannte Monographien erstellt, also umfassende Berichte über die Einstellung zur Demokratie, über die Einstellung zu den Vereinigten Staaten, über Aspekte der Sprache im protokollierten Sprachgebrauch und schließlich über Schuld und Abwehr als Themen zum Nationalsozialismus. Nur die Monographie zu Schuld und Abwehr wurde – als Kapitel 5 – in Gruppenexperiment veröffentlicht. Das Kapitel behandelte die acht folgenden Themen: 1. Das Wissen vom Geschehenen, 2. Schuld, 3. Das Bild der Versuchsteilnehmer von sich selbst, 4. Realmomente der Abwehr: Wahrheit und Ideologie, 5. Abwehr, 6. Elemente der nationalsozialistischen Ideologie, 7. Die Ambivalenten und 8. Verständniswillige. Das Material, in detaillierten Dokumentationen vorgetragen und umsichtig interpretiert, war einzigartig. Es waren Äußerungen, die die eigenen Erlebnisse im Nationalsozialismus, die 156 Siehe dazu: Gruppenexperiment, pp. 50 – 53. 157 Ibid., pp. 82 ff. 158 Ibid., p. 236 ff.
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Gräuel und das Grauen widergaben. Es gab auch Äußerungen, wo ein Teilnehmer selbst nach eigener KZ-Haft noch darauf beharrte, sogar die Erschießungen seien rechtens geschehen. Adorno, Autor dieses Kapitels, kommentierte die Daten mit zurückhaltender Objektivität. Ein Beispiel aus vielen: „Das Allerwichtigste, die Unschuld der Millionen Opfer an dem was ihnen angetan ward, wird schlicht und ohne Klauseln ausgesagt: G: Das waren Leute, die eigentlich nichts gemacht haben, die weggeführt wurden. Wenn jemand anders weggeführt wurde, wenn er sich politisch betätigt hat, wenn er ins KZ kam, aber der Jude konnte wirklich nichts dazu (Protokoll 42, S. 21.) Diesem Sprecher fällt das Zufällige und zugleich blind Fatale in der Wahl eines objektiven Feindes auf, die für totalitäre Regimes so bezeichnend ist: die völlige Trennung von Urteil und Gesinnung verbreitet mehr als alles andere Schrecken vor der blind zupackenden Gewalt“.159 Das Buch schloss mit einem Kapitel über Gruppenprozesse, die Thematik der Group Dynamics. Die quantitative plus qualitative Auswertung habe ein Bild der Einstellungen zum Nationalsozialismus und zur Nachkriegszeit ergeben.160 Indessen sei der vorläufige Charakter dieser „Pilot-Studie“ hervorzuheben.161 Viertens: Die in Buchlänge vorgelegte Untersuchung der Wählerschaft und Wahlentscheidung 1957 bezeichnete sich als Arbeitsbericht über Erhebungen im Wahljahr 1957.162 Es handelte sich um einen „Materialbericht“163, wie die Autoren selbst feststellten – dieser schilderte die empirische Untersuchung, die wohl der Höhepunkt der Surveyforschung der fünfziger Jahre war (und bis heute eine eindrucksvolle Studie geblieben ist). Zur Problemstellung hieß es im Vorwort: „Gegenstand dieser Untersuchung ist die Bundestagswahl vom 15. September 1957. Genauer: Das Verhalten, die Motivationen, die Reaktionen der wahlberechtigten Bevölkerung in den Monaten zwischen Frühjahr und Herbst des Wahljahres“.164 159 Ibid, p. 421. Die Textpassage stammt aus den Ausführungen über die „Verständniswilligen“. 160 Nachdem in den fünfziger Jahren von verschiedenen Seiten vor allem gegen das methodische Vorgehen Einwände erhoben wurden, das keine Verallgemeinerung der Ergebnisse zulasse, erläuterte der Band 9 der Frankfurter Beiträge zur Soziologie noch einmal, was den Aussagewert der Gruppenstudie ausmachte: Werner Mangold, Gegenstand und Methode des Gruppendiskussionsverfahrens. Aus der Arbeit des Instituts für Sozialforschung, Frankfurter Beiträge zur Soziologie, Band 9, Frankfurt: Europäische Verlagsanstalt 1960. 161 So hieß es auf p. 426 in Gruppenexperiment: „Wenngleich unsere Untersuchung bewusst auf die Integrierung der Ergebnisse der quantitativen und der qualitativen Analyse verzichtete, sei hier doch erlaubt, auf Zusammenhänge der Interpretationen aus dem Problemkreis Schuld und Abwehr mit einigem quantitativen Material hinzuweisen. Zunächst besteht eine wichtige arbeitstechnische Verbindung zwischen den beiden Methoden der Auswertung: die Ordnung des Inhalts aller Protokolle nach deskriptiven und interpretativen Kategorien hat für die Beurteilung der Einstellungen unserer Sprecher eine Vorarbeit geleistet, ohne die es schwer, wenn nicht überhaupt unmöglich gewesen wäre, in der zur Verfügung stehenden Zeit quantitativ fundierte Interpretationen zu leisten.“ 162 Untersuchung der Wählerschaft und Wahlentscheidung 1957. Arbeitsbericht über Erhebungen im Wahljahr 1958 von Peter Schmitt unter Mitwirkung von Wolfgang Hartenstein und Klaus Liepelt, Frankfurt/Bad Godesberg: DIVO Marktforschung Meinungsforschung Sozialforschung 1958. 163 Ibid., p. 302. 164 Ibid., p. 1.
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Eine Stichprobe nach dem Zufallsprinzip (1016 Personen), wie sie dem DIVO-Institut ohnehin für seine Marktanalysen zur Verfügung stand, wurde mittels standardisiertem Fragebogen (ergänzt durch offene Fragen und bei bestimmten Themen einem so genannten Skalometer) zu drei Zeitpunkten (März/April, Juli/August und Dezember 1957) untersucht. Die Ergebnisse wurden auf über 300 Seiten – ergänzt durch 200 Seiten Anhänge – und mittels 168 multivariater Tabellen erläutert. Der Forschungsbericht hatte sechs Kapitel. Das erste – Das Erscheinungsbild der Parteien und Politiker – klärte die Identifikation einer Partei etwa mit den Gewerkschaften oder der katholischen Kirche bei verschiedenen sozialen Gruppierungen. Die politischen Themen im Wahljahr, so Kapitel 2, waren die Wirtschaftslage, die innenpolitischen Leistungen wie etwa der Wohnungsbau oder die außenpolitisch veranlasste Wiederbewaffung in den Augen der Wähler bzw. für die Anhänger der verschiedenen Parteien. Das dritte Kapitel analysierte die Wählerbewegungen und Parteiloyalitäten, untersuchte also die Veränderungen der Parteienpräferenz im Beobachtungszeitraum. Das vierte Thema hieß Der Prozeß der Meinungsbildung; es ging um die Sicherheit der Wahlentscheidung und auch die Frage, wieviel Einfluss die Familie oder die Arbeitskollegen auf die Wahlentscheidung nahmen. Fünftens wurden Gehalt und Gestalt des Wahlresultats ermittelt, d. h. ob es Veränderungen beim Wahlverhalten zwischen 1953 und 1957 in der Wahrnehmung der Befragten gab und wie zufrieden die Deutschen mit dem Wahlausgang waren – wobei in allen Auszählungen die Nichtwähler eine eigene Kategorie bildeten. Schließlich behandelte das Schlusskapitel eher allgemein Das Profil des deutschen Wählers. Hier wurde nun das demokratische Potential angesprochen. Im ersten Teil des Schlusskapitels wurden noch einmal zwei Fragen aufgeworfen, nämlich ob die Informiertheit über politische Probleme mit der Bereitschaft zur politischen Diskussion zusammenhing und ob der Wahlkampf bei den Wählern eine Veränderung ihres politischen Interesses bewirkt hatte. Das Fazit: „Der Wahlkampf erfüllt heute nicht so sehr die Aufgabe, einen politisch gut informierten, aktiven und interessierten Bürger mit rationalen Argumenten von der einen auf die andere Seite zu ziehen; er wird in weit stärkerem Maße dazu benutzt, Apathie zu überwinden und Indifferente überhaupt erst für die Politik – und damit für die Partei, der das am besten gelingt – zu gewinnen“.165 Der zweite Teil des Kapitels diskutierte die Einstellung zum demokratischen System. Das Fazit: „[Die] Beobachtung, daß der Wähler die Wahl zwar im politischen Bereich akzeptiert, sie zu seiner privaten Sphäre indessen kaum in Beziehung bringen kann, legt die bereits bei der Erörterung der politischen Teilnahme ausgesprochene Vermutung nahe, daß formale Kriterien wie hohe Wahlbeteiligung, starke Teilnahme am politischen Geschehen, Identifikation mit der Institution der Wahl allein nicht ausreichen, um ein Urteil darüber zu ermöglichen, in welchem Maße das demokratische System tatsächlich im Bewußtsein der Bevölkerung verwurzelt ist“.166 Der dritte Teil – überschrieben Das demokratische Potential167 – wertete die Antworten der 642 Be165 Ibid., p. 286. 166 Ibid., p. 294. 167 Zur Begründung der Vorgehensweise wurde dargelegt: Die Wiederholungsbefragung, wie sie in der Untersuchung verwendet wurde, sei zwar besser als eine einmalige Querschnittserhe-
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fragten aus, die ein besonderes Ärgernis benannt hatten, woraufhin sie in offenen Fragen zu ausführlichen Erläuterungen aufgefordert wurden. Das Ergebnis waren „Typologien“168 bzw. „Typenreihen“.169 Die eine „Typenreihe“ – Beteiligung am öffentlichen Leben – reichte von „beteiligt“, „engagiert“ und „kompetent“ bis hin zu „indifferent“. Den höchsten Prozentsatz der „Indifferenten“ gab es bei den CDUWählern, und den höchsten Anteil der „Kompetenten“ bei den Wählern der kleineren Parteien. Die andere „Typenreihe“ – das Bild vom politischen System170 – reichte von „kleiner Mann“ und „Untertan“ über „Rebell“ bis zu „guter Staatsbürger“, plus eine Kategorie „nicht zu klassifizieren“. Den höchsten Prozentsatz der „Untertanen“ stellten die CDU-Wähler, am meisten „gute Staatsbürger“ waren unter den Wählern der kleinen Parteien.171 Der Bericht schloss mit dem Satz: „Was durch künftige sorgfältige Analysen herausgearbeitet werden müßte, ist eine genaue Charakteristik der verschiedenen politisch-gesellschaftlichen Typen: ihre Verteilung auf bestimmte Schichten der Bevölkerung, ihre unterschiedliche soziologische und psychologische Struktur und ihr spezifischer politischer Stil“.172 Im Überblick über die Forschungsliteratur der fünfziger Jahre bezeugen die vier dargestellten Projektberichte die Vielfalt der Methoden und die Reichweite der Themen. Man kann sagen: Die fünfziger Jahre waren ein Jahrzehnt des Aufbruchs in eine Soziologie, die sich durch Forschung mit der Gesellschaft ihrer Gegenwart engagiert befasste. Die großen Forschungsprojekte der fünfziger Jahre stammten aus Frankfurt173 einschließlich der Darmstadt-Studie, aus Hamburg (Akademie für Gemeinwirtschaft) einschließlich der Sozialforschungsstelle Dortmund an der Uni-
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bung, könne aber nicht als Grundlage für eine Bestimmung des demokratischen Potentials dienen. Weil das demokratische Potential überhaupt nicht direkt erfragt bzw. abgefragt werden könne, seien die Daten, die aus den Fragebogen stammten, dazu nicht ohne weiteres geeignet: „Mit Hilfe dieser Methode lässt sich manches über den Prozess der Meinungsbildung in Erfahrung bringen. Über Ausmass und Qualität der demokratischen Verhaltensweisen indessen, d. h. über das demokratische Potential, ist damit noch relativ wenig ausgesagt.“ Ibid., p. 302. Ibid., p. 308. Zu den beiden „Typenreihen“ hieß es noch: „Beiden Typenreihen wohnt natürlich ein subjektives Element inne. Doch scheinen sie besser geeignet, etwas über demokratischen bzw. autoritären Charakter auszusagen als schematische, rein quantitative Kategorien, bei denen sich die Grenzen nur willkürlich ziehen lassen.“ (p. 308) Zur Begründung: Diese Typenbildung „bezieht sich auf die Stellung des Individuums im politischen Raum und versucht herauszuarbeiten, ob die politisch-gesellschaftliche Mentalität stärker vom Prinzip des Obrigkeitsstaates oder vom Prinzip der Selbstverwaltung geprägt ist.“ Ibid., p. 309. Ibid., p. 310. Die Frankfurter Beiträge zur Soziologie enthielten als Band 3: Betriebsklima. Eine industriesoziologische Untersuchung aus dem Ruhrgebiet, Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt 1955. Der Band berichtete von einer empirischen Studie über die Einstellungen und Einschätzungen von Arbeitern mehrerer Großbetriebe, wobei eine Fragebogenuntersuchung ergänzt wurde durch Gruppendiskussionen in fünf Werken „eines Konzerns der Montanindustrie, der Mannesmann-AG“. Auf dem Titelblatt wurden keine Autoren angegeben, und im Vorwort Adornos wurden vierzehn Mitarbeiter der Studie und Ludwig von Friedeburg als ihr Leiter genannt. von Friedeburg habilitierte sich mit einer Arbeit zu diesem Thema an der Philosophischen Fakultät der Johann Wolfgang Goethe-Universität im Jahr 1959.
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IV. Der Neubeginn der empirischen Sozialforschung
versität Münster174 sowie dem UNESCO-Institut für Sozialwissenschaften in Köln.175 Keines der großen Projekte kam aus dem Forschungsinstitut für Sozialund Verwaltungswissenschaften bzw. dem Institut für Soziologie bzw. dem Institut für angewandte Sozialwissenschaft an der Universität zu Köln (wie das Institut zu verschiedenen Zeiten hieß). René König, der an der Universität zu Köln seit dem Wintersemester 1949/1950 lehrte, war zwar von Beginn an ein Verfechter der neuen Methoden der Sozialforschung (gewesen).176 Schon im Jahr 1952 legte er ein erstes 174 Außer Arbeitslosigkeit und Berufsnot der Jugend entstanden aus dem Material, das Schelsky und seine Mitarbeiter in den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren erhoben, zwei weitere Studien Schelskys: Wandlungen der deutschen Familie der Gegenwart. Darstellung und Deutung einer empirisch-soziologischen Tatbestandsaufnahme, Stuttgart: Enke 1953 sowie Die skeptische Generation. Eine Soziologie der deutschen Jugend, Köln und Düsseldorf: Eugen Diederichs 1957. Außerdem entstanden an der Sozialforschungsstelle Dortmund die zwei industriesoziologischen Studien einer Autorengruppe aus jüngeren Soziologen, Hans-Paul Bahrdt, Heinrich Popitz, Ernst August Jüres und Hanno Kesting. Ihre – zeitgleich erschienenen – Forschungsberichte waren: Technik und Industriearbeit. Soziologische Untersuchungen in der Hüttenindustrie, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1957 sowie Das Gesellschaftsbild des Arbeiters. Soziologische Untersuchungen in der Hüttenindustrie, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1957. Schließlich erschien im Jahr 1959 eine Studie Karl-Martin Boltes zu Schichtung und Mobilität in der Bundesrepublik, deren Feldarbeit ebenfalls von der Sozialforschungsstelle Dortmund aus – im Jahr 1953 – durchgeführt wurde: Karl-Martin Bolte, Sozialer Aufstieg und Abstieg. Eine Untersuchung über Berufsprestige und Berufsmobilität, Stuttgart: Enke 1959. 175 Dazu gehörten: Gerhard Wurzbacher unter Mitarbeit von Renate Pflaum, Das Dorf im Spannungsfeld industrieller Entwicklung. Untersuchung an den 45 Dörfern und Weilern einer westdeutschen ländlichen Industriegemeinde. Mit einem internationalen Vergleich von Conrad M. Arensberg, Professor an der Columbia University, New York, Stuttgart: Enke 1954 (Arensberg war der erste Direktor des UNESCO-Instituts für Sozialwissenschaften in den Jahren 1951 – 1952; er kehrte danach in die USA zurück); Erich Reigrotzki, Soziale Verflechtungen in der Bundesrepublik. Elemente der sozialen Teilnahme in Kirche, Politik, Organisationen und Freizeit, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1956 und Renate Mayntz, Soziale Schichtung und sozialer Wandel einer Industriegemeinde. Eine soziologische Untersuchung der Stadt Euskirchen, Stuttgart: Enke 1958 (Renate Mayntz war die nunmehr verehelichte Mitautorin der Wurzbacher-Studie). Reigrotzki machte im Vorwort seines Buches deutlich, dass er Hilfe bekommen hatte, die nicht aus Köln kam: Er dankte dort Elisabeth Noelle-Neumann für die Unterstützung des Instituts für Demoskopie bei der Fragebogenerstellung und Heinz Löchner vom DIVO-Institut, dass er „uns mit seinen Erfahrungen in der Technik der Zufalls-Stichproben einen Dienst (erwiesen hat), den nur der ermessen kann, der die hier auftretenden formalen und organisatorischen Schwierigkeiten aus eigener Erfahrung kennt“ (p. vii). Reigrotzkis Studie wurde über zwei Jahrzehnte später als Umfragendokumentation ihrer Rohdaten noch einmal aktuell. Das Zentralarchiv für empirische Sozialforschung veröffentlichte sie als Bundesstudie 1953. Projektleiter: Erich Reigrotzki, UNESCO-Institut für Sozialwissenschaften. Zeit der Feldarbeit: Juli/August 1953, Z.A.R.-Umfragendokumentation: Studie 145, Köln: Zentralarchiv für empirische Sozialforschung 1978. Die beiden in Köln entstandenen Community Surveys – die Wurzbacher-Studie und die Euskirchen-Studie – orientierten sich an der Darmstadt-Studie (ohne dies allerdings offen auszusprechen). 176 Offenbar hatte König, der bis 1949 in der Schweiz gelehrt hatte, bis zu seiner Berufung nach Köln wenig Kenntnisse der empirischen Sozialforschung. König muss sich intensiv mit deren Leistungswert vertraut gemacht haben, möglicherweise in Zusammenarbeit mit Max Ralis, einem Remigranten aus den USA mit ausgezeichneten Kenntnissen über Surveyforschung, der
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Kompendium zur empirischen Sozialforschung ‚neuen Typsʻ vor.177 Während der nächsten anderthalb Jahrzehnte betreute er die bis heute gültigen Sammelwerke, die die empirische Soziologie bis weit in die siebziger und achtziger Jahre prägten.178 An der Universität zu Köln wurden zwar in den fünfziger Jahren zwei größere Untersuchungen durchgeführt. So legte Morris Janowitz, ein Amerikaner, eine Studie zur sozialen Schichtung und Mobilität in Westdeutschland vor, die in Köln entstand.179 Unter der Leitung Königs arbeiteten Hans-Jürgen Daheim vom Institut für Mittelstandsforschung und Dietrich Rüschemeyer und Erwin Scheuch vom Institut für angewandte Sozialforschung zusammen, um zur Messung der sozialen Schicht den Parameter Sozialprestige für Westdeutschland zu testen.180 Aus diesen
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noch 1949 für die Information Control Division arbeitete. Dass König im Schweizer Exil ein Befürworter neuer Denkrichtungen und modernisierender Reformen war und dies im Jahr 1946 durch sein familiensoziologisches Gutachten unter Beweis stellte, das sich gegen die Gemeinschaftsideologie der Mehrheit des Schweizer Bundesrats wandte, berichtet: Markus Zürcher, Der Mythos der Gemeinschaft. René König als Emigrant in der Schweiz, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Bd. 47, 1995, pp. 157 – 165. René König unter Mitarbeit von Wilhelm Brepohl, Max Ralis und Karl G. Specht (Hrsg.), Das Interview. Formen, Technik, Auswertung. Praktische Sozialforschung I, Dortmund und Zürich: Ardey Verlag 1952; die Beiträge stammten von führenden Autoren der Surveyforschung der USA, darunter Hadley Cantril, Margaret Hagood, Paul Lazarsfeld und Mildred Parten. Die zweite, völlig umgearbeitete, verbesserte und erweiterte Auflage, nunmehr unter Mitarbeit von Dietrich Rüschemeyer und Erwin K. Scheuch, erschien in Köln und Berlin: Verlag für Politik und Wirtschaft 1957. Zu Beginn der fünfziger Jahre lag bereits vor: Praktikum der Meinungsforschung. Ein Handbuch für Interviewer, herausgegeben von Jürgen Weisker und Heinz Löchner, Frankfurt/Main: DIVO Deutsches Institut für Volksumfragen o.J. René König (Hrsg.), Handbuch der empirischen Sozialforschung, Bd. I, Stuttgart: Enke 1962, Bd. II, Stuttgart: Enke 1967. Königs Verdienst war allemal, die Weichen für die Ausrichtung der Soziologie von Köln aus deutlich in Richtung der empirischen Forschung und der speziellen Soziologie(n) und Themenfelder zu stellen, die mit der empirischen Sozialforschung eng zusammenhingen. Im Jahr 1955, als die Leitung des – nun umbenannten – Instituts an der Universität zu Köln und auch die Herausgeberschaft der Kölner Zeitschrift für Soziologie an König überging, weil Leopold von Wiese sich nun (endlich) aus dem Institut und auch der Zeitschrift zurückzog, wurde der Titel der Zeitschrift geändert in Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, und die Reihe der Sonderhefte zu speziellen Soziologien begann mit Soziologie der Gemeinde (1956), Soziologie der Jugendkriminalität (1957) und Soziologie der Medizin (1958). Bis heute wird die Reihe der jährlichen Sonderhefte fortgesetzt, nunmehr seit über fünfzig Jahren. Morris Janowitz, Soziale Schichtung und Mobilität in Westdeutschland, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Bd. 10, 1958, pp. 1 – 38. Janowitz hatte Hilfe von außerhalb Kölns erhalten. Er dankte den Leitern des DIVO-Instituts, insbesondere Klaus Liepelt, ausdrücklich, „dass sie ihren Stab von Interviewern zur Verfügung gestellt haben. Ohne die Mitarbeit der DIVO wäre es unmöglich gewesen, die empirischen Daten zu gewinnen, welche die Grundlage des vorliegenden Aufsatzes bilden.“ (p. 1) Erwin K. Scheuch unter Mitarbeit von Hansjürgen Daheim, Sozialprestige und soziale Schichtung, in: David V. Glass und René König (Hrsg.), Soziale Schichtung und soziale Mobilität, Sonderheft 5 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Opladen: Westdeutscher Verlag 1961, pp. 65 – 103. Die Idee der Messung der Schichtzugehörigkeit mittels Sozialprestige, einem Parameter jenseits der ökonomischen Klassenlage, war seit den späten vier-
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IV. Der Neubeginn der empirischen Sozialforschung
Untersuchungen entstanden keine Monographien, sondern Aufsätze in der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie und ihren Sonderheften – der Aufsatz Scheuchs zur empirischen Bestimmung der sozialen Schicht erschien im Sonderheft Soziale Schichtung und Mobilität. René König, Leitfigur der empirischen Sozialforschung der Nachkriegszeit, leitete kein großes Forschungsprojekt der fünfziger Jahre.181 König war ein Verfechter dieser Empirie und machte Köln zum Ort der Surveyforschung im kulturellen Gedächtnis der Soziologiegeschichte. Er plädierte allerdings anlässlich des Vierten Weltkongresses, den die International Sociological Association (ISA) im Jahr 1959 ausrichtete, persönlich in seinem Vortrag für eine „soziologische Theorie, die mittels Forschung geprüft und getestet wird“182 – nicht umgekehrt. Am Ende der fünfziger Jahre war dies der Streitpunkt zwischen König und Adorno. Adorno distanzierte sich erstmals 1957 deutlich von der Sozialforschung, die bloß empirische Daten sammle und unwillkürlich den Status quo der spätkapitalistischen Gesellschaft festschreibe.183 König reagierte, indem er der „Frankfurter Schule“ unterstellte, sie entwerfe eine Theorie der Gesellschaft, die immun gegen die empirischen Befunde sei, aber in Köln befürworte man eine soziologische Theorie, die sich an den Ergebnissen der Sozialforschung orientiere. Zusammenfassend: Die großen Forschungsprojekte der fünfziger Jahre waren wie ein Quantensprung über die Soziographie der nationalsozialistischen Zeit hinaus. Zwar übernahm die Sozialforschungsstelle Dortmund – prominent Schelsky – die methodischen Traditionen und die gesellschaftspolitischen Ambitionen der Soziographie. Aber die Sozialforschung in Frankfurt – und mit ihr die Darmstadt-Stuziger und frühen fünfziger Jahren in den Studien des NORC zum modernsten methodischen Ansatz der Schichtforschung weiterentwickelt worden. 181 Um Königs Wirken als Präzeptor der empirischen Sozialforschung (Surveyforschung) in Westdeutschland zu würdigen, sprechen die Herausgeber einer posthum erschienenen Sammlung seiner Aufsätze von „Wirklichkeitswissenschaft“ – in Anführungszeichen. (Es mag dahingestellt bleiben, ob eine Anleihe bei Simmel und Weber darin angedeutet sein sollte oder eine Distanzierung von Hans Freyer, der das Weberʼsche Erbe mit seiner Begriffsverwendung verworfen hatte.) Siehe Teil 3 „Soziologie als ‚Wirklichkeitswissenschaftʻ“ in: Oliver König und Michael Klein (Hrsg.), René König. Soziologe und Humanist. Texte aus vier Jahrzehnten, Opladen: Leske und Budrich 1998, pp. 99 ff. 182 René König, On Some Recent Developments in the Relation between Theory and Research, in: International Sociological Association, Transactions of the Fourth World Congress of Sociology, vol. II, London: Heertwy, Tomsett & Co. 1959, pp. 275 – 289, cit. p. 286. Im Original: „sociological theory checked and controlled by research“. Die Kritik Königs richtete sich gegen Adorno, dem er unter anderem entgegenhielt: „For the representative of a theory of society, it may be quite enough to demonstrate that very often the causes of anti-semitism and prejudices in general are to be found in what Adorno has called an authoritarian personality, because this enlightenment stirs up the observer to an immediate (educational or political) action against authoritarianism of any kind. Sociological theory, however, cannot rest with this result.“ Ibid., pp. 286 – 287. 183 Theodor W. Adorno, Soziologische Theorie und empirische Sozialforschung. In: Klaus Ziegler (Hrsg.), Wesen und Wirklichkeit des Menschen. Festschrift für Helmuth Plessner, Göttingen: Vandenhoek und Ruprecht 1957; wieder abgedruckt in: Adorno, Gesammelte Schriften, Band 8: Soziologische Schriften, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1972, pp. 196 – 216.
5. Kritik am „amerikanischen Import“
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die – ging(en) neue Wege und suchte(n) Anklänge bei der Einstellungsforschung der amerikanischen Sozialpsychologie. Surveyforschung war in den – allerdings wenigen – Projekten realisiert, die eine klare Grundlegung im Stichprobenverfahren hatten und multivariate Datenanalyse verwendeten. Hier wie dort war der „amerikanische Import“ offenkundig – interessanterweise in Köln nur in den Lehr- und Handbüchern, nicht an der Universität zu Köln (höchstens am UNESCO-Institut). 5. KRITIK AM „AMERIKANISCHEN IMPORT“ Die fünfziger Jahre waren in Westdeutschland eine Dekade der nachholenden Modernisierung.184 Im Selbstverständnis mancher damaligen Zeitgenossen war es eine restaurative Epoche.185 Aus heutiger Sicht sprechen manche von „Westernisierung“ während dieser Konsolidierungsperiode der Bundesrepublik.186 Andere betonen die Normalisierung der Lebensverhältnisse und die wieder gewonnene „Sicherheit“ und den wachsenden Wohlstand.187 Ein Wendepunkt am Ende der fünfziger Jahre war, als die Lehrmeinungen verschiedener „Schulen“ der Soziologie aufeinander prallten.188 Der so genannte „Bürgerkrieg in der deutschen Soziologie“189 begann 1958, als die DGS keine Doppelmitgliedschaft mit dem Institut International de Sociologie (IIS) dulden wollte. 184 Axel Schildt und Arnold Sywottek, Die Ära Adenauer: Aspekte ihrer sozialkulturellen Entwicklung – eine Skizze, The Germanic Review, vol. 63, 1988, pp. 162 – 171. Ein Panorama der Lebensverhältnisse der fünfziger Jahre zeichnen: Axel Schildt und Arnold Sywottek (Hrsg.), Modernisierung und Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre, Bonn: J. H. W. Dietz Nachf. 1993. 185 Zeitgenössisch wegweisend: Walter Dirks, Der restaurative Charakter der Epoche, Frankfurter Hefte, 5. Jgg., 1950, pp. 942 – 954 und Eugen Kogon, Die Aussichten der Restauration. Über die gesellschaftlichen Grundlagen der Zeit, Frankfurter Hefte, 7. Jgg., 1952, pp. 165 – 177. 186 Anselm Doering-Manteuffel, Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert, Göttingen: Vandenhoek und Ruprecht 1999; Heinz Bude (Hrsg.), Westbindungen. Amerika in der Bundesrepublik, Hamburg: Hamburger Edition 1999. 187 Hans Braun, Das Streben nach „Sicherheit“ in den 50er Jahren. Soziale und politische Ursachen und Erscheinungsformen, Archiv für Sozialgeschichte, 28. Band, 1978, pp. 279 – 306. 188 Edgar Wolfrum setzt das Jahr 1958 als den Wendepunkt der Geschichte der Bundesrepublik auf dem Weg zu einer „geglückten Demokratie“ an, wie sie in den über sechzig Jahren seit 1945 entstanden ist. Diese Bedeutung der Jahres 1958 lässt sich anhand der Soziologiegeschichte unterstreichen. Siehe: Edgar Wolfrum, Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart: Klett-Cotta 2006. 189 Dieses Wort, so Johannes Weyer, wurde ursprünglich im Jahr 1951 in einem Brief an Gunter Ipsen geprägt, einen nach seiner Entlassung nach 1945 an der Sozialforschungsstelle Dortmund tätigen früheren „Volkssoziologen“. Weyer sah darin das Stichwort für den Konflikt, den Helmut Schelsky provozierte, als er kurz vor dem Berliner Soziologentag aus der DGS austrat (als Mitglied der Vorstandes) und seinen vorgesehenen Hauptvortrag absagte. Siehe: Johannes Weyer, Der ‚Bürgerkrieg in der Soziologieʻ. Die westdeutsche Soziologie zwischen Amerikanisierung und Restauration, in: Sven Papcke (Hrsg.), Ordnung und Theorie. Beiträge zur Geschichte der Soziologie in Deutschland, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1986, pp. 280 – 304.
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IV. Der Neubeginn der empirischen Sozialforschung
Dort hatten ehemals faschistische Fachvertreter eine intellektuelle Heimstatt gefunden, was die DGS nicht unwillkürlich gutheißen wollte. René König gehörte zu den Gründungsvätern der International Sociological Association (ISA). Die ISA bekannte sich zu Demokratie in Staat und Gesellschaft und sah die amerikanische Soziologie als ihr ausdrückliches Vorbild. König – der Repräsentant einer Kölner „Schule“190 – war auch ein Hauptredner des Berliner Soziologentages 1959.191 Dort brachen die Gegensätze auf, die während der fünfziger Jahre nach und nach offensichtlich wurden. Im Laufe der Dekade hatte sich Kritik an der amerikanischen Soziologie entwickelt, und die europäischen Traditionen und Sichtweisen wurden nun deutlich(er) herausgestellt. Dies hatte mit einer Rückwendung zum Nationalsozialismus allerdings nichts zu tun und war auch keine Nachwirkung der „akademischen Soziologie“ der Weimarer Zeit.192 Die Kontroversen der sechziger Jahre kündigten sich an. Zeitweise sollte die Soziologie mit dem Sozialismus gleichgesetzt werden. In der Öffentlichkeit und an den Universitäten sollte daraus weithin eine Speerspitze des Protests gegen den Vietnam-Krieg werden, in den die USA sich hatten verwickeln lassen. Diese dramatischen Ereignisse kündigten sich in den fünfziger Jahren an, als vor dem „amerikanischen Import“ gewarnt wurde. Die Soziologen verwiesen auf die problematischen Seiten der Demokratie in den USA und diagnostizierten – teilweise aus Missverständnis – gravierende Mängel der amerikanischen Soziologie. Drei Texte der damaligen Zeit sollen diese Strömung abschließend veranschaulichen. Die Texte markierten das vorläufige Ende der unbestritten vorherrschenden empirischen Sozialforschung in der Nachkriegszeit. Es brach ein neuer Abschnitt der Soziologiegeschichte an. Die drei (und viele weitere) Texte setzten Maßstäbe für die Kritik, als in den sechziger Jahren gegen die „Wertfreiheit“ der soziologischen Erkenntnis argumentiert wurde.
190 Bis heute ist kontrovers, ob es eine „Kölner Schule“ – parallel zur „Frankfurter Schule“ – überhaupt gegeben hat. Die Zeitgenossen sahen die Soziologie in Frankfurt, in Köln und in Hamburg – sowie außerdem an der Freien Universität Berlin – als jeweils eigene Richtung der Theorie und Forschung: – ein gemeinsames Selbstbild „der“ Soziologie gab es bei den damaligen Soziologen nicht. 191 Die ursprüngliche Planung war: Max Horkheimer sollte die Position der Soziologie aus dem Frankfurter Institut für Sozialforschung darstellen, René König sollte das soziologische Denken und seine gesellschaftliche Bedeutung aus der Perspektive des Kölner Instituts (vielleicht mit dem Schwerpunkt der empirischen bzw. Surveyforschung) behandeln, und Helmut Schelsky wollte ein Referat zum Thema „Ortsbestimmung der deutschen Soziologie“ halten – wie er es 1959 stattdessen in seinem gegen die Emigranten polemisierenden Buch Ortsbestimmung der deutschen Soziologie einer breiteren Öffentlichkeit vorstellte. Anlässlich des Berliner Soziologentages waren die drei Hauptredner: Max Horkheimer mit seinem vorbereiteten Referat „Soziologie und Philosophie“, Hans Achinger (Frankfurt am Main) mit einem Vortrag zu „Soziologie und Sozialreform“ und René König mit einem Vortrag „Wandlungen in der Stellung der sozialwissenschaftlichen Intelligenz“. Siehe: Deutsche Gesellschaft für Soziologie, Verhandlungen des vierzehnten Deutschen Soziologentages vom 20. bis 24. Mai 1959 in Berlin, Stuttgart: Enke 1959. 192 Cf. Erhard Stölting, Akademische Soziologie in der Weimarer Republik, Berlin: Duncker und Humblot 1986.
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Theodor W. Adornos Essay Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie193 war eine Rückbesinnung auf die Theorie der Gesellschaft, die am Maßstab der Befreiung der Menschheit von den Zwängen der bürokratisierten Welt zu messen sei. Der Essay entstand nach einem missglückten – dem letzten – Amerikaaufenthalt Adornos und war sein Beitrag zur Festschrift anlässlich Horkheimers sechzigstem Geburtstag im Jahr 1955. Adorno begann mit einem Vorwurf gegen die zeitgenössische Psychologie (d. h. die auf die Ich-Psychologie konzentrierte so genannte Neo-Psychoanalyse) und die Parsonsʼsche Systemtheorie. Es gehe auf verschiedenen Abstraktionsebenen um eine unwillkürliche „Harmonisierung“ des Verhältnisses zwischen der Person und der Gesellschaft: „Parsons zufolge gelingt etwa die von ihm stillschweigend und generell als positiv unterstellte Integration einer Gesellschaft, wenn deren funktionelle Bedürfnisse – als objektiv-soziales Moment – mit den Schemata des ‚durchschnittlichen Überichsʻ übereinstimmen. … Die Koinzidenz des durchschnittlichen Überichs und der funktionellen Bedürfnisse eines sozialen Systems, nämlich der [gesellschaftliche Zustand] seiner eigenen Perpetuierung, ist in Huxleys Brave New World triumphal erreicht“.194 Adorno warnte vor der leichtfertigen Gleichsetzung zwischen dem subjektiven Wohlbefinden bzw. der psychischen Gesundheit des Individuums in der spätbürgerlichen Gesellschaft und der Vorstellung einer idealen oder jedenfalls rationalen Welt der Moderne. Denn: „In der Tat ist die Rationalität im Verhalten der einzelnen Menschen … weithin heteronom und erzwungen und muß darum mit Unbewusstem sich vermischen, um einigermaßen funktionsfähig zu sein“.195 Die moderne Gesellschaft sei ohne das Grauen nicht zu denken, das der Nationalsozialismus (gewesen) war. Dies sei keine Entgleisung der Weltgeschichte, sondern die Unmenschlichkeit der bürgerlichen Gesellschaft habe im Nationalsozialismus ihr wahres Gesicht gezeigt. Man müsse es begreifen, um nicht selbst der Ideologie zu verfallen: „Die irrationalen Rudimente werden eben noch als Schmieröl der Menschlichkeit in die Maschinerie gespritzt. Zeitgemäß sind jene Typen, die weder ein Ich haben noch eigentlich unbewußt handeln, sondern reflexartig den objektiven Zug widerspiegeln“.196 Adorno meinte abschließend, die Psychoanalyse, die den aggressiven Menschen durch eine verständnisvolle Therapie zu helfen su-
193 Theodor W. Adorno, Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie, in: Sociologica I. Aufsätze Max Horkheimer zum sechzigsten Geburtstag gewidmet, Frankfurt: Europäische Verlagsanstalt 1955, pp. 11 – 45. 194 Ibid., pp. 13 – 14. Adorno bezog sich auf Talcott Parsons, Psychoanalysis and Social Structure, einen kurzen Text in The Psychoanalytic Quarterly, vol. 19, 1950 – dort veröffentlicht zusammen mit einem Aufsatz Heinz Hartmanns, eines prominenten Vertreters der Neo-Psychoanalyse, „The Application of Psychoanalytic Concepts to Social Science“. Parsonsʼ und Hartmanns Beiträge waren ursprünglich Vorträge anlässlich der Jahrestagung der American Psychoanalytic Association im Jahr 1948. Der Hinweis Adornos auf Huxley knüpfte an die Analyse des Gesellschaftsbildes in Aldous Huxleys Roman Brave New World (erschienen 1932) in den Diskussionen des Instituts für Sozialforschung im kalifornischen Exil im Jahr 1942 an. 195 Adorno, Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie, p. 24. 196 Ibid., p. 43
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IV. Der Neubeginn der empirischen Sozialforschung
che, mache diese zu „nützlichen Mitgliedern des destruktiven Ganzen“197, anstatt die Gesellschaft, die die Aggression schaffe, verändern zu wollen. Ralf Dahrendorfs Essay Homo Sociologicus198 entstand während eines Studienaufenhaltes am Center for Advanced Studies in the Behavioral Sciences der Stanford University in Palo Alto (Kalifornien); dorthin war Dahrendorf auf Empfehlung Parsonsʼ eingeladen worden.199 Der Essay erschien 1958 zeitgleich mit Dahrendorfs Polemik gegen das Utopische in Parsonsʼ Systembegriff.200 Dort wurde die Gesellschaftsauffassung Parsonsʼ mit dem (im Jahr 1948 geschriebenen) Roman Neunzehnhundertvierundachzig201 verglichen, was stillschweigend an Adornos Vorbehalte anschloss. Dahrendorf fand neben dem homo oeconomicus und dem psychological man in der jüngsten Zeit nun den political man und den homo sociologicus. Die Soziologie der USA fasse den Menschen als einen Träger sozialer Rollen auf, um seine gesellschaftliche Existenz zu bestimmen. Aber die Soziologie, die „den Menschen in Gesellschaft zum Gegenstand hat“202, müsse demgegenüber den „ganzen Menschen“203 als lebendiges und freies Wesen in die Diskussion einbringen. Dahrendorf referierte zunächst die Geschichte der Rollenmetapher in der Philosophie und der Dichtkunst und dann den Standpunkt der Rollentheorie, wobei er darstellte, dass die verschiedenen Charakteristika und Besonderheiten einer Person – etwa Mann, Deutscher, Lehrer etc. zu sein – das Begriffsgerüst für die Bündel aus abgestuften Muss-, Kann- oder Soll-Erwartungen bildeten, die jeweils an eine Position oder einen Status gekoppelt waren. Diese Sichtweise werde durch Forschungen zu Bezugsgruppen und Rollenkonflikten etc. noch weiter verfeinert. Aber die Identität des Menschen sei offensichtlich dabei nicht berücksichtigt: „Für Gesellschaft und Soziologie ist der Prozeß der Sozialisierung stets ein Prozeß der Entpersönlichung, in dem die absolute Individualität und Freiheit des Einzelnen in der Kontrolle und Allgemeinheit sozialer Rollen aufgehoben wird. Der zum homo sociologicus gewordene Mensch ist den Gesetzen der Gesellschaft und den Hypothesen der Sozi197 Ibid., p. 45. 198 Ralf Dahrendorf, Homo Sociologicus. Ein Versuch zur Geschichte, Bedeutung und Kritik der Kategorie der sozialen Rolle, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Bd. 10, 1958, pp. 178 – 208 und pp. 345 – 378. 199 Parsons war in demselben Jahr 1957/1958 ebenfalls Fellow in Palo Alto. Parsons lernte Dahrendorf im Jahr 1956 anlässlich des Seminars für europäische Nachwuchswissenschaftler auf Schloß Leopoldskron bei Salzburg kennen und empfahl ihn für die Einladung an das Center for Advanced Studies. 200 Ralf Dahrendorf, Out of Utopia. Toward a Reorientation of Sociological Theory, American Journal of Sociology, vol. 64, 1958, pp. 115 – 127. 201 George Orwell, Nineteen eighty-four. A Novel, London: Secker und Warburg 1950; deutsch: Neunzehnhundertvierundachtzig. Roman, Rastatt/Stuttgart: Diana Verlag 1950. 202 Dahrendorf, Homo Sociologicus, p. 181. Von dieser Warte aus sprach Dahrendorf über die „ärgerliche Tatsache der Gesellschaft“: „Die Probleme der Soziologie führen auf die Tatsache zurück, die unserer naiven Erfahrung ebenso zugänglich ist wie die Naturbetrachtung unserer Umwelt. Das ist die Tatsache der Gesellschaft, an die wir so oft und so intensiv gemahnt werden, dass sie sich mit gutem Grund auch als die ärgerliche Tatsache der Gesellschaft beschreiben lässt.“ (ibid.) 203 Ibid., p. 356.
5. Kritik am „amerikanischen Import“
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ologie schutzlos ausgeliefert; dennoch kann nur Robinson hoffen, seine entfremdete Wiedergeburt als homo sociologicus zu verhindern“.204 Die Forschung, die immer neue Feinheiten des Rollenphänomens untersuche, gehe am Wesentlichen vorbei: „Die Soziologie hat die Exaktheit ihrer Annahmen mit der Menschlichkeit ihrer Absichten bezahlt und ist zu einer durchaus inhumanen, amoralischen Wissenschaft geworden“.205 Das Postulat der Wertfreiheit, wie es Max Weber formuliert habe, sei zu überwinden. Die Welt müsse vor der Amoralität geschützt werden, die gerade in der Soziologie, die den homo sociologicus propagiere, offenkundig sei: „Weber hat übersehen, daß die Sozialwissenschaft und ihre Forschungsergebnisse selbst eine moralische Kraft darstellen, die, wenn sie nicht bewußt gezügelt wird, mit so großer Macht gegen die Werte der Freiheit und der Individualität wirkt, daß eine von aller Wissenschaft unabhängige Moral sie nicht mehr aufzuhalten vermag“.206 Zu hoffen sei, die Soziologie werde „vom Hemmschuh zum Motor der Entwicklung einer Gesellschaft freier Menschen“207 werden, der Aufhebung der gesellschaftlichen Zwänge in einer „aktiven Wirklichkeit frei erfüllter Zeit“. Helmuth Plessners Die verspätete Nation wurde nicht in den fünfziger Jahren geschrieben.208 Im Exil in Holland hielt er im Wintersemester 1934/1935 Vorlesungen über den Weg des Denkens in Deutschland seit dem achtzehnten Jahrhundert. Das Buch, das 1935 fertig gestellt war, hieß Das Schicksal des deutschen Geistes am Ausgang seiner bürgerlichen Epoche. Dieses Buch, erweitert um eine Einleitung, die seine Relevanz im zweigeteilten Deutschland hervorhob, erschien nun unter dem neuen Titel und wurde ein Meilenstein des soziologischen Selbstverständnisses. Plessner begann mit dem Nachweis, die politische Philosophie in Deutschland seit dem neunzehnten Jahrhundert desavouiere die westlichen Demokratien. Bis 1871 habe die Reichsidee seit dem Mittelalter weiter bestanden, aber eine Staatsidee hätte sich nicht gebildet. Der preußische Staat, nunmehr das Deutsche Reich, so Plessner, kamen zu spät für die Nation, die eine eigene Staatsidee hätte entwickeln sollen. So wurde das Volk statt des Staates zum Organon der deutschen Kultur. Dahinter, so Plessner weiter, stand eine längere Tradition, nämlich das Luthertum: „Deutschland ist weder vom Calvinismus noch von der Aufklärung innerlich erfaßt worden. Das Luthertum hat beides verhindert und die politische Geschichte ließ eine Teilnahme an der Ausbildung des modernen demokratischen Staatsbewusstseins nicht zu“.209 Der lutherische Geist habe den Widerstand gegen die Aufklärung und auch den Katholizismus gestärkt: „In dieser Verhältnislosigkeit zur Aufklärung ist aber auch über die Stellung des Katholizismus im geistigen Leben der Nation entschieden. Trotz großer Erscheinungen, die er hervorgebracht hat,
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Ibid., pp. 348 – 349. Ibid., p. 364. Ibid., p. 370. Ibid., p. 378; dort auch die nächste Zitatstelle. Helmuth Plessner, Die verspätete Nation. Über die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes, Stuttgart: Kohlhammer 1959. 209 Ibid., p. 57.
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IV. Der Neubeginn der empirischen Sozialforschung
geriet er in völlige Isolierung“.210 Die industrielle Revolution in Deutschland, so Plessner, kam spät und fand das Bürgertum ohne eigentliche politische Überzeugungen oder demokratische Traditionen, zumal die Revolution von 1848 scheiterte. So herrschte von Beginn des industriellen Aufschwungs eine „Traditionslosigkeit“211, die das „Bedürfnis nach geschichtlicher Rechtfertigung des Lebens“ noch schürte. So kam es zu Eigenbrötelei schlimmster Art: „Ohne Rückhalt an einer übergreifenden Staatsidee neigte jede dieser Schichten zur Verabsolutierung ihrer besonderen Tradition oder Traditionslosigkeit. In dem eigentümlich geöffneten deutschen Kulturbewusstsein vertieften sich diese Aspekte auf die Vergangenheit zu Weltauffassungen von religiös-metaphysischem Charakter“.212 Das geschichtliche Weltbild, so Plessner, wurde immer mehr zur Innerlichkeitsideologie ohne die Theologie oder ein christliches Weltverständnis. Was blieb, war ein Mythos der „untergeschichtlichen und vormenschlichen Kräfte von Blut und Erde“.213 Ohnehin war die überweltliche Autorität Gottes durch den dezidierten Ideologieverdacht – in der Philosophie von Immanuel Kant bis Karl Marx – erschüttert, so dass nicht mehr die Vernunft, sondern nur noch die Tat – als die Politik der Straße – gepriesen wurde. Der Ideologieverdacht erschütterte die Autorität allen Denkens, und eine Lebensführung des Nihilismus trat an die Stelle der Werteüberzeugung: „Nachdem Geschichte und Biologie … ihren Anthropozentrismus sozusagen als Kinderkrankheiten überwunden haben, ist die letzte Schranke vor der totalen Relativierung des Menschen gefallen“.214 Und weiter: „Geschichte, Soziologie, Psychoanalyse, Biologie werden zu entlarvenden Wissenschaften“.215 Die Philosophie, so Plessner über sein eigenes Fach, war nun allenfalls Apotheose der Biologie, denn „eine besondere Berufspraxis“ könne für die Philosophie in der Zeit „der modernen Wissenschaftssysteme“ nicht mehr gelten.216 Die Philosophie habe vor der Politik kapituliert, Marx, Kierkegaard und Nietzsche hätten die letzten Schranken zerstört. Der Nihilismus im Willen zur Macht sei das Ende des bürgerlichen Geistes im Gewande der Philosophie mit einer nun relativistischen Wahrheit: „Nicht nur die Sinnlosigkeit des Daseins aushalten und die Gewissheit ertragen, daß nichts sich lohnt und auf die Dauer alles gleichgültig ist, sondern darüber hinaus mit dieser Wahrheit seinen Frieden machen und einmünden in die dionysisch-heraklitische Welt des Werdens und Vergehens in ewiger Wiederkunft – dies macht Nietzsche zum Ziel des Menschen von übermorgen“.217 Das Buch beschwor noch „die Macht des Geistes, des Fortschritts, der Toleranz und Humanität“218: Darin liege immerhin der „große Gedanke“, selbst im Nationalsozialismus bzw. der Nachkriegszeit 210 Ibid., p. 70. 211 Kapitel sieben war überschrieben: „Traditionslosigkeit und Bedürfnis nach geschichtlicher Rechtfertigung des Lebens“, pp. 83 ff. 212 Ibid., p. 85. 213 Ibid., p. 105. 214 Ibid., p. 122. 215 Ibid., p. 123. 216 Ibid., p. 144. 217 Ibid., p. 153. 218 Ibid., p. 166; dort auch die nächsten zwei Zitatstellen.
5. Kritik am „amerikanischen Import“
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könne er, „jene noch unbekannten Kräfte … wecken, welche das Kommende vorbereiten“. Die drei Texte und auch andere Schriften der drei Autoren enthielten ein Programm für die Soziologie. Adorno wandte sich offen gegen die Surveyforschung in der Festschrift für Helmuth Plessner. Dahrendorf – der einen futuristischen Roman heranzog – warnte wie Adorno vor der Systemtheorie Parsonsʼ, einem Utopia à la Faschismus. Plessners Sicht auf die deutsche Geistesgeschichte war dasselbe Plädoyer für Freiheit und Humanität wie bei Adorno und auch Dahrendorf. Plessner und Adorno waren sich einig, die Soziologie durfte zum Nationalsozialismus nicht mehr schweigen. Alle drei Autoren sahen die Philosophie als Mentorin der Soziologie, um dem Humanum im soziologischen Denken mehr Gewicht zu verleihen. Es war eine Absage an die zeitgenössische amerikanische Theorie. Diese erschien vielen Deutschen nun sträflich ahistorisch. Auch die empirische Soziologie, die den strengen Regeln der Surveyforschung folgte, genügte den Ansprüchen nicht (mehr), die die Deutschen nun weithin stellten. Die Forschung, wie sie etwa Lazarsfeld verkörperte, erschien jetzt vielen Soziologen gesellschaftstheoretisch naiv. Man wollte die Lage überdenken, wie sie durch den „amerikanischen Import“ entstanden war. Die Gefahr schien zum einen, durch eine allzu bereitwillige Übernahme der Systemtheorie des Strukturfunktionalismus die gesellschaftlichen Probleme der Gegenwart nicht mehr wahrzunehmen. Die Sorge war zum anderen, die Methoden der Surveyforschung taugten nur für belanglose Problemstellungen, allerdings mit großer Akribie beforscht, was als „Fliegenbeinzählerei“ verhöhnt wurde. Die Diskussion zu dieser Zeit in den USA ging ähnliche Wege wie in Deutschland. Am Ende der fünfziger und zu Beginn der sechziger Jahre häuften sich die Stimmen, die eine Abwendung von Parsonsʼ Systemtheorie forderten und nach einer Alternative zu Lazarsfelds Empirismus riefen. Die Kehrtwendung weg von den „amerikanischen Importen“, wie sie in Deutschland Adornos und Dahrendorfs Essays verkörperten, brachte in den USA der Traktat The Sociological Imagination (erschienen 1959).219 C. Wright Mills plädierte als Marxist für ein soziologisches Denken, das die Reformierung – gar Revolutionierung – der modernen Gesellschaft in den USA bezweckte. Mills polemisierte gegen Parsons und nannte dessen Systemdenken nichts als leere Hüllen; er schimpfte auf Lazarsfeld, dessen Forschung behandele keine relevanten Probleme. Die Kritik an der Soziologie, in den USA bald modisch, traf sich mit der Kritik in Deutschland, die den „amerikanischen Import“ ablehnte. Am Ausgang der fünfziger Jahre war der Neubeginn der Soziologie zu Ende. Nach dem Debakel der Nazizeit hatte der „amerikanische Import“ das wissenschaftliche Denken wieder gebracht. Die Anfangsphase war abgeschlossen, und ihr Ergebnis war die empirische Sozialforschung auf dem Niveau der amerikanischen Soziologie. Sie machte im internationalen Dialog eine gute Figur. Zeitgleich ent-
219 C. Wright Mills, The Sociological Imagination, New York / London: Oxford University Press 1959.
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IV. Der Neubeginn der empirischen Sozialforschung
stand eine neue Richtung, die sich gegen die Mentoren jenseits des Atlantik wandte. Die sechziger Jahre warfen ihre Schatten voraus. Die Argumente zur gesellschaftlichen Platzierung der Soziologie in einer Welt der Konflikte und Widersprüche forderten die Humanisierung der Gesellschaft. Mit den Mitteln der Soziologie, wie sie aus den USA übernommen sei, sei dies nicht möglich. Der Kulturtransfer sei kein Allheilmittel mehr gegen die Entfremdung, die in der Welt des Kalten Krieges ein Engagement der Soziologen notwendig mache. Nicht einmal Max Webers Postulat der Wertfreiheit wäre ein Ausweg. Webers Wissenschaftsverständnis schien kein Bollwerk gegen den Mangel an Humanität der zeitgenössischen Gesellschaft. Nach dem Nationalsozialismus solle es willfährige Soziologen nie mehr geben. Gerade die „amerikanischen Importe“, die den Neubeginn in der Demokratie gestaltet hatten, schienen den gesellschaftspolitischen Auftrag der Soziologie zu gefährden. Am Ende der fünfziger Jahre sollten die „Menschen in der Gesellschaft“ wieder im Mittelpunkt stehen – was Dahrendorf den eigentlichen Gegenstand der Soziologie nannte.
V. EIN JAHRZEHNT DER NEUEN KRITIK Die Soziologie in den sechziger Jahren EINLEITUNG Die sechziger Jahre sind für manche, die dies beurteilen, kein Jahrzehnt der dramatischen Veränderungen gewesen. In den achtziger Jahren wollte Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland1 durch Beiträge zum Kontinuitätsproblem zeigen, dass das Jahr 1945 ein „Abbruch“ war und der Wiederaufbau und der „Neuanfang von 1950“ ein Auftakt wurde.2 Die sechziger Jahren hätten diese Reformen und Wandlungen nur fortgesetzt.3 Aber manche jüngeren Darstellungen sehen einen Bruch zwischen dem „Gründungsjahrzehnt 1949 – 1959“, einer Ära von „Wiederaufbau und Verwestlichung“, und der „zweiten formativen Phase 1959/60 – 1973“, einer Ära von „Dynamik und Liberalisierung“.4 In der Soziologiegeschichte wurden die sechziger Jahre zur Achsenzeit einer intellektuellen Gründung der Bundesrepublik erklärt.5 Friedrich Tenbruck und seine Mitautoren schilderten in den späten neunziger Jahren, inwiefern die „Frankfurter Schule“ bei der „Vergangenheitsbewältigung eine Daueraufgabe“6 im Selbstverständnis der Westdeutschen erfüllt habe. Die Kritische Theorie, insbesondere Max Horkheimer, Theodor W. Adorno und Herbert Marcuse, hätte(n) seit der Rückkehr des Instituts für Sozialforschung aus dem Exil immer wieder hervorgehoben: Die Demokratie der Bundesrepublik sei keinesfalls gesichert, solange „die Defizite des deutschen Sonderwegs …, die den Nationalsozialismus ermöglicht hatten“, noch im Bewusstsein der Deutschen wirkten. Der Appell der „Frankfurter Schule“ sei gewesen, den status quo der spätkapitalistischen Gesellschaft nicht hinzunehmen. 1 2 3
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Werner Conze und M. Rainer Lepsius (Hrsg.), Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Beiträge zum Kontinuitätsproblem, Stuttgart: Klett-Cotta 1983. Siehe etwa: Detlef Bald, Von der Wehrmacht zur Bundeswehr. Kontinuität und Neubeginn, in: Conze / Lepsius (Hrsg.), Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, pp. 387 – 409. Der Kontinuitätsgesichtspunkt hinsichtlich der Bundesrepublik seit ihrer Gründung und die Diskontinuität gegenüber dem Nationalsozialismus und im Vergleich zur DDR stehen im Mittelpunkt auch der folgenden Werke: Gerhard A. Ritter, Über Deutschland. Die Bundesrepublik in der deutschen Geschichte, München: C.H. Beck 1998; Peter Graf Kielmansegg, Nach der Katastrophe. Eine Geschichte des geteilten Deutschland, Berlin: Siedler 2000. So Edgar Wolfrum, Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart: Klett-Cotta 2006. Clemens Albrecht, Günter C. Behrmann, Michael Bock, Harald Homann, Friedrich H. Tenbruck, Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Eine Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule, Frankfurt/New York: Campus 1999. Michael Bock, Metamorphosen der Vergangenheitsbewältigung, in: Clemens Albrecht et al., Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik, pp. 530 – 566, cit. p. 552; dort auch die nächsten zwei Zitatstellen.
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V. Ein Jahrzehnt der neuen Kritik
Vielmehr habe die Kritische Theorie ein neues Selbstverständnis der Nation schaffen wollen: „So erhielten die Sozialwissenschaften die Definitionsmacht über den noch anstehenden Bewältigungsbedarf und die Maßnahmen zu seiner Deckung“. Tenbruck und seine Mitautoren blickten auf die sechziger Jahre, als hätte man damals wegen der immer noch drohenden Gefahr des Faschismus zu tiefgreifenden Wandlungen von Gesellschaft und Kultur aufgerufen, zu denen jedermann jederzeit fähig und bereit sein müsse: „In diesem Prozeß der Renationalisierung durch Vergangenheitsbewältigung spielt die Frankfurter Schule nicht allein durch die universalisierbaren sozialpsychologischen Theorien eine Rolle, sondern auch durch die Tatsache, daß Horkheimer und mehr noch Adorno zu den dezidierten Verteidigern des humanistischen Erbes der deutschen idealistischen Philosophie zählen. Als Juden, Remigranten, Sozialwissenschaftler und Linksintellektuelle gab es neben ihnen kaum andere Intellektuelle, die glaubwürdiger in der Rehabilitierung deutscher geistiger Traditionen waren“.7 In den sechziger Jahren lag der Schwerpunkt der Debatten allemal nicht nur auf dem Verhältnis der Bundesrepublik zur nationalsozialistischen Vergangenheit. Jedenfalls war auch eine Zukunft der Reformen oder möglicherweise der Revolution ein Anliegen der Theorie der Gesellschaft. Auch sehr junge Autoren – in Diskussionspapieren und oft ihren Dissertationen – distanzierten sich von den Lehrmeinungen und waren überzeugt, nur eine Kritik an der Soziologie schaffe überhaupt die Ausgangslage einer zeitgemäßen – ihrem Emanzipationsauftrag entsprechenden – Sozialwissenschaft. So schrieb Bernhard Schäfers, damals Wissenschaftlicher Assistent in der Soziologischen Abteilung des Zentralinstituts für Raumplanung an der Universität Münster, in der von ihm herausgegebenen Sammlung Thesen zur Kritik der Soziologie: „[D]er einst für die Soziologie, für ihr Entstehen und für ihre Entwicklung konstitutive Impuls, die Bedingungen und die Möglichkeiten des menschlichen und sozialen Fortschritts am Bestehenden selbst deutlich zu machen, [ist] weitgehend verloren gegangen. Das gilt für alle gegenwärtig vorherrschenden Richtungen der Soziologie in Deutschland, ausschließlich der der Frankfurter Schule“.8 Die Kritik richtete sich vor allem gegen die amerikanische Soziologie – insbesondere Parsonsʼ Systemdenken.9 Zu Parsons und der Soziologie Auguste Comtes und Herbert Spencers, zwei Richtungen der Gesellschaftstheorie, die angeblich denselben Ansatz vertraten, so wurde des weiteren
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Clemens Albrecht, Die Dialektik der Vergangenheitsbewältigung oder: Wie die Bundesrepublik eine Geschichtsnation wurde, ohne es zu merken, in: Clemens Albrecht et al., Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik, pp. 567 – 592, cit. p. 571. Bernhard Schäfers, Fortschritt der Gesellschaft und Fortschritt der Soziologie, in: Ders. (Hrsg.), Thesen zur Kritik der Soziologie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1969, pp. 151 – 174, cit. p. 152. Die im Jahr 1965 durch Wolfgang Abendroth an der Universität Marburg betreute Dissertation von Joachim Ernst Bergmann, Die Konzeption des sozialen Gleichgewichts in der soziologischen Theorie von Talcott Parsons wurde im Jahr 1967 mit einem Vorwort Adornos als Band 20 in die Reihe Frankfurter Beiträge zur Soziologie aufgenommen. Die dort dargelegten Interpretationen der Schriften Parsonsʼ waren sachlich falsch, wurden indessen durch die Leser nicht bezweifelt, die bereit waren zu glauben, in Parsonsʼ Systemdenken spiegele sich ein gesellschaftlicher Faschismus.
Einleitung
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nachgewiesen, hieß es, dort herrsche ein Ordnungsdenken vor.10 Die Philosophie Georg Wilhelm Friedrich Hegels sei die bessere Gesellschaftsanalyse auch in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts.11 Die politische Ökonomie Karl Marxʼ, so lautete eine weit verbreitete Überzeugung, sei wohl der beste Ausgangspunkt für eine fortschrittliche Soziologie.12 Man muss die Aufbruchsstimmung der sechziger Jahre ins Gedächtnis rufen. Die junge Generation der Soziologen forderte eine Kritik an ihrem Fach ein, um den Wandel der zeitgenössischen Gesellschaft(en) zu verstehen. Die Debatten der sechziger Jahre drehten sich um drei Themen. Wissenschaftsbegriff: Die Arbeitstagung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie vom 19. – 21. Oktober 1961 in Tübingen war der Auftakt für die Auseinandersetzungen über Wertfreiheit und Rationalität, wie sie am Ende des Jahrzehnts im Sammelband unter dem Stichwort Positivismusstreit nachzulesen waren. Theorie(n): Vier neue Ansätze gingen von Deutschland aus und werden bis heute weltweit rezipiert. Niklas Luhmann entwickelte seine funktional-strukturelle Theorie der gesellschaftlichen Organisation(en) aus seinem Verständnis der Parsonsʼschen Systemtheorie. Jürgen Habermas entwickelte eine marxistische Kommunikationsanalyse aus seinem Verdikt der Sozialtechnologie. Ralf Dahrendorf entwickelte ein Szenario der gesellschaftlichen Chancenstrukturen aus seinem Plädoyer für Freiheit jenseits aller soziologischen Theorie(n). Thomas Luckmann entwickelte das Theorem der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit aus 10 Paul Kellermann, Kritik einer Soziologie der Ordnung. Organismus und System bei Comte, Spencer und Parsons, Freiburg im Breisgau: Rombach 1967. Kellermann hatte am Institut für Sozialforschung studiert und promovierte mit dieser Arbeit an der Universität Tübingen bei Ralf Dahrendorf. 11 Die im Jahr 1963 durch Adorno an der Universität Frankfurt betreute Dissertation von Oskar Negt Strukturbeziehungen zwischen den Gesellschaftslehren Comtes und Hegels wurde als Band 14 in die Frankfurter Beiträge zur Soziologie aufgenommen. Im Jahr 1974 erschien die Arbeit unverändert – nur ergänzt durch einen Aufsatz, der die Geltung der These des Buches auch für die Soziologie Vilfredo Paretos, Émile Durkheims und anderer klassischer Autoren hervorhob – unter neuem Titel: Negt, Die Konstitutierung der Soziologie zur Ordnungswissenschaft, Frankfurt a. M.: Europäische Verlagsanstalt 1974. 12 Der Rückgriff auf Marx und das Bekenntnis zum Marxismus waren offensichtlich etwa in den folgenden Arbeiten: Roman Rosdolski, Zur Entstehungsgeschichte des Marxʼschen ‚Kapitalʻ I, Frankfurt a. M.: Europäische Verlagsanstalt 1968; Sebastian Herkommer, Zur Politisierung technischer Intelligenz, Sozialistische Politik, (Teil I:) Bd. 1, Heft 3, 1969, pp. 2 – 13, (Teil II:) Heft 4, pp. 65 – 80; Michael Mauke, Die Klassentheorie von Marx und Engels, herausgegeben von Kajo Heymann, Frankfurt a. M.: Europäische Verlagsanstalt 1970; Alfred Sohn-Rethel, Geistige und körperliche Arbeit. Zur Theorie der gesellschaftlichen Synthesis, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1970; Frank Deppe (Hrsg.), Die neue Arbeiterklasse. Technische Intelligenz und Gewerkschaften im organisierten Kapitalismus., Frankfurt a. M.: Europäische Verlagsanstalt 1970; Claus Offe, Leistungsprinzip und industrielle Arbeit. Mechanismen der Statusverteilung in Arbeitsorganisationen der industriellen „Leistungsgesellschaft“, Frankfurt: Europäische Verlagsanstalt 1970; Helmut Reichelt, Zur logischen Struktur des Kapitalbegriffs bei Karl Marx, Frankfurt a. M.: Europäische Verlagsanstalt 1970; Wolf Lepenies, Helmut Nolte, Kritik der Anthropologie, München: Hanser 1971; Kajo Heymann, Bürokratisierung der Klassenverhältnisse im Spätkapitalismus, in: Gesellschaftsstrukturen, herausgegeben von Klaus Meschkat und Oskar Negt, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1973, pp. 92 – 112.
