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German Pages 682 Year 2020
Friedbert W. Rüb
Das Jahrhundert der Politik Eine Geschichte des 20. Jahrhunderts im Licht ihrer Politikbegriffe
Friedbert W. Rüb
Das Jahrhundert der Politik Eine Geschichte des 20. Jahrhunderts im Licht ihrer Politikbegriffe
Nomos
© Titelbild (von links nach rechts): bpk / Boris Spahn bpk / Hanns Hubmann picture alliance / AP / Nick Ut bpk / Klaus Lehnartz commons.wikimedia.org/wiki/File:UA_Flight_175_hits_WTC_south_tower_9-11.jpeg
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8487-6613-0 (Print) ISBN 978-3-7489-0748-0 (ePDF)
Onlineversion Nomos eLibrary
1. Auflage 2020 © Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2020. Gedruckt in Deutschland. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
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Danksagung Jedes Buch hat seine eigene Geschichte wie auch Vorgeschichte. Die ersten Ideen sind in meinem Kolloquium am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt Universität zu Berlin entstanden. Den Studierenden, meinen MitarbeiternInnen und mir war immer wieder aufgefallen, wie wenig Systematisches über den Politikbegriff geschrieben wurde und stattdessen der Begriff des Politischen die Neugier der Disziplin weit mehr angeregt hat. Auch fehlt eine systematische und ausführliche Arbeit, die nicht allein den Politikbegriff in allen seinen Schattierungen ins Zentrum rückt, sondern auch seine historisch bedingten Variationen in den Blick nimmt. Insofern ist bei mir der Entschluss gereift, sich gründlicher mit dem Politikbegriff und seinen Wandlungen im 20. Jahrhundert zu beschäftigen. In vielen Gesprächen mit Kolleginnen und Kollegen habe ich für ein solches Unterfangen viel Unterstützung erfahren, insbesondere Claus Offe hat mich in einem Gespräch stark ermutigt, dieses Unterfangen zu riskieren. Da sich mein akademisches Leben aus Altersgründen dem Ende zuneigte, ich aber das Buch noch in der Auseinandersetzung mit den Studierenden, meinen Mitarbeitern und KollegInnen schreiben wollte, habe ich für den Einstieg in die Thematik bei meiner Universität, der Humboldt-Universität zu Berlin, eine einsemestrige Freistellung von der Lehre im Rahmen der Förderlinie „Freiräume“ zur Durchführung meines Forschungsvorhabens beantragt und vom 01.04.2017 bis zum 30.09.2017 bewilligt bekommen. Ohne diese Auszeit hätte ich ein solches Unterfangen nicht erfolgreich bewältigen können. Damit begann die Geschichte des Buches und ich konnte mich zunächst ohne Lehrverpflichtungen auf das Konzept und erste Vorarbeiten für die einzelnen Kapitel konzentrieren. Die Diskussionen verschiedener Kapitel mit meinen damaligen Mitarbeitern, insbesondere aber die Diskussionen über die Differenz zwischen der Politik und dem Politischen und den Politikbegriffen von A.E. F. Schäffle, K. Mannheim und M. Weber, waren für mich sehr wichtig. Danken möchte ich hier insbesondere Mira Christiansen, Jonas Fischer, David Meiering, Andreas Schäfer, Holger Strassheim und Tom Ulbricht. Mira Christiansen, Jonas Fischer und Dominik Flügel waren nicht nur bei der Recherche und der Literaturbeschaffung für die jeweiligen Teile des Buches enorm wichtig, sondern auch als aufmerksame und unerbittliche Korrekturleser. Die Sekretärin des Lehrbereichs Sozialpolitik und Politische Soziologie, Astrid Schaal, war vor allem während meiner Freistellung, aber auch sonst für die Organisation des gesamten Lehrbereichs zuständig und hat dies mit Bravour erledigt. Für dies und so manches andere sei ihr ganz herzlich gedankt. Einen ersten zusammenfassenden Überblick über die Thematik des geplanten Buches habe ich auf der Tagung zu „Staatserzählungen“ gegeben. Grit Straßen-
6
Danksagung
berger und Felix Wassermann hatten sie Ende 2016 in Berlin anlässlich des 65. Geburtstages von Herfried Münkler organisiert. Ihnen und den Teilnehmern dieser Tagung danke ich für hilfreiche Hinweise. Auch die abendlichen Gespräche bei den jährlichen Herausgebertreffen des „Leviathan. Berliner Zeitschrift für Sozialwissenschaften“, die in Berlin stattfanden, waren für mich wichtig, bei denen es oft auch um Themenfelder und bestimmte Aspekte meines Buches ging. Erwähnen möchte ich hier insbesondere Hubertus Buchstein, Roland Czada, Anna Geis, Bernd Ladwig, Philip Manow und Frank Nullmeier ebenso wie Reinhard Blomert als verantwortlichen Redakteur. Wolfgang Merkel und Wolfgang Schröder vom Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) möchte ich ebenfalls für ausgreifende Gespräche an so manchen Abenden danken. Meine Frau Ildikó Krén hat auf die vielfältigsten Weisen zum Gelingen des Buches beigetragen. Sie hat mich in manchen schwierigen Phasen nicht nur ermutigt, unverdrossen an den entsprechenden Passagen weiter zu arbeiten. Weit wichtiger: Sie hat viele Passagen des Buches gelesen und ihre Kommentare waren für mich immer bedeutsam. Ihr ist das Buch gewidmet. Es versteht sich von selbst, dass ich für das Geschriebene allein verantwortlich bin. Berlin im Juli 2020
Friedbert W. Rüb
7
Inhalt
Abbildungsverzeichnis ...................................................................
19
Einleitung ...................................................................................
23
1.
Das Jahrhundert der Politik? Einführung in die Thematik ...... 1.1. 1.2.
2.
1.
Politische Semantiken als ‚Brille‘ – Was man durch sie sieht und was nicht .............................................. Mögliche Handlungsbereiche und Handlungsformen der Politik ..........................................................
25 26 30
Semantiken der Politik im 20. Jahrhundert: Eine Übersicht über das Buch ...............................................................
32
Die Politik und das Politische. Zur Notwendigkeit der begrifflichen Abklärung des Primats der Politik .......................
40
1.1.
1.2.
1.3.
1.4.
Zum Begriff des Politischen und der politischen Differenz. Das Politische als Politik ........................................................
41
Die Grundstruktur der Differenz zwischen der Politik und dem Politischen ....................................................................
45
Die Politik und Differenzierungen im Politikbegriff: Über Politisieren, Politicking, Polarisieren und Paralysieren ...........
52
Zusammenfassung: Die Spannbreite des Politikbegriffs und die Unspezifität ‚Des Politischen‘ ...........................................
59
8
2.
Inhalt
Politik als Möglichkeitserweiterung und Kontingenzsteigerung: Das Schäfflesche Moment ...................................................... 2.1.
Politisches Handeln bei Albert E. F. Schäffle: Politik als Verflüssigung und des Zu-Ende-Schaffens ...........................
64
Karl Mannheims Verschärfung: Rationaler Staat und Politik als „irrationales Spiel“ ....................................................
67
Max Webers Frage: Politik in der Massengesellschaft und als Kampf um Möglichkeitshorizonte .....................................
70
Politik als Spiel und Möglichkeitsbeschaffung: Über Rationalität und Irrationalität der Politik ...........................
75
Die Politik der Verfassunggebung. Der lange Abschied von der souveränen verfassunggebenden Gewalt des Volkes: Von der Oktoberrevolution zu den Runden Tischen in den osteuropäischen Transformationen .........................................
79
2.2.
2.3.
2.4.
3.
62
3.1.
3.2.
3.3.
3.4.
Die Oktoberrevolution und ihre sozialistische Verfassung und der Kampf um die Weimarer Reichsverfassung 1918 .............
84
3.1.1. Die Politik der Verfassunggebung in Russland im Jahr 1918 ................................................................. 3.1.2. Die Politik der Verfassunggebung zu Beginn der Weimarer Republik von 1918 ................................
86
Das Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933: Der Übergang von der kommissarischen zur souveränen Diktatur ...............
96
Die diktierten Verfassunggebungen in der Nachkriegszeit in Deutschland: Die ‚disziplinierte‘ Westdemokratie gegen die ‚undisziplinierte‘ Volksdemokratie? ...................................
102
84
3.3.1. Die Politik der Verfassunggebung in der SBZ: Der Kampf um die Souveränität des Volkes .................... 3.3.2. Die Politik der Verfassunggebung in den Westzonen bzw. der BRD .....................................................
110
Die Runden Tische und die Idee der verfassunggebenden Selbstbeschränkung in den osteuropäischen Demokratisierungsprozessen ............................................
118
103
9
Inhalt
3.4.1. „Koordinierte Transformation“? Konzeptionelle Annäherung und verfassungstheoretische Überlegungen ...................................................... 3.4.2. Revolution oder „koordinierte Transformation“? Zum Charakter des Systemwechsels in Mittel- und Osteuropa .......................................................... 3.4.2.1. Polen: Der Runde Tisch als Paradigma der Transformation .............................................. 3.4.2.2. Ungarn ......................................................... 3.4.2.3. Die Transformationen in der Tschechoslowakei, Bulgarien und Rumänien .................................. 3.5.
122 124 126 129
Die Politik der Verfassunggebung in Deutschland nach dem Ende der DDR ...............................................................
132
„1989“: Das Ende des „Zeitalters der Revolutionen“ oder der Wandel zum „post sovereign constitution-making“? .............
134
Die Politik der Massen: Über das Irrationale eines Kollektivsubjekts, seine politische Zähmung in der Massendemokratie und seine Auferstehung als ‚Multitude‘ .......
142
3.6.
4.
119
4.1.
Die Masse als politisches Kollektivsubjekt: Gustave Le Bon und die Psychologie der Massen ........................................
147
4.1.1. Die Eigenschaften der Masse und ihre politische Qualität ............................................................. 4.1.2. Die Massen und der Führer: Zum Amalgam von Herrschaft und Knechtschaft in der Massenpolitik ..... 4.1.3. Das „automatische Denken“ der Masse: Von der Idee zur Tat ..............................................................
152
Die Politik der organisierten Massen: Die politischen Parteien als Massenorganisationen ................................................
154
Die (Ent-)Politisierung der Massen und deren Psychologie bei Sigmund Freud: Masse und Libido ....................................
157
4.4.
Wilhelm Reichs Massenpsychologie des Faschismus ..............
164
4.5.
Massen und Revolution: Theodor Geigers Massen als destruktiv-revolutionäre Kraft ..........................................
170
4.2.
4.3.
148 150
10
Inhalt
4.6.
4.7.
4.8.
Vom Massesein zur Vermassung: Die Massen als „optische Täuschung“ (R. König) ...................................................
175
Die Wiederauferstehung der Massen in den mittel- und osteuropäischen Transformationen ....................................
177
Von der ‚Verachtung der Massen‘ zu ihrer Auferstehung als ‚Multitude‘. ..................................................................
181
4.8.1. Die Verachtung der Massen und die neue Massenkultur ...................................................... 4.8.2. Von der Masse zur ‚Multitude‘: Die Neubestimmung des aufständischen Subjekts durch M. Hardt und A.Negri ............................................................. 4.9.
5.
182
184
Das Ende der Politik der Massen und ihre Verabschiedung aus der Geschichte? .............................................................
187
Die Politik des Sozialen: Von der ‚sozialen Frage‘ über die Entstehung und den Wandel des modernen Wohlfahrtsstaates bis zur Sozialpolitik zweiter Ordnung .....................................
194
5.1.
5.2.
Die Kontingenz des Sozialen und die Idee des (sozialen) Risikos .........................................................................
199
5.1.1. Vom Risiko zum sozialen Risiko .............................
201
Die Politisierung des Sozialen durch Entpolitisierung: Die Sozialenzykliken der Katholischen Kirche und die sozialistische Revolution von 1917 ....................................
203
5.2.1. Die Katholische Sozialehre und Subsidiarität als „Baugesetz“ der Gesellschaft ................................. 5.2.2. Der Primat der sozialistischen Revolution: Die historische Notwendigkeit des Sozialismus und die Gesetzmäßigkeit der Geschichte ............................. 5.3.
5.4.
204
208
Die Entstehung der Sozialversicherung in Deutschland und Englands Antwort: Bismarck versus Beveridge .....................
211
5.3.1. Identität und Struktur der Sozialversicherung ............ 5.3.2. Identität und Struktur des Staatsbürgerstatus ............
212 215
Die Politik des Sozialen als Überwindung des Kapitalismus ....
219
11
Inhalt
5.5.
5.4.1. Die Politik des Sozialen und der Sozialismus: Eduard Heimanns Theorie der Sozialpolitik ........................ 5.4.2. Die Politik des Sozialen jenseits der Politik: Hugo Sinzheimer und das moderne Arbeitsrecht ................
226
Die Politik des Sozialen in nicht-demokratischen Staaten .......
228
5.5.1. Die Politik des Sozialen in totalitären Staaten: Das Beispiel des Nationalsozialismus ............................. 5.5.2. Die Politik des Sozialen im autoritären Staatssozialismus der DDR .................................... 5.6.
5.7.
5.8.
5.9.
219
228 233
Sozialpolitik und „gleicher sozialer Wert“: Die Idee der sozialen Staatsbürgerschaft bei Thomas H. Marshall ............
238
Die Politik des Sozialen in modernen Wohlfahrtsgesellschaften: Sozialpolitik als aktive Gesellschaftspolitik und das Eigengewicht der Institutionen ..........................................
242
5.7.1. „Sozialpolitik als Gesellschaftspolitik“: Hans Achingers Idee der sozialen Institute ........................ 5.7.2. Die Politik des Sozialen als aktive Gesellschaftssteuerung .......................................... 5.7.3. Die Entstehung und Auflösung von Typen von Wohlfahrtsstaaten ................................................
251
Von der Gestaltung des Sozialen zur (Selbst)Steuerung von Systemen: Die Sozialpolitik zweiter Ordnung, die Entstehung rekombinanter Wohlfahrtsstaaten und das Problem der Exklusion .....................................................................
255
243 247
5.8.1. Selbststeuerung in der Sozialpolitik: Das Beispiel der Rentenreform 1989 in der Bundesrepublik und andere Beispiele ............................................................ 5.8.2. Die Auflösung von Typen von Wohlfahrtsstaaten und die Entstehung rekombinanter oder hybrider Typen ... 5.8.3. Vom modernen Wohlfahrtsstaat zum Wettbewerbsstaat ................................................ 5.8.4. Exklusion: Die Umkehrung der wohlfahrtsstaatlichen Dynamik und die Überflüssigkeit von Menschen ........
263
Das Ende der (sozial)politischen Gestaltbarkeit von Gesellschaft? .................................................................
269
256 260 261
12
6.
Inhalt
Die Politik der Paranoia: Zur Psychopathologie des (Selbstmord)Attentäters und des wahnhaften Machthabers ....... 6.1.
Carl Schmitt als Theoretiker der politischen Paranoia? Der „Begriff des Politischen“ .................................................. 6.1.1. Die Anwesenheit der Politik durch ihre Abwesenheit: Was ist C. Schmitts Verständnis von Politik? ............. 6.1.2. Die Frage nach der Natur des Menschen: Gut oder Böse? ................................................................ 6.1.3. Der Dezisionismus C. Schmitts ............................... 6.1.4. Die Politik und „das Politische“: Zur Notwendigkeit und den Folgen einer Differenz ...............................
278 281 283 284 286
6.2.
Vom politischen Mord zum Selbstmordattentat ...................
289
6.3.
Zur Psychodynamik der politischen Paranoia ......................
292
6.4.
Das Attentat von Sarajewo und der Ausbruch des Ersten Weltkrieges ...................................................................
298
Vom Attentat zum Selbstmordattentat, oder: Das Lächeln der Attentäter .....................................................................
302
„Die Protokolle der Weisen von Zion“: Über die blutige Wirksamkeit einer paranoiden Fiktion ...............................
304
Der paranoide politische Stil bei den politischen Machtträgern und seine blutigen Folgen ................................................
311
Politische Paranoia und die Zukunft der Politik in (post)modernen Gesellschaften .........................................
314
Die Politik des Tötens: ‚Du sollst töten‘ als Imperativ totalitärer Herrschaft ...........................................................................
319
6.5.
6.6.
6.7.
6.8.
7.
275
7.1.
7.2.
Der Politikbegriff der Ideologen des Nationalsozialismus und die Politik des Tötens ......................................................
324
Lenin, Stalin und Trotzki: Die „permanente Revolution“ und die permanente Tötung als kommunistisches Ideal ................
333
13
Inhalt
7.3.
Die Konzentrations- und Vernichtungslager als spezifische Orte der Politik des Tötens .............................................. 7.3.1. 7.3.2. 7.3.3. 7.3.4.
Die Politik des Tötens und Typen von Lagern ............ Vernichtungslager als Orte des maschinellen Tötens ... Der Staat als Lager: Kambodscha unter Pol Pot ......... Die kommunistische Revolution in China: Die Politik der Tötung auf dem Höhepunkt ............................. 7.3.5. Der GULag in der Sowjetunion .............................. 7.3.6. Das System Guantánamo Bay: Die Einführung der Käfighaltung von Menschen im Lager ......................
7.4.
340 343 346 348 350 354
Hannah Arendts Totalitarismus-Theorie und die Politik des Tötens .........................................................................
358
Das Jahrhundert der Politik des Tötens? .............................
361
Die Politik des Krieges: Von den totalen Kriegen über die ‚neuen‘ Kriege bis zu den Drohnenkriegen ...............................
366
7.5.
8.
338
8.1.
Die Politik zum Krieg und die Politik im Krieg: Der „Schlieffenplan“ und die „Torheit der Regierenden“ im Ersten Weltkrieg ...................................................................... 8.1.1. Der Schlieffenplan als Politik zum und als Politik im Krieg ................................................................. 8.1.2. Die Beendigung des Krieges: Die Rückeroberung des Primats der Politik gegenüber dem Militär ................
8.2.
Der Zweite Weltkrieg als „totaler Krieg“ und die Steigerung der Gewalt ins Unermessliche ........................................... 8.2.1. General Erich Ludendorff und das Konzept des totalen Krieges .............................................................. 8.2.2. Jenseits des Konzepts: Der totale Krieg in der Wirklichkeit des Zweiten Weltkrieges ......................
8.3.
369 371 377
382 382 389
Die Politik des Partisanenkrieges: Partisanen als ‚Kippfigur‘ ...
394
8.3.1. Partisanen, (Sozial)Rebellen, Terroristen und Guerillas – Versuch einer Differenzierung der nicht-staatlichen Kriegsgewalt ....................................................... 8.3.2. Mao Tse-tung als Theoretiker und Praktiker des Partisanenkrieges .................................................
396 398
14
Inhalt
8.3.3. Che Guevara und die lateinamerikanische Variante des Partisanenkrieges ................................................. 8.3.4. Der Partisan in der konservativ-kriegerischen Diskussion des 20. Jahrhunderts bei Rolf Schroers ..... 8.3.5. Zusammenfassung: Die zentralen Merkmale des Partisanenkrieges und seine Zukunft im 21. Jahrhundert ........................................................
409
Die Politik der Atombombe .............................................
412
8.4.1. Die Politik der Atombombe und die (Un)Schuld der Beteiligten .......................................................... 8.4.2. War der Abwurf der Atombomben ‚notwendig‘? ........
413 421
8.5.
Die Politik der „neuen“ Kriege .........................................
424
8.6.
Die Konturen des virtuellen Krieges: Die Politik der Drohne und der hybride Frieden bzw. der hybride Krieg ...................
430
Gestaltwandel des Krieges im 20. Jahrhundert? Versuch einer Bilanz ..........................................................................
436
Die Politik des Friedens: „Si vis pacem, para pacem“ ...............
447
8.4.
8.7.
9.
9.1.
9.2.
9.3.
9.4.
Die Politik zum Frieden: Waffenstillstandsabkommen, Friedensverträge und Friedensmissionen .............................
402 406
450
9.1.1. Die Politik der Friedensverträge: Der Versailler Vertrag am Ende des Ersten und das Potsdamer Abkommen am Ende des Zweiten Weltkrieges ........................... 9.1.2. Die Friedensmissionen der UN nach dem Zweiten Weltkrieg ...........................................................
451
Die Politik des Friedens: Dolf Sternbergers Politikbegriff .......
467
9.2.1. Dolf Sternbergers Begriff der Politik ........................ 9.2.2. Dolf Sternbergers Begriff des Friedens ...................... 9.2.3. Die „Drei Wurzeln der Politik“ ..............................
469 471 474
Die Politik des Friedenmachens: Das zivilisatorische Hexagon und die Probleme seiner Realisation ...................................
479
Der Friede als unvollendetes Projekt ..................................
482
464
15
Inhalt
10. Die Politik der Rationalität und ihr Scheitern: Von der politischen Steuerung über Governance bis zur ‚zeitorientierten Reaktivität‘ ..........................................................................
487
10.1. Politische Macht und politisches Lernen: Karl W. Deutschs „Nerves of Government“ ................................................
491
10.2. Vom „Sich-Durchwursteln“ zum nur noch „Wursteln“. Charles E. Lindbloms Konzept des „muddling through“ und seine Grenzen ................................................................
498
10.3. Warum man mit der Politik die Zukunft sehen kann und dennoch nicht zu Frauen kommt. Die Verabschiedung der Idee der politischen Steuerung durch die Systemtheorie ................
506
10.4. Die Idee der politischen Steuerung und ihr Scheitern .............
512
10.4.1. Politische Steuerung als politikwissenschaftliches Konzept ............................................................. 10.4.2. Der Instrumentenkasten der politischen Steuerung .....
513 515
10.5. Governance als Verlust des Zentrums und Ortes der Politik: Die Entpolitisierung der Politik und ihr Verschwinden im Ortlosen .......................................................................
518
10.5.1. Der Wandel des Staatsverständnisses in der Steuerungstheorie: Vom hoheitlichen zum kooperativen Staat ............................................... 10.5.2. Vom kooperativen Staat zur staatslosen Governance ..
519 521
10.6. Die Logik der verspäteten Politik und das Ausmaß des Zuspätkommens ............................................................
526
11. Die Politik der Parteien: Von den Massen- über die Volksparteien bis zu den Parteien der professionellen Berufspolitiker bzw. den autoritär-populistischen Staatsparteien ......................
535
11.1. R. Michels „ehernes Gesetz der Oligarchie“ und W. I. Lenins „Partei neuen Typs“ .......................................................
540
11.1.1. R. Michels Parteientheorie und sein „ehernes Gesetz der Oligarchie“ ................................................... 11.1.2. W. I. Lenins „Partei neuen Typus“ und die russische Revolution .........................................................
540 550
16
Inhalt
11.2. Die Volks- oder „Catch-all“-Partei ....................................
553
11.3. Die Kartellparteien oder die professionalisierten Medienkommunikationsparteien .......................................
558
11.4. Die Krise der repräsentativen Parteiendemokratie und das Problem der Delegation und der „Accountability“ ................
563
11.5. Von den Kartellparteien zu autoritär-populistischen (Staats)Parteien? ............................................................
567
11.6. Die Gleichzeitigkeit verschiedener Parteitypen in den modernen Gesellschaften .................................................
571
12. Die Politik und ihre Variationen durch Politikertypen ..............
577
12.1. Politikertypen und deren Modi des Politiktreibens ................
579
12.1.1. Der Dämon als transmoralisches Wese. Zur Erinnerung an eine Denkfigur bei Dolf Sternberger .... 12.1.2. Der Demagoge: Von Webers Typus zu den heutigen Populisten: Das Spiel mit den Leidenschaften ............ 12.1.3. Die Staatsfrau und der ‚Held des Rückzugs‘ .............. 12.1.4. Der Amtsinhaber als Prototypus des Politikers in der ökonomischen Theorie der Politik ........................... 12.1.5. Der Hinterbänkler (in demokratischen und autokratischen Regimen) .......................................
580 584 585 587 589
12.2. Der Amtsinhaber als heute dominierender Politikertypus? ......
591
13. Die Politik mit dem Bild und die Politik des Bildes: Über die Medialisierung der Politik im 20. Jahrhundert .........................
595
13.1. Die Politik mit dem Bild ..................................................
599
Das (angebliche) Attentat von Sarajevo 1914 ................... Der Nürnberger Reichsparteitag von 1935 ...................... Die Toten des Zweiten Weltkrieges und des Holocaust ...... Der Kniefall des Deutschen Bundeskanzlers Willy Brandt ... Der Handschlag zwischen François Mitterand und Helmut Kohl ........................................................................ 9/11 und der Anschlag auf das World Trade Center ..........
600 601 603 605 608 609
17
Inhalt
13.2. Die Politik des Bildes ......................................................
611
Die Zerstörung des Feliks-Dzierżyński-Denkmals auf dem Lubjanka-Platz .......................................................... Das Napalm-Mädchen von Vietnam .............................. Der Fall der Mauer im November 1989 .......................... Der Kapuzenmann von Abu Ghraib ............................... Die Mohammed-Karikaturen von 2005 ..........................
611 613 616 618 621
14. Das ‚Verschwinden‘ der Politik am Ende des 20. Jahrhunderts? Versuch einer Bilanz ..............................................................
626
Literatur .....................................................................................
637
19
Abbildungsverzeichnis Schaubild 1:
Der politische Text im Kon-Text und gesellschaftlichen Kontext
29
Schaubild 2:
Typen von systemischem Wandel
121
Schaubild 3:
Das zivilisatorische Hexagon
480
Schaubild 4:
Die Massenpartei bzw. Partei der sozialen Integration im Spannungsfeld von Zivilgesellschaft und Staat
548
Schaubild 5:
Die Volkspartei zwischen Staat und Gesellschaft
555
Schaubild 6:
Die Kartell- bzw. professionalisierte Wählerpartei als „Staatspartei“
563
Kette der Delegationen in der repräsentativen Parteiendemokratie
564
Abbildung 1:
Das (angebliche) Attentat von Sarajevo 1914
600
Abbildung 2:
Standbild aus L. Riefenstahls Film „Triumph des Willens“ von 1935
602
Tote im KZ Bergen-Belsen nach der Befreiung durch britische Truppen
604
Kniefall Willy Brandts vor dem Ehrendenkmal der Helden des Ghettos
607
Abbildung 5:
F. Mitterand und H. Kohl in Verdun
608
Abbildung 6:
Anschlag auf die Türme des World Trade Centers in New York
610
Abbildung 7:
Zerstörung des Feliks-Dzierżyński-Denkmals in Moskau
612
Abbildung 8:
Das ‚Napalm-Mädchen‘ aus dem Vietnamkrieg
614
Abbildung 9:
Bild des Massakers von Mỹ Lai
615
Schaubild 7:
Abbildung 3: Abbildung 4:
Abbildung 10: Mauerfall am Brandenburger Tor am 9. November 1989
617
Abbildung 11: Der Kapuzenmann von Abu Ghraib
619
Abbildung 12: Mohammed-Karikatur der dänischen Zeitung JyllandsPosten
622
„Politisches Handeln gleicht somit einer Fahrt auf einem endlosen und abgrundtiefen Meer ohne schützende Zuflucht und sicheren Ankergrund, ohne Ausgangs- und festen Bestimmungshafen. Aufgabe ist es, gleichmäßig Fahrt beizuhalten – Freund und Feind zugleich. Die Seemannskunst liegt im Gebrauch der Kräfte einer Tradition des Handelns, um jede gefährliche Situation in eine freundliche zu verwanden. Und (…) dass Politik nur für Schwindelfreie ist, dürfte (…) nur die Kopflosen bedrücken.“ (Oakeshott 1966:138; Herv. im Org.)
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Einleitung Wie kein anderes Jahrhundert zuvor war das 20. Jahrhundert ein Jahrhundert der Politik. Es hat eine extreme Spannbreite dessen realisiert, was Politik realisieren kann. Es beginnt mit der Ausbildung eines neuen, historisch bisher einmaligen Gesellschaftstypus, dem realen Sozialismus, der nun auf die politische Weltkarte gesetzt wurde. Beginnend in Russland bzw. der Sowjetunion durch die Oktoberrevolution 1917, dann nach dem Zweiten Weltkrieg in den mittel- und osteuropäischen Staaten, hat er diese Gesellschafts- und Politikform gewaltsam eingeführt, wobei die chinesische und andere sozialistische Revolution ohne die russische nicht denkbar sind. Etwas Weiteres tritt hinzu: Die Kriege dieses Jahrhunderts sind mit einer bisher nicht gekannten Brutalität geführt worden und in ihnen wurden so viele Menschen getötet wie in keinen anderen zuvor. Nicht nur die beiden Weltkriege haben hierbei eine große Rolle gespielt. In den beiden Totalitarismen kam die politisch gewollte und massenhafte Vernichtung von bestimmten sozialen Gruppen hinzu. Die der Juden durch die nationalsozialistische Politik und der Kulaken und anderer sozialer Gruppen im Gefolge der russischen Revolution bzw. der stalinistischen Diktatur. Das politische Morden hat ein unvorstellbar grausames Ausmaß angenommen und eine tiefe Spur des Terrors und des Tötens in das Jahrhundert eingegraben. Zugleich hat sich im 20. Jahrhundert die Demokratie weltweit weiter durchgesetzt, was nicht zuletzt durch die Demokratisierungswellen in den mittel- und osteuropäischen Staaten, aber auch in anderen Regionen der Welt, am Ende des Jahrhunderts deutlich wurde. Es hat in vielen entwickelten Staaten den modernen Wohlfahrtsstaat realisiert und zugleich in vielen anderen, vor allem in der Dritten Welt, eine unvorstellbare Armut hervorgebracht. Es hat zudem neue Akteure in die Arenen der Politik geschleudert, wie die Massen und die Arbeiterklasse, dann politische Parteien, insbesondere die Massen- und später die Volksparteien, aber auch die Neuen Sozialen Bewegungen, die am Ende des Jahrhunderts vor allem in den modernen Wohlfahrtsstaaten an Bedeutung gewannen. Ebenso bedeutsam waren aber auch Diktatoren, die sich an die Macht geputscht und sie mit massiver Gewalt stabilisiert haben. Diese Entwicklungen verdeutlichen die Entstehung der „politischen Gesellschaft“1 als eines neuen Gesellschaftstypus, der gleichwohl verschiedene Ausprägungen annehmen kann: Von den sozialistischen Gesellschaften über die Entwicklungsdiktaturen in der Dritten Welt bis zu den modernen und demokratischen Wohlfahrtsstaaten der Ersten Welt, die bisher nicht gekannte Barrieren an sozialer Absicherung gegen fundamentale soziale Risiken auftürmen. Zugleich entwickelt sich die Idee der zielgerichteten politischen Steuerung der modernen Gesellschaften, die der zugespitzte Ausdruck einer neuen Machbarkeitsphantasie
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ist, die auch in der Wirtschaft und in anderen gesellschaftlichen Bereichen ihren Niederschlag fand. Die Entwicklung und der Einsatz der Atombombe sind Ausdruck der ungeheuren technologischen Dynamik, die durch die Politik und die von ihr entschiedenen staatlichen Subventionierungen angetrieben wurde. Durch Politik schien nun alles möglich zu werden, die Menschheit stand und steht vor keinen unüberwindbaren Hindernissen mehr. Selbst die Bildung eines neuen Menschentypus wurde in Angriff genommen, die vor allem, aber nicht nur, in den totalitären Staaten, gewaltsam angestrebt wurde. In den Sozialwissenschaften gab und gibt es verschiedene Versuche, die Entwicklung des 20. Jahrhunderts auf den Begriff zu bringen. Von einigen Historikern wurde es die „Zeit der Extreme“2 genannt, andere sprachen von der „Zeit der Ideologien“3 oder – eher das Gegenteil betonend – vom „demokratische(n) Zeitalter“4. Wieder andere stellten die Gewaltsamkeit in den Mittelpunkt5 und manche nannten das Europa des 20. Jahrhunderts wegen seiner durchgängigen Gewaltsamkeit den „dunklen Kontinent“6. Das alles war das Jahrhundert sicherlich auch, aber es war vor allem und besonders das Jahrhundert der Politik. Alle seine zentralen Ideologien, Ideen oder Programme wurden von politischen Akteuren bzw. der Politik erdacht und handlungswirksam ausformuliert. Zudem wären sie wirkungslos geblieben, wenn sie nicht mit der Vorstellung verbunden gewesen wären, sie mittels der Politik Wirklichkeit werden zu lassen. Dies erfolgte durch verbindliche und im Zweifelsfall mit Gewalt durchgesetzte Entscheidungen. Alle großen und kleinen Ideologien des 20. Jahrhunderts beruhten auf einer gemeinsamen Grundvorstellung, die sie trotz aller fundamentaler Differenzen teilten: Die Welt, so wie sie ist, kann und soll so nicht bleiben, sie muss eine andere werden und die in ihr lebenden Menschen ebenfalls. Die Ideologien vertretenden politischen Kräfte waren in den Worten Karl Mannheims „Wollungen“7, die als politische Parteien, politische Führer, Diktatoren, totalitäre Machthaber, (neue) soziale Bewegungen oder andere Kräfte auf der Bühne der Politik auftraten und umfassende Gesellschaftsentwürfe bereit hielten. Diese sollten, ja mussten zur Realität werden, um die Welt vor ihrem Untergang zu bewahren oder aus ihr einen Himmel zu machen. Die Idee der Gestaltbarkeit von Gesellschaft durch politische Entscheidungen und die prinzipielle Möglichkeit, diese Entscheidungen mittels Gewalt in gesellschaftliche Wirklichkeit zu übersetzen, war hierfür zentral. Nach dem Zusammenbruch der religiös und naturrechtlich begründeten, also fast ‚heiligen‘ Ordnungen der Gesellschaft, mussten nun immer wieder neue Gründe gefunden werden, warum die Welt so und nicht anders aussehen soll. Die Abwesenheit letzter Gründe, wie Gott, Geschichte oder Natur, verweist heute auf die Verschiedenheit von Gründen, aber nicht auf die Verabschiedung von Gründen. Die großen politischen Ideologien, Ideen und politischen Semantiken, die im Verlauf des 20. Jahrhunderts heftig um Anerkennung kämpften, verdeutlichen unhintergehbar
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die Pluralität von Gründen, warum eine Gesellschaft so und nicht anders gestaltet werden soll. Gesellschaft wird nun zum explizit politischen Begriff. Sie ist ein politisch zu formender, zu gestaltender, zu verändernder Gegenstand und die politische Gestaltbarkeit von Gesellschaft wird zum Signum des 20. Jahrhunderts. Dies schließt selbstverständlich Positionen ein, die von der prinzipiellen Unmöglichkeit von Gesellschaft ausgehen, wie etwa Friedrich A. Hayek, und eine politisch gestaltete Gesellschaft vollständig durch tauschförmige Marktprozesses ersetzen wollen.8 Die ehemalige britische Premierministerin Margaret Thatcher sagte: „There is no such thing as society“9, sondern nur unverbundene Einzelne oder einzelne unverbundene Familien. Aber diese Sichtweisen sind naiv oder ideologisch und wurden nie dominant. Gerade die Familie ist eine hochgradig verrechtlichte und politisch gestaltete Institution. Dies belegt erneut, dass moderne Gesellschaften „politische Gesellschaften“10 sind, deren prinzipielle Gestaltetheit und Gestaltbarkeit zum Selbstverständnis dieses Jahrhunderts gehört. Man kann die zukunftsorientierten und rationalen Politikverständnisse am Beginn dieses Jahrhunderts als Politiken der Zuversicht kennzeichnen. An seinem Ende dominieren jedoch Politiken der Skepsis,11 vielleicht sogar postmoderne Politiken, die die Idee der zielorientierten Gestaltbarkeit von Gesellschaft aufgegeben haben und Politik auf das Management des Unerwarteten reduzieren.12 Politik stellt – so das vorweggenommene Resultat der folgenden Überlegungen – am Ende des Jahrhunderts von „zielgerichteter Rationalität“ auf „zeitorientierte Reaktivität“ um.13 Politik kann somit keine umfassende Macht mehr über die Verhältnisse im Sinne ihrer politischen Gestaltbarkeit ausüben, sondern nur noch in den Verhältnissen.14 In die Rekonstruktion der verschiedenen Politikverständnisse fließt somit unhintergehbar ein zeitdiagnostisches Element ein.