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V. Ein Jahrzehnt der neuen Kritik
Arnold Gehlens und Helmuth Plessners Anthropologie, wobei Alfred Schütz gewürdigt werden sollte. Max Weber: Dem Marxismus, der die siebziger Jahre beherrschen sollte, und dem Konstruktivismus, der in den achtziger Jahren en vogue werden sollte, ging in den sechziger Jahren – langfristig letztlich erfolgreich – der Versuch voraus, Max Webers Denken in der deutschen Soziologie wieder heimisch zu machen. Die werkgetreue Rezeption der methodologisch begründeten Sozialwissenschaft Webers sollte wieder möglich sein. Der Vorwurf der beliebig manipulierbaren Begrifflichkeit musste entkräftet, und der Makel der angeblich konservativen Politikpräferenz musste von Weber abgewaschen werden. Beides leistete bekanntlich der Fünfzehnte Deutsche Soziologentag in Heidelberg im Jahr 1964. Ihm folgte die Gründung der Max-Weber-Gesellschaft in München, und damit war der Weg zur Gesamtausgabe der Werke Webers durch die Bayerische Akademie der Wissenschaften geebnet. Die Studie hat vier Teile. Teil I behandelt die Frage, wie die Methodologie der Sozialwissenschaften – mit den Kernthemen der „Objektivität“ und der „Wertfreiheit“ – zum heiß umkämpften Terrain zwischen mehr oder minder antagonistischen „Schulen“ werden konnte. Kulminationspunkt der Debatten war der Soziologentag 1968, der das Thema Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft? hatte. Am Ende der Dekade stand die Gründung des Bundes Freiheit der Wissenschaft, dem sich auch Soziologen anschlossen, wodurch die Szene in zwei regelrechte Lager zerfiel. Diese Auseinandersetzungen standen teilweise im Hintergrund, als vier neue und bis heute einflussreiche Ansätze entstanden. Teil II schildert diese Theorien, die sämtlich nicht an Weber anknüpften. Teil III enthält dazu das Kontrastprogramm: Durch Zusammenarbeit zwischen einigen amerikanischen und deutschen Kollegen gelang es, das methodologische Programm Webers vor dem Zeitgeist der sechziger Jahre zu retten. Allerdings wurden dabei die Kritische Theorie und allemal der Marxismus nachhaltig entwertet. Teil IV fragt zusammenfassend nach dem Neuen des Jahrzehnts. Was entsprach der Demokratisierung und dem gesellschaftlichen Aufbruch (Frese/Paulus/Teppe)? Welche Wandlungsprozesse (Herbert) dieser dynamischen Zeiten (Schildt) wurden denn für die Soziologie zum Meilenstein ihres Gesellschaftsverständnisses? Die Antwort ist eher ernüchternd: Die sechziger Jahre stellten vor allem die Verbindung zu den (heute) klassischen Theorien erst einmal (wieder) her – zu Karl Marx und Émile Durkheim ebenso wie Georg Simmel, Alfred Schütz und vor allem Max Weber.
1. DER LANGE SCHATTEN DES POSITIVISMUS Otto Stammer, der Vorsitzende der DGS, eröffnete die Tübinger Arbeitstagung im Oktober 1961 mit dem Eingeständnis, dass der vierzehnte Soziologentag des Jahres 1959 vielerorts Unzufriedenheit hinterlassen habe: „Bestärkt durch organisationspolitische Meinungsverschiedenheiten in der DGS, hinter denen sich in einigen Fällen Auffassungsunterschiede in der Beurteilung der gegenwärtigen geschichtlich-gesellschaftlichen Situation, der ‚Standortbestimmungʻ und des künftig einzuschlagenden Weges der deutschen Soziologie abzeichneten, hatte sich … der Ein-
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druck verbreitet, daß die in einer großen Vereinigung wie der DGS durchaus verständlichen wissenschaftstheoretischen Gegensätze auf den Veranstaltungen der Gesellschaft nicht offen ausgetragen wurden“.13 Die im Frühjahr 1961 erschienene Denkschrift zur Lage der Soziologie und der Politischen Wissenschaft14, die eine zehnköpfige Kommission im Auftrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft vorbereitet hatte, hatte wenig zur Klärung von wissenschaftstheoretischen Fragen beigetragen.15 Stammer erklärte in der Kölner Zeitschrift: „Die für die Tübinger Arbeitstagung Verantwortlichen gingen von der Überzeugung aus, dass diese Selbstbesinnung [über den Standort und die künftigen Wege der Soziologie] gefördert werden kann, wenn die Deutsche Gesellschaft für Soziologie dazu beiträgt, die wissenschaftliche Kommunikation in ihren eigenen Reihen zu verbessern und in sachbezogener, kritischer Auseinandersetzung zu beleben“.16 Die beiden Referenten des ersten Tages der Arbeitstagung sprachen zur „Grundsatzdiskussion“17 und behandelten die „wissenschaftstheoretisch-methodologische Problematik der Soziologie“ – Karl R. Popper, der aus London angereist war, und Adorno mit seinem Koreferat. Stammer resümierte in der Kölner Zeitschrift, wo die beiden Vorträge abgedruckt wurden: „Leider entsprach die Diskussion zu diesem wichtigen Thema, die von Ralf Dahrendorf geleitet wurde, nicht den von vielen Seiten an sie geknüpften Erwartungen“.18 13 Interne Arbeitstagung der deutschen Gesellschaft für Soziologie, Einführung von Otto Stammer, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Bd. 14, 1962, pp. 229 – 232, cit. pp. 229 – 230. 14 Denkschrift zur Lage der Soziologie und der Politischen Wissenschaft. Im Auftrage der Deutschen Forschungsgemeinschaft verfasst von Dr. M. Rainer Lepsius, Wiesbaden: Franz Steiner Verlag 1961. 15 Der Kommission gehörten für die Soziologie Helmuth Plessner, Helmut Schelsky und Otto Stammer an und für die Politische Wissenschaft Arnold Bergstraesser, Theodor Eschenburg und Otto von der Gablentz. Ferner waren der Psychologe Peter Hofstätter, die Nationalökonomin Elisabeth Liefmann-Keil, für die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Friedrich Lütge und für die Rechts- und Sozialphilosophie Werner Maihofer in die Kommission berufen. Zum „Wissenschaftscharakter“ der Soziologie hieß es lapidar im Vorspann der Denkschrift: „Die Soziologie ist eine systematisch-empirische Einzelwissenschaft, die die Struktur- und Bewegungsprinzipien der Gesellschaft in ihrer interdependenten Verbundenheit mit der Kultur und der Persönlichkeit des Menschen untersucht. Sie distanziert sich von impressionistischer Kulturund Zeitkritik ebenso wie von spekulativer Sozial- und Geschichtsphilosophie“. (p. 5) Die Empfehlungen in der Denkschrift gingen in die Richtung großzügigen Ausbaus der soziologischen Institute und Seminare. Zum Verhältnis von „Grundlagenforschung“, „Gegenwartsforschung“ und „angewandter Forschung“ wurde gesagt: „Das in der Öffentlichkeit bestehende Bedürfnis nach Gegenwartsforschung und Analyse aktueller gesellschaftspolitischer Fragen führt bei andauernder Vernachlässigung der Grundlagenforschung zu einer bedenklichen Diskrepanz zwischen den Ansprüchen der Öffentlichkeit und der Leistungsfähigkeit der Soziologie. Ein daraus etwa erwachsender Druck auf die Soziologie, zu aktuellen Fragen Stellung zu nehmen, ohne dafür über ausreichende theoretische Grundlagen und faktische Kenntnisse zu verfügen, müsste für die Entwicklung der Soziologie zu einer ernsten Gefahr werden“. (pp. 46 – 47) Was dies hinsichtlich des eingangs festgestellten „Wissenschaftscharakters“ bedeutete, blieb offen. 16 Stammer, Einführung, pp. 230 – 231. 17 Ibid., p. 230; dort auch die nächste Zitatstelle. 18 Ibid., p. 231.
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Poppers Vortrag Die Logik der Sozialwissenschaften stellte fünfundzwanzig holzschnittartige Thesen vor den Hintergrund, dass zum einen bereits breite Wissensbestände vorhanden seien und doch zum anderen die Unwissenheit grenzenlos sei. Etwa: „Siebente These: Die Spannung zwischen Wissen und Nichtwissen führt zum Problem und zu den Lösungsversuchen. Aber sie wird niemals überwunden“.19 Sein Fazit: „[O]bwohl wir unsere Theorien nicht rational rechtfertigen und nicht einmal als wahrscheinlich erweisen können, so können wir sie rational kritisieren. Und wir können bessere von schlechteren unterscheiden“20 – dies letztere, so Popper, mittels „logischer Begriffe, die der Beurteilung unserer Theorien zugrunde liegen und uns erlauben, in bezug auf wissenschaftliche Theorien sinnvoll von Fortschritt oder Rückschritt zu sprechen“.21 Mit derartigen Allgemeinplätzen hatte Adorno im Koreferat ein leichtes Spiel. Er konnte Popper erst einmal loben, ehe er ihn kritisierte: „Mit allem, was Popper gegen die falsche Transposition naturwissenschaftlicher Methoden, gegen den ‚verfehlten und missverständlichen Naturalismus oder Szientivismusʻ sagt, bin ich einverstanden“.22 Und dann: „In meiner Zustimmung zu Poppers Kritik am Szientivismus und seiner These vom Primat der Probleme muß ich vielleicht weitergehen, als er es billigt. Denn der Gegenstand der Soziologie selbst, Gesellschaft, die sich und ihre Mitglieder am Leben erhält und zugleich mit dem Untergang bedroht, ist Problem im emphatischen Sinn. … Der Widerspruch muß nicht, wie Popper hier wenigstens supponiert, ein bloß ‚anscheinenderʻ zwischen Subjekt und Objekt sein, der dem Subjekt allein als Insuffizienz des Urteils aufzubürden wäre. Vielmehr kann er höchst real in der Sache seinen Ort haben und keinesfalls durch vermehrte Kenntnis und klarere Formulierung aus der Welt sich schaffen lassen“.23 Kritik in der Soziologie, „welche vor der Realität haltmacht“24, sei unbefriedigend: „Denn Erkenntnis … muß übergehen zur Kritik des soziologischen Objekts“. Damit war „die Frage nach der wissenschaftlichen Objektivität“25 gestellt, die bei Popper, wie Adorno unterstrich, „wie einst in Max Webers berühmtem Aufsatz mit der nach der Wertfreiheit“ verknüpft sei. Indessen sei „die Disjunktion von Objektivität und Wert … nicht so bündig, wie es bei Max Weber sich liest“, so Adorno: „Das gesamte Wertproblem, welches die Soziologie und andere Disziplinen wie einen Ballast mitschleppen, ist demnach falsch gestellt. … Die Gesellschaft, auf deren Erkenntnis Soziologie schließlich abzielt, wenn sie mehr sein will als eine bloße Technik, kristallisiert sich überhaupt nur um eine Konzeption von richtiger Gesellschaft“.26 Das abschließende Monitum: „Der Verzicht der Soziologie auf eine kritische Theorie 19 Karl R. Popper, Die Logik der Sozialwissenschaften, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Bd. 14, 1962, pp. 233 – 248. 20 Ibid., p. 248. 21 Ibid., p. 245. 22 Theodor W. Adorno, Zur Logik der Sozialwissenschaften, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Bd. 14, 1962, pp. 249 – 262, cit. p. 251. Die Kursivschreibung der Namen in den Zitaten aus der Kölner Zeitschrift entspricht dem Original. 23 Ibid., p. 252. 24 Ibid., p. 257; dort auch die nächste Zitatstelle. 25 Ibid., p. 259; dort auch die nächsten zwei Zitatstellen. 26 Ibid., p. 260.
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der Gesellschaft ist resignativ: Man wagt das Ganze nicht mehr zu denken, weil man daran verzweifeln muß, es zu verändern“.27 Den nächsten Schritt tat Jürgen Habermas, damals junger Ordinarius der Philosophie in Heidelberg, in Zeugnisse, der Festschrift zum sechzigsten Geburtstag Adornos im Jahr 1963. Habermasʼ Essay Analytische Wissenschaftstheorie und Dialektik verstand sich als Nachtrag zur Kontroverse zwischen Popper und Adorno.28 Daran war zweierlei bemerkenswert. Zum einen sprach Habermas als erster von einer „Kontroverse zwischen Popper und Adorno“ – wobei Adorno (namentlich im Beitrag zur Tübinger Arbeitstagung) zustimmend zitiert und Popper anhand seiner Arbeiten seit den dreißiger Jahren kritisch beurteilt wurde. Das Verdikt Habermasʼ erfasste die Werke Poppers von Logik der Forschung (1934) bis hin zur während der Vorbereitung der zweiten Auflage von The Open Society and Its Enemies (1951) verfassten Abhandlung, wo die Dialektik lediglich als eine Methode galt. Zum anderen setzte Habermas neue Maßstäbe der dialektischen Theorie. Zur Begründung des (für ihn einzig verbindlichen) dialektischen Verständnisses der Totalität der historisch möglichen, humanen Gesellschaft verwies Habermas auf die Hermeneutik. Er sprach von einer „natürlichen Hermeneutik der sozialen Lebenswelt“.29 Er bezog sich auf Ludwig Wittgensteins Sprachtheorie, um den Primat der Lebensprobleme vor aller wissenschaftlichen Analyse zu unterstreichen.30 So könne die dialektische Theorie, wofür Habermas eintrat, auf die Gegenwart und ihre Probleme bezogen werden. Dabei, so Habermas, verlaufe eine scharfe Grenze zwischen der positivistischen und der dialektischen Gesellschaftstheorie – eine Grenze, die sich anhand der Begriffsbildungen der Forschung und der Setzungen der Forschungslogik nachzeichnen lasse. Gegen Webers Postulat der Wertfreiheit sei festzuhalten, dass bereits Hans Freyer im Jahr 1930 überzeugend eine Konzeption der Wirklichkeitswissenschaft 27 Ibid., pp. 262 – 263. 28 Jürgen Habermas, Analytische Wissenschaftstheorie und Dialektik. Ein Nachtrag zur Kontroverse zwischen Popper und Adorno, in: Max Horkheimer (Hrsg.), Zeugnisse. Festschrift für Theodor W. Adorno, Frankfurt a. M.: Europäische Verlagsanstalt 1963, pp. 473 – 501, zitiert nach: Ernst Topitsch (Hrsg.), Logik der Sozialwissenschaften, 2. Auflage, Köln und Berlin: Kiepenheuer und Witsch 1965, pp. 291 – 311. 29 Habermas, Analytische Wissenschaftstheorie und Dialektik, p. 293. In der Anmerkung dazu stand zu lesen: „Im Anschluß an Diltheys und Husserls Begriff der ‚Lebensweltʻ rettet Alfred Schütz einen positivistisch noch nicht beschnittenen Begriff von Erfahrung für die Methodologie der Sozialwissenschaften, in: A. Schütz, Collected Papers, Den Haag 1962, Teil I, S. 4 ff.“ (p. 311). 30 Ibid., p. 301. Habermas berief sich auf Wittgenstein, um gegen „das Postulat der sogenannten Wertfreiheit“ (p. 300) zu polemisieren, welches diktiere: „Praktische Fragen, die sich auf den Sinn von Normen beziehen, sind wissenschaftlich unentscheidbar; Werturteile können legitimerweise niemals die Form theoretischer Aussagen annehmen oder mit ihnen in einen logisch zwingenden Zusammenhang gebracht werden.“ Dies bestätige Wittgensteins Sprachtheorie, der festgestellt hatte, so Habermas, durch die wissenschaftlichen Aussagen, die einer Logik der Aussagen genügten, sei nichts über die Wirklichkeit des Lebens ausgesagt, was indessen entscheidend für die dialektisch verstandene Gesellschaftstheorie sei: „Aus diesem Postulat der Wertfreiheit zieht Wittgensteins klassischer Satz die Konsequenz: ‚Wir fühlen, dass selbst wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sindʻ.“ (p. 301)
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vertreten habe, wo die Einheit von Geschichte und Gesellschaft im Sinne einer geschichtsphilosophischen Gesetzlichkeit zu erkennen sei; der Kritik Freyers sei nichts hinzuzufügen: „Gesellschaft enthüllt sich in den Tendenzen ihrer geschichtlichen Entwicklung, also in den Gesetzen ihrer historischen Bewegung erst von dem her, was sie nicht ist[.] … Nur derart in praktischer Absicht können die Sozialwissenschaften historisch und systematisch zugleich verfahren, wobei freilich diese Absicht aus demselben objektiven Zusammenhang, dessen Analyse sie erst ermöglicht, auch ihrerseits reflektiert werden muß: diese Legitimation unterscheidet sie gerade von den subjektiv willkürlichen ‚Wertbeziehungenʻ Max Webers“.31 Die Gegenstimme kam von Ernst Topitsch. Für die zweite Auflage des von ihm herausgegebenen Sammelbandes Logik der Sozialwissenschaften im Jahr 1965 verfasste Topitsch einen Originalbeitrag, um die Sprachtheorie, die zur Wissenschaftslogik zu rechnen sei, vor der Vereinnahmung durch die dialektische Lehre à la Habermas zu schützen.32 Topitschs Sprachlogische Probleme der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung begann mit der Aussage: „Die Tatsache, daß Sozialtheorien – der Ausdruck sei hier in weitestem Sinne genommen – sprachliche Gebilde sind und daß derartige Gebilde ihrerseits mit dem gesellschaftlichen Verhalten der Menschen eng verbunden sind“33, sei bisher nicht genügend beachtet worden. „Die Sprache im Zusammenhang noch elementarerer Formen der Orientierung von Lebewesen in ihrer Umwelt“34 habe bei den Menschen eine lebenswichtige Funktion. Das habe die Wissenschaftstheorie zu wenig beachtet; Sprachformen seien seit Jahrtausenden ein Medium des Kampfes zwischen den Kulturen und den Religionen gewesen: „[S]ie haben sich im Dienste des Gottesgnadentums ebenso brauchbar gezeigt wie zur Rechtfertigung des liberalen Glaubens an die notwendige Harmonie der freien Marktwirtschaft oder des marxistischen an den durch das dialektische Geschichtsgesetz garantierten Endsieg des Proletariats“.35 Vor diesem Hintergrund müsse man den quasi-wissenschaftlichen Theorien entgegen treten, die aus sprachlichen Leerformeln bestünden. Die Sprache erlaube eben auch Aussagen, die empirisch nicht auf Tatsachen zu beziehen seien – so etwa die Unterscheidung 31 Ibid., p. 297. Zwischen den beiden Teilen dieser Zitatstelle wurde das folgende Zitat aus Hans Freyers Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft (1930, p. 304) wörtlich wiedergegeben: „Jeder Strukturbegriff der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung setzt voraus, dass ein bestimmter Wille, diese Sozialstruktur künftig umzubilden, ihr diese oder jene Entwicklungsrichtung zu geben, als geschichtlich gültig (d. i. wirksam) gesetzt oder anerkannt werde. Selbstverständlich ist und bleibt es etwas anderes, ob diese Zukunft praktisch gewollt, in ihrer Richtung tatsächlich gearbeitet, etwa Politik getrieben – oder ob sie als konstitutives Element der Theorie, als Hypothesis, verwendet wird.“ Habermas sah offenbar keinen Anlass, das in Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft dargelegte Erkenntnisinteresse Freyers zu monieren: Freyer hatte gegen Weber argumentiert, die Gesellschaft der Gegenwart – im Jahr 1930 – stehe in einem historischen Zusammenhang hin zu einer nicht mehr demokratischen Herrschaftsform – wozu die Soziologie, insofern sie eine „Ethoswissenschaft“ statt einer „Logoswissenschaft“ sei, durch ihr Wirklichkeitsverständnis engagiert beitragen müsse. 32 Ernst Topitsch, Sprachlogische Probleme der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung, in: Logik der Sozialwissenschaften, pp. 17 – 35. 33 Ibid., p. 17. 34 Ibid., pp. 17 – 18. 35 Ibid., p. 20.
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zwischen „Ariern“ und „Nichtariern“ im Nationalsozialismus: „Es zeigte sich also, daß die Begriffe des ‚Ariersʻ und des ‚Nichtariersʻ vom Nationalsozialismus nicht zur wertfreien Darstellung empirischer Sachverhalte benützt wurden, sondern ihm als Leerformeln dienten, die – abgesehen von dem ständigen Kampf gegen das Judentum – nach Gesichtspunkten der jeweiligen politischen Zweckmäßigkeit zur Auf- und Abwertung verschiedener Völker Verwendung fanden“.36 Gegenüber „der Dialektik und ihrem bis in archaische Mythen zurückreichenden geistesgeschichtlichen Hintergrund“37 sei ein vernichtendes Urteil zu sprechen. Habermasʼ Nachtrag zur Kontroverse zwischen Popper und Adorno, so Topitsch, sei dafür ein Beispiel: „[D]as dialektische Schema von ‚Fallʻ (Entäußerung, Entfremdung, Verdinglichung, Zerrissenheit usw.) und ‚Erlösungʻ [steht] jedem politischen Willen zur Verfügung, der sich seiner bedienen will. Man kann jede negativ bewertete – vergangene oder bestehende – Sozialordnung als Zustand des Gefallenseins, jede positiv bewertete – bestehende oder erwünschte – als schon erreichte oder in Zukunft notwendig eintretende Überwindung des ‚Fallesʻ interpretieren. Die kurze Zeitspanne seit Hegel und Marx bietet eine höchst eindrucksvolle Fülle von Beispielen derartiger Manipulationen“. Topitsch polemisierte gegen Habermasʼ Polemik gegen Popper, anstatt dagegen zu argumentieren. Bereits im Jahr 1964 hatte Hans Albert, um die analytische Wissenschaftstheorie gegen ihre Widersacher zu verteidigen, eine Replik auf Habermasʼ „Nachtrag“ in der Kölner Zeitschrift unter den Titel gestellt: Der Mythos der totalen Vernunft.38 Habermas schrieb daraufhin eine Replik gegen Albert, Gegen einen positivistisch halbierten Rationalismus. Erwiderung eines Pamphlets.39 Er identifizierte Albert mit Popper: „Albert wähnt sich durch den Hinweis auf Poppers Kritik am Instrumentalismus jedes eigenen Arguments gegen meine Interpretation, die er nicht einmal wiedergibt, enthoben“.40 Gegen die positivistische Lehrmeinung helfe ein Rekurs auf die Sprache. Das Kommunikationstheorem, so Habermas, sei durch eine dialektische Gedankenführung – nicht durch „empirisch-analytische Forschungen“ – zu klären: „Die mühsamen Prozesse des Immer-wieder-neu-sichIdentifizierens kennen wir aus Hegels Phänomenologie des Geistes wie aus Freuds Psychoanalyse: Das Problem einer Identität, die nur durch Identifikationen, und das heißt nur durch Entäußerung der Identität hergestellt werden kann, ist zugleich das Problem einer Kommunikation, die die glückliche Balance zwischen sprachlichem Einssein und sprachloser Entfremdung, zwischen der Aufopferung der Individualität und der Isolierung des abstrakten Vereinzelten ermöglicht. … Dies ist der empirische Kern der logischen Form von Identität. In der Evolution des Bewusstseins 36 Ibid., p. 29. 37 Ibid., p. 30; dort auch die nächste Zitatstelle. 38 Hans Albert, Der Mythos der totalen Vernunft. Dialektische Ansprüche im Lichte undialektischer Kritik, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Bd. 16, 1964, pp. 225 – 256. 39 Jürgen Habermas, Gegen einen positivistisch halbierten Rationalismus. Erwiderung eines Pamphlets, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Bd. 16, 1964, pp. 635 – 659. 40 Ibid., p. 643.
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stellt sich das Identitätsproblem zugleich als Problem des Überlebens und der Reflexion. Von ihm hat einst die dialektische Philosophie ihren Ausgangspunkt genommen“.41 Die abschließende Kritik war vernichtend: „Auf diesem Wege fördert man allenfalls einen Ethnozentrismus wissenschaftlicher Subkulturen, der die Offenheit wissenschaftlicher Kritik zerstört“42 – wobei Habermas hinzufügte, ihm werde seine eigene Schärfe durch die Gegenseite aufgezwungen, nämlich „vom Gang der Diskussion vorgeschrieben“. Im Rundumschlag gegen das solchermaßen gekennzeichnete positivistische Verständnis verfasste Habermas im Frühjahr 1966 die Abhandlung Zur Logik der Sozialwissenschaften43, die als Beiheft der Philosophischen Rundschau im Jahr 1967 erschien.44 Das Panorama der zeitgenössisch aktuellen Theoreme zu den Methoden und der Methodologie der Sozialwissenschaften, das Habermas in seinem Traktat zeichnete, zeigte an jedem Ansatz den Denkfehler, der unübersehbar sei oder unwillkürlich sich einschleiche. Die Themen waren der Dualismus zwischen den Natur- und Geisteswissenschaften, die allgemeinen Theorien des sozialen Handelns, das Sinnverstehen in den empirisch-analytischen Handlungswissenschaften und einige jüngste Ansätze der „Soziologie als Gegenwartstheorie“. Im Schlussteil – „Offene Fragen“ – kam Habermas auf den Funktionalismus Parsonsʼ zu sprechen.45 Er schien den Parsonsʼschen Ansatz – als einzigen – zu41 Ibid., pp. 655 – 656. 42 Ibid., p. 657; dort auch die nächste Zitatstelle. 43 Jürgen Habermas, Zur Logik der Sozialwissenschaften, Philosophische Rundschau, Beiheft 5, Februar 1967. 44 Das Exemplar des Buches in meiner Bibliothek weist als Erscheinungort Hamburg-Berlin-Havanna aus, und nennt als Verlag den VERLAG ZERSCHLAGT DAS BÜRGERLICHE COPYRIGHT – offensichtlich ein so genannter Raubdruck der späten sechziger oder frühen siebziger Jahre. Zu den Raubdrucken als einer Besonderheit der politischen Kultur der späten sechziger Jahre siehe: Günter C. Behrmann, Zwei Monate Kulturrevolution, in: Clemens Albrecht et al., Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik, pp. 312 – 386, insbes. pp. 373 – 381. 45 Er hatte an früherer Stelle seines Traktats Parsonsʼ Theorie bereits unter „Intentionales Handeln und stimuliertes Verhalten“ (zusammen mit Robert K. Merton) sowie unter „Drei Formen des Funktionalismus“ im Kapitel „Zur Methodologie allgemeiner Theorien des sozialen Handelns“ abgehandelt. Er hatte dort gegen Parsons ausgeführt, dieser setze auf „kommunikationsfreie Beobachtung“ als Quelle von Forschungsdaten, wogegen zu sagen sei: „Wenn wir in den Sozialwissenschaften auf intentionale Handlungen als Daten nicht verzichten wollen, dann ist das System der Erfahrung, in dem diese Daten zugänglich sind, die sprachliche Kommunikation und nicht die kommunikationsfreie Beobachtung.“ (p. 59) An späterer Stelle hatte er den Funktionalismus der Systemtheorie Parsonsʼ erläutert, der in „jüngeren Untersuchungen“ sich der „Sprache der Kybernetik“ bediene. (p. 84) Dabei würden „gesellschaftliche Organisationsbereiche wie lebende Organismen als selbstgeregelte Systeme“ verstanden und analysiert. (p. 85) Die Kritik daran sei indessen bereits von anderer Seite (nämlich „von positivistischer Seite“) geübt worden, worauf man nur hinzuweisen brauche – wobei er selbst offenbar sich mit der „positivistischen Seite“ einverstanden erklärte und mit ihren guten Gründen (was immer sie sein mochten) gegen Parsons übereinstimmte: „Wenn die Logik der Systemforschung in beiden Fällen übereinstimmt und die Ähnlichkeit von Organisation und Organismus unter dem Gesichtspunkt des Funktionalismus nicht trügt, dann hat Parsons die Bedingungen der Möglichkeit allgemeiner Theorien des sozialen Handelns dargetan. Das wird von positivistischer Seite mit guten Gründen bestritten.“ (p. 85)
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nächst gelten lassen zu wollen: „Die Grenzen der sprachverstehenden Soziologie verweisen uns wieder an den Funktionalismus. … Parsons hat einen differenzierten Rahmen für die funktionalistische Handlungstheorie ausgearbeitet“.46 Aber dann war doch nichts Positives zu sagen: „Man hat Parsons vorgeworfen, daß sich seine Arbeit in Begriffsfetischismus erschöpfe. Und wenn man seine Intention ernst nimmt, besteht in der Tat ein ridiküles Mißverhältnis zwischen der aufgetürmten Masse leerer kategorialer Gehäuse und dem schmächtigen empirischen Gehalt, den sie beherbergen“.47 Am Ende der tour de force durch die allesamt unbefriedigenden Lösungen des Methodologieproblems der Philosophie und der Soziologie stand Habermas in seinem Traktat zur Logik der Sozialwissenschaften vor einem Scherbenhaufen der überhaupt gangbaren Möglichkeiten. Erschöpft oder erschrocken wandte er sich zurück ins 18. Jahrhundert, um den Anspruch, eine adäquate Logik der Sozialwissenschaften sei möglich, nicht preisgeben zu müssen. Er hielt im Schlusssatz fest: „Damit erneuert sich das Problem jenes eigentümlichen Verhältnisses der Theorie zur Praxis, das sich seit dem 18. Jahrhundert gestellt hat, wo immer die Logik der Forschung die Intention der Aufklärung impliziert“.48 Das Großereignis der Auseinandersetzung zwischen den antagonistischen Positionen war der sechzehnte Soziologentag am 8. – 11. April 1968 in Frankfurt am Main. Das Thema – Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft?49 – hatte Adorno, in den Jahren 1963 – 1967 Vorsitzender der DGS und Vorsitzender des Vorbereitungskomittees, offensichtlich vorgeschlagen. Er begründete die Thematik in seinem Einleitungsvortrag, den er zum Auftakt des Soziologentages hielt.50 Da die Sowjetunion, so Adorno, eine industrielle Gesellschaft war, schien die Diagnose einer Annäherung der Gesellschaftsregimes in Ost und West plausibel. Aber man dürfe nicht verkennen, dass die irrationalen Herrschaftsverhältnisse weltweit dem Kapitalismus, der längst nicht überwunden war, zuzurechnen wären: „In Kategorien der kritisch-dialektischen Theorie möchte ich als erste und notwendig abstrakte Antwort vorschlagen, daß die gegenwärtige Gesellschaft durchaus Industriegesellschaft ist nach dem Stand ihrer Produktivkräfte. … Demgegenüber ist die Gesellschaft Kapitalismus in ihren Produktionsverhältnissen“.51 Die Produktionsverhältnisse waren das Primäre: „Die gegenwärtige Gesellschaft weist, trotz aller Beteuerungen des Gegenteils, ihrer Dynamik, des Anwachsens der Produktion, statische Aspekte auf. Sie rechnen den Produktionsverhältnissen zu. Diese sind nicht länger mehr allein solche des Eigentums, sondern der Administration, bis hinauf zur Rolle des Staates als des Gesamtkapitalisten“.52 Die Gegenwart bedeute eine akute Bedrohung der 46 47 48 49
Ibid., p. 192. Ibid., p. 193. Ibid., p. 195. Verhandlungen des 16. Deutschen Soziologentages, Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft? Im Auftrag der Deutschen Gesellschaft für Soziologie herausgegeben von Theodor W. Adorno, Stuttgart: Ferdinand Enke 1969. 50 Einleitung des Vorsitzenden des Vorbereitungskomitees, Theodor W. Adorno, in: Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft?, pp. 12 – 26. 51 Ibid., p. 18. 52 Ibid., p. 20.
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Menschheit – und somit des Menschseins – durch die Rüstungsindustrie auf beiden Seiten des eisernen Vorhangs: „Eingeschlossen von einem Horizont, in dem jeden Augenblick die Bombe fallen kann, hat noch das üppigste Angebot an Konsumgütern etwas von Hohn“.53 Es galt, die Gefahr zu erkennen, um ihr durch die Soziologie eine Vernunft entgegenzusetzen, wie sie Horkheimer und Adorno in Dialektik der Aufklärung am Ende des Nationalsozialismus angemahnt hätten: „Kein Standort außerhalb des Getriebes läßt sich mehr beziehen, von dem aus der Spuk mit Namen zu nennen wäre; nur an seiner eigenen Unstimmigkeit ist der Hebel anzusetzen. Das meinten Horkheimer und ich vor Jahrzehnten mit dem Begriff des technologischen Schleiers. Die falsche Identität zwischen der Einrichtung der Welt und ihren Bewohnern durch die totale Expansion der Technik läuft auf die Bestätigung der Produktionsverhältnisse hinaus, nach deren Nutznießern man mittlerweile fast ebenso vergeblich forscht, wie die Proletarier unsichtbar geworden sind“.54 Ralf Dahrendorf – als er das Gemeinschaftsreferat einer Gruppe junger Frankfurter kommentierte55 – ergriff am darauffolgenden Tag die Gelegenheit, Adornos Thesen zu diskutieren.56 Dahrendorf: „Wenn mich nicht alles täuscht, steckt methodisch sowohl hinter dem Referat von Herrn Adorno, als auch hinter dem von Herrn Brandt und anderen, eine Auseinandersetzung, die uns alle heute intensiv beschäftigt, nämlich die Auseinandersetzung um das Verhältnis von Theorie und Praxis. Die Frage ist, ob die soziologische Analyse so vorgenommen werden kann, daß sie Ansätze zur Veränderung der Wirklichkeit schon enthält“.57 Seine Gegenthesen: (1) Es sei nicht sicher, dass die ökonomischen Verhältnisse tatsächlich das entscheidende Moment jener gesellschaftlichen oder kulturellen Ungleichheit seien, die als Armut oder als Benachteiligung die politischen Aufgaben der Gegenwart anmahne; (2) Es sei unklar, was denn mit Herrschaftslosigkeit gemeint sei, wenn das Ziel wäre, jegliche gesellschaftliche Herrschaft zu überwinden; (3) Es sei möglich, dass neue Formen des Faschismus sogar in der Gegenwart entstünden, die nicht durch die Produktionsprozesse bestimmt wären; (4) Es sei erst zu klären, ob denn Veränderungen im menschlichen Bewusstsein überhaupt sinnvoll wären, wie sie zur Verwirklichung der Utopie einer herrschaftsfreien Gesellschaft wohl erwartet würden; (5) Es sei vernünftiger, menschlichere Formen der politischen Herrschaft zu diskutieren (und durch eigene Initiativen zu unterstützen) als die Überwindung jeglicher 53 Ibid., p. 22. 54 Ibid., p. 25. Adornos Schlusssatz: „Soll Soziologie, anstatt bloß Agenturen und Interessen willkommene Informationen zu liefern, etwas von dem erfüllen, um dessentwillen sie einmal konzipiert ward, so ist es an ihr, mit Mitteln, die nicht selbst dem universalen Fetischcharakter erliegen, das Ihre, seiʼs noch so Bescheidene, beizutragen, daß der Bann sich löse.“ (p. 26) 55 Unter dem Gesamtthema „Herrschaft, Klassenverhältnisse und Schichtung“ verfassten die Autoren Joachim Bergmann, Gerhard Brandt, Klaus Körber, Ernst Theodor Mohl und Claus Offe ein Gemeinschaftsreferat, wie das Programm auswies (das Referat wurde durch Brandt verlesen), und Dahrendorf hielt dazu anschließend ein Referat, wie es im Programm hieß. Im Anschluss an die beiden Vorträge erfolgte eine Diskussion, die im Tagungsbericht sechzehn Seiten füllte. 56 Ralf Dahrendorf, Herrschaft, Klassenverhältnis und Schichtung, in: Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft?, pp. 88 – 99. 57 Ibid., p. 90.
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Herrschaft zu fordern: „Und hier beginnen dann die Probleme, von denen ich meinen würde, daß auch ein Fachkongreß sie beantworten kann. Wie soll denn die Rekrutierung politischer Führer aussehen? … Sollen unsere Parlamente die Ausgaben der Regierungen im einzelnen beraten? … Welche Möglichkeiten der Dezentralisierung gibt es in Gesellschaften, in denen marktartige Strukturen nur noch sehr bedingt und in bestimmten Grenzbereichen eindeutig funktionieren?“58 Im Schlusspassus empfahl er, Max Webers Begriff der „Lebenschance“ in den Mittelpunkt zu stellen, so dass Fragen wie die folgende beantwortet werden könnten: „Wie können wir dafür sorgen, daß die Wahlmöglichkeiten und in diesem Sinne die Lebenschancen des Einzelnen im Bereich der Bildung steigen?“59 In der Diskussion meldete sich zunächst Adorno zu Wort. Er warf Dahrendorf vor, den Streit zu suchen, und konterte (wohl auch mit einem Seitenblick auf dessen andernorts erläutertes Theorem, in der modernen Gesellschaft sei der Konflikt eine Triebkraft des sozialen Wandels60): „Daß auf die gegenwärtige zerrissene, antagonistische Gesellschaft mit Mitteln des gesellschaftlichen Kampfes zu antworten ist, darf nicht dazu führen, daß man die Kategorie des Streites selber als eine Invariante der menschlichen Natur absolut setzt“.61 Gerhard Brandt erklärte sodann im Namen der Autoren des Gemeinschaftsreferats: „Allerdings vermögen wir schwer einzusehen, wie vernünftige politische Praxis, um gleich auf das Praxisproblem zu kommen, sich auf die Absage an den Gedanken, ich sage: an den Gedanken, der Aufhebung von Herrschaft von Menschen über Menschen stützen kann“.62 Dahrendorf wehrte sich, er schlug vor, konkrete Lösungen, die allererst die Praxis ausmachten, zu diskutieren: „Wie ist die Domestizierung von Herrschaft unter Bedingungen der modernen Gesellschaft möglich? … [I]ch habe auch in diesen Diskussionen noch keinen anderen Weg erfahren, wie die Veränderungen, die man sich wünschen mag, ohne Ausübung von Herrschaft vorgenommen werden können“.63 Claus Offe als Mitautor des Gemeinschaftsreferats hielt ihm entgegen: „Herrn Dahrendorfs Ausführungen sind charakterisiert durch eine Verwechslung der beiden Begriffe Praxis und Initiative. Auf Praxis hin orientiert ist eine wissenschaftliche Deutung der historischen Bewegung des gesellschaftlichen Lebens, die ihre notwendige Folge, daß sie nämlich deutend diese historische Bewegung zugleich konstituiert und fördert, reflektiert und akzeptiert. In diesem Sinne stehen die Sozialwissenschaften in einem zirkulären Verhältnis zur sozialen Wirklichkeit, und wo das reflektiert wird, ist Praxis schon Bestandteil des wissenschaftlichen Arbeitsprozesses“.64 Am Ende der 58 Ibid., p. 98. 59 Ibid., p. 99. Zu Dahrendorfs Reforminitiative im Bereich der Bildung siehe unten, Teil II dieser Studie. 60 Dahrendorf hatte zehn Jahre zuvor das Werk Soziale Klassen und Klassenkonflikte in der industriellen Gesellschaft, Stuttgart: Enke 1957 vorgelegt. Die überarbeitete englische Fassung Class and Class Conflict in Industrial Society, Stanford: Stanford University Press (erschienen 1959) wurde bis 1966 viermal nachgedruckt. 61 Protokoll der Diskussion (Diskussionsbeitrag Adorno), Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft?, p. 104. 62 Ibid., p. 109 (Diskussionsbeitrag Brandt). 63 Ibid., p. 111 (Diskussionsbeitrag Dahrendorf). 64 Ibid., p. 113 (Diskussionsbeitrag Offe).
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V. Ein Jahrzehnt der neuen Kritik
Diskussion stand ein Eklat: Brandt schlug vor, alle Referenten (wie jedenfalls die Autoren des Gemeinschaftsreferats) sollten ihr Honorar dem Fonds der amerikanischen Kriegsdienstverweigerer spenden. Heinrich Popitz, der Diskussionsleiter, lobte in seiner Schlussbemerkung diesen Vorschlag, um sofort hinzuzufügen, „das in dieser Form und in dieser Stimmung des Saales zu verkünden mit der Aufforderung für alle anderen, das auch zu tun“, sei allerdings „eine Repression“: „Ich antworte darauf mit dem Entschluß, mein Honorar dem Caritasverband zur Verfügung zu stellen“.65 Der Schlagabtausch dieser aufgeregten Debatte, der sicherlich durch das Tagesgeschehen des Krieges in Vietnam beeinflusst war, war der Tiefpunkt der Auseinandersetzungen der sechziger Jahre. Der Sammelband Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie im Jahr 1969 war nur noch ein Nachklang.66 Ergänzt durch eine – neu geschriebene – lange Einleitung Adornos wurden die wichtigsten Beiträge der Diskussion des abgelaufenen Jahrzehnts über die Methodologie der Sozialwissenschaften, entstanden aus der Kontroverse zwischen Adorno und Popper, noch einmal abgedruckt. Neu war einzig die Arbeit Harald Pilots, eines jungen Philosophen aus dem früheren Umfeld Dieter Henrichs an der Freien Universität Berlin; er plädierte für einen herrschaftsfreien Dialog jenseits der geschichtsphilosophischen Setzungen Habermasʼ.67 Das Buch stand am Ende einer Epoche – oder war doch jedenfalls das letzte Dokument eines Jahrzehnts der Grabenkämpfe. Ob der Positivismus, der als eine einheitliche Denkrichtung galt, die von Popper bis zu Parsons reiche, eher ein politisches Bekenntnis oder unpolitisch sei, blieb kontrovers. Die Positionen standen einander unversöhnlich gegenüber. Auf Seiten der analytischen Wissenschaftstheorie wurde das dialektische Denken kritisiert, als wäre Hegels Philosophie keine bleibende Leistung des deutschen Idealismus. Auf Seiten der Frankfurter Schule, die sich eine dialektische Theorie zuschrieb, wurde der Primat der Lebensprobleme der Gegenwart behauptet. Der Wissenschaft wurde ein Engagement für eine gesellschaftliche Utopie – geschichtsphilosophisch verstanden – zugemutet. Zusammenfassend: Die Arbeitstagung des Jahres 1961 in Tübingen sollte den Riss zwischen der Kritischen Theorie und der empirischen Sozialstrukturanalyse kitten, der sich anlässlich des vierzehnten Soziologentages in Berlin im Jahr 1959 aufgetan hatte. Nach Tübingen wurde Popper eingeladen, ein Sozialphilosoph ohne Kenntnis der Soziologie. Er machte sich dort ohne Rücksichtnahme auf die Diskussionen in Deutschland zum Verfechter der analytischen Wissenschaftstheorie. Seine Thesen, die keine damals aktuellen Problempunkte berührten, konnte Adorno souverän aushebeln. Die Debatte zwischen dem Positivismus, wie nunmehr die Position hieß, die auch westdeutsche Philosophen verteidigen zu müssen meinten (so Hans Albert), und der Kritischen Theorie, die dagegen polemisierte, war ein Hin und Her aus Anschuldigungen und Rechtfertigungen. Unter dem Stichwort der Logik der Sozialwissenschaften wurde die Methodologie zu einem Zankapfel zwischen zwei Po65 Ibid., p. 116 (Schlusswort Popitz). 66 Theodor W. Adorno, Hans Albert, Ralf Dahrendorf, Jürgen Habermas, Harald Pilot, Karl R. Popper, Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Neuwied: Luchterhand 1969. 67 Harald Pilot, Jürgen Habermasʼ empirisch falsifizierbare Geschichtsphilosophie, in: Adorno et al., Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, pp. 307 – 334.
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sitionen, die jede eine richtige Lehre zu sein meinten. Höhepunkt war der Frankfurter Soziologentag. Dort beanspruchte Adorno für sich und seine Mitstreiter, die Zukunftsaussichten der Menschheit zu verteidigen. Die Gegenseite war mit Erwin Scheuch, der im wesentlichen eine Klassifikation der verschiedenen zeitgenössischen Gesellschaftskonzeptionen vortrug und dabei Habermasʼ (sachlich falsche) Kritik an Parsons übernahm, eher schwach vertreten.68 Dahrendorf, der sich keiner Seite zurechnete, musste sich den Vorwurf anhören, er suche den Streit. Von einem Jüngeren wurde er darüber belehrt, nur eine marxistische Theorie eröffne den Zugang zu einem geschichtlich wahren Verständnis der gesellschaftlichen Praxis. 2. VIER NEUE THEORIEN In den sechziger Jahren erschienen die ersten Schriften von vier Denkern der jüngeren Generation, die in den siebziger und achtziger Jahren weltweit beachtet werden sollten. Diese Jüngeren waren in den Jahren 1927 bis 1929 geboren und hatten ihre Soziologiekenntnisse im Ausland erworben – mit der Ausnahme Habermas (der allerdings Philosophie studiert hatte). Sie suchten einen eigenen Zugang zur soziologischen Theorie und machten daraus eine verbindliche Richtschnur des Gesellschaftsverständnisses. Niklas Luhmann (1927 – 1998), nach seinem Jurastudium ein Jahrzehnt lang im niedersächsischen Kultusministerium tätig, erhielt 1960 – 1961 ein Stipendium an die Harvard-Universität. Dort traf er auf Parsons, der ihn – durch Gespräche und Lektüre – zur Soziologie hinführte. Für Luhmann, den Juristen und langjährigen Verwaltungsbeamten, war die Frage lebenslang erkenntnisleitend, wie sich die gesellschaftlichen Systeme – allemal Organisationen – jenseits des Willensbereichs der einzelnen Handelnden entwickeln und erhalten. Für den Wissenschaftler Luhmann – ganz offensichtlich hatte Parsons diese Fragestellung angeregt – steckte darin das Problem, die gesellschaftlichen Systemzusammenhänge zu erklären. 1962 entstand Funktion und Kausalität 69, ein Aufsatz, den Luhmann – wofür er ausdrücklich dankte – mit Parsons eingehend besprochen hatte. Die Frage, ob der Funktionalismus eine Methode unter anderen oder gerade die einzig zuverlässige Zugangsweise zu gesellschaftlichen Zusammenhängen war, wurde seit 1959 kontrovers diskutiert.70 Luhmann sprach das Verhältnis von Ursache und Wirkung aus der Blickrichtung der funktionalistischen Analyse an: „Die Kritik des kausal68 Methodische Probleme gesamtgesellschaftlicher Analysen, Referat Erwin K. Scheuch, in: Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft?, pp. 153 – 182. 69 Niklas Luhmann, Funktion und Kausalität, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Bd. 14, 1962, pp. 617 – 644. 70 Kingsley Davis, The Myth of Functional Analysis as a Special Method in Sociology and Anthropology, American Sociological Review, vol. 24, 1959, pp. 757 – 772, löste eine Diskussion aus, die unter anderem zu folgenden Beiträgen anregte: Alvin W. Gouldner, The Norm of Reciprocity. A Preliminary Statement, American Sociological Review, vol. 25, 1960, pp. 161 – 178; Francesca Cancian, Functional Analysis of Change, American Sociological Review, vol. 25, 1960, pp. 818 – 827; Renate Mayntz, Soziologie in der Eremitage? Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Bd. 13, 1961, pp. 110 – 125.
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wissenschaftlichen Funktionalismus ist nicht gleichzusetzen mit einer Kritik der Kausalität als Strukturkategorie“.71 Statt Parsonsʼ strukturell-funktionaler Theorie, die den Beitrag der Institutionen und allgemein der ausdifferenzierten Einzelsysteme zur Erhaltung von Systemen im Ganzen kläre, schlug er einen funktionalstrukturellen Ansatz vor. So werde „die funktionalistische Methode mit der Freiheit des Handelns vereinbar“.72 Der Leistungswert: „Die funktionalistische Analyse legt den Handelnden nicht auf ein dauerhaft-vollkommenes Ende seines Handelns oder auf einen richtig vorgestellten Zweck fest. Sie versucht auch nicht, das Handeln aus Ursachen nach Gesetzen zu erklären. Sie deutet es unter gewählten, abstrakten und insofern austauschbaren Gesichtspunkten, um die Handlung als eine Möglichkeit unter anderen verständlich zu machen“. 1964 legte er sein erstes Werk vor, Funktionen und Folgen formaler Organisation.73 Das Buch klärte durch „funktionale Analysen“74, was die allgemeinen Strukturprobleme „eines jeden formalisierten Systems“ seien, und zwar ging es um die Probleme, die weder durch die Motivation der Mitglieder noch die Kommunikationsstruktur einer Organisation (also einer Verwaltung, eines Betriebes etc.) zu erklären seien. Es gebe eine Eigendynamik bei den Systemen durch die Formalisierung der gesellschaftlichen Vorgänge und Strukturen. Die Grundbegriffe dieser Analyse hießen „Soziale Systeme“, „formale Organisation“ sowie „Mitgliedschaft als Rolle“ – wobei die Mitgliedschaft Ein- und Austritt (mithin die formale Zugehörigkeit) war, nicht auch die differenzierten Rollenstrukturen innerhalb von arbeitsteiligen Organisationen umfasste. Das Besondere waren generalisierte organisationsbezogene Verhaltenserwartungen: „Wer eine Weisung seines Vorgesetzten nicht annimmt, wer einer Vorschrift aus Prinzip die Anerkennung verweigert, rebelliert gegen das System und gegen alle formalen Erwartungen. Es kommt nicht darauf an, gegen welche im einzelnen er sich wendet; jede Weigerung hat den gleichen Effekt“.75 Die Systemfunktionen, die diese Formalisierung, also Generalisierung von Verhaltenserwartungen, sicherstelle, müssten der Motivation der Mitglieder nicht entsprechen. Die Individuen mit ihren Motivationen seien ein System jenseits der Systemgrenzen einer formalisierten Organisation – sie seien also Umwelt für das System, und sie müssten dessen Normen nicht gutheißen. Daraus ergebe sich für die Autoritätsstruktur, diese brauche auf die Menschen keine Rücksicht zu nehmen, sofern die Erhaltung des Systems zu gewährleisten sei: „Die Festigkeit der Autoritätsgrenzen, daß sie – mit anderen Worten – nur durch Entscheidung zu ändern sind, ist die Bedingung dafür, daß die Autorität auf spezifische Aufgaben, das heißt auf spezifische Anpassungsprobleme des sozialen Systems zugeschnitten werden kann“.76 Sekundär erwuchsen aus derartigen primären Funktionen, wie Luhmann klärte, „Rangfragen“, „Verantwortung und Verantwortlichkeit“, „Forma71 Luhmann, Funktion und Kausalität, p. 626. 72 Ibid., p. 640; dort auch die nächste Zitatstelle. 73 Niklas Luhmann, Funktionen und Folgen formaler Organisation, Berlin: Duncker und Humblot 1964. 74 Ibid., p. 21; dort auch die nächste Zitatstelle. 75 Ibid., p. 63. 76 Ibid., p. 131.
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lisierung des Kommunikationsnetzes“, „Führer und Vorgesetzte“, „Grenzstellen“, „Formalisierung von Konflikten“ sowie „Enttäuschungen, Fehler und Sanktionen“. Unter der letzteren Überschrift behandelte er verschiedene Strategien in formalen Organisationen, die etwaige Abweichungen von den generalisierten Erwartungen („Erwartungsenttäuschungen“77) durch Rechtfertigungen einschließlich auch der Unterstellung „böser Absichten“ (also „Enttäuschungserklärungen“78) zu Lasten von Betroffenen beantworteten. Außerdem werde die Eigenmächtigkeit individuellen Handelns durch Sanktionen, deren Androhung bereits „kollegiale Kontrolle“ sei, möglichst unterbunden. Abschließend betonte Luhmann, er erkläre nicht das faktische Verhalten, sondern die Formalität, wie sie das Thema der Organisationsforschung sei. Zwar gebe es formale und informale Rollen, zwar müsse man den Handlungskontext der Situation berücksichtigen und dürfe „brauchbare Illegalität“79 nicht außer Acht lassen. Man solle weder die Kollegialität, eine Zwischenebene, leugnen noch die Wiederkehr („Verfall und Überleben“80) elementarer Verhaltensweisen bei der individuellen Performanz verkennen. Aber der Einzelne im System habe nicht automatisch die Freiheit zur Selbstverwirklichung: „Das soziale System erreicht … eine Autonomie planvoller Selbststeuerung, wie sie bisher unbekannt war. … Der Einzelmensch muß die Folgeprobleme in sich kompensieren und eine entsprechende Autonomie zu erreichen suchen“.81 Das Faszinosum war die Systemautonomie. Luhmanns Vortrag anlässlich des Frankfurter Soziologentages Moderne Systemtheorien als Form gesamtgesellschaftlicher Analyse82 unterstrich, dass die moderne Systemtheorie in den sechziger Jahren in den USA eine kybernetische Systemanalyse sei.83 Sie erkenne die Komplexität der demokratischen Politikformen und zeige flexible Steuerungsmechanismen auf, wodurch trotz allem die Regierbarkeit eines modernen Gemeinwesens gesichert werde. Luhmann wandte sich gegen Parsonsʼ „Theorie des Aktionssystems“84 und schlug stattdessen vor, an den Gesellschaften, die als soziale Systeme
77 78 79 80
81 82 83
84
Ibid., p. 251. Ibid., p. 252. Davon handelte das Kapitel 21. Kapitel 24 widmete sich dem Thema „Verfall und Überleben elementarer Verhaltensweisen“ vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Organisationsforschung. Peter Blau hatte in Dynamics of Bureaucracy argumentiert – und dabei empirische Beobachtungen herangezogen – , dass nur durch situationale Interpretation der bürokratischen Vorschriften in den individuellen Rollen eine Effizienz des Systems gewährleistet sei. Peter Blau, The Dynamics of Bureaucracy, Chicago: University of Chicago Press 1955; Ders., Bureaucracy in Modern Society, New York: Random House 1956; Ders. und W. Richard Scott, Formal Organizations. A Comparative Approach, London: Routledge and Kegan Paul 1963. Luhmann, Funktionen und Folgen formaler Organisation, p. 380. Niklas Luhmann, Moderne Systemtheorien als Form gesamtgesellschaftlicher Analyse, in: Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft?, pp. 253 – 266. Dazu hatte Karl W. Deutsch im Jahr 1964 eine Analyse des Verhältnisses zwischen Staat und Gesellschaft vorgelegt, die mit den kybernetischen Begriffen der Vernetzung stimulussensibler Steuerungskräfte arbeitete: Karl W. Deutsch, The Nerves of Government, New Haven: Yale University Press 1964. Luhmann, Moderne Systemtheorien als Form gesamtgesellschaftlicher Analyse, p. 266.
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analysiert würden, vor allem die „sinnhafte Reduktion von Komplexität“85 zu untersuchen. Durch die Systembildung werde jeweils ein gesellschaftliches Geschehen gegen seine Umwelt abgegrenzt. Dadurch werde die Vielheit der Möglichkeiten und die Komplexität der Reaktionsweisen eingeschränkt. Ein Repertoire standardisierter Normen entstehe, das einen Kanon der eingeübten Routinen ermögliche. Es gelte eine nicht teleologisch gemeinte Evolutionsthese: „Die Bestandaussichten eines Systems können sich im Evolutionsprozeß verbessern oder auch verschlechtern. Deshalb kann man auch nicht behaupten, daß Fortschritt eine Art immanentes Telos der Systeme sei“.86 Luhmanns Vortrag – zusammen mit dem Aufsatz Sinn als Grundbegriff der Soziologie87 – wurde Auftakt zu dem Sammelband Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, der im Jahr 1971 mit dem Untertitel Was leistet die Systemforschung? erschien.88 Dort waren Habermasʼ Abhandlung Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie? Eine Auseinandersetzung mit Niklas Luhmann und die Replik Luhmanns unter dem Titel Systemtheoretische Argumentationen. Eine Entgegnung auf Jürgen Habermas nachzulesen. Federführend bei der Entstehung des Buches war Habermas mit seiner Kritik an Luhmann als Sozialtechnologie. Man mag sich fragen, ob Luhmann überhaupt des Titel des Buches im vorhinein kannte, als er bereit war, auf Habermasʼ Kritik an seiner, Luhmanns, Soziologie eine Replik zu schreiben. Möglicherweise schlug Habermas dem Verlag den Titel, der Habermasʼ Theorie der Gesellschaft positiv gegen Luhmanns vermeintliche Sozialtechnologie abhob, ohne Rücksprache mit Luhmann vor. Allerdings könnte Luhmanns Biograph Rudolf Stichweh in dem Kompendium Klassiker der Soziologie recht haben, wenn er meint, Luhmann sei erst durch die – durch Habermas eigenmächtig herbeizitierte – Kontroverse zum weithin einflussreichen Denker der Theorie der siebziger Jahre geworden: „Wenn man die Zusammenhänge sieht, wird deutlich, wie sehr die Rezeptionsgeschichte von Luhmanns Werk mit der Studentenbewegung um und nach 1968 und mit der gleichzeitigen Renaissance der Kritischen Theorie und des Marxismus verknüpft ist. Luhmann stand diesen politischen und intellektuellen Bewegungen zwar so fremd gegenüber, wie dies nur denkbar ist. Gleichwohl bestand sein Publikum für lange Zeit zu großen Teilen aus Lesern, die vom Marxismus oder der kritischen Theorie her die Erwartung auf eine systematische oder gesamtgesellschaftliche Theorie mitbrachten, eine Erwartung, die diese Denkrichtungen nicht zu erfüllen vermochten“.89 Jürgen Habermas (*1929) war nach seinem Philosophiestudium in Göttingen, Bonn und Zürich zunächst freier Autor und Journalist.90 Er wurde 1956 Adornos 85 86 87 88
Ibid., p. 264. Ibid., pp. 264 – 265. Dieser Aufsatz Luhmanns war vorher nicht veröffentlicht. Jürgen Habermas / Niklas Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie? – Was leistet die Systemforschung, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1971. 89 Rudolf Stichweh, Niklas Luhmann (1927 – 1998), in: Klassiker der Soziologie, Band II: Von Talcott Parsons bis Pierre Bourdieu, herausgegeben von Dirk Kaesler, München: C. H. Beck 2000 (2. Auflage), pp. 206 – 229, cit. p. 207. 90 Axel Honneth berichtet im biographischen Vorspann seines Beitrages über Habermas im Kom-
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Assistent am Institut für Sozialforschung. In kurzer Zeit eignete er sich die Philosophie Hegels und die Kritik der politischen Ökonomie (Marx) an. Er studierte die Werke Horkheimers und Adornos aus der Zeit der Emigration, vor allem Dialektik der Aufklärung sowie The Authoritarian Personality, die große empirische Studie über latent faschistische Bewusstseinsstrukturen. Eine Abhandlung über Marx und den Marxismus im Jahr 1957 erregte den Unmut Horkheimers, der Adorno in einem fünfzehnseitigen Brief vor Habermasʼ radikalen Auffassungen warnte: „Wenn sich ein esprit de corps bilden sollte, der im Sinn des H.schen Artikels ausgerichtet ist, erziehen wir keine freien Geister, keine Menschen, die zu eigenem Urteil fähig sind, sondern Anhänger, die auf Schriften schwören, heute auf die, morgen vielleicht auf jene“.91 Und weiter: „H. ist ein besonders regsamer, tätiger Mensch, und manches mag er von uns, besonders von Ihnen gelernt haben, freilich kaum etwas, das mit der Erfahrung gesellschaftlicher Dinge zu tun hat“.92 Im Postskript fügte er als Kommentar zu Habermasʼ Entwurf der Einleitung zu Student und Politik, den er gerade gelesen hatte, hinzu: „Das Wort Revolution ist, vermutlich unter Ihrem Einfluß, durch ‚Entwicklung der formellen zur materialen, der liberalen zur sozialen Demokratieʼ ersetzt; aber das ‚Potentialʻ, das dabei ‚politisch wirksamʻ werden soll, dürfte, für die Phantasie des durchschnittlichen Lesers, wohl kaum durch demokratische Methoden sich aktualisieren lassen. Wie soll denn das Volk, das ‚in den Fesseln einer … bürgerlichen Gesellschaft in liberal-rechtsstaatlicher Verfassung gehalten wirdʻ, in die sogenannte politische Gesellschaft übergehen, für die es, nach H., ‚längst reifʻ ist, wenn nicht durch Gewalt“.93 An der Universität Frankfurt, wo er weiterhin tätig war, konnte Habermas sich nicht habilitieren. Seine Habilitation – die Habilitationsschrift wurde unter dem Titel Strukturwandel der Öffentlichkeit weithin bekannt – veranlasste Wolfgang Abendroth, der eine linkssozialistische politische Wissenschaft vertrat, an der Universität Marburg. Bereits 1961 pendium Klassiker der Soziologie, dass Habermas 1954 mit einer Arbeit über Schellings Geschichtsphilosophie bei Erich Rothacker in Zürich promovierte und danach zwei Jahre als freier Schriftsteller tätig war. In diese Zeit, so Honneth, fiel sein „Konversionserlebnis“, als ihm die Philosophie Heideggers wegen ihrer „nachträglichen Verleugnung von Schuld“ nicht mehr habe genügen können: „Der Versuch, sich über den politischen Gehalt des Heideggerschen Werkes Klarheit zu verschaffen, mündete in einem kurzen, aber eindringlichen Artikel, mit dessen Veröffentlichung in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung der junge Habermas zum ersten Mal breiteres Aufsehen erregte. In denselben Zeitraum fällt seine Entscheidung, nach dem abgeschlossenen Studium zunächst einmal als freier Autor für eine Reihe von Organen tätig zu werden, unter denen an vorderster Stelle die FAZ und der Merkur standen.“ Axel Honneth, Jürgen Habermas, in: Klassiker der Soziologie, Band II: Von Talcott Parsons bis Pierre Bourdieu, pp. 230 – 251, cit. p. 231. 91 Theodor W. Adorno – Max Horkheimer, Briefwechsel 1927 – 1969, Band IV: 1950 – 1969. Herausgegeben von Christoph Gödde und Henri Lonitz, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2006, Brief 812, Horkheimer an Adorno, 27. September 1958, pp. 508 – 521, cit. p. 518. Bezugspunkt war Habermas, Literaturbericht zur philosophischen Diskussion um Marx und den Marxismus, Philosophische Rundschau, Bd. 5, 1957, pp. 165 – 235. Die Abhandlung bildete später den Anhang der vierten Auflage des Aufsatzbandes Theorie und Praxis (erschienen 1971), dessen erste Auflage im Jahr 1963 erschienen war. 92 Theodor W. Adorno – Max Horkheimer, Briefwechsel 1927 – 1969, Band IV, p. 519. 93 Ibid., p. 520.
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wurde Habermas an die Universität Heidelberg berufen. 1964 folgte er Horkheimer auf dessen Lehrstuhl an der Universität Frankfurt. Ohne das Fach studiert zu haben, war er nun – Inhaber eines nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffenen Doppellehrstuhls für Philosophie und Soziologie – ein Fachvertreter auch der Soziologie. Student und Politik. Eine soziologische Untersuchung zum politischen Bewußtsein Frankfurter Studenten – erschienen 1961 – beruhte auf einer Befragung vor der Bundestagswahl 1957, die 1959 durch eine Nachbefragung ergänzt wurde.94 Um die Befragungsdaten in einen gesellschaftspolitischen Zusammenhang zu stellen – vielleicht, weil das Erscheinungsdatum des Forschungsberichts schließlich vier Jahre nach der ursprünglichen Befragung lag – , schrieb Habermas (Entwurf im Sommer 1958) eine Einleitung. Sie hieß Reflexionen über den Begriff der politischen Beteiligung.95 Den Ausgangspunkt bildete die Frage, ob die politische Beteiligung „ein Wert ‚an sichʻ“ sei. Die Antwort lautete zunächst, der Demokratiebegriff sei zu klären, zumal die „Demokratie sich erst in einer Gesellschaft mündiger Menschen“96 verwirkliche. Der liberale Rechtsstaat seit dem neunzehnten Jahrhundert sei zu einem Sozialstaat geworden, einem „Träger kollektiver ‚Daseinsvorsorgeʻ“.97 Dadurch entstehe eine „Verflechtung von Staat und Gesellschaft“98, weshalb der Bürger nicht mehr mündiger Staatsbürger wäre: „Es werden unpolitische Bürger in an sich politischer Gesellschaft hervorgebracht“.99 So entstehe ein „Verwaltungsstaat“100, der zudem durch Verbände und Parteien, also demokratisch nicht legitimierte Interessen, beherrscht werde: „In dem Maße, in dem die Trennung von Staat und Gesellschaft schwindet und gesellschaftliche Macht unmittelbar politische wird, wächst objektiv das alte Missverhältnis zwischen der rechtlich verbürgten Gleichheit und der tatsächlichen Ungleichheit in der Verteilung der Chancen, politisch mitzubestimmen“.101 Daraus sei der Schluss zu ziehen, nicht die soziale Demokratie, die den mündigen Bürger schaffe, sondern die autoritäre Demokratie herrsche. Der Rechtsstaat stehe nur scheinbar im Widerspruch zum Sozialstaat, einem autoritären Herrschaftsapparat: „Der Widerspruch besteht jedoch nur in Anbetracht des Verhältnisses liberaler Normen zu sozialen Tatbeständen, die nicht nur eine Ergänzung des klassischen Grundrechtskatalogs durch Teilhaberrechte verlangen, sondern jene Ausgliederungsrechte selber, ihrem soziologischen Sinne nach, in Teilnehmerrechte umfunktionie-
94 Methodisch lehnte sich diese Untersuchung eng an die so genannte Gruppenstudie an, die unter dem Titel Das Gruppenexperiment im Jahr 1955 (mit einem Kapitel Adornos zum Thema Schuld und Abwehr) erschienen war. Siehe dazu oben, Studie IV. 95 Reflexionen über den Begriff der politischen Beteiligung, in: Student und Politik. Eine soziologische Untersuchung zum politischen Bewusstsein Frankfurter Studenten von Jürgen Habermas, Ludwig von Friedeburg, Christoph Oehler, Friedrich Weltz, Neuwied: Luchterhand 1961, pp. 11 – 55. In der Vorbemerkung des Buches wurde Habermas als Autor unter anderem des „theoretischen Entwurfs über den Begriff der politischen Beteiligung“ benannt. 96 Ibid., p. 16. 97 Ibid., p. 18. 98 Ibid., p. 23. 99 Ibid., p. 24. 100 Ibid., p. 26. 101 Ibid., p. 34.
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ren“.102 Widersprüche zwischen dem Sozialstaat und dem Gleichheitsgrundsatz, zwischen der Rechtsprechung und dem Parteieneinfluss, so Habermas, seien offensichtlich. Man dürfe dem Schein des „bürgerlichen Rechtsstaats“103 nicht erliegen: „Tatbestand ist vielmehr das, was Arnold Gehlen ‚Machtverharmlosungʻ nennt“. Allemal sei die öffentliche Meinung – zumal die Massenmedien, die allenthalben manipulativ die Meinungsbildung beeinflussten – kein Garant für die Mündigkeit der Bürger.104 Und so sei das Fazit hinsichtlich „Spielraum und Grenze staatsbürgerlicher Teilnahme am politischen Leben“105, in der Gegenwartsgesellschaft herrsche ein enger und zudem nicht frei bestimmbarer Spielraum. Die Grenze der staatsbürgerlichen Teilnahme am politischen Leben sei, dass Konformität mit den vorgegebenen Systemen herrschen müsse. Und doch gebe es auch eine politische Beteiligung, so Habermas weiter, die „außerparlamentarisch“106 sei – und darin liege vielleicht „die Hoffnung auf eine selbstbewusste politische Entscheidung“.107 Die Studentenschaft habe nämlich „den Vorzug einer gewissen Offenheit“.108 Jenseits der empirisch ermittelten „rein subjektiven Blickrichtung“109 könnten objektive gesellschaftliche Kräfte zu „unmittelbaren Aktionen dieser Gruppe“ führen. Jedenfalls hätten „die Studentenschaften bei politischen Umstürzen in den Entwicklungsländern …, bei Aufständen im sowjetischen Machtbereich …“ und anderswo „bei der Umschichtung politischer Machtverhältnisse“ dies erwiesen. Und die Soziologie? „Soziologisch bestimmt sich das Maß dieser Freiheit danach, inwieweit eine Gesellschaft die erarbeiteten Mittel der Bedürfnisbefriedigung, die materiellen und geistigen Produktionskräfte im Interesse der Bedürfnisbefriedigung aller Individuen verwendet, und nicht nur in partikularem Interesse“.110 Strukturwandel der Öffentlichkeit – mit dem Untertitel Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Öffentlichkeit111 – stellte die Thesen aus Student und Politik in einen breiteren Zusammenhang. Der Ausgangspunkt war, eine Öf102 Ibid., p. 36 – 37. In welcher Bedeutung in dieser Textstelle vom „soziologischen Sinne“ die Rede ist, lässt sich aus dem Gesagten nicht bestimmen. 103 Ibid., p. 39; dort auch die nächste Zitatstelle. 104 Die folgende Textstelle könnte eine Antwort auf Horkheimers Kritik an Habermasʼ Thesen sein: Habermas meinte, dass der liberale Rechtsstaat der Gegenwart „mehr oder minder offen … autoritäre Gestalt annimmt“. Als Alternative hielt er offen, „daß das durch die List eines höchst unsteten pluralistischen Systems, gleichsam hinter dessen Rücken, gewährte ‚Asyl einer ungestörten Durchschnittsexistenzʻ aus seiner Zufälligkeit und Beschränktheit nur in dem Maße herausgeführt und zur Sphäre einer durch politische Teilnahme und soziale Teilhabe dauerhaft gesicherten Autonomie werden könnte, in dem die, ihrer Funktion nach längst öffentlichen Beziehungen privater Gruppenmächte der Beurteilung und Aufsicht einer mündig gesprochenen öffentlichen Meinung erschlossen würden.“ (p. 43) 105 Ibid., p. 49. 106 Ibid., p. 52. 107 Ibid., p. 51. 108 Ibid., p. 53. 109 Ibid., p. 54; dort auch die nächsten drei Zitatstellen. 110 Ibid., p. 55. 111 Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Neuwied: Luchterhand 1965 (2. durchgesehene Auflage; Erstauflage 1962).
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fentlichkeit freier bzw. mündiger Privatleute habe ein Gegengewicht gegen Herrschaftsstrukturen seit dem späten Mittelalter gebildet. Die These war, diese Öffentlichkeit hätte in der Zeit der Aufklärung eine Vollendung im herrschaftsfreien Austausch der politischen Meinungen erreicht oder hätte so wenigstens sein können. Die wirtschaftlichen Kräfte des liberalen Zeitalters hätten allerdings verhindert, dass die Vernunft sich Geltung verschaffte, wie es Immanuel Kant angemahnt, Hegel in der Rechtsphilosophie „gleichsam zurückgenommen“112 und Marx „durchschaut“113 habe: „Marx behandelt … die politisch fungierende Öffentlichkeit ironisch“.114 Habermas konstatierte einen sozialen und auch einen politischen Funktionswandel der Öffentlichkeit im Verlauf des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts. Sein „soziologischer Versuch der Klärung“115 hielt noch einmal fest: Heutzutage stünden sich der „Kommunikationsbereich der nicht-öffentlichen Meinung“116 und „die Zirkulationssphäre einer quasi-öffentlichen Meinung“ unverbunden gegenüber. Aber es komme darauf an, um eine „im strengen Sinne öffentliche Meinung“117 zu schaffen, „die beiden Kommunikationsbereiche durch … kritische Publizität“ zu vermitteln – was „eine soziologische Theorie der öffentlichen Meinung“ zu leisten hätte. Durch „empirische Ermittlung“ müsse sie die „Kriterien für eine Dimension“ liefern, „in der sich öffentliche Meinung unter Bedingungen der sozialstaatlichen Massendemokratie allein konstituieren kann“. Habermas hielt bei den Berliner Universitätstagen des Jahres 1962 einen Vortrag, den er für die 1963 erschienene Sammlung seiner Aufsätze ausarbeitete.118 Kritische und konservative Aufgaben der Soziologie – fünfundzwanzig Jahre nach Horkheimers Traditionelle und kritische Theorie – entwarf eine neuartige Gesellschaftsanalyse. Die Soziologie – von Comte bis Schelsky – richte ihr Erkenntnisinteresse auf „sozialtechnische Empfehlungen und sozialorganisatorische Vorschläge“.119 Parsons, so glaubte Habermas, „verbindet mit seiner Theorie das Programm eines Control of Social Change, also der planmäßigen Beeinflussung und Lenkung des gesellschaftlichen Wandels“.120 Schon Karl Mannheim habe die Sozi112 Ibid., p. 133. Dort die Textstelle: „Tendenziell war ja der bürgerliche Rechtsstaat, mit dessen Hilfe die Privatleute Herrschaft nach Maßgabe ihrer öffentlichen Meinung in Vernunft überführen sollen, tatsächlich in die bürgerliche Gesellschaft gleichsam zurückgenommen, mit ihr ‚verwechseltʻ. Wo aber der Privatstand als solcher ‚zur Teilnahme an der allgemeinen Sache in der gesetzgebenden Gewalt erhoben wirdʻ, müßte sich die Desorganisation der bürgerlichen Gesellschaft in den Staat hinein fortsetzen. … Um dem vorzubeugen, muß polizeiliche Vorsorge der drohenden Desorganisation ebenso steuern wie korporative Bindung.“ (pp. 133–134) Die Textstelle interpretierte Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts; daraus waren die Zitatstellen entnommen. 113 Ibid., p. 136. 114 Ibid., p. 137. 115 Ibid., p. 265. 116 Ibid., p. 268; dort auch die nächste Zitatstelle. 117 Ibid., p. 269; dort auch die nächsten fünf Zitatstellen. 118 Jürgen Habermas, Kritische und konservative Aufgaben der Soziologie, in: Theorie und Praxis, vierte durchgesehene und erweiterte Auflage, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1971, pp. 290 – 306. 119 Ibid., p. 299. 120 Dass Habermas, um seine Aussage zu belegen, ausgerechnet den Aufsatz Parsonsʼ aus dem
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ologie zur Planungswissenschaft bestimmt.121 Aber, so Habermas, die Soziologie müsse kritisches Denken sein, den Standpunkt einer utopischen Gesellschaft vorwegnehmen und von dort aus die Gesellschaft der Gegenwart untersuchen: „Eine derart kritische Soziologie sollte … aus der fiktiv vorentworfenen Perspektive eines verallgemeinerten Subjekts des sozialen Handelns denken“.122 Ralf Dahrendorf (*1929) war nach seinem Studium an der London School of Economics kurzzeitig am Institut für Sozialforschung tätig und habilitierte sich 1957 in Saarbrücken, wonach er 1958 in Hamburg, 1961 in Tübingen und 1966 in Konstanz Ordinarius für Soziologie wurde. (1967 kandidierte er erfolgreich für den Landtag in Baden-Württemberg und 1969 für den Bundestag, woraufhin sein Tätigkeitsfeld sich zunächst nach Bonn und bald darauf nach Brüssel verlagerte.) Er hatte in den fünfziger Jahren den Nachweis geführt, dass Konflikte zum gesellschaftlichen Geschehen der modernen Demokratien gehörten, was gegen die Marxʼsche Kapitalismusthese sprach. Seine erste Aufsatzsammlung – erschienen 1961 – hatte den Titel Gesellschaft und Freiheit.123 Ihre fünf Abschnitte behandelten große Themen, etwa „Die Deutsche Frage“ oder „Zukunft der Freiheit“. 1965 erschien Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, ein Panorama der Gesellschaftsgeschichte im zwanzigsten Jahrhundert vom Kaiserreich über die Weimarer Zeit und den Nationalsozialismus bis hin zur deutschen Teilung. Sein politisches Engagement kündigte Jahr 1945 heranzog, wo dieser den sozialen Wandel vom Nationalsozialismus zur demokratischen Gesellschaft als „controlled institutional change“ geschildert hatte, wirkt angesichts des Parsonsʼschen Aufsatzes, dessen Thematik zu Habermasʼ Erkenntnisinteresse hätte passen mögen, eher peinlich. Von einer steuernden Sozialtechnologie, die der Auftrag der Soziologie sei, wie sie den sozialen Wandel durch autoritäre Einflussnahme zu kontrollieren hätte, war jedenfalls bei Parsons keine Rede. Siehe dazu auch oben Studie III. 121 Die Textstelle: „Wie bestimmt sich hier das Verhältnis der Theorie zu den wachsenden Ansprüchen aus der sogenannten Praxis? Talcott Parsons verbindet mit seiner Theorie das Programm eines Control of Social Change, also der planmäßigen Beeinflussung und Lenkung des gesellschaftlichen Wandels. Bei Karl Mannheim hatte diese in großem Stil vertretene Auffassung der Soziologie als Planungswissenschaft noch etwas von einer self-fulfilling prophecy; es erwies sich, daß sie gegenüber der bescheideneren Auffassung der Soziologie als einer Hilfswissenschaft, die einzelne Routinestörungen in Verwaltungsprozessen beseitigt, den Vorzug hatte, immer wahrer zu werden. Seit die kontrollierten Entwicklungen ganzer gesellschaftlicher Sphären in den Entscheidungsradius einer sozialorganisatorisch tätigen Staatsverwaltung einrücken, erstreckt sich auch die sozialwissenschaftliche Vorbereitung und Beratung auf Planungsarbeiten größeren Maßstabs. Die Planungen für einzelne Entwicklungsländer geben drastische Beispiele.“ (pp. 299 – 300) 122 Ibid., p. 303. Habermas fügte hinzu: „Nur in dieser doppelten Rolle kann Soziologie zum Bewußtsein ihrer selbst gelangen; kann sie sich und die Gesellschaft vor einer kritiklosen Bearbeitung des Bestehenden, vor seiner mit wissenschaftlichen Mitteln naiv vollzogenen Befestigung schützen“. In der Anmerkung dazu erläuterte er, dass es nicht ausreiche, die Sozialforschung im Dienst von Innovationen einzusetzen, um dem Verdikt des Konservatismus zu entgehen: Gerade „solche mangelnde Distanzierung von dem, ‚was ohnehin geschiehtʻ, ist die sozialpsychologische Voraussetzung für eine – in unserem Sinne ‚konservativeʻ – Erhaltung der grundlegenden Strukturen, deren Veränderung durch ein distanziertes Bewußtsein vermittelt sein müsste.“ (p. 306) 123 Ralf Dahrendorf, Gesellschaft und Freiheit. Zur soziologischen Analyse der Gegenwart, München: Piper 1961, 2. Auflage 1962.
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sich in Bildung ist Bürgerrecht an, einem Traktat des Jahres 1965.124 Im Jahr 1967 wurde der Hochschulgesamtplan des Landes Baden-Württemberg verabschiedet, ein Reformprogramm, an dem Dahrendorf (ab 1967 als Landtagsabgeordneter) mitgewirkt hatte.125 Seine spätere Karriere als – zeitweiliger – Kommissar der Europäischen Union war in diesen politiknahen Initiativen bereits vorgezeichnet. Für den Aufsatzband Gesellschaft und Freiheit entstand der Aufsatz Elemente einer Theorie des sozialen Konflikts.126 Der Ausgangspunkt: „In der außengeleiteten Gegenwart gilt der Kampf für die Durchsetzung der eigenen Interessen als unfein“127; doch müsse man wissen: „Jede ‚gesundeʻ, selbstgewisse und dynamische Gesellschaft kennt und anerkennt Konflikte in ihrer Struktur“. Deshalb: „Wollen wir über die Gesetzmäßigkeiten unserer Gesellschaft mehr aussagen als unverbindliche Vermutungen und brilliante Einfälle dies vermögen, dann bleibt es uns nicht erspart, den langen und beschwerlichen Umweg über allgemeine, theoretische, damit abstrakte und nicht immer leicht eingängige Formulierungen zu gehen“.128 Nach einer Definition von Konflikt sowie dessen fünf Arten und fünfzehn Formen unterschied Dahrendorf zwei Gesellschaftsmodelle hinter den soziologischen Theorien. Zum einen gebe es ein aus Jean-Jacques Rousseaus Lehre des Gesellschaftsvertrages hervorgegangenes Consensusmodell (dem unter anderem Parsonsʼ Systemtheorie zuzurechnen sei), und zum anderen gebe es ein aus Thomas Hobbesʼ Theorem der sozialen Ordnung hervorgegangenes Zwangsmodell (dem sich Dahrendorfs eigener Ansatz verpflichtet fühle): „Eine solche Orientierung … ist … sowohl der Wirklichkeit der Gesellschaft als auch (auf der Ebene der politischen Theorie) der Idee der Freiheit näher als die Consensus-Theorie“.129 Im „,Klassenkonfliktʻ zwischen einander über- und untergeordneten Teilen ganzer Gesellschaften“ erkenne man eine „strukturelle Ausgangslage“, nämlich Herrschaftsverhältnisse. Dabei sei eine „Manifestierung von Konflikten“130 zugleich die erste Etappe einer dreistufigen Entwicklungsdynamik. Die zweite Etappe sei die „Kristallisierung“ der konfligierenden Interessen etwa in den gesellschaftlichen Klassen oder Gruppierungen, und die dritte seien die „Auseinandersetzungen zwischen Parteien bzw. 124 Ralf Dahrendorf, Bildung ist Bürgerrecht. Plädoyer für eine aktive Bildungspolitik, DIE ZEIT Bücher, o. O.: Nannen-Verlag 1965. 125 Hochschulgesamtplan des Landes Baden-Württemberg. Empfehlungen zur Reform von Struktur und Organisation der Wissenschaftlichen Hochschulen, Pädagogischen Hochschulen, Studienseminare, Kunsthochschulen, Ingenieurschulen und Höheren Fachschulen. Bericht des Arbeitskreises Hochschulgesamtplan beim Kultusministerium Baden-Württemberg, Villingen: Neckar-Verlag 1967. 126 Dahrendorf, Elemente einer Theorie des sozialen Konflikts, in: Gesellschaft und Freiheit, pp. 197 – 235. 127 Ibid., p. 197; dort auch die nächste Zitatstelle. Die Bezeichnung „außengeleitete Gegenwart“ nahm Bezug auf David Riesman, The Lonely Crowd, einen im Jahr 1950 erschienenen gegenwartsanalytischen Traktat, der zwischen innengeleiteten Persönlichkeiten früherer Epochen und außengeleiteten Menschen der Gegenwart unterschied, um bei letzteren deren Mangel an Individualität zu beklagen. 128 Dahrendorf, Elemente einer Theorie des sozialen Konflikts, p. 201. 129 Ibid., p. 212; dort auch die nächste Zitatstelle. 130 Ibid., p. 218.
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Elementen mit sichtbarer eigener Identität“.131 Diese Dynamik sei aufzufächern nach den Dimensionen der Intensität, der Gewaltsamkeit etc. im historischen Überblick und bei dauernden Formveränderungen. Allerdings: „Die Theorie des sozialen Konflikts schuldet eine Antwort auf die Fragen, unter welchen Aspekten wir solche Formveränderungen beobachten können und wovon diese abhängig sind“.132 Statt einer Antwort unterschied er zwischen der Unterdrückung, der Lösung und der Regelung von Konflikten – letzteres sei „Manifestierung von Konflikten“133 nach „,Spielregelnʻ“. Zu den „Anwendungsmöglichkeiten der Konflikttheorie“134 gehöre es, die „rationale Regelung“ der zeitgenössischen politischen und gesellschaftlichen Gegensätze zu entwerfen: „Im Konflikt liegt … der schöpferische Kern aller Gesellschaft und die Chance der Freiheit – doch zugleich die Herausforderung zur rationalen Bewältigung und Kontrolle der gesellschaftlichen Dinge“.135 Gesellschaft und Demokratie in Deutschland136 widmete sich der „deutschen Frage“ bis hin zu „Wie war Auschwitz möglich?“137 Die These war: „Erst die furchtbare Erschütterung des Nationalsozialismus sollte die deutsche Gesellschaft an den Punkt der Sozialentwicklung bringen, der Modernität und Liberalität zur realen Möglichkeit machte“.138 Das Buch behandelte in vier Teilen die Hauptprobleme des zwanzigsten Jahrhunderts. Der erste hieß „Gleichheit oder Der lange Weg in die Modernität“ und schilderte das Festhalten der Deutschen an regionalen und religiösen Partikularitäten, wobei die Rolle des Staatsbürgers, die in der modernen Welt die Gleichheit verbürge, gering geachtet werde und wenig Auswirkungen habe: „So blieben die Gleichheitsrechte lange Zeit unvollkommen; deshalb sind die Chancen der Teilnahme noch heute unterschiedlicher, als es der allgemeine Status des Staatsbürgers erlaubt; so hat es die deutsche Gesellschaft den Liberalen schwer gemacht, ihre Konzeption einer rationalen Politik zum Prinzip der Verfassung zu erheben“.139 Der zweite Teil hieß „Konflikt oder Die Sehnsucht nach Synthese“ und schilderte, dass die Freiheit aus der Sicht der Deutschen stets durch die Notwendigkeit oder sogar durch die Autorität begrenzt werde. Denn „die deutsche Idee der Wahrheit“ (Kapitel 11) liege unwillkürlich in der Einheit, der Einheitlichkeit, der Innerlichkeit und dem daraus hergeleiteten elitären Expertentum. So sei über die Universität, die doch eigentlich das Denken verkörpere, zu sagen: „Es ist meine These, daß die fehlende Institutionalisierung liberaler Verfahren im akademischen Bereich eines der strukturellen Hemmnisse der liberalen Demokratie in Deutschland darstellt“.140 Die Deutschen glaubten einem „Mythos des Staates“ als einer Instanz über den Parteien, und sie sähen den Staat möglichst jenseits aller Kon131 132 133 134 135 136 137 138 139 140
Ibid., p. 220. Ibid., p. 221. Ibid., p. 228; dort auch die nächste Zitatstelle. Ibid., p. 230 – 235. Ibid., p. 235. Ralf Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München: Piper 1968 (Erstausgabe 1965). Ibid., p. 17. Ibid., p. 75. Ibid., p. 157. Ibid., p. 191.
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flikte. Der dritte Teil des Buches hieß „Vielfalt oder Eliten zwischen Monopol und Kartell“ und schilderte, inwiefern „die Juristen, die Generalität und führende Unternehmer“141 durch Selbstrekrutierung aus den „mittleren und höheren Gruppen der Dienstklasse und der Mittelschicht“ seit der Kaiserzeit eine Machtelite bzw. Elitegruppierungen gebildet hätten. Diese Funktionseliten seien zwar gesellschaftlich mächtig, aber ihre Macht werde nicht im Konflikt gegeneinander ausgelebt, sondern „die divergierenden Eliten verbinden sich in einem Kartell der Angst“.142 Und doch: „Ich habe in dieser Untersuchung schon viel von den Schattenseiten – aus der Perspektive des Lichtes der Verfassung der Freiheit – der deutschen Gesellschaft gesprochen. Doch habe ich daran keine Freude. Um so lieber betone ich daher, daß das Kartell der Angst jedenfalls eine bessere Voraussetzung liberaler Formen bietet als das Monopol der Tradition“.143 Der vierte Teil hieß „Öffentlichkeit oder Die Not der schönen Tugenden“ und schilderte, wie wenig die Deutschen sich mit den Schwachen, den „Nicht-Dazugehörigen“144, identifizierten oder die Tugend der gleichen Rechte für alle ernst nähmen. Kaum jemand habe im Nationalsozialismus nach den Zuständen in den Konzentrationslagern zu fragen gewagt. Kaum jemand in der Bundesrepublik frage nach den Zuständen in Gefängnissen oder psychiatrischen Krankenhäusern. Konformismus sei „diese Mischung von theoretischer Humanität und praktischer Unmenschlichkeit, die Deutschland zuweilen so unerträglich macht“.145 Daran, so Dahrendorf, zeige sich allerdings weniger ein autoritärer Charakter der Deutschen als eine illiberale Institutionenstruktur. Nach dieser Darstellung der Themen Gleichheit, Konflikt, Vielfalt und Öffentlichkeit suchte er im Schlussteil „deutsche Antworten“. Sie könnten ein neues Licht auf die Geschichte und Bedeutung des Nationalsozialismus werfen. Der Weg in die Diktatur sei in der Weimarer Republik vorgezeichnet gewesen, da sie „den Widerspruch zwischen einem politischen System, das die Demokratie gestattete, und einer sozialen Struktur, die sie verbot“146, nicht habe überwinden können. Erst dem Naziregime komme das Verdienst zu, durch die Gleichschaltung der Volksgenossen jene Gleichheit der Bürger hergestellt zu haben, die allererst die Voraussetzung für die Liberalisierung und also Modernisierung einer Gesellschaft sei. Der Nationalsozialismus habe durch eine soziale Revolution erst die Weichen für die Nachkriegsentwicklung gestellt. Im Westen bestehe nun eine industrielle Gesellschaft, wo die „Verfassung der Freiheit unter Bedingungen der Modernität“ immerhin als Gedanke, jedoch noch nicht in der aktuellen Wirklichkeit existiere147, und im Osten herrsche ein autoritäres Regime, das eines Tages durch die deutsche Wiedervereinigung an sein Ende gelangen dürfte: „Damit schließt sich der Kreis unserer Untersuchung. Die deutsche Frage ist – davon sind wir ausgegangen – nicht eine politische Frage an
141 142 143 144 145 146 147
Ibid., p. 256; dort auch die nächste Zitatstelle. Ibid., p. 306. Ibid., p. 307. Ibid., p. 377. Ibid., p. 394. Ibid., p. 429. Ibid., p. 478.
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andere, sondern eine soziale Frage an uns selbst“.148 Im Frühjahr 1968 fügte er der Neuauflage ein Nachwort hinzu angesichts des „unmittelbaren politischen Engagements, zu dem ich mich inzwischen entschlossen habe“.149 Nicht mehr die „akademische Fragestellung“ schien ihm nun für sein Buch wichtig, sondern die Frage, „wie denn angesichts der doppelten Gefahr der Traditionen deutscher Sozialstruktur und der neuen Bedrohungen der Formierung die Verfassung der Freiheit gestärkt werden kann, was man also tun kann und muß, wenn man heute Freiheit will“.150 Thomas Luckmann (*1927), nach seinem Studium in Wien, Innsbruck und an der New School for Social Research in New York an einem kleinen College im Staat New York und ab 1960 an der New School tätig, konnte durch die Vermittlung Friedrich Tenbrucks nach fast zwanzigjähriger Abwesenheit nach Deutschland zurückkehren. Er übernahm 1965 einen Lehrstuhl für Soziologie an der Universität Frankfurt. Seine frühen Arbeiten waren sämtlich religionssoziologisch. Erst die gemeinsam mit Peter L. Berger, einem Emigranten aus Österreich, verfasste Studie The Social Construction of Reality, die 1966 zunächst in englischer Sprache erschien (die deutsche Übersetzung, besorgt durch Monika Plessner, erschien 1969), gab ihm Gelegenheit, sich für die phänomenologisch begründete Soziologie Alfred Schützʼ zu engagieren. Schütz, der seit 1939 in den USA gelebt hatte, war 1959 gestorben und hatte seinen (so dachte Schütz) begabtesten Schüler, Maurice Nathanson, zum Nachlassverwalter eingesetzt. Luckmann, der Schütz bewunderte und dessen nachgelassene Fragmente des zweiten magnum opus eines Tages zu studieren hoffte, verfasste im Jahr 1964 eine – frappant vereinfachende – Darstellung des Gedankengangs in Schützʼ Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt (1932), mit der Absicht, dieses erste Hauptwerk Schützʼ vor dem Vergessen in den USA zu bewahren.151 Trotz (oder wegen) dieses Rekurses auf Schütz war Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit – Untertitel Eine Theorie der Wissenssoziologie – keine Widergabe der Schützʼschen Gedankenführung.152 Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit legte ein vereinfachtes Schema zugrunde und verwischte die durch Schütz herausgearbeitete Differenz zwischen dem sozialwissenschaftlichen und dem alltagsweltlichen Verstehen, um eine Theorie des sozialwissenschaftlichen Verständnisses aller alltagsweltlich vorhandenen Wissensbestände zu sein. Der Ausgangspunkt: Das Wissen, ein für die gesellschaftliche Welt zentrales Definitionselement der Wirklichkeit, sei bisher in der Soziologie vernachlässigt 148 149 150 151
Ibid., p. 480. Ibid., p. 481. Ibid., p. 483. The Dimensions of the Social World. From: Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt, Vienna, 1932; 2nd ed. 1960 (Sektion IV: Strukturanalyse der Sozialwelt, Soziale Umwelt, Mitwelt, Vorwelt). English adaptation by Professor Thomas Luckmann, in: Alfred Schutz, Collected Papers II: Studies in Social Theory, edited and introduced by Arvid Brodersen, The Hague: Marinus Nijhoff 1964, pp. 20 – 63. 152 Peter L. Berger und Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt a. M.: Fischer 1969 (ursprünglich: The Social Construction of Reality. A Treatise in the Sociology of Knowledge, New York: Doubleday 1966).
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oder – wie in der Wissenssoziologie der zwanziger Jahre – falsch bearbeitet worden. Die eigentliche Aufgabe der Wissenssoziologie sei „die Erforschung der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit“.153 Letztere sei eine „,Realität sui generisʻ“. Die Frage sei: „Wie ist es möglich, daß subjektiv gemeinter Sinn zu objektiver Faktizität wird?“ Das Buch hatte drei Hauptteile. Im ersten wurde die Schützʼsche Begründung des Sinns beim Handeln im Alltag angesichts der fraglos gegebenen Idealitäten – wie sie durch Edmund Husserl expliziert waren – fast werkgetreu nachgezeichnet. Die einzige – indessen folgenschwere – Vereinfachung war, dass Schützʼ Bezug auf Max Webers Konzept der Idealtypenbildung weggelassen wurde. Schütz hatte die Strukturen der Sozialwelt – soziale Gruppierungen bis hin zum Staat – durch personale Idealtypen und durch Ablauftypen erläutert; Berger und Luckmann machten daraus Typisierungen, „welche um so anonymer werden, je mehr sie sich vom ‚Jetzt und Hierʻ der Vis-à-vis-Situation entfernen“.154 Im zweiten Teil wurde nach den Wissensbeständen der Gesellschaft, einer vorgegebenen Welt, gefragt. Für die Gesellschaft als der objektiven Wirklichkeit, wie sie erschien, seien zwei Prozesse entscheidend – Institutionalisierung und Legitimierung. Die Institutionalisierung sei notwendig angesichts der menschlichen Natur, wobei die Anthropologie Arnold Gehlens sowie die philosophischen Überlegungen Helmuth Plessners zur Körpererfahrung herangezogen wurden: „Diese Exzentrizität der Erfahrung des Menschen von seinem Körper hat gewisse Konsequenzen für die Analyse seiner Aktivität ‚im Benehmenʻ mit der konkreten Umwelt und als Externalisierung, das heißt Entäußerung von subjektiv gemeintem Sinn“.155 So entstand ein doktrinäres Bild: „Institutionalisierung findet statt, sobald habitualisierte Handlungen durch Typen von Handelnden reziprok typisiert werden. Jede Typisierung, die auf diese Weise vorgenommen wird, ist eine Institution“.156 Der einzelne Handelnde sei Teil dieser Struktur, weil er Teil der Gesellschaft sei, in der er lebe: „Es ist das Wissen, das im Verlauf der Sozialisation erworben wird und dem Bewußtsein des Einzelnen die Internalisierung der vergegenständlichten Struktur der sozialen Welt vermittelt. Wissen in diesem Sinne … ‚programmiertʻ die Bahnen, in denen Externalisierung eine objektive Welt produziert“.157 Immerhin enthalte die moderne Welt eine gewisse Vielfalt sozialer Rollen und so genannter SubSinnwelten. Geltung hätten die Sinnsetzungen allerdings erst, wenn sie Legitimitation besäßen. Die „Legitimation durch die symbolische Sinnwelt“158, wozu auch die „theoretische Konstruktion als Stütze für Sinnwelten“159 gehöre, geschehe durch gesellschaftliche Macht: „In der Geschichte haben bessere Waffen, nicht bessere Argumente den Aufstieg oder Fall von Göttern entschieden. Dasselbe gilt natürlich von innergesellschaftlichen Konflikten. Wer den derberen Stock hat, hat die bessere 153 Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, p. 20; dort auch die nächsten zwei Zitatstellen. 154 Ibid., p. 36. 155 Ibid., p. 53 156 Ibid., p. 58. 157 Ibid., pp. 70 – 71. 158 Ibid., p. 107. 159 Ibid., p. 112.
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Chance, seine Wirklichkeitsbestimmung durchzusetzen, eine Faustregel, die für jede größere Gemeinschaft gilt, was freilich nicht ausschließt, daß politisch uninteressierte Theoretiker einander überzeugen, ohne zu massiveren Bekehrungsmitteln zu greifen“.160 Letztlich sei soziologisch nicht das „,Wasʻ“161 der „greifbaren Wirklichkeitskonzeptionen“ entscheidend, sondern das „,Wer?ʻ“ – also die Macht: „Macht in der Gesellschaft schließt die Macht ein, über Sozialisationsprozesse zu verfügen, und damit die Macht, Wirklichkeit zu setzen“.162 Der nächste Teil vertiefte die hermetische Perspektive. „Gesellschaft als ständiger dialektischer Prozeß … aus drei Komponenten …: Externalisierung, Objektivation und Internalisierung“163 wirke auf das Subjekt. Die Internalisierung der Wirklichkeit geschehe stets zuerst durch die primäre Sozialisation, wobei „,signifikante Andereʻ“164 dem Kind eine bereits vorhandene „objektive Gesellschaftsstruktur“ vermittelten: „Diese signifikanten Anderen sind ihm auferlegt“. Es entstehe Symmetrie: „Was ‚außenʻ wirklich ist, entspricht dem, was ‚innenʻ wirklich ist“.165 Die sekundäre Sozialisation differenziere die Wissensbestände sodann durch „Sonderinstanzen für sekundäre Sozialisation“.166 Die subjektive Wirklichkeit werde durch „subjektive Wirklichkeitssicherung“167 möglichst bewahrt. Die „Routine“168 trage zur Kontinuität bei, aber notfalls werde die Wirklichkeit neu konstituiert bei der „Bewältigung von Krisen“.169 Internalisierung sei jedenfalls heutzutage nicht essentiell, weshalb man beispielsweise „nicht mehr ein Aristokrat [ist], sondern … ‚die Rolle des Aristokraten [spielt]ʻ und so weiter“.170 Jenseits der meisten Identitätstheorien gelte: „Identität, die durch das Zusammenwirken von Organismus, individuellem Bewußtsein und Gesellschaftsstruktur produziert wird, [reagiert] auf die vorhandene Struktur, bewahrt sie, verändert sie oder formt sie sogar neu“171 – ein Gedanke, der wahrlich nichts mehr mit Schützʼ Darlegungen zum sinnhaften Aufbau der sozialen Welt zu tun hatte. Auf diese „präsoziologische“172 Perspektive, wie sie im Eingangskapitel genannt wurde, berief sich die Schlussbetrachtung, die 160 161 162 163 164 165 166 167 168
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170 171 172
Ibid., p. 117. Ibid., p. 125; dort auch die nächsten zwei Zitatstellen. Ibid., p. 128. Ibid., p. 139. Ibid., p. 141; dort auch die nächsten zwei Zitatstellen. Ibid., p. 144. Ibid., p. 157. Ibid., p. 159. Dazu: ibid., pp. 159 – 166. Bezugsgruppen und „sonstige Andere“, mit denen eine dauernde Selbstvergewisserung durch Gespräch stattfinde, seien Garanten der Plausibilitätsstruktur für die subjektive Wirklichkeit: „Wenn die subjektive Wirklichkeit intakt bleiben soll, so muß die Konversationsmaschine gut geölt sein und ständig laufen. Das Reißen der Fäden, der Abbruch der sprachlichen Kontakte, ist für jede subjektive Wirklichkeit eine Gefahr“. (p. 165) Ibid., pp. 166 – 174. Bei der Krisenbewältigung sei Resozialisation erforderlich, insofern neue Wirklichkeitskonstruktionen gesucht werden müssten: „Resozialisierung heißt: Man durchschneidet den gordischen Knoten des Zusammenhangsproblems, indem man die Suche nach Zusammenhängen aufgibt und die Wirklichkeit neu konstruiert“. (p. 173) Ibid., p. 184. Ibid., p. 185. Ibid., p. 22.
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dem beschriebenen Verhältnis zwischen Wissenssoziologie und soziologischer Theorie einen breiten Gegenstandsbereich zusicherte: „Unsere Konzeption der Wissenssoziologie impliziert eine bestimmte Konzeption der Soziologie überhaupt. … Sie impliziert …, daß Soziologie zu jenen Wissenschaften gehört, deren Forschungsgegenstand der Mensch als Mensch ist. In diesem speziellen Sinne ist Soziologie eine humanistische Wissenschaft“.173 Zusammenfassend: Vier Ansätze – heute weltweit rezipiert – entstanden in den sechziger Jahren. Luhmann entwarf eine Soziologie der eigendynamischen Prozesse in sozialen Systemen, um die Mechanismen der systemgesteuerten Problemlösung zu erklären. Habermas kritisierte die etablierte Soziologie, weil sie Sozialtechnologie lehre, und entwickelte eine marxistisch verstandene Kommunikationstheorie und Erkenntniskritik. Dahrendorf dachte sich ein Prüffeld für gesellschaftliche Reformen, um mehr Freiheit und Gleichheit der Bürger einzufordern. Luckmann entwarf ein Wissensgebiet der Wirklichkeitskonstruktion entsprechend den gesellschaftlichen Machtverhältnissen. Keiner berief sich auf die methodologisch begründete Soziologie Max Webers. Keine der vier Theorien baute auf den Prämissen und den Postulaten auf, wie sie Simmel und Weber um die Jahrhundertwende aufgestellt hatten, um gegen den Positivismus und die Geschichtsphilosophie anzugehen. 3. DER FORTSCHRITT ZURÜCK ZU MAX WEBER Den Marxismus als eine Theorie der Geschichte, die ursprünglich aus der Philosophie Hegels stammte und zeitgenössisch den sowjetischen dialektischen Materialismus („Diamat“) stützte, diskutierten zu Beginn der sechziger Jahre an der Freien Universität Berlin die Universitätstage 1961.174 Dieter Henrich trat der These entgegen, Marxʼ Frühschriften zeigten einen Ausweg aus dem erkenntnistheoretischen Monismus des Marxʼschen Spätwerks: „Wenn die reife Gestalt der marxistischen Philosophie nicht gehalten wird, so muss zugleich die Problemstellung unhaltbar sein, die zu ihr geführt hat. Es ist deshalb auch nicht erlaubt, den Humanismus des jungen Marx für eine Position zu erklären, die in sich ruhen könnte“.175 Die Bedeutung der Soziologie Simmels und der Methodologie Webers wurde in der Kölner Zeitschrift in zwei Aufsätzen Tenbrucks überzeugend rekapituliert.176 Aber gegen die Aufbruchstimmung der jungen Generation, die den Humanismus bei Marx – nicht Weber oder Simmel – zu finden hoffte, konnten solche gut fundierten Aussagen wenig ausrichten.
173 Ibid., p. 201. 174 Universitätstage 1961, Veröffentlichung der Freien Universität Berlin, Marxismus-Leninismus. Geschichte und Gestalt, Berlin: Walter de Gruyter 1961. 175 Dieter Henrich, Karl Marx als Schüler Hegels, in: Universitätstage 1961, pp. 5 – 19, cit. p. 18. 176 Friedrich Tenbruck, Georg Simmel (1858 – 1918), Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Bd. 10, 1958, pp. 587 – 614; Tenbruck, Die Genesis der Methodologie Max Webers, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Bd. 11, 1959, pp. 573 – 630.
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Die im Jahr 1959 erschienene – als Dissertation der Universität Heidelberg verfasste – Monographie des Historikers Wolfgang Mommsen traf allerdings den Nerv der Zeit.177 Max Weber und die deutsche Politik 1890 – 1920 legte Archivmaterialien aus Merseburg zugrunde, die Mommsen (wegen seiner Familienbeziehungen zu Weber178) zugänglich waren, um das konservative Weltbild Webers dokumentarisch zu belegen: Dieser habe in den 1890er Jahren dem Alldeutschen Verband angehört, habe im Ersten Weltkrieg den Sieg des Vaterlandes erstrebt und schließlich nach Kriegsende in Bayern den Mörder des (ehemaligen) Ministerpräsidenten Eisner wegen seiner Überzeugungen in Schutz genommen. Das Werk, das Webers pandeutschen Nationalismus und dessen politisches Ideal der charismatischen Führerherrschaft schilderte, wurde ein Bestseller auch unter den Studenten der Soziologie. Andere Arbeiten zu Weber, die ein ausgewogeneres Bild ergeben hätten, waren in die Eremitage verwiesen – um einen Ausdruck Renate Mayntzʼ zu verwenden. Zur gleichen Zeit erschien in den USA – nicht Deutschland – eine erste soziologische Darstellung des Werkes (und der Person) Webers.179 Reinhard Bendix war Emigrant aus dem Deutschland der dreißiger Jahre und hatte in Chicago studiert. Max Weber – An Intellectual Portrait war die erste werkgetreue Studie zu Weber. Das Buch behandelte vor allem die Religions- und politische Soziologie und endete mit einer Skizze des Gesellschaftsverständnisses – ohne Polemik und ohne den Vorwurf eines anti-demokratischen politischen Weltbildes: „Webers Beschäftigung mit den Gegenseitigkeitsbeziehungen in Gesellschaft und Politik ist bisher nicht angemessen gewürdigt worden. Ihm war die Tatsache bewusst, dass in einem modernen rationalen Gemeinwesen die öffentliche und die private Existenz des Bürgers, die Gesamtheit der Nation und die Sonderinteressen ebenso wie das landeseinheitliche Rechtssystem und einzelne Gerichtsbarkeiten gleichzeitig nebeneinander bestehen. Das Besondere dieser Perspektive hat sich in unserer Zeit gezeigt, wo die totalitären Regimes diese ungelösten Spannungen innerhalb des herrschenden Rechtssystems zum Vorwand nehmen konnten, um eine Identifikation jeglicher menschlicher Regungen mit den Pflichten gegen den Staat zu erzwingen“.180 Parsons schrieb eine Rezension für die American Sociological Review.181 Wohl diese Rezension und die damit zusammenhängende Korrespondenz brachte die beiden Weberkenner in engeren Kontakt. Bendix dürfte Parsons schon bald seine Befürchtung mitgeteilt haben, der für 1964 geplante Soziologentag in Heidelberg an177 Wolfgang Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik 1890 – 1920, Tübingen: J. C. B. Mohr 1959 (2. Auflage 1974, 3. Auflage 2003). 178 Eine Schwester Webers hatte ein Mitglied der Familie Mommsen geheiratet. 179 Reinhard Bendix, Max Weber – An Intellectual Portrait, New York: Doubleday 1959. 180 Ibid., p. 494; eigene Übersetzung. Im Original: „Weberʼs preoccupation with the reciprocal effects of society and polity has not received the attention it deserves. It came to grips with the fact that in the modern rational state, citizenship and privacy, national unity and parochial interests, a nationwide legal system and special jurisdictions exist side by side. The significance of this perspective has become clear in our own day, when totalitarian regimes have obliterated these unresolved tensions of a system of ‚legal dominationʻ by their coercive identification of all human concerns with the duties of citizenship.“ 181 Parsons, „Max Weber“, American Sociological Review, vol. 25, 1960, pp. 750 – 752.
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lässlich des hundertsten Geburtstages Webers könne zum Forum der – gar polemischen – Kritik an Weber werden.182 Jedenfalls tauschten Bendix und Parsons ihre Besorgnis und mit Blick auf den bevorstehenden Soziologentag ihre Gedanken aus – bis hin zu jenem denkwürdigen Brief Bendixʼ an Parsons vom 9. April 1964, wo Bendix eine regelrechte Kampagne gegen Weber befürchtete: „I have the distinct impression that the centenary is being used by all and sundry to make Weber a whipping-boy of the unresolved intellectual legacies of Germany for the last half century. If you consider that Marcuse sounds not only like Lukacz but also like Leo Strauss and Eric Voegelin and Wolfgang Mommsen – and Christoph Steding (I shall check this last one before I leave, he was a Nazi philosopher in the thirties), you begin to wonder“.183 Und weiter: „It is some irony, is it not, that the Americans (including this assimilated American) come to Weberʼs defense on this occasion, while the unreconstructed Germans from both sides of the Atlantic are fighting the old battles“.184 Parsons hatte zwar 1962 – zusammen mit Bendix – sichergestellt, dass das Programm des Soziologentages kein Forum der bloßen Weberkritik wurde.185 Als Geschäftsführer der American Sociological Association bat er den Vorsitzenden der International Sociological Association (ISA), Otto Stammer, den Vorsitzenden des Vorbereitungskomitees für Heidelberg, zum 5. Weltkongreß nach Washington einzuladen. Bendix, Parsons und Stammer vereinbarten in kleiner Runde, offenbar ohne René König, der in Washington war (und dem Vorstand der ISA angehörte), was die Themen und wie die Reihenfolge der Plenarsitzungen des Heidelberger 182 Die Kölner Zeitschrift brachte 1961 drei (sämtlich besorgte) Entgegnungen aus Deutschland emigrierter Sozialwissenschaftler auf Mommsens Buch – Bendix sowie Paul Honigsheim und Karl Loewenstein. Bendix sah in Mommsens Buch – trotz der „wissenschaftlichen Akribie“ – eine „erneute ‚Abrechnungʻ der nach-hitlerʼschen Generation mit Max Weber“. Reinhard Bendix, Einige Bemerkungen zu einem Buch von Wolfgang Mommsen, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Bd. 13, 1961, pp. 258 – 262, cit. pp. 258 – 259. 183 Reinhard Bendix an Talcott Parsons, Brief vom 9. April 1964, Parsons-Nachlass, Harvard University Archives HUG(FP) – 15.4, Box 4. Georg Lukácz hatte – veröffentlicht 1954 – eine Geschichte der deutschen Soziologie und Philosophie unter dem Titel Die Zerstörung der Vernunft verfasst, wo er aus marxistischer Warte auch gegen Simmel und Weber polemisierte. Christoph Steding hatte 1932 – in seiner Dissertation – Weber als Theoretiker der charismatischen Führerdiktatur dargestellt; er hatte Philosophie in der Zeit des Nationalsozialismus gelehrt. 184 Eine Übersetzung dieses Passus könnte lauten: „Eigentlich ist es aberwitzig, dass die Amerikaner (einschließlich mir als einem eingebürgerten Amerikaner) nun Weber vor den Angriffen retten, wenn die unverbesserlichen Deutschen von diesseits und jenseits des Atlantik die alten Kämpfe wieder aufleben lassen.“ 185 Zu den Einzelheiten der Vorbereitung, Durchführung und Folgeereignisse des Heidelberger Soziologentages: Uta Gerhardt, Die Rolle der Remigranten auf dem Heidelberger Soziologentag 1964 und die Interpretation des Werkes Max Webers, in: Claus-Dieter Krohn und Axel Schildt (Hrsg.), Zwischen den Stühlen? Remigranten und Remigration in der deutschen Medienöffentlichkeit der Nachkriegszeit, Hamburg: Christans 2003, pp. 216 – 243; Gerhardt, Der Heidelberger Soziologentag 1964 als Wendepunkt der Rezeptionsgeschichte Max Webers, in: Gerhardt (Hrsg.), Zeitperspektiven: Studien zu Kultur und Gesellschaft. Beiträge aus der Geschichte, Soziologie, Philosophie und Literaturwissenschaft, Stuttgart: Steiner 2003, pp. 232 – 266.
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Soziologentages sein sollte(n). Stammer klärte dies danach mit der DGS und sandte Parsons eine Einladung, wo er die Absprache bestätigte: „Wir hatten Ihnen bereits in Washington sagen können, daß wir auf dem Heidelberger Kongress drei Themenkomplexe behandeln wollen: 1) Wertfreiheit und Objektivität, 2) Max Weber und die Machtpolitik, 3) Industrialisierung und Kapitalismus. Zu jedem dieser Themen soll, wie wir bereits in Washington in Aussicht genommen haben, ein Hauptreferat gehalten werden, wobei die endgültige Formulierung des jeweiligen Themas noch im Einzelnen mit dem Referenten abgesprochen werden soll. Außerdem ist daran gedacht, einige ausländische und deutsche Herren darum zu bitten, zu den Referenten kurze, vorbereitete Diskussionsvorträge zu geben“.186 Das Programm des Heidelberger Soziologentages: Den ersten Plenarvortrag hielt Parsons zum Thema Objektivität und Wertfreiheit. Raymond Aron behandelte Max Weber und die Machtpolitik, und Herbert Marcuse hatte das Thema Industrialisierung und Kapitalismus. Zu jedem Thema sprachen fünf Diskussionsredner, darunter Habermas zu Parsons, Mommsen zu Aron und schließlich Bendix sowie Benjamin Nelson, der eine Anthologie zur Wirkung Webers im zwanzigsten Jahrhundert vorbereitete, zu Marcuse. Marcuse war durch Adorno vorgeschlagen, seit 1959 Mitglied des Vorstandes der DGS und ab 1963 ihr Vorsitzender. Marcuse bereitete sein Werk One Dimensional Man vor – eine umfassende Kritik der Gegenwart vor dem Hintergrund der die Selbstbestimmung hemmenden kapitalistisch-bürokratischen Gesellschaft; es erschien wenige Monate nach dem Heidelberger Soziologentag.187 Marcuses Referat zum Weltkongress der Soziologie in Washington hieß On the Problem of Ideology in Advanced Industrial Society.188 Es begann: „Es scheint, dass die Gefahr, dass durch eine atomare Katastrophe die Menschheit ausgelöscht wird, dazu beiträgt, dass jene Kräfte sich erhalten, die diese Gefahr verschulden“.189 Das Bewusstsein von Freiheit, Gleichheit und Glück in der gegenwärtigen industriellen Gesellschaft könne zwar angesichts der Realität der überwältigenden Mächte des Kapitalismus 186 Deutsche Gesellschaft für Soziologie. Der Vorsitzende, Brief von Otto Stammer an Talcott Parsons, 22. November 1962, p. 3. Parsons-Nachlass, HUG(FP) – 15.4, Box 19. 187 Herbert Marcuse, One Dimensional Man. Studies in the Ideology of Advanced Industrial Society, Boston: Beacon Press 1964; die deutsche Übersetzung Der eindimensionale Mensch erschien 1967. Das Buch hatte die drei Teile The One-Dimensional Society, The One-Dimensional Thought und The Chance of the Alternatives. Am Schluss seines Werkes zitierte Marcuse den Satz Walter Benjamins „Nur um der Hoffnungslosen willen ist uns die Hoffnung gegeben“ und beschwor „the outcasts and outsiders, the exploited and the persecuted of other races and other colors, the unemployed and the unemployable.“ (p. 256) Von ihnen dachte er: „When they get together and go out into the streets, without arms, without protection, in order to ask for the most primitive civil rights, they know that they face dogs, stones, and bombs, jail, concentration camps, even death. Their force is behind every political demonstration of the victims of law and order. The fact that they start refusing to play the game may be the fact which marks the beginning of the end of a period.“ (p. 257) 188 On the Problem of Ideology in Advanced Industrial Society, Herbert Marcuse, Brandeis University, Herbert Marcuse Archiv, Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt a. M., Signatur 229.00 189 Ibid., p. 1. Im Original: „It seems that the danger of an atomic catastrophe which may wipe out the human race serves to protect the very forces which perpetuate this danger.“
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nicht die Wirklichkeit bestimmen und sei deshalb Ideologie. Aber dies könne sich ändern: „Da es nicht fähig ist, diese Situation aus sich heraus zu verändern, wobei es der gesellschaftlichen Wirklichkeit unterliegt, ist das ideologische Bewusstsein zugleich ‚falsches Bewußtseinʻ. Aber gerade als solches antizipiert es in idealistischer Gestalt die geschichtlichen Möglichkeiten, die in der vorfindlichen Wirklichkeit enthalten sind“.190 In Heidelberg sprach Parsons zu Wertgebundenheit und Objektivität in den Sozialwissenschaften.191 Er bezeichnete Weber als Pionier des zwanzigsten Jahrhunderts; über ihn und andere Zeitgenossen könne man sagen, dass „die Generation, die den Bogen zum 20. Jahrhundert spannte, jene Anfangsschritte tat, die einen grundlegenden geistigen und kulturellen Wandel einleiteten, dessen volle Konsequenzen sich erst jetzt zu zeigen beginnen“.192 Webers Methodologie sei gegen Positivismus und Utilitarismus gerichtet und habe sich dem weltanschaulichen Diktat des Sozialismus und des Kommunismus entzogen. Wertbeziehung als Wertfreiheit sei der Verzicht des Wissenschaftlers auf Indoktrination vom Katheder aus und bedeute allemal die Bereitschaft, ein eigenes Wertsystem der Wissenschaft anzuerkennen, das die intersubjektiv gültige Beweisführung erlaube: „Nur der Forscher, der seine Rolle als Wissenschaftler von seiner Rolle als bloßer Teilhaber an der umfassenden Kultur zu trennen vermag, kann die Perspektive und die Objektivität erreichen, die notwendig sind, um eben jene Elemente, welche für seine wissenschaftlichen Zwecke wesentlich sind, von denjenigen seiner Kultur zu trennen, die dabei irrelevant sind. Die Wissenschaft selbst – das ist die Folgerung – muß ihr eigenes Wertsystem haben, das verständlich und gültig ist sowohl in der Kultur, in der der Forscher lebt, als auch in der seiner Objekte, die er studiert“.193 Horkheimer ergriff unerwartet das Wort – ehe er die Diskussion leitete – und ließ wissen, er habe schon als junger Student in Webers Vorlesung im Sommersemester 1919 seine Zweifel gehabt, ob denn die Wertfreiheit angesichts der „philosophischen Verpflichtung“ des Soziologen überhaupt die Verantwortung der Wissenschaft für die moderne Welt widerspiegele.194
190 Ibid., p. 4. Im Original: „Incapable of altering by itself this situation, and succumbing to the social reality, the ideological consciousness is ‚false consciousnessʻ. But as such it anticipates, in an idealistic form, historical possibilities contained by the established reality.“ Anlässlich des Vortrages könnten Bendix, Parsons und Stammer unter den Zuhörern Marcuses in Washington gewesen sein. 191 Talcott Parsons, Wertgebundenheit und Objektivität in den Sozialwissenschaften, in: Verhandlungen des 15. Deutschen Soziologentages, Max Weber und die Soziologie heute. Im Auftrag der Deutschen Gesellschaft für Soziologie herausgegeben von Otto Stammer, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1965, pp. 39 – 64. Der Titel gehörte zur deutschen Übersetzung, die an der Freien Universität Berlin für den Tagungsband angefertigt wurde. Der Vortrag war ursprünglich unter dem Titel „Evaluation and Objectivity in Social Science“ in Englisch verfasst. 192 Parsons, Wertgebundenheit und Objektivität in den Sozialwissenschaften, p. 41. 193 Ibid., p. 51. 194 Max Horkheimer, Einleitung zur Diskussion, in: Max Weber und die Soziologie heute, pp. 65 – 67.
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Habermas als Diskussionsredner195 zog eine Linie zwischen Webers politischer Soziologie und Carl Schmitts Manichäismus und Dezisionismus: „Mir scheint, daß wir die Methodologie Webers nicht lösen können von seiner allgemeinen Interpretation der für die Gegenwart bestimmenden Entwicklungstendenzen. Wir können in dieser Hinsicht von der älteren Weber-Forschung, von den Arbeiten Löwiths, Landshuts und Freyers, lernen. … Webers philosophische Antwort hieß: dezisionistische Selbstbehauptung inmitten einer rationalisierten Welt; seine politische Antwort: Spielraum für den willensintensiven und machtinstinktiven Führer – für den starken Politiker, der sich der Fachbeamten, und für den Unternehmer, der sich seines Betriebes zugleich autoritär und rational bedient. … Weber hat in der Periode des Ersten Weltkrieges das Bild der cäsaristischen Führerdemokratie auf der zeitgenössischen Grundlage eines nationalstaatlichen Imperialismus entworfen. Dieser militante Spätliberalismus hat in der Periode der Weimarer Zeit Folgen gehabt, die wir nicht Weber, aber uns zurechnen müssen, wenn wir Weber heute rezipieren: wir können nicht daran vorbei, daß Carl Schmitt ein legitimer Schüler Max Webers war“.196
195 Jürgen Habermas, Diskussionsbeitrag zu „Wertfreiheit und Objektivität“, in: Max Weber und die Soziologie heute, pp. 74 – 81. Parsons hatte sich zur Vorbereitung Notizen zu Habermasʼ Diskussionspunkten gemacht (geschrieben in einer Mischung aus Deutsch und Englisch). Er begann dort mit einem generellen Vorbehalt: „Zu beschränkte Interpretation von Weber – Zweckrationalität etc. Auch praktische Anwendung. Sinn verstehen nicht untergeordnet“. Zu den vier Fragen, die Habermas in seiner Diskussionsbemerkung an Weber bzw. Parsons stellte: Habermas frage, ob Webers Erkenntnisinteresse „über die Erzeugung technisch verwertbaren Wissens hinausgehend auch auf die Explikation der Bedeutung gesellschaftlicher Prozesse“ ziele; dazu Parsons „1) Natürlich – aber als Wissenschaft im empirischen Sinne muss kausaltheoretisch orientiert sein.“ Habermasʻ zweite Frage war, ob „eine verstehende Sozialwissenschaft über das Motivationsverstehen hinaus in die Dimensionen einer hermeneutischen Aneignung von tradierten Bedeutungsgehalten“ führe. Parsons: „2) Hängt vom Begriff des Handelns ab. Natürlich muß man die kulturellen Gründungen der [M]otivation [v]erstehen – kein absoluter, nur analytischer Gegensatz.“ Habermasʻ dritter Punkt war, dass methodisch die in den Sozialwissenschaften unvermeidliche Wertbeziehung „auch Einfluß auf die Theoriebildung als solche“ hätte. Parsons dazu: „3) Wertbeziehung, nicht nur Auswahl. Transzendente Bezogenheit nicht qua Wissenschaftler. Theoriebildung durch [S]tudien der Werte der Objekte u. durch Communication.“ Habermasʻ vierte Frage nahm Webers Diktum von „Fachmenschen ohne Geist und Genußmenschen ohne Herz“ auf und meinte, dass Webers „methodologische Gesichtspunkte“ zu den „Ergebnissen seiner Gesellschaftanalyse“ passten, also die „dezisionistische Selbstbehauptung inmitten einer rationalisierten Welt“ widerspiegelten. Parsons dazu lapidar: „4) Rationalization etc. Franklinʼs ‚useful knowledgeʻ in several contexts“ – womit er auf Webers Rückgriff auf Benjamin Franklins Traktat Advice To A Young Tradesman in Die protestantische Ethik und der Geist der Kapitalismus anspielte. Dort hatte Weber darin den empirischen Bezugspunkt seiner Untersuchung der voluntaristischen Aspekte des modernen Kapitalismus gesehen – im Unterschied zum bloßen Abenteurerkapitalismus und auch zur bloß asketischen Lebensführung. Die Notizen Parsonsʼ zu Habermas Diskussionsbeitrag sind archiviert im Parsons-Nachlass, HUG(FP) – 15.4, Box 9. 196 Habermas, Diskussionsbeitrag, pp. 78, 79, 81; dem zuletzt zitieren Satz fügte Habermas im Tagungsband die Fußnote an: „Einen freundlichen Ratschlag aufnehmend, halte ich nachträglich eine andere Formulierung, wenn man sie in ihrer Ambivalenz beläßt, für zutreffender: Carl Schmitt war ein ‚natürlicher Sohnʻ Max Webers.“
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Parsons mochte dies nicht gelten lassen. Er trat ans Mikrophon zu einem Schlusswort, wo er an das wissenschaftliche Erbe Webers erinnerte (in Englisch)197: „[In] these discussions … [t]here were general references to the kind of thing that ought to be done or that Weber did. But no actual analysis of what he in fact did. The one exception is his political attitudes[.] … Now, I am very much aware of the great importance of the problem for Germans and the ambivalences which necessarily are attached to this subject[.] … I should … like to say that I think … that Weber was concerned with [a broader set of problems] as philosopher of science and as substantive analyst of social phenomena in the broadest historical and comparative perspective. I hope these perspectives are not going [to] be lost sight of“.198 Marcuse sprach zu Industrialisierung und Kapitalismus.199 Er führte aus, dass Webers Analysen ein getreues Abbild der Entfremdungsverhältnisse des imperialistischen Wilhelminismus wären und seine Methodologie, die dem Prinzip der „Wertfreiheit“ folge, zur Rechtfertigung des industriellen Kapitalismus diene: „Seit der Freiburger Antrittsrede, die mit rücksichtsloser Offenheit die wertfreie Nationalökonomie den Anforderungen der imperialen Machtpolitik unterwirft, ist diese Funktion der Weberschen Wissenschaftslehre klar“.200 Die Rationalität, die Weber schildere, so Marcuse, sei allenfalls technische Vernunft: „[D]ie Sache ist dargelegt: die formale Vernunft des technisch-vollendeten Verwaltungsapparats untersteht dem Irrationalen“.201 Abschließend forderte er eine „qualitativ verschiedene Rationalität“202, die die Trennung des arbeitenden Menschen von den Betriebsmitteln aufhebe. Gegen Weber sei zu sagen: „(A)ls ‚geronnener Geistʻ ist die Maschine nicht neutral; technische Vernunft ist die jeweils herrschende gesellschaftliche Vernunft: sie kann in ihrer Struktur selbst verändert werden. Als technische Vernunft kann sie zur Technik der Befreiung gemacht werden“. Bendix verwies in seinem Diskussionsbeitrag203 auf die Ähnlichkeit der Weberkritik Marcuses mit Lukácz, Mommsen und Steding. Er sah in Marcuses Darlegungen „eher Kultur-Apokalyptik, eine Art Apotheose idealtypischer Extrapolationen, als wissenschaftliche Analyse“.204 Nelsons Diskussionsbeitrag205 wandte sich gegen jegliche Weberkritik: „All the current charges against Weber – those of Prof. Marcuse included – crumble before two irreducible facts. Weber was a pioneer in the 20th century struggle against bureaucratic and technocratic totalitarianism. … Who, indeed, explored the dilem197 Parsons, Schlußwort, in: Max Weber und die Soziologie heute, pp. 94 – 98. 198 Ibid., pp. 94 – 95. 199 Herbert Marcuse, Industrialisierung und Kapitalismus, in: Max Weber und die Soziologie heute, pp. 161 – 180. 200 Ibid., p. 161. Es mochte Marcuse entgangen sein, dass die frühesten Schriften Webers zur Methodologie erst acht Jahre nach der Freiburger Antrittsvorlesung entstanden. 201 Ibid., p. 175. 202 Ibid., p. 180; dort auch die nächste Zitatstelle. 203 Reinhard Bendix, Diskussionsbeitrag, in: Max Weber und die Soziologie heute, pp. 184 – 191. 204 Ibid., p. 191. 205 Benjamin Nelson, Diskussionsbeitrag, in: Max Weber und die Soziologie heute, pp. 192 – 201.
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mas of action in the 20th century so deeply and honestly as did Weber? Not Tolstoy, not Freud, not Schweitzer … Say what one will of his politics, he has no peer as an examiner of the central option of historic cultures, the tangled problems of a world of nations, and the moral quandaries of every level of existence and decision – the individual self, the social group, the political community“.206 Marcuse hielt ebenfalls ein Schlusswort.207 Er las zunächst einen Absatz aus Nelsons Diskussionsbeitrag auf Englisch vor, wo Nelson bei Marcuse eine „tragic reluctance to acknowledge the inevitable features of the social cultural realities of our time“ konstatiert hatte.208 Dann erklärte er zum Publikum: „Es ist der vernünftige Wille, das Gegebene nicht als ‚inevitableʻ, als unvermeidlich anzusehen, sondern aus seinen eigenen Möglichkeiten die Konsequenzen zu ziehen. Wenn es soweit gekommen ist, daß man es einen ‚tragischen Widerwillenʻ nennt, wenn man diese ‚Unvermeidlichkeitʻ nicht anerkennt, dann ist alles Denken sinnlos geworden; denn ein Denken, das sich von vornherein damit abfindet, daß das Gegebene unvermeidlich ist, ist nun wirklich kein Denken mehr“.209 Das Entscheidende des Heidelberger Soziologentages geschah indessen erst in der Zeit danach. Die Nachgeschichte bewirkte, dass Weber in Deutschland wieder zum Klassiker der soziologischen Theorie werden konnte. Die Nachgeschichte fand zunächst in den USA statt. Die Ereignisse begannen mit einem Rückblick auf den Heidelberger Soziologentag in der Londoner Zeitschrift Encounter. Unter dem Titel Storm Over Max Weber übte ein Carl Cerny Kritik an der Kritik gegenüber Weber, die in Heidelberg vorgeherrscht habe.210 Nelson verfasste einen Letter to the Editor, den die New York Times Book Review am 3. Januar 1965 veröffentlichte.211 Der Text war im Entwurf mit Parsons abgeklärt. Nelson nannte Weber dort „a brave and dedicated citizen who fought a hopeless battle against German Kaiserism and would have fought Hitler with equal courage if he had been granted a normal span of life“. Dann fuhr er fort: „How shockingly different was 206 Ibid., pp. 200 – 201. 207 Herbert Marcuse, Schlusswort, in: Max Weber und die Soziologie heute, pp. 216 – 218. 208 Der Passus ist im Tagungsband Max Weber und die Soziologie heute im Diskussionsbeitrag Nelsons nicht (mehr) enthalten, sondern wird im Wortlaut nur in Marcuses Schlusswort wiedergegeben. 209 Marcuse, Schlusswort, p. 218. Im für den Tagungsband ausformulierten Text des Schlussworts hieß es in dem Passus, bevor Marcuse auf Nelsons Rede einging: „Wenn man sich den heutigen intellektuellen und materiellen Reichtum der Gesellschaft ansieht, wenn man sich ansieht, was wir heute wissen und was wir heute können, dann gibt es eigentlich nichts, was man mit gutem Gewissen und rational noch als Utopie verdächtigen und denunzieren sollte. Wir könnten heute eigentlich alles. Sicher könnten wir eine rationale Gesellschaft haben, und gerade weil das eine so nahe geschichtliche Möglichkeit ist, ist ihre Verwirklichung in der Tat ‚utopischerʻ als je zuvor: die ganze Macht des Bestehenden ist gegen sie mobilisiert.“ (p. 217) 210 Carl Cerny, Storm Over Max Weber, Encounter, August 1964, pp. 57 – 59. 211 The New York Times Book Review, January 3, 1965, „Letters to the Editor“, Storm Over Weber, gez. Benjamin Nelson, Stony Brook L.I., p. 23; alle Zitate aus diesem Text sind derselben Seite entnommen. Der Leserbrief ist im Parsons-Nachlass unter HUG(FP) – 15.4, Box 9 archiviert und im Marcuse-Nachlaß in der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt a. M. unter der Signatur 273 (zu dieser Signatur gehören insgesamt 5 Blatt).
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the impression propagated by Weberʼs forgetful countrymen last April in Heidelberg, whither a small party of Americans, including myself, had gone at the invitation of the German Sociological Society to commemorate the centenary of the great innovatorʼs birth“. Er beschrieb den Heidelberger Soziologentag: „[T]here took place a scapegoating of Weber by a highly vocal faction of self-styled ‚progressiveʻ democratic‚ anti-Nazis,ʻ committed to the so-called ‚critical, dialectical (read existentialist neoMarxist) philosophyʻ.“ Und weiter: „ [T]he Titan of Heidelberg was even denounced as a main inspiration of the ‚Hitler event of 1933ʻ and its aftermath“. O-Ton Nelson: „Insisted his detractors: Weber was the bridge to Hitler! Weber must be charged with a major part of the blame for the adoption and success on [sic] the ‚Final Solutionʻ! Were not the concentration camps the ultimate fruit of Weberʼs endorsement of ‚scientific value neutralityʻ and bureaucratic rationality?“ Er vergaß nicht, am Schluss noch einmal zu erwähnen, dass den Amerikanern – nicht den Deutschen – die Würdigung Webers in Heidelberg zu verdanken war. Nelsons Letter to the Editor machte die Kontroverse um Weber einem nach Millionen zählenden Publikum in den USA bekannt.212 Marcuse konnte am 28. Februar 1965 seinen Comment veröffentlichen.213 Er schrieb: „The fact is that Max Weber was a convinced monarchist. … As late as October, 1918, … Max Weber wrote: ‚No reasonable human being in Germany will expect anything to come from revolutionary and republican experiments; it is therefore absolutely vital that the dynasty be preserved … at the cost of (letting go) its representatives who have become impossibleʻ.“ An Nelson richtete er vier Fragen, darunter „(2) Who denounced Max Weber as a ‚main inspiration of the Hitler event of 1933 and its aftermathʻ? (3) Who was the ‚enraged detractorʻ who charged Weber with a ‚major part of the blame for the adoption and success of the ‚Final Solutionʻ? (4) And finally, who asked the rhetorical question whether the concentration camps ‚were not the ultimate fruit of Weberʼs endorsement of „scientific value neutrality“ and bureaucraticlegal rationalityʻ?“ Derartiges sei in Heidelberg nie gesagt worden. Nelsons Replik erschien unmittelbar anschließend an Marcuses Comment.214 Er fragte: „To what was (Professor Marcuse) referring in Heidelberg when he spoke 212 Parsonsʼ Harvard-Kollege Barrington Moore schrieb an Nelson, dieser habe sich wohl bei Parsons einschmeicheln wollen: „Dear Professor Nelson: Your letter to the New York Times Book Review is both simply wrong and quite contemptible. It is wrong in its endorsement of Blanchardʼs claim that Weber fought Kaiserism. It is contemptible because when one attacks someone, there is an obligation to name the person and do oneʼs best to represent his views accurately. In this instance you would have to mean my old friend Professor Herbert Marcuse. The only explanation of your actions that seems to make sense is an effort to curry favor. Sincerely yours, Barrington Moore.“ Der handschriftliche Brief ist datiert: January 5, 1964 (es musste wohl 1965 heißen). Er ist im Marcuse-Nachlaß unter der Signatur 273 archiviert. Der Bezug auf Blanchard schloß an einen Hinweis Nelsons auf einen Artikel in der New York Times Book Review an. 213 The New York Times Book Review, February 28, 1965, „Letters to the Editor“, Comment, Herbert Marcuse, Newton, Mass., p. 34; alle weiteren Zitate aus dem Text Marcuses sind dieser Seite entnommen. Der Text ist im Marcuse-Nachlaß unter Signatur 273 archiviert. 214 The New York Times Book Review, February 28, 1965, „Letters to the Editor“, Reply, Benjamin Nelson, Stony Brook L.I., pp. 34 und 36.