1. Das Jahrhundert der Politik? Einführung in die Thematik Kann man eine Geschichte des 20. Jahrhunderts schreiben, die nicht kultur-, ideen-, ideologie- oder sozialgeschichtlich angelegt ist, sondern das 20. Jahrhundert durch die Brille von relevanten politischen Semantiken beobachtet? Ich glaube ja – und der vorliegende Essay soll den Beweis hierfür liefern. Ich fokussiere auf die wichtigsten politischen Semantiken, indem ich verschiedene zentrale Themenbereiche und Topoi herausgreife und zugleich ihre Wandlungen durch das gesamte Jahrhundert hindurch verfolge. Zwei Gründe sprechen für eine detaillierte Rekonstruktion von verschiedenen politischen Semantiken auf der historischen Zeitachse, ein analytischer und ein systematischer. Der analytische Blick kann in den jeweiligen politischen Semantiken die unterschiedlichsten und miteinander konkurrierenden Ideologien, Ideen und Pro-
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gramme über die politische Gestaltbarkeit einzelner Politikbereiche entziffern. Hier kämpfen die verschiedenen Sichtweisen jeweils um Anerkennung. Die Politik der Massen realisiert sich beispielsweise mittels völlig unterschiedlicher politischen Praxen als etwa die der Verfassunggebung und diese wiederum anders als die der Politik des Krieges oder die des Friedens. Die Analyse der unterschiedlichen Policybereiche mit ihren jeweils differenten politischen Konfliktstrukturen verdeutlicht die ungeheure Vielfalt und Differenziertheit der Politik und ergibt einen tiefen Einblick in deren komplexe und kontingente Dynamiken. Zudem gibt es kaum politikwissenschaftliche Untersuchungen, die den Wandel der politischen Semantiken des 20. Jahrhunderts systematisch in den Blick nehmen. Dies kann hier auch nicht vollständig erfolgen, vielmehr zeichne ich eher ein kaleidoskopisches Bild, das man auch anders hätte zeichnen können. Der systematische Blick versucht gleichwohl eine Gesamtschau zu bieten und Begrifflichkeiten zu formulieren, die diese auf den Punkt bringen könnten. Gibt es also eine alle jeweiligen Politikbereiche überlagernde Tendenz, die einen grundlegenden Wandel des Politikverständnisses signalisiert und wenn ja, wie wäre dieser begrifflich zu fassen? Wie bereits erwähnt vermute ich einen Wandel von der ‚Politik der Zuversicht‘ zu einer ‚Politik der Skepsis‘ (M. Oakeshott), der mit einem systematischen Wandel des Rationalitätsverständnisses der Politik einhergeht.
1.1. Politische Semantiken als ‚Brille‘ – Was man durch sie sieht und was nicht Die Konzentration auf politische Semantiken ermöglicht – so meine Vermutung – einen neuen Zugriff auf das Jahrhundert, der bisher nicht beobachtete Aspekte beobachten kann. Ein solcher Zugriff setzt sich bewusst ab von politik- oder sozialwissenschaftlichen Analysen des Wandels von Regierungssystemen, der Sozialstruktur der Gesellschaft, des Wandels der (politischen) Kultur o.ä. Er setzt sich auch ab von der tradierten politischen Ideengeschichte. Nicht nur, weil ich die älteren, gleichwohl für die Ideengeschichte zentralen Texte ignoriere, die immer, wenn auch manchmal nur implizit, ein bestimmtes Verständnis von Politik formulieren. Aber die Texte der politischen Theorien und der Ideengeschichte gehen über den eher engen Bereich der Politik bzw. des politischen Handelns weit hinaus und diskutieren meist auch andere Grundfragen des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Mein Essay dagegen stellt Politik als eigenständige Kategorie ins Zentrum und rekonstruiert deren Bedeutungsmuster, wie sie sich im Lauf der Zeit verändert haben, wie verschiedene topoi der Politik ausgeformt wurden, welche Ausprägungen sie in den verschiedenen (Politik)Feldern angenommen und wie sie sich im Lauf des Jahrhunderts gewandelt haben.
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Daraus wird nicht gleich eine politische oder gar Gesellschaftstheorie, aber immerhin eine Gesellschaftsbeobachtung durch die Brille der verschiedenen Politikbegriffe. Dem liegt die Prämisse zu Grunde, dass man in Anlehnung an die Cambridge School15 und die Text- und Diskursanalyse16 politisch und politikwissenschaftlich relevante Texte kontextualisiert und sie als begriffliche Reaktionen auf und intellektuelle Interventionen in eine gegebene historische Situation zugleich liest. Im Zentrum meines Essays stehen politische Texte. Sie unterscheiden sich von literarischen und anderen Texten dadurch, dass sie in einer spezifischen Beziehung zu ihrem gesellschaftlichen Umfeld stehen. Karl Mannheim hat in seiner Wissenssoziologie einen Ausgangspunkt formuliert, der auch für meinen wissenspolitologischen Zugriff17 von großer Bedeutung ist. Er liegt darin, dass eine „Korrelation (besteht), die zwischen Wissensarten, Wissensgehalten und bestimmten tragenden sozialen Gruppen und sozialen Prämissen“ vermittelt.18 Wissen, Semantiken und politische Texte sind mit dem Politisch-Gesellschaftlichen verbunden – und das in doppelter Weise. Zunächst sind die Autoren und ihre Texte in einen spezifischen und identifizierbaren historischen Kontext eingebunden, der gleichwohl der laufenden Veränderung unterliegt. Aber man kann die Muster einer gesellschaftlichen Struktur und deren politischer Machtkonstellation zu einem bestimmten Zeitpunkt sehr wohl analysieren und festhalten. Ein politischer Text reagiert auf oder reflektiert über diese Konstellation, nicht nur rein wissenschaftlich, sondern eben politisch. Zum anderen werden politische Texte von bestimmten ‚Trägern‘ produziert und formuliert. Diese können einzelne Autorinnen ebenso sein wie Autorenkollektive oder Repräsentanten von bestimmten sozialen oder politischen Gruppierungen, wie etwa von politischen Parteien oder von sozialen Bewegungen. Auch Intellektuelle, die einer sozialen Gruppe (oder sich selbst) durch ihren Text eine Stimme geben und sie repräsentieren wollen, gehören in diese Kategorie. Der entscheidende und provokante Gedanke ist aber der, dass „die gleiche Welt verschiedenen Beobachtern verschieden erscheinen kann.“19 Ersetzt man den Begriff des Beobachters durch den des ‚politischen Akteurs‘, die neben ‚Beobachtern‘ auch Handelnde in einer spezifischen Machtkonstellation sind und diese verändern oder bewahren wollen, so kommt man zu der Erkenntnis, dass die gleiche Welt verschiedenen politischen Akteuren verschieden erscheinen kann, ja muss. Die jeweiligen pluralen Welt(an)sichten kann man dann als Denkstile bezeichnen, ein Begriff, der ebenfalls von Karl Mannheim stammt.20 Denkstile können bestimmten sozialen Kräften als Quelle zugerechnet werden und dies gilt selbstverständlich auch für ‚politische Kräfte‘. Denkstile konkurrieren in einer bestimmten historischen oder politischen Situation um die ‚richtige‘ Deutung der Welt und kämpfen um Hegemonie. Gerade auf dem Gebiet der Politik ist man unhintergehbar mit der Verschiedenheit der Denkstile konfrontiert, die durch die
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jeweils unterschiedliche Verankerung der politischen Kräfte im Sozialgefüge der Gesellschaft bedingt ist. Diese Denkstile kämpfen in den modernen Demokratien auf einem offenen, freien, fairen und rechtlich gesicherten Terrain um politische Anerkennung bzw. um Mehrheiten. Haben sie diese erkämpft, so sind die Denkstile und die sie repräsentierenden Kräfte legitimiert, die Gesellschaft nach genau diesen Vorstellungen zu gestalten und werden hierbei von der politischen Opposition kritisiert und kontrolliert. In nicht-demokratischen Gesellschaften wird die herrschende Sicht dagegen mittels ungebundener Macht und Gewalt realisiert. Denkstile schlagen sich in Texten nieder und unter einem Text verstehe ich eine einzelne, in sich konsistente Aufschrift, die von einem Autor zu einem bestimmten Zeitpunkt formuliert wurde. Als Text betrachte ich aber auch eine zusammenhängende und konsistente Diskussion, in der von verschiedenen Autoren ein zentraler Sachverhalt in einem bestimmten, abgrenzbaren Zeitraum ähnlich thematisiert wird. Politische Texte reagieren auf eine als problematisch betrachtete Situation oder antizipieren sie. Zugleich intervenieren sie in ein gegebenes Kräftefeld oder eine politische Machtkonstellation, wollen diese verändern und eine politische (Re)Aktion provozieren. Sie stehen deshalb immer auch in Konkurrenz zu anderen Texten, die von anderen Autorinnen formuliert werden und konkurrierende Interessen repräsentieren. Folglich wird sich mein Essay auf einen bestimmten Textkorpus stützen, der direkt von Politikern, von Grenzgängern der Politik, von (politischen) Philosophen oder politisch motivierten Intellektuellen geschrieben wurde, wie etwa politischen Denkern, politischen Führern, Verfassern von Artikeln in einschlägigen Handbüchern, Publizisten, Parlamentariern u.Ä., aber auch von politiknahen Wissenschaftlern und Experten. Sie vertreten analytische, aber auch normativ inspirierte Positionen, liefern Begründungen für politische Aktionen und versuchen zum Teil selbst, für ihre Positionen Unterstützung zu gewinnen oder die Massen zu mobilisieren. Damit verbunden ist der Versuch, nicht allein in den akademischen Wissenschaften, sondern auch in der politischen Öffentlichkeit ein Echo auszulösen. Die medial inszenierte Öffentlichkeit wird im 20. Jahrhundert zum wichtigsten Resonanzboden für die Politik. Sie reagiert auf die von der Politik thematisierten Fragen und politisiert sie zugleich selbst, indem sie mittels eigener oder der Massenmedien auf die Politik einwirkt. Die Öffentlichkeit ist in diesem doppelten Sinne immer politisiert, eine entpolitisierte kann es nicht geben. So wie die moderne Gesellschaft immer politische Gesellschaft ist, so ist deren Öffentlichkeit immer politische Öffentlichkeit. Was meint aber nun der oben erwähnte Begriff der „Korrelation“21 zwischen Denkstilen bzw. Wissensbeständen und sozialen bzw. politischen Gruppierungen? Sicherlich keine mathematische oder streng kausale Beziehung, sondern eher eine mehrdeutige und kontingente.22 Texte haben immer eine relative Autonomie gegenüber ihrem Gegenstand bzw. ihren sozialen Trägern. Alle Vorstellungen einer
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Determination eines Textes durch oder einer getreuen Widerspiegelung der gesellschaftlichen Verhältnisse, wie es der dogmatische Marxismus nahelegt, gehen fehl. Die Idee der relativen Autonomie des Textes gegenüber seinem Gegenstand unterstellt dagegen, dass der Gegenstand der textlichen Beobachtung und der Text als Beobachtung zwei verschiedene Sachverhalte sind. Für mein Unterfangen sind zwei ‚Korrelationen‘ zwischen Text und Gegenstand wichtig. Zum Einen ist jeder Text von einem textlichen Kon-Text umgeben, also einem oder anderen Texten, auf die er sich bezieht und mit denen er sich implizit oder explizit auseinandersetzt. Er wird durch die zeitgenössischen Diskussionen, bestimmte Wahrnehmungs- und Deutungsmuster, politische Positionierungen und parteipolitische Interessen u.Ä. konstituiert. In ihnen schlagen sich verschiedenste politische Positionen nieder. Zum Anderen hat jeder Text einen sozial-gesellschaftlichen Kontext, also Träger oder Strukturen, die sich gleichwohl in konflikthaften Veränderungsprozessen befinden. Ein Text in diesem Kontext ist dann eine politische Semantik, die die Interessen einer spezifischen politischen oder sozialen Kraft vertritt, mit anderen Positionen um Anerkennung kämpft und in einer bestimmten historischen Konstellation formuliert wurde. Politische Texte betrachte ich wie Fenster, durch die man einen Bereich der ‚Wirklichkeit‘ erblickt. Man sieht eine bestimmte Problemlage ‚schärfer‘, weil sich ein Text mit genau einem Aspekt der komplexen Welt beschäftigt und dafür vieles andere im Dunkeln lässt. Durch die Analyse politischer Texte öffnet sich der Blick auf eine hoch komplexe und hoch konflikthafte Welt und man kann die hellen und sonnigen Elemente ebenso erkennen wie die dunklen und schattigen. Schaubild 1 verdeutlicht diese Zusammenhänge. Schaubild 1: Der politische Text im Kon-Text und gesellschaftlichen Kontext
Quelle: Eigene Darstellung
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Texte sind aber nicht nur Interpretationen, sondern immer auch Interventionen in politische und gesellschaftliche Kontexte ebenso wie in textliche Kon-Texte. Manche Denkmuster werden hegemonial, andere werden in Frage gestellt, manche bleiben ungehört und wieder andere lösen heftige Kontroversen aus. Insofern ermöglichen Texte kontroverse Blicke auf die Welt und verändern sie zugleich. Texte sind aber auch Einblicke und Eingriffe in die Wirklichkeit und unter dieser Perspektive versuche ich, die von mir ausgewählten Texte zu deuten, wobei der Text und seine Interpretation der Welt ebenso im Mittelpunkt steht wie seine (potentielle) Intervention in die Wirklichkeit. Politische Semantiken und politische Begriffe sind somit als kontroverse Debatten der Gesellschaft über sich selbst zu lesen, in denen sie sich im Spiegel der Politik betrachtet. Wie soll eine Gesellschaft durch Politik gestaltbar sein? Welchen Bedrohungen ist sie ausgesetzt und wie sollen politische Entscheidungen in die sozialen, ökonomischen und gesellschaftlichen Lebenslagen intervenieren? Welche utopischen Sehnsüchte und massiven Ängste sind in den Texten enthalten? Welche Aufgaben stellt sich die Politik in welcher historischen Situation? Dies sind nur einige der zentralen Fragen, denen ich nachgehe.