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of capitalist societyʼs ‚release of pent-up aggression in the form of the legitimation of medieval cruelty (torture) and the scientifically managed annihilation of human livesʻ? Not to Auschwitz, as I had implied in my letter? To Hiroshima? To both? To neither? … To something which had indeed not yet happened but which was now on the drawing board, above all in ‚affluentʻ America? Did no one emphasize Weberʼs share in the responsibility for these developments? No one imply that Weberʼs objective sociology was a total failure? Explained Professor Marcuse: Weberʼs critique of capitalist rationality suddenly stops short and ‚… accepts the allegedly inevitable and becomes apologetic – worse, it becomes a denunciation of a possible alternative: a qualitatively different historical rationalityʻ.“215 Adorno – Präsident der DGS – schrieb im Mai 1965 einen weiteren Letter to the Editor an die New York Times Book Review.216 Doch dieser Brief wurde nicht mehr gedruckt. Die Kontroverse zwischen Marcuse und Nelson hatte die amerikanische Öffentlichkeit erreicht, die nunmehr wohl aufmerksam registrierte, wie Weber in der Soziologie der USA im Gedenkjahr 1964 gewürdigt und im darauf folgenden Jahr weithin durch Publikationen geehrt wurde. Nachträglich kann man festhalten: Bendix, Nelson und Parsons konnten ihre Sicht nach ihrer Rückkehr aus Heidelberg in den USA in die Debatte einbringen. Parsons veröffentlichte seinen Beitrag von Heidelberg mindestens viermal.217 Als er den Sammelband Sociological Theory and Modern Society aus Aufsätzen der sechziger Jahre zusammenstellte, verfasste er einen einzigen Aufsatz neu.218 Er legte dar, welche Mängel der Marxismus als soziologische Theorie hatte. Drei Einsichten, die bei Marx fehlten, müssten zum Grundbestand heutigen soziologischen Wissens gehören. Erstens habe Durkheim die übervertraglichen Normen – also die rechtsstaatlichen Grundwerte – hinter den bloß vertraglichen Regelungen der „organischen Solidarität“ aufgezeigt (welche Marx nicht wahrgenommen habe). Zweitens postuliere Marx den Utilitarismus, den Weber indessen überwunden habe: „Die utilitaristische Sichtweise, was Marx nicht monierte, machte die ‚hedonistischeʻ Bedürfnisbefriedigung im individuellen Handeln zur Triebkraft des ‚Eigeninteressesʻ, das bei der Befriedigung jener Bedürfnisse wirksam wird, die grundsätzlich nicht aus der Struktur der gesellschaftlichen Welt stammen. Statt der Bedürfnisse im Sinne der utilitaristischen Tradition betonte Weber das verinnerlichte Wertesystem, welches nicht rein individuell ist, sondern aus den historischen Entwicklungen der kulturellen Welt hervorgeht. Weber diskutierte dies anhand der Ethik des asketischen Protestan215 Ibid., pp. 34, 36 216 Der Wortlaut dieses Briefes ist widergegeben in: Uta Gerhardt, Der Heidelberger Soziologentag 1964 als Wendepunkt der Rezeptionsgeschichte Max Webers, p. 260. 217 Außer der Übersetzung im Tagungsband Max Weber und die Soziologie heute erschien Evaluation and Objectivity in Social Science: An Interpretation of Max Weberʼs Contributions im International Social Science Journal, vol. 17, 1965, pp. 46–63, sowie in Parsonsʼ Aufsatzsammlung Sociological Theory and Modern Society, New York: Free Press 1967, pp. 79 – 101 und schließlich unter dem Titel Value-Freedom and Objectivity noch einmal in der englischen Übersetzung des Tagungsbandes: Max Weber and Sociology Today, edited by Otto Stammer, New York: Harper 1971, pp. 27 – 50. 218 Parsons, Some Comments on the Sociology of Karl Marx, in: Sociological Theory and Modern Society, New York: Free Press 1967, pp. 102 – 135.
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tismus“.219 Drittens könne der Marxismus die integrativen Kräfte der modernen Demokratie der westlichen Länder nicht fassen, die etwas anderes seien als der Staat der kommunistischen Welt des Ostblocks: „Die Entwicklung in den fortgeschrittenen nicht-sozialistischen Industriegesellschaften hat Marxʼ Prognosen nicht bestätigt. Aber selbst wenn er recht gehabt hätte, wäre die Frage immer noch offen, welche Rolle der Staat langfristig in den sozialistischen Ländern spielt. Nach meiner Auffassung liefert Marxʼ Theorie keine Lösung dieses Problems. Dies ist vielleicht das zentrale Dilemma der Anwendung des Marxismus auf die sozialistischen Gesellschaften. Ich sehe keine Anzeichen, dass der Staat irgendwann ‚abstirbtʻ in den Gesellschaften, wo heute die Kommunistische Partei regiert“.220 In Deutschland hatte Parsons – auf Einladung des Max-Weber-Archivs – im Sommersemester 1963 eine Gastprofessur in München gehabt. Stammer hatte ihn an die Freie Universität Berlin eingeladen, und er erhielt die Ehrendoktorwürde der Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften der Universität zu Köln. Die Verbindung zu Johannes Winckelmann in München bestand während der gesamten Vorbereitungszeit des Heidelberger Soziologentages und im darauf folgenden Jahrzehnt. Vom November 1961 bis mindestens zum Herbst 1963 wurde auch eine Tagung zu Ehren des hundertsten Geburtstages Webers in München geplant. Ein erstes Exposé dieser Münchner Tagung sah vor: „a) historisch-kritische Besinnung auf die originale Lehre Max Webers …; b) kritische Untersuchung der in der heutigen Soziologie vorherrschenden Auffassung von Webers Lehren …; c) gegenwärtige Bedeutung der Lehre Webers“, wobei es um „zwei Aspekte“ gehe, „unter denen das Werk Max Webers behandelt werden soll: 1. die allgemeinen soziologischen Denkkategorien, die Weber entwickelt hat; 2. die Anwendung dieser Denkkategorien auf die Analyse konkreter Phänomene“.221 Die Weber-Tagung in München kam nicht zustande. Aber im Jahr 1967 gelang Winckelmann die Gründung der Max-Weber-Gesellschaft, die sich die Pflege des Werkes Webers zur Aufgabe machte und die Max-Weber-Gesamtausgabe vorbereitete. Parsons wurde einstimmig durch den Vorstand zum korrespondierenden Mitglied gewählt. Der Vorspann der Satzung der Gesellschaft hielt fest: „Die Max-We219 Parsons, Some Comments on the Sociology of Karl Marx, p. 115. Im Original: „The utilitarian view, which was not challenged by Marx, was that it was motivated by the ‚hedonisticʻ gratifications of the individual actor, the satisfaction of wants that were essentially dissociated from the structure of the social system. In place of the givenness of wants in the utilitarian tradition, Weber laid special stress on an internalized value system that was not purely individual but was rooted in major movements at the cultural level. Weber stressed in particular the ethic of ascetic Protestantism.“ 220 Ibid., p. 119. Im Original: „The actual course of development of advanced, nonsocialist industrial societies would not suggest that Marx was fully right in their cases. But even if he were, the question would still remain of the position of the state for the long run in so-called socialist societies. It is my contention that Marxian theory gives no solution of this problem and that this is perhaps the central dilemma of its application to the actual situation in socialist societies. I see no sign that the state will eventually ‚wither awayʻ in any of the societies where Communist Parties are in control.“ 221 Max Weber Symposion 1964 in München – Erstes Exposé. Autor war Johannes Winckelmann. Parsons-Nachlass, HUG(FP) – 15.4, Box 19.
4. Welches Neue?
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ber-Gesellschaft hat sich konstituiert, um das Max Weber Institut der Universität München zu fördern, wobei sie sich besonders die Pflege der Auslandsbeziehungen des Instituts angelegen sein läßt“.222 Zusammenfassend: Der Heidelberger Soziologentag offenbarte die Kluft zwischen der Kritischen Theorie und dem Weberʼschen Denken. Die Kontroverse machte Parsons zur Schlüsselfigur. Die Nachgeschichte war der Auftakt zur Rückkehr der werkadäquaten Rezeption des Werkes Webers nach Deutschland. Damit wurde ein Stück Tradition wieder hergestellt, das ansonsten in den Grabenkämpfen des so genannten Positivismusstreites verloren gegangen wäre. 4. WELCHES NEUE? Im Rückblick auf den Mai 1968 in Frankreich charakterisiert Ingrid Gilcher-Holtey die damals rasante Aufbruchstimmung durch den Slogan Die Phantasie an die Macht.223 Die französischen Studenten bewirkten kurzfristig eine Staatskrise: Der Präsident Charles de Gaulle begab sich außer Landes (nach Baden-Baden), löste das Parlament auf und setzte Neuwahlen an. Der Vergleich, den Gilcher-Holtey zu Deutschland zieht, ist indessen aus zwei Gründen wohl vorschnell. Die einzige Infragestellung der Staatsmacht der Bundesrepublik war vielleicht die Ohrfeige, die die Französin Beate Klarsfeld am 8. November 1968 dem Bundeskanzler KurtGeorg Kiesinger gab. Sie rief dabei – um dessen Nazivergangenheit anzuprangern – das Wort „Faschist“. Trotz der massiven Einschüchterungen der protestierenden Studenten durch die Polizei – nachdem am 2. Juni 1967 der Student Benno Ohnesorg durch einen Polizisten durch Kopfschuss getötet wurde – entstand eine Staatskrise in der Bundesrepublik zu keinem Zeitpunkt. Außerdem wurde die Studentenbewegung, wie der SDS und andere Gruppierungen an den Universitäten nun weithin hießen, in Anbetracht der „Sit-ins“, „Go-ins“ und anderer mehr oder minder anarchischer Protestformen eher eine Stoßtruppe einer proletarischen Revolution als eine Vorhut zivilgesellschaftlichen Fortschritts. Es gab keine Diskussionen (mehr) etwa zwischen den Studenten und den Professoren (wie bis 1966/1967 in Deutschland) oder den Arbeitern (wie in Frankreich). Über die Möglichkeiten neuer Lebensverhältnisse durch Reformmaßnahmen auf gesetzlicher Grundlage wurde an den Universitäten nicht mehr nachgedacht. In der Bundesrepublik und in Westberlin – damals zwei unterschiedlichen Welten – gab es jedenfalls keine Massenbewegung (mehr), die der Phantasie an die Macht hätte verhelfen wollen oder können. 222 Satzung der Max-Weber-Gesellschaft, Anlage zum Brief von Bernhard Pfister, Gemeinschaft von Freunden und Förderern des Max Weber Instituts (Max Weber Gesellschaft), München e.V. an Parsons, 2. August 1967. Parsons-Nachlass, HUG(FP) – 42.8.8, Box 10. Siehe auch: Uta Gerhardt, Talcott Parsons und die Geltung des Werkes Max Webers, in: Karl-Ludwig Ay und Knut Borchardt (Hrsg.), Das Faszinosum Max Weber, Konstanz: Universitätsverlag 2006, pp. 91 – 122, insbes. pp. 104 – 108. 223 Ingrid Gilcher-Holtey, „Die Phantasie an die Macht“. Mai ʼ68 in Frankreich, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1995.
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Andererseits arbeitet die Geschichtsschreibung über die sechziger Jahre überzeugend heraus, wieviele gesellschaftlichen Reformen die Regierungskoalition der SPD und FDP unter Bundeskanzler Willy Brandt ab Herbst 1969 entschlossen einleitete, die auf den Diskussionen dieses turbulenten Jahrzehnts beruhten.224 Die Reform des Jugendstrafrechts225, die Entdiskriminierung der Unehelichkeit und die Entkriminalisierung der Homosexualität226, die Abschaffung der so genannten Schulzucht227 und das Ende der Zwangseinweisungen in der Psychiatrie228 waren solche Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Die sechziger Jahre waren eine Achsenzeit der gesellschaftlichen Modernisierung. Die Demokratisierung reformierte nicht nur den staatlichen Apparat, sondern auch die gesellschaftlichen Institutionen und Lebensbereiche. Erst mühsame Experimente und aufgeregte Debatten zwischen Befürwortern und Gegnern der Neuerungen, so Moritz Scheibe, ebneten den Weg zu den pluralistischen Strukturen.229 Ein Höhepunkt des gesellschaftlichen Aufbruchs war die Regierungserklärung Willy Brandts am 18. Oktober 1969. Er kündigte das Programm der neuen Bundesregierung mit dem Versprechen an, „mehr Demokratie“ zu wagen. Die sechziger Jahre ermöglichten dieses Programm und den gesellschaftlichen Wandel, wofür es bürgte: „[D]ie Unterstützung der Demokratie [war] gewachsen, Pluralismus und individuelle Partizipation wurden positiver bewertet, Autorität und Hierarchien nicht mehr als selbstverständlich hingenommen“.230 An diesen Debatten nahmen auch Soziologen als Zeitgenossen teil – sie meinten, dies als Wissenschaftler zu tun und verwischten dabei zuweilen die Grenze zwischen der Wissenschaft und dem politischen Engagement. Dahrendorf plädierte in seinen soziologischen Schriften für eine Öffnung Westdeutschlands hin zu einer liberalen Gesellschaft nach dem Vorbild Englands, wie er es während seines Studiums in London kennen gelernt hatte. Habermas – und andere im Umkreis Abendroths eher als Adornos – forderten die Partizipation der Staatsbürger über die parlamen224 Die Beiträge zweier historischer Sammelwerke enthalten dazu Überblicke und wertvolle Einzelheiten: Axel Schildt, Detlef Siegfried und Karl Christian Lammers (Hrsg.), Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg: Christians 2000 sowie Matthias Frese, Julia Paulus und Karl Teppe (Hrsg.), Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch. Die sechziger Jahre als Wendezeit der Bundesrepublik, 2. Auflage, Paderborn etc.: Ferdinand Schöningh 2005. 225 Imanuel Baumann, Interpretation und Sanktionierung von Jugendkriminalität, in: Ulrich Herbert (Hrsg.), Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung. Integration, Liberalisierung 1945 – 1980, Göttingen: Wallstein Verlag 2003 (Erstauflage 2002), pp. 348 – 378. 226 Sybille Buske, Die Debatte über die „Unehelichkeit“, in: Ulrich Herbert (Hrsg.), Wandlungsprozesse in Westdeutschland, pp. 315 – 347; Michael Kandora, Homosexualität und Sittengesetz, in: Ulrich Herbert (Hrsg.), Wandlungsprozesse in Westdeutschland, pp. 379 – 401. 227 Torsten Gass-Bolm, Das Ende der Schulzucht, in: Ulrich Herbert (Hrsg.), Wandlungsprozesse in Westdeutschland, pp. 436 – 466. 228 Cornelia Brink, Zwangseinweisungen in die Psychiatrie, in: Ulrich Herbert (Hrsg.), Wandlungsprozesse in Westdeutschland, 467 – 507. 229 Moritz Scheibe, Auf der Suche nach der demokratischen Gesellschaft, in: Ulrich Herbert (Hrsg.), Wandlungsprozesse in Westdeutschland, pp. 245 – 277. 230 Ibid., p. 275. Scheibe fügte hinzu: „Diese Prozesse waren eingebettet in den Wandel von Wertorientierungen und Lebensweisen in allen westlichen Ländern“. (pp. 275 – 276)
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tarische Staatsform hinaus und plädierten für Politisierung im Sinne eines „materialen“ bzw. „substantiellen“ (nicht nur „formalen“) Demokratiekonzepts. Ihre Forderungen überschritten dabei die Grenze, die Max Weber zwischen der „Wertfreiheit“ der Wissenschaft und dem gesinnungs- oder verantwortungsethischen Engagement des Wissenschaftlers gesetzt hatte. Habermasʼ Postulate plädierten für eine richtige Gesellschaft, eine bessere Welt, die auch vom Katheder herunter verkündet werden dürfe. Was Weber zu Beginn des Jahrhunderts ausdrücklich gemieden hatte, wurde nun zur Aufgabe erklärt, wenn man sich zeitgemäß – angesichts der Erbschaft des Nationalsozialismus verantwortungsbewusst – verhalten wolle. Die Forderung nach einer gerechteren Welt sei mit Argumenten aus der Wissenschaft zu rechtfertigen. Als Zeitgenossen handelten auch andere, die damals allerdings keine Wandlung der Gesellschaft forderten. Erwin K. Scheuch und M. Rainer Lepsius als einzige Soziologen trugen zu dem – im Herbst 1968 erschienenen – Sammelband Die Wiedertäufer der Wohlstandsgesellschaft bei.231 Scheuch wiederholte seine Kritik am Gesellschaftsbild der „Neuen Linken“232, wie er sie bereits anlässlich des Frankfurter Soziologentags vorgetragen hatte: Er war ein anerkannter Autor zu Themen der empirischen Sozialforschung, aber er war überfordert, als er in seiner Philippika gegen die „Neue Linke“ eine textgetreue Analyse zu einem (soziologischen oder anderswie begründeten) Denkansatz liefern wollte, wie er ihn im Gesellschaftsbild der „Neuen Linken“ zu sehen meinte. So mutmaßte er nun: „Wenn sich nun bei kritischer Betrachtung der Verwendung solcher Begriffe wie ‚Klasseʻ, ‚Profitʻ, ‚Establishmentʻ, ‚Herrschaftʻ, ‚Interesseʻ, ‚Manipulationʻ, ‚rationalʻ, ‚demokratischʻ, ‚Kapitalismusʻ, ‚repressivʻ, ‚faschistoidʻ, ‚autoritärʻ vornehmlich die totale Sprachverwirrung der ‚Neuen Linkenʻ zeigt, wenn ferner die ‚Neue Linkeʻ in ihren Aussagen epigonenhaft ist, so bleibt zu erklären, wie denn der Erfolg dieser Bewegung bei vielen Intellektuellen zu verstehen ist“.233 Lepsius hatte über die Machtübernahme der Nazis gearbeitet. Sein Beitrag zum Sammelband der Autoren des (späteren) Bund Freiheit der Wissenschaft wollte die Soziologie gegen offensichtliche Missverständnisse verteidigen234: „Soziologie ist in der Tat ein schwieriges Unternehmen. Es provoziert Mißverständnisse, denen zuweilen selbst die Adepten unter231 Erwin K. Scheuch (Hrsg.), Die Wiedertäufer der Wohlstandsgesellschaft. Eine kritische Untersuchung der „Neuen Linken“, Köln: Markus Verlag 1968. Der Sammelband vereinigte Beiträge von Sozialwissenschaftlern, die sich im November 1970 zum Bund Freiheit der Wissenschaft zusammenschlossen, einer Vereinigung, die sich gegen die gesellschaftlichen Veränderungen aus den sechziger Jahren abzugrenzen suchte und die marxistischen Auffassungen der „Neuen Linken“ und auch die Bestrebungen zu einer Reform der Universitäten ablehnte. 232 Erwin K. Scheuch, Das Gesellschaftsbild der „Neuen Linken“, in: Scheuch (Hrsg.), Die Wiedertäufer der Wohlstandsgesellschaft, pp. 104 – 123. 233 Ibid., pp. 121 – 122. Es bleibt unverständlich, wie Scheuch, der zu Beginn der Jahrzehnts zwei Jahre lang an der Harvard University der Kollege Parsonsʼ im Department of Social Relations gewesen war, die Interpretationen Parsonsʼ zur gesellschaftlichen Aufbruchstimmung der sechziger Jahre nicht zu seinem Verständnis der Vorgänge in Deutschland heranzog. Parsons sah bekanntlich in den Turbulenzen der sechziger Jahre die Anzeichen eines Übergang der modernen Industriegesellschaft(en) zu einer neuen Ära der Gesellschaftsgeschichte. 234 M. Rainer Lepsius, Zu Missverständnissen der Soziologie durch die „Neue Linke“, in: Scheuch (Hrsg.), Die Wiedertäufer der Wohlstandsgesellschaft, pp. 163 – 167.
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liegen. Was aber ist so unbehaglich an der Soziologie? Sie möchte das Funktionieren der Gesellschaft erklären; das tun andere Wissenschaften auch, etwa die Nationalökonomie, die Geschichte oder die Politische Wissenschaft. Die Soziologie untersucht jedoch das Dasein des Menschen unter dem speziellen Aspekt seiner Beeinflussung durch Strukturgesetzlichkeiten des menschlichen Zusammenlebens“.235 Es fiel nicht auf, dass Lepsius ein Soziologieverständnis darlegte, das – er sprach von „Beeinflussung durch Strukturgesetzlichkeiten des menschlichen Zusammenlebens“ – weit hinter Wirtschaft und Gesellschaft zurückblieb und in seiner objektivistischen Aussage ins neunzehnte Jahrhundert zurückverwies. Er dachte, der Soziologie gehe es um die Theorie, die man anwende, nicht etwa das systematische Verstehen der empirischen – auch der historischen – Vorgänge. Er hielt der „Neuen Linken“ nun entgegen: „[V]iele der radikalen Studenten [bedienen sich] mehr einer marxistischen Sprache, als daß sie die marxistische Theorie zur Analyse der Gegenwart konkret anwenden“.236 Ein anderer – früher der Forschungsleiter des Instituts für Sozialforschung und nun Professor an der Freien Universität Berlin – wusste zwischen der Wissenschaft und der Stellungnahme für eine sinnvolle Reform sehr wohl zu unterscheiden. Ludwig von Friedeburg hielt das einleitende Referat des 44. Deutschen Juristentages im Jahr 1962. Er plädierte für eine Novellierung des Nichtehelichenrechts.237 Die Relikte der autoritären Rechtsauffassung, wie sie seit dem Kaiserreich und auch nach dem Nationalsozialismus noch immer galt, so von Friedeburg, sollten doch endlich einer Rechtsreform weichen – wie sie bekanntlich der Bundesjustizminister Gustav Heinemann forcierte und der Bundestag im Frühjahr 1969 verabschiedete. Das Neue der sechziger Jahre war nicht die öffentlichkeitswirksame Teilnahme mancher Soziologen an den Debatten und den Demonstrationen. Als in den achtziger Jahren einige – erstaunlich wenige – Rückblicke die sechziger Jahre beurteilen wollten, wobei sie festzuhalten meinten, was die sechziger Jahre erbracht hätten, war eine gesellschaftsgeschichtliche Interpretation noch lange nicht in Sicht. Hermann Kortes Eine Gesellschaft im Aufbruch, ein schmales Bändchen, versuchte keinerlei soziologische Deutung mittels der Theorie(n) der modernen Gesellschaft.238 Einzig auf Norbert Elias wurde hingewiesen – aber Elias hatte Themenbereiche aus früheren Jahrhunderten bearbeitet und war erst spät in den sechziger Jahren nach jahrzehntelanger Abwesenheit überhaupt wieder in Deutschland präsent gewesen. Ohne fachwissenschaftliche Begriffe wurde im Stil einer Sozialgeschichte nacherzählt, was die sechziger Jahre ‚eigentlich gewesenʻ seien – ohne bibliographische Quellen. 1988 – zwanzig Jahre nach 1968 – veranstaltete die Freie Universität Berlin eine Vorlesungsreihe, woraus der Sammelband Radikalisierte Aufklärung entstand.239 Die Herausgeber meinten, ihr Thema sei die Mittelmäßigkeit: „Das ‚Denken von 68ʻ 235 236 237 238
Ibid., p. 163. Ibid., p. 167. Siehe dazu: Sibylle Buske, Die Debatte über „Unehelichkeit“, p. 338. Hermann Korte, Eine Gesellschaft im Aufbruch. Die Bundesrepublik Deutschland in den sechziger Jahren, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1987. 239 Heinz Bude, Martin Kohli (Hrsg.), Radikalisierte Aufklärung. Studentenbewegung und Soziologie in Berlin 1965 bis 1970, Weinheim und München: Juventa 1989.
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gehört zu den Denkbewegungen der sechziger Jahre. Die Studentenbewegung hat die Ideen und Gesten, die gleichsam in der Luft lagen, aufgenommen und gebündelt. Das ‚Denken von 68ʻ ist nicht als einzigartige Schöpfung der Studentenbewegung zu begreifen, sondern als eine Verdichtung von Denkanregungen ganz unterschiedlichen Ursprungs. Es wurde in der Studentenbewegung mehr rezipiert als produziert. Dazu paßt auch, daß die eigentliche Generation der Studentenbewegung – in etwa die Jahrgänge 1938 bis 1948, die 1968 zwischen 20 und 30 Jahre alt waren – kaum interessante Autoren hervorgebracht hat. Es wurden zwar sehr viele Bücher geschrieben, aber es ist schon heute abzusehen, daß davon nur wenige von Bestand sein werden“.240 Die Autoren des Bandes wollten die Aufbruchstimmung der sechziger Jahre entzaubern. Peter Weingart, der renommierte Wissenschaftssoziologe, der in den sechziger Jahren Assistent Stammers gewesen war, meinte von den damaligen Soziologen, sie hätten allenfalls Wissenschaftskritik betrieben, aber diese sei nun obsolet: „Der an der Vorstellung einer richtigen, wahren Wissenschaft orientierte Rationalismus ist … kein notwendiges, geschweige denn hinreichendes Motiv mehr für die sozialwissenschaftliche und historische Wissenschaftsanalyse. Ganz im Gegenteil: Er ist inzwischen antiquiert“.241 Von Max Weber sprach keiner der Vorträge des Jahres 1988. Parsonsʼ Analysen des Gesellschaftswandels der sechziger Jahre, in den zwanzig Jahren zwischenzeitlich weltweit diskutiert, waren den Autoren der Vortragsreihe offenbar unbekannt. Was war das Bleibende? Welches Neue wurde in diesem Jahrzehnt des Aufbruchs geschaffen oder erreicht? Die Frage sei mit drei Thesen – sämtlich tentativ – beantwortet. Die erste These: In den sechziger Jahren zeigte sich, dass die soziologische Theorie nach dem Zweiten Weltkrieg nicht wie die empirische Sozialforschung vorangekommen war. Der „Import“ aus den USA – um den Ausdruck Scheuchs noch einmal zu verwenden – hatte die Theorie allenfalls ansatzweise erreicht. Der Mangel an empirisch gehaltvoller Theorie – allemal Theorie der modernen Gesellschaft – war an zwei Stellen eklatant. Im so genannten Positivismusstreit wurde um die Methodologie(n) aus den dreißiger Jahren gestritten (wie sie vor der Vertreibung der Protagonisten aus Deutschland und Österreich entstanden war[en]). Popper und Adorno (und ihre Anhänger und Schüler) standen für die analytische Wissenschaftstheorie und den geschichtsphilosophischen Realismus – Positionen, die seit dreißig Jahren diskutiert wurden. Der Stand der Kontroverse reichte nicht über die Erkenntnisse vor der frühen NS-Zeit hinaus. Die methodologische Begründung der modernen Soziologie kam nicht vor. Weber – und Simmel war überhaupt nicht im Blick – wurde zwar neu herausgegeben und streckenweise „antiquarisch“ interpretiert (um einen Ausdruck Friedrich Nietzsches zu verwenden). Mit dieser Haltung zu Weber war die Auffassung vereinbar, die Soziologie erforsche die „Beeinflussung durch die Strukturgesetzlichkeit des menschlichen Zusammenlebens“ – wie es Lepsius meinte. 240 Heinz Bude / Martin Kohli, Die Normalisierung der Kritik, in: Dieselben (Hrsg,), Radikalisierte Aufklärung, pp. 17 – 42, cit. p. 21. 241 Peter Weingart, Wider Dogmen und Legende – Soziologie als Wissenschaftskritik, in: Bude / Kohli (Hrsg.), Radikalisierte Aufklärung, pp. 111 – 124, cit. p. 122.
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V. Ein Jahrzehnt der neuen Kritik
Die zweite These: In diese Mängellage stießen die damals Dreißig- bis Vierzigjährigen. Ihre neuen Theorien begründeten Denkrichtungen, die bis heute erhalten geblieben sind. Trotz ihrer breiten Bemühungen konnten sie die Soziologie Webers nicht einbinden. Keiner zog Parsons heran, der auf Webers Werk textadäquat aufbaute. Alle hatten eine erstaunliche Wirkung – letztlich weltweit – und blieben doch hinter der methodologischen Begründung zurück, wie sie Simmel und Weber ein halbes Jahrhundert vorher vorgelegt hatten. Luhmann, Habermas, Dahrendorf und Luckmann brachten genug Neues, so dass ihre Ansätze in den folgenden Jahrzehnten international Ansehen erwarben. Die dritte These: Erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg gab es in den sechziger Jahren anlässlich des Heidelberger Soziologentages werkgetreu eine Rezeption Webers. Durch die heimliche Allianz zwischen Parsons und Winckelmann wurde langfristig die Max-Weber-Gesamtausgabe vorbereitet. Andere Anlässe brachten andere Klassiker ins Bewusstsein. 1968 verfasste Renate Mayntz – durch die Vermittlung Parsonsʼ – den Handbuchartikel über Simmel für die International Encyclopedia of the Social Sciences, das autoritative Überblickswerk des soziologischen Wissens.242 Norbert Elias, dessen Standardwerk Der Prozeß der Zivilisation (erschienen 1939) fast vergessen war, wurde einer breiten Leserschaft zugänglich.243 Karl Mannheim, der wenigen Soziologen noch in Erinnerung war, wurde wieder wahrgenommen.244 Émile Durkheim, der Klassiker, wurde durch Les règles de la méthode sociologique in neuer Übersetzung den Deutschen nahegebracht, und René König schrieb dazu eine erklärende Einleitung.245 Allerdings hatten diese Neuanfänge mit den Nachwirkungen des Nationalsozialismus, wie sie angeblich in den sechziger Jahren die Diskussion bestimmten, wenig zu tun. Eine „intellektuelle Gründung der Bundesrepublik“, wie sie Tenbruck und seine Mitautoren der neunziger Jahre behaupten wollten, fand nicht statt.246 Die Rückschau auf die „Frankfurter Schule“, wie sie diese Autorengruppe in den späten neunziger Jahren vorlegte, hätte den so genannten Positivismusstreit monieren sollen, der den Diskurs innerhalb des Faches und die Debatten in der Öffentlichkeit allzu lange beeinflusst hat und bis in die jüngste Gegenwart hinein immer wieder 242 Renate Mayntz, Georg Simmel, International Encyclopedia of the Social Sciences, vol. 14, New York: The Free Press 1968, pp. 251 – 258. Daran schloß sich als Weiterführung des Bezugs auf Simmel (und außerdem Alfred Schütz) an: Uta Gerhardt, Rollenanalyse als kritische Soziologie. Ein konzeptueller Rahmen zur empirischen und methodologischen Begründung einer Theorie der Vergesellschaftung, Neuwied: Luchterhand 1971 (Soziologische Texte, Bd. 72). 243 Norbert Elias, Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Erster Band: Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes, Bern und München: Francke Verlag 1969 (zweite, vermehrte Auflage). 244 Karl Mannheim, Wissenssoziologie, herausgegeben von Kurt H. Wolff, Neuwied: Luchterhand 1964; dazu auch: Uta Gerhardt, Der Begriff der Krisis als soziologische Kategorie im Werk Karl Mannheims (Unveröffentlichte Diplomarbeit, Freie Universität Berlin 1965). 245 Émile Durkheim, Die Regeln der soziologischen Methode. Les règles de la méthode sociologique, in neuer Übersetzung herausgegeben und eingeleitet von René König, Neuwied: Hermann Luchterhand Verlag 1961. 246 Siehe dazu oben den Einleitungsteil dieser Studie.
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bestimmte. Das Frankfurter Institut für Sozialforschung war in die Auseinandersetzungen der sechziger Jahre eingebunden, keineswegs als Meinungsmacher, eher ein Forum der Debatten, auch weil Adorno, von 1963 bis 1967 der Vorsitzende der DGS und 1968 der Gastgeber des Soziologentages in Frankfurt, ein streitbarer Zeitgenosse war. Dies hätte die Autorengruppe um Tenbruck hervorheben sollen. Es wäre ein ausreichend spannendes Sujet gewesen. Aber die Bundesrepublik im Aufund Umbruch der sechziger Jahre war kein Wirkfeld für Frankfurter Lehrmeinungen, erst recht nicht ein Produkt der intellektuellen Gründungsinitiativen des Instituts für Sozialforschung. Die Nation wurde durch Wandlungsprozesse erfasst und teilweise in ihren Strukturen erschüttert. Der Einflussbereich der Frankfurter Soziologie reichte nicht so weit, dass das nachholende Erinnern an die Gräuel des Nationalsozialismus eine Auswirkung der Kritischen Theorie gewesen wäre. Sondern die landesweiten Debatten und die zuweilen chaotischen Geschehnisse der turbulenten sechziger Jahre waren die Begleitumstände für einen dramatischen Entwicklungsschub hin zu einer modernen Zivilgesellschaft, wie er auch in anderen zeitgenössischen Industriegesellschaften damals zeitgleich stattfand.
VI. DAS DENKEN DES NEUEN DEUTSCHLAND Die Soziologie des Wandels zweier deutscher Gesellschaften zu einer Nation Europas EINLEITUNG Der ehemalige Bundeskanzler Willy Brandt hielt im November 1989 eine Stegreifrede an der nun offenen Grenze. Er rief seinen Landsleuten zu, es müsse „zusammenwachsen, was zusammen gehört“. Der Bundeskanzler Helmut Kohl verkündete im Wahlkampf des Frühjahrs 1990, eines Tages würden (auch) im Osten „blühende Landschaften“ entstehen. Diese Redewendungen, die in den darauf folgenden Jahren immer wieder zitiert wurden, deuteten zwei Denkmodelle an, wie aus den beiden deutschen Staaten und Gesellschaften, die in den verfeindeten Blöcken der Weltpolitik noch verankert waren, schließlich ein Deutschland – die Bundesrepublik – werden solle. Beide Modellvorstellungen waren im Jahr 1990 in philosophischen Aufsatzsammlungen der edition suhrkamp nachzulesen. Dieter Henrich, der Hegelianer, nannte seine Textsammlung Eine Republik Deutschland.1 Sie plädierte für den Begriff der Nation, wie er den citoyen zum Bindeglied zwischen der Erfahrung und Leistung der Ost- und Westdeutschen auf der einen Seite und einem republikanischen – der Französischen Revolution nachempfundenen – Selbstverständnis der Deutschen auf der anderen Seite machen könne. Dass die ehemaligen DDR-Bürger ihre Freiheit ohne Blutvergießen erkämpft hatten, so Henrich, kündige an, dass „die politische Einheit der Nation nun auch in Deutschland die Folge der Selbstbehauptung der Freiheit sein wird“.2 Das Wie sei noch offen: „Die Einheitsform des alten Nationalstaates ist nicht der einzige denkbare Weg. … In Aussicht steht aber wohl … die Verfassung einer Republik Deutschland, in der auch die Bundesrepublik aufgehen würde“.3 Henrichs Denkmodell war das Zusammenwachsen der beiden Deutschland unter der gemeinsamen Idee von Einheit und Freiheit. Eine ganz andere Modellvorstellung entwarf Jürgen Habermas, der Sozialphilosoph. Er sprach von einer „nachholenden Revolution“.4 Sie mache den Zusammenbruch der Ostblockstaaten zum Ausgangspunkt für eine absehbare Normalisierung der Lebensverhältnisse. Der Rückstand der nun nicht mehr kommunistischen 1 2 3 4
Dieter Henrich, Eine Republik Deutschland. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1990. Ibid., p. 30. Ibid., p. 50. Jürgen Habermas, Die nachholende Revolution. Kleine Politische Schriften VII, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1990.
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VI. Das Denken des neuen Deutschland
Länder werde durch die entstehende – aus dem Westen übernommene – Gesellschaftsorganisation bald beseitigt bzw. nach und nach aufgeholt. Aber der Auftrag der Intellektuellen, die Mängel der kapitalistischen Weltordnung anzuprangern, werde nicht gegenstandslos. Sie müssten unbeirrt weiterhin jene „institutionalisierten Verteilungskonflikte“5 der „segmentierten Gesellschaft“ der heutigen Welt aufzeigen, die die massiven Ungleichheiten verschuldeten. Gerade weil der „interventionistische Staat“6, der moderne Wohlfahrtsstaat, die Ungerechtigkeiten der bürgerlichen Gesellschaft nicht beseitige, sei die kritische Funktion der Intellektuellen auch in Zukunft unerlässlich: „Es mag sein, daß sich manche Intellektuelle in der DDR erst umstellen müssen auf eine Situation, in der sich die westeuropäische Linke seit Jahren befindet – die sozialistischen Ideen umsetzen zu müssen in die radikalreformerische Selbstkritik einer kapitalistischen Gesellschaft, die in den Formen einer rechts- und sozialstaatlichen Massendemokratie gleichzeitig mit ihren Schwächen auch ihre Stärken entfaltet hat. Nach dem Bankrott des Staatssozialismus ist diese Kritik das einzige Nadelöhr, durch das alles hindurch muß“.7 Habermas machte die Mängel der Gegenwartsgesellschaft zur Leitlinie des „Radikalreformismus“, der trotz der Vereinigung Deutschlands (weiterhin) noch notwendig sei im Geiste einer Zukunftsvision. Henrichs Vorstellung entsprach der Soziologie Max Webers: Eine legitime Herrschaft entstand neu durch Systemtransformation, und die Handelnden begründeten ihren identifikatorischen Sinnhorizont aus der Tradition der Aufklärung. Ein Telos des geschichtlich-gesellschaftlichen Geschehens mochte es nicht geben. Aber im Vergleich zwischen dem Orient (Osten) und dem Okzident (Westen) war der Fortschritt zu (mehr) Modernität offenkundig. Habermas setzte demgegenüber andere Akzente. Seine Gesellschaftsphilosophie orientierte sich am frühen Karl Marx: Da eine humane Welt erst durch die Negation der bestehenden Verhältnisse hergestellt werde und die Dynamik des modernen Kapitalismus zu Krisen und Konflikten führe, sei das Telos der Geschichte, eine gerechte Gesellschaft, nicht aus den Augen zu verlieren. Die Analyse der historischen Gegebenheiten müsse die Mängel der Gegenwart ohne Apologie des (erst entstehenden) status quo aufzeigen. Die beiden Denkmodelle prägten unwillkürlich die Sicht des gesellschaftlichen Wandels 1989/1990. Die Fusion Ost- und Westdeutschlands, die im nächsten Jahrzehnt „getrennt vereint“ waren, wie eine treffende Charakterisierung lautete8, wurde mit Elan zum Forschungsthema gemacht. Die Denkmodelle der Philosophie, die mitten in den Turbulenzen der ersten Monate entstanden, waren unwillkürlich ein Wegweiser für die Soziologie, die das Geschehen der Wiedervereinigung analysierte.
5 6 7 8
Ibid., p. 201; dort auch die nächste Zitatstelle. Ibid., p. 199. Ibid., p. 203. Wolfgang Glatzer, Heinz-Herbert Noll (Hrsg.), Getrennt vereint. Lebensverhältnisse in Deutschland seit der Wiedervereinigung. Soziale Indikatoren XVIII, Frankfurt a. M.: Campus 1995.
1. Die Theorie(n) des sozialen Wandels
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Die sechste und letzte Studie dieser Sammlung befasst sich mit den soziologischen Arbeiten zunächst der (frühen) neunziger Jahre und bis in das neue Jahrtausend hinein. Der Systemwechsel und Strukturwandel anlässlich der Transformation hatte die vier Phasen – der Zusammenbruch der DDR, die „Wende“ und unmittelbare Konfrontation der beiden Gesellschaftssysteme, die Gesellschaftsgeschichte im Aufbau bzw. Umbau der Demokratie und schließlich die nunmehr souveräne Nation und ihre Integration in die Europäische Union, die in demselben Zeitraum um (weitere) Länder Ostmittel- und Südosteuropas erweitert wurde. Die Studie hat sechs Teile9: Teil I rekapituliert Gesamtdarstellungen zum Thema Sozialer Wandel aus der Zeit zwischen 1990 und 2003. Zu fragen ist, ob sie zur Simmel-Weber-Parsonsʼschen Tradition passen und andererseits das historische Geschehen der Wiedervereinigung als sozialen Wandel einer ganzen Gesellschaft abbilden oder dazu maßgeblich beitragen können. Analysen der Transformation rekapitulieren die Teile II – V: Teil II untersucht, wie die ehemalige DDR soziologisch erklärt wurde. Teil III blickt auf die Anfangsphase, als eine Welle der Gewalt, wofür der Begriff Fremdenfeindlichkeit verwendet wurde, die Welt in Atem hielt. Teil IV berichtet von den Forschungen der Übergangszeit, vor allem den Programmen der Kommission für die Erforschung des Sozialen und Politischen Wandels in den neuen Bundesländern (KSPW), dem Sozio-ökonomischen Panel (SOEP) und den Wohlfahrtssurveys, wie sie die Veränderung(en) in Ost und West dokumentierten. Teil V sieht den Systemwechsel und Strukturwandel als Integration der Gesellschaft und fragt nach der Identität der Deutschen. Teil VI kehrt zum Wandel der ganzen Gesellschaft zurück und nutzt Webers Herrschaftssoziologie und Parsonsʼ Theorem der Modernisierung zur Erklärung des Neuen der deutschen Geschichte und Gesellschaft. 1. DIE THEORIE(N) DES SOZIALEN WANDELS Anlässlich des 25. Deutschen Soziologentages in Frankfurt am Main im Herbst 1990 hielt der Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS), Wolfgang Zapf, eine Einführungsansprache, die den aktuellen gesellschaftlichen Umbruch zum Hauptthema der nächsten Jahre erklärte.10 Wegweisend sei die Modernisierungstheorie: „Nach meiner Auffassung ist eine konflikttheoretisch und innovationstheoretisch ‚gehärteteʻ Modernisierungstheorie der geeignete Ansatz, um die Umbrüche im Osten sowie die Gegenwartsprobleme und Zukunftschancen im Wes9 Obwohl meine Darstellung zahlreiche Autoren und Analysen würdigt, kann ich nur einen kleinen Ausschnitt der umfangreichen Literatur bearbeiten. Meine Hoffnung ist, dass dabei nicht Texte unberücksichtigt bleiben, die noch ganz andere Aspekte der Thematik ins Blickfeld gerückt hätten. 10 Wolfgang Zapf, Modernisierung und Modernisierungstheorien, in: Die Modernisierung moderner Gesellschaften. Verhandlungen des 25. Deutschen Soziologentages in Frankfurt am Main 1990. Herausgegeben im Auftrag der Deutschen Gesellschaft für Soziologie von Wolfgang Zapf, Frankfurt a. M.: Campus 1990, pp. 23 – 39.
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VI. Das Denken des neuen Deutschland
ten zu verstehen. Konkurrenzdemokratie, Marktwirtschaft und Wohlstandsgesellschaft mit Wohlfahrtsstaat und Massenkonsum sind die Basisinstitutionen, innerhalb derer um Innovation gekämpft wird. … Inklusion, Wertegeneralisierung, Differenzierung, Statusanhebung sind die Mechanismen des sozialen Wandels“.11 Zapfs Modernisierungsthese berief sich nicht auf Max Weber. Aber das klassische Denken war doch die Leitlinie: „Die durchgeplante zentral gesteuerte Gesellschaft war nie das Modell einer modernen Gesellschaft; allerdings auch nicht die driftende, entscheidungsunfähige Politik“.12 Das Plenum 7 des Frankfurter Soziologentages behandelte ausdrücklich die Systemveränderung sozialistischer Gesellschaften. Karl Otto Hondrich (Frankfurt a. M.)13 hob hervor, die soziologische Theorie könne die aktuelle Systemveränderung der sozialistischen Gesellschaften nicht adäquat erfassen. Weder die „Konvergenztheorie“14 noch die „Theorie sozialer Differenzierung“ – und erst recht nicht der Marxismus – hätten etwas „Erhellendes zu den Umwälzungen in den sozialistischen Gesellschaften und ihrem Verhältnis zum Okzident“ zu sagen. Die Herausforderung für die Theorie, so Hondrich, liege in einer gesellschaftlichen Wirklichkeit, die die theoretischen Vorgaben weit hinter sich lasse. Man müsse die Diskrepanz zwischen der rasanten Dynamik der zeitgenössischen Ereignisse und den soziologischen Gesetzesannahmen sehen. Man sehe, wie zwei Gesetze sich widersprächen, die beide zum Wissensbestand zählten, nämlich auf der einen Seite das „Gesetz der Attraktivität des höheren Niveaus“15 (offen blieb, welcher Autor es expliziert habe) und auf der anderen Seite „das Simmelsche Gesetz, wonach der Zusammenschluss von sozialen Gruppierungen zu einer stärkeren Betonung der Grenzen und der Konflikte nach außen führt“. Hondrich: „Wirken hier zwei soziologische Gesetze gegeneinander? Oder muß die Gültigkeit des Simmelschen Gesetzes angesichts des jüngeren Gesetzes von der ‚Attraktivität des höheren Niveausʻ bezweifelt werden?“ Mit anderen Worten: Die soziologische Theorie, die nach den Gesetzen des Sozialen frage, stehe der aktuellen Wirklichkeit, dem Geschehen der Wiedervereinigung, hilflos gegenüber.16 Sigrid Meuschel (Leipzig) im zweiten Vortrag des Plenums machte immerhin den „Versuch einer sozialwissenschaftlichen Interpretation“ mit Blick auf die „Revolution in der DDR“.17 Sie meinte ebenfalls, die klassische Theorie sei nun obsolet (geworden). Ihre These: Da die DDR – anders als etwa Polen oder Ungarn – keine oppositionellen Organisationen hervorgebracht hätte, die im Umbruch eine Funk11 Ibid., p. 35; Hervorhebung im Original 12 Ibid., p. 37. 13 Karl Otto Hondrich, Systemveränderung sozialistischer Gesellschaften – eine Herausforderung für die soziologische Theorie, in: Die Modernisierung moderner Gesellschaften, pp. 553 – 557. 14 Ibid., p. 555; dort auch die nächsten zwei Zitatstellen. 15 Ibid., p. 557; dort auch die nächsten zwei Zitatstellen. 16 Es fiel Hondrich nicht auf, dass Simmel sich in seiner Abhandlung Die Probleme der Geschichtsphilosophie (1892) ausdrücklich gegen soziale Gesetze gewandt und stattdessen heuristische Prinzipien der Soziologie herausgestellt hatte. Siehe dazu auch Studie I. 17 Sigrid Meuschel, Revolution in der DDR. Versuch einer sozialwissenschaftlichen Interpretation, in: Die Modernisierung moderner Gesellschaften, pp. 558 – 575.
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tion der Institutionenbildung übernehmen konnten, wäre seit Sommer 1990 durch eine „Wende in der Wende“ nach dem Zerfall der SED-Regierung statt einer eigenen Staatlichkeit Ostdeutschlands nun die Vereinigung mit der Bundesrepublik entstanden. Weber, so Meuschel, könne zur Erklärung dieser Entwicklung wenig beitragen. Denn die DDR sei keine „sozialistische Ständegesellschaft“18 gewesen, wie es die Weberʼsche Herrschaftssoziologie nahe lege. Es sei kein Übergang von einer traditionalen zu einer rationalen Gesellschafts- oder Herrschaftsordnung in der Gegenwart der Wiedervereinigung zu beobachten: „[D]ie Modernisierungsblockaden …, die in Gesellschaften sowjetischen Typs die ökonomische Entwicklung, und nicht nur sie, hemmten, lassen sich nicht aus einer traditional intonierten kulturellen Lebensführung erklären, wie dies das Konzept der sozialistischen Ständegesellschaft versucht“.19 Mit anderen Worten: Meuschel sah die Systemveränderung in Ostdeutschland als Folgewirkung des Zusammenbruchs der Parteiherrschaft; die westdeutschen Institutionen hätten auf Ostdeutschland übertragen werden können, weil die Parteiherrschaft, die nun nicht mehr bestand, in der DDR anders begründet gewesen war als durch Ehre, wie sie in traditionalen Gesellschaften nach Weberʼscher Vorstellung herrsche. Ein erster Anlauf, das Problem der Transformation ganzer Gesellschaften für die soziologische Theorie zu klären, war 1994 ein Sammelband Sozialer Wandel.20 Der Einleitungsaufsatz21 machte die historischen Ereignisse zum Bezugspunkt der analytischen Begriffe. 1989 – „The World We Have Lost“ – so war die griffige Metapher. Man müsse einen Neuanfang der Theorie suchen: „Die Nachkriegsordnung geht zu Ende, und damit verschwindet die Welt, auf die unsere Kategorien des Denkens von Stabilität und Wandel scheinbar natürlich bezogen waren“.22 Neues sei notwendig: „Seit der osteuropäischen Revolution stehen die Koordinaten unserer Welt zur Disposition, und es scheint, als sei eine grundlegende Revision un-
18 Ibid., p. 559; dort auch die nächste Zitatstelle. 19 Im Text, der dem Zitat unmittelbar vorausging, verwies Meuschel auf Weber, um dort die Behauptung zu vermuten, die DDR sei eine „sozialistische Ständegesellschaft“ gewesen. Meuschel unterstellte, Webers Werk stehe für die These der „sozialistischen Ständegesellschaft“. Sie konnte sagen: „Weber begreift Stände als Ausdruck einer ‚sozialen Ordnungʻ, einer ‚Verteilung der „Ehre“ʻ, wohingegen Gesellschaften sowjetischen Typs unmittelbar politisch konstituiert waren – ein Umstand, der auf die Grenzen einer ‚traditionalenʻ Interpretation verweist. Überdies kann Weber die besondere ständische Lebensführung in ihrer Auswirkung auf das ökonomische Verhalten des Standes als Ursache dafür ansehen, daß es einer Ständegesellschaft nicht gelingt, eine moderne Wirtschaftsentwicklung in die Wege zu leiten, weil die ständische Interpretation der Ehre im Gegensatz zu den sachlichen Interessen steht, die den Markt und eine marktregulierte Ökonomie kennzeichnen und beherrschen“. In der zitierten Stelle wurden in Anmerkungen zwei Textverweise auf Weber gegeben, und zwar auf Wirtschaft und Gesellschaft, Band II, p. 687 und p. 688. (Interessanterweise wurde dabei Berlin als Erscheinungsort des Werkes Webers genannt.) 20 Hans-Peter Müller und Michael Schmid (Hrsg.), Sozialer Wandel, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1995. Der Sammelband ging aus einer Tagung vom Juni 1989 in Heidelberg hervor. 21 Hans-Peter Müller/Michael Schmid, Paradigm Lost? Von der Theorie sozialen Wandels zur Theorie dynamischer Systeme, in: Müller/Schmid (Hrsg.), Sozialer Wandel, pp. 9 – 55. 22 Ibid., p. 9; dort auch die nächste Zitatstelle.
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seres Denkens gefordert“. Das „Paradigma sozialen Wandels“23, in der „klassischsoziologischen Phase“ (Weber) entstanden und in der „zeitgenössisch-soziologischen Phase“ (Parsons) weiter tradiert, gelte jedenfalls nicht ohne weiteres für die neunziger Jahre. Webers Werk, „ein grandioser Torso“24, sei allenfalls ein „wichtiger Anknüpfungspunkt für historisch-komparative Untersuchungen“. Parsonsʼ Theorieperspektive sei zudem diskreditiert (worden), da daraus „,Policyʻ-Empfehlungen“25 hergeleitet worden seien, „deren Voraussagen, genau besehen, nur selten zutrafen“, und außerdem sei „die politikgestaltende Kraft der Theorie sozialen Wandels überschätzt worden“. Den Ausweg sollten die Beiträge des Sammelbandes weisen. Neil Smelser26, in den fünfziger Jahren ein Ko-Autor Parsonsʼ, plädierte für ein Vorgehen à la Karl Popper: Man solle zuerst die Variablen bei der empirischen Untersuchung von sozialem Wandel genau bestimmen und Hypothesen formulieren, dann Modelle entwickeln, vorzugsweise Gleichgewichtsmodelle, und erst dann könnten „die Gleichgewichtsprozesse so miteinander verbunden werden, daß die Parameter und Variablen innerhalb jeder Phase und zwischen ihnen systematisch transformiert werden“.27 Renate Mayntz28, in den achtziger Jahren – also vor der „Wende“ – mit einer eigenen Theorie der sozialen Differenzierung im Sinne der Ausfächerung funktionaler Teilsysteme bei Modernität zeitgenössischer Gesellschaften hervorgetreten29, unterstrich nun, diese Theorie erkläre auch den sozialen Wandel der Gegenwart.30 Mayntz orientierte sich an naturwissenschaftlichen Mo23 24 25 26 27 28 29
30
Ibid., p. 12 ff. Ibid., p. 18; dort auch die nächste Zitatstelle. Ibid., p. 19; dort auch die nächsten zwei Zitatstellen. Neil Smelser, Modelle sozialen Wandels, in: Müller/Schmid (Hrsg.), Sozialer Wandel, pp. 56 – 83. Ibid., p. 83. Renate Mayntz, Zum Status der Theorie sozialer Differenzierung als Theorie sozialen Wandels, in: Müller/Schmid (Hrsg.), Sozialer Wandel, pp. 139 – 150. Siehe dazu: Renate Mayntz, Die gesellschaftliche Dynamik als theoretische Herausforderung, in: Burkhart Lutz (Hrsg.), Soziologie und gesellschaftliche Entwicklung. Verhandlungen des 22. Deutschen Soziologentages 1984, Frankfurt a. M.: Campus 1984, pp. 27 – 44, Mayntz und Birgitta Nedelmann, Eigendynamische soziale Prozesse. Anmerkungen zu einem analytischen Paradigma, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Bd. 39, 1987, pp. 648 – 668 sowie Renate Mayntz, Bernd Rosewitz, Uwe Schimank, Rudolf Stichweh (Hrsg.), Differenzierung und Verselbständigung, Frankfurt: Campus 1988. Anlässlich des 27. Kongresses der DGS in Halle, der das Thema Gesellschaften im Umbruch hatte, sprach Mayntz (im Jahr 1994) über „Gesellschaftliche Umbrüche als Testfall soziologischer Theorie“. Die Theorie, die sie zugrunde legte, war ihre eigene – nämlich der bereits in den achtziger Jahren entwickelte Ansatz, dass die soziale Differenzierung in einer komplexen modernen Gesellschaft als der Hintergrund der Eigendynamik und einer – wie immer begrenzten – Steuerungsfähigkeit der sozialen Prozesse gelten könne. Dabei waren gesellschaftliche Umbrüche – Mayntz sprach im Plural – ein „besonderer Typus sozialer Diskontinuität“: „Gesellschaftliche Umbrüche sind ein besonderer Typus der sozialen Diskontinuität. … Gesellschaftliche Umbrüche sind … als vielleicht von manchen Akteuren gewünschte und aktiv betriebene, aber insgesamt ungeplant auftretende Makrophänomene eine besondere Art von Ereignissen, die der Bildung einer nomologischen Theorie eine Reihe identifizierbarer Schwierigkeiten entgegensetzen“. Renate Mayntz, Gesellschaftliche Umbrüche als Testfall soziologi-
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dellen. Sie meinte zwar, Parsonsʼ Spätwerk enthalte eine Evolutionstheorie à la Biologie, aber darin mochte sie kein Vorbild sehen. Denn Parsons hätte die Selbstorganisation – also das Spontane – in der Entwicklungsdynamik bei Differenzierungsprozessen unterschätzt. Dagegen stellte sie nun ihre eigene Auffassung: „Soziale Strukturentwicklung ist vielmehr immer das Ergebnis eines Zusammenspiels von spontaner Strukturbildung durch evolutive Prozesse bzw. durch Selbstorganisation (im eigentlichen Verständnis des naturwissenschaftlichen Paradigmas) und Organisation“.31 Mit anderen Worten: Smelser forderte eine Rückkehr zu Popper, und Mayntz suchte Halt bei den Naturwissenschaften, um die sich überstürzenden historischen Ereignisse soziologisch als sozialen Wandel zu begreifen. Die Beiträge dieses ersten Sammelbandes nach dem Umbruch des Jahres 1990 handelten von sozialem Wandel, ohne sich auf die Simmel-Weber-Parsonsʼsche Tradition werkadäquat begriffsgenau zu beziehen. Einen nächsten Anlauf machte gegen Ende der neunziger Jahre Ansgar Weymann Sozialer Wandel: Theorien zur Dynamik der modernen Gesellschaft.32 Die Leitlinie: „Die Soziologie selbst hat eine reiche Geschichte der Theorien sozialen Wandels. Man kann sie durchaus als die exemplarische Wissenschaft des sozialen Wandels und der Modernisierung ansehen. … Da es keine universalistische Theorie sozialen Wandels gibt, deren Erklärungsanspruch in der Soziologie unangefochten wäre, müssen wir uns mit einer Mehrzahl von Theorien und Theorietraditionen befassen, die zum Verstehen und zur Erklärung von sozialem Wandel beitragen“.33 Das Buch bedachte dabei vier einschlägige Ansätze – erstens utopische Entwürfe à la Marxismus, zweitens das Theorem der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit, drittens Arbeiten zur Modernisierung der Gesellschaft als Kritik am Kapitalismus und Analyse von Staat und Ökonomie im Wandel, und viertens die Untersuchung von Generationen und Lebensläufen. Alle außer dem ersten Themenfeld erläuterte Weymann durch Forschungen in Ostdeutschland aus der Zeit des Umbruchs. Zum Themenfeld Wirklichkeitskonscher Theorie, in: Lars Clausen (Hrsg.), Gesellschaften im Umbruch. Verhandlungen des 27. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Halle an der Saale 1995, Frankfurt/ New York: Campus 1996, pp. 141 – 153, cit. p. 142. Sie bezog sich dabei auf: Renate Mayntz, Soziale Diskontinuitäten: Erscheinungsformen und Ursachen, in: Klaus Hierholzer, HeinzGünter Wittmann (Hrsg.), Phasensprünge und Stetigkeit in der natürlichen und kulturellen Welt, Stuttgart: Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft 1988, pp. 15 – 37. 31 Mayntz, Zum Status der Theorie sozialer Differenzierung etc., p. 148. Sie verwies in den Klammern im Text noch auf ihre eigene Schrift: Mayntz, The Influence of Natural Science Theories on Contemporary Social Science, Köln: Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung 1990, MPIfG Discussion Paper 90/7. 32 Ansgar Weymann, Sozialer Wandel. Theorien zur Dynamik der modernen Gesellschaft, Weinheim und München: Juventa 1998. 33 Ibid., pp. 16 – 17. Dass die Soziologie „die exemplarische Wissenschaft des sozialen Wandels und der Modernisierung“ sei, wurde mit einem Literaturhinweis versehen, nämlich M. Rainer Lepsius, Interessen, Ideen und Institutionen, Opladen: Westdeutscher Verlag 1990. Dies war eine Sammlung aus Aufsätzen der sechziger bis achtziger Jahre, wo Lepsius sich affirmativ und teilweise pauschal auf Max Weber berief, um Probleme der Gesellschaft(en) in Deutschland zu erörtern. Allerdings behandelte keiner dieser Beiträge den Zerfall der DDR oder die aktuellen Geschehnisse.
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struktionen in „Lebenswelten im gesellschaftlichen Umbruch Ostdeutschlands“34 referierte er eine Vergleichsstudie über das Werftarbeitermilieu in Rostock und Bremen; er kommentierte: „In Ost und West entwickelt sich … – wenn auch aus unterschiedlichen Gründen – ein Spannungszustand zwischen ökonomischem, politischem und institutionellem Wandel einerseits und den Beharrungskräften des inneren Milieus und eines Teils der Akteurstypologien biographischer Lebensentwürfe andererseits“.35 Zum Themenfeld „Die Transformation Ostdeutschlands als nachholende Modernisierung“36 verwies Weymann auf „Helmut Wiesenthals Untersuchung ‚Einheit als Interessenpolitikʻ“37, worüber er berichtete: „Diese Studie arbeitet mit theoretischen Annahmen der Institutionenökonomie und des rational choice. Zwei Prämissen leiten das Buch: zum einen die Sicht der Transformation als Eroberung des Optionsraumes Ostdeutschland und zum anderen der Sinn für die Bedeutung des Verbundsaufbaus korporativer Akteure“. Zum Themenfeld „Lebensverläufe vor und nach der Wende“38 gehöre „die exemplarische Studie zu sozialem Wandel und Lebensverlauf im Transformationsprozeß“39 des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin, worüber er berichtete: „Da Lebensverlaufsstudien individuelle Verläufe als Indikatoren für sozialstrukturelle und institutionelle Prozesse sozialen Wandels nutzen, ermöglichen sie einen vielfältigen Einblick in die Wechselbeziehungen zwischen Mikro- und Makroebene. Sichtbar werden die Abschaffung und die Neubildung von Positionen, die Änderung der Ressourcenzuweisung an Positionen, die Änderung von Allokationskriterien und die Zuweisung von Personen an Positionen“.40 Die empirischen Untersuchungen sollten das Anschauungsmaterial für die Theorierichtungen sein. Aber ob sie dies überhaupt sein konnten, klärte Weymann nicht. Jedenfalls wollte keine dieser Studien eine Anwendung einer Theorie sein, wie dies Weymann vermutete. Mangelhaft waren bei Weymann in den drei Hauptkapiteln auch die Konturen der Theorien gezeichnet. Die „Chicago-Schule der Soziologie“, die „Phänomenologie der Lebenswelt des Alltags“ und der Kommunitarismus wurden ein und dersel34 Weymann, pp. 69 – 73. 35 Ibid., p. 72. Die zugrunde liegende Studie war (teilweise unrichtig) zitiert als: Peter Alheit et al., Gebrochene Modernisierung. Der langsame Wandel des proletarischen Milieus, Bremen: Donat 1998. 36 Ibid., pp. 136 – 144. 37 Ibid., p. 141; dort auch die nächste Zitatstelle. Laut Bibliographie handelte es sich um: Helmuth Wiesenthal (Hrsg.), Einheit als Interessenpolitik. Studien zur sektoralen Transformation Ostdeutschlands, Frankfurt a. M.: Campus 1995. 38 Weymann, Sozialer Wandel, p. 175 – 179. 39 Ibid., p. 176. Weymann bezog sich auf: Johannes Huinick/Karl-Ulrich Mayer, Kollektiv und Eigensinn. Lebensverläufe in der DDR und danach, Berlin: Akademie-Verlag 1995 (dabei waren die weiteren Koautoren nicht genannt) sowie Martin Diewald/Karl-Ulrich Mayer, Zwischenbilanz der Wiedervereinigung. Strukturwandel und Mobilität im Transformationsprozess, Opladen: Leske und Budrich 1996 (dieses Buch wurde durch Diewald und Mayer herausgegeben). 40 Weymann, Sozialer Wandel, p. 177. Zur Lebensverlaufsstudie des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung siehe auch unten, Teil II.
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ben Theorierichtung („gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit“) zugeordnet. Einen „vergleichenden Überblick über mehrere Theorien“41, der dies gerechtfertigt hätte, gab es nicht. Die Klassiker dienten als Steinbruch. Simmel war „mit kulturellem Wertewandel in der modernen Zivilisation, besonders in deren großen Städten“42 assoziiert, und Weber habe die „Durchsetzung des Typus eines spezifischen okzidentalen Rationalismus in Religion, Wirtschaft, Bürokratie und Wissenschaft in der modernen abendländischen Gesellschaft“43 erwiesen – um zwei Beispiele für die eher pauschalen Rückbezüge auf die Klassiker des soziologischen Denkens zu nennen. Der Bezug war affirmativ, nicht methodologisch begründet. Parsons wurde mehrmals im selben Atemzug wie andere genannt, etwa wo es über eine Studie über Werte und Wertewandel hieß: „Ganz im Sinne von Parsons [sic] strukturfunktionalistischer Theorie sieht Meulemann den Wertekonsens einer Kultur als das entscheidende Fundament der Integration von Staat und Gesellschaft“.44 Die methodologische Grundlegung, das verpflichtende Erbe Simmels, Webers und Parsonsʼ, blieb unbeachtet. Einen dritten Anlauf, den sozialen Wandel theoretisch zu bestimmen und empirisch die Wiedervereinigung im Blick zu behalten, unternahm Erwin K. Scheuch. Im Jahr 2003 – vierzehn Jahre nach dem Umbruch in Deutschland und zwölf Jahre nach dem Zusammenbruch des Ostblocks – lagen die zwei Bände mit dem Titel Sozialer Wandel vor.45 Der erste Band widmete sich den verschiedenen Theorien und gab einen Aufriss über in Deutschland entstandene und für die deutsche Soziologie maßgebliche Erklärungsansätze. Scheuch verfuhr chronologisch. Der „Historische Materialismus war die erste der ‚großenʻ Theorien“46, und Max Weber zählte zu den „Klassikern“.47 Parsons sei ein Hauptvertreter der „Struktur-funktionalistischen Theorien des Wandels“48, die nach dem Zweiten Weltkrieg der „amerikanische Import“49 waren und in Deutschland spätestens seit den siebziger Jahren durch Habermasʼ und Luhmanns50 Theorien der Modernisierung abgelöst worden seien. Interessanterweise behandelte Scheuch in seinem Weber-Kapitel die drei „reinen“ Formen der legitimen Herrschaft nur am Rande und vermerkte lediglich (ohne Textbelege zu den Herrschaftstypen Webers): „Traditionale und rationale Herrschaft mit ihren Untergliederungen sind als eine Ordnung steigender Rationalität zu verstehen; daneben wirkt nach Weber ein völlig anderes Prinzip: die charismatische Herrschaft. … Auf Dauer ist für Weber allerdings eine charismatische 41 42 43 44 45
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Ibid., p. 18. Ibid., p. 14. Ibid., pp. 14 – 15. Ibid., p. 140. Der Bezug war: Heiner Meulemann, Werte und Wertewandel. Zur Identität einer geteilten und wieder vereinten Nation, Weinheim und München: Juventa 1996. Erwin K. Scheuch, Sozialer Wandel. Band 1: Theorien des sozialen Wandels, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2003; Band 2: Gegenwartsgesellschaften im Prozess des Wandels, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2003. Erwin K. Scheuch, Sozialer Wandel, Band 1: Theorien des sozialen Wandels, dazu pp. 23 – 33. Ibid., pp. 61 ff. Ibid., pp. 207 ff. Ibid., p. 254. Ibid., pp. 272 – 275.