1.2. Mögliche Handlungsbereiche und Handlungsformen der Politik Die Gesellschaften des 20. Jahrhunderts sind – wie oben angedeutet – politische Gesellschaften. Sie sind von einer Vielzahl von Akteuren geprägt, die einen explizit politischen Anspruch formulieren, um Anteile an politischer Macht kämpfen und darüber die Gestaltung von Gesellschaft bewerkstelligen wollen. Dies führt eine erstaunliche Beweglichkeit und Variabilität in moderne Gesellschaften ein und nicht nur im historischen Zeitverlauf, sondern auch zu jedem einzelnen Zeitpunkt kämpfen in der Politik unterschiedliche Optionen um Anerkennung und politische Macht. Diese Kontingenz, die sich im Verlauf des Jahrhunderts immer deutlicher bemerkbar macht und sich immer stärker im gesellschaftlichen Bewusstsein niederschlägt, wird zugleich vom Aufbau von Konstellationen begleitet. Sie setzen sich aus einem robusten Dauergerüst verschiedenster und politisch entschiedener Institutionen zusammen. Sie reichen von Verfassungen über eine Vielzahl sozialer und gesellschaftlicher Institutionen bis hin zu einem fast unendlichen Set von rechtlichen, gleichwohl kontingenten Regelungen und Policies. Sie umfassen den Konsumentenschutz, Arbeitsrecht und -schutz ebenso wie familienund sozialpolitische Regelungen bis hin zu Vorschriften über den Naturschutz. Das gesellschaftliche und soziale Leben in modernen Gesellschaften ist zweischalig geformt: Es ist durch die verschiedensten Rechtsbereiche und deren institutionelle Ausprägungen strukturiert, in denen sich das gesellschaftliche Leben vollzieht und für viele Menschen zu einer zweiten Natur, einer explizit politischen
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Natur geworden ist. Man weiß über diese Regelungen, man rechnet mit ihnen, baut sie in seinen Lebenshorizont ein und gibt ihnen Sinn (oder auch nicht). Zum anderen sind immer Freiheitsräume existent, die entweder durch Rechte garantiert (Menschen-, Bürger-, politische, soziale und andere Rechte) oder die ungeregelt sind und in denen sich das genuin soziale Leben abspielt. In welchem Verhältnis diese zwei ‚Schalen‘ zueinander stehen, ist historisch kontingent und von den Entscheidungen der Politik abhängig. Doch was ist ‚Politik‘ und was kann der Begriff in einer ersten, sporadischen Annäherung aussagen? Der finnische Politikwissenschaftler Kari Palonen hat in weitläufigen, materialreichen und vergleichenden Studien nachgewiesen, dass Politik als Handlungsbegriff in Europa erst im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert entstanden ist, während Politik zuvor überwiegend in Substanz- oder Disziplinbegriffen diskutiert wurde.23 Ich konzentriere mich deshalb auf den Zeitpunkt, in welchem im europäischen Kontext Politik als Handlungsbegriff neu gefasst wurde und werde mich im Weiteren auf die handlungstheoretisch begründeten Politikbegriffe konzentrieren. Diese Perspektive eröffnet den Blick nicht nur auf unterschiedliche Handlungsformen der Politik, sondern auch auf die verschiedensten Handlungsbereiche. Erstere konzentrieren sich auf die Aktivitäten, mittels derer Politik ausgespielt wird. Hier ist der Bereich, in dem man Gegner, Widerkämpfer und Rivalen hat und mit denen man um die Anerkennung von Ideologien, Ideen und Interessen kämpft. Manchmal werden aus Gegnern Feinde und dann wird eine neue Dimension eingeführt, die jenseits der Politik angesiedelt ist und die manche ‚das Politische‘ nennen.24 Der Konflikt bzw. der Kampf wird dann fundamental, es geht ums Ganze, letztlich um Leben und Tod bzw. wie in den totalitären Regimen um die völlige Vernichtung von bestimmten sozialen oder religiösen Gruppen. Politische Gegner dagegen haben Rechte, Ressourcen und Respekt. In den Politikbegriffen wird auch deutlich, wer mit welchen Rechten, Ressourcen und welchem Respekt am politischen Spiel teilnehmen kann. Die Handlungsbereiche stecken dagegen die Felder ab, in denen die Politik tätig wird. Diese sind nicht statisch, sondern dynamisch und berühren die verschiedensten Segmente der Gesellschaft. In dem, was politisierbar ist und was nicht, lotet eine Gesellschaft ihren Möglichkeitshorizont aus und streitet um verschiedene mögliche Zukünfte. Soll es einen Wohlfahrtsstaat geben, und wenn ja, wie soll er ausgestaltet werden? Welches Ausmaß soll Armut annehmen dürfen und welches nicht? Wie soll man mit den natürlichen Ressourcen umgehen? Diese Handlungsbereiche decken alle die Policybereiche ab, in die Politik in den modernen Gesellschaften interveniert und sie umgestaltet. Unschwer ist zu erkennen, dass die Politik die zentrale Signatur des „Jahrhundert(s) der Extreme“ (E. Hobsbawm) ist und für seine unterschiedlichsten Ausprägungen verantwortlich ist. Die historisch bedingte Kontingenz der politischen
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Semantiken – das ist die leitende Prämisse dieses Essays – ist der Schlüssel zum Verständnis dieses Jahrhunderts. Das 20. Jahrhundert war weitgehend vom Primat der Politik geprägt. Das gilt für die „politischen Religionen“25 bzw. die beiden großen Totalitarismen ebenso wie für die Theorien der politischen Steuerung, der aktiven Gesellschaftsgestaltung oder rationaler Problemlösungskonzepte. Nur durch politische Gestaltung – so die dominierenden Positionen – lassen sich die verschiedensten und uneinheitlich interpretierten Herausforderungen dieses Jahrhunderts bewältigen. Auch die letzten großen Projekte dieses Jahrhunderts, die Schaffung der EU und die großen Transformationen in den mittel- und osteuropäischen Ländern, waren und sind politische Projekte. Immerhin sind die ehemals sozialistischen Länder durch politische Entscheidungen vom autoritären oder totalitären Sozialismus in demokratische und marktwirtschaftlich verfasste Gesellschaften transformiert worden. Das wichtigste Mittel der Politik ist – neben vielen anderen – der Einsatz der physischen Gewalt. Kein anderes (Teil)System moderner Gesellschaften verfügt über das Monopol der legitimen physischen Gewaltsamkeit. Selbstverständlich stehen ihr noch weitere und andere Mittel zur Verfügung – ökonomische Anreize, Überzeugungskampagnen, Aufklärung, Moderation, Delegation, etc. –, aber ohne den Einsatz des staatlichen Gewaltmonopols ist Politik schlechterdings nicht denkbar. Das Grauen der Konzentrationslager und die demokratischen und ökonomischen Fortschritte waren und sind ohne den Einsatz von Gewalt nicht vorstellbar. Licht und Schatten dieses Jahrhunderts verdanken ihre Existenz der Politik und ihrer Gewaltsamkeit. Politik – verstanden als begründbarer, vernunftbasierter, aktiver und zielorientierter Eingriff in die Gesellschaft oder – im Extremfall – in die Geschichte – ist das Signum des 20. Jahrhunderts. An seinem Ende jedoch muss die Politik erkennen, dass ihr aktiver Handlungsspielraum in einer hoch komplexen, hoch dynamischen und hoch globalisierten Welt immer enger wird und sie notgedrungen auf zeitorientierte Reaktivität umstellt. Andere Autoren verwenden hierfür den Begriff des „Verschwindens der Politik“.26
2. Semantiken der Politik im 20. Jahrhundert: Eine Übersicht über das Buch Im Folgenden will ich überblicksartig ausgewählte politische Semantiken skizzieren, die in den jeweiligen Passagen des Buches ausführlich und im zeitlichen Ablauf dargestellt werden. Ich hoffe, die für das Jahrhundert wichtigsten in den Blick zu nehmen und es so in seinen grundlegenden Farben und Facetten zu beschreiben. (i) Bevor ich die einzelnen Semantiken der Politik darstelle, muss eine zentrale politische Differenz diskutiert werden, die zwischen der Politik und dem Politi-
2. Semantiken der Politik im 20. Jahrhundert: Eine Übersicht über das Buch
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schen. Mein Essay handelt von den verschiedenen Formen und Mustern der Politik, während sich ‚Das Politische‘ immer auf einen existentiellen Konflikt konzentriert. Zu Beginn des Jahrhunderts, im Jahr 1927 von Carl Schmitt zum ersten Mal formuliert, sollte der „Begriff des Politischen“ diese existentielle Unterscheidung markieren, um zwischen Freund und Feind zu unterscheiden und den tödlichen Kampf zwischen beiden als das Wesentliche der Politik zu markieren.27 Am Ende des Jahrhunderts wurde der Begriff erneut prominent, diesmal im Umkreis linker Theoretiker, vor allem in Frankreich und Italien. Wenn in der Moderne am Ende des Jahrhunderts – so deren Prämisse – keine übergreifenden Gemeinsamkeiten und keine letzten Gründe mehr zur Verfügung stehen, auf welcher Grundlage soll dann eine politische Gesellschaft gegründet werden? Es können dann nur noch reine Dezisionen sein, die zu anderen potentiellen Entscheidungen in grundlegendem Antagonismus stehen und sich deshalb mit Gewalt durchsetzen müssen. Im Kern sind hier revolutionäre Situationen gemeint, die mittels Gewalt ‚gelöst‘ werden müssen. Politik versucht den genau gegensätzlichen Weg: weg vom Antagonismus und hin zum Agonismus, der zwar konflikthafte, aber friedliche, gleichwohl umstrittene Entscheidungen ohne Krieg zulässt.28 Nicht nur über die fundamentalen Grundfragen der Ausgestaltung einer Gesellschaft muss politisch entschieden werden, sondern auch über deren politisch induzierte, aber alltägliche und eher ‚normale‘ Veränderungsdynamiken. (ii) Der erste Topos der Politik handelt von der Politik der Möglichkeiten. Um die Jahrhundertwende haben verschiedene Autoren den Politikbegriff vom Staat gelöst und zu einer eigenständigen Handlungssphäre erklärt, die nach eigenen Logiken und Gesetzen operiert. Hierbei eröffnet Politik einen Spielraum, in dem das schöpferische, kreative, zukunftsorientierte Handeln sich ausspielen lässt und sich auf die Neuformung oder Beherrschung bereits bestehender politischer Machtkonstellationen konzentriert. Politik steigert den Horizont von Möglichkeiten, über die sich eine Gesellschaft selbst gestalten kann. Während bisher normative Zielbestimmungen den Inhalt der Politik bestimmten, treten nun unbestimmte Möglichkeiten ins Zentrum des Politikbegriffs. Politik ist eine umstrittene und umkämpfte Aktivität, in der verschiedene Akteure, vornehmlich politische Parteien und einzelne Politiker, um Anerkennung kämpfen und ihre jeweiligen Optionen in verbindliche, gleichwohl erneut änderbare Entscheidungen transformieren wollen. Politik steigert die Kontingenz aller bisher bestehenden, eher statischen Gesellschaften. Zugleich werden in diesem Kapitel die Grundlagen für ein vertieftes Verständnis der Politik – in Abgrenzung zum Begriff des Politischen – entwickelt und vier Begriffe eingeführt, nämlich Politisieren, Politicking, Polarisieren und Paralysieren, die eine Differenzierung innerhalb des Politikbegriffs zulassen. (iii) Die Politik der Verfassunggebung ist die Hochzeit der Politik. Hier werden die grundlegenden Fragen der Gesellschaften thematisiert und politisch ent-
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schieden. Verfassungen selbst sind politische Semantiken in dem Sinne, als sie nicht nur die normativen Grundprämissen einer Gesellschaft festlegen, sondern auch die Bandbreite und Verfahren ihrer Selbstthematisierung. Auf welchen normativen und rechtlichen Prämissen soll ein neues politisches Gemeinwesen gegründet werden? Mit welchen Rechten und Pflichten sind die Bürger ausgestattet und wie an der politischen Entscheidungsfindung beteiligt? Welche Möglichkeiten und Spielräume hat die Politik und wie ist das Regierungs- bzw. das politische System institutionalisiert und organisiert? Sind die durch Verfassunggebung neu begründeten politischen Gesellschaften demokratisch oder diktatorisch ausgestaltet? Wenn es denn die Souveränität des Volkes gibt, dann in den Prozessen der Verfassunggebung. Hier hat die Politik die Möglichkeit und die Kraft, alle Grundfragen eines Gemeinwesens neu zu entscheiden – ohne an vorlaufende oder vorgegebene Normen gebunden zu sein. Am Ende des Jahrhunderts dominierten jedoch in den osteuropäischen Verfassunggebungen die Runden Tische, die genau die Konstitution einer souveränen verfassunggebenden Gewalt des Volkes verhindern wollten. Stattdessen wurden mit den alten kommunistischen Machthabern die Übergänge und die Grundstrukturen der neuen Verfassungen ausgehandelt. Viele entstanden mit Hilfe der verfassungsändernden Regeln der alten kommunistischen Verfassungen, sodass nie ein rechts- bzw. verfassungsloser Zustand entstehen konnte. Die souveräne verfassunggebende Gewalt des Volkes wurde ‚souverän‘ ad acta gelegt. (iv) Die Politik der Massen beschreibt das Auftreten eines eigenständigen politischen Subjekts mit eigener politischer Handlungslogik. Sowohl die Massentheoretiker als auch die Massenpsychologie untersuchen dies und legen nahe, dass die Massen eine spezifische Form der Politik, allerdings eine irrational gespeiste, hervorbringen. Eine neue Dynamik im Bereich der Politik tritt auf, vor allem dann, wenn sich Masse und Führer miteinander zu etwas Neuem, zu einer hochgradig explosiven Form der politischen Handlungsfähigkeit verbinden. Ab Mitte des Jahrhunderts spielen dann beide eine abnehmende Rolle, nachdem Masse und Führer im Faschismus und zum Teil auch im Sozialismus in Russland ein unheilvolles Konglomerat eingegangen waren. Am Ende des Jahrhunderts werden die Massen von manchen führenden Soziologen zur fata morgana, zur gefahrlosen Gruppe, zur konsumierenden und deshalb nicht mehr politisierenden Masse erklärt. Sie hätte sich selbst historisch überholt – um dann zur Überraschung vieler in den mittel- und osteuropäischen Umwälzungen erneut eine zentrale Rolle zu spielen. Parallel dazu findet eine Neudefinition der Masse statt: In der globalisierten Welt agiert sie nun als Multitude, die sporadische und spontane Aufstände gegen den globalisierten Kapitalismus unternimmt – oder auch nicht. (v) Im Zentrum der Politik des Sozialen steht zunächst die Regulierung des Klassenkonflikts. Daraus entwickelten sich im Laufe des Jahrhunderts die modernen Wohlfahrtsstaaten und die mit ihnen untrennbar verbundenen sozialen Rech-
2. Semantiken der Politik im 20. Jahrhundert: Eine Übersicht über das Buch
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te, die jedoch sehr unterschiedliche Ausprägungen gefunden haben. Die Politik des Sozialen entscheidet auch darüber, welche unterschiedlichen Typen von Wohlfahrtsstaaten entstehen und welche Variationen diese am Ende des Jahrhunderts, konkret seit den 70er Jahren, erfahren haben. Unabhängig vom Typus des jeweiligen Wohlfahrtsstaates kommt es insgesamt zu einer politisch entschiedenen Vergesellschaftung. Das Leben ist durch die Politik des Sozialen ‚zweischalig‘ geworden. Es gibt das immer weiter schrumpfende genuine Leben ohne den (Sozial)Staat und dann das Leben, das durch sozialstaatliche Maßnahmen – in welcher Form auch immer – begleitet wird. Dabei ist die letztere ‚Schale‘ konstitutiv für das moderne Leben und signalisiert, wie weit das Leben bereits verpolitisiert ist. Aber im Verlauf des Jahrhunderts ändert sich die Vorstellung der Politik des Sozialen erheblich. Als Sozialpolitik zweiter Ordnung hat sie sich von der zielorientierten Gestaltung des Sozialen auf die institutionelle und finanzielle Sicherung der Systeme der sozialen Sicherung zurückgezogen und kann die Exklusion von sozialen Gruppierungen nicht verhindern. Im Gegenteil, sie kann mittels der Sozialpolitik erfolgen. (vi) Man kann das 20. Jahrhundert nicht ohne die Politik der Paranoia denken, die sich vom kalkulierten politischen Mord aus reinen Machtgründen fundamental unterscheidet. Den Anfang machte das politische Attentat von Sarajewo, das zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges führte. Seither ist die politische Paranoia ein steter Begleiter der Politik dieses Jahrhunderts. An seinem Ende stehen unzählige und desaströse Attentate, die sich alle aus der Politik der Paranoia speisen und sowohl in der Dritten Welt, in Bürgerkriegsstaaten als auch in der Ersten Welt ihren Niederschlag finden. Die Anschläge auf das World Trade Center in New York im Jahr 2001 betrachte ich nicht nur als eine minimale Verlängerung des 20. Jahrhunderts. Sie signalisieren zugleich den spektakulären Beginn einer neuen, bisher nicht abreißenden Form von Attentaten seit Anfang des neuen Jahrhunderts. Die Politik der Paranoia zeigt sich aber auch bei manchen Machthabern und deren jeweils unterschiedlich ausgeprägten Politikstilen. Idi Amin im Kongo, Pol Pot in Kambodscha und Jean-Bédel Bokassa in der Zentralafrikanischen Republik sind nur die Extremfälle, während es auch ‚weichere‘ Ausdrucksformen gibt. Der amerikanische Präsident Richard Nixon wird von vielen Autoren für diese ‚weiche‘ Form als Präzedenzfall aufgefasst. (vii) Die Politik des Tötens fand ihren zugespitztesten Ausdruck in den beiden totalitären Diktaturen dieses Jahrhunderts, dem Nationalsozialismus und Stalinismus. Man kann nicht über die Politikbegriffe des 20. Jahrhunderts schreiben, ohne deren ungeheuer destruktives Potential zu ergründen. Die Konzentrationslager und der Gulag sind der radikalste Ausdruck dieser Politikform und dürfen in einer Gesamtschau des Jahrhunderts eben so wenig fehlen wie die Tötungspolitik in Kambodscha unter Pol Pot und in China unter der Herrschaft der Kommunistischen Partei mit Mao Tse-tung an der Spitze. Die Politik der Paranoia
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Einleitung
und die des Tötens haben manche Gemeinsamkeit, aber die Politik des Tötens hat sich auch ohne die politische Paranoia in den Totalitarismen des Jahrhunderts durchgesetzt. Politik reduziert sich und eskaliert zugleich zur systematisch betriebenen Vernichtung von bestimmten sozialen, ethnischen und/oder religiösen Gruppen, um angeblichen Gesetzen zum Durchbruch zu verhelfen, seien es die der Rasse, wie im Nationalsozialismus, oder die der Geschichte, wie im Stalinismus bzw. Maoismus. (viii) Die Politik des Krieges ist am Ende des Jahrhunderts mit einem neuen Typus des Krieges, dem sogenannten ‚neuen‘ Krieg konfrontiert, der die beiden ‚großen‘ und tradierten Kriege, den Ersten und den Zweiten Weltkrieg, abgelöst hat. Aber der Abwurf der Atombomben in Hiroshima und Nagasaki am Ende des Zweiten Weltkrieges haben dem Krieg eine neue Dimension hinzugefügt. Ein atomarer Krieg wäre heute mit der Vernichtung der gesamten Menschheit identisch. Die Atombombe transformiert den Krieg in ein Mittel zur Selbstzerstörung und Selbstauslöschung der Menschheit. Ende der 70er Jahre sind die sogenannten ‚neuen Kriege‘ entstanden. Durch welche Merkmale sie gekennzeichnet sind, ist umstritten, aber nicht ihre Existenz. Sie gibt es und sie können in meiner Darstellung eben so wenig fehlen wie die Partisanenkriege. Letztere sind eine Mischung aus Volkskrieg und militärisch-professionellen Kampfverbänden und haben während des Zweiten Weltkrieges (wie etwa im ehemaligen Jugoslawien) eine ebenso große Rolle gespielt wie dann in der chinesischen Revolution. Am Ende des alten und v.a. zu Beginn des neuen Jahrhunderts gewinnen die Drohnenkriege als extrem asymmetrische Kriege massiv an Bedeutung und dürfen in einer Politik des Krieges als eine neue, bisher nicht da gewesene Form nicht unerwähnt bleiben. (ix) Als Antwort auf die Politik der Tötung und des totalen Krieges ist die Politik des Friedens entstanden. Man kann zunächst eine Politik zum Frieden beobachten, die verschiedene Waffenstillstandsabkommen, den Abschluss von Friedensverträgen und auch Friedensmissionen, wie die der UN nach dem Zweiten Weltkrieg, umfasst. Dann kann es eine Politik des Friedens geben. In einer zugespitzten Formulierung hat der deutsche Politikwissenschaftler Dolf Sternberger formuliert, dass „(d)er Gegenstand und das Ziel der Politik der Friede (ist). (....) Der Friede ist die politische Kategorie schlechthin.“29 Dieser explizit gegen Carl Schmitt formulierten Position liegt eine spezifische Vorstellung von Politik zugrunde, die bis heute wirksam ist und in ihren Grundzügen skizziert werden muss. (x) Die Politik der Rationalität findet ihren höchsten Ausdruck in der Idee der gesamtgesellschaftlichen Planung und Steuerung. Diese Idee wurde vor allem ab Mitte der 60er Jahre prominent und speiste sich aus der Illusion, durch Daten, Expertise, Planungssysteme, Computersimulationen etc. rein technokratische Regelungen zu finden, die Gesellschaften in die Zukunft hinein gestaltbar machen.