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Herrschaft nicht vorstellbar. Irgendwann wird sie zum neuen Alltag und verliert ihre Faszination des Außeralltäglichen“.51 Er sah auch nicht, dass Parsons die Weberʼschen Herrschaftstypen in The Social System herangezogen hatte, um die Differenz zwischen demokratischem und diktatorischem Gesellschaftsregime zu erklären.52 Bei Parsons sah Scheuch die Orientierungsalternativen und das AGILSchema, also Begriffsmuster, die dort (vornehmlich) die demokratische Gesellschaft – paradigmatisch das soziale System – kennzeichnen sollten, aber über sozialen Wandel bekanntlich nichts aussagten. Er schilderte bei Parsons eine „Theorie des Wandels … im Zusammenhang mit seiner Fassung des Evolutionismus“53, die indessen eher an Renate Mayntz oder Niklas Luhmann erinnern mochte: „Der Parsonsʼsche Evolutionismus – darüber hinaus der Neoevolutionismus allgemein – unterscheidet sich von dem des 19. Jahrhunderts in einem entscheidenden Punkt: Evolution ist nach ihm nicht ein bloßer Versuchs- und Irrtums-Prozess, wobei die meisten Evolutionen sich als Sackgassen erweisen. Insbesondere Hochkulturen lernen aus Fehlern, anstatt mit diesen umgehen zu müssen. Dies ist möglich, weil eben so verstandene Evolution eine Steigerung der Selbststeuerung von Systemen zur Folge hat“.54 So zeichnete er ein Panorama, worin Weber und Parsons, der wiederum Webers Überlegungen aufgriff, werkgetreu nicht vorkamen. Parsons hatte den sozialen Wandel nach der Nazidiktatur als Übergang von der charismatisch-traditionalen zur rational-legalen Herrschaft (mit den Begriffen Webers) gedeutet – worin Scheuch allemal einen begrifflichen Zugang gehabt hätte, das Ende der kommunistischen Diktatur Ostdeutschlands zu erfassen. Parsons hatte die gesellschaftliche Differenzierung anlässlich der (fortschreitenden, weiterführenden) Demokratisierung einer modernen Gesellschaft untersucht. Für den Übergang nach dem Nationalsozialismus hieß dies drei weitreichende Errungenschaften, nämlich die nunmehr gesicherte Gewaltenteilung, die endgültig gelungene Trennung von Staat und Wirtschaft sowie die Gleichstellung der Bürger, die von nun an gleiche Rechte nach dem Grundgesetz hatten – das Theorem der Symbolisierungsmedien Geld – Macht – Einfluss – Wertüberzeugungen im Spätwerk Parsonsʼ knüpfte daran an. Aber Scheuch sah dieses Vorbild nicht. So begann der zweite Band, der über die Gegenwartsgesellschaften im Prozess des Wandels handelte, mit dem Eingeständnis der eigenen Theorielosigkeit: „Es ist noch nicht möglich, allgemeine Lehren aus der Entwicklung seit den ‚Wendenʻ in den verschiedenen Ländern wirklich zu belegen. Die einzelnen Gesellschaften un51 Ibid., p. 91; Hervorhebungen im Original. 52 Dazu diente bekanntlich Chapter XI in The Social System. Parsons diskutierte dort bekanntlich drei Formen des sozialen Wandels: Erstens könne ein rational-legales Gesellschaftssystem (wie es etwa in den USA bestand) durch Modernisierung, die unvermeidlich war, zu sozialem Wandel veranlasst werden, wodurch dauernd Destabilisierungsgefahren entstanden; zweitens könne ein rational-legales System (wie in Deutschland zur Zeit der Weimarer Republik) gestürzt und in eine charismatische Herrschaft verwandelt werden, was den Übergang von der Demokratie zur Diktatur bedeute; und drittens könne ein charismatisches Regime (etwa in der Sowjetunion, die als Beispiel diente) durch Veralltäglichung des Charisma – wie es Weber dargestellt hatte – zu einem traditionalen Regime werden. 53 Scheuch, Sozialer Wandel, Band 1: Theorien des sozialen Wandels, p. 214. 54 Ibid., pp. 214 – 215.
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terscheiden sich zu sehr in den Vorstellungen, welche die jetzigen politischen Führungen von einem angemessenen Kurs beim Neubau ihrer Länder haben“.55 Teil IV dieses zweiten Bandes zum „Umbruch im Osten als unverstandenes Lehrstück“56 behandelte Russland, die Länder Osteuropas und die ehemalige DDR. Der „Wandel der DDR als versuchte Transformation“57, so Scheuch, sei „Institutionentransfer“58 (gewesen) – was er anhand von Umfragen und Surveys belegte, die in den so genannten Neuen Bundesländern die Wohlfahrtsentwicklung etc. abbildeten. Ein Kommentar: „Die Standards für die Bewertung der eigenen Lebensführung sind inzwischen die des Westens – ja übersteigen in einigen Fällen diese noch. Quantitativ ist das allerdings nicht sehr erheblich. Insgesamt ist eher verblüffend, zu welchem Grad sich die Vorstellungen über eine angemessene Lebensführung in den beiden Gebieten Deutschlands einander angeglichen haben. Bleiben als objektive Gründe für Klagen in erster Linie der Zustand der gewerblichen Wirtschaft und die hohe Arbeitslosigkeit“.59 Zum Wirtschaftsleben: „Es gibt zwei große Schwachstellen in der Wirtschaft der ehemaligen DDR. Einmal gelang es ihr schon damals nicht, Marken aufzubauen, die mit Westprodukten konkurrieren könnten. … Der zweite nach wie vor bestehende Nachteil ist die unzureichende Produktivität. Diese ist nicht die Folge etwa eines ungenügenden Fleißes, wohl aber mitbedingt durch die schlechtere Qualifikation der Arbeitskräfte im Osten“.60 Im Überblick war klar, die ehemalige DDR war anders als die ehemaligen Ostblockländer, aber: „In unserem Zusammenhang wichtiger ist es, dass es über sozialen Wandel als Transformationsforschung nur sehr eingeschränkt etwas zu lernen gab. Ausgangssituation und Endzustand standen fest. Deshalb war die Frage, ob denn tatsächlich zusammenwächst, was zusammengehört, die viele der referierten Veröffentlichungen bestimmte, nicht sehr weiterführend“.61 Zusammenfassend: Die Theorie(n) des sozialen Wandels, soweit sie zur Erklärung der Transformation Ostdeutschlands bzw. der Fusion der beiden Gesellschaften Deutschlands herangezogen wurde(n), blieb(en) unbefriedigend. Die Sammelwerke und Monographien über den sozialen Wandel erbrachten kaum Perspektiven für ein gesellschaftsgeschichtlich begründbares, der klassischen Theorie verpflichtetes Verständnis des Systemwechsels. Die empirischen Analysen enthielten demgegenüber Anhaltspunkte, um an die klassischen Ansätze anzuknüpfen. Dazu sollen einige Arbeiten über die (ehemalige) DDR nun rekonstruiert werden, die dazu Näheres zeigen.
55 Scheuch, Sozialer Wandel. Band 2: Gegenwartsgesellschaften im Prozess des Wandels, pp. 280 – 281. Scheuch setzte offenbar eine Entscheidungsgewalt der politischen Führung(en) über die gesellschaftlichen Entwicklungsvorgänge in den ehemals sozialistischen Ländern voraus. 56 Ibid., pp. 183 ff. 57 Ibid., pp. 221 – 286. 58 Ibid., p. 221. 59 Ibid., p. 233. 60 Ibid., pp. 240 – 241. 61 Ibid., p. 283.
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VI. Das Denken des neuen Deutschland
2. EMPIRISCHE ANSICHTEN ÜBER DIE EX-DDR In den frühen neunziger Jahren wurden die Besonderheiten der SED-Diktatur anschaulich nachträglich geschildert. Fünf Ansätze verdeutlichen exemplarisch, wie die historischen Tatsachen bzw. die Befunde der empirischen Sozialforschung unter die Perspektive der klassischen Theorie(n) passten. Detlef Pollacks viel zitierte Skizze Das Ende einer Organisationsgesellschaft aus dem Jahr 199062 setzte ihren begrifflichen Rahmen durch Luhmanns Funktionen und Folgen formaler Organisation.63 Organisation war eine hierarchische Struktur der Entscheidungsebenen und der Mitgliedschaftsrollen, was den Eintritt und den Austritt regelte: „Wer eintritt, akzeptiert das Programm, die Struktur und das Personal. Anhand von Austrittsentscheidungen kann die Organisation ihre Entscheidungen über Programm, Struktur und Personal überprüfen und notfalls korrigieren“.64 Das Argument hatte drei Teile. Der erste erörterte die „gesellschaftliche Konstruktion der DDR vor der ‚Wendeʻ“65 als Großorganisation (im Sinne der Luhmannʼschen Organisationssoziologie): „Die SED-Führung nahm eine Ebenenverwischung vor und richtete die gesamte Gesellschaft als ihre Organisation ein“.66 Dazu war dreierlei zu sagen. Erstens: „Im Unterschied zu anderen ‚gewöhnlichenʻ Organisationen wie Betrieben oder Parteien konnte der DDR-Bürger, wenn er mit den Zuständen in seinem Land nicht einverstanden war, aus der DDR aber nicht austreten, jedenfalls nur unter hohen persönlichen Kosten und Risiken“. Zweitens: „Nur aufgrund der umfassend durchgesetzten Emigrationsblockade vermochte die SED ihre Interessen unabhängig von der Meinung der Bevölkerungsmehrheit durchzusetzen“.67 Und drittens: „Mit Hilfe der sozialistischen Ideologie wurde die gesamte Wirklichkeit über den dualen Code sozialistisch/antisozialistisch interpretiert. … Der Staatssicherheitsdienst wiederum hatte die Aufgabe, herauszufinden wer sich an das sozialistische Programm hielt und wer die zu disziplinierenden Feinde des Sozialismus waren. Sicherheitsapparat und Ideologie bedingten einander. Beide waren sie nötig, um das hierarchische Herrschaftssystem zu schützen“.68 Der zweite Teil schilderte den Zusammenbruch dieser hermetischen Organisationsgesellschaft. Drei Faktoren hatten die inneren Spannungen in den achtziger 62 Detlef Pollack, Das Ende einer Organisationsgesellschaft. Systemtheoretische Überlegungen zum gesellschaftlichen Umbruch in der DDR, Zeitschrift für Soziologie, Jg. 19, August 1990, pp. 292 – 307. 63 Pollack bezog sich in seiner Studie explizit auf Arbeiten Luhmanns aus den siebziger und achtziger Jahren. Den organisationssoziologischen Ansatz, den Pollack verwendete, hatte Luhmann erstmals in Funktionen und Folgen formaler Organisation im Jahr 1964 dargelegt. Siehe dazu oben die Studie V. 64 Pollack, Das Ende einer Organisationsgesellschaft, p. 294. Der Literaturbezug war: Niklas Luhmann, Funktion der Religion, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1977, p. 286 f. 65 Ibid., p. 293. 66 Ibid., p. 294; dort auch die nächste Zitatstelle. 67 Ibid., p. 295. 68 Ibid., p. 296.
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Jahren verschärft, nämlich „die Einwirkung der Westmedien, die Integration [der DDR] in den KSZE-Prozeß und die Gewährung von Westreisen in besonderen Fällen“.69 Der eigentliche Anstoß für den Zusammenbruch der „Geschlossenheit des Systems“70 sei allerdings die „Perestrojka“ gewesen, „denn der beginnende Demokratisierungsprozeß in der Sowjetunion zeigte, was selbst unter sozialistischen Gesellschaftsbedingungen an Mitbestimmung, Transparenz und freier Meinungsäußerung möglich ist“. Im dritten Schritt schilderte Pollack den Prozess des Systemwechsels im Zeitraum 1988/1989 bis 1990. Er rekonstruierte die Kaskade der Ereignisse (Aktionen und Reaktionen), die schließlich am 9. November 1989 die Öffnung der Grenze der DDR zur Bundesrepublik brachte: Der nicht zu steuernde Bevölkerungsstrom dieses Abends in Richtung der Berliner Mauer und in den Wochen davor die immer größeren Demonstrationen in den Großstädten der DDR hatten dieses Ereignis unvermeidlich gemacht. Pollacks Darstellung verwandte das Luhmannʼsche Konzept zur eigenständigen Interpretation der Geschehnisse. Unwillkürlich schloss dies an die Theorie der modernen Industriegesellschaft bei Parsons an. Zwei Argumentationslinien Pollacks passten erstaunlich genau zu Parsonsʼ Überlegungen. Parsons hatte in The Social System die drei Mechanismen einer universalistisch-askriptiven Gesellschaft – wie etwa des nationalsozialistischen Deutschland – aufgezeigt, wo der Zwang einen Dauerzustand der Desorganisation stützte.71 Es waren erstens der Utopie-Oktroi durch dualistische Statuszuweisung (im NSRegime leistete dies die „Rasse“), zweitens der Kollektivismus (im NS verwirklichte ihn die „Volksgemeinschaft“) und drittens der Autoritarismus, wodurch eine Avantgarde sich die Kontrolle über Leben und Tod der Volksgenossen anmaßte. Über die DDR berichtete Pollack, die SED habe den Sozialismus zum Statusmerkmal der Elite und zum Staatsziel gemacht, die Autonomie der Bürger war per Kollektivismus negiert, und der Staatssicherheitsdienst verfolgte die so genannten Feinde des Sozialismus gnadenlos. In allen drei Punkten entsprach dies den Vorgaben Parsonsʼ. Pollack schloss auch an Parsons an, wo er die DDR – nach Kriterien der siebziger und frühen achtziger Jahre – als eine Industriegesellschaft darstellte.72 Parsons hatte in den sechziger Jahren über die kommunistischen Gesellschaften des Ostblocks und die kapitalistischen Gesellschaften der westlichen Welt gesagt, dieselben Überzeugungen gebe es in allerdings unterschiedlicher Ausprägung in den antagonistischen Hemisphären.73 Die Gemeinsamkeiten der Gesellschaften in Ost 69 Ibid., p. 298. Der KSZE-Prozess beruhte auf der Selbstverpflichtung der Ostblockstaaten auf die Menschenrechte im Gefolge der KSZE-Konferenz in Stockholm im Jahr 1975. Die Abkürzung stand für Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. 70 Ibid., p. 299; dort auch die nächsten zwei Zitatstellen. 71 Zum folgenden siehe vor allem: Talcott Parsons, The Social System, Glencoe IL: The Free Press 1951 (Nachdruck New York: The Free Press 1964), pp. 191 – 194. 72 Pollack, Das Ende einer Organisationsgesellschaft, p. 297. 73 Dazu: Talcott Parsons, Order and Community in the International Social System, in: Jeremy N. Rosenau (ed.), International Politics and Foreign Policy, New York: The Free Press 1961, pp.
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und West waren ein Thema bei Pollack. Ostdeutschland und Westdeutschland seien vergleichbar (gewesen), wenn man eine Industriegesellschaft in beiden Teilen Deutschlands – wiewohl unterschiedlich ausgeprägt – sehe. Die DDR (auf der einen Seite) litt an gesellschaftlicher Entdifferenzierung, wie sie die SED erzwang, die ihren politischen Primat geltend machte, aber (auf der anderen Seite) zeigte sich die Tendenz zur gesellschaftlichen Differenzierung in den Forderungen der Bürger, wenn sie für sich mehr berufliche Chancen und also funktionale Spezialisierung verlangten.74 Diese Orientierungen der Bürger antizipierten die Differenzierung einer modernen Industriegesellschaft. Das Regime hatte, so Pollack, die Entdifferenzierung forciert. Dem Ansturm des Umsturzes konnte es dann nicht standhalten. Ilja Srubar legte im Jahr 1991 eine Studie vor, die teilweise einen anderen Schwerpunkt setzte und doch ausdrücklich Parsons folgte. Der Essay War der reale Sozialismus modern?75 wollte nachträglich die Strukturmerkmale des Staates und der Wirtschaft des Sozialismus herausarbeiten. So sollten die Folgen des Regimes in den Ostblockstaaten und der ehemaligen DDR offensichtlich werden, wie sie noch lange nach dem Zusammenbruch dieser Gesellschaften nachwirkten.76 Er entwarf zunächst eine „Typik westlicher Modernisierung“77, wo drei Strukturmerkmale zum Individualisierungsprozess gehörten: „[E]rstens … [der] Integrationsmechanismus des Marktes und des Geldes als eines generalisierten Kommunikationsmediums, zweitens … das diskursive Prinzip der Konfliktlösung, das typischerweise in Gestalt von Parlamenten institutionalisiert ist, und drittens … die in rationaler Herrschaft und im positiven Recht verankerte Rechtssicherheit“.78 Entscheidend war: „Der Preis [für die Emanzipation des Subjekts im Sinne der Erweiterung
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120 – 129; Parsons, Polarization and the Problem of International Order, Berkeley Journal of Sociology, vol. 6, 1961, pp. 115 – 134; Parsons, Polarization of the World and International Order, in: Quincy Wright, William E. Evan, Morton Deutsch (eds.), Preventing World War III: Some Proposals, New York: Simon and Schuster 1962, pp. 310 – 331. Dazu: Uta Gerhardt, Parsonsʼs Analysis of the Societal Community, in: A. Javier Trevino (ed.), Talcott Parsons Today: His Theory and Legacy in Contemporary Sociology, Lanham etc.: Rowman and Littlefield 2001, pp. 177 – 222, insbes. pp. 190 – 193. Pollack: „Für die gesellschaftliche Entwicklung im ganzen bedeutete das, daß die in der gesellschaftlichen Differenzierung angelegten Möglichkeiten zur gesellschaftlichen Selbstorganisation und individuellen Selbstverwirklichung nicht voll zur Entfaltung kommen konnten, sondern immer wieder von oben her eingeschränkt und unterdrückt wurden. Die Gegenläufigkeit von Differenzierung und Entdifferenzierung hatte … zwei gravierende Folgen. Zum einen gerieten teilsystemische Effizienzgesichtspunkte (Wirtschaftlichkeit, Wissenschaftlichkeit, Gesetzlichkeit, Fachkompetenz) und politisch-ideologische Gesichtspunkte in Widerstreit, und zum andern gerieten die politisch-ideologischen Vorgaben in Konflikt zur Vielfalt individueller Interessen“. (p. 295) Ilja Srubar, War der reale Sozialismus modern? Versuch einer strukturellen Bestimmung, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Bd. 43, 1991, pp. 415 – 432. Srubar deutete an, dass er sich dieses Fortwirken analog dem cultural lag vorstellte, also dem Weiterwirken kultureller Kräfte früherer Epochen auch nach wirtschaftlichen oder technischen Fortschrittsentwicklungen. Die These des cultural lag zur Erklärung von Ungleichzeitigkeit bei sozialem Wandel wurde erstmals durch William Ogburn im Jahr 1922 dargelegt. Srubar, War der reale Sozialismus modern?, p. 416 ff. Ibd., p. 417.
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seiner individuellen Freiheit und der Möglichkeiten seiner individuellen Lebensführung] besteht in der Formalisierung des Subjekts durch den Mechanismus des Rechts und in seiner durch den Mechanismus des Geldes bewirkten Abstraktheit“.79 Ganz anders als derartige Modernisierung, so Srubar, funktionierte der reale Sozialismus. Die Literatur über die Lebensverhältnisse der siebziger und achtziger Jahre zeige für den Staat, die Wirtschaft und schließlich auch die gesellschaftlichen Orientierungen der Menschen, dass der reale Sozialismus nichts Modernes war. Zum Staat der sozialistischen Länder: „Sein Ausgangspunkt wird in dem permanenten Bestreben der Partei gesehen, ihr Machtmonopol durch den Hinweis auf den ‚revolutionärenʻ, charismatischen Charakter ihrer Entstehung zu legitimieren“. Das Machtmonopol der Partei hieß „Privatisierung des Staates im realen Sozialismus“80. Die Instrumentalisierung der staatlich-bürokratischen Ordnung durch Funktionäre war eine „Zweckverschiebung“, „weil sich dadurch den Organisationsmitgliedern die Möglichkeit eröffnet, private Ziele mit den Mitteln der Organisation zu erreichen“ – was wiederum die alltäglichen Handlungsorientierungen „des Verhältnisses von Patronen und Klientelen im sozialistischen ‚Seilschaftswesenʻ“81 prägte: „Die Privatisierung des Staates … bedeutet also nicht mehr nur den Mißbrauch privater Macht durch eine Nomenklatura, die ihre Privilegien erwerben und sichern will, sie wird vielmehr zum Bestandteil des alltäglichen Handelns und Besorgens von Beamten und Angestellten“. Die sozialistische Planwirtschaft, so Srubar, war – weil der Markt als Steuerungsmechanismus fehlte – eine „Mangelwirtschaft“. Dabei kehrte sich das Verhältnis von Angebot und Nachfrage um: „Das Hauptproblem der Warenzirkulation stellt sich hier also nicht als ein Problem des Herstellers, das lautet: ‚Wie wird die Ware an den Käufer gebracht?ʻ, sondern als ein Problem des Kunden, das besagt: ‚Wie kommt man überhaupt an die Ware heran?ʻ“ Entsprechend entstanden „soziale Netzwerke der Umverteilung von Waren und Dienstleistungen“. Die staatlich kontrollierte Industrie hortete Arbeitskräfte und Waren, um ihrerseits den Bedürfnissen ihrer Betriebsangehörigen (und deren privaten und parteipolitischen Netzwerken) entsprechen zu können. So kam es zur „Umverteilung, sprich: Reprivatisierung, ‚sozialistischenʻ Eigentums“82 – also dem Aneignen von betrieblichem Eigentum zur privaten Nutzung oder zum Tausch innerhalb der halboffiziell tolerierten Netzwerke der Bürger: „Auf dieser Grundlage läßt sich im Bedarfsfalle eine Atmosphäre gegenseitiger Benevolenz evozieren, die es möglich macht, die erwiesene Dienstleistung als freundschaftliche Gefälligkeit erscheinen zu lassen, die zur Gegenleistung berechtigt und die ökonomische Seite der Beziehung verdeckt“.83 Srubars Analyse ging noch einen Schritt weiter. Er wollte auch die Folgewirkungen der strukturtypischen ‚Privilegienpolitikʻ und ‚Schattenwirtschaftʻ erfas79 80 81 82 83
Ibid., p. 418: dort auch die nächste Zitatstelle. Ibid., p. 419; dort auch die nächsten zwei Zitatstellen. Ibid., p. 420; dort auch die nächsten vier Zitatstellen. Ibid., p. 421. Ibid., p. 422.
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sen, wie sie nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Regimes noch andauerten. Die „Konstitution sozialer Identität“84, so seine These, war angelegt (gewesen) auf eine Dichotomie zwischen „Wir“85 und „den anderen“ in einem „Inselmeer von Netzwerken“: „Die primäre Verankerung der Identität sowie die primäre Verortung der eigenen sozialen Position in einem derartigen kollektiven Kontext manifestiert sich in der spontanen, eruptiven Artikulation von ethnischen und sozialen Vorurteilen, denen man als einer der ersten Äußerungen der erlangten Freiheit in den Ländern des Realsozialismus begegnet“. Daraus ergaben sich schwerwiegende Schlussfolgerungen. Soziologisch, so Srubar, habe Parsons recht gehabt, wenn er eine „solche auf zugeschriebenem Status aufgebaute Struktur … bekanntlich als ‚universalisticascription patternʻ bezeichnete“86, wie in „dem rechten und dem linken totalitären Regime im Dritten Reich und in der UdSSR“. Allerdings seien die Spätwirkungen der „Partikularisierung und Insularisierung der realsozialistischen Gesellschaft“87 eine Spätfolge der „demobilisierenden Wirkungen des realen Sozialismus“, weshalb eine „partikularistisch-askriptive“ normative Ordnung in den Nachfolgegesellschaften des ehemaligen Ostblocks entstanden sei bzw. weiterhin noch bestehe: „Die diese Struktur prägende generalisierende Unterscheidung von ‚wirʻ und ‚die anderenʻ, in der nur die Netzwerkmitglieder als moralische Subjekte erscheinen, im Gegensatz zu den anderen, die als anomyme Opfer des netzbezogenen Versorgungshandelns auftreten, trägt strukturelle Merkmale jener Unterscheidung von Innenund Außenmoral, die Max Weber als ein Charakteristikum vormodernen Wirtschaftens hervorhebt“.88 Mit anderen Worten: Srubar sah in den mittel- und osteuropäischen Gesellschaften einen Strukturtypus, der an den Parsonsʼschen (für lateinamerikanische Gesellschaften charakteristischen) Typus einer „partikularistischaskriptiven“ Wertorientierung erinnere. Der Unterschied zum „universalistischaskriptiven“ Typus war gravierend. Denn Universalismus – wie Parsons erläuterte – gehörte (wenigstens) zur Industriegesellschaft, das „partikularistisch-askriptive“ Regime aber nicht. Das „universalistisch-askriptive“ Strukturmuster – wiewohl in der Fehlform eines Pseudo-Universalismus – wäre der Industriegesellschaft wenigstens äußerlich ähnlich.89 Srubars Fazit: Man solle gewärtigen, „daß der ‚Remodernisierungsprozeßʻ des ehemaligen Sozialismus von dem durch Max Weber beschriebenen (und von den Beteiligten erwarteten) auf innerweltliche Askese und Leistung gegründeten Modernisierungsverlauf und von seinen Resultaten durchaus abweichen kann“.90 84 Ibid., p. 423. 85 Ibid., p. 424; dort auch die nächsten drei Zitatstellen. 86 Ibid., p. 426; dort auch die nächste Zitatstelle. Hervorhebung wie im Original. Srubar bezog sich auf The Social System, pp. 191 ff. 87 Ibid., p. 427; dort auch die nächste Zitatstelle. 88 Ibid., p. 428. 89 Parsons erläuterte die Fehlform des Pseudo-Universalismus am Vorurteilsdenken, wo das Kriminelle ungestraft bleibt, aber das Normale verfolgt wird, wie etwa beim nationalsozialistischen Antisemitismus in: Parsons, The Social System, p. 290. 90 Srubar, War der reale Sozialismus modern?, p. 429.
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Gert-Joachim Glaeßner legte zwei Bücher zum Übergang der ehemaligen DDR und Osteuropas zur Demokratie vor.91 Er erläuterte seine Überlegungen im Beitrag zum Aufsatzband Der Zusammenbruch der DDR, den Hans Joas und Martin Kohli 1993 herausgaben.92 In fünf Schritten sei der Übergang zwischen den Regimes zu denken. Am Anfang standen die „Strukturdefekte des politischen Systems“.93 Der Staat des Marxismus-Leninismus, so Glaeßner, war eine traditionalistische Herrschaft (gewesen): „Der Stalinismus hatte in den sozialistischen Ländern … politische Strukturen geschaffen, die weitgehend dem entsprachen, was Max Weber mit dem Begriff ‚Sultanismusʻ bezeichnete“.94 Dementsprechend: „Das Spezifikum dieses Herrschaftstyps soll mit dem Begriff ‚Parteipatrimonalismusʻ gekennzeichnet werden“. Die „Patrimonialbürokratie neuen Typs“ war im Stalinismus allgewaltig: „Partei und Staat hatten nur ein Ziel: die neue kommunistische Gesellschaft aufzubauen“. Es bedeutete: „Die ‚Beamtenʻ der Parteikader, die alle entscheidenden Lenkungs- und Leitungspositionen innehatten, waren ausschließlich dem charismatischen Führer, der Avantgardepartei und der herrschenden Ideologie zu Dienst und Treue verpflichtet“. Max Weber habe, wie zu erinnern sei, vor dem Sozialismus gewarnt, denn die „despotische Funktion“95 der „Bürokratie als notwendige Begleiterscheinung des Kapitalismus“ werde im Sozialismus noch verschärft. Dort herrsche eine sozialistische „Gesamtbürokratie“, so Weber, welche „die Gesellschaft in ein ‚Gehäuse der Hörigkeitʻ sperrt und den Prozeß der Konfliktaustragung und Konsensbildung konkurrierender Teilbürokratien ersetzt durch die Anweisungen einer allmächtigen Zentrale“. Die „Ursachen der Krise“96, so Glaeßner, lagen im Stalinismus, einem „Monismus“97: „Als am 21. August 1968 die Truppen des Warschauer Paktes die Systemreform in der Tschechoslowakei gewaltsam niederschlugen, wurde deutlich, daß der Sozialismus sowjetischen Typs … zu einer Reform an Haupt und Gliedern nicht fähig war“.98 Dennoch entstand in der DDR und anderswo in den darauf folgenden Jahrzehnten ein „kultureller und sozialer Wandel, der von diesen Parteien nicht mehr zu steuern war“.99 Dann kam jene Erup-
91 Gert-Joachim Glaeßner, Der schwierige Weg zur Demokratie. Vom Ende der DDR zur deutschen Einheit, Opladen/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1992 (2. Auflage); Glaeßner, Demokratie nach dem Ende des Kommunismus. Regimewechsel, Transition und Demokratisierung im Postkommunismus, Opladen: Westdeutscher Verlag 1994. 92 Gert-Joachim Glaeßner, Am Ende des Staatssozialismus – Zu den Ursachen des Umbruchs in der DDR, in: Hans Joas und Martin Kohli (Hrsg.), Der Zusammenbruch der DDR. Soziologische Analysen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1993, pp. 70 – 92. 93 Ibid., pp. 71 ff. 94 Ibid., p. 74; dort auch die nächsten vier Zitatstellen. 95 Ibid., p. 75; dort auch die nächsten drei Zitatstellen. Der Ausdruck „Gesamtbürokratie“, so Glaeßner, stammte aus Webers Schrift Der Sozialismus. Siehe: Max Weber, Der Sozialismus. Mit einer Einführung von Herfried Münkler, Weinheim: Beltz Athenäum 1995. 96 Ibid., pp. 77 ff. 97 Ibid., p. 78. 98 Ibid., p. 79. 99 Ibid., p. 81.
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tion, die aktuell nun die rhetorische Frage „Revolution oder Konterrevolution?“100 aufwarf. Die ‚samtenen Revolution(en)ʻ seit 1989 war(en) gewaltfrei (gewesen): „Mit Ausnahme von Rumänien haben diese Umbrüche den Kausalzusammenhang von Revolution und Gewalt durchbrochen“.101 Die DDR, so Glaeßner, erleb(t)e eine „abgebrochene Revolution“.102 Die Transition103 verlaufe dort anders als in den ost- und ostmitteleuropäischen Ländern: Die Persönlichkeiten eines humanen Sozialismus saßen in Ostdeutschland zunächst mit den Funktionären des gestürzten Regimes an einem „Runden Tisch“, ehe die „Verfassungsrevolution“104 endgültig den Weg zur „Verwestlichung“ freimache bzw. freigemacht habe – mit Anselm Doering-Manteuffel gesprochen.105 Die DDR in der Vereinigung mit der Bundesrepublik – ebenso wie die Ostblockländer in ihrem Drang zur NATO und in die EU – sei(en) indessen, wie Glaeßner konstatierte, seit 1990/1991 einem prekären neuen Nationalismus ausgesetzt. Glaeßners Analyse griff Max Webers Denkfigur der Veralltäglichung des charismatischen Regimes zum sultanistischen Patrimonialismus auf. Parsons verwendete die Denkfigur in seinen Arbeiten zum Nationalsozialismus106 und auch The Social System.107 Glaeßner sah die Transition (den Begriff übernahm er von Juan Linz) vom Patrimonialismus zur Demokratie als „Verfassungsrevolution“. Wegen der patrimonialen Altlast sei die nationale Identitätsfindung indessen ein problematisches Unterfangen: „Über die Art und Weise, wie das vereinigte Deutschland seine nationale Rolle definieren will, gibt es noch keine Klarheit“.108 Martin Kohli setzte einen weiteren Bezugspunkt. Er wollte die Sozialgeschichte der DDR rekonstruieren109, und zwar ohne eine „Teleologie“110, die „die Geschichte des Realsozialismus im Horizont seines notwendigen Untergangs“ erfasse. Trotz des unerwarteten Zusammenbruchs Ostdeutschlands müsse man plausible Erklärungen geben. Schlüsselbegriff war Integration – und zwar dachte Kohli an die Integration der durchaus funktional differenzierten (also wenigstens ansatzweise 100 101 102 103
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Ibid., pp. 80 ff. Ibid., p. 83. Ibid., pp. 84 ff. Den Begriff Transition führte Juan Linz ein, um den Übergang von autoritären zu demokratischen Regimes in Griechenland, Spanien und anderen Ländern in den siebziger Jahren zu erfassen. Glaeßner bezog sich auf: Juan Linz, Transitions to Democracy, The Washington Quarterly, Summer 1990, pp. 143 – 164. Der letzte Teil des Aufsatzes war überschrieben: „Nationale oder Verfassungsrevolution?“, pp. 87 ff. Siehe dazu: Anselm Doering-Manteuffel, Wie westlich sind die Deutschen?, Göttingen: Vandenhoek und Ruprecht 1999. Siehe dazu: Talcott Parsons, Max Weber and the Contemporary Political Crisis (ursprünglich 1942), in: Talcott Parsons on National Socialism, edited and with an introduction by Uta Gerhardt, New York: Aldine de Gruyter 1993, pp. 291 – 324. Siehe: Parsons, The Social System, pp. 525 – 535. Glaeßner, Am Ende des Staatssozialismus etc., p. 90. Martin Kohli, Die DDR als Arbeitsgesellschaft? Arbeit, Lebenslauf und soziale Differenzierung, in: Hartmut Kaelble, Jürgen Kocka, Hartmut Zwahr (Hrsg.), Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart: Klett-Cotta 1994, pp. 31 – 61. Ibid., p. 31; dort auch die nächste Zitatstelle.
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modernen) DDR-Gesellschaft, „einer um Arbeit zentrierten Gesellschaft“.111 Die dritte Phase der DDR-Geschichte habe ihre Integration ganz aus der Arbeitswelt heraus leisten wollen – wodurch ein Teufelskreis entstanden sei: „Es war für den Bestand des Systems um so folgenreicher, als in dieser Phase die Ineffizienz der DDR-Wirtschaft im Vergleich zum Westen zunehmend stärker hervortrat“.112 Dass die ökonomische Integration dieser Gesellschaft zentral gewesen sei, verdeutlichten die sozialstatistischen Befunde zur Erwerbsbeteiligung insgesamt und insbesondere jene der Frauen, zur längeren Erwerbsbiographie beider Geschlechter in der DDR im Verhältnis zur BRD und ähnliches. Es entstand das Bild „(in Max Webers Begriffen) einer Gesellschaft fast ohne Besitzklassen“.113 Um so dramatischer, so Kohli, war der unvorhersehbare Zusammenbruch. Ein Vergleich mit dem Jahr 1968 enthalte die Erklärung: „Die 68-er Bewegung leitete im Westen einen überfälligen kulturellen Modernisierungsschub ein; sie war eine Frischzellenkur für eine alternde Gesellschaft. Die kulturelle Revolution im Westen hätte im Prinzip dessen Bestand gefährden können, aber empirisch hatte sie – so scheint es – die umgekehrte Wirkung: Sie beförderte dessen notwendige Anpassungsleistungen an veränderte Umweltbedingungen. Im Osten wurde diese Revolution unterdrückt, bis sie nach zwei Jahrzehnten – unter geänderten Bedingungen – mit diesmal vernichtender Sprengkraft ausbrach“.114 Kohli sah die DDR als eine Arbeitsgesellschaft, die ihre eigene Bestimmung nicht einlösen konnte, weil das System des Sozialismus gerade die Entstehung der Besitzklassen verhinderte, die für eine Arbeitsgesellschaft unerlässlich sind. Die Studie des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin hieß Lebensverläufe und historischer Wandel in der ehemaligen DDR. Die Studie war etwas Besonderes. Zum einen wurden eigene Daten mittels der seit den achtziger Jahren entwickelten Ereignisanalyse erhoben, die vergleichend die Statusbiographien untersuchte.115 Zum anderen wurden die Vorgänge in der DDR – und die Erfahrungen der Transformation – anhand dieser empirischen Daten gedeutet.116 111 112 113 114 115
Ibid., p. 33; Hervorhebung im Original. Ibid., p. 39. Ibid., p. 51. Ibid., p. 54. Dazu: Hans-Peter Blossfeld, Alfred Hamerle und Karl Ulrich Mayer, Ereignisanalyse, Frankfurt a. M.: Campus 1986; Karl-Ulrich Mayer, German Survivors of World War II: The Impact on the Life Course of the Collective Experience of Birth Cohorts, in: Mathilda White Riley in association with Bettina J. Huber, Beth B. Hess (eds.), Social Structures and Human Lives, Newbury Park etc.: Sage Publications 1988, pp. 229 – 246; Hans-Peter Blossfeld, Kohortendifferenzierung und Karriereprozeß. Eine Längsschnittstudie über die Veränderung der Bildungsund Berufschancen im Lebenslauf, Frankfurt a. M.: Campus 1989; Karl Ulrich Mayer (Hrsg.), Lebensläufe und sozialer Wandel. Sonderheft 31 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Opladen: Westdeutscher Verlag 1990; Erika Brückner and Karl Ulrich Mayer, Collecting Life History Data: Experiences From the German Life History Study, in: Janet Z. Giele, Glen H. Elder (eds.), Methods of Life History Research: Qualitative and Quantitative Approaches, Thousand Oaks etc.: Sage Publications 1998, pp. 152 – 181. 116 In diesem Zusammenhang entstanden unter anderem: Heike Solga, Auf dem Weg in eine klassenlose Gesellschaft? Klassenlagen und Mobilität zwischen Generationen in der DDR, Berlin: Akademie Verlag 1994; Karl Ulrich Mayer und Heike Solga, Mobilität und Legitimität. Zum
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Exemplarisch zeigte dies die Monographie Kollektiv und Eigensinn, erschienen 1995.117 Die Lebensverlaufsanalyse als Forschungsmethode untersucht die Statusbiographien für Bildung, Beruf und Familie für so genannte Geburtskohorten, also Menschen mit relativ ähnlichen allgemeinen Lebenschancen angesichts und wegen der historischen Gegebenheiten. Die Berliner Studie untersuchte DDR-Bürger der Geburtskohorten 1929 – 1931, 1939 – 1941, 1951 – 1953 sowie 1959 – 1961. Vor dem Hintergrund der DDR-Geschichte und angesichts des mehrfachen Kurswechsels der Gesellschaftspolitik der vierzig Jahre SED-Herrschaft, was die Lebenschancen der verschiedenen Kohorten jeweils anders beeinflusste, wurden die Lebensläufe der Befragten analysiert. Einige Befunde im Überblick: Die DDR wurde im Verlauf ihrer Geschichte mehr und mehr zu einer Klassengesellschaft, wobei sich die Mobilitätschancen so veränderten, dass in der jüngsten Kohorte die Aussicht von Kindern der gehobenen Dienstklasse – der Führungsschicht – am größten war, der gehobenen Dienstklasse (wieder) anzugehören.118 Die Bildungschancen wurden im Laufe der DDR-Geschichte für Frauen und Männer so angeglichen, dass die Frauen der jüngsten Kohorte dieselben Bildungsmöglichkeiten wie die Männer hatten; aber beide Geschlechter der jüngsten Kohorte waren von den aussichtsreichsten Karriereverläufen ausgeschlossen, wenn sie nicht aus der Parteielite stammten oder durch demonstrative Systemloyalität (etwa SED-Mitgliedschaft) ihren sozialen Aufstieg sicherten.119 Partnerschaft, Ehe und Familie hatten einen hohen Stellenwert in der politischen Programmatik der SED und prägten auch die Lebensentwürfe der DDRBürger; trotz der Gleichberechtigung der Geschlechter gab es keine Gleichheit von Männern und Frauen bei den Aufstiegschancen und den Arbeitseinkommen.120 Netzwerkhilfen von Kollegen erhielten die Ältesten (1929 – 1931 Geborenen) relativ am seltensten, aber von Vorgesetzten bekamen sie diese Hilfen häufiger als die jüngeren Kohorten; Freunde spielten für die jüngeren Kohorten eine große Rolle,
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Vergleich der Chancenstrukturen in der alten DDR und der alten BRD oder: Haben Mobilitätschancen zu Stabilität und Zusammenbruch der DDR beigetragen? Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Bd. 46, 1994, pp. 193 – 208; Karl Ulrich Mayer, Vereinigung soziologisch: Die soziale Ordnung der DDR und ihre Folgen, in: Hansgert Peisert und Wolfgang Zapf (Hrsg.), Gesellschaft, Demokratie und Lebenschancen. Festschrift für Ralf Dahrendorf, Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt 1994, pp. 267 – 290 (Nachdruck in Berliner Journal für Soziologie, Heft 3/1994, pp. 307 – 322); Heike Solga, „Systemloyalität“ als Bedingung sozialer Mobilität im Staatssozialismus, am Beispiel der DDR, Berliner Journal für Soziologie, Heft 4/1994, pp. 523 – 542. Johannes Huinink, Karl-Ulrich Mayer, Martin Diewald, Heike Solga, Annemette Sorensen, Heike Trappe, Kollektiv und Eigensinn. Lebensverläufe in der DDR und danach, Berlin: Akademie Verlag 1995. Heike Solga, Die Etablierung einer Klassengesellschaft in der DDR: Anspruch und Wirklichkeit des Postulats sozialer Gleichheit, in: Huinink et. al., Kollektiv und Eigensinn, pp. 45 ff. Johannes Huinink, Karl Ulrich Mayer und Heike Trappe, Staatliche Lenkung und individuelle Karrierechancen: Bildungs- und Berufsverläufe, in: Huinink et al., ibid., pp. 89 ff. Johannes Huinink und Michael Wagner, Partnerschaft, Ehe und Familie in der DDR, ibid., pp. 145 ff.; Annemette Sorensen und Heike Trappe, Frauen und Männer: Gleichberechtigung – Gleichstellung – Gleichheit?, ibid., pp. 189 ff.
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nämlich für die 1951 – 1953 und auch die 1959 – 1961 Geborenen.121 Das Fazit, das Karl Ulrich Mayer am Schluss des Buches zog, unterstrich auf der einen Seite die Zwänge, die die SED auf die Menschen ausübte, um sie zum Kollektiv zu formen, und betonte auf der anderen Seite, dass die DDR-Bürger ihr Leben mit Eigensinn durch die Nutzung dennoch vorhandener Spielräume individuell zu gestalten wussten: „Für die Generationsgeschichte der DDR schließlich verdient insbesondere die folgende Beobachtung Aufmerksamkeit. Sowohl für erhaltene Anerkennung als auch für Beschaffungen waren Vorgesetzte von Kohorte zu Kohorte immer weniger wichtig (Freunde jedoch zunehmend wichtiger). Als ‚einfachsteʻ Erklärung bietet sich an: Der Altersabstand zu der immobilen Vorgesetztengeneration nahm zu. Ob aus diesem oder aus Gründen zunehmender Systemdistanz, ein Vertrauensschwund bleibt als Resultat“.122 Den Zusammenbruch der DDR erklärten die Befunde in Kollektiv und Eigensinn nicht. Ein Aufsatz in der Kölner Zeitschrift des Jahres 1994 enthielt eine These: Die mehr und mehr geschlossene Klassengesellschaft widerspreche dem ideologischen Postulat der Chancengleichheit, so dass Bildung und Beruf trotz der Gesellschaftsplanung der SED zunehmend auseinander klafften. Die Generation der ‚Revolutionäreʻ der Nachkriegszeit habe über Jahrzehnte die Schaltstellen der Macht besetzt. Gerade die jüngeren DDR-Bürger hätten im letzten Jahrzehnt der DDRGeschichte kaum mehr Chancen für sich gesehen: „Dies bedeutet, dass sich die um 1960 Geborenen im Verlauf der 80er Jahre einer mehrfachen relativen Deprivation ausgesetzt sahen. Führungspositionen waren verschlossen, weil sie immer noch von der ‚Aufbaugenerationʻ besetzt waren. Ferner wurden die Schließungstendenzen der Intelligenz durch Rückgang beziehungsweise Stagnation der für beruflichen Aufstieg unumgänglichen Hoch- beziehungsweise Fachschulplätze verstärkt. Auch verschlechterten sich nicht nur die an die soziale Herkunft gebundenen Chancen, sondern auch die berufliche Situation im eigenen Erwerbsverlauf. Schließlich fiel die DDR im Vergleich zur Bundesrepublik deutlich sichtbar zurück“.123 Mit anderen Worten: Die Legitimität des Regimes, das die Chancengleichheit zu verkörpern und die Verteilungsgerechtigkeit zu sichern vorgab, wurde im Verlauf der Gesellschaftsgeschichte der DDR immer weiter ausgehöhlt. Mayer und Solga: „Wir haben damit eine der endogenen Ursachen für den Untergang der DDR belegen können“. Die Berliner Lebensverlaufsstudie erwies die DDR als im Laufe ihrer Geschichte zunehmend eine Klassengesellschaft verkörperndes Gemeinwesen, trotz der ideologischen Vorgaben. Die Bürger suchten sich Spielräume ihrer Individualität – Stichwort Eigensinn – und mussten sich doch in die Minderung ihrer Aufstiegschancen fügen, wenn sie nicht zum Büttel des Parteiregimes werden wollten.
121 Martin Diewald, „Kollektiv“, „Vitamin B“ oder „Nische“? Persönliche Netzwerke in der DDR, ibid., pp. 223 ff.; siehe insbesondere die Graphik p. 255. 122 Karl Ulrich Mayer, Kollektiv oder Eigensinn? Der Beitrag der Lebensverlaufforschung zur theoretischen Deutung der DDR-Gesellschaft, ibid., pp. 349 ff., cit. p. 367. 123 Karl Ulrich Mayer und Heike Solga, Mobilität und Legitimität, p. 206; dort auch die nächste Zitatstelle.
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Zusammenfassend: Die empirischen Analysen enthielten Elemente der klassischen Theorie(n) zum sozialen Wandel. Pollacks „Organisationsgesellschaft“ sah die Herrschaftserhaltung der SED durch Mechanismen, wie sie in The Social System anhand des NS-Regimes diskutiert worden waren. Die Dialektik zwischen Differenzierung und Entdifferenzierung der DDR-Gesellschaft sei offensichtlich, was bei Luhmann vorgedacht werde, aber ähnlich Parsons zu schildern war. Srubar sah in Staat und Wirtschaft den Klientilismus, eine partikularistische Struktur. Er schilderte das gesellschaftliche Bewusstsein einer „Wir – die anderen“-Mentalität, eine askriptive und partikularistische Orientierung. Glaeßner konkretisierte den Traditionalismus. Er wies bei Weber auf die charismatische Herrschaft und besonders deren Veralltäglichung zum traditionalen Regime hin – im Falle der DDRHerrschaft einem „Parteipatrimonialismus“. Der Übergang – wiewohl eine Revolution – war jedenfalls (fast) ohne Blutvergießen geschehen. Kohli sah eine Art ‚nachholende Revolutionʻ. Die (ehemalige) DDR habe den Modernisierungsschub, der auch im Osten durchaus möglich gewesen wäre, im Jahr 1968 nicht zugelassen, was nun nachgeholt wurde. Die Berliner Lebensverlaufsstudie untersuchte die Statusbiographien bei vier Geburtskohorten und sah eine Spannung zwischen der Systemstruktur und der Lebensführung. Das Kollektiv der SED-Herrschaft sei schließlich immer offenkundiger dem Eigensinn der DDR-Bürger entgegen gestanden. Die Schlüsselbegriffe in diesen Studien entstammten Weber – auch in der Fortsetzung durch Parsons – mit besonderem Augenmerk auf der charismatischen Herrschaft einschließlich ihrer Veralltäglichung zu einem traditionalen Regime und auch dem Übergang zu einem rational-legalen Gemeinwesen. Zusätzlich zu Weber hatte Parsons die Dialektik zwischen Entdifferenzierung und Differenzierung herausgearbeitet, wobei die Anomie und die Integration grundlegende Systemzustände der Diktatur und der Demokratie waren. Im nächsten Abschnitt wird gefragt, wie die Soziologie über die Gewalt der frühen neunziger Jahre dachte. 3. NATION – NATIONALISMUS – GEWALT? Im Oktober oder November 1990 zeichnete Claus Offe ein Genrebild der Vereinigung zwischen der (ehemaligen) DDR und der Bundesrepublik124: „[W]iderstandslos, ja passiv-fatalistisch wurde hingenommen, dass zunächst das westdeutsche Parteiensystem und dann in schneller Folge die Währung, die Wirtschafts- und Sozialordnung und schließlich das Privat- und Verfassungsrecht der Bundesrepublik deren neugewonnenem Ost-Territorium übergestülpt wurde“.125 Die „Einheitsstiftung“126 sei vom „ökonomischen System“127 ausgegangen, und der „wirtschaftliche 124 Der Aufsatz wurde im Jahr 1993 veröffentlicht: Claus Offe, Wohlstand, Nation, Republik. Aspekte des deutschen Sonderweges vom Sozialismus zum Kapitalismus, in: Hans Joas und Martin Kohli (Hrsg.), Der Zusammenbruch der DDR, pp. 282 – 301. 125 Ibid., p. 294. 126 Ibid., p. 282. 127 Ibid., p. 283.
3. Nation – Nationalismus – Gewalt?
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Integrationsprozeß“128 sei durch den „Verlust der Eigenstaatlichkeit durch Regimewechsel“129 gesichert worden. Neue Herren seien die „politischen Führungsgruppen in Deutschland, nicht nur die Bonner Regierung“.130 Die neue Führungsschicht, so Offe, vertrete einen „,Eliten-Nationalismusʻ“, einen „taktisch kalkulierten Nationalismus“131: „Der neue Nationalismus in Deutschland ist heute aus allen diesen Gründen kein Nationalismus der emotionalisierten Volksseele; dagegen spricht schon das Faktum, daß der Wiedervereinigung Deutschlands ein guter Teil der westdeutschen Bürger mit kostenbewußter Reserviertheit gegenübersteht. Es handelt sich vielmehr um einen kühl berechneten und moderierten ‚Eliten-Nationalismusʻ, der als sinnstiftende Kulisse für den überstürzten Prozess der wirtschaftlichen Integration dramaturgisch eingesetzt wurde“.132 Daraus, so Offe, entstünden gravierende Gefahren: „Das Integrationsmittel des nationalen Gefühls und der nationalen Pflicht kann deshalb, wenn es wirksam bleiben soll, leicht in eine Eskalationslogik geraten und nach immer höherer Dosierung verlangen“.133 Ein „institutionalisiertes Überlegenheitsgefühl“134 könne leicht zur Ausgrenzung „von Ausländern ohne Aufenthaltsgenehmigung und von Asylbewerbern“ führen: „Je stärker die deutsche Innenpolitik unter den Leitstern der ‚nationalen Einheitʻ gerät, desto bedrohter werden die materiellen Lebensbedingungen, die politischen Rechte und die kulturellen Chancen auf alltägliche Anerkennung für die nicht-deutsche Bevölkerung insgesamt“. Die „Gefahr des Rückfalls in ein nationalistisches Modell der Integration“135, so Offe, hätte jedenfalls durch „einen förmlichen demokratischen Prozess (z. B. Wahl einer verfassunggebenden Versammlung oder Volksabstimmung über den Verfassungstext)“ gebannt werden können. Aber nun – im Herbst 1990 – sei stattdessen „der Alptraum [sic] explosiver ethnischer Partikularisierung in einem von Migrationsbarrieren freigeräumten Großraum“ absehbar – nämlich dem neuen Europa.136 Im Mai 1991 lud Carlo Mongardini nach Amalfi (Italien) zu einer Konferenz Europa, Nazione e Stato Alla Vigilia del XXI Secolo ein.137 Mein Beitrag hieß Germany and the Problem of Aggressiveness.138 Angesichts der Furcht in Frankreich und Großbritannien vor Aggression eines nun wieder vereinigten Deutschland – des größten Staates der EU – war zu klären, ob von Deutschland eine Gefahr der 128 129 130 131 132 133 134 135 136 137
Ibid., p. 284. Ibid., p. 283; Hervorhebung im Original. Ibid., p. 296; dort auch die nächste Zitatstelle. Ibid., p. 285. Ibid., p. 286. Ibid., p. 297. Ibid., p. 298; dort auch die nächsten zwei Zitatstellen. Ibid., p. 299; dort auch die nächste Zitatstelle. Ibid., p. 301. Europa, Nazione e Stato Alla Vigilia del XXI Secolo, a cura di Carlo Mongardini e Marioli Ruini, Roma: Bulzoni Editore 1993. 138 Uta Gerhardt, Germany and the Problem of Aggressivenes, in: Europa, Nazione e Stato Alla Vigilia del XXI Secolo, pp. 141 – 148; wieder abgedruckt in: German Sociology: G. Simmel, M. Weber, T. W. Adorno, M. Horkheimer and Others, German Library No. 61, New York: Continuum 1998, pp. 234–241.
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VI. Das Denken des neuen Deutschland
Gewalt ausginge. Die These: Das Zweite Reich, 1871 gegründet, veranschauliche, wie ein kompulsives Nationalbewusstsein entstehe und dann gesellschaftlich Minderheiten diskriminiert würden (damals die Katholiken im „Kulturkampf“, die Juden im politischen Antisemitismus und die Sozialdemokraten durch das „Sozialistengesetz“). Ein Aggressionspotential sei nach der Wiedervereinigung vorhanden. Die amerikanische Soziologie der dreißiger und vierziger Jahre analysiere die Aggression als Begleiterscheinung der Anomie aus dem Verlust tradierter Lebensformen. Auch im Deutschland der neunziger Jahre sei eine Welle der Gewalt möglich.139 Dazu die Überlegung(en): Die Wiedervereinigung schuf wegen der ungeklärten nationalen Einheit Deutschlands auch Anomie, also war ein Gewaltpotential zu erwarten. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges war wohl weithin Anomie entstanden, aber die westlichen Alliierten hatten die Aggressionsbereitschaft durch Reeducation-Programme in andere Kanäle gelenkt, etwa den rasanten Wiederaufbau, das Wirtschaftswunder. Die Industrialisierung nach der ersten Wiedervereinigung Deutschlands im Jahr 1871 habe Anomiepotentiale freigesetzt, die dann als Aggression – etwa im Anti-Katholizismus, Antisemitismus, Pangermanismus – ausgelebt wurden.140 Aber die Nachkriegspolitik der Besatzungsregimes habe derartige Potentiale neutralisiert. In den Jahren 1992 und 1993 gab es Brandstiftungen gegen Ausländer, was die Weltöffentlichkeit erschrocken kommentierte. In Deutschland bezeugten Lichterketten und Demonstrationen, dass die Bürger die Gewaltakte – man sprach von Fremdenfeindlichkeit – nicht hinnahmen. Identifikation und Anomie141 vertrat die These, eine „freischwebende“ Aggressivität – wie seit den dreißiger Jahren untersucht142 – sei wegen des Verlusts der nationalen Identifikation(en) in den beiden Teilen Deutschlands vorhanden: „In der ehemaligen DDR war die nationale Identität zweigeteilt: Es gab ein ‚Deutschland, das wir liebenʻ, und eines, ‚das wir hassen.ʻ Die eigene Identität war wegen des Antifaschismus, per definitionem Grundlage des kommunistischen Deutschland, besser als die westdeutsche; letztere signa139 Die ersten Gewaltexzesse gegen Ausländer, die die Öffentlichkeit alarmierten, geschahen im November 1991. 140 Gerhardt, Germany and the Problem of Aggressiveness, in: Mongardini/Ruini, p. 148. Die Textstelle im Original: „If these remarks are sensible, two conclusions may be drawn. One is that the recent unification of Germany may document some of the problems that are to be faced by Europe in the wake of its expectable unification. The other is that what has been analyzed as German mentality and was most aptly changed through re-education in the Western zones of Germany after the Second World War, may have been the habitualized sequelae of Germanyʼs re-unification in the second half of the 19th century, followed by rapid industrialization of its society.“ 141 Gerhardt, Identifikation und Anomie. Zum gesellschaftswissenschaftlichen Verständnis der ethnozentrischen Gewalt, in: Hans-Ulrich Derlien, Uta Gerhardt, Fritz Scharpf (Hrsg.), Systemrationalität und Partialinteresse. Festschrift für Renate Mayntz, Baden-Baden: Nomos 1994, pp. 59 – 82. 142 Dazu: Harold Lasswell, World Politics and Personal Insecurity, New York: Macmillan 1935; John Dollard, Neal E. Miller, Leonard W. Doob, O. H. Mowrer, Robert R. Sears, Frustration and Aggression, New Haven und London: Yale University Press 1939; Talcott Parsons, Some Sociological Aspects of the Fascist Movements (ursprünglich 1942), in: Talcott Parsons on National Socialism, New York 1993, pp. 203 – 218.
3. Nation – Nationalismus – Gewalt?
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lisierte Selbstentfremdung im Kapitalismus, der zu verheerenden Folgen für die Menschen – Drogensucht, Arbeitslosigkeit etc. – führe. Gleichzeitig gab es in der ehemaligen Bundesrepublik eine gebrochene und dennoch stabile Identität, die das Deutsche herunterspielte und statt des Deutschtums ein ‚Westdeutsch-Seinʻ als Identifikationsmatrix der Nachkriegsgeschichte herausstellte. Die Bürger der beiden Länder waren überzeugt, die ‚richtigeʻ Nationalität zu haben, jeweils auf der Seite der Mauer, wo sie lebten“.143 Solche Identitäten, so die These, waren hinfällig (geworden), es bestehe ein Vakuum der Identifikation(en). Die Frage war, ob die ethnozentrische Gewalt aus den Anomiepotentialen der modernen Industriegesellschaft stammte.144 Die Antwort war ‚Weder – nochʻ: „Das Problem, dem Deutschland sich unerwartet gegenübersah, als die beiden Staaten innerhalb der Nation nicht mehr bestanden, war, was denn das Deutschland sei, mit dem der Deutsche sich – frei von Zweifeln und Vorbehalten – identifizieren könnte. Weder war und ist die DDR weiterhin Identifikationssymbol – sie ist nicht mehr existent. Noch kann und soll es (nur) die Bundesrepublik der ‚altenʻ Bundesländer sein – obwohl an dieser Identifikationseinheit noch verbreitet festgehalten wird. Doch die Verbrechen der Nationalsozialisten machen es unmöglich, dass die Mehrheit der Bevölkerung sich mit der Epoche identifiziert, in der zuletzt Deutschland eine Einheit war. Ein zukunftsweisendes Identifikationsbild ist noch nicht gefunden. Schließlich hat die Vereinigung Europas mit Zielpunkt Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion nach dem 1. Januar 1992 neue Verunsicherungen freigesetzt. Denn wird es Deutschland – in Europa – eines Tages überhaupt noch ‚gebenʻ, und wenn doch, dann ‚als wasʻ?“145 Das ehemalige Westdeutschland – ebenso wie die ehemalige DDR – geriet in einen Taumel der Umorientierung. Ein Sammelband mit dem Titel BRD ade!146, erschienen 1992, enthielt (1990 und 1991 geschriebene) Rückblenden auf eigene Biographien: Friedrich Tenbruck hatte die Teilung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg miterlebt147, Wolf Heydebrand war in den fünfziger Jahren aus Deutschland ausgewandert148, und Wolf-Dieter Narr rechnete sich zu jenen kritischen Intellektuellen, die nie ganz mit der Bundesrepublik identifiziert (gewesen) waren.149 Freddy Raphael hatte als Kind den Bruch zwischen den (nun „arischen“) Deutschen und den (nun angeblich nicht mehr deutschen) Juden erlebt und seither nie wieder vergessen. Er ermahnte seine ehemaligen Landsleute: „Die zurückgewonnene Freiheit und Vereinigung Deutschlands verpflichten: Jeder exaltierte, ‚ausgrenzendeʻ Identitätsrausch, jedes Abgleiten in Fremdenfeindlichkeit und Rassismus sind zu
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Gerhardt, Identifikation und Anomie, p. 76. Ibid., p. 60. Ibid., p. 77. Otthein Rammstedt und Gert Schmidt (Hrsg.), BRD ade! Vierzig Jahre in Rück-Ansichten von Sozial- und Kulturwissenschaftlern, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1992. 147 Friedrich Tenbruck, Der Anfang vom Ende, in: BRD ade!, pp. 41 – 61. 148 Wolf Heydebrand, Reflexionen über den äußeren und inneren Abschied, in: BRD ade!, pp. 375 – 391. 149 Wolf-Dieter Narr, Ein provisorischer Bundesrepublikaner, in: BRD ade!, pp. 159 – 180.
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VI. Das Denken des neuen Deutschland
mißbilligen; Deutschland als neue Nation ist verwiesen auf seine Verantwortung für das künftige Europa“.150 Von Gewalt war in BRD ade! nur die Rede, wo an den Nationalsozialismus erinnert wurde. Ein anderer Sammelband der frühen neunziger Jahre151 sprach nicht nur die Schäden der noch nachwirkenden Teilung Deutschlands, sondern auch die Schattenseiten der rasanten gesellschaftlichen Veränderung an. Ulrich Beck sah die Individualisierung der sich wandelnden Gesellschaft Ostdeutschlands als das „Verschwinden der Solidarität“.152 Ingrid Kurz-Scherf153 – anschließend an Offes Formel der achtziger Jahre154 – sah die Arbeitsgesellschaft an ihrem Ende: Der Umbau der Arbeitsgesellschaft müsse statt Alimentierung von immer zahlreicheren Arbeitslosen nunmehr zur Lenkung des Arbeitsmarktes durch Anreizsysteme übergehen, wozu die Bundesanstalt für Arbeit (heute: Bundesagentur für Arbeit) herangezogen werden solle. Karl-Otto Hondrich schrieb über Das Fremde in uns. Soziologische Überlegungen zur Ausländerfeindlichkeit155: „Schauen Sie sich um: Ihre Studienkollegen kommen aus dem Iran und aus Uruguay, seit Jahren sind Sie mit einem Ingenieur aus Mali befreundet, Ihr Bruder hat eine Griechin geheiratet. Wunderbar. One of my best friends is from Africa, kann auch ich von mir sagen“.156 Das Problem, so Hondrich, habe zwei Seiten. Eine multikulturelle Gesellschaft solle durch rechtliche Gleichstellung geschaffen werden, was indessen die Fremdenfeindlichkeit begünstige: „Wer mit den Mitteln des Staatsbürgerrechts historisch gewachsene kollektive Zusammengehörigkeitsgefühle umbiegen will, muss zumindest mit starken, oft unausgesprochenen Widerständen rechnen. Nicht auszuschließen ist, daß die rechtliche Verwandlung von Ausländern in Deutsche die Fremdenfeindlichkeit, die sie bekämpfen soll, in anderer Form anfacht“.157 Zugleich müsse man Konflikte gewärtigen, auch kriminelle Delikte, die strafrechtlich nicht belanglos seien: „Auf die Dauer bilden die deutschen Griechen, deutschen Türken etc. ihre eigenen kollektiven Identitäten aus: nicht griechische oder türkische, auch nicht deutsche, sondern eben etwas dazwischen, was seinen eigenen kulturellen Bestand und seine Beharrungskraft hat. Reibungsflächen für Konflikte und Befremdungen bleiben –
150 Freddy Raphael, Brief an einen deutschen Freund, in: BRD ade!, pp. 359 – 363, cit. p. 362. Der Text war eine Übersetzung aus dem Französischen. Raphael lehrt in Straßburg. 151 Warnfried Dettling (Hrsg.), Perspektiven für Deutschland, München: Knaur 1994. 152 Ulrich Beck, Vom Verschwinden der Solidarität. Individualisierung der Gesellschaftt heißt Verschärfung sozialer Ungleichheit, in: Dettling (Hrsg.), Perspektiven für Deutschland, pp. 29 – 38. 153 Ingrid Kurz-Scherf, Arbeit für alle?! – Plädoyer für eine andere Arbeitsgesellschaft, in: Dettling (Hrsg.), Perspektiven für Deutschland, pp. 138 – 174. 154 Siehe Claus Offe, Arbeit als soziologische Schlüsselkategorie? In: Krise der Arbeitsgesellschaft? Verhandlungen des 21. Deutschen Soziologentages in Bamberg 1982, herausgegeben von Joachim Matthes, Frankfurt a. M.: Campus 1983, pp. 38 – 65. 155 Karl-Otto Hondrich, Das Fremde in uns. Soziologische Überlegungen zur Ausländerfeindlichkeit, in: Dettling (Hrsg.), Perspektiven für Deutschland, pp. 241 – 261. 156 Ibid., p. 248. 157 Ibid., p. 253.
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und damit auch die Feindseligkeiten“.158 Hondrich sah im Ost-West-Gefälle des wiedervereinigten Deutschland einen Grund der Ausländerfeindlichkeit: „Die Ostdeutschen, nach der Wiedervereinigung selbst eine Minderheit von 17 Millionen benachteiligter Quasi-Ausländer, sahen sich mit den Zuwanderern aus anderen Ländern … in einem Interessenkonflikt, in einer Konkurrenz um knappe Sozialleistungen. Dazu kam das Gefühl, daß den Westdeutschen der Respekt ihres Asylrechts und die Idee einer multikulturellen Gesellschaft oft wichtiger zu sein schien als die Gleichstellung der benachteiligten Schwestern und Brüder im Osten. Das gab der Feindseligkeit gegen Ausländer in Deutschland in den letzten Jahren eine ganz besondere, einmalige Pointe“.159 Hondrich, der keine soziologische Literatur heranzog, griff unwillkürlich auf Parsons aus den sechziger Jahren zurück.160 Die Pluralisierung (pluralization) und die Egalisierung zwischen den ethnisch verschiedenen Bevölkerungsgruppen der USA, so Parsons, verkörperten den Modernisierungsschub, der dort die Gleichstellung der Schwarzen möglich machte – als Amerikanern, die im eigenen Land jahrhundertelang diskriminiert worden waren und nun durch rechtliche und wirtschaftliche Gleichstellung erstmals eine Zukunftsperspektive hatten.161 Hondrich sah aber nicht, dass er in seinen aphoristischen Beobachtungen diskutierte, was in den USA der sechziger und siebziger Jahre bereits stattgefunden hatte und dort seinerzeit soziologisch analysiert wurde. Die erhöhte Aggressionsbereitschaft war ein gesamtgesellschaftliches Phänomen, was gelegentlich bewusst und analytisch deutlich wurde. Auf der Jahrestagung 1994 der Arbeitsgemeinschaft Sozialwissenschaftlicher Institute (ASI) stellte Jens Alber die Frage, ob die Ausländerfeindlichkeit, wie sie als die Ursache der Gewaltdelikte mit fremdenfeindlichem Hintergrund galt, durch den Zustrom der Aussiedler und Asylsuchenden ausgelöst (worden) sei.162 Alber: „Wie wenig eindeutig die Beziehung zwischen Zuwanderung und Ausbrüchen rechtsextremistischer bzw. ausländerfeindlicher Gewalt ist, macht … eine Zeitreihenanalyse der deutschen Daten seit den achtziger Jahren deutlich. Zwischen 1983 und 1990 hat sich die Zahl der Asylbewerber in der alten Bundesrepublik verzehnfacht, während sich die Zahl rechtsextremistischer Gewaltakte nur leicht von 67 auf 128 pro Jahr erhöhte. …. Erst im Gefolge der deutschen Einigung kam es 1991 zu einer plötzlichen Explosion der Gewalt, in deren Rahmen die Zahl die Gewaltdelikte binnen 158 Ibid., p. 261. 159 Ibid., p. 260. 160 Zu Parsonsʼ Überlegungen der sechziger Jahre zur Integration der Farbigen in den USA und insgesamt dem dabei offensichtlichen Modernisierungsschub, hin zur Zivilgesellschaft (Gesellschaftsgemeinschaft), siehe: Gerhardt, Talcott Parsons – An Intellectual Biography, New York: Cambridge University Press 2002, Chapter IV: A New Agenda for Citizenship: Parsonsʼs Theory and American Society in the 1960s, dort insbesondere pp. 231 – 264. 161 Siehe: Talcott Parsons, Full Citizenship for the Negro American? A Sociological Problem, in: The Negro American, edited and with an introduction by Talcott Parsons and Kenneth B. Clark, Boston: Houghton Mifflin 1966, pp. 709 – 754. 162 Jens Alber, Zur Erklärung von Ausländerfeindlichkeit in Deutschland, in: Ekkehard Mochmann und Uta Gerhardt (Hrsg.), Gewalt in Deutschland. Soziale Befunde und Deutungslinien, München: Oldenbourg 1995, pp. 39 – 77.