2. Semantiken der Politik im 20. Jahrhundert: Eine Übersicht über das Buch
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„Aktive Politik“ – mit dieser Vorstellung schien die Zukunft dem politischen Zugriff gegenüber offen und alle Zufälligkeiten aus der Geschichte verbannt zu sein. Aber immer waren skeptische Stimmen zu hören, die Politik als ‚muddling through‘ kennzeichneten oder die Möglichkeit der rationalen politischen Steuerung grundsätzlich ablehnten, wie etwa verschiedene Vertreter der modernen Systemtheorie. Am Ende des Jahrhunderts verdeutlicht vor allem die Globalisierung, dass nationale Entscheidungen allein außer Stande sind, die weitreichenden und oft nicht zu kalkulierenden Folgen von Entscheidungen zu kompensieren, die anderswo von Anderen getroffen wurden. Governance bzw. ‚global governance‘ waren und sind nun die Schlagwörter, die eine gänzlich neue Form der Regulierung von sozialen, gesellschaftlichen und globalen Problemen einfordern. Ob sich die damit verbundenen Erwartungen tatsächlich einstellen, ist dagegen eine andere Frage. (xi) Das Kapitel über die Politik der Parteien analysiert die Wandlungen eines der wichtigsten politischen Akteure. Die Parteien starteten in das Jahrhundert als Massenparteien, wandelten sich zu Volksparteien und am Ende ist ihr Charakter hochgradig umstritten. Sind es Kartellparteien, sind es professionalisierte Wählerparteien oder Parteien der Berufspolitiker, die eher selbstreferentiell agieren und deren Gestaltungspotential – aus welchen Gründen auch immer – in einer globalisierten Welt dramatisch geschrumpft ist? Weiter ist zu fragen, welche Bedeutung sie auf der europäischen und schließlich auf der globalen Ebene beim Regieren oder bei ‚governance‘ haben. Unübersehbar aber bleibt die herausragende Bedeutung der Parteien im Feld der Politik. (xii) Die Politik von Politikertypen bringt verschiedenste Ausformungen des politischen Handelns hervor. In der faktischen Politik haben wir es mit innovativen und agilen politischen Unternehmern bzw. Reformern ebenso zu tun wie mit Durchwurstlern, sterilen Amtsträgern oder mit trostlosen Hinterbänklern. Zudem tauchen Demagogen auf der politischen Bühne auf, die die Massen elektrisieren, und selbst Dämonen wurden in der Politik des 20. Jahrhunderts ausgemacht. Welcher Typus hat warum welche Auswirkungen auf die Politik und kann man einen durchgehenden Trend zu einem dominanten Typus beobachten, der das Jahrhundert durchzieht? (xiii) Die Politik des Bildes ist das Resultat der gesteigerten Medialisierung der Politik. Alle Politik vollzieht sich in einer dreidimensionalen Welt von Begebenheit, Bericht und Bild, wobei das Bild am Ende des Jahrhunderts die ersten beiden Dimensionen immer mehr ersetzt. Politik ist das, was man als Bild sehen und beliebig wiederholen kann. Jeder Politiker versucht sich ins ‚rechte‘ Bild zu setzen und die Paranoiker der Politik, die Attentäter, wissen sehr wohl um die Bedeutung der Politik des Bildes. Die Anschläge auf die Türme des World Trade Centers in New York sind allein der zugespitzte Ausdruck hierfür.
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Einleitung
(xiv) Das abschließende Kapitel fragt, ob man von einem Verschwinden der Politik sowohl in den Handlungsformen als auch in den -bereichen sprechen kann. Bei den Handlungsformen ist zu fragen, ob Prozesse und das Publikum30 einem so dramatischen Wandel unterliegen, dass Politik immer mehr zu einer Restgröße schrumpft. Sie trifft dann nicht mehr in kooperativen und/oder öffentlichen bzw. diskursiven Formen ihre Entscheidungen und versucht nicht mehr, zukunftsorientiert und steuernd zu operieren, sondern zunehmend nachlaufend und weitgehend selbstinteressiert ihre Entscheidungen zu treffen. Bei den Handlungsbereichen ist zunächst zwischen politischen Projekten und den sie realisierenden Personen zu unterschieden. Insgesamt kann man bei den Bereichen eine eigentümliche Paradoxie beobachten. Einerseits werden durch die Dynamiken der Politisierung und der Parteienkonkurrenz immer neue Policies erfunden und auf die politische Tagesordnung gesetzt. Im Totalitarismus waren diese Handlungsbereiche total, nichts sollte der Politik entzogen sein. Anderseits verengt sich die Politik im Verlauf des Jahrhunderts, indem die ‚großen‘ Fragen immer weniger diskutiert und entschieden werden, dafür immer mehr die ‚kleinen‘ und ‚situativen‘ Policies. Sich-Durchwursteln – das war von Charles E. Lindblom die zentrale Formulierung hierfür. Was passiert zudem in der globalisierten Welt, in deren undurchschaubaren Dynamiken die Politik auf eine unbedeutende Restgröße geschrumpft ist? Kann sie dann keine Macht mehr über die Verhältnisse, sondern nur noch Macht in den Verhältnissen ausüben? Mit diesen Politikbereichen sind selbstverständlich nicht alle Politiken abgedeckt, in den modernen Gesellschaften gibt es weitaus mehr. Aber ich erwarte, dass man über diese Beispiele ein mosaikartiges Bild des Jahrhunderts zeichnen kann, das zentrale Aspekte abdeckt und die wichtigsten Entwicklungsdynamiken beobachtet. Vielleicht entstehen so die Konturen eines Jahrhunderts, dessen Schicksal die Politik war. Mit der Konzentration auf die Beobachtung der Politik ist unvermeidlich eine spezifische und einseitige politikwissenschaftliche Perspektive gesetzt und eine asymmetrische Begriffsbildung beabsichtigt. Sie will „das Politische“ wissenschaftlich wie faktisch in einen minderen Rang versetzten und seine zu große Bedeutung in der Politikwissenschaft relativieren, ja so weit wie möglich vermindern. Der Begriff gehört – etwas überspitzt formuliert – in die verstaubte begriffliche Rumpelkammer des 20. Jahrhunderts. Anmerkungen 1 Der Begriff stammt von Michael Th. Greven, der ihn in verschiedenen seiner Schriften begründet und ihm Kontur gegeben hat; vgl. insbesondere Greven 1999; ders. 2000. 2 Hobsbawn 1996. 3 Bracher 1982. 4 Müller, J.-W. 2013.
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Kotek/Rigoulot 2001; Snyder 2010. Mazower 2009. Mannheim 1952 (1929): 101. Hayek 1944; ders. 1960. Zit. nach Marchart 2010: 7. Greven 1999.
2. Semantiken der Politik im 20. Jahrhundert: Eine Übersicht über das Buch 11 Die beiden Begriffe gehen zurück auf Oakeshott 2000. 12 Weick/Sutcliffe 2001; Ortmann 2009. 13 Diese Formulierungen stammen von Luhmann 2000a: 142; Herv. von mir. 14 Meier, C. 1980: bes. 26; ders. 1986. 15 Grundlegend Pocock 1989; ders. 2009; Skinner 1969. Kritisch zur sogenannten Cambridge School Bevir 1992; ders. 2000. 16 Grundlegend Jäger 2004; Keller u.a. (Hg.) 2000; Keller 2011. 17 Zur Idee und den konzeptionellen Grundlagen einer Wissenspolitologie vgl. Nullmeier/Rüb 1993; Rüb 2006; Nullmeier 2013. 18 Mannheim 1952 (1929): 227. 19 Mannheim 1952 (1929): 7. 20 Vgl. etwa Mannheim 1929: 74; 82, der den Begriff auf dem 6. Deutschen Soziologentag zum ersten Mal verwendet hat. 21 Mannheim 1952 (1929): 227.
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22 Auch Niklas Luhmann spricht in diesem Zusammenhang von „Korrelation oder Kovariation von Wissensbeständen und gesellschaftlichen Strukturen.“ Vgl. Luhmann 1993b: 15. Er übernimmt damit den K. Mannheimschen Begriff der Korrelation unhinterfragt, wobei man gerade bei der Luhmannschen Systemtheorie von Korrelationen im strengen Sinne nicht ausgehen kann. 23 Palonen 1985; ders. 1998; ders. 2006. 24 Vgl. dazu unten Kap. 1. 25 Den Begriff der „politischen Religionen“ hat Eric Voegelin geprägt; vgl. Voegelin 1996 (1938). 26 So Fach 2008. 27 Schmitt 1927. 28 Vgl. zu dieser Differenzierung Mouffe 2007. 29 Sternberger 1986: 76. 30 Diese Begriffe gehen zurück auf Fach 2008: 18-22.
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1. Die Politik und das Politische
1. Die Politik und das Politische. Zur Notwendigkeit der begrifflichen Abklärung des Primats der Politik Der Begriff des Politischen scheint uns heute so selbstverständlich zu sein, dass sich eine, wenn nicht die zentrale Frage fast überhaupt nicht mehr stellt: Wie kam es – aus historischer Perspektive betrachtet – dazu, dass diese Differenz, manche nennen sie die politische Differenz,1 zwischen der Politik und dem Politischen eingeführt wurde? Man kann über die Politik im 20. Jahrhundert nicht schreiben, ohne über diese Differenz zu reflektieren. Eine kleine, aber einflussreiche Schrift aus dem Jahr 1927 hat diesen Begriff sowohl in die wissenschaftliche als auch politische Diskussion eingeführt. Zugleich wurde diese Schrift, unübersehbar als politische und weniger wissenschaftliche Schrift, je nach historischem Kontext variiert. Dies, um der jeweiligen Zeit gerecht zu werden – was auch immer hier ‚gerecht‘ heißen mag. Was war der historische und geistesgeschichtliche Hintergrund der Erstauflage von 1927 und der letzten, erheblich veränderten von 1933? Welcher Autor hat diese Differenz formuliert und hatte dies auch etwas mit seiner persönlichen Situation zu tun? Warum war eine Neudefinition oder Variation des Begriffs der Politik nicht ausreichend, um eine mögliche Herausforderung der damaligen Zeit zu artikulieren? Und wenn diese Differenz eine politische Differenz markiert: Was waren mögliche politische Motive, diesen Begriff zu prägen und in die Diskussion des 20. Jahrhunderts einzuführen? Jedenfalls wurde dieser Begriff nicht nur zu Beginn des Jahrhunderts massiv und kontrovers diskutiert, sondern er hat Anfang der 80er Jahre eine Renaissance in der politischen Theorie erfahren und ist bis heute Gegenstand heftiger Kontroversen.2 Indem man über das Politische spricht, will man gerade nicht von der Politik sprechen, sondern über etwas ganz anderes.3 Und die Frage stellt sich: Was genau ist dieses ganz andere? Was markiert und was negiert es? Welche Intention verbirgt sich dahinter? Diese Differenz zu formulieren, in das politische Denken einzuführen und zu promovieren ist eine besondere Entscheidung, die weitreichende theoretische wie praktische Folgen zeitigt. Indem man sich für die eine Seite der Differenz zwischen der Politik und dem Politischen entscheidet, bezeichnet man eine Seite dieser Unterscheidung, während die andere im Dunkeln bleibt. Alle politischen Denker und denkenden Politiker, die diese Unterscheidung treffen, legen sich für eine Option fest. Sie wollen das Politische sehen und darüber reflektieren und so die Politik zum dunklen Fleck herabsetzen, zu einem Sachverhalt, der nicht existieren, ausgeblendet oder in einen niedrigen Rang versetzt werden soll. Zugleich bleibt die begriffliche Fassung des Politischen erstaunlich undefiniert und unmarkiert. Sie kann keine positiven Aussagen oder grundlegende Ideen über eine mögliche Ordnung treffen, die angeblich durch das Politische konstituiert werden
1.1. Zum Begriff des Politischen und der politischen Differenz
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soll. Doch wie wird nun diese andere Seite konkret markiert, als das Andere der Politik? Wie wird sie bezeichnet und wer hat diesen Begriff markant, ja provokant in das politische Denken eingeführt? Mit der Diskussion und Beantwortung dieser Fragen beginne ich (Kap. 1.1. und 1.2.). Daran schließt sich der Versuch an, den Politikbegriff nicht nur gegenüber dem des Politischen grundlegend abzugrenzen, sondern zugleich die Politik bzw. das ‚Politik treiben‘ analytisch zu differenzieren. Hierbei unterscheide ich vier Handlungsorientierungen, konkret Politisieren, Politicking, Polarisieren und Paralysieren, wobei immer auch die entsprechenden Gegenaktivitäten, wie etwa Entpolitisieren, im Blick behalten werden (Kap. 1.3.). Eine knappe Zusammenfassung schließt das Kapitel ab, in der betont wird, wie wichtig die Ausdifferenzierung des Politikbegriffs in verschiedene topoi ist, um die ganze Spannbreite von politischen Handlungsmustern zu verdeutlichen. Das Politische kann dies nicht und reduziert alles auf den Begriff der Entscheidung, die von der entscheidenden Gruppe situativ und ohne jegliche institutionalisierten Beteiligungs- und Verfahrensfestlegungen getroffen wird (Kap. 1.4.).
1.1. Zum Begriff des Politischen und der politischen Differenz. Das Politische als Politik Selbstverständlich war es Carl Schmitt, der diese Differenz mit seiner kleinen Schrift „Zum Begriff des Politischen“4 markiert hat. Sie erschien zuerst im Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik und dann – mit einem eher ablehnenden Vorwort von Arnold Wolfers – auch in der Schriftenreihe der Hochschule für Politik in Berlin. Am bekanntesten ist sicherlich die Ausgabe von 1932, der dann eine verkürzte, überarbeitete und radikalisierte Version aus dem Jahr 1933 folgte. Sie wurde – von C. Schmitt bewusst vorangetrieben – im nationalsozialistischen Hauptverlag, der Hanseatischen Verlagsanstalt, veröffentlicht. Diese Fassung war einer der vielen Schritte, mit denen sich C. Schmitt an das neue Regime anbiedert, es aktiv unterstützt und seinem Antisemitismus freien Lauf lässt. C. Schmitt hat für die erste Fassung keinen Monat gebraucht, ja er hat sie angeblich an nur fünf Tagen (vom 31. März bis zum 4. April 1927) diktiert und danach mehrfach überarbeitet. Sie ist – wie er in einem Brief schreibt – „sorgfältig formuliert, in langen Seminar-Sitzungen und -Übungen erprobt.“5 Er selbst hat immer wieder betont, dass er diese Schrift für seine beste und gelungenste hielt.6 Wie sein Biograph Reinhard Mehring ungerührt und aus ferner Distanz festhält, ist C. Schmitt über diese Schrift „sehr froh, obwohl er Magda (eine Prostituierte, F.W.R) weiter besucht und seine ‚Ejakulationen‘ exakt im Tagebuch notiert. Nach Abschluss des Begriffs des Politischen macht er regelmäßig Schießübungen mit Pistole und Gewehr.“7
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1. Die Politik und das Politische
Seit dem Zusammenbruch des Kaiserreichs und eigentlich aller Autoritäten in der Nachkriegszeit, der in den Wirren um die Münchener Räterepublik einen zugespitzten Ausdruck fand, war für C. Schmitt eine „Neujustierung seiner Existenz, seiner Vorstellungen von Beruf und Politik überhaupt, notwendig.“8 Der Begriff des Politischen war eine radikalisierte Zusammenfassung und extreme Zuspitzung verschiedener Schriften, die er seit 1919 publiziert hatte. Seine Ausar9 beitungen beginnen in diesem Jahr mit der Politischen Romantik , dessen Stellenwert von seinen Biographen unterschiedlich eingeschätzt wird.10 Ihre Fortsetzung 11 findet sie mit der 1921 veröffentlichten Schrift über die Diktatur , dann folgt die 12 Politische Theologie von 1922. In ihr will er zeigen, dass Rechtsphilosophien und politische Theorien, denen es an begrifflichen Fixierungen mangelt, sich in den „Wirbeln der Zeit“13 nicht behaupten können und im Meer pluraler Positionen untergehen. Dort ist auch der erste und massive Angriff gegen Hans Kelsen formuliert, der mit seinem Rechtspositivismus zum großen Gegner wird. Zugleich kritisiert er die diskutierende Klasse, die zu keiner grundlegenden Entscheidung fähig ist. Im Jahr 1923 folgt Römischer Katholizismus und politische Form.14 In dieser kleinen Schrift sucht Schmitt nach „Faktoren von Stabilität in einer heillosen, weil ungeordneten Welt. In einer Zeit der Zügellosigkeit sucht er der wuchernden Freiheit, die er als verderblich findet, nicht nur Zügel anzulegen, sondern will auch die überindividuellen Institutionen aufzeigen, die fähig sind, Gefäß von Ordnung zu sein.“15 Man muss diese Charakterisierung der Schrift nicht unbedingt teilen, um zu sehen, um was es geht: um Faktoren der Stabilität, der Ordnung und der Institutionalisierung von Schranken im Meer der Kontingenz. Die im gleichen Jahr erschienene Schrift Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen 16 Parlamentarismus fällt ein Todesurteil über den Parlamentarismus als Regierungsform und führt hier bereits die Freund-Feind-Unterscheidung ein, die der Liberalismus nicht treffen kann, und die später ins Zentrum seiner Überlegungen rückt. Die Staatsgewalt ist – so seine Diagnose – an keine übergreifenden Normen, keine Metaphysik, keine unstrittigen Prämissen mehr gebunden, sondern wird durch ewige Diskussionen weiter destabilisiert. Allein der Marxismus und der russische im Besonderen, das sieht er scharfsinnig und fasziniert, hat mit der Idee bzw. der Faktizität der Diktatur des Proletariats dem ewigen Lavieren ein Ende bereitet und sich mittels einer souveränen Entscheidung und damit verbundener vollständiger Machtübernahme für eine nicht-kontingente politische Grundordnung entschieden. München war zunächst der Ort, an dem seine „Angst vor dem Chaos von einem Lebensgefühl zu einer Theorie gerann.“17 Bonn war dann die Zeit, in der er angeblich „(i)m Gleichgewicht“ lebte, in der er seine Ängste und Erfahrungen in immer neuen Anläufen und an neuen, aber zentralen Gegenständen ausformulierte. In Nuancen sind in den erwähnten Büchern und Schriften all die Themen
1.1. Zum Begriff des Politischen und der politischen Differenz