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eines Jahres von 270 auf 1.483 hochschnellte, während die Zahl der Asylbewerber lediglich um 33% stieg“.163 Seine These: Eine „Krise des Nationalbewußtseins im Kontext der deutschen Einigung“164 – verstärkt durch eine „wirtschaftliche Rezession und damit auch … eine Finanzierungskrise des Sozialstaats“ – sei die Erklärung für die Gewaltakte. Dies bedeute zweierlei: Erstens habe sich die Bundesrepublik als eine Staatsbürgernation zur Zeit des Kalten Krieges gegen die DDR abgegrenzt, aber nun stehe „der Gedanke der Kulturnation“165 im Vordergrund, was zur Verunsicherung führe, jedenfalls zunächst der offensichtlichen „Abgrenzung gegenüber Ausländern“. Zweitens brauche die Gewalt stets „legitimatorische Brücken“166, also Argumente wie jene „Neutralisierungsstrategien“167, wie sie üblicherweise in der Schutzbehauptung steckten, die Gewalt diene zur Bestrafung des Opfers und sei gerecht: In Deutschland, so Alber, suche man anlässlich der „Ethnisierung der Nationalgefühle“168 im Übergang zwischen Ost und West nun unwillkürlich „Anknüpfungspunkte für solche legitimatorischen Brücken“ – und dazu diene eben die Ausländerfeindlichkeit. Die Soziologie der Gewalt machte sich immer wieder viele Gedanken über die Sozialmerkmale der Täter.169 Die Gewalt als Phänomen des gesamtgesellschaftlichen Geschehens170 war indessen häufiger das Thema außerhalb der Soziologie und wurde in anderen Fachdisziplinen näher untersucht. In der politischen Wissenschaft sah Max Kaase die gesamtgesellschaftliche Problematik als ein zentrales Thema an.171 Er analysierte die Literatur (soweit vorhanden) zu Gewaltbereitschaft und Gewalthandeln, und er konstatierte: Ausländerfeindlichkeit war ein gefährlicher Nährboden für Gewalt, wenn „niedrige Bildung“172 ein Potential schaffe, das durch „Nationalismus“ verstärkt würde wie allemal bei der politischen Rechten der frühen neunziger Jahre: „Insofern bedeutet das
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Ibid., pp. 49 – 50. Ibid., p. 52; dort auch die nächste Zitatstelle. Ibid., p. 56; dort auch die nächste Zitatstelle. Ibid., p. 57; dort auch die nächste Zitatstelle. Alber bezog sich auf den soziologiegeschichtlich bahnbrechenden Essay: Gerald M. Sykes und David Matza, Techniques of Neutralization: A Theory of Delinquency, American Sociological Review, vol. 22, 1957, pp. 664 – 670. Alber, Zur Erklärung von Ausländerfeindlichkeit in Deutschland, p. 58; dort auch die nächste Zitatstelle. Dazu etwa: Herbert Willems, Stefanie Würtz, Roland Eckert, Fremdenfeindliche Gewalt. Eine Analyse von Täterstrukturen und Eskalationsprozessen, Bonn: Forschungsbericht im Auftrag des Bundesministeriums für Frauen und Jugend 1993 und vor allem die zahlreichen Arbeiten Wilhelm Heitmeyers, zuletzt für die gesamte Zeitperiode Wilhelm Heitmeyer, Monika Schröttle (Hrsg.), Gewalt. Beschreibungen, Analysen, Prävention, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2006 (Schriftenreihe Band 563). Eine nicht veröffentlichte Expertise wurde durch Heinz-Herbert Noll (ZUMA) im Jahr 1995 im Auftrag der KSPW erstellt. Die Befunde wurden 1996 im zweiten Berichtsband der KSPW erwähnt. Siehe dazu unten Teil III. Max Kaase, Politische Gewalt – Gesellschaftliche Bedingungen und politische Konsequenzen, in: Ekkehard Mochmann und Uta Gerhardt (Hrsg.), Gewalt in Deutschland, pp. 17 – 37. Ibid., p. 34; dort auch die nächste Zitatstelle.
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rapide Anschwellen rechter Gewalt nach der deutschen Vereinigung in der Tat eine neue Qualität politischer Gewalt in der Bundesrepublik“.173 In sechs Großstädten des ehemaligen Ostblocks174 – darunter Ostberlin – wurden die Erfahrung und die Wahrnehmung von Kriminalität vor und nach der „Wende“ kriminologisch untersucht.175 Die Befunde176: Die Delikte hatten sich von 1988/1989 bis 1992/1993 verdoppelt (21,8% vor der Wende, 48,1% nach der Wende).177 Am stärksten waren Autodiebstahl, Autosachbeschädigung und Bedrohung gestiegen. Eine vermehrte Kriminalitätsfurcht zeigte sich als Angst abends im Dunkeln auf der Straße178 oder Meiden öffentlicher Verkehrsmittel179 – immerhin 20% der Befragten wappneten sich mit Tränengas, einem Stock, einem Messer oder gar einer Schusswaffe. Die Studie erwies, dass das Vertrauen der Bevölkerung in die Polizei in Ostberlin zwischen 1989 und 1992 von 48,1% auf 36,3% sank, während die Meinung, die Polizei „kümmere sich nicht in angemessener Weise um die öffentliche Ordnung“, von 46,4% auf 59,8% zunahm.180 Die Befragten hatten ein hohes Strafbedürfnis für Delikte wie „Drogenverkauf auf der Straße“ oder „,Jagdʻ auf Ausländer“ und fanden doch für sich selbst so gut wie ausgeschlossen, jemals ein Auto aufzubrechen, Drogen zu konsumieren oder zu verkaufen, Ausländer zu schlagen oder der Straßenprostitution nachzugehen.181 Das hohe Niveau der Aggressivität, das diese Befunde anzeigten, war jedenfalls kein psychologisches Phänomen. Viele Befragte wurden Opfer von Kriminalität, aber sie konnten sich selbst nicht als Täter für Delikte, die grassierten, vorstellen. Sie lebten in der Angst vor Übergriffen und schützten sich dagegen etwa durch Meiden öffentlicher Verkehrsmittel. Das Vertrauen in die Polizei, die gesellschaftliche Institution, die die öffentliche Ordnung sicherte, und die Justiz, die das Recht 173 Ibid,. p. 30. 174 Die Untersuchung: Howard J. DeNike, Uwe Ewald, Christopher J. Nowlin (eds.), Victimization Perception after the Breakdown of State Socialism. First Findings of a Multi-City Pilotstudy 1993, Berlin: Graue Reihe der KSPW bei der GSFP (Gesellschaft für sozialwissenschaftliche Forschung und Publizistik) 1993. Untersucht wurden Ostberlin, Bukarest, Budapest, Prag, Sofia, St. Petersburg und Warschau. 175 Günter Gutsche und Carmen Hennig, Viktimisierung und Umgang mit Kriminalität in BerlinOst, in: DeNike, Ewald und Nowlin (eds.), Victimization Perception after the Breakdown of State Socialism, pp. 41 – 57. 176 Das Besondere der kriminologischen Studie, die im Rahmen der KSPW durchgeführt wurde, war, dass sie „früh“ lag – also vor der Aufnahme des Themenfeldes „Öffentliche Sicherheit und Kriminalitätsbedrohung“ in den Wohlfahrtssurvey 1993. Allerdings war seit 1978 in den Wohlfahrtssurveys nach der Zufriedenheit mit der öffentlichen Sicherheit gefragt worden – wobei die Einstellungen zwischen 1988 und 1993 sich dramatisch veränderten. Siehe dazu: Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Datenreport 1994. Zahlen und Fakten über die Bundesrepublik Deutschland, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 1994 (Schriftenreihe Band 325), p. 525. Zu den Wohlfahrtssurveys siehe unten. 177 Gutsche und Hennig, Viktimisierung und Umgang mit Kriminalität in Berlin-Ost, p. 43; dort auch die nächste Belegstelle. 178 Ibid., p. 46. 179 Ibid., p. 48. 180 Ibid., p. 55; dort auch die nächste Belegstelle. 181 Ibid., p. 52.
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wahrte, war (noch) gering. Es herrschte ein Zustand der relativen Anomie – allemal in Ostberlin, der ehemaligen Hauptstadt der (ehemaligen) DDR. Erhöhte Aggressivität aus gesellschaftlicher Anomie zeigte sich im öffentlichen Protest, so läßt sich vermuten. Im Essay Protestverhalten in Transformationsgesellschaften berichtete die Politologin Christiane Lemke über ihre Untersuchung von Massen- oder Gruppenprotesten in den ehemaligen Ostblockländern nach dem Wechsel der Regierungssysteme.182 Die Protestereignis-Analyse für Polen, Slowakei, Ungarn und Ostdeutschland zeigte erstens: Die Anzahl der Proteste in der ehemaligen DDR – trotz der Vereinigung mit Westdeutschland – war keineswegs geringer als in anderen ehemaligen Ostblockländern: „Bemerkenswert ist darüber hinaus, daß die Protestintensität unter offenen demokratischen Verhältnissen, d. h. nach 1990, größer ist als unter dem repressiven DDR-Regime im Jahr 1989.“183 Zweitens beteiligten sich die politischen Parteien und andere Organisationen an den Protesten: „[D]ie Proteste [wurden] in der überwiegenden Zahl nicht ‚spontanʻ durchgeführt, sondern von Gruppen vorbereitet und getragen“.184 Drittens war dies kein ‚importiertesʻ Stück Westdeutschland: „Die Gruppierungen haben häufig ihre Wurzeln im lokalen Milieu der ostdeutschen Gesellschaft und ihre Aktivisten kommen in der Regel ebenfalls aus diesem Umfeld, so daß die Protestaktivität im Kontext der neuen Bundesrepublik zugleich einer Politisierung entlang der neuen politisch-kulturellen Neuorientierung der Ostdeutschen entspricht. Insofern transportieren diese Proteste auch ein Stück ostdeutscher Identitäten“.185 Viertens beteiligten sich die Nachfolgepartei der SED – die PDS – und (anders als in anderen ehemaligen Ostblockländern) rechtsradikale Gruppierungen überproportional häufig: „Als eine deutsche Besonderheit erweist sich bei den politisch spezifischen Forderungen darüber hinaus die Polarisierung von Protesten um den Rechtsradikalismus, die Ausländerpolitik und die Asylrechtsfrage“.186 „Der drastische Anstieg von gewalttätigen Protestaktionen nach 1990, der mit dem Problem des Rechtsradikalismus verbunden ist“, so Lemke zusammenfassend, „[verweist] auf die traditionelle Schwäche zivilgesellschaftlicher Strukturen. Gewaltproteste stellen im ostdeutschen Fall eine Herausforderung für die Entwicklung einer demokratiegestützten zivilen Bürgerkultur dar“.187 Drei bzw. vier Jahre nach dem Zusammenbruch Ostdeutschlands – so belegten Wolfgang Zapf und Roland Habich mit Befunden des Wohlfahrtssurvey 1993 – war jedenfalls ein Ende der Übergangsperiode nicht absehbar.188 Noch immer fanden 50 Prozent der Westdeutschen die Konflikte mit den Ostdeutschen „sehr stark“ oder „stark“, und 60 Prozent der Ostdeutschen fanden die Konflikte mit den Westdeut182 Christiane Lemke, Protestverhalten in Transformationsgesellschaften, Politische Vierteljahresschrift, 38. Jgg., 1997, pp. 50 – 78. 183 Ibid., p. 67. 184 Ibid., p. 69. 185 Ibid., p. 70. 186 Ibid., p. 73. 187 Ibid., p. 77. 188 Wolfgang Zapf/Roland Habich, Die Wohlfahrtsentwicklung im vereinten Deutschland, in: Warnfried Dettling (Hrsg.), Perspektiven für Deutschland, pp. 175 – 204.
4. Die Berichte der KSPW, das SOEP und die Wohlfahrtssurveys
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schen „sehr stark“ oder „stark“.189 Noch immer fanden 56 Prozent in Westdeutschland, der Schutz vor Kriminalität sei „sehr wichtig“, und 68 Prozent der Ostdeutschen dachten dasselbe.190 Nach wie vor sorgten sich 54 Prozent der Westdeutschen und 43 Prozent der Ostdeutschen um den Zustrom von Asylbewerbern, und 55 Prozent im Westen und 72 Prozent im Osten sahen die Entwicklung der Kriminalität mit Sorge. Hinzu kam – angesichts der teilweise katastrophalen Arbeitsmarktlage – die Sorge um den Arbeitsplatz bzw. die Angst vor Arbeitslosigkeit bei 56 Prozent der Westdeutschen und 80 Prozent der Ostdeutschen.191 Zusammenfassend: Befürchtungen mancher Autoren, der Systemwechsel bzw. die Transformation stärke langfristig einen aggressiven Nationalismus, waren zumindest vorschnell. In Deutschland um 1990 herrschte ein Gesellschaftszustand der Anomie aus dem Verlust der nationalen Identifikation(en). Gewalt gegen Ausländer war in den ersten Jahren der Wiedervereinigung endemisch. Langfristig entstand Rechtsextremismus, der häufig in den neuen und gelegentlich den „alten“ Bundesländern eine politische Bedeutung hatte und hat. 4. DIE BERICHTE DER KSPW, DAS SOEP UND DIE WOHLFAHRTSSURVEYS Der Wissenschaftsrat, dem Friedhelm Neidhardt angehörte, regte im Jahr 1990 an, zur Erforschung der Transformation die Kommission für die Erforschung des sozialen und politischen Wandels in den neuen Bundesländern e.V. (KSPW) zu bilden. Als die KSPW als gemeinnütziger Verein durch 13 Wissenschaftler(innen) aus Ost und West am 7. Oktober 1991 gegründet wurde, stand fest, dass das Bundesministerium für Forschung und Technologie (BMFT) und das Bundesministerium für Arbeit (BMA) eine großzügige Finanzierung auf fünf Jahre bereitstellten. Die Satzung der KSPW sah unter anderem vor, „über die Analyse der verschiedenen politischen und sozialen Konsequenzen des Transformationsprozesses in geeigneter Form zu berichten“.192 Die KSPW war interdisziplinär aus Fachvertretern der Soziologie, Psychologie, Wirtschaftswissenschaften, Sozialpolitik und des Sozialrechts zusammengesetzt. Bis 1996 arbeitete die Kommission auf Hochtouren in drei Phasen. Bis Ende 1992 entstanden insgesamt 150 Forschungsberichte über kleinere empirische Vorhaben (so genannte „Kurzstudien“) vorwiegend an außeruniversitären Einrich189 190 191 192
Ibid., p. 204. Ibid., p. 203; dort auch die nächsten zwei Belegstellen. Die Arbeitslosigkeit in der ehemaligen DDR betrug zeitweise lokal bis zu 70 Prozent. Der Vorsitzende des Kuratoriums (Karl Martin Bolte) und der Vorsitzende des Vorstandes (Hans Bertram) sowie ab 1994 auch der Stellvertretende Vorsitzende (Stephan Leibfried) waren Soziologen. Unter den (im Jahr 1994) 43 Mitgliedern der Mitgliederversammlung waren die folgenden Soziologen (außer Bertram und Leibfried): Wolfgang Glatzer, Walter R. Heinz, Stefan Hradil, Karin Lohr, Burkart Lutz, Artur Meier, Bernhard Nauck, Hildegard Maria Nikkel, Thomas Olk, Heinz Sahner und Johannes Weiß. Zum Kuratorium – dem beratenden und kontrollierenden Organ der KSPW – gehörte (außer Bolte) auch M. Rainer Lepsius.
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tungen der „neuen“ Bundesländer. In der „Forschungs- und Förderphase 1993 – 1994“ betreute die KSPW weitere 103 größere Projekte und führte eine eigene „Mehrthemenumfrage“ mit einem Stichprobenumfang von 2125 Personen sowie regional 600 Fällen in sieben Stadt- und Landkreisen durch. In der Schlussphase 1995 – 1996 wurden sechs große Endberichte zu umfassenden Themen fertig gestellt, und außerdem wurden 36 Monographien und Sammelwerke zu spezielleren Themen entweder den Gesamtdarstellungen ergänzend hinzugefügt oder als weitere Veröffentlichungen vorgelegt.193 Die sechs Berichte waren unterschiedlich auf soziologische Fragestellungen zugeschnitten. Den Bericht 1 – Arbeit, Arbeitsmarkt und Betriebe – betreute federführend der Industriesoziologe Burkart Lutz.194 Untersucht wurden sowohl der Zusammenbruch als auch der Neuaufbau der Beschäftigungsstrukturen in Ostdeutschland. Der Bericht 2 – Ungleichheit und Sozialpolitik – behandelte in seinen soziologischen Teilen die soziale Schichtung speziell anhand der ausdifferenzierten bzw. sich differenzierenden Lebenslagen und Milieus.195 Die Berichte 1 und 2 waren schon im ursprünglichen Programmentwurf der Soziologie zugedacht. Im Laufe der KSPW-Arbeit, wie Bertram später berichtete196, wurde ein weiteres Themenfeld sinnvoll, wo auch Soziologen mitwirkten. Bericht 5 – Städte und Regionen – behandelte (unter anderem) die Familien- und Haushaltsstrukturen (Bertram), das Wohnungswesen (Hartmut Häußermann), die Innenstädte (Jürgen Friedrichs) und außerdem „Städte im Umbruch“ (Heinz Sahner).197 Ursprünglich sollte das Recht durch die Berichte 1 und 2 mit abgedeckt werden, aber es zeigte sich, dass darin ein eigener großer Bereich lag. Bericht 6 – Die Umwandlung der Arbeits- und Sozialordnung198 – deckte wegen der kurzen Zeit (ab 1994) und der aufwendigen Auf193 Siehe die drei Übersichten, Die Kurzstudien der KSPW: 1. Forschungs- und Förderphase 1992, Die Projekte der KSPW: 2. Forschungs- und Förderphase 1993 – 1994 sowie Die Berichte der KSPW: 3. Forschungs- und Förderphase 1994 – 1996, herausgegeben durch den Geschäftsführer der Kommission für die Erforschung des sozialen und politischen Wandels in den neuen Bundesländern e.V., Halle: Eigenverlag, 2. bzw. 5. veränderte Auflage, Dezember 1995. 194 Burkart Lutz, Hildegard M. Nickel, Rudi Schmidt, Arndt Sorge (Hrsg.), Arbeit, Arbeitsmarkt und Betriebe. Berichte der Kommission für die Erforschung des sozialen und politischen Wandels in den neuen Bundesländern e.V. (KSPW), Bericht 1, Opladen: Leske und Budrich 1996. 195 Richard Hauser, Wolfgang Glatzer, Stefan Hradil, Gerhard Kleinhenz, Thomas Olk, Eckart Pankoke, Ungleichheit und Sozialpolitik. Unter Mitarbeit von Susanne von Below, Wolfgang Knoke, Raj Kollmorgen und Joachim Ritter. Berichte der Kommission für die Erforschung des sozialen und politischen Wandels in den neuen Bundesländern e.V. (KSPW), Bericht 2, Opladen: Leske und Budrich 1996. 196 Hans Bertram, Transformationsprozesse. Die Kommission zur Erforschung des sozialen und politischen Wandels in den neuen Bundesländern, Soziologie – Mitteilungsblatt der Deutschen Gesellschaft für Soziologie 2/97, pp. 10 – 22. 197 Wendelin Strubelt, Joachim Genosko, Hans Bertram, Jürgen Friedrichs, Paul Gans, Hartmut Häußermann, Ulfert Herlyn, Heinz Sahner, Städte und Regionen. Unter Mitarbeit von Annette Becker, Annette Harth, Andreas Kapphan, Thomas Ott und Uta Schäfer. Berichte der Kommission für die Erforschung des sozialen und politischen Wandels in den neuen Bundesländern e. V. (KSPW), Bericht 5, Opladen: Leske und Budrich 1996. 198 Bernd von Maydell, Winfried Boecken, Wolfgang Heine, Dirk Neumann, Jürgen Pawelzig, Wilfried Schmähl, Rolf Wank, Die Umwandlung der Arbeits- und Sozialordnung. Berichte der
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gabe zwar nur den Kernbereich des Arbeits- und Sozialrechts ab, nahm sich jedoch vor, wenigstens paradigmatisch den Übergang zur Rechtsstaatlichkeit zu behandeln. Die Berichte 3 und 4 – Politisches System199 und Individuelle Entwicklung, Bildung und Berufsverläufe200 – hatten keine soziologischen Fragestellungen, mit Ausnahme des Kapitels „Berufsverläufe im Transformationsprozess“ (Walter Heinz) im Bericht 4. Die Berichte 1 und 2 – wegen ihrer vorwiegend soziologischen Themenstellung und weil ihre Berichterstatter zumeist Soziologen waren – verdienen näheres Hinsehen. Der Bericht 1 – Arbeit, Arbeitsmarkt und Betriebe – sah sich als ein Korrektiv der bisherigen Transformationsforschung201 (gewesen). Ihr Rahmen seien die „Theorien, die seit langem die Diskussionen in den westlichen Industrieländern bestimmten, vor allem [die] westliche Modernisierungstheorie und [die] Theorie der postindustriellen oder Dienstleistungsgesellschaft“.202 Dies, so Lutz, bedeute: „Der politische und gesellschaftliche Umbruch in der ehemaligen DDR wurde … als beschleunigte, nachholende Modernisierung definiert“. Von dieser „verkürzten und vereinseitigten Sicht des Transformationsprozesses“ wolle sich die Berichterstattung über Arbeit, Arbeitsmarkt und Betriebe nun lösen. „Eine deutliche Revision und Erweiterung der bisher dominanten Anpassungsthese“ sei notwendig.203 Drei Hypothesen wiesen den Weg: Erstens wären die DDR-Strukturen und Prägungen weithin als „biographische und historische Kontinuität“204 noch wirksam; zweitens führe die „marktwirtschaftliche ‚Sanierungʻ der DDR-Wirtschaft“ möglicherweise zu „dauerhafter industrieller Verödung durch beschleunigte Tertiarisierung“205; und
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Kommission für die Erforschung des sozialen und politischen Wandels in den neuen Bundesländern e.V. (KSPW), Bericht 6, Opladen: Leske und Budrich 1996. Max Kaase, Andreas Eisen, Oscar W. Gabriel, Oskar Niedermayer, Helmut Wollmann, Politisches System, Berichte der Kommission für die Erforschung des sozialen und politischen Wandels in den neuen Bundesländern e.V. (KSPW), Bericht 3, Opladen: Leske und Budrich 1996. Stefan E. Hormuth, Walter R. Heinz, Hans-Joachim Kornadt, Hubert Sydow, Gisela Trommsdorff, Individuelle Entwicklung, Bildung und Berufsverläufe. Unter Mitarbeit von P. Chakkarath, P. Heller, J. Kunz, J. K. Triebe, U. Schlegel, C. Wagner, M. Wittstock. Berichte der Kommission für die Erforschung des sozialen und politischen Wandels in den neuen Bundesländern e.V. (KSPW), Bericht 4, Opladen: Leske und Budrich 1996. Burkart Lutz, Einleitung, in: Arbeit, Arbeitsmarkt und Betriebe, pp. 1 – 16, stellte „im Namen der Autoren“ (p. 16) den Standpunkt der Berichtsgruppe vor und begann mit dem Abschnitt „Schwächen und Verkürzungen der frühen Transformationsforschung“ (pp. 1 – 3) – wobei Autoren dieser „frühen Transformationsforschung“ nicht namentlich erwähnt wurden. Ibid., p. 2; dort auch die nächsten zwei Zitatstellen. Ibid., p. 3 Ibid., p. 5. Ibid., pp. 5 – 7. Dazu: „Die neu gegründeten und als Ausgründungen bzw. durch Schrumpfung aus früheren Kombinatsbetrieben entstandenen Klein- und Mittelbetriebe, die heute den größten Teil der Arbeitsplätze im produzierenden Gewerbe stellen und deren Bestandsbedingungen und Entwicklungspotentiale im 9. Kapitel betrachtet werden, können nur sehr beschränkt die in sie gesetzten Hoffnungen erfüllen und Träger einer neuen ostdeutschen Wachstumsdynamik sein“. (p. 7)
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drittens seien „zwischen dem 2. Halbjahr 1990 und der Mitte des Jahres 1992“ die Weichen für Ostdeutschland längst gestellt, weshalb zum Berichtszeitpunkt 1996 kaum noch Aussicht auf rasche Besserung der Lage bestehe.206 Teil A schilderte das Beschäftigungssystem der (ehemaligen) DDR207 unter dem Gesichtspunkt der seit dem Beginn der achtziger Jahre „zunehmenden Blockierungen“208, also „zunehmenden Dysfunktionalitäten im Beschäftigungssystem“.209 Kapitel 2 schilderte den Zusammenbruch der Beschäftigungsstrukturen.210 Die Treuhandanstalt – noch 1990 in der DDR gegründet und durch Artikel 25 des Einigungsvertrages in die Bundesrepublik übernommen als Institution der Privatisierung, Sanierung oder notfalls Liquidation der volkseigenen DDR-Betriebe – habe eine ausgesprochen negative Rolle bei der Überleitung der Wirtschaft gespielt.211 Kapitel 3212 zeichnete die Beschäftigtenentwicklung 1989/1990 bis 1994 als eine „,Verkleinbetrieblichungʻ des produzierenden Gewerbes“213 angesichts der „Schwäche berufsfachlicher Arbeitsmärkte“.214 Die Klein- und Mittelbetriebe hätten keine dauerhafte Arbeitsplatzgarantie übernehmen können, es gebe infolgedessen (überwiegend) „Tertiarisierung“215 der Arbeitsmärkte wegen der hohen Beschäftigtenzahl in den Verwaltungen und neu gegründeten intermediären Organisationen. Alles, so Lutz abschließend, lege nahe, die „Arbeitslosigkeit als dauerhaftes
206 Ibid., pp. 7 – 9. Dazu: „Dies heißt auch, daß die seit dem Winter 1990/91 mit sehr großem Aufwand gestarteten Maßnahmen sogenannter aktiver Arbeitsmarktpolitik – wie Kurzarbeit, vor allem ‚Kurzarbeit Nullʻ, Mega-ABM und Qualifizierung verschiedener Art – oftmals die Chancen zum Wiedereintritt in Beschäftigung nicht nur nicht erhöht, sondern stark verschlechtert haben, weil inzwischen unwiederbringliche Zeit verloren ging. Was in der Anpassungsperspektive als wesentliche Hilfe zur Überbrückung der Umbruchszeit und bis zur Wiederherstellung normaler Arbeitsmarktverhältnisse gedacht war, erwies sich nicht selten als ausgesprochene Falle“. (p. 9) 207 Holle Grünert, Das Beschäftigungssystem der DDR, in: Arbeit, Arbeitsmarkt und Betriebe, pp. 19 – 68. 208 Ibid., pp. 61 ff. 209 Ibid., pp. 51 ff. 210 Burkart Lutz, Holle Grünert, Der Zerfall der Beschäftigungsstruktur der DDR 1989 – 1993, in: Arbeit, Arbeitsmarkt und Betrieb, pp. 69 – 120. 211 Ibid., pp. 88 – 93 gab einen Aufriss über drei Phasen der Tätigkeit der Treuhandanstalt – Mitte 1990 bis Mitte 1991 („unbedingter Vorrang der Privatisierung“), Mitte 1991 bis Ende 1992 („größere Bemühungen zur Sanierung“) sowie „seit Ende 1992: Der Erhalt ‚industrieller Kerneʻ“. Keine dieser Phasen oder insgesamt die Tätigkeit der Treuhandanstalt sei positiv zu sehen. Das Kriterium dieser negativen Bewertung war die Zahl der Beschäftigten, wie sie einer Befragung des SÖSTRA-Instituts von Treuhand- und Ex-Treuhandfirmen entnommen wurde. Zur Erläuterung: Das (private) SÖSTRA-Institut (Sozio-ökonomische Strukturanalysen e.V.) in Berlin führte Projekte durch, die sich aus dem Rahmenvertrag ergaben, den die KSPW mit dem Land Sachsen-Anhalt abgeschlossen hatte. (Halle a. d. Saale, wo die Geschäftsstelle der KSPW eingerichtet wurde, liegt in Sachsen-Anhalt.) 212 Burkart Lutz, Die mühsame Herausbildung neuer Beschäftigungsstrukturen, in: Arbeit, Arbeitsmarkt und Betriebe, pp. 121 – 159. 213 Ibid., pp. 125 ff. 214 Ibid., pp. 151 ff. 215 Ibid., pp. 127 ff.
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Arbeitsmarktsegment“216 anzusehen. Kapitel 4217 analysierte die Berufsverläufe und Erwerbsschicksale vor diesem Hintergrund und beklagte, vor allem die Frauen würden auf dem neuen Arbeitsmarkt benachteiligt. Die Teile B und C vertieften diese Analysen. Der kritische Impetus blieb erkenntnisleitend. Kapitel 5218 analysierte das Management in Ostdeutschland im Gefolge der Umstellung der Wirtschaft. Das Fazit war, eine Orientierung auf Märkte sei in der ostdeutschen Industrie misslungen. Denn das Management, das überwiegend den mittleren Ebenen der früheren DDR-Kombinate entstamme, achte allzu sehr auf technische Ausstattung und beachte die Prioritäten des Vertriebs zu wenig.219 So sei eine „die sozialistischen Modernisierungsversuche zurücknehmende Modernisierung“220 entstanden, eine „konservativ-zurücknehmende“ Modernisierung, nämlich „eine Modernisierung, die die etablierten Strukturen der alten Bundesländer weitgehend übertrug und nicht fortschreitend veränderte“. Für Markus Pohlmann und Rudi Schmidt stand fest, auch die DDR sei eine moderne Wirtschaft gewesen. Man könne – mit Blick auf Max Weber – sagen: „Auch der Sozialismus, den Max Weber zurecht als Abkömmling des Kapitalismus betrachtete, setzte im Namen einer materialen Rationalität auf die Steigerung der formalen Rationalität – gegen den Irrationalismus des Marktes, die Anarchie der Produktion und die Folgen der Verwertungskrisen. Gerade im Falle der DDR war es der als formal rationaler Fortschritt gedachte Versuch der Modernisierung einer modernen Gesellschaft“. Zwar sei richtig: „Dieser Versuch schuf jedoch in den Augen vieler mehr formale und materiale Irrationalitäten als er beseitigte“. Dennoch hätten die DDRManager, wenn sie die Marktorientierung der Wirtschaft à la Westdeutschland nicht ausreichend beachteten, rational gehandelt, als sie vor allem ihrer Technikorientie216 Ibid., pp. 158 f. Das Problem wurde zudem im Abschnitt „Weiterhin sehr hohe Abhängigkeit der ostdeutschen Beschäftigung von Transferleistungen aus dem Westen“, pp. 130 ff., angesprochen. 217 Sabine Schenk, Berufsverläufe und Erwerbsschicksale, in: Arbeit, Arbeitsmarkt und Betriebe, pp. 161 – 187. 218 Markus Pohlmann und Rudi Schmidt, Management in Ostdeutschland und die Gestaltung des wirtschaftlichen und sozialen Wandels, in: Arbeit, Arbeitsmarkt und Betriebe, pp. 191 – 226. Interessanterweise befassten Pohlmann und Schmidt sich nicht mit der Übernahme zahlreicher Managementpositionen durch Westdeutsche, was dem Thema eine andere Wendung gegeben hätte, sondern analysierten die Mängel, die wegen der nachträglich noch wirksamen Prägung der ostdeutschen Manager durch Strukturen der Ex-DDR zu beklagen seien. 219 Pohlmann und Schmidt gingen nicht auf die zahlreichen Fälle ein, wo erfahrene Manager aus Westdeutschland, die bereits im Ruhestand (gewesen) waren, sich bereit erklärten, als Aufsichtsratsvorsitzende von umgewandelten Ex-DDR-Betrieben (Firmen im Verantwortungsbereich der Treuhandanstalt) nun deren Manager mit Know-how der Unternehmensführung – auch anlässlich der Entscheidung für eine ertragssichernde Marktstrategie – zu unterstützen. Siehe etwa: Joachim Schwalbach unter Mitarbeit von Sven-E. Gless, Begleitung sanierungsfähiger Unternehmen auf dem Weg zur Privatisierung, in: Treuhandanstalt. Das Unmögliche wagen. Forschungsberichte herausgegeben von Wolfram Fischer, Herbert Hax und Hans Karl Schneider, Berlin: Akademie Verlag 1993, pp. 177 – 210. 220 Pohlmann und Schmidt, Management in Ostdeutschland und die Gestaltung des wirtschaftlichen und sozialen Wandels, p. 225; dort auch die nächsten vier Zitatstellen. Hervorhebung im Original.
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rung folgten, auch wenn dadurch nunmehr der „Teufelskreis“221 sich schließe, „daß die konservative Modernisierung durch die Freisetzung der technologischen Vernunft im Betrieb mit kriseninduzierten Rückschritten in der sozialen Rationalisierung“ einhergehe, „der ‚Freisetzungʻ der Arbeitskräfte in einer überbordenden Arbeitslosigkeit“. Die nächsten Kapitel handelten über die Restrukturierung der Produktion222 und die industriellen Beziehungen in Ostdeutschland223: Joachim Bergmann sprach von einem „Deindustrialisierungsprozeß“. Die beiden Beiträge zum Teil C (neue Beschäftigungsfelder) monierten die „Tertiarisierung der Arbeitsmärkte“224 und kritisierten die geringen „Entwicklungspotentiale von Kleinbetrieben“.225 Mit anderen Worten: Arbeit, Arbeitsmarkt und Betriebe, der Bericht 1 der KSPW, zeichnete ein düsteres Bild. Die Beschäftigungssituation und die Arbeitsmarktentwicklung bezeugten die Probleme der „konservativen Modernisierung“. Man sehe, so der Bericht 1, die Mängel der kapitalistischen Wirtschaft an ihrem Oktroi in Ostdeutschland. Der Bericht 2 – Ungleichheit und Sozialpolitik – war in seinen soziologischen Teilen226 ein Plädoyer für die soziale Gerechtigkeit, das erwünschte Organisationsprinzip der modernen Gesellschaft. Die Dimensionen der Ungleichheit, die notfalls durch Sozialpolitik zu beeinflussen seien, wurden in einem Panorama der Ressourcen und Lebensbedingungen aufgezählt: „So läßt sich mit Geld, das man in modernen Gesellschaften meist in Form von Einkommen erlangt bzw. in Form von Vermögen besitzt, das Ziel des Wohlstands erreichen. Ein hoher Bildungsgrad und eine geachtete Berufsposition tragen dazu bei, dem Lebensziel des persönlichen Ansehens näherzukommen. Entsprechende Arbeits-, Umwelt- und Wohnbedingungen können dazu verhelfen, in Gesundheit zu leben. Ein sicherer Arbeitsplatz, Vermögen und sozialpolitische Absicherung helfen dabei, das Ziel zu erreichen, in Sicherheit leben zu können“.227 Die Dimensionen waren, so der Bericht, „Geld, Bildung und Prestige“ als Ressourcen, „Arbeits-, Wohn- und Freizeitbedingungen“ als „vor221 Ibid., p. 226; dort auch die nächsten zwei Zitatstellen. Hervorhebung im Original. 222 Rudi Schmidt, Restrukturierung und Modernisierung der industriellen Produktion, in: Arbeit, Arbeitsmarkt und Betriebe, pp. 225 – 256. 223 Joachim Bergmann, Industrielle Beziehungen in Ostdeutschland: Transferierte Institutionen im Deindustrialisierungsprozess, in: Arbeit, Arbeitsmarkt und Betriebe, pp. 257 – 294. Bergmann, der an der Technischen Universität Darmstadt lehrte, gehörte zur Richtung der Industriesoziologie, wie sie seit den siebziger Jahren am Frankfurter Institut für Sozialforschung einen Schwerpunkt bildete. 224 Siehe Hasko Hüning, Hildegard Maria Nickel, Großbetriebliche Dienstleistungen. Rascher Aufbau und harte Konsolidierung, pp. 297 – 346, insbesondere pp. 316 – 322. 225 Arndt Sorge u.a., Kleinbetriebliche Entstehung, Bestandsbedingungen und Entwicklungspotentiale, pp. 347 – 393. Das Kapitel endete mit der rhetorischen Frage: „Kleinbetriebe als Hoffnungsträger oder Lückenbüßer?“, pp. 392 – 393. 226 „Der Transformationsprozess im Überblick“, das einleitende Kapitel 2 des Berichts 2, stammte höchstwahrscheinlich aus der Feder eines Wirtschaftswissenschaftlers. Da die einzelnen Kapitel nicht namentlich gekennzeichnet waren und eine Aufstellung über die Autoren der verschiedenen Kapitel nicht als Anhang beigefügt wurde, lässt sich lediglich von der Argumentführung her erschließen, wo die Soziologen federführend waren. 227 „Entwicklung und Verteilung von Lebenslagen“, in: Ungleichheit und Sozialpolitik, pp. 131 – 247, cit. p. 132; dort alle Zitate dieses Abschnitts.
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teilhaft oder unvorteilhaft beeinflussende Lebensbedingungen“ und außerdem die „Gesundheitsversorgung“ oder anderes, was „als Risiko bzw. Sicherheit“ wirke. (Interessanterweise wurde „Ungleichbehandlung“, die in der tabellarischen Aufzählung der „Dimensionen sozialer Ungleichheit“ ebenfalls aufgeführt war, in der Erläuterung nicht genannt.) Die Lebensziele, gegebenenfalls per Sozialpolitik für die Individuen zu gewährleisten, hießen „Wohlstand, Sicherheit, Ansehen, Gesundheit, Selbstverwirklichung, Autonomie, Integration“. Es ging für Ostdeutschland um die soziale Ungleichheit in diesen Dimensionen. Mit anderen Worten: Zu erforschen – und mittels statistischer Befunde und Befragungsergebnisse zu dokumentieren – war die Sachlage im Verhältnis zu Westdeutschland in diesen Dimensionen. Die soziale Benachteiligung, so dachten die Autoren, hätte dementsprechend die „Determinanten, die die Stellung der einzelnen im Gefüge sozialer Ungleichheit prägen“228; die Einflussfaktoren, die die soziale Chancenminderung bewirkten, seien „das Geschlecht, die Region, die ethnische Zugehörigkeit, das Alter und die Lebensform (allein, als kinderloses Paar, in Familie etc. lebend)“ und außerdem „regionale Ungleichheiten“. Weit über hundert Seiten gaben Auskunft über die empirischen Befunde aus Statistiken und Surveys. Nicht die Menschen in ihren individuellen Lebenslagen, sondern die kollektiven Lagen – dargestellt an Durchschnittswerten für Bevölkerungsgruppen im Verhältnis zur Bevölkerung insgesamt (getrennt für Ost- und Westdeutschland sowie unterschiedliche Jahre ab 1989) – waren der Gegenstand der Betrachtung. „Die wichtigsten Dimensionen der sozialen Ungleichheit“ seien das Arbeitseinkommen (bei Erwerbstätigen), das Haushaltseinkommen (im Verhältnis zum Konsumniveau bei besonderer Berücksichtigung von Wohlstandsklassen bzw. Wohlstandspositionen in Ost- und Westdeutschland), das Vermögen im Sinne von Grundbesitz etc., die Bildung wegen der spezifischen Benachteiligungen in der DDR im Unterschied zu – anders benachteiligenden – Zugangschancen etwa für Universitäten der (früheren) Bundesrepublik, abzulesen an der sozialen Herkunft der Studienanfänger, ferner das Wohnen, wo in Ostdeutschland wegen der niedrigen Mieten eine gewisse Wohnzufriedenheit herrsche, die Gesundheit, wo die DDRZustände noch in den erhöhten Mortalitätsziffern nachwirkten, und schließlich die regionalen Disparitäten, wobei es Abweichungen vom gewichteten Durchschnitt der Länder für Ost-Berlin gebe, das „sich – wie auch schon zu DDR-Zeiten – deutlich vom übrigen Gebiet Ostdeutschlands“ unterscheide.229 Vor dieser Kulisse wurden die Lebenslagen – im Kapitelabschnitt 3.3230 – mit einem Verfahren der „Gruppierung von Menschen“231 durch „Kombination (un)vorteilhafter Lebensbedingungen“ ermittelt. Die Befunde: Die „gehobene Mittelschicht“ war in Ostdeutschland zwischen 1990 und 1993 von 9,3 Prozent auf 5,6 Prozent gesunken; die „Lebenslage 2“232, seit 1990 entstanden, erfasste 1993 5,8 Prozent der Bevölke228 229 230 231 232
Ibid., p. 133; dort auch die nächsten zwei Zitatstellen. Ibid., p. 228. Ibid., pp. 234 – 247. Ibid., p. 237; dort auch die nächste Zitatstelle. Diese Lebenslage ebenso wie die meisten anderen wurde nicht mit einem Namen versehen, sondern erhielt nur eine Kennziffer.
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rung; eine dritte Lebenslage, 1990 noch 2,7 Prozent der Bevölkerung, war 1993 verschwunden; die vierte Lebenslage („Bildungsbürgertum“) umfasste 1990 16,6 Prozent und 1993 noch 15,3 Prozent, aber: „Die Lage dieser Menschen hat sich von 1990 bis 1993 in der Regel verschlechtert. Es sind mehr von ihnen in Arbeitslosigkeit, Umschulung und Ausbildung zu finden“233; die fünfte Lage betraf 14,4 Prozent (1990) und 12,8 Prozent (1993); die sechste war „ähnlich weit verbreitet“ (14,2 Prozent 1990, 13,0 Prozent 1993): „Offenkundig finden wir in dieser Gruppe viele derer, deren Lage sich nach dem Umbruch konsolidiert hat“; eine siebte Lebenslage ließ „sich … erst 1993 isolieren“234 und passte auf 14,1 Prozent; die achte, nämlich Leben „in eher unterdurchschnittlichen Verhältnissen“, „finden wir 1990 noch bei 6,3%, 1993 nur noch bei 3,1% der Ostdeutschen“; die neunte, wo viele Frauen und außerdem Rentner, Vorruheständler und Arbeitslose zu finden seien, bestand 1993 nunmehr bei 8,3 Prozent; und die zehnte, 1990 noch „11,7% der Menschen in den neuen Bundesländern“, existiere 1993 nicht mehr. Diese Klassifikationen wurden für die Sozialpolitik interpretiert. Kapitel 4 handelte von den Bevölkerungsgruppen, die ins Abseits gerieten, wenn sie nicht staatliche Hilfen erhielten – Arbeitslose, Alleinerziehende, Sozialhilfeempfänger und Arme, Behinderte und Pflegebedürftige, ältere Menschen und Rentner, Jugendliche sowie Frauen.235 Kapitel 5, „Ausgewählte sozialpolitische Dimensionen des Transformationsprozesses“236, diskutierte die Ungleichheit mit Blick auf die „Beschäftigungskrise“ und rechtfertigte die Transferzahlungen für freigesetzte Arbeitskräfte. Die „subjektive Bewältigung von Arbeitslosigkeit“237 – einer massenhaften Lebenskrise („Sinnkrise“) – gehöre zum Aufgabenbereich der Sozialpolitik. Mobilität („Mobilitätsprozesse“) wie das Pendeln zwischen Ost- und Westdeutschland bedeute trotz allem „hohe Unsicherheit … im Vergleich zu der in der DDR weit stabileren Situation“.238 Jedenfalls wäre dementsprechend der Entwicklungszustand der sozialen Milieus – dieses Konzept beanspruchte über die Lebenslagen hinaus eine breitere Geltung – in Ostdeutschland bis dato noch defizitär: „Während das Ínstitutionengefüge in den neuen Bundesländern mittlerweile weitestgehend dem in Westdeutschland gleicht und sich auch die materiellen Lebensverhältnisse auf dem Weg der Angleichung befinden, werden Unterschiede der Milieus und Lebensstile noch viele Jahre lang in Rechnung zu stellen sein“.239 Die wahrgenommene Lebensqualität sei zwar hoch, aber Gesellschaftspolitik sei dennoch nötig: „[E]ine Angleichung der gegenseitigen Einschätzungen zwischen Ost und West [ist] noch herzustellen, wobei die kulturellen Selbst- und Fremddefinitionen an Toleranz- und Fairneßnormen zu orientieren sind“.240
233 234 235 236 237 238 239 240
Ibid., p. 240; dort auch die nächsten drei Zitatstellen. Ibid., p. 242; dort auch die nächsten drei Zitatstellen. Die Auflistung dieser Problemgruppen entsprach dem Aufbau des Kapitels. Ibid., pp. 339 – 482. Ibid., pp. 357 ff. Ibid., p. 380. Ibid., p. 392. Ibid., p. 454.
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Der Datenmarathon des Berichts 2 sollte die Sozialpolitik rechtfertigen, wie sie der Ungleichheit entgegenwirke. Abschließend wurde die Theorie der „postsozialistischen Transformationen“ angesprochen.241 Zapfs Modernisierungstheorem, das gegenüber Parsons immerhin „konflikt- und innovationstheoretische Härtungen“242 enthalte, sei ein Anker: „Unzweifelhaft verfügt der modernisierungstheoretische Ansatz mit seiner Betonung generalisierter Prozeß- und Strukturmerkmale über ein erhebliches heuristisches Potential, wobei die von Zapf erwähnten Konzepterweiterungen wesentliche Erklärungsfortschritte darstellen bzw. darstellen könnten“. Dennoch seien Transformationen eigentlich einmalig und daher theoretisch kaum zu fassen: „Transformationen sind offene, sich selbst organisierende Evolutionen, die Neues und je Eigenes zum Resultat haben“.243 Mit anderen Worten: Der „,Sonderfallʻ DDR/neue Bundesländer“244 lege eine „anwendungsorientierte empirische Forschung“ nahe und profitiere wenig von Transformationstheorien. Die Berichte 1 und 2 der KSPW hatten unterschiedliche Gesellschaftskonzeptionen. Der Bericht 1 sprach von der DDR als (auch) einer modernen Gesellschaft. Diese Arbeitsgesellschaft habe den Produktionssektor über alles gestellt und sei im Ostblock führend gewesen. Zudem sei der Kapitalismus, wie es nun offensichtlich wäre, mit gravierenden Mängeln belastet. Modernität müsse anders entstehen als durch die Ausgrenzung großer Teile der Erwerbsbevölkerung, die – gleichgültig ob wegen Unfähigkeit des neuen Managements oder infolge der Kapitalinteressen der (zumal der dominanten westdeutschen) Firmen – in die Arbeitslosigkeit gedrängt würden. Das Gesellschaftsmodell des Berichts 1 folgte der These, dass Kapitalismus und Arbeitsgesellschaft nicht gleichzusetzen seien und der Sozialismus jedenfalls (ebenfalls) modern (gewesen) sei. Der Bericht 2 sah die (ehemalige) DDR als einen – wiewohl reformbedürftigen – Wohlfahrtsstaat. Die Gleichheit der Bürger, immerhin dort angestrebt, müsse durch eine engagierte Sozialpolitik im wiedervereinigten Deutschland möglichst weiterhin gewährleistet werden. Die Soziologie im KSPW-Bericht 2 hatte das weltanschauliche Wunschziel einer gerechten Gesellschaft. Der Bericht 2 war ein sozialethisches Plädoyer für Wohlstand und gleiche Chancen. Die in diesem KSPWBericht vertretene Gesellschaftsauffassung – in Weberʼscher Sicht ein gesinnungsethisches Programm – verpflichtete zur Kritik an der Ungleichheit und zum Engagement für den Wohlstand für alle. Die beiden Gesellschaftsbilder wurden anderswo miteinander verglichen. Im Essay Die Transformation in der ehemaligen DDR und die soziologische Theorie der Modernisierung stellte Wolfgang Zapf zwei gesellschaftstheoretische Konzep-
241 242 243 244
Ibid., pp. 468 – 482. Ibid., p. 470; dort auch die nächste Zitatstelle. Ibid., p. 475; der gesamte Satz ist im Original kursiv gedruckt. Ibid., p. 482; dort auch die nächste Zitatstelle. Der Literaturverweis dazu: Raj Kollmorgen, Schöne Aussichten? Zur Kritik integrativer Transformationstheorien, in: Raj Kollmorgen, Rolf Reißig, Johannes Weiß (Hrsg.), Sozialer Wandel und Akteure in Ostdeutschland (KPSW: Transformationsprozesse, Band 8), Opladen: Leske und Budrich 1996, pp. 281 – 332.
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tionen der Transformationsforschung einander gegenüber.245 Er sah auf der einen Seite eine neue Variante des Marxismus, nämlich eine „Stagnationstheorie“246 jenseits „von der Stamokaptheorie über die Dependencia bis zur Spätkapitalismusund Legitimationskrisendoktrin“. Es gebe dort Lerneffekte gegenüber der „ehemaligen ML-Doktrin“247, etwa dass „(1) die Produktivkraft moderner Gesellschaften zugestanden wird, (2) das Ausbeutungsargument durch das Ausgrenzungsargument ersetzt wird“. Aber eine Antwort auf die Probleme der Transformation gebe es dort nicht: „Wie allen anderen Konkurrenten der Modernisierungstheorie fehlt auch dieser ‚Weltarmuts-Positionʻ jede Vorstellung von institutionellen Alternativen zur Bewältigung der dramatisch beschriebenen Probleme“. Er hielt diesem Denken das Konzept der „Transformation oder Transition“248 entgegen. Es entwerfe eine Übergangsperiode der Modernisierung und behaupte nicht, eine entwickelte moderne Gesellschaft entstehe sogleich nach dem Umbruch. Es gehe um „Übernahme, Errichtung, Inkorporation von modernen demokratischen, marktwirtschaftlichen, rechtsstaatlichen Institutionen“. Dieses Modell enthalte keine Vorbehalte gegen eine etwaige „reflexive Modernisierung“ à la Ulrich Beck.249 Sondern „die sozialstrukturellen Veränderungen“250 der Modernisierung der ehemaligen Ostblockstaaten seien – positiv zu bewerten – die Vorgänge der „Inklusion, Wertegeneralisierung, Differenzierung und Statusanhebung für weitere gesellschaftliche Gruppen“.251 Der Kernpunkt: „Modernisierung bedeutet Wachstum von Optionen und von Sicherheit. Gleichheit wird als Ausbau von Grundrechten verstanden. Jenseits der Grundrechte gilt es, Innovationschancen offenzuhalten, nicht zuletzt deshalb, um selbstzerstörerische Entwicklungen auszusondern“.252 Die Gesellschaftskonzeption(en) in den KSPW-Berichten 1 und 2, so lässt sich im Anschluss an Zapf feststellen, ähnelten den beiden Modellen, wie sie Zapf gegenüberstellte. Der Bericht 1 lehnte das Modernisierungstheorem ab und geriet unwillkürlich in ein Fahrwasser der Kapitalismus- und Gesellschaftskritik. Der Bericht 2 suchte zwar Anschluss an die Modernisierungsthese, blieb jedoch unwillkürlich in Defizitdiagnosen stecken, die aus einem sozialpolitischen Engagement stammten. 245 Wolfgang Zapf, Die Transformation in der ehemaligen DDR und die soziologische Theorie der Modernisierung, in: Zapf, Modernisierung, Wohlfahrtsentwicklung und Transformation. Soziologische Aufsätze 1987 bis 1994, Berlin: sigma 1996, pp. 128 – 144. Der Aufsatz wurde zuerst im Jahr 1992 als Discussion Paper 92/4 des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung veröffentlicht und im Berliner Journal für Soziologie, 4/1994, pp. 295 – 305 nachgedruckt. 246 Zapf, Die Transformation in der ehemaligen DDR etc., p. 137; dort auch die nächste Zitatstelle. 247 Ibid., p. 140; dort auch die nächste Zitatstelle. 248 Ibid., p. 138; dort auch die nächste Zitatstelle. 249 Ibid., pp. 138 – 139. Die These der „reflexiven Modernisierung“ behauptet eine Verwissenschaftlichung der gesellschaftlichen Praxis, allerdings verbunden mit der Warnung vor einem Verlust der Aufklärung und der Steuerbarkeit der politisch-wirtschaftlichen Vorgänge. 250 Ibid., p. 141. 251 Ibid., pp. 141 – 142. 252 Ibid., p. 142.
4. Die Berichte der KSPW, das SOEP und die Wohlfahrtssurveys
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Die Weichen für Zapfs Überlegungen wurden in den achtziger Jahren gestellt. Das Sozio-ökonomische Panel (SOEP) und die Wohlfahrtssurveys waren der Hintergrund für Zapfs Thesen. Diese longitudinalen Programme der Sozialberichterstattung (Panels) waren aus dem Sonderforschungsbereich 3 der Deutschen Forschungsgemeinschaft – Mikroanalytische Grundlagen der Gesellschaftspolitik – hervorgegangen. Das SOEP wurde seit 1984 durch das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) betreut. Die Wohlfahrtssurveys gab es seit 1978 an der Universität Mannheim in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Umfragen, Methoden und Analysen (ZUMA) in Mannheim bzw. ab 1985 am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB). Zwischen den beiden Programmen entstand in den neunziger Jahren eine enge Verbindung, und viele Mitarbeiter des DIW und WZB arbeiteten an beiden Panels und waren Autoren der Sammelwerke aus dem einen oder anderen Programm. Dem SOEP253 lag eine Zufallsstichprobe zugrunde. Die Befragten aus der gesamten Bundesrepublik wurden im Panelverfahren jährlich mit einem Haushaltsfragebogen (61 Variablen, befragt wurde der Haushaltsvorstand) und einem Personenfragebogen (106 Variablen, befragt wurden alle Personen im Haushalt über 16 Jahre) untersucht.254 Die Befunde zeigten die Haushaltszusammensetzung, die Wohnverhältnisse, die Einkommensverhältnisse, die Erwerbsbiographie(n), die Gesundheit und außerdem die Zufriedenheit, das Politikinteresse und die Werthaltungen entsprechend einer so genannten Inglehart-Skala, die zwischen Materialisten (Arbeitsethos) und Postmaterialisten (Hedonismus) unterschied. Einige Ergebnisse der ersten drei Panels (1984 – 1986) berichtete der Sammelband Lebenslagen im Wandel: Analysen 1987.255 Außer Methodenfragen wurden dort „Haushalte und ihre Einkommen“ sowie „Erwerbstätigkeit und Arbeitslosigkeit“ behandelt, und ein Kapitel diskutierte „Dimensionen von Lebenslagen“. Über Einstellungen zu „weniger oder mehr Staat“256 wurde berichtet: „Inhaltlich wurde klar, dass die Positionen ‚mehrʻ oder ‚wenigerʻ Staat nicht derselben Dimension angehören. Die ‚mehrStaatʻ-Kategorie konnte dabei klar einer wohlfahrtsstaatlich orientierten Perspektive zugeordnet werden, während die … ‚weniger Staatʻ-Kategorie … einer umfassenden klassisch-liberalen Position … [oder] einer kritischeren Position gegenüber einem ‚Überwachungsstaatʻ“257 entspreche.
253 Ute Hanefeld, Das Sozio-ökonomische Panel. Grundlagen und Konzeption, Frankfurt a. M.: Campus 1987 erläuterte das Design, die Konzeption, die Durchführung und die Instrumente des SOEP. 254 Hinzu kam eine Zusatzbefragung für Ausländer – wobei ein Ausländer war, wer (mit nichtdeutscher Staatsbürgerschaft) entweder Haushaltsvorstand war oder im Haushalt mit Deutschen lebte. 255 Hans-Jürgen Krupp und Ute Hanefeld, Lebenslagen im Wandel: Analysen 1987, Frankfurt a. M.: Campus 1987. 256 Max Kaase, Gisela Maag, Edeltraud Roller und Bettina Westle, Zur Rolle des Staates in hochentwickelten westlichen Demokratien, in: Hans-Jürgen Krupp, Ute Hanefeld (Hrsg.), Lebenslagen im Wandel: Analysen 1987, pp. 180 – 195, p. 182 ff.. 257 Ibid., p. 194.
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Das methodisch anspruchsvolle Programm konnte im Frühjahr und Sommer 1990 – noch vor der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion – auf die (ehemalige) DDR ausgeweitet werden.258 Die Stichprobe enthielt nun ein Sample aus den neuen Bundesländern. Das SOEP – zusammen mit dem Wohlfahrtssurvey sowie dem ALLBUS (einer weiteren kontinuierlichen Mikrodatenerhebung, die das ZUMA betreute) – wurde zur einzigartigen Datenquelle für das nunmehr zugängliche „Beitrittsgebiet“ der (ehemaligen) DDR.259 Im Jahr 1996 erschien ein Sammelwerk aus Analysen mit SOEP-Daten.260 Die Datensätze waren zu Beiträgen über technische Details verarbeitet, und die Auswertungen befassten sich vorwiegend mit Westdeutschland seit den achtziger Jahren. Nur ein einziger Beitrag betraf Ostdeutschland – „Arbeitslosigkeit und Einkommensmobilität ostdeutscher Personen“.261 Das Ergebnis: Personen mit einem hohen „Arbeitslosigkeitswert“ des Haushalts (gemessen mit einem AL-Index) erlitten den stärksten Einkommensverlust, aber Personen mit niedrigem AL-Index-Wert (also eher kurzer Betroffenheit durch Arbeitslosigkeit und anschließender Wiederbeschäftigung) erlebten vielfach Einkommensverbesserungen: „Die … Gruppe mit einem AL-Index bis 15 scheint sich nach anfänglicher und nur kurzfristiger Arbeitslosigkeit recht erfolgreich wieder in den Arbeitsmarkt integriert zu haben. Dabei hat knapp ein Viertel Verbesserungen der Einkommensposition im Umfang von über 30% realisieren können, was darauf hinweist, daß gut dotierte, neue Arbeitsplätze gefunden werden konnten“.262 Das Fazit war dann: Bei „Zunahme des Armutsrisikos“263 sei mit „weiterem Absinken der Einkommenszufriedenheit“ zu rechnen: „Aus wohlfahrtspolitischer Sicht ist diese Entwicklung sehr negativ zu beurteilen“. Man kann sagen: Die Paneldaten des SOEP wurden kaum im Zeitaufriss verwendet; gerade dies hätte indessen das Besondere des SOEP – dass die Zufallsstichprobe zur Verfügung stand und die Panelerhebung im Jahresabstand durchgeführt wurde – zum Verständnis der gesellschaftlichen Veränderungen in Ostdeutschland viel effektiver nutzen können. Querschnittvergleiche für die Zeitpunkte 1990 und 1993 oder gelegentlich auch andere Zeitpunkte oder Zeiträume waren alles, was herauskam. Eine genuine Längsschnittanalyse, wie sie das SOEP möglich
258 Lebenslagen im Wandel: Basisdaten und -analysen zur Entwicklung in den Neuen Bundesländern. Herausgegeben von der Projektgruppe „Das Sozio-ökonomische Panel“, Frankfurt a. M.: Campus 1991. 259 Jürgen Schupp und Gert Wagner, Die Ost-Stichprobe des Sozio-ökonomischen Panels – Konzept und Durchführung der „SOEP-Basiserhebung 1990“ in der DDR, in: Lebenslagen im Wandel: Basisdaten und -analysen zur Entwicklung in den Neuen Bundesländern, pp. 25 – 41. 260 Wolfgang Zapf, Jürgen Schupp, Roland Habich (Hrsg.), Lebenslagen im Wandel: Sozialberichterstattung im Längsschnitt, Frankfurt a. M.: Campus 1996. 261 Joachim Frick und Klaus Müller, Arbeitslosigkeit und Einkommensmobilität ostdeutscher Personen seit 1990, in: Wolfgang Zapf et al. (Hrsg.), Lebenslagen im Wandel: Sozialberichterstattung im Längsschnitt, pp. 291 – 320. 262 Ibid., p. 313. 263 Ibid., p. 318; dort auch die nächsten zwei Zitatstellen.
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machte, entstand nicht. Kleinlaut ergänzten die Autoren ihre Befunde durch Bekenntnisse zur Sozialpolitik – ähnlich wie der KSPW-Bericht 2. Die Wohlfahrtssurveys wurden erstmals 1978 eingerichtet. Sie sollten die Angaben zum Wohlfahrtsniveau (z. B. anhand der Haushaltseinkommen) um die Einstellungen der Subjekte ergänzen. Die objektive Lebenslage (gemessen durch das Haushaltseinkommen etc.) sollte konfrontiert werden mit der Zufriedenheit mit dem Einkommen, dem Arbeitsplatz und der Gesellschaft insgesamt (inklusive Zukunftsaussichten). Diese subjektiven Einschätzungen (zusammen mit den objektiven Parametern) wurden jährlich erhoben. Sie waren eine wertvolle Ergänzung des SOEP. Auch der Wohlfahrtssurvey konnte 1990 – noch vor der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion – auf Ostdeutschland ausgeweitet werden. So kamen die Ergebnisse des Daten Report 5, den das Statistische Bundesamt im Sommer 1992 herausgab, zu den „Negativen Komponenten subjektiven Wohlbefindens“ zustande.264 Das heißt: Über Besorgnissymptome (Erschöpfungszustände, wiederkehrende Sorgen, Nervosität, Zittern oder Schütteln etc.) berichteten bei den Westdeutschen im Jahr 1988 53 Prozent der Befragten, aber bei den Ostdeutschen waren es im Jahr 1990 nur 37 Prozent; unter den unzufriedenen Westdeutschen hatten 85 Prozent diese Symptome und unter den unzufriedenen Ostdeutschen 80 Prozent, und unter den Hochzufriedenen waren es 44 Prozent (West) und 53 Prozent (Ost).265 Der Datenreport 1994, der denselben methodischen Ansatz zugrunde legte und doch ein überraschendes Ergebnis erbrachte, zeichnete anhand der Auswertungen für 1993 ein anderes Bild.266 Nun hatten noch 47 Prozent der Westdeutschen solche Symptome, aber 56 Prozent der Ostdeutschen; 92 Prozent der unzufriedenen Westdeutschen und 79 Prozent der unzufriedenen Ostdeutschen sowie 35 Prozent der hochzufriedenen Westdeutschen und 39 Prozent der hochzufriedenen Ostdeutschen hatten solche Anomiesymptome.267 Zusammenfassend: Die Berichte der KSPW waren eindrucksvolle Arbeitsleistungen. Im Verbund mit den sechs Berichten wurden 36 Beiträge und außerdem zahlreiche Einzelanalysen vorgelegt. Das anspruchsvolle Programm dokumentierte durch empirische Sozialforschung die Transformation Ostdeutschlands. Das SOEP und die Wohlfahrtssurveys beruhten bereits 1990 auf eigene Zufallsstichproben auch in den „neuen“ Ländern. Eine beispielhafte Infrastruktur stand für die empirische Sozialforschung bereit. Möglicherweise war es unerwartet schwierig, erst einmal überhaupt die Voraussetzungen für eine methodisch sachgerechte Datenerhebung und -auswertung zu 264 Statistisches Bundesamt (Hg.), Daten Report 5. Zahlen und Fakten über die Bundesrepublik Deutschland 1991/1992. In Zusammenarbeit mit dem Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung und dem Zentrum für Umfragen, Methoden und Analysen, Mannheim, Bonn: Verlag Bonn Aktuell 1992. 265 Ibid., p. 571. 266 Statistisches Bundesamt (Hrsg.) in Zusammenarbeit mit dem Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung und dem Zentrum für Umfragen, Methoden und Analysen, Mannheim, Datenreport 1994. Zahlen und Fakten über die Bundesrepublik Deutschland, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 1994. 267 Ibid., p. 421. Ob diese Differenzen statistisch signifikant waren, wurde nicht nachgeprüft.
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schaffen. Vielleicht blieb wenig Zeit oder Kraft für eine systematische Reflexion des Wandels einer ganzen Gesellschaft. Jedenfalls war die Aufgabe enorm. Die Wiedervereinigung setzte an im Oktober/November 1989, im Juni 1990 wurde der Staatsvertrag zwischen der DDR und der BRD geschlossen, und am 3. Oktober 1990 trat der Einigungsvertrag in Kraft.268 So blieb wohl wenig Muße, die Forschungsinstrumente erst einmal zu diskutieren und die Theoriehorizonte zu klären. Zwar sollte eine Tagung an der Humboldt-Universität im Dezember 1990 die Fragen der soziologischen Theorie erörtern. Die Tagung zeitigte Aufsätze im Berliner Journal der Soziologie, auch spannende Retrospektiven auf die DDR. Aber die Begriffe der Sozialforschung zur Untersuchung der Transformation wurden nicht auf den Prüfstand gestellt. Im Dilemma zwischen Zeitdruck und Erkenntnisinteresse retteten sich viele KSPW-Forscher in das gesinnungsethische Engagement: Ähnlich wie die Berichterstattung des SOEP und der Wohlfahrtssurveys plädierten sie explizit oder implizit für Sozialpolitik, das scheinbar unerlässliche Korrelat der Soziologie. Die Sozialpolitik solle die Ungerechtigkeit und auch die Ungleichheit, wie sie anlässlich der Wiedervereinigung offensichtlich wären, für die Problembevölkerungen und am besten für alle Deutschen möglichst mildern. Zapf, dessen Modernisierungstheorem weithin zu Unrecht gescholten und gelegentlich pauschal gelobt wurde, war wie ein Rufer in der Wüste. Nicht einmal die Auswertungen des SOEP und der Wohlfahrtssurveys, obwohl Zapf hier zeitweise persönlich verantwortlich war, gingen über den Horizont der bloßen Dokumentation hinaus. Manche Forscher, die sich mit Beschreibungen zufrieden gaben, wussten aber, dass sie eigentlich Erklärungen geben wollten. 5. SYSTEMWECHSEL UND STRUKTURWANDEL IN OSTDEUTSCHLAND Im Jahr 2001, fünf Jahre nach der Auflösung der KSPW, betreute Hans Bertram, der (frühere) Vorsitzende des Vorstands der KSPW – zusammen mit dem ehemaligen Geschäftsführer, Raj Kollmorgen – einen letzten Sammelband.269 Nun sollten die Analysen der KSPW bis an die Schwelle des neuen Jahrtausends fortgeführt und die jüngsten Entwicklungen berichtet werden. Die Idee war, die KSPW-Berichte anhand der neuesten Daten zu bestätigen oder zu ergänzen. Zehn Jahre nach der 268 Eine repräsentative Befragung durch ein Ostberliner Forschungsteam war bereits im Januar 1990 durchgeführt worden. Sie verwendete teilweise andere Fragestellungen als das SOEP oder die Wohlfahrtssurveys und zielte auf dieselben Einstellungen der Ostdeutschen wie diese standardisierten Erhebungen. Ein Vergleich zwischen dieser Bestandsaufnahme und den SOEPund Wohlfahrtssurvey-Befunden des Jahres 1990 liegt bisher nicht vor. Die Daten sowie das Codebuch sind im Zentralarchiv für empirische Sozialforschung an der Universität zu Köln (ZA) zugänglich. Siehe Denken und Handeln in der Krise. Die DDR nach der „Wende“: Ergebnisse einer empirisch-soziologischen Studie. Herausgegeben von Michael Häder, Berlin: Akademie-Verlag 1991. 269 Hans Bertram und Raj Kollmorgen (Hrsg.), Die Transformation Ostdeutschlands. Berichte zum sozialen und politischen Wandel in den neuen Bundesländern, Opladen: Leske und Budrich 2001.