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angedeutet oder in ersten Ansätzen entwickelt, die dann im ‚Begriff des Politischen‘ zusammenfließen. Seine Seminare und Veranstaltungen in Bonn waren immer den zeitgenössischen Situationen gewidmet und in der damaligen Zeit war er einer der wenigen Rechtstheoretiker, der sich mit Politik bzw. politischer Theorie intensiv beschäftigte. Der Begriff des Politischen kann unschwer als Gegenschrift zu den Schriften von A. E. F. Schäffle, K. Mannheim und M. Weber gelesen werden, die sich mit der Politik beschäftigten.18 Ihre Politikvorstellungen, wenn auch im Einzelnen unterschiedlich akzentuiert (siehe unten Kap. 2), waren von der Idee der Kontingenz geprägt. Der Politik kam die Aufgabe zu, die gegebene Situation für neue Möglichkeiten zu öffnen, Kontingenz in den Status Quo einzuführen, die Macht für politische Entscheidungen gegenüber anderen um Macht kämpfende Gruppen zu erringen und diese dann in verbindliche, gleichwohl kontingente Entscheidungen zu übersetzen. C. Schmitt, der diese Schriften selbstverständlich kannte, legt sich aber auf einen anderen Hauptgegner, besser Hauptfeind, fest: Den Rechtswissenschaftler Hans Kelsen, zu dem in vielen seiner Schriften ein zweiter hinzutritt: Der amerikanische Politologe Harald Laski als Vertreter einer modernen, demokratisch inspirierten Pluralismustheorie. Aber gegen keinen Anderen hat er so erbittert gekämpft wie gegen Hans Kelsen, der in seinem Rechtspositivismus und in seiner Demokratietheorie im Kern die gleiche Position wie die oben genannten Kontingenztheoretiker vertritt. Seinen Höhepunkt fand dieser Konflikt im Streit um den ‚Hüter der Verfassung‘. C. Schmitt legte im Jahr 1931 ein Buch mit diesem Titel vor,19 auf das H. Kelsen ein Jahr später mit einer massiven Kritik antwortete.20 Was war nun der Kern des Kelsenschen Denkens, der ihn bei C. Schmitt zum wichtigsten Feind erkor? Im Mittelpunkt des Schmittschen Angriffs stand die radikal-positivistische Fassung des Staats- und Gesetzesbegriffs.21 Für H. Kelsen war alles Recht, was in rechtlich vorgesehenen Verfahren entschieden wurde. Damit wurde das Recht radikal kontingent, es konnte so oder auch anders gesetzt werden und entbehrte jeglicher normativ-substantieller Aufladung. (Wechselnde) Mehrheiten entscheiden über das Recht und es ist an keine vorgegebenen oder gar übergesetzlichen Normen oder Instanzen mehr gebunden. Der rechtliche und demokratische Relativismus kann nicht zu einer ‚richtigen‘ oder gar ‚wahren‘ Entscheidung kommen, sondern besitzt immer nur eine relative bzw. kontingente ‚Wahrheit‘. Der Relativismus – dies ist die unausweichliche Schlussfolgerung – ist das der modernen Demokratie angemessene Denken. Demokratien beruhen darauf, dass die Mehrheitsposition kontingent ist in dem Sinne, dass die Minderheit zur Mehrheit werden kann und dann ihre Position politisch relevant und durch verbindliche Entscheidungen realisiert wird. Die Positionen sowohl der gegenwärtigen Mehrheit als auch der momentanen
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1. Die Politik und das Politische
Minderheit sind im Spiel der Politik immer präsent, wenn auch in Diktaturen erheblich eingeschränkt. Aber alles, was ist, kann im Prinzip auch anders sein – gerade im demokratischen Prinzip realisiert sich das Grundprinzip der Kontingenz am radikalsten. Im Gegensatz zu C. Schmitt erfordert der rechtlich-demokratische Relativismus weder eine über dem Gesetz stehende Autorität oder Instanz noch eine Person (oder Gruppe), die autoritativ eine fundamental-substantielle Entscheidung trifft. Zudem war H. Kelsen Jude und für C. Schmitt war er der Inbegriff des ‚maskierten Juden‘, dessen Liberalismus und Positivismus „in Wahrheit die säkularisierte Theologie des Feindes verberge.“22 Auch in seinem Angriff auf die jüdischen Rechtswissenschaftler im Nationalsozialismus im Jahr 1936 erwähnte er den „Juden Kelsen“ explizit und machte ihn zum Prototypus des sogenannten ‚jüdischen Geistes‘ und der Zersetzungstätigkeit durch Entpolitisierung und Entsubstantialisierung. Gegenüber dieser Offenheit, grundlegenden Unentschiedenheit und auch Grundlosigkeit der Politik setzte C. Schmitt einen Begriff, der Kontingenz vernichtet und eine existentielle Entscheidung einforderte. Es ist der Begriff des Feindes und die daraus folgende Unterscheidung zwischen Freund und Feind, die eine unversöhnliche Dichotomie postuliert: „Das Politische kann seine Kraft aus den verschiedensten Bereichen menschlichen Lebens ziehen, aus religiösen, ökonomischen, moralischen und andern Gegensätzen; es bezeichnet kein eigenes Sachgebiet, sondern nur den Intensitätsgrad einer Assoziation oder Dissoziation von Menschen, deren Motive religiöser, nationaler (im ethnischen oder kulturellen Sinne), wirtschaftlicher oder anderer Art sein können und zu verschiedenen Zeiten verschiedene Verbindungen und Trennungen bewirken.“23
Das Politische konstituiert sich ausschließlich durch eine gesteigerte Intensität, durch eine hoch emotional geprägte Konstellation, in der eine Gruppe von Menschen durch eine andere so massiv und leidenschaftlich abgelehnt wird, dass mit ihr radikale und gewaltsame Konflikte möglich werden, ja möglich werden sollen. Die Dichotomie von Freund und Feind entsteht allein durch den Intensitätsgrad einer Dissoziation oder Assoziation, die nicht gegeben ist, sondern durch bestimmte Festlegungen, Bestimmungen und (politische) Aktionen erst entsteht. Der Feind ist nicht nur politischer Gegner, er ist mehr. Er ist der existentiell Andere und der Krieg eine Erscheinungsform der Feindschaft. „Todesbereitschaft und Tötungsbereitschaft“24 gehören elementar dazu und damit hört das reine Spiel der Politik auf. Politik ist etwas für die Schwätzer, Diskutierer, sich NichtEntscheiden-Könnende, eigentlich für Feiglinge oder – wie C. Schmitt sie nennt – Occasionalisten. Die existentielle Freund-Feind-Entscheidung dagegen vernichtet alle Unentschiedenheit und fordert, ja erzwingt eine klare und fundamentale Positionierung. Bist du nicht mein Freund, dann bist Du mein Feind – eine unentschiedene Zwischenposition ist hier nicht möglich.
1.2. Die Grundstruktur der Differenz zwischen der Politik und dem Politischen
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Hinter der ganzen Konstruktion liegt eine Anthropologie, eine Grundprämisse über das Menschsein. Man kann, so C. Schmitt, alle Staatstheorien und – ebenso wichtig – alle politischen Theorien danach einteilen, ob sie bewusst oder unbewusst einen „von ‚Natur bösen‘ oder einen von ‚Natur guten‘ Menschen voraussetzen.“25 Seine Position ist klar: Der Mensch ist seinem Wesen nach böse. Geht man dagegen von einem von Natur guten Menschen aus, wird man von dem Bösen nicht nur bedroht, sondern im Extremfall, bei ihm im Ernstfall, getötet und vernichtet. Wer keinen Feind hat und ihn nicht kennt, wird von ihm besiegt und verliert zu Recht seine politische Existenzberechtigung. C. Schmitt beharrt auf einer metaphysischen, fundamentalen und existentiellen Differenz, einer Ontologisierung, die der Moderne nicht mehr angemessen ist. Sie entspringt seinen Erfahrungen in den Wirren der Weimarer Republik und er verarbeitet sie in seinen Schriften auf diese Weise. Er setzt in immer neuen Anläufen – am radikalsten sicherlich im ‚Begriff des Politischen‘ – auf den Primat der Struktur, auf ein Ordnungsmuster, das durch eine existentielle Entscheidung instituiert wird und sich allein aus der Freund-Feind-Unterscheidung in einer konkreten historischen Situation ergibt. Politik als Aktivität, als Kampf, als Bewegung, als Verflüssigung, als Chancenbeschaffung, als Kontingentsetzen einer Ordnung, all das bekommt eine sekundäre, ja minderwertige Qualität. Politik soll in etwas fundiert werden, was jenseits der Politik liegt und prinzipiell nichtkontingent ist, sondern fundamental, existentiell und nicht revidierbar. Zwar kann man über den Feind jeweils neu entscheiden, aber solche Entscheidungen sind eher selten und episodisch. Der Feind bleibt erstmal der Feind – weil er eben Feind ist. Die bereits erwähnten Theoretiker, wie A. E. F. Schäffle, K. Mannheim und natürlich auch M. Weber, führen dagegen die soziale Ordnung gänzlich auf Politik – und nicht auf das Politische – zurück. Die Möglichkeiten der Politik sind in ihren Augen nicht nur weit gefasst, sondern im Kern auch beliebig. Sie sind zudem grenzenlos, denn alles kann politisiert und dadurch zum Gegenstand der Politik werden. Von der gezielten Tötung bestimmter religiöser oder ethnischer Gruppen bis zur Variation der Altersgrenze in der Alterssicherung – all dies kann entschieden werden und wurde im 20. Jahrhundert auch politisch entschieden.
1.2. Die Grundstruktur der Differenz zwischen der Politik und dem Politischen Obwohl C. Schmitt der Erste war, der die politische Differenz in die Diskussionen zu Beginn des 20. Jahrhunderts einführte, will ich zunächst einige Gedanken aufgreifen, die am Ende des Jahrhunderts formuliert wurden. Ein Teil der Politikwissenschaft und der politischen Theorie geht davon aus, dass im post-funda-
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1. Die Politik und das Politische
mentalistischen Zeitalter keine übergreifenden Gemeinsamkeiten und keine letzten Gründe mehr zur Verfügung stehen. Wie und auf welcher Basis soll dann eine politische Gesellschaft gegründet werden, wenn alles auf schwankendem Boden steht? In einer solchen Situation kann es zwar Gründe für diese oder jene Option von politischer Gesellschaft geben, aber keine letzten oder fundamentalen. Damit ist jede Option, jedes robuste Fundament von Gesellschaft unterspült und „erzwingt (...) ein vorübergehendes Moment der Institution.“26 Derselbe Autor formuliert weiter: „Es erfordert Entscheidungen unter der Prämisse ontologischer Unentscheidbarkeit; und da jede Entscheidung – da sie nie im solitären Vakuum völliger Grundlosigkeit getroffen wird – mit konkurrierenden Kräften und Entscheidungsbemühungen konfrontiert ist, steht Gesellschaft immer vor dem Phänomen des Streits, der Teilung, der Trennung – kurzum des Antagonismus.“27
Dieses auf den ersten Blick schlüssige Argument provoziert gleichwohl mehrere Fragen. Zunächst ist die Behauptung unklar, ob Gesellschaften immer vor dem Phänomen des Konflikts stehen, der ontologische Unentscheidbarkeit provoziert. Es gibt theoretisch wie empirisch auch Konflikte, die entscheidbar sind in dem Sinne, dass es Evidenz oder gute Argumente für diese oder jene Option gibt, sodass keine Entscheidung gefällt werden muss. Die Lage hat sich dann geklärt, man muss den Graben der Unsicherheit nicht überspringen und sich deshalb nicht entscheiden, sondern legt sich wegen guter Gründe fest. Selbstverständlich stehen Gesellschaften immer vor Phänomenen des Konflikts. Aber es ist eine andere Frage, ob diese Streits, Teilungen, Trennungen ‚kurzum‘ immer die Form eines Antagonismus annehmen müssen. Antagonistische Konflikte sind eher selten, es sind Situationen der Krise, des Bürgerkrieges, des existentiellen Konflikts. Sie sind keiner friedlichen Bearbeitung mehr zugänglich, sondern können nur mittels Gewalt, durch die „reale Möglichkeit der physischen Tötung“ bearbeitet werden.28 Solche fundamentalen Situationen gibt es nicht immer, sie treten empirischhistorisch betrachtet außerordentlich selten auf, meist in Krisenzeiten, die den kontinuierlichen Fluss von Zeit unterbrechen. Das Politische ist ein disruptives Moment, in dem die Weichen für eine neue politische Ordnung gestellt werden und die Gesellschaft selbst auf ein neues Gleis gesetzt wird. Die bisherigen Operationen, Verteilungsregeln, Machtdynamiken und Handlungsmuster werden unterbrochen und eine neue Grundstruktur der politischen Gesellschaft instituiert. Der immer konflikthafte, aber dennoch Normalbetrieb der Politik wird gestoppt und in eine Situation überführt, in der es ums Ganze geht, um eine fundamentale und damit gewaltsam ausgetragene Entscheidung. Das Politische ist unterbrechend und führt zu unverbundenen (Auf)Brüchen, während die Politik auf kontinuierliche Dynamiken angewiesen ist. Sie findet Tag und Nacht statt und hat weder einen klar definierten Anfang noch ein solches Ende. Die (Neu)Gründung ei-
1.2. Die Grundstruktur der Differenz zwischen der Politik und dem Politischen
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nes politischen Gemeinwesens hat dagegen einen identifizierbaren Anfang und ein Ende. Selbst L. Trotzkis Vorstellung einer „permanenten Revolution“29 spricht von Etappen, die anfangen und zu Ende gehen und von Phasen der Konsolidierung begleitet werden, bevor eine neue Bewegung eingeleitet wird. Der Begriff des Politischen stellt zudem auf eine besondere Form der Bearbeitung von Konflikten ab. Das Politische „(entkommt) dem Zugriff sozialer und politischer (systemischer) Domestizierung.“30 Was auch immer mit ‚Domestizierung‘ gemeint sein könnte, das Politische wird als ein Zustand beschrieben, in dem andere Regeln der Konfliktaustragung gelten als in der Politik. Es findet folgerichtig eine Eskalation der Intensität statt, die nur in unmittelbarer Gewalt ihren Ausdruck finden kann. Dies wird in der notwendigen Schärfe oft nicht thematisiert und die Theoretiker des Politischen schweigen sich darüber meistens aus. „Todesbereitschaft und Tötungsbereitschaft“ – das sind nach C. Schmitt die zentralen Motivstrukturen in der Situation des Politischen, um die auf der „Feindesseite stehenden Menschen zu töten.“31 Und er wird nicht müde, dies in seiner Schrift immer wieder zu betonen.32 Wer aber ist der Feind? Wann wird er in seiner ganzen Schärfe erblickt? Wer entscheidet über ihn? C. Schmitt hat in seinen Schriften andeutungsweise eine Antwort gegeben: Die entscheidende bzw. maßgebende Gruppe trifft die Entscheidung, wer Feind ist und wer nicht. Sie muss zudem die Macht haben, die von ihr formulierte politische Differenz zur herrschenden zu machen und konkurrierende zu negieren. Das ist die Souveränität – und damit ein Akteur, der im Kern gewalttätig sein kann, ja muss. In der Tat, das Politische entkommt der Domestizierung und streift die Fesseln der Friedfertigkeit ab. Das Zivile verschwindet und das Gewalttätige kommt zum Ausbruch. Hier wird der Primat der ungeregelten Gewalt gegenüber der geregelten Friedfertigkeit verherrlicht. Die Entscheidung, die das Politische trifft, hat – wie erwähnt – ontologischen Charakter. Sie realisiert einen Primat des Statischen, des Festgelegten und des Strukturellen gegenüber der Dynamik, der Variabilität und des Unstrukturierten. Existentielle Entscheidungen lassen sich nicht täglich bzw. kontinuierlich treffen. Andere Theoretiker, wie A. E. F. Schäffle, K. Mannheim, M. Weber und C. Schmitts jüdische Hauptfeinde H. Kelsen und H. Laski, führen die Struktur der Gesellschaft dagegen auf Politik zurück und brauchen den Begriff des Politischen nicht. Für sie ist der Handlungsspielraum der Politik im Prinzip grenzenlos und es kann eine Politik der Verfassunggebung geben, in der fundamentale Fragen der Gestaltung der Gesellschaft politisch (und nicht durch das Politische) entschieden werden (vgl. dazu unten Kap. 3). Natürlich hat man in solchen Situationen kontingente Gründe, eine Gesellschaft so und nicht anders zu konstituieren. Aber sie wird durch Politik konstituiert. Während C. Schmitt eine Ontologisierung der gesellschaftlichen Ordnung einführt, die zunächst dauerhaft und fundamental Kon-
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1. Die Politik und das Politische
tingenz reduziert oder zunichte macht, ist dies bei den erwähnten Autoren sekundär und kann zum Gegenstand politischer Entscheidungen werden. Politik, verstanden als spezifische Form der Konfliktaustragung, ist domestiziert, sie findet unter Regeln statt und kann diese Regeln doch zugleich ändern. Aber immer ist sie relativ dauerhaften Verfahren unterworfen – außer in Regimen, in denen sie völlig regellos ausgeübt wird, als reine Gewalt, wie in den autoritären Regimen dieses Jahrhunderts. Denn Entscheidungen bleiben auch in diesen Regimen politische Entscheidungen, weil es um die Gestaltung des Gesellschaftlichen kraft Entscheidung geht und nicht um die Realisation von ihr vorausliegenden Normen, Wahrheiten oder Ethiken. Dies fand dann allein in den totalitären Regimen dieses Jahrhunderts statt (vgl. Kap. 7). Politik in modernen Gesellschaften hat eben keinen Halt mehr in Religion, Moral oder Vernunft, sondern sitzt auf der reinen Kontingenz auf. Es gibt keine moralischen oder religiösen Grenzen für die Politik, sie wird im Prinzip grenzenlos. Gerade darin liegt der Grund für die „monströsen Erscheinungsformen“ bzw. für „die katastrophengeschichtlichen Dimensionen unseres Zeitalters“33 der Politik. Wer ist der Akteur des Politischen? Wer ist die maßgebende Gruppe oder Person, die die Freund-Feind-Unterscheidung trifft? Diese Akteure des Politischen blieben im Dunkeln und (fast) keiner der Theoretiker hat sie explizit erwähnt, geschweige denn identifiziert oder typologisiert. Fragt man bei C. Schmitt nach, so bleibt seine Antwort – wie auch vieles andere in seiner Schrift – im Vagen. Aber er gibt immerhin einen kleinen, aber wichtigen Hinweis: Die Entscheidung über die Freund-Feind-Bestimmung soll von der entscheidenden Gruppe getroffen werden. Sie ist die politische Gruppierung, „die sich am Ernstfall orientiert. Sie ist deshalb die maßgebende menschliche Gruppierung.“34 Es ist die Gruppe oder die Person, die sich willkürlich und jenseits aller (verfassungs)rechtlich geregelten Verfahren eigenmächtig zur entscheidenden Gruppe erklärt. Sie trifft dann folgerichtig die Entscheidung über den „maßgebenden Fall, auch wenn das der Ausnahmefall ist.“35 Die rechtliche Kraft der Dezision ergibt sich nicht aus ihrer Begründung, sondern aus der Entscheidung selbst, die nun gilt. Sie wird „im Augenblick (ihrer Entscheidung, F.W.R.) unabhängig von der argumentierenden Begründung und erhält einen selbständigen Wert.“36 Wer sich auf vorgegebene Normen und anschlussfähige Traditionen beruft, kann keine wirkliche Entscheidung im existentiellen Sinne mehr treffen. Sie muss daher völlig frei sein von allen Bindungen. Überspitzt formuliert: „Die Entscheidung ist, normativ betrachtet, aus einem Nichts geboren“37 und C. Schmitt sagt weiter: „Dass es die zuständige Stelle war, die eine Entscheidung fällt, macht die Entscheidung relativ, unter Umständen auch absolut, unabhängig von der Richtigkeit ihres Inhaltes und schneidet die weitere Diskussion darüber, ob noch Zweifel bestehen können, ab.“38
1.2. Die Grundstruktur der Differenz zwischen der Politik und dem Politischen