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Wiedervereinigung sollte dieser follow-up – jeweils ein Buchkapitel pro KSPWBericht – die Analyse vervollständigen. Das Ergebnis sah anders aus. Manche Soziologen, auch einige Hauptautoren der KSPW-Berichte 1 und 2, tauchten nicht mehr auf. Die Beiträge verwendeten weitgehend dieselben Daten wie 1996. Andere Autoren als in den ursprünglichen Darstellungen kamen zu den Themen der Berichte 1 und 2 zu Wort.270 Aus der Autorengruppe des KSPW-Berichts 1 verfassten die Autoren Lutz/ Grünert271 und Schmidt272 nun getrennte Beiträge. Lutz/Grünert benutzten dasselbe Datenmaterial wie 1996, wiederum für den Zeitraum bis 1993 bzw. 1994, und sie machten dieselben Aussagen: 1.) Das DDR-Beschäftigungssystem sei bis in die achtziger Jahre ein Erfolgsmodell gewesen; 2.) der Arbeitsplatzabbau zwischen 1989 und 1993 habe die Infrastruktur zerstört; 3.) der neue Arbeitsmarkt sei wegen des Überwiegens des tertiären Sektors und wegen der überwiegenden gewerblichen Klein- und Mittelbetriebe unstabil; und 4.) die Arbeitslosen bildeten ein nunmehr dauerhaftes Arbeitsmarktsegment. Neu war die Klage über ein Funktionsdefizit des Berufsbildungssystems. Man müsse fragen: „Wie werden die Betriebe und Institutionen längerfristig hierauf reagieren? Wird es zu einer Erosion von Professionalität in den wichtigsten kleinbetrieblich strukturierten Sektoren und zu nachhaltig vermehrter Nutzung von (billigen, z. B. polnischen) Ungelernten kommen?“273 Schmidts Auswertungen waren angeblich neu. Bei näherem Hinsehen waren es indessen Angaben über den Zeitraum bis zu den Jahren 1994 und 1995 aus zwei Sammelbänden, die Schmidt – ebenfalls im Rahmen der KSPW – allein oder gemeinsam bereits 1996 herausgegeben hatte.274 Seine Kritik an der Restrukturierung 270 Solche neuen Autoren und Beiträge waren: Peter A. Berger, Lebensläufe, Mobilität und Milieustruktur in Ostdeutschland, pp. 249 – 270 sowie Gisela Trommsdorff und Hans-Joachim Kornadt, Innere Einheit im vereinigten Deutschland? Psychologische Prozesse beim sozialen Wandel, pp. 365 – 389. Der Beitrag Trommsdorffs im KSPW-Bericht 4, also einem der nichtsoziologischen Bände, hatte sich mit Kindheit befasst: Gisela Trommsdorff/Pradeep Chakkarath, unter Mitarbeit von Peter Heller, Kindheit im Transformationsprozess, in: Stefan E. Hormuth et al., Individuelle Entwicklung, Bildung und Berufsverläufe, pp. 11 – 77; der Beitrag Kornaths dort hatte Erziehung und Bildung untersucht: Hans-Joachim Kornadt, Erziehung und Bildung im Transformationsprozess, in: Stefan Hormuth et al., Individuelle Entwicklung, Bildung und Berufsverläufe, pp. 201 – 272. 271 Burkart Lutz, Holle Grünert, Beschäftigung und Arbeitsmarkt, in: Bertram und Kollmorgen (Hrsg.), Die Transformation Ostdeutschlands, pp. 133 – 162. 272 Rudi Schmidt, Restrukturierung und Modernisierung der ostdeutschen Industrie, in: Bertram und Kollmorgen (Hrsg.), Die Transformation Ostdeutschlands, pp. 163 – 193. 273 Burkart Lutz, Holle Grünert, Beschäftigung und Arbeitsmarkt, p. 160. 274 Der eine Sammelband war: Rudi Schmidt (Hrsg.), Reorganisation und Modernisierung der industriellen Produktion (Beiträge zum Bericht „Arbeit, Arbeitsmarkt, Betriebe“ der KSPW, Band 1.4), Opladen: Leske und Budrich 1996. Die als nunmehr überarbeitete (neue) Quelle von dort aufgenommenen Beiträge waren. G. Andretta, M. Baethge, Entkoppelte Reorganisation und verschleppte Anpassung – Zum Zusammenhang von beruflicher Neuorientierung, Qualifizierung und betrieblicher Reorganisation in der ostdeutschen Industrie sowie Ph. Hessinger, Modell Jena? Alternative Formen der Instituierung von Netzwerkbeziehungen am Beispiel zweier neuer Industriedistrikte. Der zweite Sammelband war: Markus Pohlmann, Rudi Schmidt (Hrsg.), Management in der ostdeutschen Industrie (Beiträge zum Bericht „Arbeit, Arbeitsmarkt, Betriebe“ der KSPW, Band 1.5). Von dort stammten die nun als Belegquellen
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der ostdeutschen Industrie zielte nun voll auf die Treuhandanstalt.275 Sie habe in drei Phasen (bis 1994) eine „Deindustrialisierung“ bewirkt276 – wiewohl teilweise 1992 eine Kurskorrektur erhaltenswerte „industrielle Kerne“ gesichert habe. Nichts sei indessen besser geworden: „Unterdessen sind die heftigen Auseinandersetzungen um die Vernichtung von Arbeitsplätzen verebbt, was nicht nur als Reaktion darauf zu verstehen ist, dass die Privatisierungsaufgabe durch die Treuhandanstalt erledigt ist und der Tiefpunkt der Beschäftigung inzwischen überschritten wurde, sondern auch daran liegt, dass ab 1996 die vereinigungsbedingten Restrukturierungsprobleme zunehmend in die Abhängigkeit der sogenannten ‚Standortdebatteʻ gerieten und vom Streit über die Regierungsmaßnahmen zur Verminderung der Sozialleistungen überlagert wurden“.277 Die Modernisierung, wie sie die Treuhand verantworte, heiße „Dominanz der technologischen Perspektive“278 trotz der viel dringenderen (immer noch ungelösten) Absatzprobleme. Das Fazit: „Der von der Treuhand-Anstalt betriebene Privatisierungsprozeß … hat … die Konsolidierung der ostdeutschen Industriebetriebe sehr behindert“.279 Auch Richard Hauser und Wolfgang Glatzer – zwei Hauptautoren des KSPWBerichts 2 – sahen eine Krise.280 Auch sie benutzten dieselben Daten – mit einer Ausnahme – wie die frühere Arbeit. Sie begrenzten ihre Thematik auf die Zukunftsvorstellungen als einen Aspekt des Vereinigungsprozesses.281 Neu war der Rück-
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genannten Beiträge: H.-J. Gergs, M. Pohlmann, Manager und Märkte. Der „Mechanismus“ des Marktes und die Grammatik der Marktaneignung des ostdeutschen Managements; D. Kulke, zur beruflichen Mobilität der managerialen Elite in den neuen Bundesländern; R. Lungwitz, E. Schreiber, Der unvollkommene Wandel der Arbeitsorganisation; M. Pohlmann, H.-J. Gergs, Manageriale Eliten im Transformationsprozess. Siehe diese bibliographischen Angaben in Schmidt, Restrukturierung und Modernisierung der ostdeutschen Industrie, pp. 191 – 193. Schmidt war ganz offensichtlich mit der vorbildlichen Dokumentation der vermögensrechtlichen und betriebswirtschaftlichen Problematik der Privatisierung und Reprivatisierung der DDR-Betriebe vertraut, wie sie der Sammelband Treuhandanstalt. Das Unmögliche wagen enthielt. Dies bezeugen seine Literaturhinweise auf diesen Sammelband. Dennoch behielt Schmidt im Zehnjahresrückblick seine – nicht aus den ausgewiesenen Tatsachen oder aus den in der Literatur dokumentierten Entwicklungen begründete – Kritik an der Wirtschaftstransformation bei. Siehe: Treuhandanstalt. Das Unmögliche wagen, Berlin: Akademie Verlag 1993; siehe dazu oben, Anm. 219. Schmidt, Restrukturierung und Modernisierung der ostdeutschen Industrie, p. 167. Ibid., p. 169. Ein Nachweis zum Beleg dieser weitreichenden These wird unterlassen. Ibid., p. 186 ff. Ibid., p. 190. Nur Wolfgang Glatzer war Soziologe. Richard Hauser war Ökonom. Am KSPW-Bericht 2 hatten außerdem – als Soziologen – Stefan Hradil, Thomas Olk und Eckart Pankoke mitgewirkt. Pankoke schrieb noch einen eigenen Beitrag zu Die Transformation Ostdeutschlands, wo er – vielleicht in Gedanken an Helmut Schelsky – über „Berufsnot und Arbeitslosigkeit der Jugend“ und auch von den Mühen und Verlusten bei anderen Bevölkerungsgruppen handelte, die von den einschränkenden Auswirkungen des Umbruchs betroffen seien. Siehe: Eckart Pankoke, Wandel der Arbeit: Beschäftigung im Transformationsprozess, in: Bertram und Kollmorgen (Hrsg.), Die Transformation Ostdeutschlands, pp. 235 – 245. Richard Hauser und Wolfgang Glatzer, Zukunftsvorstellungen und deren Realisierung im Vereinigungsprozess, in: Bertram und Kollmorgen (Hrsg.), Die Transformation Ostdeutschlands, pp. 427 – 456.
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griff auf eine Befragung von Westdeutschen im Jahr 1972 zu Chancen, Risiken und Wünschbarkeit einer Wiedervereinigung.282 Die Prognosen am Beginn des Transformationsprozesses – Daten der Jahre 1990 bis 1993 – wurden dabei den Erwartungen der siebziger Jahre gegenüber gestellt. Die Lebensqualität wurde anhand der Zufriedenheitseinschätzungen sowie subjektiven Angaben über Anomiesymptome in Ost und West gemessen (dargestellt in Prozentwerten dieser Bevölkerungsteile).283 Wie im KSPW-Bericht 2 wurden die Problemfelder und Problemgruppen noch einmal aufgeführt, die ein erhöhtes Engagement der Sozialpolitik verlangten. Nur durch Sozialpolitik sei die „Wohlfahrt der breiten Bevölkerung“284 zu sichern. Die Wiedervereinigung sei eine „Übertragung des westdeutschen Institutionengefüges auf die DDR-Gesellschaft“285 (gewesen) – „wobei vor allem sozialistische Planwirtschaft und Einheitsparteiensystem gegen die neuen Institutionen der Sozialen Marktwirtschaft und das Mehrparteiensystem ausgetauscht wurden“. Der Rechtsstaat wurde nicht erwähnt, obwohl dessen enorme Bedeutung seinerzeit in der KSPW dieses Themenfeld statt nur in den Berichten 1 und 2 zu einer eigenen Arbeitsgruppe gemacht hatte, die den KSPW-Bericht 6 erstellte und durch zwei Beiträge im Sammelband Die Transformation Ostdeutschlands präsent war.286 Kritik zu Beginn des neuen Jahrtausends übten auch andere Arbeiten. Im Sommer 1999 und Sommer 2000 veranstaltete das Max-Weber-Kolleg in Erfurt zusammen mit der University of Maryland Baltimore zwei Seminare zum Thema „Deutsche Vereinigung“, die das Deutsch-Amerikanische Konzil zusammen mit dem Wissenschaftskolleg zu Berlin und dem Social Science Research Council New York ausrichtete. Es entstand der Sammelband Der Vereinigungsschock.287 Zehn Jahre nach der Wiedervereinigung sollte Bilanz gezogen werden. Das Panorama der mutmaßlichen Mängel der Wiedervereinigung sah historische oder anderweitige Gesetze missachtet, weshalb die Ostdeutschen nun eine „Schocktherapie“288 erlebten: „Es ist freilich ein Unterschied, ob sich der radikale Wandel endogen vollzieht, … [oder] ob man, weitgehend unvorbereitet, einem in sich gefestigten demokratischen, 282 Die Quelle war: Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), Materialien zum Bericht zur Lage der Nation 1974, Bonn 1974. 283 Siehe: Hauser und Glatzer, Zukunftsvorstellungen und deren Realisierung im Vereinigungsprozess, p. 436. 284 Ibid., p. 452. 285 Ibid., p. 441; dort auch die nächste Zitatstelle. 286 Die Beiträge zur Rechtslage und zum Rentenrecht im Sammelband Die Transformation Ostdeutschlands hätten den Autoren der KSPW-Berichte 1 und 2 wichtige Hinweise vermitteln können: Rolf Wank, Die Kündigung von Arbeitsverhältnissen im Zusammenhang mit der Transformation, in: Bertram und Kollmorgen (Hrsg.), pp. 195 – 208 und Bernd von Maydell, Die Transformation des Alterssicherungssystems: Von der Einheitsrente zum gegliederten einkommensbezogenen System, pp. 209 – 224. Von ersterem Beitrag hätte Schmidt profitieren und seine Kritik an der Treuhand modifizieren können; von letzterem Beitrag hätten Hauser/Glatzer profitiert, um ihre Klage über das Los der Problemgruppen – allemal Rentner und Vorruheständler – zu modifizieren. 287 Wolfgang Schluchter und Peter E. Quint (Hrsg.), Der Vereinigungsschock. Vergleichende Betrachtungen zehn Jahre danach, Weilerswist: Velbrück 2001. 288 Wolfgang Schluchter, Einleitung, in: Schluchter und Quint (Hrsg.), Der Vereinigungsschock, pp. 11 – 15, cit. p. 12.
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sozialen und föderalen Rechtsstaat mit einer funktionierenden Verkehrswirtschaft beitritt und sich damit seinen immanenten Gesetzen unterwirft…“.289 Wolfgang Schluchter im Aufsatz Parteien zwischen Ost und West290 sah drei Phasen des Regimewechsels von der Autokratie zur Demokratie – Liberalisierung, Transition, Konsolidierung.291 Die Liberalisierungsphase sei im Februar 1990 und die Transitionsphase im Oktober 1990 abgeschlossen gewesen. Alles danach sei der Konsolidierungsphase zuzurechnen: „Ich sagte zuvor: Der radikale Wandel habe sich eigentlich erst nach dem Beitritt, in der Phase der beginnenden Konsolidierung vollzogen. … Tut man dies…, so sieht man sofort die enorme strukturelle Kluft, die zwischen ‚Westʻ und ‚Ostʻ bestand und die die westdeutsche und die ostdeutsche Gesellschaft auf zwei völlig verschiedene Entwicklungspfade verwies“.292 Da zudem die rasch steigende Arbeitslosigkeit noch weitere tiefe Gräben aufgerissen hätte, sei die Kluft gravierend gewesen. Nicht einmal das Gesellschaftsbild passe zueinander: „Mit den Antworten auf die Frage, welcher sozialen Schicht man sich zurechne, produzierten 1993 die Westdeutschen die berühmte Zwiebel mit dem ausladenden Mittelstandsbauch, die Ostdeutschen aber eine auf einer breiten Arbeiterschicht errichtete Pyramide“.293 Solche Inkonsistenzen und Inkompatibilitäten – in der angeblich erreichten Konsolidierungsphase – erklärten, so dachte Schluchter, „die Tatsache, daß Ostdeutschland das westdeutsche Parteiensystem nicht einfach übernahm“.294 Entsprechend wären die Wahlergebnisse der PDS in den neuen Bundesländern folgerichtig: „Die ostdeutsche Bevölkerung reagierte also auf den durch den Beitritt ausgelösten radikalen Wandel in allen Lebensbereichen teilweise durch Modifikation westdeutscher, teilweise durch Modifikation ostdeutscher Institutionen“.295 Dies hätte eine Interpretation, die plausibel war, sein 289 Ibid., p. 11. Die Auffassung hinter dieser Aussage, es gebe immanente Gesetze des Geschehens in der Geschichte oder der Gesellschaft, widerspricht allemal der Auffassung Max Webers, dass es derartige Gesetze nicht geben könne. 290 Wolfgang Schluchter, Parteien zwischen Ost und West, in: Schluchter und Quint (Hrsg.), Der Vereinigungsschock, pp. 148 – 173. 291 Der Literaturbezug: Guillermo A. OʼDonnell, Philippe C. Schmitter, Laurence Whitehead (eds.), Transitions from Authoritarian Rule: A Comparative Perspective, Baltimore: Johns Hopkins University Press 1986 sowie Philippe C. Schmitter und Terry Karl, The Types of Democracy Emerging in Southern and Eastern Europe and South and Central America, in: Peter M. E. Volten (ed.), Bound to Change: Consolidating Democracy in East Central Europe, Boulder CO: Westview Press 1992, pp. 42–68. 292 Schluchter, Parteien zwischen Ost und West, p. 157. 293 Ibid., p. 162. Schluchter bemerkte allerdings nicht, dass die subjektive Schichteinstufung der Ostdeutschen eine Nachwirkung der höheren sozialen Anerkennung für Arbeiter in der DDR und jene der Westdeutschen eine Begleiterscheinung des geringeren gesellschaftlichen Ansehens der Arbeiter im Verhältnis zur Mittelschicht in der BRD sein mochte bzw. gewesen sein konnte (zu Beginn der Wiedervereinigungsentwicklung). Eine valide Messung hätte nicht allein auf der Selbsteinstufung der Befragten beruhen dürfen, sondern hätte eine Fremdeinstufung durch die Interviewer zumindest ergänzend heranziehen müssen. Die Daten zur subjektiven Selbsteinstufung waren bei Schluchter dem Wohlfahrtssurvey entnommen und wurden – und werden bis heute – auch im Datenreport des Statistischen Bundesamtes verwendet. 294 Ibid., p. 163. 295 Ibid., p. 171.
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können, wäre die Konsolidierungsphase nicht ab dem 3. Oktober 1990 angesetzt worden. Die Parteipräferenzen in Ost- und Westdeutschland hätte Schluchter als Übergangserscheinung der noch andauernden Transitionsphase deuten können, die weit über den Vereinigungstermin hinausreichte. Er hätte die politische Demokratisierung als einen Vorgang deuten können, der längst nicht abgeschlossen war. Stattdessen entwarf er das Vexierbild eines Vereinigungsschocks.296 Statt einer soziologischen Strukturbetrachtung spekulierte seine Analyse auf die Begleit- und Folgeerscheinungen einer „Schocktherapie“. Der Versuchung zur Kritik an den Geschehnissen erlag sogar Karl Ulrich Mayer.297 Die Lebensverlaufsstudie – zumal die Monographie Kollektiv und Eigensinn – hätte ein Gegengewicht gegen die Sozialkritik der Wiedervereinigung bilden können, denn sie hatte längst ein ganz anderes analytisches Programm dargelegt. Aber Mayer monierte im Sammelwerk Der Vereinigungssschock, die Veränderungen der Erwerbstätigkeit und der Arbeitslosigkeit hätten den Ostdeutschen durch Entwurzelung und Verunsicherung ein kollektives, nicht hauptsächlich ein individuelles Schicksal bereitet. Sogar die zu Beginn und am Ende des Untersuchungszeitraums Erwerbstätigen hätten zahlreiche Wechsel erlebt, nämlich Branchenwechsel, Betriebswechsel und Wechsel zwischen den Berufsfeldern sowohl als soziale Aufstiege wie als soziale Abstiege. Und außerdem, so Mayer, gebe es die Wechsel bei den Älteren und den Frauen, die vielfach überhaupt keine Chancen mehr hätten: „Die Anpassung an den Strukturwandel wurde damit durch einen Mechanismus bewältigt, der aus der westdeutschen Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik wohlbekannt ist, aber dort sehr viel kleinere Personengruppen betrifft. Dieser Mechanismus trennt Insider und Outsider auf dem Arbeitsmarkt und weist Frauen und Ältere häufig den Outsidern zu“.298 Es sei in Ostdeutschland nicht einmal ein normal funktionierender Arbeitsmarkt vorhanden, sondern „das Arbeitsangebot [muss] in einem sehr hohen Maße durch staatliche Subventionsströme stabilisiert werden“. Mit anderen Worten: Dieselben Befunde wie in der Berliner Lebensverlaufsstudie wurden nun mit einem negativen Vorzeichen versehen – und so hätten die Betroffenen eben einen Vereinigungsschock erlebt. 296 Schluchter sprach nicht als Einziger vom Schock der Wiedervereinigung. Peter A. Berger behauptete eine Schockwirkung der Arbeitsmarktkrise auf die Biographien bzw. Lebensläufe der Ostdeutschen: „Vor dem Hintergrund [der] besonders ausgeprägten biographischen Sicherheits- und Stabilitätserwartungen, die sich sowohl an einer dauerhaften Einbindung in die Erwerbssphäre, aber auch an der hohen Standardisierung der Familiengründungsphase festmachen konnten, mussten die mit der Eingliederung der einstigen DDR in die Bundesrepublik verbundenen, vielfältigen (erwerbs-)biographischen Brüche zweifellos für einen großen Teil der Bevölkerung einem Schock gleichkommen, der bis heute nachwirkt“. Für beide Behauptungen, nämlich dass die biographischen Brüche wie ein Schock gewirkt hätten und dass dieser bis in das neue Jahrtausend nachwirke, blieb Berger indessen den Beweis schuldig. Peter A. Berger, Lebensläufe, Mobilität und Milieustruktur in Ostdeutschland, in: Hans Bertram und Raj Kollmorgen (Hrsg.), Die Transformation Ostdeutschlands, pp. 248 – 270; cit. p. 259. 297 Karl Ulrich Mayer, Soziale Mobilität und Erwerbsverläufe in der Transformation Ostdeutschlands, in: Schluchter und Quint (Hrsg.), Der Vereinigungsschock, pp. 336 – 365. 298 Ibid., p. 362; dort auch die nächste Zitatstelle.
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Andere Analysen der Daten aus derselben Studie setzten längst andere – positivere – Akzente. Anlässlich des Soziologentages in Halle 1995 berichteten Martin Diewald und Heike Solga299, etwa zwei Drittel der Erwerbstätigen hatten den Regimewechsel gut gemeistert. Die Flexibilität bei der Arbeitssuche sei gerade hilfreich für den Erhalt des Arbeitsplatzes (gewesen): „Betrachtet man einzelne Berufsgruppen in dieser Hinsicht, so zeigt sich die hohe Bedeutung lateraler Mobilität für den Erhalt von Arbeitsplatz und beruflichem Status besonders stark bei den Professionen: 69 Prozent behielten ihren Status im Vergleich Dezember 1989/Frühjahr 1993. 29 Prozent taten dies, indem sie auf ein und derselben Stelle blieben, aber 40 Prozent, indem sie die Stelle wechselten“.300 Diewald und Solga sahen Gemeinsamkeiten zwischen Ost und West bei der Berufsorientierung, insbesondere die „berufsfachliche Strukturierung“301 des Beschäftigungssystems in Ost und West. Darin liege eine Kontinuität, was die Übergänge, wie sie berichteten, zu meistern half: „[Es muss] Kontinuität stiftende Mechanismen geben, die eine Verbindung zwischen der Statuszuweisung in der DDR und derjenigen in der Bundesrepublik herstellen können. Wir haben bereits die Vermutung ausgesprochen, daß der Schlüssel dafür in der berufsfachlichen Strukturierung beider Beschäftigungssysteme liegen könnte“. Die Schlussfolgerung: Der Strukturwandel habe vielleicht keine Schockwirkung (gehabt) – denn die ehemaligen DDR-Bürger hatten die Herausforderung offenbar gemeistert: „Es genügt nicht, nur auf das ‚Überstülpenʻ von Institutionen West auf eine in dieser Hinsicht irrelevant werdende, sich anpassende Ausgangsstruktur Ost zu verweisen. Die Transformation wird nicht nur durch die Unterschiede zwischen den beiden Teilen Deutschlands und die Asymmetrie ihrer Beziehung zueinander geprägt, sondern zumindest in dem hier untersuchten Teilbereich auch durch ihre Gemeinsamkeiten“.302 In anderem Zusammenhang analysierte Solga die Elitenrekrutierung für Ostdeutschland als Teil der Demokratisierung nach 1989/1990.303 Der Transformationstypus der Inkorporation wie in Ostdeutschland, so Solga, mobilisiere „auch externe Ressourcen“.304 Richter, Ärzte, Politiker, Wissenschaftler, Unternehmer etc. der „alten“ Bundesländer hätten für die Positionen in Ostdeutschland bereit gestanden. Aber, so Solga, bis 1993 waren 68 der 92 befragten hochqualifizierten ostdeutschen Angestellten der oberen Dienstklasse in ihrer gesellschaftlichen Lage verblieben bzw. nahmen nun äquivalente Statuspositionen ein – mithin waren 74 Prozent nicht aus ihrer gesellschaftlichen Elitenposition vertrieben worden. Demge299 Martin Diewald und Heike Solga, Ordnung im Umbruch? Strukturwandel, berufliche Mobilität und Stabilität im Transformationsprozess, in: Gesellschaften im Umbruch. Verhandlungen des 27. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Halle an der Saale 1995, pp. 259 – 274. 300 Ibid., p. 266. 301 Ibid., p. 268; dort auch die nächste Zitatstelle. 302 Ibid., pp. 271 – 272; Hervorhebung im Original. 303 Heike Solga, Der Elitenimport nach Ostdeutschland. Transformationstypen und Veränderungen in der Elitenrekrutierung, in: Martin Diewald und Karl Ulrich Mayer (Hrsg.), Zwischenbilanz der Wiedervereinigung. Strukturwandel und Mobilität im Transformationsprozess, Opladen: Leske und Budrich 1996, pp. 89 – 110. 304 Ibid., p. 93; Hervorhebung im Original.
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genüber gelang der Statuserhalt nur 31 der untersuchten 70 Leitungskader – nur 44 Prozent der politisch belasteten, in der (ehemaligen) DDR Privilegierten waren nun in die neue Struktur statusäquivalent integriert.305 Die Lücken füllten allemal die Westdeutschen durch „Elitenimport“. Man sah: „Unter denjenigen, die sich 1993 nicht mehr in einer Dienstklasse-Position befanden, waren vor allem jene, die 1989 eine Leitungsposition ausübten und/oder die 1989 systemloyal waren“.306 Das meritokratische Prinzip, so Solga, begünstige langfristig die Ostdeutschen. Nur kurzfristig hätten die Westdeutschen einen Bonus: „[Es] besteht hier meiner Meinung nach – aus der Warte der ostdeutschen Bevölkerung – auch ein Grund für Optimismus. Denn, wenn sich der Elitenimport zum Teil auch aus dieser Begründung speist (dem meritokratischen Prinzip, UG), dann ist es nur eine Frage der Zeit, bis der Lern- und Integrationsprozeß in Ostdeutschland dazu führt, dass die ost-west-differenzierende Wirkung des meritokratischen Allokationsprinzips an Wirksamkeit verliert“307 – also (ehemals) Ostdeutsche genauso wie (ehemals) Westdeutsche am Gesellschaftsleben, wo das meritokratische Prinzip gilt, auf gleicher Augenhöhe teilnehmen. Dass ein Prozess des allmählichen Übergangs stattfand, legten andere Autoren ebenfalls nahe. Es war kein Oktroi von Institutionen, sondern die Demokratisierung durch den Rechtsstaat, die Gewaltenteilung, die staatlich nicht reglementierte Industrie bzw. Wirtschaft etc. geschah mit einer von vornherein nicht fest absehbaren Zeitdimension. Die ostdeutsche Bevölkerung war nach einem – falls überhaupt nachweisbaren – Vereinigungsschock nicht allein gelassen oder sich selbst überlassen. Zapf vermerkte in seinen Überlegungen zur Transformation, dass es um allmähliche prozessuale Inkorporation der Institutionen in die Struktur Ostdeutschlands ging: „In Ostdeutschland ist die Transformation ein Transfer fertiger Institutionen, die aber bereits im Prozeß ihrer Übertragung ihre Wirksamkeit beweisen müssen, was die Implementationsprobleme verschärft. Marktwirtschaftliche Mechanismen sollen wirksam werden, aber sie werden staatlich (von der Treuhand) in Gang gesetzt. Rechtsstaatliche Prinzipien sollen gelten, aber die Vergangenheit der DDR kann nicht einfach unter bundesrepublikanisches Recht gestellt werden“.308 Mit anderen Worten: Die Analyse, so forderte Zapf von der Soziologie, müsse den Prozess der Modernisierung sehen. Das Theorem der Modernisierung stelle Begriffe bereit, um das Transformationsgeschehen als langfristigen Strukturwandel im Systemwechsel zu erfassen. Das Zerrbild der Übertragung westdeutscher Institutionen auf Ostdeutschland sei naiv. Wird der Strukturwandel als langfristiger Vorgang der sukzessiven Aneignung von demokratischen Lebensverhältnissen und Mentalitäten verstanden, kommt die Einheit Deutschlands anders als in den KSPW-Berichten 1 und 2 ins Blickfeld. Wenn die Zeitdimension der Vereinigung ab 1989/1990 gesehen wird, kann das wechselseitige Hin und Her zwischen West- und Ostdeutschland gewürdigt werden. 305 306 307 308
Ibid., p. 96. Ibid., p. 103. Ibid., p. 105. Wolfgang Zapf, Die Transformation in der ehemaligen DDR und die soziologische Theorie der Modernisierung, in: Zapf, Modernisierung, Wohlfahrtsentwicklung und Transformation, p. 134.
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Die Integration der Gesellschaft(en) Deutschlands wird zum Thema. Und die – also dieselbe – nationale Identität der Deutschen in Ost und West, wie sie im Einigungsprozess entstand oder wirksam wurde, kann erforscht werden. Integration und Identität sind Begriffe der Parsonsʼschen Gesellschaftstheorie. Sie helfen die Ergebnisse der Transformationsforschung zu verstehen. Die Integration der modernen Gesellschaft, so Parsons, zeigt sich an den Wertorientierungen, welche typisch sind bei den dabei relevanten, verschiedenen Typen der Sozialstruktur.309 Die Wertorientierungen Universalismus und Achievement (individualistische Leistungsorientierung) – so Parsons – kennzeichnen die moderne Industriegesellschaft. Aber sowohl die Wertorientierungen Universalismus und Askription (kollektivistische Verteilungsorientierung nach Personmerkmalen) als auch die Wertorientierungen Partikularismus und Achievement oder Partikularismus und Askription sind ebenfalls strukturbildend, wenngleich für andere Gesellschaftstypen; sie beherrschen die nicht-moderne Industrie- bzw. Arbeitsgesellschaft oder auch insgesamt eine vormoderne Gesellschaft. Wertorientierungen jeglicher Art stehen für die Integration einer Gesellschaft, denn ihnen entsprechen die Handlungsnormen und auch die Einstellungen der Handelnden. Das Thema Werte und Wertewandel stellte sich Heiner Meulemann für Deutschland vor und nach der Wiedervereinigung.310 Er interpretierte Umfragedaten aus West und Ost für die Zeit vor und nach 1989/1990. Er berief sich für das Verhältnis zwischen Werten, Wertewandel und der nationalen Identität auf die Arbeiten des Ethnologen Clyde Kluckhohn.311 Dieser hatte – worin ihm Parsons folgte312 – Werte als die „Vorstellungen des Wünschbaren“313 bestimmt, nicht etwa die tatsächlichen Wünsche oder Zwecksetzungen der Handelnden: „Werte sind also für den Zusammenhalt der Gesellschaft entscheidend; oder in der soziologischen Fachsprache ausgedrückt: Werte sind ein Mechanismus der sozialen Integration“. Meulemann wählte zur Untersuchung vier Werte – Gleichheit, Leistung, Mitbestimmung und Akzeptanz. Er fragte nach dem Wertewandel im Zeitaufriss seit der Nachkriegszeit – erstens der „alten“ Bundesrepublik bis 1989/1990, mit den sechziger 309 Zum folgenden: Talcott Parsons, The Social System, Chapters III-V (pp. 68 – 200), insbesondere Chapter V, pp. 180 – 200. 310 Heiner Meulemann, Werte und Wertewandel. Zur Identität einer geteilten und wieder vereinten Nation, München: Juventa 1996. 311 Der Schlüsseltext war: Clyde Kluckhohn, Values and Value Orientations in the Theory of Action: An Explanation in Definition and Classification, in: Talcott Parsons / Edward A. Shils (eds.), Toward a General Theory of Action, Cambridge MA: Harvard University Press 1951, pp. 388 – 434. 312 Parsons leitete die zehnköpfige Diskussionsgruppe im Frühjahr und Sommer 1951, die eine Handlungstheorie im Schnittfeld zwischen Soziologie, Psychologie und Ethnologie suchte, woraus der Sammelband Toward a General Theory of Action entstand. Dort wurden die fachspezifischen Begriffshorizonte nebeneinander gestellt und nur gelegentlich auch miteinander verzahnt. Der einzige verbürgte Punkt der Annäherung zwischen den verschiedenen Disziplinen war, dass Kluckhohns Bestimmung der Werte durch den Soziologen Parsons in seinem gesamten weiteren Werk übernommen wurde. 313 Siehe dazu Kluckhohn, der von der „conception of the desirable“ (nicht „the desired“) sprach; dazu Meulemann, Werte und Wertewandel, p. 48; dort auch die nächste Zitatstelle.
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Jahren als Zäsur, zweitens der DDR, deren Staat per Eingriffen in das Gesellschaftsgeschehen den Wertewandel eher behindert hatte, und drittens der Wiedervereinigung (bis 1995), wo nunmehr eine Annäherung oder auch eine Auseinanderentwicklung zwischen Ost und West stattfand. Die vier Werte wurden durch Befragungsdaten (möglichst) per Zeitreihen dokumentiert: sie waren folgendermaßen operationalisiert: Gleichheit hieß Chancengleichheit, Gleichbehandlung und Gerechtigkeit, allemal Ablehnung von Ungleichheit in den Lebenschancen unterschiedlicher Bevölkerungsgruppierungen; Leistung hieß Selbstverwirklichung durch Arbeit statt der Lust, das Leben (auch) zu genießen, im Beruf und/oder der Familie; Mitbestimmung hieß Vertrauen in die Institutionen der Öffentlichkeit, auch Engagement für die Politik und Identifikation mit der Demokratie; und Akzeptanz hieß Hinnahme oder Abwendung von Institutionen wie den Kirchen und/oder Glaube an die Moralität oder Skepsis gegenüber den Moralitätsgrundsätzen wie etwa paradigmatisch dem Wert des Lebens in der Einstellung zur Abtreibung. Meulemann schilderte die „alte“ Bundesrepublik als eine Gesellschaft des Wertewandels, hin zu mehr Gleichheit und Mitbestimmung und weg von Leistung und Akzeptanz.314 Die DDR war demgegenüber eine Gesellschaft der festgeschriebenen Gleichheit und Leistung und der eher geringeren Mitbestimmung und Akzeptanz.315 Die Veränderungen nach 1989/1990316 erlaubten eine „Strukturhypothese“ und eine „Verzögerungshypothese“.317 Die „Strukturhypothese“: Die gesellschaftlichen Strukturen West- und Ostdeutschlands hätten soviel Eigengewicht, dass eine Annäherung der Werthorizonte der beiden Teile Deutschlands be- oder gar gänzlich verhindert wäre. Die „Verzögerungshypothese“: Die Umwandlung der DDR zu einem Stück demokratischen Deutschlands sei langfristig zu sehen. Die Zeitreihen der Befunde, die diese beiden Hypothesen entweder stützten oder entwerteten, wurden in Meulemanns sorgfältiger Analyse getrennt für Gleichheit, Leistung, Mitbestimmung und Akzeptanz ausgewertet. Gleichheit – trotz der forcierten Gleichheitsideologie der DDR – sei letztlich in Westdeutschland stärker verinnerlicht. Die Bürger Ostdeutschlands näherten sich nur langsam an: „Daß die Ostdeutschen der Chancengleichheit mißtrauen und an der Ergebnisgleichheit hängen, resultiert daraus, daß Lehren der politischen Sozialisation in der DDR durch Erfahrungen der Transformation bekräftigt werden“.318 Leistung für die Ostdeutschen sei nach der Vereinigung eher deutlicher, was sie (zunehmend) von den Westdeutschen unterscheide, die das persönliche Leben stärker akzentuierten. Mitbestimmung als Vertrauen in die Demokratie gebe es im Osten noch wenig, auch die eigenen Teilnahmechancen würden gering(er) eingeschätzt, doch der Egalitarismus im Privatleben sei deutlich: „Das Erziehungsziel Autonomie findet durchgängig im Westen, die Gleichheit der Geschlechter überwiegend im Osten mehr Anhängerschaft; in der Erziehung ist der Egalitarismus im 314 Dazu die Kapitel 3 und 4, „Wertewandlungen in der alten Bundesrepublik“, pp. 71 – 134 und „Kulturelle Teilhabe und Wertewandel“, pp. 135 – 176. 315 Dazu das höchst instruktive Kapitel 5 „Wertewandel in der DDR“, pp. 176 – 267. 316 Dazu das Kapitel 6 „Werte in der neuen Bundesrepublik“, pp. 268 – 397. 317 Die beiden Hypothesen werden pp. 269 – 271 einander gegenüber gestellt. 318 Ibid., p. 286.
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Westen durchweg, in der Partnerbeziehung im Osten überwiegend stärker“.319 Akzeptanz heiße geringe Religiosität im Osten, hingegen höhere Moralität als im Westen. Eine religiöses Selbstverständnis hätten im Osten ein Viertel, im Westen die Hälfte der Bürger. Aber an den technischen Fortschritt glaubten 59 Prozent der Ostdeutschen gegenüber 43 Prozent der Westdeutschen (1990), und an die Gesetze der Natur 49 Prozent gegenüber 31 Prozent (1992).320 Den Geschlechtsverkehr bei Minderjährigen billigten 73 Prozent im Osten und 60 Prozent im Westen, die Abtreibung 79 Prozent im Osten gegenüber 60 Prozent im Westen – um einige Werthaltungen zu nennen.321 Die Entwicklung zwischen Ost- und Westdeutschen, so Meulemann, bedeute nicht nur Annäherung, sondern mindestens auf zwei Wertdimensionen auch Distanzierung. Das sei nicht bedenklich, denn der Prozess des Wertewandels im Osten und im Westen sei keineswegs abgeschlossen.322 Und die Vergangenheit in der DDR sei für viele Ostdeutsche etwas Positives, was als Wertewandel nach vorn weise: „Die Zufriedenheit der Ostdeutschen mit der neuen, ihnen zunächst fremden ‚westlichenʻ Sozialverfassung wächst also. Unzufriedenheit kann nicht hinter der wachsenden Distanzierung der Werte in Ostdeutschland stehen. Der Transformationseffekt sollte nicht nur eine negative, sondern eine positive Basis haben; er sollte sich nicht nur aus der Erfahrung mit den neuen Lebensbedingungen, sondern auch aus dem Rückblick auf die eigene Geschichte ergeben“323 – was die untersuchten Materialien jedenfalls nahe legten. Meulemanns komplexes Bild war ein Lichtblick. Er malte kein Defizitszenario, sondern hielt die Stränge der vielschichtigen Entwicklung(en) – per Interpretation empirischer Materialien – gegen einander. So wurde die Integration der Gesellschaft Deutschlands zum Thema. Ein Prozess der Integration, der noch im Gange war, wurde anhand von Zeitreihen für die Wertvorstellungen sichtbar. Die Identität in der pluralen demokratischen Welt war das zweite Hauptthema der Diskussion über die Wiedervereinigung Deutschlands, das an Parsonsʼ Überlegungen der sechziger Jahre anknüpfte. Parsons hatte die Identität in modernen Gesellschaften mit der Ausdifferenzierung pluraler institutioneller Strukturen verbun319 320 321 322
Ibid., p. 332. Ibid., p. 344. Ibid., p. 361. Die ungewisse Zeitdauer solchen Wertewandels unterstrich Manfred Kuechler, der in den USA lebt, im Tagungsband einer im Jahr 1997 in Köln veranstalteten Konferenz Die ‚innere Mauerʻ – eine Herausforderung an die Wertwandelsforschung nach der deutschen Wiedervereinigung. Kuechler vermerkte, dass in den USA, wo die Gleichstellung der Schwarzen in den sechziger Jahren erfolgt war, nunmehr 49 Prozent der Schwarzen fanden, die Rassen würden gleichbehandelt, was indessen 76 Prozent der Weißen fanden. Im Jahr 1968 hatten nur 26 Prozent der Schwarzen sich gleichbehandelt gefunden. Allerdings waren in den neunziger Jahren 58 Prozent der Weißen und 54 Prozent der Schwarzen überzeugt, zwischen den Rassen werde es immer Probleme geben. Dazu: Manfred Kuechler, Vereint und doch getrennt? In: Heiner Meulemann (Hrsg.), Werte und nationale Identität im vereinten Deutschland. Erkenntnisansätze der Umfrageforschung, Opladen: Leske und Budrich 1998, pp. 291 – 300, insbesondere p. 292. 323 Meulemann, Werte und Wertewandel, p. 381.
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den.324 Eine nationale Identität neben der regionalen, ethnischen, beruflichen etc. Identität sei ubiquitär, und jede Identifikation habe offenkundig dabei für den Handelnden die Bedeutung einer anderen Bezugsgruppe. Die Identifikationen wirkten wie konzentrische Kreise – Identität heiße eigentlich Identitäten, die einander nicht ausschließen. Gisela Trommsdorff und Hans-Joachim Kornadt diskutierten die Identität der Ost- und Westdeutschen unter der Begriffsperspektive der „inneren Einheit“.325 Im follow-up der KSPW-Berichte zogen sie Bilanz: „Mit Blick auf die deutsche Situation stellt sich auch zehn Jahre nach Vollzug des Staatsvertrages immer noch die Frage, ob mit der staatlichen Vereinigung und den damit vor allem in Ostdeutschland vorhandenen Transformationsprozessen auch eine ‚innere Einheitʻ erreicht ist“.326 Die Problematik hatte drei Facetten. Gab es eine „innere Einheit“, also gemeinsame Identifikationen der Ost- und Westdeutschen, zehn Jahre nach der „Wende“? Es ging um mehr als „die Ähnlichkeit oder Gleichheit zahlreicher objektiver Merkmale (z. B. wirtschaftliche Bedingungen, berufliche Orientierung, Bildungssystem und -chancen etc.)“327: „Alle Mitglieder einer Gruppe müssen sich durchaus zugehörig fühlen, auch wenn sie ihr unfreiwillig angehören“. Die „subjektive Wahrnehmung und Deutung der Lebensumstände“ war wichtig. Ein Stück Vereinigungsprozess war allemal geschafft: „So sind Schule und Hochschulsystem und die damit gegebenen Chancen in West- und Ostdeutschland gleich, der geringeren Überlast wegen in den ostdeutschen Hochschulen sogar vielfach besser; das Sozialsystem bietet für Kranke, Rentner, Arbeitslose ebenfalls die gleiche Sicherung; Frauen haben in den neuen Ländern sogar durchschnittlich ein höheres, Männer im allgemeinen ein gleich hohes Rentenniveau wie in den alten Ländern. Die bei der Wende sehr schlechte Infrastruktur (z. B. Straßen, Telekommunikation, Hotels und Dienstleistungen) ist inzwischen eher besser als im Westen, weil stärker modernisiert. Dagegen ist die wirtschaftliche Produktivität im Osten noch immer erheblich geringer. … Insgesamt gesehen haben sich die objektiven Lebensbedingungen der Bevölkerung in Ostdeutschland trotz der Schwierigkeiten auf dem
324 Siehe dazu: Talcott Parsons, The Principal Structures of Community: A Sociological View, in: Carl J. Friedrich (ed.), Community, New York: Liberal Arts Press 1959, pp. 152 – 179; Ders., The Nature of American Pluralism, in: Theodore R. Sizer (ed.), Religion and Public Education, Boston: Houghton Mifflin 1967, pp. 249 – 261; Ders., The System of Modern Societies, Indianapolis: Bobbs Merrill 1971; Ders., Some Theoretical Considerations on the Nature and Trends of Change of Ethnicity, in: Nathan Glazer / Daniel Moynihan (eds.), Ethnicity: Theory and Experience, Cambridge: Harvard University Press 1975, pp. 53 – 83. Siehe auch: Uta Gerhardt, Parsonsʼs Analysis of Societal Community, in: A. Javier Trevino (ed.), Talcott Parsons Today, pp. 177 – 222; Dies., Talcott Parsons – An Intellectual Biography, New York: Cambridge University Press 2002, insbes. pp. 225 – 260. 325 Gisela Trommsdorff und Hans-Joachim Kornadt, Innere Einheit im vereinigten Deutschland? Psychologische Prozesse beim sozialen Wandel, in: Hans Bertram und Raj Kollmorgen (Hrsg.), Die Transformation Ostdeutschlands, pp. 365 – 388. 326 Ibid., pp. 366 – 367. 327 Ibid., p. 368; dort auch die nächsten drei Zitatstellen. Hervorhebung im Original.
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Arbeitsmarkt deutlich verbessert“.328 Es zählten die „subjektiven Merkmale“329, die „subjektive Zufriedenheit“330, die „gegenseitige Wahrnehmung“ und die „Intergruppenbeziehungen“ zwischen Ost und West331 und schließlich eben die „gemeinsame soziale, politische und nationale Identität“.332 Das Ergebnis: „Obwohl sich Ost- und Westdeutsche nach wie vor als Angehörige verschiedener sozialer Gruppen wahrnehmen und dabei jeweils negative Merkmale bei der anderen Gruppe akzentuieren, bestehen aber doch erhebliche Gemeinsamkeiten in der sozialen Identität. So sehen sich Ost- und Westdeutsche in erster Linie als Deutsche und nicht in erster Linie als Ost- oder Westdeutsche. Allerdings ist der Anteil unter den Ostdeutschen immer noch niedriger (68%) als unter den Westdeutschen (80%)“. Mit anderen Worten: Es gab – wieder gemeinsam – eine nationale Identität, und viele „Bürger der ehemaligen DDR [fühlten sich] zunehmend als Bürger des vereinigten Deutschland“ – was bestens miteinander zu vereinbaren war. Die (ehemals) Westdeutschen fühlten sich zu achtzig Prozent vor allem als Deutsche, auch bei ihnen lag kein Widerspruch darin, dass sie außer Deutsche eben auch noch (ehemals) Westdeutsche waren. Die zweite Facette waren die methodologischen Vorannahmen der soziologischen Transformationsforschung: „[D]ie Schwierigkeit [ist], daß die Umfrageforschung immer Aussagen aufgrund von Aggregatdaten macht, d. h. sie beziehen sich immer auf Personengruppen. Aggregatdaten lassen aber streng genommen keine Aussagen über die Veränderung oder Stabilitäten von Merkmalen zu, auch dann nicht, wenn die Untersuchung mehrmals zu verschiedenen Zeitpunkten wiederholt wird“.333 Mit anderen Worten: Studien zur Transformation, die auf Umfragedaten beruhten, waren oftmals nutzlos, weil sie ihre Stärken nicht erkannten, und die Interpretationen, die aus den Kollektivdaten auf Individualmerkmale schlossen, waren sinnlos. Die dritte Facette war das „mechanistische Menschenbild“ vieler Studien.334 Die „ethnozentrische Sichtweise“ werde durch sozialpolitisches Engagement teilweise verdeckt.335 Die Vernachlässigung von Wechselbeziehungen zwischen Ost und West – längst war jedenfalls zwischen Nord und Süd in Deutschland ein nor328 329 330 331 332 333
Ibid., pp. 369 – 370. Ibid., pp. 371 – 372. Ibid., pp. 372 – 374. Ibid., pp. 374 – 376. Ibid., pp. 376; dort auch die nächsten zwei Zitatstellen. Ibid., p. 378. Trommsdorff und Kornadt bemerkten zu Recht, dass das SOEP diese methodologische Schwäche nicht aufwies. Zugleich monierten sie zu Recht, dass die Interpretationsspielräume des SOEP, welches eine Zufallsstichprobe anbot und eine Panelerhebung darstellte, in den Auswertungen des SOEP nicht genutzt wurden. So musste selbst für das SOEP, die methodisch einzig verlässliche Grundlage für Aussagen über Werthaltungen und Einstellungen im Zeitaufriss, die Einschränkung gelten, dass die „Umfrageergebnisse allein wenig aussagekräftig für eine genauere Analyse der subjektiven Erlebnisweisen, Bewertungen und handlungswirksamen Einstellungen“ sind. (ibid.) 334 Ibid., pp. 379 – 380. 335 Ibid., pp. 380 – 381.
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males gesellschaftliches Gefälle dokumentiert – mochten zukünftige Forschungsprogramme wettmachen.336 Individuelle Differenzen und Teilgruppen würden bei einer besseren Berücksichtigung der einzelnen gesellschaftlichen Themen in Ost und West überhaupt erst systematisch erfasst. Wohlfeile Vorbeurteilungen in der bis dato vorherrschenden Forschung verdeckten die beobachtbaren Sachverhalte: Ausgerechnet die PDS sei ein Paradebeispiel für Integration, die die partiellen Identitäten der „neuen“ Bundesbürger bündele: „Einerseits sammeln sich in [der SEDNachfolgepartei PDS] alte SED-Anhänger, die die ‚Verliererʻ der Einigung sind, und sie spricht auch andere an, die aufgrund der durch die Einheit eingetretenen Frustrationen, Enttäuschungen oder Benachteiligungen eher negative Einstellungen zur Einheit haben. Soweit sie sich jedoch als Partei der Bundesrepublik etabliert, in Gemeinden und Landesregierungen beteiligt, aber auch als Opposition Mißstände berechtigterweise kritisiert, wird sie auch im Bewußtsein der Öffentlichkeit ein Teil der öffentlichen Institutionen des vereinigten Deutschland sein und somit auch eine einigungsfördernde Kraft“.337 Der Schlusssatz des Aufsatzes von Trommsdorff und Kornadt sprach den zweiten – größeren – Integrationsprozess im vereinigten – sich vereinigenden – Deutschland an. Von Anfang an und parallel zum Prozess der „inneren Einheit“, so musste man sehen, gab es Europa. Erst recht 2002, als „der EURO statt der bewährten DM“338 kam, waren die Ost- und die Westdeutschen ‚nur nochʻ Deutsche in der – sich dramatisch erweiternden – EU: „[D]as partielle Aufgehen Deutschlands in Europa [wird] notwendigerweise eine stärkere Betonung regionaler Identitäten zur Folge haben, eine Entwicklung, die zum Teil bereits in Gang ist. Das könnte aber auch die bisherige globale Ost-West-Stereotypisierung zur Auflösung bringen und vielleicht mehr Gemeinsamkeiten als Trennungen über die Regionen hinweg (z. B. Hessen und Thüringen) fördern. Um so leichter könnten sich Ost- und Westdeutsche in Europa gemeinsam als Deutsche und gemeinsam als Europäer fühlen. Eine solche Entwicklung ist keineswegs unwahrscheinlich, zumal sie an historische und kulturelle Wurzeln anknüpft“. Das Problem Europa wurde zwar diskutiert – allerdings ohne das Wechselverhältnis zwischen der Wiedervereinigung Bundesrepublik Deutschland und ihrer Integration in die sich erweiternde Europäische Union zu thematisieren, anlässlich des 26. Deutschen Soziologentages in Düsseldorf 1992.339 Aber weil dabei die aktuelle Problematik des ‚neuenʻ Deutschland nicht gesehen wurde, wurde eine Chance der soziologischen Diskussion verpasst. Zusammenfassend: Die Transformation Ostdeutschlands war ein Systemwechsel vom charismatischen – zum Parteipatrimonialismus veralltäglichten – Regime zu einer rational-legalen Herrschaft durch den Rechtsstaat, die parlamentarische 336 337 338 339
Ibid., pp. 382 – 383. Ibid., p. 384. Ibid., p. 385; dort auch die nächste Zitatstelle. Siehe: Deutsche Gesellschaft für Soziologie, Lebensverhältnisse und Konflikte im neuen Europa. Verhandlungen des 26. Deutschen Soziologentages in Düsseldorf. Herausgegeben im Auftrag der Deutschen Gesellschaft für Soziologie von Bernhard Schäfers, Frankfurt a. M.: Campus 1993.
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Demokratie und die soziale Marktwirtschaft. Der Systemwechsel war Strukturwandel, denn zur Sozialstruktur des charismatisch-traditionalen Regimes gehörte die Entdifferenzierung, und die rational-legale Herrschaft verlangte nunmehr die Differenzierung, nämlich die Gewaltenteilung, die Trennung von Staat und Wirtschaft etc. – und außerdem die feineren Differenzierungen, wie sie die moderne Zivilgesellschaft allemal seit den sechziger Jahren heutzutage ausmachen. Systemwechsel und Strukturwandel beurteilte die Forschungsliteratur rückblickend nach zehn Jahren. Die Bilanz war zweischneidig. Viele Autoren der neunziger Jahre behielten ihren kritischen Ton der Beurteilung der Transformation auch nach der Jahrtausendwende bei. Sie waren – mit einem Wort aus Ostdeutschland – manchmal wohl immer noch die sprichwörtlichen „Besser-Wessis“. Aber andere Autoren erfassten die Struktur- und Mentalitätsänderung, die noch längst nicht abgeschlossen war. Das bereits Erreichte war ein Zwischenstadium auf einem weiten Weg. Der Weg führte nach Europa, dabei der Einheit von Integration und Identität in einem größeren Zusammenhang. Die Ostdeutschen und die Westdeutschen gemeinsam als Deutsche waren nun eine regional, kulturell etc. eigene und doch regional, kulturell etc. vielfältige Nation im Kreis der – nunmehr seit 2007 – siebenundzwanzig Staaten. 6. ZUR SOZIOLOGIE DES SOZIALEN WANDELS SEIT 1989/1990 Über zwei Jahrzehnte von den mittleren achtziger Jahren bis in das neue Jahrtausend ist Max Weber der Star der soziologischen Theorie in Deutschland340 gewesen.341 Die Max-Weber-Gesamtausgabe (MWG), seit 1976 vorbereitet, erscheint seit 1983 und bestand im Jahr 1999 aus neunundzwanzig Bänden (weitere kamen seither hinzu). Auch Georg Simmel wurde in den achtziger Jahren wieder „entdeckt“. Die Gesamtausgabe (GSG), seit 1989 auf vierundzwanzig Bände angelegt, wovon bis 1999 dreizehn erschienen, wird 2010 abgeschlossen. Als die DDR zusammenbrach und in wenigen Jahren die moderne Welt bis hinter den Ural reichte, nutzten die Soziologen die große Chance nicht, die Transformation – also Systemwechsel und Strukturwandel – mit den Begriffen Webers 340 Wichtige Werke der Rezeption waren: Wolfgang Schluchter, Religion und Lebensführung, 2 Bände, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1988; Johannes Weiß (Hrsg.), Max Weber heute. Erträge und Probleme der Forschung, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1989; M. Rainer Lepsius, Interessen, Ideen und Institutionen, Opladen: Westdeutscher Verlag 1990; Lepsius, Demokratie in Deutschland, Göttingen: Vandenhoek und Ruprecht 1993; Gerhard Wagner und Heinz Zipprian (Hrsg.), Max Webers Wissenschaftslehre. Interpretation und Kritik, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1994; Schluchter, Unversöhnte Moderne, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1996. Ein dänischer Autor setzte in jüngster Zeit andere Akzente: Hans Henrik Bruun, Science, Values and Politics in Max Weberʼs Methodology, 2nd enlarged and revised edition, Aldershot: Ashgate 2007. 341 In diese zwei Jahrzehnte fiel zudem die „Entdeckung“ einer „Weberianischen“ Soziologie in den USA, angefangen bei Randall Collinsʼ Weberian Sociological Theory (erschienen 1986) bis hin zu Alan Fines Bibliographie über amerikanische Arbeiten zu Max Weber, die im Jahr 2004 über viertausend Titel auflistete.
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und Simmels zu erfassen. Viele dachten, die Theorie der Gesellschaft hätte versagt. Weil die dramatischen Ereignisse nicht hatten vorausgesagt werden können, schien die soziologische Theorie obsolet. Man kann die Gesellschaftsvorgänge seit 1989/1990 unter einer Weber-SimmelParsonsʼschen Begriffsperspektive sehen. Webers Herrschaftssoziologie und Simmels Philosophie des Geldes sind die hauptsächlichen Bezugshorizonte. Parsonsʼ Systemtheorie der dreißiger bis fünfziger Jahre lässt sich auf Webers Herrschaftssoziologie beziehen. Parsonsʼ Theorem der Modernisierung der modernen Industriegesellschaft passt zu Simmels Differenzierungstheorem in Philosophie des Geldes. Mein Brückenschlag zwischen der Simmel-Weber-Parsonsʼschen Theorie und den Forschungen und Analysen des sozialen Wandels nach 1989/1990 soll abschließend die Klassik noch einmal ins Spiel bringen – gerade zum Verständnis des Neuen im wiedervereinigten Deutschland. Weber in Wirtschaft und Gesellschaft entwickelte die Herrschaftssoziologie, wie sie Parsons verwendete, um den Übergang vom NS-Regime zur Demokratie und – in The Social System – die Machtergreifung der Nationalsozialisten (den Übergang von einer rational-legalen zur charismatischen Herrschaft) und den Sowjetkommunismus (die Veralltäglichung der charismatischen zu einer traditionalen Herrschaft) zu fassen. Die Weberʼschen Erläuterungen zu den drei „reinen“ Typen der legitimen Herrschaft und acht weiteren Typen legitimer Herrschaft können den Systemwechsel und Strukturwandel in Ostdeutschland bzw. Deutschland nach 1989/1990 neu beleuchten. Pollack sah die DDR – retrospektiv vom Zusammenbruch her – als (gescheiterte) Organisationsgesellschaft, ein gesellschaftliches Ganzes unter der monolithischen Führung einer Einheitspartei. Glaeßner sah eine charismatische Herrschaft, veralltäglicht zum Patrimonialismus; im Falle der DDR (und anderer ehemaliger Ostblockstaaten) war es Parteipatrimonialismus. Dazu passen Webers Überlegungen zur Veralltäglichung des charismatischen Regimes zum Traditionalismus – wobei verschiedene Formvarianten des Patrimonialismus zu unterscheiden wären: In der DDR gab es keinen Satrapensultanismus (wie im NS-Regime), sondern einen Parteipatrimonialismus; das traditionale Moment war dort nicht (wie im NSStaat) ein Pseudo-Feudalismus, sondern lag im Kollektivismus bzw. Konformismus, wobei die Regimeloyalität ein ‚normalesʻ Alltagsleben ‚erkaufenʻ mochte. Kohli, der auf Weber verwies, sprach von der DDR als einer Gesellschaft „(fast) ohne Besitzklassen“ – auch dies ein Hinweis auf die besondere Art Patrimonialismus in der DDR. Hinsichtlich Wirtschaft wusste Weber, das charismatische Regime war „spezifisch wirtschaftsfremd“342 – eine Charakterisierung, die Parsons stets in Deutsch 342 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 4. Auflage, herausgegeben von Johannes Winckelmann, Tübingen: J. C. B. Mohr 1956, p. 142. Weber schrieb über „reines Charisma“ als Herrschaftsform: „Reines Charisma ist spezifisch wirtschaftsfremd. … Der Kriegsheld und seine Gefolgschaft suchen Beute, der plebiszitäre Herrscher oder charismatische Parteiführer materielle Mittel ihrer Macht… Was sie alle verschmähen – solange der genuin charismatische Typus besteht – ist: die traditionale oder rationale Alltagswirtschaft, die Erzielung von ‚regulärenʻ Einnahmen durch eine darauf gerichtete kontinuierliche wirtschaftliche Tätigkeit.“
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zitierte, wenn er das Regime aus Charisma und Ritual in Nazideutschland meinte.343 Srubar, der die Frage nach der Modernität des „realen Sozialismus“ aufwarf, kam zu der Schlussfolgerung, die Wirtschaft in den Ostblockstaaten (inklusive der DDR) sei vormodern im Sinne Webers gewesen. Dem wirtschaftlichen Gebaren, so Srubar, fehlten die Marktorientierung und außerdem die Kalkulierbarkeit der Abläufe – ganz zu schweigen von jener Rechenhaftigkeit der Tauschbeziehungen, wie sie Weber für eine rationale Wirtschaftsform unverzichtbar fand.344 Kohli fragte, inwiefern die DDR eine Arbeitsgesellschaft gewesen sei. Vor allem in den letzten zwei Jahrzehnten ihrer Existenz, als die SED eine großindustrielle Planwirtschaft dekretierte, habe die DDR systematisch zu einer Arbeitsgesellschaft gemacht werden sollen. Diese Analysen ergeben eine Hypothese.345 Das Weber-Parsonsʼsche Theorem, dass ein charismatisches Regime „spezifisch wirtschaftsfremd“ ist, und die These, dass die DDR in der Konkurrenz mit der Bundesrepublik sich zu einer Arbeitsgesellschaft entwickeln wollte, ergeben eine plausible Hypothese. Das unaufhaltsame Scheitern der DDR (und anderer osteuropäischer Sozialismen) in den späten achtziger Jahren wäre verstehend zu erklären, wenn man sieht, dass das „spezifisch wirtschaftsfremde“ Regime – bzw. die zum Parteipatrimonialismus veralltäglichte charismatische Herrschaft – ausgerechnet eine Arbeitsgesellschaft sein wollte oder sollte. Man kann vermuten: Die DDR und die anderen COMECON-Staaten mühten sich an einem Sisyphos-Projekt ab. 343 Talcott Parsons, The Structure of Social Action: A Study in Social Theory with Special Reference to a Group of Recent European Writers (ursprünglich 1937), New York: The Free Press 1968, p. 662. Diese Charakterisierung des NS-Regimes verwendete Parsons noch einmal in seinem Aufsatz Max Weber and the Contemporary Political Crisis aus dem Jahr 1942, wo er mit Weberʼschen Begriffen den Nationalsozialismus darstellte. Siehe: Parsons, Max Weber and the Contemporary Political Crisis, in: Talcott Parsons on National Socialism, edited and with an introduction by Uta Gerhardt, New York: Aldine de Gruyter 1993, pp. 159–188, insbes. pp. 165 – 166. Siehe dazu oben Studie II. 344 Siehe dazu: Wirtschaft und Gesellschaft, Band I: Erster Teil, Kap. II. Soziologische Grundkategorien des Wirtschaftens, dort insbesondere pp. 35 – 37 sowie pp. 38 – 58 und außerdem Zweiter Teil, Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte, Kapitel I. Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen in ihrer prinzipiellen Bedeutung, pp. 181 – 198. Siehe auch die grundsätzlichen Erwägungen zu Herrschaft und Wirtschaft im Band II: Kapitel IX. Soziologie der Herrschaft. 1. Abschnitt. Strukturformen und Funktionsweisen der Herrschaft. §1. Macht und Herrschaft. Übergangsformen – wo über Rationalität im Spannungsfeld zwischen Staat und Wirtschaft gesprochen wird. 345 Weber vermerkte, dass die Veralltäglichung des Charisma politisch „dem Streben nach Sicherung und das heißt: Legitimierung der sozialen Herrenpositionen und ökonomischen Chancen für die Gefolgschaft und Anhängerschaft“ folge. Die „Beziehungen zur Wirtschaft“, wobei stets „die Bedingungen der Wirtschaft als der kontinuierlich wirkenden Alltagsmacht“ gelten, seien ein eigenes Thema: Es müsse „einer besonderen Betrachtung vorbehalten bleiben“. Dennoch könne man sagen: „Die Präbendalisierung und Feudalisierung und die erbcharismatische Appropriation von Chancen aller Art kann in allen Fällen ihre stereotypierenden Wirkungen bei Entwicklung aus dem Charisma ganz ebenso üben wie bei der Entwicklung aus patrimonialen und bürokratischen Anfangszuständen und dadurch auf die Wirtschaft zurückwirken. Die regelmäßig auch wirtschaftlich gewaltig revolutionierende – zunächst oft: zerstörende, weil (möglicherweise): neu und ‚voraussetzungslosʻ orientierende – Macht des Charisma wird dann in das Gegenteil ihrer Anfangswirkung verkehrt.“ Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, pp. 147 – 148.
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Wenn die These über diese Vorgeschichte des Zusammenbruchs der Ostblockstaaten gilt, kann eine weitere das tatsächliche Ende des „realen Sozialismus“ beleuchten. Weber sah die Dynamik eines charismatischen Regimes im Übergang entweder zum traditionalen oder rationalen (rational-legalen) Herrschaftstypus. Er dachte indessen nicht, man könne fragen, was aus einem Regime würde, das durch Veralltäglichung des Charisma entstand. Mit anderen Worten: Der Zusammenbruch der DDR und der anderen Gesellschaften des ehemaligen Ostblocks zeigte, wie die Geschichte weitergeht, wie sie Weber im Blickfeld hatte. Wir wissen heute, die zum Parteipatrimonialismus veralltäglichten Regimes können eines Tages zusammenbrechen. Sie zerfallen; ihre Legitimität implodiert. Die Bürger entziehen dem Regime ihre Loyalität, und nichts bleibt mehr übrig vom Regierungsapparat und institutionellen Zwangsgefüge. Und man weiß auch: Im Vorfeld der Selbstauflösung des hermetischen Herrschaftsgebildes entwickeln die Bürger – vor allem die jüngeren Kohorten – eine Lebensperspektive der beruflichen Qualifikation und der Selbstverwirklichung durch ihre eigene Leistung, ein individualistisches Potential der zivilgesellschaftlichen Wertorientierungen. Diese individuellen Tendenzen wirkten in der „real“ sozialistischen Gesellschaft wie ein verborgener Sprengsatz – was die Berliner Lebensverlaufsstudie gut dokumentiert hat. So kann man wohl die Überlegungen Webers (und Parsonsʼ) ergänzen: Eine patrimonial veralltäglichte Herrschaft, wie sie Weber postulierte und Parsons am Sowjetkommunismus diskutierte, findet ihr historisches Ende in einer „samtenen Revolution“. Weber thematisierte den Systemwechsel (außer bei Veralltäglichung des Charisma) in der Herrschaftssoziologie nicht explizit. Die nicht „reinen“ Typen der legitimen Herrschaft sind allerdings geeignet, um den Übergang vom charismatischtraditionalen zum rational-legalen Herrschaftstypus ab 1989/1990 zu erfassen.346 Genauer als Webers Typenlehre ist der Neuanfang indessen mit Parsonsʼ Begriffen ergänzend zu schildern. Parsons machte Anomie zum Problem, wo die Integration einer Gesellschaft zerbricht – oder eine ganze Gesellschaft regelrecht zu existieren aufhört. Wenn – um den Ausdruck Émile Durkheims zu verwenden – die conscience collective verloren geht, da die Integrationsgrundlage einer Gesellschaft entfällt (weil die ganze Gesellschaft zerfällt), entsteht aus der identitätsbezogenen Entwurzelung eine kollektiv wirkende Aggressivität. Dies war in den dreißiger und vierziger Jahren offenkundig347 und ist bis heute eine verbürgte Erkenntnis. In der Übergangsphase der Entstehung der wiedervereinigten Bundesrepublik, einem (sich erst bildenden) rational-legalen Herrschaftsverband, war eine conscience collective zwischen Ost und West noch nicht vorhanden bzw. noch nicht ausreichend verinnerlicht. Die Gewaltakte gegen Ausländer in den frühen neunziger Jahren waren aus dieser Perspektive eine erste Reaktion – interessanterweise in beiden Teilen Deutschlands – auf das 346 Meine Argumentation in Soziologie der Stunde Null (2005): Das System des Systemwechsels im Nachkriegsdeutschland war in Webers Begriffen eine herrschaftsfremde Umdeutung des Charisma – ein „nicht“-reiner Typus der legitimen Herrschaft. Insbesondere wertrationale Aspekte standen im Vordergrund in dieser Epoche Deutschlands – anders als in der charismatisch-traditionalen und auch anders als der (angestrebten) rational-legalen Herrschaft. 347 Siehe dazu oben die Studien II und III.
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Zerbrechen der Zweistaatlichkeit. Beide deutschen Staaten, die BRD und die DDR, existierten nicht mehr wie vorher. Die Anomie unmittelbar nach dem Umbruch führte zu Aggressionspotentialen, und deren Abreaktion als Ausländerfeindlichkeit wurde in den neunziger Jahren soziologisch (und politologisch) reflektiert. Die kurzfristigen und langfristigen Übergangserscheinungen nach dem Zusammenbruch der charismatisch-traditionalen DDR wurden in den Forschungsberichten der KSPW und auch dem SOEP und den Wohlstandssurveys datenmäßig und durch interpretierende Aussagen erfasst. Die Übergangsperiode – ein System des Systemwechsels vom charismatisch-traditionalen zum rational-legalen Gesellschaftsregime – wurde dabei dokumentiert. Doch den Institutionentransfer als ein bloßes „Überstülpen“ der westlichen auf die östlichen Lebensverhältnisse, wie oft in der Literatur apodiktisch behauptet wird, hat es nicht gegeben. Es wurde ein Staatsvertrag zwischen der DDR und der Bundesrepublik geschlossen; der Einigungsvertrag wurde durch den Bundestag und den Bundesrat ratifiziert. So galten der Rechtsstaat, die parlamentarische Demokratie und die soziale Marktwirtschaft ab dem 3. Oktober 1990 in der gesamten Bundesrepublik – einschließlich des „Beitrittsgebiets“. Der Wandel der ganzen Gesellschaft hatte seit dem 9. November 1989 begonnen und war mit dem Vereinigungstermin nicht abgeschlossen. Im Gegenteil: Der Systemtypus wechselte; im Laufe der kommenden Jahre – des kommenden Jahrzehnts und teilweise bis heute – war die gesamte Struktur und waren alle Prozessabläufe neu zu gestalten bzw. in einen neuen Zusammenhang zu stellen. Die Entwicklung nach 1989/1990 war dokumentiert in den KSPW-Berichten und den Surveys. Die Modernisierungstheorie, wie sie Zapf in seiner Eröffnungsrede anlässlich des Soziologentages 1990 in Frankfurt am Main anmahnte, enthielt die Stichworte – Inklusion, Pluralisierung, Statusanhebung etc. Zapf verwies zur Absicherung auch auf Theorien des sozialen Wandels, einen Sammelband aus dem Jahr 1969 – unter seiner Herausgeberschaft – mit Texten von Parsons, Shmuel Eisenstadt, Reinhard Bendix und Karl W. Deutsch.348 Er sprach 1990 davon, man müsse Parsonsʼ Differenzierungstheorie für Deutschland „härten“. Die Schlussbemerkungen zu „postsozialistischen Gesellschaften“ im KSPW-Bericht 2 und auch andere Arbeiten verwiesen auf solche „,Härtungenʻ.“ Es ist indessen bis heute nicht ausreichend geklärt, worin die derartigen „Härtungen“ bestehen oder bestehen sollten. So bleibt noch vieles zu tun. Immerhin unterschied Zapf zwischen zwei Gesellschaftsbildern, wie sie die Transformationsforschung zugrunde legt. Auf der einen Seite wird die marxistisch begründete – oder unwillkürlich dem Marxismus nahe – Gesellschaftskritik im Diskurs über die Wiedervereinigung wieder aufgelegt. So zeichnete der KSPW-Bericht 1 ein Szenario der Entfremdung und Entwurzelung. Auf der anderen Seite ist die Modernisierung moderner Gesellschaften zu bedenken. Der KSPW-Bericht 2 wollte dies tun, geriet indessen unvermerkt in das Fahrwasser der Kritik an den Umbruchzuständen. Ungleichheit und Sozialpolitik wollte die Lebenslagen und Milieus wegen der rasanten Verschlechterung (bzw. mangelhaften Verbesserung) der Wohlstandspositionen anprangern. Das Plädoyer für Sozi348 Wolfgang Zapf (Hrsg.), Theorien des sozialen Wandels, Köln/Berlin: Kiepenheuer und Witsch 1969. Der Band enthielt keine Texte, die vor 1960 geschrieben waren.
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alpolitik verdrängte die Analyse des noch unabgeschlossenen Prozessgeschehens der Übergangszeit aus dem Arbeitsprogramm. Beide Richtungen – Zapf deutete es an – vertrugen sich nicht mit Max Webers „Wertfreiheit“. Weber hatte im Jahr 1917 in Der Sinn der „Wertfreiheit“ in den soziologischen und ökonomischen Wissenschaften349 autoritativ gegen die gesinnungsethische – und auch eine verantwortungsethische – Position oder Denkweise der Sozialwissenschaft argumentiert. Die Mahnung hat ihre Brisanz bis heute. Die Differenzierung und auch Integration der modernen Gesellschaft(en) in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, als in den USA in den sechziger Jahren eine neuerliche Modernisierung einsetzte, analysierte Parsons mit denselben Begriffen, wie sie Zapf verwendete – Pluralisierung (pluralization), Statusanhebung (upgrading) etc.350 Ein Differenzierungstheorem, das ähnliche Denkmodelle zugrunde legte, hatte auch Georg Simmel in Philosophie des Geldes vorgestellt.351 Ausgangspunkt für Simmel war, dass die Moderne die wirtschaftlichen Errungenschaften inklusive Kapitelvermögen, Kreditgeschäften sowie Finanzmärkten und dabei insgesamt bahnbrechende Veränderungen in allen Lebensbereichen brachte.352 Simmel bekundete in Philosophie des Geldes in der Vorrede, sein Werk sei gegen den Marxismus und zugleich die Nationalökonomie gerichtet: „Wenn es eine Philosophie des Geldes geben soll, so kann sie nur diesseits und jenseits der ökonomischen Wissenschaften … liegen: … Der erste Teil dieses Buches wird … das Geld aus denjenigen Bedingungen entwickeln, die sein Wesen und den Sinn seines Daseins tragen. … Die geschichtliche Erscheinung des Geldes, deren Idee und Struktur ich so aus den Wertgefühlen, der Praxis den Dingen gegenüber und den Gegenseitigkeitsverhältnissen der Menschen als ihren Voraussetzungen zu entfalten suche, verfolgt nun der zweite, synthetische Teil in ihren Wirkungen auf die innere Welt: auf das Lebensgefühl der Individuen, auf die Verkettung ihrer Schicksale, auf die allgemeine Kultur“.353 Die drei Kapitel des analytischen Teil seines 349 Max Weber, Der Sinn der „Wertfreiheit“ in den soziologischen und ökonomischen Wissenschaften (ursprünglich 1917), in: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, herausgegeben von Johannes Winckelmann, 3. Auflage, Tübingen: J. C. B. Mohr 1968, pp. 489 – 540. Siehe auch: Uta Gerhardt, Idealtypus. Zur methodologischen Begründung der modernen Soziologie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001, insbes. pp. 449 – 460. 350 Siehe dazu: Gerhardt, Talcott Parsons – An Intellectual Biography, pp. 184 – 275. 351 Um die Leistung Simmels zu würdigen, muss man die Argumentführung der Philosophie des Geldes in den sechs Kapiteln, die aus zwei Gruppierungen à drei Kapitel bestehen, genau rekonstruieren. Dabei zeigt sich zweierlei: Zum einen wollte Simmel, indem er wie Karl Marx einer dialektischen Darstellungslogik folgte, die Kapitalismusanalyse Marxʼ für die Moderne der Jahrhundertwende überholen. Zum anderen wollte Simmel wirklichkeitsadäquat die Verästelungen der Finanzwirtschaft vor dem Hintergrund des Funktionswertes des Geldes – mithin der universalen Konvertibilität von Ware in Geld trotz (oder wegen) des material nicht äquivalenten Wertes bei Papiergeld (als Banknoten ebenso wie als Kredit) – aufweisen. Siehe die Rekonstruktion der Argumentführung aus Simmels Philosophie des Geldes bei: Gerhardt, Idealtypus, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001, pp. 153 – 171. 352 Dazu auch: Gerhardt, The Two Faces of Modernity in Georg Simmelʼs Works. Unveröffentlichtes Vortragsmanuskript, Straßburg 2006. 353 Georg Simmel, Philosophie des Geldes (ursprünglich 2. Auflage 1907), Georg-Simmel-Gesamtausgabe (GSG), Band VI, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1989, p. 10.
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Werks nannte Simmel Wert und Geld, was das Subjektive der Wertbestimmung auch für ökonomische Güter betonte, Der Substanzwert des Geldes, wo der Funktionswert des Geldes herausgearbeitet wurde, und Das Geld in den Zweckreihen, wo die Quantität und die Qualität sowie die komplexen Beziehungsnetzwerke zur universellen Vermittlung von Wert durch Geld erläutert wurden. Der synthetische Teil, der die modernen Kulturzusammenhänge analysierte, behandelte Die individuelle Freiheit als eine Funktion der Differenzierung von Person und Besitz, nahm Das Geldäquivalent personaler Werte als Argument gegen Marxʼ Arbeitswertlehre, und diskutierte schließlich im Kapitel Der Stil des Lebens die individualisierende und zugleich vergesellschaftete Lebensführung, den Höhepunkt der modernen Kultur. Parsons führte diesen Gedankenstrang in den sechziger Jahren fort. Er sah nicht nur das Geld, sondern außerdem auch die politische Macht und ferner den Einfluss qua Überzeugen und außerdem die Wertloyalität als ein Interaktionsmedium an: Diese symbolischen Tauschgüter bestimmten die Interaktionsbeziehungen zwischen den Individuen in den vernetzten und zugleich spezialisierten Institutionen und den in ihnen ausdifferenzierten Rollen der heutigen modernen Gesellschaft. Diese komplexen Gedankengänge Simmels und Parsonsʼ hätten der Analyse der Wiedervereinigung viele Anregungen geben können. Im zwanzigsten Jahrhunderts – dem Zeitalter der Extreme, um den Ausdruck Eric Hobsbawms noch einmal zu verwenden – waren die Diktaturen gesellschaftliche Regimes der Entdifferenzierung, als sie die Gewaltenteilung außer Kraft setzten und die Trennung zwischen Staat und Wirtschaft aufhoben. Ab den sechziger Jahren zeichnete sich in den USA und auch in der Bundesrepublik jene Modernisierung – Differenzierung der bereits differenzierten Sozialsysteme – ab, die in den neunziger Jahren in Ostdeutschland und Ostmitteleuropa anstand. Parsonsʼ Spätwerk und Simmels Gesellschaftsphilosophie enthielten Anregungen zum Verständnis des Strukturwandels beim Systemwechsel in Deutschland. Die Modernisierung der modernen Gesellschaft war in der ehemaligen DDR nach 1989/1990 erst noch zu leisten, und dies war erforderlich jenseits einer bloß „nachholenden“ Modernisierung. Erst so konnte – oder kann – die Zivilgesellschaft entstehen, das Moderne der modernen Gesellschaft. In der Transformation hatte dies eine zentrifugale Prozessdynamik, es war die gesellschaftliche Differenzierung. Die Integration durch Identifikation war demgegenüber der parallel verlaufende zentripetale Strang des Geschehens. Die Analyse der Transformation nach 1990 fragt nach beidem, Differenzierung und Integration. Der Systemwechsel und der Strukturwandel sind parallele, gegenläufige Prozesse. Einzelne Forschungsprojekte haben dies vorbildlich erkannt. Einige Analysen bilden die absehbare Integration als eine langfristige Perspektive für die Differenzierung (Pluralisierung) ab. Die Zeitreihenanalyse Meulemanns lässt sich so verstehen. Die Überlegungen Trommsdorffs zur „inneren Einheit“ lassen sich so nachvollziehen – um zwei Beispiele zu nennen. Die Soziologie Weber und Simmels – fortgesetzt in der Theorie Parsonsʼ – ist ein reiches Feld für das Verständnis des sozialen Wandels nach 1989/1990. Abschließend könnte man die Frage stellen, warum denn empirische Analysen, wenn sie statistische Materialien und Surveydaten auswerten, überhaupt Begriffe der klassischen soziologischen Theorie verwenden sollten. Genügt es denn nicht,
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Aussagen über das Geschehen zu machen, die sich auf Ergebnisse der empirischen Forschung beziehen? Was ist falsch, wenn man das Neue und Unvorhergesehene in den Vordergrund stellt und aphoristisch einfach eine tabula rasa der soziologischen Theorie(n) behauptet? Die Antwort gab Webers Wissenschaftslehre vor etwa hundert Jahren. Weber begründete die „Objektivität“ der sozialwissenschaftlichen Erkenntnis aus der heuristischen Begriffsbildung, die für die Soziologie bindend ist.354 Ein Anspruch des Sozialwissenschaftlers bestehe nicht, die Welt der Gegenwart oder Vergangenheit als eine zu erkennen, „wie sie eigentlich gewesen“ – wie Leopold von Ranke es gefordert hatte. Die Soziologie, eine Wirklichkeitswissenschaft, setze die Begriffe, mit denen sie die Wirklichkeit begreift, entsprechend dem Erkenntnisinteresse des Forschers. Nur das perspektivische Verständnis – gerichtet auf einen bestimmten Gegenstand – gewährleiste die adäquate Erkenntnis der Wirklichkeit. Erst die Offenlegung des begrifflichen Rahmens erlaube die Nachprüfung der Befunde und ermögliche die Adäquanz der Erklärung in der Soziologie (Sozialwissenschaft).355 Diesem Monitum Webers ist nichts hinzuzufügen. Allerdings wäre wohl noch zu sagen: Es genügt nicht, sich zu Webers Gesellschaftsanalyse bloß persönlich zu bekennen; es kommt darauf an, die Weber-Simmel-Parsonsʼschen Vorgaben auch in dem eigenen Denken zu verwenden und ihre Verdienste bei der Überwindung des Positivismus zu würdigen – auch bei der Analyse heutiger Vorgänge. Am selbstverständlichen Verzicht auf Prognosen, wie Weber wusste, zeigt sich allemal die Theorie mit Wissenschaftsanspruch. Wer nach Prognosen sucht – wie nach 1989/1990, als sie nicht zu finden waren und weshalb Webers Werk sogar ein „grandioser Torso“ genannt wurde – , der gräbt nach Gold in einem Sandhaufen. In Goethes Gedicht lässt der nächtliche Schatzsucher von seinen Grabungen ab, als ihm der lichte Knabe verkündet, er selbst, der Goldgräber, könne durch saure Wochen und frohe Feste seinen Lebensunterhalt sichern. Der Soziologe, der nach Prognosen sucht und die Theorien der Klassiker zu (pseudo-)naturwissenschaftlichen Modellen nutzen will, verhält sich wie ein Schatzsucher, der unbeirrt weiter im Sand gräbt. Die Theoreme Simmels, Webers und Parsonsʼ sind eine reichhaltige Ressource für die Erklärung der Transformation Deutschlands und können dartun, dass dieser Systemwechsel ein Strukturwandel mit Phasen in einem langfristigen Transformationsgeschehen war – bzw. bis heute wohl immer noch ist.
354 Max Weber, Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis (ursprünglich 1904), in: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 3. Auflage, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1968, pp. 146 – 214. Siehe auch: Dieter Henrich, Die Einheit der Wissenschaftslehre Max Webers, Tübingen: J. C. B. Mohr 1952. 355 Siehe dazu auch: Gerhardt, Zäsuren und Zeitperspektiven. Überlegungen zu „Wertfreiheit“ und „Objektivität“ als Problemen der Wissenschaftsgeschichte, in: Rüdiger vom Bruch, Uta Gerhardt, Aleksandra Pawliczek (Hrsg.), Kontinuitäten und Diskontinuitäten in der Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts, Stuttgart: Steiner 2006, pp. 39 – 67.
VII. SCHLUSSBETRACHTUNG Die Soziologie in Deutschland hatte im zwanzigsten Jahrhundert eine wechselvolle Geschichte. Sie entstand als die moderne Wissenschaft, wie wir sie heute kennen, vor etwa hundert Jahren. Georg Simmel und Max Weber waren auf sich allein gestellt, als sie die methodologische Begründung dieser damals neuen Fachdisziplin ausarbeiteten. Gegen den Positivismus und die Geschichtsphilosophie – in Herbert Spencers Sozialdarwinismus und Karl Marxʼ Materialismus – stellten sie die Begriffsbildung aus dem Erkenntnisinteresse. Sie entwarfen die Herrschafts-, Religions-, Rechts-, Gruppen- und Stadtsoziologie – um einiges zu nennen – als systematische Gesellschaftsanalyse. Die Zeit blieb nicht stehen, und die Verdienste dieser Klassiker verschwanden in den zwanziger Jahren hinter den weltanschaulichen Missverständnissen und persönlichen Eitelkeiten vieler Zeitgenossen. In den dreißiger Jahren unterdrückten die Nationalsozialisten jeglichen eigenständigen Gedanken. Die Soziologie, wie sie aus der Freiheit der Forschung in einer Demokratie lebt, war in Deutschland tot. Zunächst in Österreich durch Alfred Schütz und bald darauf in den USA durch Talcott Parsons wurden die neuen Ansätze dennoch weitergeführt. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam das adäquate Denken nach Deutschland zurück, allerdings nicht unmittelbar in den ersten Jahren und nicht ausschließlich aus deutscher Initiative. Die Fortschritte der empirischen Sozialforschung wurden schon in den fünfziger Jahren angeeignet – dank der Surveys der Besatzungsmächte und auch dank der „Cultural-Exchange“-Programme. Die Leistungen Webers waren erst in den sechziger Jahren – trotz Widerspruch mancher Deutscher – wieder gefragt. Als die Theoriedebatte 1974 anlässlich des Kasseler Soziologentages eine Bilanz zum Stand des soziologischen Denkens zog, war der Elan zur methodengenauen empirischen Sozialforschung längst wieder abgeflaut: Die Kritische Theorie hatte einen Pyrrhus-Sieg errungen. Die Versäumnisse rächten sich erst in den neunziger Jahren. Die Gesellschaftsgeschichte der Wiedervereinigung hätte eine Jahrhundertchance sein können, um durch systematische Reflexion einen epochalen sozialen Wandel zu dokumentieren. Aber viele Arbeiten dümpelten herum mit mechanistischen Denkmodellen und machten häufigkeitsstatistische Massenaussagen – trotz der exzellenten Qualität der Daten, die eine viel anspruchsvollere Auswertung und wesentlich aussagekräftigere Analysen zugelassen hätten. Gelegentlich durchbrach eine Studie zwar den Trend der Mittelmäßigkeit und kann als Leuchtturm der Forschungslandschaft gewürdigt werden. Insgesamt überwogen indessen der Positivismus und sogar ein regenerierter Marxismus. Das gesinnungsethische Plädoyer für (mehr) Sozialpolitik verdeckte notdürftig die Blöße der Theorieschwäche. Viel Lärm wurde gemacht, aber wenig Adäquates entstand.
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VII. Schlussbetrachtung
Die Soziologie im zwanzigsten Jahrhundert war nicht nur ein Exerzierfeld für Eitelkeiten. Sie erlaubte auch das Denken entsprechend den bahnbrechenden Theorien der vorigen Jahrhundertwende. Die methodologische Begründung war vorhanden, die Erkenntnisse konnten ihr folgen. Das Buch hat in sechs Studien die Simmel-Weber-Schütz-Parsonsʼsche Theorie in den verschiedenen Analysefeldern favorisiert. Am Schluss sei noch einmal rekapituliert, was diese Theorie leisten kann bzw. geleistet hat. Welche Erkenntnisse über das Bisherige oder das Billige hinaus sind ihr zuzurechnen? Welche Einsichten hat sie dem Verständnis der Gesellschaft Deutschlands zu bieten oder zu verdanken? Wenn von der Simmel-Weber-Schütz-Parsonsʼschen Theorie gesprochen wird, sind zwei Hauptgesichtspunkte gemeint. Der erste ist methodologisch. Simmels Perspektivismus, Webers „Objektivität“ durch die erkenntnisleitend idealtypische oder anderweitige Begriffsbildung (er sprach von „Begriffsstenographie“) sowie die „Wertfreiheit“ durch die Trennung zwischen Wissenschaft und Weltanschauung, Schützʼ systematisches Verstehen durch heuristische Konstruktion(en) und Parsonsʼ Methodologie hatten denselben Impetus. Die Erkenntnisse der klassischen Diskussion sollten die Soziologie davor bewahren, sich dauernd selbst zu erfinden und/oder dilettantisch dem Positivismus oder Marxismus zu folgen. Wenn man Webers Herrschaftssoziologie, wie sie in Wirtschaft und Gesellschaft vorliegt, nicht nur antiquarisch respektiert, sondern zur Analyse der gesellschaftlichen Regimes im Deutschland des zwanzigsten Jahrhunderts werkgetreu heranzieht, so sollten die sechs Studien dieses Buches zeigen, ergeben sich drei spannende Erkenntnisse, die sämtlich voraussetzen, dass die Begriffsbildung, die dabei zugrunde liegt, die Perspektive der Analyse vorgibt: Erstens: Der Nationalsozialismus, ein verbrecherisches Regimes, war die sprichwörtlich charismatische Herrschaft im Sinne Webers auch deshalb, weil die bedingungslose Gefolgschaft einer Avantgarde vorgelebt wurde, die das Hymnische mit dem Verbrecherischen verband und dies dem Volk oktroyierte, das zu Komplizen gemacht wurde. Diese Interpretation erlauben Webers Begriffsklärungen. Zweitens: Der Rückfall in den Positivismus in den letzten Jahrzehnten war offenbar eine Nebenfolge der Blütezeit der Kritischen Theorie in den sechziger Jahren – trotz oder wegen der Frontstellung gegen Parsonsʼ Systemtheorie, die mit Webers Begriffsperspektivismus assoziiert und als Gefahr für den Humanismus in der zeitgenössischen Gesellschaft angesehen wurde. Die Einsicht, die daraus entsteht: In den sechziger Jahren, als ein Schub der Modernisierung des rational-legalen Gesellschaftsregimes der Bundesrepublik sich ankündigte, gab es auch die Gefahr des Rückschritts – eine Gefahr, der interessanterweise die vier Theorien, die neu entstanden und bis heute nachwirken (Luhmann, Habermas, Dahrendorf, Luckmann), durch ein hermetisches Gesellschaftsbild und/oder die unwillkürliche Rehabilitierung des Autoritarismus oder sogar teilweise des Anthropologie-Denkens im Sinne von Autoren, wie sie im Nationalsozialismus gelehrt hatten, zu begegnen meinten. Drittens: Die „samtenen Revolutionen“, die den „realen Sozialismus“ hinwegfegten, waren die Fortsetzung der Veralltäglichung des Charisma, wie sie Weber in
VII. Schlussbetrachtung
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seiner Herrschaftssoziologie geschildert hat, ohne allerdings das Spätstadium, also das Ende des traditional veralltäglichten Charisma-Regimes, anzusprechen. Webers Überlegungen reichten bis zur unwillkürlichen Traditionalisierung des ursprünglich traditionssprengenden Regimes. Die Ereignisse nach 1989/1990 dokumentier[t]en, wie Webers Typenlehre weitergeführt werden kann: Am Ende der Veralltäglichung des charismatischen Regimes der sozialistischen Einheitspartei(en) stand (steht) der Zusammenbruch durch Implosion des Macht- und Herrschaftsapparats. Es folgte der sprichwörtliche Übergang vom charismatisch-traditionalen zum rationallegalen Herrschaftsregime, ein Übergang, den Weber nur kursorisch behandelte, weil im frühen zwanzigsten Jahrhundert dazu wenig historisches Anschauungsmaterial vorlag. Heute nach der Klärung des Herrschaftswechsels der Stunde Null der Zeit nach dem Ende des Nazireiches, einem Zeitraum der Zwischenvorgänge, ist zu sehen, dass ein System des Systemwechsels sich zunächst bildet, ehe die rationallegale Herrschaft in Schüben oder nach und nach oder vielleicht doch schließlich durch eine dramatische Wende sich festigt. Das genaue Geschehen ist durch eine neuerliche Untersuchung anhand der vorliegenden Analysen mit Blick auf die Wiedervereinigung Deutschlands erst noch zu klären. Man kann sehen: Die Weberʼsche Begriffsperspektive – hier stellvertretend für den methodologisch begründeten Ansatz der vier klassischen Autoren – erbringt interessante Befunde zur Gesellschaftsgeschichte im zwanzigsten Jahrhundert. Ein Rekurs auf den Positivismus ist nicht erforderlich, und Aussagen über die Strukturen und den Wandel der Demokratie sind dennoch sinnvoll und möglich. Der zweite Hauptstrang der Simmel-Weber-Schütz-Parsonsʼschen Theorie ist die gesellschaftliche Modernisierung durch individualisierende Pluralisierung und identifikatorische Einbindung, den Verbund zwischen der Differenzierung und der Integration. Simmels Stichwort hieß Individualisierung, das Komplement der Erweiterung der Gruppe(n) in der differenziert(er)en Moderne, deren „sociales Niveau“ eine höhere Intellektualisierung zulasse als einfache(re) Gesellschaften. Webers Gesichtspunkt hieß Rationalisierung durch Strukturen der Reziprozität, des Rechts und der Rechenhaftigkeit, wodurch die abendländische Kultur den Kapitalismus möglich machte, die Wirtschaft der relativ höchsten Wohlfahrt für die relativ größte Zahl der Menschen. Schütz sah mit scharfem Blick die komplexen Sinnstrukturen der demokratischen Gegenwart – auch wenn er den Rückfall in den Totalitarismus nicht explizit analysierte. Parsons untersuchte die Integration – im Unterschied zur anomischen Desorganisation – in The Structure of Social Action und in The Social System. Im Spätwerk entwickelte er das Theorem der Differenzierung, Pluralisierung etc. als Korrelat zur Integration der vernetzten Interaktionssysteme – mit den Schwerpunkten Geld, Macht, Einfluss und politisch-moralischen Überzeugungen. Wenn man Parsonsʼ Differenzierungsthese nicht nur kritisch beäugt, sondern zur Analyse der Gesellschaftsgeschichte in Deutschland heranzieht, ergeben sich aufschlussreiche Beobachtungen, wie sie die Studien dieses Buches enthalten. Grundsätzlich sind die Pluralisierung der Strukturen und ihre Integration durch rechtsstaatliche oder andere (nicht-erzwungene) Identifikationen entscheidend. Die These legt drei Typen nahe:
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VII. Schlussbetrachtung
Ein erster Typ ist die anti-moderne Gesellschaftsordnung. Sie herrscht ohne Pluralisierung und beruht auf Gewalt und Terror. Es gibt allenfalls ansatzweise Differenzierung und höchstens scheinbar Integration – nur die Volksgemeinschaft oder das Kollektiv regiert, wie dies der Zwangsapparat dekretiert. Ein zweiter Typ ist die moderne Gesellschaftsordnung mit weitreichender Pluralisierung und einem Zugehörigkeitsgefühl, das von Verfassungspatriotismus bis zum Nationalstolz reicht. Es gibt die fortschreitende Differenzierung der Institutionen und Lebenswelten. Es besteht Integration durch rechtsstaatliche Strukturen und die Identifikation der Bürger mit ihrem Gemeinwesen. Ein dritter Typ ist die Gesellschaftsordnung der Modernisierung. Sie wirkt in die Richtung der Gewaltenteilung, der Trennung von Staat und Wirtschaft, der Trennung von Staat und Religion, der Freisetzung der Bildung von der Politik – um einige Entwicklungsprozesse zu nennen. Da die Differenzierung der Strukturen durch die Integration der Handlungsprozesse ausbalanciert werden muss, ist die Anomie ein dauerndes Risiko. Die Modernisierung als Gesellschaftstyp hat prekäre Seiten: Sie kann „umschlagen“ in De-Modernisierung, also Entdifferenzierung oder Desorganisation (De-Integration), wie dies zum Programm antidemokratischer sozialer Bewegungen gehört. Die drei Typen erlauben einen Blick auf die Gesellschaft in Deutschland im Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts. Die sechs Studien haben den Wechsel der Herrschaftsregimes nicht aus dem Blickfeld verloren. Die Simmel-Weber-SchützParsonsʼsche Soziologie – exemplarisch am Parsonsʼschen Differenzierungstheorem zu erkennen – ist ein begrifflicher Rahmen für die verstehende Erklärung der gesellschaftsgeschichtlichen Veränderungen im Deutschland der letzten hundert Jahre. Das Kaiserreich war ein Rechtsstaat, es herrschte Gewaltenteilung. Große Teile der Bevölkerung, allemal bis 1914 und dabei insbesondere hinsichtlich der Sozialdemokratie bzw. insgesamt der Arbeiterschaft als angeblich „vaterlandslosen Gesellen“, waren indessen aus dieser Gesellschaft ausgegrenzt. Die Soziologie der damaligen Zeit entwarf die moderne Gesellschaft, wie sie aktuell empirisch erst in Ansätzen tatsächlich sich abzeichnete. Der Nationalsozialismus war eine anti-moderne Gesellschaftsordnung, Typ 1 der drei Typen. Es herrschte keine Rechtsstaatlichkeit, keinerlei Rechtsgleichheit, ganze Bevölkerungsgruppen wurden aus der Gesellschaft ausgeschlossen, der Verfolgung überantwortet. Eine vom Staat unabhängige Wirtschaft oder eine von der Politik emanzipierte Bildung gab es nicht mehr – um einige Tatsachen zu benennen. Die Nachkriegszeit war eine Epoche der Re-Modernisierung und der weiteren Modernisierung der Gesellschaft Deutschlands – zunächst in den Westzonen. Die Studien III und IV legen nahe, zwischen drei Phasen von Modernisierung zu unterscheiden: Zunächst herrschte ein Nach-Diktatur-System mit Anomie nach dem Zusammenbruch des Zwangsregimes (zugleich ein System des Systemwechsels), erst danach folgte eine Konsolidierungsphase mit dem Aufbau und auch der Normalisierung des relativ gefestigten Gemeinwesens, das die Differenzierung und die Integration institutionalisierte, und schließlich entwickelte sich eine Phase der Arrondierung hin zu noch mehr Differenzierung und noch diffizilerer Integration im Zuge der unablässig weiterführenden Demokratisierung der Gesellschaftsordnung.
VII. Schlussbetrachtung
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Die sechziger Jahre, so kann man anhand der historischen Forschungen zeigen, waren der Durchbruch zur endgültigen, gesellschaftsweiten Modernität – ein Schub der Modernisierung, der bis in die achtziger Jahre hinein andauerte und nach und nach in Recht, Politik, Wirtschaft, Familie etc. etc. wirksam wurde. Interessanterweise, wie die Studie V dokumentiert, stellte sich die deutsche Soziologie der sechziger Jahre nicht in den Strom der Zeit. Sondern sie aktivierte bzw. reaktivierte die Potentiale der hermetischen Organisation (Luhmann), der plebiszitären Demokratie (Habermas), des Liberalismus als Gegenspieler des Wohlfahrtsstaates (Dahrendorf) und der deterministischen Anthropologie (Luckmann). Die neunziger Jahre waren dann eine Zeit, die auf den Typ 3 – Modernisierung – in einer ganz eigenen Weise passt. Das Besondere war, dass nur ein Teil Deutschlands – der Osten – zusammenbrach, während der andere Teil – der Westen – die Funktion der Besatzungsmächte der Nachkriegszeit unwillkürlich zu übernehmen hatte. Die Forschungen der Soziologie zeichneten die Nach-DiktaturPhase mit klaren Konturen, allerdings methodisch oftmals wenig reflektiert. Die Konsolidierungsphase, die bis heute nicht abgeschlossen ist, wurde zu kurz angesetzt, so dass kulturpessimistische Klagen über angebliche Mängel der Wiedervereinigung laut werden konnten. Die Arrondierungs- und Weiterentwicklungsphase kann man sich erst für die Zukunft vorstellen: Vielleicht wird das (ehemalige) Ostdeutschland eines Tages seine Gemeinsamkeiten mit den (ehemaligen) COMECON-Nachbar- und nunmehr EU-Partnerländern Tschechien, Slowakei und Polen entdecken und daraus ein neues Selbstbewusstsein gewinnen, das dann wiederum in das (ehemalige) Westdeutschland zurückwirkt. Man kann sehen: Das Parsonsʼsche Modernisierungstheorem – stellvertretend für die vier Klassiker skizziert – erbringt spannende Einsichten in die Dynamik des zwanzigsten Jahrhunderts. Ein Positivismus ist nicht erforderlich, um diese Gesellschaftsgeschichte zu studieren. Die beiden Hauptgesichtspunkte – der methodologisch begründete Perspektivismus und die unterschiedliche Modernität der Gesellschaftsordnungen – entsprechen der Weberʼschen Herrschaftssoziologie und der Parsonsʼschen Systemtheorie. Die Begriffsbildung ist kein apodiktisches Programm, sie richtet das Erkenntnisinteresse auf die Untersuchung der Gesellschaftsgeschichte. Die Begrifflichkeit stellt sich unter den Leitstern der Modernität, weil die Demokratie ein humanes Regime ist, die Diktatur aber nicht. Darin steckt ein Plädoyer gegen den Positivismus. Es ist keine abbildende Darstellung beabsichtigt. Es wird der Gesellschaft oder der Gesellschaftsgeschichte kein begriffliches Raster vorgegeben. Sondern: Das Erkenntnisinteresse, die Modernität der Demokratie, liegt der Analyse zugrunde, die das Humane in der Gesellschaftsordnung zum Angelpunkt des erklärenden Verstehens macht. Die methodologische Grundlegung und die Modernisierungsthese zeichnen den Weg des allemal seit den Klassikern der soziologischen Theorie vorgezeichneten, wissenschaftlichen Erkennens. Im Einführungsessay wurden zwei Fragen gestellt. Nun seien sie tentativ beantwortet. Die erste war: Lässt sich die Theorie im Sinne der Klassiker Simmel, Weber, Schütz und Parsons in den Lehrmeinungen und Forschungsansätzen finden, die in der Soziologie in Deutschland im zwanzigsten Jahrhundert erarbeitet wurden?
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VII. Schlussbetrachtung
Die Antwort ist NEIN für den Positivismus, die Ideologie und die Vorgehensweise der apodiktischen Gesellschaftsforschung. Die zweite Frage: Wie lassen sich die Erkenntnisse der klassischen Denker als Ressource für die moderne Analyse rezipieren? Dazu zeigen die Studien II, III und VI, dass Webers Herrschaftssoziologie ein fruchtbares Terrain ist und Parsonsʼ Modernisierungstheorem ein tragfähiges Gerüst bildet. Die Studien I, IV und V enthalten Hinweise, dass der Fortschritt hin zur modernen Soziologie in Deutschland bis heute nicht überall gewährleistet ist, dass er nicht von selbst geschieht und auch nicht unangefochten bleibt. Vor diesem Hintergrund sei abschließend gesagt, was dieses Buch nicht ist, und andererseits was es dennoch immerhin sein kann oder könnte. Offensichtlich wird jene umfassende Geschichte der Soziologie (auch hier) nicht vorgelegt, auf die viele Kollegen und Freunde der Soziologie seit langem warten und die manche bereits verfasst zu haben meinen. Die sechs Studien setzen Schwer- und Höhepunkte, aber sie analysieren das zwanzigste Jahrhundert nicht chronologisch fortschreitend von einem Jahrzehnt zum anderen. Dies, so der Einführungsessay, hat einen guten Grund: Jene Epochen der Gesellschafts- oder der Soziologiegeschichte werden beleuchtet, die entweder etwas Neues der Soziologie schufen, etwas Neues in der Gesellschaft waren oder neue Interpretationen erforderlich mach(t)en. Was kann dieses Buch also sein? Allemal sind die sechs Studien ein Plädoyer gegen den Positivismus. Nachdem Herbert Spencer die positivistische Soziologie aus der Philosophie der französischen Aufklärung und des britischen Utilitarismus entwickelt hatte und Karl Marx eine positivistisch verstandene Geschichts- und Gesellschaftsphilosophie aus dem deutschen Idealismus und der angelsächsischen politischen Ökonomie geschaffen hatte, überwand Georg Simmel den analytischen Determinismus durch seine Würdigung des erkennenden Bewusstseins und der Pluralität der Lebensformen, und Max Weber entthronte den Sozialdarwinismus durch die Erkenntnispostulate der „Objektivität“ und der „Wertfreiheit“. Damit hätte der Positivismus, wie er die empirische Wirklichkeit ohne Selbstzweifel durch seine Formeln und Setzungen erfassen zu können meinte, eigentlich ad acta gelegt sein müssen. Aber es kam anders, und die längst und immer wieder tot geglaubte Lehre lebt noch bis heute weiter. Dieses Buch befürwortet die endgültige Überwindung des Positivismus. Manche Sackgasse der Theorie(n) und manche Sumpfblüte der Forschung wäre zu vermeiden (gewesen), hätte der Anfang der wissenschaftlichen Soziologie im Werk Simmels, Webers, Schützʼ und Parsonsʼ mehr Folgen gehabt und noch deutlicheren Nachklang in den späteren Entwicklungen gefunden. Dieses Buch will nach Kräften beitragen, dass die geisteswissenschaftliche Soziologie – eine Wissenschaft im Sinne des „Geistes“, der Kultur – eine noch bessere Zukunft hat.
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IX. Personen- und Institutionenregister
385
PERSONEN- UND INSTITUTIONENREGISTER Abendroth, Wolfgang 232, 249 Academic Assistance Council, London 135 Academie Francaise 11 Achinger, Hans 203, 224 Adorno, Theodor W. 61, 175, 183, 184, 200, 201, 203, 204, 217, 222, 225–226, 229, 231, 232, 236–237, 241–242, 243, 245, 249, 250, 276 Akademie für Gemeinwirtschaft, Hamburg 219 Alber, Jens 129–130, 305–306 Albert, Hans 239, 244 Albrecht, Clemens 231, 232 Alexander, Jeffrey 24 Allport, Gordon 137, 149 Aly, Götz 121–122 American Defense 137 American Sociological Association (ASA) 262 Anderson, Nels 180, 199 Arbeitsgemeinschaft Sozialwissenschaftlicher Institute (ASI) 183, 305 Archiv für Rassenhygiene und Gesellschaftsbiologie 27 Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 48 Arendt, Hannah 83–84, 109, 125 Arensberg, Conrad M. 220 Arnold, Alexia 24, 180, 200 Aron, Raymond 263 Aschpurwis, Liselotte 203 Asemann, Karl 203 Ay, Karl-Ludwig 24 Baecker, Winfried 310 Baeumler, Alfred 157 Bahrdt, Hans Paul 220 Bailyn, Bernard 75, 155 Barber, Bernard 24 Bauer, Karl Heinrich 171 Bauman, Zygmunt 81, 90–91, 128, 129 Baumert, Gerhard 203, 210–212 Bayerische Akademie der Wissenschaften 234 Bayerisches Statistisches Landesamt 203, 209 Beck, Ulrich 304, 318 Becker, Carl Heinrich 14, 154 Behrens, Karl Christian 204 Behrmann, Günter C. 231, 240
Belfrage, Robert 164 Bell, Daniel 24 Bendix, Reinhard 261, 263, 264, 266, 269, 340 Benjamin, Walter 263 Bentham, Jeremy 28–29 Berger, Peter A. 327 Berger, Peter L. 257–260 Bergmann, Joachim 232, 242, 314 Bergmann, Jörg 24 Bergstraesser, Arnold 156, 183, 235 Bernsdorf, Wilhelm 180 Bertram, Hans 309, 310, 322 Blau, Peter 247 Blossfeld, Hans-Peter 297 Bock, Michael 231 Bolte, Karl-Martin 220, 309 Brandt, Gerhard 242, 243, 244, 272 Brandt, Willy 20, 279 Braun, Hans 24, 194, 214, 223 Brecht, Bert 132 Breitman, Richard 113–114 Brepohl, Wilhelm 179, 203, 221 Brickner, Richard 149, 175 Brinton, Crane 78 Broszat, Martin 86, 111–112 Browning, Christopher 89 Brückner, Erika 297 Bruun, Hans Henrik 336 Buchheim, Hans 86–87, 112 Bude, Heinz 274 Bülow, Friedrich 180 Bultmann, Rudolf 169–170 Bund Freiheit der Wissenschaft 234, 273 Bundesanstalt für Arbeit (Bundesagentur für Arbeit) 304 Bundesministerium für Arbeit 309 Bundesministerium für Forschung und Technologie (BMFT) 309 Bureau of Applied Social Research 187, 191 Burgess, Ernest 40, 63 Cantril, Hadley 140, 184, 186, 192, 201, 221 Cerny, Carl 267 Chakkarath, Pradeep 323 Chamberlain, Houston Stewart 64 Chicago University 62–63, 75, 76, 134, 161 Clay, Lucius D. 193
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IX. Personen- und Institutionenregister
Colm, Gerhard 61 Columbia University 65, 187, 191 Comte, Auguste 10, 17, 40, 43–44, 76, 77, 232, 252 Condorcet, Jean Antoine Nicolas de 10 Converse, Jean 185, 188 Council for Democracy 99, 101, 109 Crespi, Leo 195, 201, 202–203, 208–210 Cultural Relations Program 180 Daheim, Hans-Jürgen 221 Dahrendorf, Ralf 18, 81, 129, 184, 226–227, 229, 230, 233, 245, 253–257, 260, 276, 346, 349 Dänemark 15 Darwin, Charles 25–26, 35–38, 40, 43, 49–50, 61, 63–64 de Gaulle, Charles 271 de Gobineau, Arthur 64 Décamps, Jaques 206 DeNike, Howard J. 307 Deutsch, Karl W. 237, 340 Deutsche Demokratische Republik (DDR) 12, 16, 19, 83, 281, 283, 289, 290–300, 303, 331–332, 336–340 Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) 179, 235, 319 Deutsche Gesellschaft für Soziologie (DGS) 18, 27, 53, 48, 173, 179, 182, 224, 233, 234–235, 241, 263, 276, 281, 335 Deutscher Gewerkschaftsbund 212 Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) 319 Dickinson, J. R. 206 Dicks, Henry 175 Diewald, Martin 24, 286, 298, 299, 328–329 Dilthey, Wilhelm 10, 17, 43–45, 59 Dirks, Walter 223 DIVO Gesellschaft (Institut) für Markt- und Meinungsforschung 18, 184, 203, 204, 221 Doering-Manteuffel, Anselm 296 du Bois, Burghardt 54, 63 Durkheim, Émile 14, 66, 69, 71, 74, 233, 234, 269, 276 Ebbinghaus, Julius 164–165, 168, 169, 174 Eckert, Roland 306 Einstein, Albert 155 Eisen, Andreas 311 Eisenstadt, Shmuel 340 Eisner, Kurt 261 Elias, Norbert 274, 276 EMNID-Institut, Bielefeld 203
Engels, Friedrich 65 England 15 Eschenburg, Theodor 235 Europäische Union (EU) 254, 281, 302, 303, 335 Ewald, Uwe 307 Faltin, Sigrid 137 Fay, Sidney B. 135, 137, 143, 166 Fischer, R. A. 184 Fischer, Wolfram 313, 324 Fleming, Donald 75, 155 Forum Academicum 152 Fraenkel, Ernst 84 Francis, Emerich K. 183 Franklin, Benjamin 265 Frei, Norbert 87–88, 110, 128–129 Freie Universität Berlin 180, 224, 252, 260, 273, 274 Frend, William 144–145 Frese, Paul 234, 272 Freud, Anna 139 Freud, Sigmund 139, 215 Freyer, Hans 58–60, 76, 158, 181, 238, 265 Friedrichs, Jürgen 310 Friedrich-Wilhelm-Universität Berlin 10, 16, 43, 135, 159 Fromm, Erich 117–119, 142 Gabriel, Oscar W. 311 Gans, Paul 310 Gantner, Gösta 162 Garfinkel, Harold 75 Garz, Detlef 137 Gehlen, Arnold 76, 234, 251, 258 Geiger, Theodor 14, 124–125 Gellately, Robert 89 Genesko, Joachim 310 Gephart, Werner 24 Gerhardt, Uta 66, 99, 119–120, 189, 262, 301– 303, 341 Gerigk, Horst-Jürgen 24 Gerth, Hans 76, 124, 140 Giddens, Anthony 77–78 Giddings, Frank H. 65 Gilbert, Felix 143 Gilcher-Holtey, Ingrid 24, 271 Gittler, Lou F. 148 Glaeßner, Gert-Joachim 295–296, 300 Glatzer, Wolfgang 280, 309, 310, 324, 325 Goldhagen, Daniel 89 Goldscheid, Rudolf 50–51, 53–54 Grünert, Holle 312, 323
IX. Personen- und Institutionenregister Gumplowicz, Ludwig 40–41 Günther, Adolf 60 Gurfein, Murray I. 148 Gutsche, Günter 307 Haber, Fritz 158 Habermas, Jürgen 233, 237–238, 239–241, 245, 248–253, 260, 265, 273, 276, 279– 280, 287, 346, 349 Habich, Roland 308, 320 Häder, Michael 322 Haeckel, Ernst 49–50 Hagood, Margaret J. 192, 221 Hahn, Alois 24 Hallstein, Walter 173 Hamerle, Alfred 297 Hanefeld, Ute 319 Hartenstein, Wolfgang 217 Hartmann, Heinz 225 Hartshorne, Charles 145 Hartshorne, Edward Y. 18, 76, 130–178 Hartshorne, Robin 24 Harvard College Library 143, 189 Harvard University 18, 40, 61, 75, 76, 133, 135, 137–138, 152, 273 Hauser, Richard 310, 324, 325 Häußermann, Hartmut 310 Hax, Herbert 313, 324 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 5, 10, 24, 233, 244, 249, 252, 260 Heiber, Helmut 155 Heine, Wolfgang 310 Heinemann, Gustav 274 Heinz, Walter R. 309, 311 Heitmeyer, Wilhelm 306 Henderson, Lawrence 66–67, Hennig, Carmen 307 Henrich, Dieter 244, 260, 279, 280, 342 Herberger, Lothar 206 Herbert, Ulrich 234, 272 Herf, Jeffrey 114–115 Herlyn, Ulfert 310 Hesse, Jan-Otmar 24, 173 Heydebrand, Wolf 303 Hilberg, Raúl 88–89 Hobbes, Thomas 67–68, 254 Hobsbawm, Eric 11 Hofstadter, Richard 38 Hofstätter, Peter 235 Holborn, Hajo 143 Homann, Harald 231 Hondrich, Karl Otto 282, 304–305 Honneth, Axel 249
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Horkheimer, Max 61, 183, 206, 215, 224, 231, 249, 251, 252, 264 Hormuth, Stefan E. 311 Hradil, Stefan 309, 310 Huinick, Johannes 286, 298 Husserl, Edmund 73, 258 Huxley, Aldous 225 Hyman, Herbert H. 191 Institut für angewandte Sozialwissenschaft (Universität zu Köln) 220 Institut für Demoskopie, Allensbach a. Bodensee 202, 204, 205, 207 Institut für Mittelstandsforschung Köln 221 Institut für Sozialforschung 18, 77–78, 82, 117, 200–201, 203, 206, 209, 215–217, 219, 249, 253, 273, 276 Institut für sozialwissenschaftliche Forschung Darmstadt 199, 203, 204 Institut für Zeitgeschichte 86, 91, 155, 194 Institut International de Sociologie (IIS) 223 Institut zur Förderung öffentlicher Angelegenheiten e.V. 183, 201 International Sociological Association (ISA) 222, 224, 262, 263 Ipsen, Gunter 223 Jahn, Georg 60 Janowitz, Morris 148, 221 Jaspers, Karl 163, 167–168, 170 Jetter, Ulrich 204 Joas, Hans 295 Johann Wolfgang Goethe Universität Frankfurt a. M. 132, 184, 249, 250, 257 Jüres, Ernst August 220 Kaase, Max 306–307, 311, 319 Kaelble, Hartmut 129, 296 Kaesler, Dirk 76, 182 Kant, Immanuel 10, 46, 228, 252 Karlauf, Thomas 24 Katz, Barry M. 143 Kellerer, Hans 203, 204, 209 Kellermann, Paul 233 Kern, Horst 181 Kershaw, Ian 95 Kesting, Hanno 220 Keynes, John Maynard 68 Kielmannsegg, Peter Graf 231 Kierkegaard, Soren 228 Kiesinger, Kurt-Georg 271 Kirchheimer, Otto 143 Klarsfeld, Beate 271
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IX. Personen- und Institutionenregister
Kleinhenz, Gerhard 310 Klingemann, Carsten 179–183 Kluckhohn, Clyde 330 Knight, Frank 63 Knoke, Wolfgang 310 Kocka, Jürgen 296 Koehl, Robert L. 105 Kogon, Eugen 88, 223 Kohl, Helmut 279 Kohli, Martin 274, 295, 296–297, 300 Kollmorgen, Raj 310, 317, 322 Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 221 Kölner Zeitschrift für Soziologie 221 Kommission für die Erforschung des Sozialen und Politischen Wandels in den neuen Bundesländern (KSPW) 281, 307, 309– 319 Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) 291 König, René 14, 175, 181, 183, 220, 222, 224, 262, 276 Körber, Klaus 242 Kornadt, Hans-Joachim 311, 323, 333–334 Korte, Hermann 274 Kracauer, Siegfried 14 Krohn, Claus-Dieter 76, 262 Krupp, Hans-Jürgen 319 Kruse, Volker 127 Kuechler, Manfred 332 Kurz-Scherf, Ingrid 304 Landshut, Siegfried 265 Lasswell, Harold 116–117, 302 Lazarsfeld, Paul F. 186–187, 205, 221, 229 Le Play, Frédéric 64 Lehnstedt, Stephan 86 Leibfried, Stephan 309 Lemke, Christiane 308 Lepenies, Wolf 77 Lepsius, M. Rainer 93–96, 98, 180–182, 235, 273, 275, 309, 336 Lerner, Daniel 148 Levine, Donald 24 Library of Congress 143 Liefmann-Keil, Elisabeth 235 Liepelt, Klaus 217, 221 Likert, Rensis 186, 187 Lincoln, Abraham 40 Linde, Hans 157, 179 Linz, Juan 296 Löchner, Heinz 221 Loewenstein, Karl 168, 262
Lohr, Karin 309 London School of Economics 253 Löwith, Karl 60, 137, 265 Luckmann, Thomas 233, 257–260, 276, 346, 349 Luhmann, Niklas 233, 245–248, 260, 276, 287, 288, 290–291, 300, 346, 349 Lukácz, Georg 262 Lütge, Friedrich 235 Lutz, Burkart 284, 309, 310, 312, 323 Maier, Norman R. F. 119–120, Maihofer, Werner 235 Mallmann, Klaus-Michael 90 Malthus, Thomas 28–30, Mannheim, Karl 14, 124, 252, 253, 276 Manning, Peter M. 24 Marburger Hochschulgespräche 168–169, 177 Marcuse, Herbert 143, 231, 263–264, 266, 267, 269 Marquardt-Bigman, Petra 143 Marshall, Alfred 66, 74 Marx, Karl 10, 16, 43–45, 65, 77, 228, 233, 234, 249, 252, 260, 269–270, 280, 345 Matthes, Joachim 304 Maus, Heinz 180–181, 206 Max-Planck-Gesellschaft 11 Max-Planck-Institut für Bildungsforschung 286, 297–300 Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung 285 Max-Weber-Archiv 270 Max-Weber-Gesellschaft 234, 270, 271 Max-Weber-Kolleg Erfurt 325 Mayer, Karl-Ulrich 286, 297, 298, 299, 327 Mayntz, Renate 220, 261, 276, 284, 285, 288 McKeon, Richard 161–162 Mead, Margaret 212 Mehner, Harald 206 Mehring, Reinhard 157 Meier, Artur 309 Meinecke, Friedrich 60, 135 Meis, Walter 213 Merton, Robert 24, 72–73, 76, 77, 160–161, 240 Meulemann, Heiner 287, 330–333 Meuschel, Sigrid 282–283 Mill, John Stuart 43 Mills, C. Wright 229 Mitscherlich, Alexander 168 Mohl, Ernst Theodor 242 Möller, Horst 155 Mommsen, Hans 81, 90–91,
IX. Personen- und Institutionenregister Mommsen, Wolfgang 261, 262 Mongardini, Carlo 301 Moore, Barrington 268 Morlok-Maltese, Francesca 195 Mowrer, Edgar Ansel 134 Müller, Hans-Peter 283–284 Münkler, Herfried 295 Narr, Wolf-Dieter 303 Nathanson, Maurice 257 National Opinion Research Center (NORC) 185, 222 Nauck, Bernhard 309 Nedelmann, Birgitta 284 Negt, Oskar 233 Neidhardt, Friedhelm 309 Nelson, Benjamin 263, 266–267, 268–269 Neumann, Dirk 310 Neumann, Erich Peter 202–203, 207 Neumann, Franz L. 84–86, 91, 115, 125, 143 Neundörfer, Ludwig 204 New School for Social Research, New York 61, 76, 169, 257 New York Times Book Review 267–269 New York Times 160 Neyman, Jerzy 185, 207 Nickel, Hildegard Maria 309, 310 Niedermayer, Oskar 311 Nietzsche, Friedrich 49–50, 228, 275 Noelle, Elisabeth 206 Noelle-Neumann, Elisabeth 201, 205, 220 Noll, Heinz-Herbert 280, 306 Nowlin, Christopher J. 307 Oberkrone, Willi 157 Oehler, Christoph 250 Oexle, Otto Gerhard 160 Offe, Claus 242, 243–244, 300–301, 304 Office of Facts and Figures 187 Office of Public Opinion Research (OPOR) 185, 189 Office of Strategic Services 84, 143 Office of Strategic Services Research and Analysis 133, 143 Office of the Coordinator of Information 142 Office of the Coordinator of Information Research and Analysis 133 Office of War Information 143, 144, 187, 188 Ogburn, William 292 Ohnesorg, Benno 271 Olk, Thomas 309, 310 Opinion Surveys Branch (OMGUS) 183 Orth, Karin 115–116
389
Orwell, George 226 Padover, Saul 148 Pankoke, Eckart 310 Pareto, Vilfredo 64, 66, 74, 233 Park, Robert E. 40, 63 Parsons, Talcott 17–18, 20–23, 26–28, 63, 65– 78, 82, 98–109, 119, 125–127, 132–133, 134–135, 141, 142, 148, 149, 152–153, 161, 175–176, 188, 205, 225, 229, 240, 241, 252, 253, 261–263, 264, 265, 266, 267, 269, 270, 275–276, 281, 284, 287, 288, 291–292, 294, 300, 302, 305, 330, 332–333, 337, 338, 340, 342, 345, 346, 347, 350 Parten, Mildred 191, 221 Paul, Gerhard 90 Paulus, Julia 234, 272 Pawelzig, Jürgen 310 Peak, Helen 190–191 Pearson, Karl 184 Pfeffer, Karl-Heinz 157, 179 Pfister, Bernhard 271 Pflaum, Renate 220 Pilot, Harald 244 Platt, Jennifer 24 Plessner, Helmuth 183, 184, 227–229, 234, 235, 258 Plessner, Monika 257 Ploetz (Plötz), Alfred 27, 41–42, 48–54, 62 Poggi, Gianfranco 24 Pohlmann, Markus 313–314 Poliakov, Leon 90, 125 Pollack, Detlef 290–292, 300 Pollock, Friedrich 201, 203, 206, 215 Popitz, Heinrich 220, 244 Popper, Karl R. 235, 236, 244, 284 Prescott, Daniel A. 161 Preußische Akademie der Wissenschaften 29 Princeton Radio Research Project 186 Puhle, Hans-Jürgen 24 Quint, Peter E. 325 Raim, Edith 120 Ralis, Max 220, 221 Rammstedt, Otthein 24, 303 Raphael, Freddy 303 Rawls, Anne 24 Reactions Analysis Staff (HICOG) 183, 184, 201, 204, 206 Reigrotzki, Erich 204, 220 Riemschneider, Günther 203 Riesman, David 254
390
IX. Personen- und Institutionenregister
Riley, John 205 Ritter, Gerhard A. 231 Ritter, Joachim 310 Rockefeller Foundation 63, 212 Rolfes, Max 200 Roosevelt, Franklin D. 68, 71, 142–143, 184 Rosewitz, Bernd 284 Ross, Edward A. 65 Rousseau, Jean-Jacques 254 Rüegg, Walter 168 Rüschemeyer, Dietrich 221 Russland 289 Sahner, Heinz 309, 310 Salomon-Delatour, Gottfried 76 Sardemann, Karl 206 Sauermann, Heinz 168, 173, 174 Schaarschmidt, Rebecca 157 Schaefer, Wolfgang 208 Schäfers, Bernhard 232, 335 Schäffle, Adam 64 Schaffner, Bertram 212 Scheibe, Moritz 272 Schelsky, Helmut 76, 123–124, 160, 181–182, 212–215, 220, 222–224, 235, 252, 324 Schenk, Sabine 313 Scheuch, Erwin K. 15, 180–183, 198, 202, 209, 214, 221, 222, 245, 273, 275, 287 Schildt, Axel 262, 272 Schimank, Uwe 284 Schluchter, Wolfgang 325–327, 336 Schmähl, Wilfried 310 Schmid, Michael 283–284 Schmidt, Gert 303 Schmidt, Rudi 310, 313–314, 323–324 Schmitt, Carl 265 Schmitt, Peter 217–219 Schmitter, Philippe C. 326 Schmuhl, Hans-Walter 92–93, 98 Schneider, Hans Karl 313, 324 Schokking, Jan 203 Schröttle, Monika 306 Schupp, Jürgen 320 Schütz, Alfred 22–23, 28, 73–75, 124, 234, 257, 258, 346, 347, 350 Shils, Edward 76 Simmel, Georg 10, 13–14, 19, 23, 26–28, 44– 47, 53, 55–56, 59–61, 64–65, 126, 204, 234, 260, 275, 276, 281, 287, 336, 341– 342, 345, 346, 347, 349, 350 Sittenfeld, Hans 201, 206 Six, Franz Alfred 156
Small, Albion 62 Smelser, Neil 284, 285 Social Science Research Council (SSRC) 134, 186, 188–189, 325 Soeffner, Hans-Georg 24 Sofsky, Wolfgang 115 Solga, Heike 298, 328–329 Solms, Max Graf 174 Sombart, Werner 63, 66 Sorensen, Annemette 298 Sorge, Arndt 310 Sorokin, Pitirim 40, 61, 64–65, 66 Sowjetunion 106, 108, 241, 291, 294 Sozialforschungsstelle Dortmund an der Universität Münster 18, 203, 219, 220, 222, 223 Sozialistischer Deutscher Studentenbund (SDS) 271 Soziologentage: Erster Deutscher Soziologentag Frankfurt a. M. 1910 27, 48–54 Fünfter Deutscher Soziologentag Zürich 1928 14 Achter Deutscher Soziologentag Frankfurt a. M. 1946 173 Vierzehnter Deutscher Soziologentag Berlin 1959 224, 234, 244 Fünfzehnter Deutscher Soziologentag Heidelberg 1964 15, 261–263, 267, 276 Sechzehnter Deutscher Soziologentag Frankfurt a. M. 1968 15, 234, 241– 245, 273 Siebzehnter Deutscher Soziologentag Kassel 1974 345 Einundzwanzigster Deutscher Soziologentag Bamberg 1982 304 Gemeinsamer Kongress der Deutschen, der Österreichischen und der Schweizerischen Gesellschaft für Soziologie Zürich 1988 81 Fünfundzwanzigster Deutscher Soziologentag in Frankfurt a. M. 1990 281– 283, 340 Sechsundzwanzister Deutscher Soziologentag in Düsseldorf 1992 335 Siebenundzwanzigster Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie Halle a. d. Saale 1994 284, 328 Spann, Othmar 56–57, 59, Specht, Karl Gustav 203, 221 Speier, Hans 14, 61, 76, 124, 169–170, 174
IX. Personen- und Institutionenregister Spencer, Herbert 10, 17, 25–38, 43–45, 47, 49–50, 56, 61, 64, 66, 70, 72, 74, 76–77, 232, 345 Srubar, Ilja 292–294, 300 Stammer, Otto 234–235, 262–263, 264, 269, 270, 275 Stammler, Rudolf 65 Statistisches Bundesamt 206, 321 Steding, Christoph 262 Stichweh, Rudolf 24, 248, 284 Stölting, Erhard 56, 62 Stouffer, Samuel 186, 187, 207 Strauss, Leo 262 Strubelt, Wendelin 310 Sumner, William Graham 26–27, 38–40, 63– 64, 74 Surveys Section / Opinion Surveys Branch (OMGUS) 193, 194, 195–199, Sydow, Hubert 311 Szöllösi-Janze, Margit 161 Taylor, Edmund 141 Technische Hochschule Darmstadt 132, 145 Tenbruck, Friedrich 231, 260, 276–277, 303 Tennstädt, Friedrich 204 Tent, James F. 146 Teppe, Karl 234, 272 Thamer, Hans-Ulrich 121 Thurnwald, Richard 61 Tönnies, Ferdinand 51, 53–54, 58, 60 Tooms, Alfred 151 Topitsch, Ernst 238–239 Trappe, Heike 298 Trevino, Javier 24 Trommsdorff, Gisela 311, 323, 333–334 Truman, Harry S. 184 Türkei 15 Turner, Bryan 24 UNESCO-Institut für Sozialwissenschaften an der Universität zu Köln 203, 220, 223 United States Group Control Council 145 United States Strategic Bombing Survey 145, 189–191 Universität Erlangen 132, 145 Universität Giessen 132, 145 Universität Graz 40 Universität Hamburg 184 Universität Heidelberg 132, 145, 163, 168, 171 Universität Heidelberg 250, 261 Universität Mannheim 319 Universität Marburg 132, 145, 152, 164–165, 167, 168–169, 249
391
Universität München 132, 146 Universität zu Köln 184, 221, 223, 270 University of Wisconsin Madison 76 Verein für Sozialpolitik 48 Vereinigte Staaten von Amerika (USA) 15, 18, 28, 36, 54, 63, 68, 71, 101, 141–142, 144, 166, 175, 183, 185, 187, 207, 216, 247, 267–269 Voegelin, Eric 262 vom Bruch, Rüdiger 24, 179, 343 von Below, Susanne 310 von der Gablentz, Otto 235 von Friedeburg, Ludwig 192, 205, 250, 274 von Humboldt, Wilhelm 156, 159 von Maydell, Bernd 310, 325 von Ranke, Leopold 21, 342 von Salomon, Ernst 138 von Schelting, Alexander 70–71 von Stackelberg, Karl-Georg 203 von Verschuer, Otmar 57–58, 72, 171–172 von Wiese, Leopold 51, 59, 173–174, 179 Vordtriede, Käthe 137 Waelder, Robert 142 Wagner, Gert 320 Wallace, Alfred Russel 42 Wank, Rolf 310, 325 Ward, Lester 40 Warner, W. Lloyd 211 Watier, Patrick 24 Weber, Marianne 14, 73–74 Weber, Max 9, 10, 13–23, 26–28, 47–48, 51– 56, 59–62, 64–66, 69–71, 72–74, 82, 92– 98, 101–105, 109–122, 123–126, 132, 138–140, 141, 156, 204, 227, 230, 234, 236, 238, 243, 258, 260, 261, 264, 265, 266, 267, 275–276, 281, 282, 284, 287, 294, 295, 326, 336–339, 340, 342, 343, 345, 346, 347, 350 Wehler, Hans-Ulrich 96–98 Weingart, Peter 275 Weisker, Jürgen 204, 221 Weiß, Johannes 309, 317 Weltz, Friedrich 250 Weyer, Johannes 223 Weymann, Ansgar 285–287 Whitehead, Alfred North 22, 66 Wiesenthal, Helmut 286 Willems, Herbert 306 Williams, Frederick 193, 201 Wilson, Elmo C. 189 Winckelmann, Johannes 70, 270, 276
392
IX. Personen- und Institutionenregister
Windolf, Paul 24 Wirth, Louis 134 Wissenschaftsrat 309 Wissenschaftskolleg Berlin 325 Wissenschaftszentrum für Sozialforschung Berlin (WZB) 319, 321 Wittgenstein, Ludwig 237 Wolfrum, Edgar 120, 223, 231 Wollmann, Helmut 311 Wulf, Joseph 90, 125
Würtz, Sigrid 306 Wurzbacher, Gerhard 220 Zapf, Wolfgang 281–282, 308, 317–319, 320, 322, 329, 340 Zentralarchiv für empirische Sozialforschung (ZA) 220, 322 Zentrum für Umfragen und Analysen (ZUMA) 319, 321 Zwahr, Hartmut 296