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Wer die ‚zuständige Stelle‘ ist, insbesondere bei existentiellen Freund-Feind-Entscheidungen, bleibt bei C. Schmitt mehrdeutig offen, die Formulierung lässt keine Lokalisierung zu. Zuständig – in welchem Sinne? Formal zuständig, also die Stelle, die durch (verfassungs)rechtliche Regeln zur Fällung einer Grundentscheidung berechtigt ist? Oder zuständig in dem Sinne, in dem sich jemand – ohne formale Qualifikation – für zuständig erklärt? Alle in diesem Kontext getroffenen Formulierungen von C. Schmitt legen letztere Interpretation nahe. Die Akteure der Politik lassen sich dagegen klarer und einfacher fassen. Es sind zu Beginn des 20. Jahrhunderts zunächst die Massen, dann die politischen Führer, die die Massen leiten bzw. verleiten, dann die Massenparteien, die um politische Macht kämpfen, die (politischen) Eliten und selbstverständlich die hohe Bürokratie ebenso wie das Militär. Solange wir rechtsstaatliche und/oder demokratische Verhältnisse haben, kämpfen diese Akteure in vorgegebenen Regeln und Verfahren und ihre Handlungen sind wegen ihrer programmatischen Positionen und definierten Interessen auch (in gewissen Maßen) berechen- und erwartbar. Andere Autoren, wie etwa Michael Hardt und Antonio Negri, haben eine andere Vorstellung des Politischen, die an marxistische Traditionen anknüpft.39 Sie bestimmen das Politische – wie viele andere Autoren auch – als fundamentale Neu(be)gründung eines politischen Gemeinwesens, ein wie sie es nennen „neues demokratisches Projekt“, für das „das Politische grundlegend (…) neu gedacht werden muss.“40 Der Akteur des Politischen ist die „Multitude“, das Gegenteil der tradierten und zentralisierten politischen Parteien, rigiden Organisationsformen und autoritären Führungsstrukturen. Stattdessen setzen sie auf eine rebellierende Masse, eine Vielheit von Programmen, Positionen und Perspektiven, eine unübersehbare Menge von differenten Subjekten, deren alleiniges Verbindungselement die Vielheit ist. In ebenfalls marxistischer Tradition konstituiert sich die rebellierende Masse aus den Armen, den materiell Verelendeten. Es sind die armen Massen, die vom globalen Kapitalismus in immer größerer Menge produziert werden und die sich – weil dies ökonomischen Gesetzen unterliegt – nicht begrenzen oder gar regulieren lassen. Zudem wird eine „materialistische Teleologie“41 ins Feld geführt: Wer arm ist, hat nichts zu verlieren – oder wie Marx gesagt hat, nur seine Ketten. So erstaunt es auch nicht, dass den armen und rebellierenden Massen auch noch eine an Franz von Assisi orientierte Spiritualität unterstellt wird, die die Sehnsucht nach einer besseren Welt inspiriert und den politischen Kampf um diese anstachelt. Die rebellierende Masse hält sich nicht an die Regeln und Verfahren der Politik, sondern sucht sich ungeregelte und spontane Ausdrucksformen, die sich im Politischen äußern und in einem Kampf ums Ganze münden. Das „Unsichtbare Komitee“ hat in seiner Kampfschrift „Der kommende Aufstand“ eine ähnliche, aber gleichwohl radikalisierte Position formuliert. Es feiert
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die Brände in den Banlieues in Paris im November/Dezember 2007 als „Freudenfeuer“ und formuliert die Differenz zwischen der zu verachtenden Politik und dem zu feiernden Politischen noch drastischer: „Die ganze Serie nächtlicher Anschläge, anonymer Angriffe und der wortlosen Zerstörung hat den Verdienst, die größtmögliche Kluft zwischen die Politik und das Politische zu reißen. Niemand kann ernsthaft die Offenkundigkeit des Angriffs verneinen, der Forderungen stellte, der keine andere Botschaft hatte als die Bedrohung; der nichts mit der Politik zu schaffen hat. Man muss blind sein, um das rein Politische nicht zu sehen, das in dieser entschlossenen Verneinung der Politik steckte.“42
Diese zwei Positionen, die C. Schmittsche und die von M. Hardt und A. Negri bzw. des Unsichtbaren Komitees, stecken in etwa das breite Feld ab, in dem sich die potentiellen Aktionen und Akteure des Politischen bewegen. Sie reichen von der maßgebenden und entscheidenden Gruppe bis zur spontanen und gewaltgetriebenen Rebellion der unterdrückten, unorganisierten und spiritualisierten Massen. Zugleich war und ist die Begriffsbildung – wie bei all solchen Versuchen – von einer radikalen Asymmetrie der Gegenbegriffe gekennzeichnet. Sobald man sich – so ein systemtheoretischer Imperativ – entschieden hat, eine Seite einer Beobachtung zu betrachten, kann man die andere Seite nicht mehr sehen. Sie bleibt ein dunkler, nur vage markierter oder gänzlich unmarkierter Fleck.43 Setzt man auf die politische Differenz und markiert das Politische gegenüber der Politik, so bleibt die Politik weitgehend im Dunkeln. So wurde der Begriff des Politischen nicht als einfache Negation zur Politik gefasst, also als Nicht-Politik, sondern durch eine doppelte Negation: Das Politische ist nicht Nicht-Politik, sondern etwas ganz Anderes, Abgesetztes, Besonderes, Hervorgehobenes, ja Herausragendes. Wie auch immer die einzelnen Begrifflichkeiten formuliert wurden, die Politik wurde als etwas Minderwertiges betrachtet und das Politische war der Einspruch, ja Widerspruch gegen die Politik. Man muss kein Schmittianer sein, um zu sehen, dass das Politische ein durch Gewalt und Tod geprägter Ausnahmezustand, ein Ernstfall, ist – im engeren wie im übertragenen Sinne. Bei C. Schmitt ist der Sachverhalt klar: Die Politik – bei ihm die liberale Politik – macht aus dem Feind im Ökonomischen einen „Konkurrenten“, im Geistigen einen „Diskussionsgegner“ und will damit die Freund-Feind-Unterscheidung auflösen.44 Zudem gibt es aber noch „zahlreiche sekundäre Begriffe von ‚politisch‘“45, denn man kann von Religions-, Schul-, Kommunal- und Sozialpolitik des Staates ebenso sprechen wie von staats- und parteipolitischen Haltungen. Dann entwickeln sich noch „weiter abgeschwächte, bis zum Parasitären und Karikaturhaften entstellte Arten von ‚Politik‘, in denen von der ursprünglichen Freund-Feind-Gruppierung nur noch irgendein antagonistisches Moment übriggeblieben ist, das sich in Taktiken und Praktiken aller,
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Konkurrenzen und Intrigen äußert und die sonderbarsten Geschäfte und Manipulationen als ‚Politik‘ bezeichnet.“46
Interessant ist, dass C. Schmitt hier von ‚antagonistischen Momenten‘ spricht, die gleichwohl nicht automatisch zu einer Freund-Feind-Gruppierung führen und ‚irgendwelche‘ sein können. Das Politische entsteht erst und ausschließlich durch eine bewusste Entscheidung, durch eine Freund-Feind-Konstruktion, die eben den Feind definiert. Die Politik dagegen ist – wie bei vielen anderen Autoren auch – ein „Übel“ (Ricoeur), die „Polizei“ (Rancière), ein Teilsystem unter vielen anderen, konventionell (Marchart), alltäglich u.Ä., also gegenüber dem Politischen nicht nur minderwertig, sondern auch verachtenswert. Sie regelt Banales, das Politische dagegen Fundamentales. Es wirkt wie ein „Sprengsatz gegenüber seiner Einengung durch die Politik“ – wie A. Negri formuliert.47 Das Politische ist dann nicht nur eine Revolution, sondern eine Art permanente Revolution, die gegen die Politik als Einengung des Politischen dauerhaft rebelliert. Könnte man von der Seite des Politikbegriffs ausgehend eine asymmetrische Begriffsbildung versuchen, die das Politische in einen minderen Rang versetzt oder ganz verdunkelt? Der entsprechende Begriff wäre die Politik der Gewalt, die sehr unterschiedliche Formen annehmen kann. Aber ‚das Politische‘ wäre als Begriff verschwunden, wenn man stattdessen von der Politik der Gewalt spricht. Denn ‚das Politische‘ als existentielle Entscheidungssituation, als ein mit Waffen ausgetragener gewaltsamer Konflikt, in dem es um die kriegerische Neukonstitution einer Gesellschaft geht, ist unhintergehbar eine Situation der Gewalt. Zwei unvereinbare Positionen – die von Freund und Feind – kämpfen einen existentiellen Kampf, in dem die eine Seite nur vollständig siegen und die andere nur vollständig verlieren kann. Es kann keinen Frieden geben, der sich aus gegenseitiger Achtung oder Anerkennung speist und eine vertragliche Regelung findet. Die Politik der Gewalt kann sehr unterschiedliche Formen annehmen. Sie reicht von der massiven Verbrechensbekämpfung durch Geheimdienste und Polizei im Rahmen rechtsstaatlicher Vorgaben bis hin zu militärischen Interventionen in bestimmte Staaten – ebenso auf der Basis von rechtlichen Beschlüssen internationaler Organisationen wie etwa der UN. Rechtlich gebundene Politiken der Gewalt wären dann zu unterscheiden von rechtlich ungebundenen. Die Politiken des Nationalsozialismus und der sozialistischen Diktaturen, insbesondere der Sowjetunion unter Stalin, könnte man analytisch als Politiken der ungebundenen und notorisch tötenden Gewalt beschreiben, die auf politischen Ideologien beruhen und deren Umsetzung Gewalt unvermeidlich einschließt (vgl. Kap. 7). Ungebundene direkte Gewalt wären auch ethnisch bzw. rassistisch motivierte, auch unbegründete Vertreibungen oder Vernichtungen von bestimmten Gruppen, wie man das gegenwärtig in Afrika beobachten kann. Auch wenn in solchen Fällen Freund-Feind-Konstruktionen eine zentrale Bedeutung spielen mögen, kann man diese Kämpfe oder Kriege als Sonderformen,
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1. Die Politik und das Politische
als Subtypen einer Politik der Gewalt fassen, ohne dass man auf den Begriff des Politischen zurückgreifen müsste. Vor allem wäre dann die binäre und asymmetrische Gegenüberstellung der Begriffe der Politik und des Politischen überwunden und die damit verbundene politische Differenz verschwunden, ohne dass man einen Verlust an analytischer Präzision erleiden müsste.
1.3. Die Politik und Differenzierungen im Politikbegriff: Über Politisieren, Politicking, Polarisieren und Paralysieren Politik ist im 20. Jahrhundert immer „neuzeitliche Politik“.48 Dadurch unterscheidet sie sich von einer ausschließlich normativ geprägten, die meist bei Aristoteles ihren Ausgangspunkt nimmt und die Realisation eines Gemeinwohls oder gewünschter Normen meint. Ein neuzeitlicher Politikbegriff ist immer durch bestimmte Stile, Praktiken, Gewohnheiten und Verhaltensmuster gekennzeichnet, die erst im 20. Jahrhundert auftraten, und operiert mit ebenso neuzeitlich spezifizierten Ideologien, Denkmustern oder Programmatiken. Diesen ‚neuen‘ Politiken liegen vier Prämissen zugrunde:49 (i) Die Säkularisierung entzieht modernen Gesellschaften einen unhinterfragten Boden der Gemeinsamkeit, der auf kollektiv geteilten, kulturellen, religiösen oder alltäglichen Verhaltensmustern beruhte. Alle diese Gemeinsamkeiten verdampfen und alles muss sich der unvermeidlichen Begründbarkeit aussetzen. Nicht nur Gott ist tot, wie Nietzsche es formuliert hatte, sondern alle bisher unhinterfragten Grundlagen sind ‚tot‘. Allein die Politik kann „jenes funktional notwendige Maß an Wertgemeinschaft erzeugen (…), dessen die gesellschaftliche Reproduktion und die Politik selbst bedarf.“50 Moderne Politik muss selbsttragend sein, nur sie selbst kann ihre eigenen Voraussetzungen herstellen: Die Politik der Verfassunggebung (vgl. dazu unten Kap. 3) kreiert die konstitutionellen Grundlagen, auf denen sie dann selbst Politik treibt. Die Standards und Normen, unter denen Politik betrieben wird, werden von ihr selbst entschieden. Die „Fesseln und Bremsen“51, mit denen sie sich in Demokratien selbst beschränkt, oder die Mechanismen der ‚Entfesselung‘, mit denen sie ihre Reichweiten und Tiefendimensionen in Diktaturen auslotet, sind das Ergebnis von Politik. Verfassungen werden neu geschrieben oder sie werden im Rahmen einer gegebenen verändert, Institutionen geschaffen oder zerstört, Rechte und Freiheiten ein- oder bei Seite geräumt – der Politik sind im Prinzip keine Grenzen gesetzt. Alles ist politisierbar geworden und selbst die Autonomie der gesellschaftlichen Teilsysteme, sei es die Ökonomie, die Wissenschaft, die Religion, die Kultur oder was auch immer – sie alle können durch die Politik ihrer Autonomie beraubt werden, wie umgekehrt deren Autonomie eine politische Entscheidung ist.
1.3. Die Politik und Differenzierungen im Politikbegriff
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(ii) Der Begriff des Interesses löst den der Leidenschaften zwar nicht völlig ab, aber er gerinnt zum Kern der neuzeitlichen Rationalität.52 Interessen sind langfristig orientiert und rational begründbar. Sie machen das Handeln von Menschen erwart- und damit in gewisser Hinsicht vorhersehbar, da man weiß, was eine Person bei Kenntnis ihres Interesses will. Das eigene Handeln und das aller Anderen wird kalkulierbar und Interessen sind dem Kompromiss leichter zugänglich als ideologische Positionen oder Leidenschaften. „Interessen lassen sich verhandeln, aggregieren, teilen, im Kompromiß vorläufig teilweise befriedigen oder missachten, wenn sie nicht mit genügendem Nachdruck vorgebracht werden können. Diese Konvertabilität erzeugt Kontingenz. Die Interessenbasiertheit der modernen Politik ermöglicht den für sie Verantwortlichen eine bis zur Gesinnungslosigkeit gehende Flexibilität und Gestaltungsfähigkeit ihrer politischen Programme, die zum Kennzeichen der politischen Gesellschaft heute geworden ist.“53
Die Dominanz des Interesses hat zugleich eine nach ‚innen‘ gewandte Wirkung: Sie zivilisiert die Menschen in ihrem Verhalten und übt eine verstärkte Selbstkontrolle aus, die alle Bereiche des sozialen Lebens berührt. Norbert Elias hat das in seinem „Prozess der Zivilisation“ ausführlich beschrieben.54 Zugleich hat er auch weitere Veränderungen im Blick gehabt, v. a. die des Staatsapparates. Die Politik als eigenständiger Bereich moderner Gesellschaften bleibt bei ihm jedoch weitgehend ausgeblendet. Gleichwohl bleibt ein an Normen orientiertes Handeln nach wie vor ein nicht zu vernachlässigender Motor sozialer und politischer (Inter)Aktionen. (iii) Der moderne Wohlfahrtsstaat ist im Vergleich zu den beiden anderen Entwicklungen historisch betrachtet ein späteres Phänomen. Jedoch signalisiert er wie keines der beiden anderen die Idee der politischen Gestaltbarkeit von Gesellschaft. Alle modernen Wohlfahrtstaaten – gleich welchen Typs – verdeutlichen dies und machen sichtbar, dass die neuzeitliche Politik tief in die Dynamiken der modernen Gesellschaften eingreift. Sie kann die Arbeitsbeziehungen und die Lohngestaltung selbst regeln und somit massiv in die wirtschaftlichen Beziehungen eingreifen. Sie kann aber auch Institutionen bauen, die zentrale soziale Risiken absichern und mit einem Rechtsanspruch verbinden, den das Individuum gegen den Staat einklagen kann, obwohl er dieses Recht durch seine soziale Politik gewährt (vgl. dazu insbesondere Kap. 5). (iv) Die letzte der vier Entwicklungen ist die Fundamentalpolitisierung der Gesellschaft. Sie beruht zunächst auf der Prämisse, dass im Prinzip alles politisierbar ist. Alles – ein kleines Wort, das viel umfasst. Es bedeutet zunächst eine Politisierung „von unten“, die verschiedene Formen annehmen kann. In rechtsstaatlichen Demokratien haben die Mitglieder der Gesellschaft den vollen Staatsbürgerstatus, sowie die individuellen und Freiheitsrechte, die politischen Partizipations- und schließlich die sozialen Teilhaberechte. Alle drei ermöglichen ihnen die rechtlich abgesicherte und volle politische Mobilisierung als Individuum und als
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soziale Gruppierung. In den nicht-demokratischen Staaten, v. a. aber in den totalitären, kann man ebenfalls eine Mobilisierung, vielleicht sogar ‚totale Mobilmachung‘ der Gesellschaftsmitglieder beobachten, die allerdings auf nicht-rechtsstaatlicher Basis funktioniert und sich auf die Massen oder die Klasse(n) bezieht, die von politischen Führern oder Parteien aktiviert werden. Zudem wird alles Entscheidbare als Interessenkonflikt thematisiert; dies gilt für nicht-demokratische Staaten weniger, hier sind es meist ideologische Konflikte, die gewaltsam ‚gelöst‘ werden. Die Politik der Gewalt, ja der Tötung und Auslöschung von ganzen sozialen oder ethnischen Gruppen dominiert hier, während demokratische Politik sich durch Selbstbindungen vor solchen Praktiken schützt. Jedenfalls kann in politischen Gesellschaften die Politik für alles ihre Zuständigkeit reklamieren und realisieren. Dies sind die zentralen vier Voraussetzungen, auf denen neuzeitliche Politik aufbaut und die zugleich das ungeheuerliche Ausmaß des 20. Jahrhunderts annehmen konnte. Demokratische und diktatorische Politik sind allein zwei Unterformen dieser ‚neuzeitlichen‘ Politik, die sich gleichwohl hinsichtlich ihres Anspruchs und ihrer Politikformen fundamental unterscheiden. Dennoch gilt die Beobachtung: „Eigentlich hat erst die Fundamentalpolitisierung der Gesellschaft ohne jeden verbliebenen sozialen, kulturellen und ethischen Halt, weder auf der Ebene der beteiligten Individuen, noch der die Politik ausreichend begrenzenden Wirksamkeit anderer gesellschaftlicher Institutionen oder Verhältnisse, die monströsen Erscheinungsformen des Politischen dieses Jahrhunderts, die ‚katastrophengeschichtlichen Dimensionen unseres Zeitalters‘ ermöglicht.“55
Die Politik kann alles – dies ist die bestürzende Erkenntnis über den Charakter der neuzeitlichen Politik, sie kann durch organisierte Genozide eine unvorstellbar große Anzahl von Menschen töten und sie kann gerechtere Gesellschaften aufbauen, eben weil alles möglich ist. Das destruktive Element der Politik kann aber nur die Politik selbst aus sich herausnehmen und die Mechanismen hierfür sind bekannt: auf der institutionellen Ebene über Gewaltenteilung, verfassungsrechtliche Garantien der Freiheits-, Beteiligungs- und sozialen Rechte und Verfahren der politischen Willensbildung, die die Kontrolle der Herrschenden durch eine Politik „von unten“ möglich macht. Auf der Konfliktebene durch eine am Kompromiss orientierte und entideologisierende Politik, aber auch durch eine Politik des Beschweigens, die bestimmte Sachverhalte nicht zu ihrem Gegenstand macht, sondern durch Schweigen entpolitisiert. Auf der Gestaltungsebene die normativen Orientierungen, an denen sich die einzelnen politischen Entscheidungen orientieren. Sollen die sozialen Differenzen eingeebnet werden oder nicht? Sollen bestimmte Gruppen besser integriert werden oder nicht? Sollen ökonomische Dynamiken abgeschwächt werden oder nicht? Dies sind nur einige Fragen, die eine Politik der Gestaltung zu bearbeiten hätte – in welcher Richtung auch immer.
1.3. Die Politik und Differenzierungen im Politikbegriff
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Wie könnte man – in aller Kürze und möglicher Verkürzung – nun Politik begrifflich fassen? Politik ist die Gesamtheit all der Aktivitäten, die auf Vorbereitung, Legitimation, Herstellung und Durchführung gesamtgesellschaftlich verbindlicher Entscheidungen abzielen bzw. zum Fluchtpunkt haben und die die verschiedensten gesellschaftlichen Bereiche zu regeln versuchen. Die Leistungen der Politik umfassen dann die inhaltlichen Dimensionen dieser Entscheidungen und reichen von der Familien- über die Steuer- und Sozial- bis hin zur Außenpolitik, um nur einige Bereiche zu nennen. Sie ordnen die vielfältigen Beziehungen zwischen dem politischen System und seiner Umwelt und innerhalb der Gesellschaft. Durch diese politischen Dauerinterventionen entstehen gesellschaftliche Ordnungsstrukturen, die als verbindliche Regelung zunächst stabil, aber gleichwohl durch Politik prinzipiell änderbar und deshalb kontingent sind. Politik ist zudem immer Kampf bzw. umkämpft, weil individuelle und kollektive Akteure mit fairen oder unfairen Mitteln um Machtanteile konkurrieren oder die Machtverteilung zu beeinflussen versuchen, um so ihre programmatischen Vorstellungen zur Gestaltung der Gesellschaft zu realisieren oder um den schieren Genuss der Macht auszukosten. Schließlich kann Politik über ihre eigenen Regeln entscheiden, weil sie nicht nur die Verfassung selbst, sondern auch andere politisch bedeutsame Institutionen und Spielregeln ändern kann. Verfassunggebung ist gleichwohl ein Grenzbereich der Politik bzw. des politischen Handelns (vgl. dazu unten Kap. 3) Der Politikbegriff umfasst somit vier Dimensionen: Eine funktionale, denn die Politik als System ist allein in der Lage, gesamtverbindliche Entscheidungen zu treffen, die für alle anderen (Teil)Systeme der Gesellschaft Geltung beanspruchen. Dann eine substantiell-inhaltliche, weil der Politikbegriff mit beliebigen Bereichen verkoppelbar ist (Familien-, Steuer-, Wissenschafts-, Schulpolitik, etc.). Eine temporal-interaktionistische, weil sich Politik in der Zeit verändert und zugleich immer der Kampf um Anteile an politischer Macht ist, deren Konstellationen und Interaktionen sich im Zeitverlauf ändern. Und schließlich eine selbstreferentielle Dimension, weil Politik über sich selbst entscheidet, indem sie ihre eigenen Spielregeln und Privilegienstrukturen (Verfassung, Wahlrecht, Parteienfinanzierung, Organisationsstrukturen der politischen Parteien etc.) variieren kann. Abschließend will ich kurz verschiedene topoi der Politik diskutieren. Kann man sagen, dass es eine Politik des Politischen gibt? Diese wäre dann als die Aktivität zu kennzeichnen, die sich die Verschärfung, die Fundamentalisierung, ja die Ontologisierung der Politik zur Aufgabe macht und die Politik als Politik in einen minderen Rang versetzen will. Eine Politik des Politischen geht immer aufs Ganze, sie kann keine Kompromisse schließen und will, ja muss den politischen Konflikt bis zur Freund-Feind-Gruppierung verschärfen und die Tötung von (vielen!) Menschen als unvermeidliche Konsequenz einschließen. Eine Politik des Politischen wären auch all die Aktivitäten, die von politischen Philosophen und po-
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litischen Theoretikern unternommen werden, um den Begriff des Politischen in Wissenschaft und Politik stark und prominent zu machen. Von C. Schmitt bis zur neueren französischen Diskussion, vor allem aber bei M. Hardt und A. Negri, ist diese tödliche Dimension unübersehbar (vgl. oben Kap. 1.2.). Eine Politik der Politik müsste dagegen die Politik als Tätigkeit, als Handlungskategorie doppelt ernst nehmen. Sie müsste einmal nach den vielen und unterscheidbaren Spielarten, also den Farben und Facetten der Politik als Aktivität, als Handlungskategorie, fragen und diese analysieren. Zum Anderen nach den vielen Bereichen, in denen diese Spielarten ausgeübt werden. Diese Bereiche erschließen die Politik als umfassende Gesellschaftspolitik, die über alle wesentlichen Fragen moderner Gesellschaften verbindlich entscheiden kann und entscheidet. Dies ist Gegenstand meines Essays und bevor ich die einzelnen Spielarten und Bereiche kurz skizziere, will ich eine grobe und relativ abstrakte Kategorisierung vornehmen, welche topoi in der neuzeitliche Politik zu ihrer Differenzierung ausbildet wurden. (i) Zunächst Politisieren und dies umfasst all die Tätigkeiten von identifizierbaren Akteuren, die einen bisher nicht-politischen Gegenstand zu einem politischen machen wollen. Ein bestimmter Sachverhalt, ein Thema oder ein Problem soll politisch ‚bespielbar’ gemacht, auf die politische Agenda gesetzt und darüber eine verbindliche Entscheidung getroffen werden.56 Der ‚Wert‘ eines zu politisierenden Sachverhaltes wird von den Handelnden nicht mehr allein nach seinem Inhalt bzw. seinem Problemlösungspotential festgelegt, sondern nach seinen möglichkeitsöffnenden Potentialen, was Stilfragen und symbolisch-ästhetische Ausdrucksformen in die Politik eindringen lässt und die Relativität und damit die Kontingenz von Optionen steigert. Die Politisierung bestimmter Sachverhalte dient zudem dem reinen Machterhalt bzw. der Machtsteigerung der politischen Akteure. Die politischen Parteien können hierbei wie Staubsauger fungieren, die all die Sachverhalte ansaugen, mit denen ein Machtsteigerungspotential verbunden ist, seien es Plagiate in von Ministern verfassten Doktorarbeiten, moralisch verwerfliche Fehltritte von Politikern oder von den Medien skandalisierte Sachverhalte. Im Kern sind in politischen Gesellschaften alle Sachverhalte politisierbar, sofern sie von Akteuren als politisch zu entscheidende Sachverhalte ins Spiel gebracht werden.57 Hierin drückt sich die überbordende Kontingenz der postmodernen Gesellschaften und zugleich die prinzipielle Überladung der Politik mit bestimmten Themen aus. Politisierung kann verschiedene Formen annehmen: In einer quantitativen Dimension ist es zunächst die schiere Ausweitung der Themen, die in der politischen Auseinandersetzung um Anerkennung kämpfen und von bestimmten Interessen auf die Agenda gesetzt werden wollen. In einer qualitativen Dimension kann man fragen, ob Politik aktiv gestaltend in die sozialen und gesellschaftlichen Dynamiken eingreifen und so die Zukunft durch gegen-
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wärtige Entscheidungen gestalten will. Oder ob sie nur noch reaktiv operiert und die Folgen von Entscheidungen, die von Anderen und an anderen Orten getroffen wurden, zu kompensieren versucht. In der institutionell-organisatorischen Dimension verändert die Politik ihren Handlungskontext, indem sie z.B. über die Zunahme neuer ministerieller Portfolios oder über Umstrukturierungen politischer Verantwortlichkeit im Regierungsapparat oder in den politischen Parteien entscheidet. Entpolitisieren wäre dann die entgegengesetzte Tätigkeit, die das Politisieren von bestimmten Sachverhalten verhindern oder sie von der politischen Agenda verschwinden lassen will. Statt verbindlicher Entscheidungen müssten dann andere Handlungsmuster bestimmte Sachverhalte regeln, seien es Marktprozesse, evolutionäre Dynamiken, wissenschaftliche Expertise etc. (ii) Politik bedeutet auch Politicking. Der nur schwer übersetzbare Begriff58 bezeichnet all die politischen Handlungen, die reine Performanz59 sind und ihren Wert allein im Spielen des politischen Spiels finden. Politicking zielt nicht auf ein Ergebnis, auf eine Entscheidung, die gesellschaftliche Ordnung in diese oder jene Richtung zu verändern. Stattdessen liegt der Wert einer politischen Aktion in der Beurteilung durch andere Beobachter, sei es der politische Gegner, sei es das politische Publikum oder die medial inszenierte öffentliche Meinung. „Politisierung markiert gewisse Phänomene als politisch, Politicking spielt mit diesen Phänomenen. (...) Politisierung ist eine verändernde Bewegung, die sowohl den Erfahrungsraum als auch den Erwartungshorizont umwandelt, während Politicking reine Performanz ist, die nur die Gegenwart ihrer Ausübung kennt.“60
In einem solchen Kontext sind Policies keine Lösungsangebote, mit denen man auf problematische Sachverhalte reagiert, sondern „Schachzüge, die gegebenenfalls Konstellationen verändern, Fragestellungen umwerfen oder zur Umformulierung des Vokabulars herausfordern.“61 Politischer Opportunismus ist dann erstens eine unvermeidliche Erscheinungsform des immer situativ ausgeübten Politicking. Zweitens kann es sich in Status-, Kompetenz- und Eitelkeitskonflikten innerhalb der politischen Klasse ausdrücken und hierbei verschiedene Formen annehmen. Drittens und unvermeidlich hat dies eine medial inszenierte Selbstdarstellung zur Folge, in der symbolische, theatralische und dramatische Aspekte eine große Rolle spielen. Dies alles wird erst im Laufe des Jahrhunderts deutlicher, weil die mediale Dimension eine immer größere Bedeutung bekommt (vgl. dazu unten Kap. 13). Die gegenläufige Politik, die des Ent-politicking, wären dann all die Aktivitäten, die das ‚reine Spiel‘ in eine ernsthafte Politik zurückführen, bei der es wieder um wichtige und grundlegende Gestaltungsentscheidungen geht oder um die politische Bearbeitung von ersthaften Problemen. (iii) Polarisieren ist eine Form der Politik, die die Gegensätze und Konflikte zu radikalisieren und zu eskalieren versucht. Während Politisierung allein die Aktivitäten beschreibt, die das ‚politisch Bespielbarmachen‘ eines Gegenstandes erfas-
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sen, bedeutet Polarisierung etwas anderes. Es geht um die bewusst vorangetriebene Eskalation von Konflikten und – im Extremfall – um die Einführung von Gewalt in die Politik. Nicht Politisierung, sondern radikale Intensivierung ist das Ziel dieser Aktivität. Man könnte – in einer etwas überspitzten Formulierung – sagen, es ist die Transformation der Politik in das Politische (im Schmittschen Sinne). Man könnte genauso gut sagen, dass dann Politik zur Politik der Gewalt wird, die verschiedene Ausdrucksformen finden kann, die nicht mit der des Politischen identisch sein müssen. Der Krieg – sei es der ‚normale‘ zwischenstaatliche Krieg oder der innerstaatliche Bürgerkrieg – wäre dann die intensivste Ausdrucksform dieser Polarisierung, ebenso wie Vertreibung oder Auslöschung ganzer sozialer, ethnischer oder politischer Gruppen. Das Befrieden durch Politik – das Entpolarisieren – ist dann die entgegengesetzte Tätigkeit, die die Umwandlung von gewalttätigen Konflikten in friedlich regelbare Konflikte bedeutet. Friedensschlüsse jeder Art, Verfassunggebung oder Institutionenbildung, die Regeln für eine friedliche Austragung von Konflikten festlegen, sind die wichtigsten Ausdrucksformen der Entpolarisierung. Sie schreiben den beteiligten Akteuren Rechte und Pflichten zu, die diese verbindlich einhalten müssen. D. Sternberger sah in der Befriedung bzw. im Frieden den Grund, das Merkmal und die Norm aller Politik.62 (iv) Und schließlich umfasst Paralysieren all die politischen Handlungsmuster, die einen politischen Gegner entmächtigen und ihn in seinem Aktionsmodus eindämmen oder lähmen sollen. Politik kann beispielsweise versuchen, die Wirkungen einer gegnerischen Kampagne abzuschwächen oder wirkungslos zu machen. Analoges gilt selbstverständlich auch im militärischen Bereich, indem man den Feind durch Kampagnen, Propaganda oder gar Falschmeldungen zu schwächen versucht. Eine verlorene Entscheidungsschlacht kann dieselben paralysierenden Wirkungen haben wie eine vernichtende Niederlage in einem bedeutsamen Wahlkampf um Anteile an politischer Macht. Selbstverständlich können sich politische Mächte auch gegenseitig paralysieren und dadurch Dritten zum Durchbruch verhelfen. In der Politik ist sicherlich die Paralyse der Macht eines Machtträgers am wichtigsten, die man durch kluge Gegenstrategien oder -taktiken oder durch Ignoranz erreichen kann. Entparalysierung versucht durch den Verweis auf historische Größe, auf zurückliegende Erfolge oder auf vergangene, gleichwohl erfolgreiche Wahl- oder andere politische Kämpfe sich neue und zukunftsweisende Kräfte zukommen zu lassen. Mit diesen vier Begriffen wären die wichtigsten Spielarten der Politik umschrieben, ohne dass sie Vollständigkeit beanspruchen könnten.
1.4. Zusammenfassung
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1.4. Zusammenfassung: Die Spannbreite des Politikbegriffs und die Unspezifität ‚Des Politischen‘ Politisches Handeln oder ‚Politik treiben‘ im M. Weberschen Sinn umfasst eine immense Spannbreite von Aktivitäten, die in politischen Extrem- wie in Alltagssituationen ausgespielt werden. Das Politische konstituiert sich ausschließlich oder zumindest vorwiegend durch eine fundamentale Unterscheidung, der zwischen Freund und Feind. Es markiert den Intensitätsgrad einer Assoziation oder Dissoziation von Menschen, die auf religiösen, nationalen, wirtschaftlichen oder anderen Merkmalen beruhen kann und allein von der entscheidenden Gruppe entschieden wird.63 Es gibt keine Institution, in der dies beschlossen werden soll, es wird nicht geregelt, wer dabei beteiligt ist, nach welchen Abstimmungsmodi entschieden wird, welche Beteiligten welche Rechte haben, wen sie repräsentieren (oder auch nicht) etc. Das Politische kann nur als Moment, als ein kurzer Zeitpunkt gedacht werden, indem alle zentralen Entscheidungen auf einmal getroffen und dann für die Zukunft festgeschrieben werden. Todesbereitschaft und Tötungsbereitschaft sind in einer solchen Situation vorausgesetzt.64 Die Situation des Politischen ist völlig unstrukturiert, keine Verfahren sowie Rechte und Pflichten von potentiell Beteiligten werden bestimmt. Die Politik dagegen kann den Aktions- und Handlungsspielraum von beteiligten Akteuren festlegen und deren Kompetenzen im politischen Streit bestimmen. Politische Institutionen, von der Verfassung bis zu den Wahl- oder Parteiengesetzen, können solche Handlungsspielräume und Kompetenzen festlegen. Die politischen Aktivitäten selbst können in Topoi unterteilt werden, mit denen man das politische Agieren differenzierter beobachten kann. Politisieren politische Parteien einen bestimmten Sachverhalt, zu welchem Zeitpunkt und mit welchen Argumenten bzw. Positionen, oder wollen sie bestimmte Sachverhalte entpolitisieren? Betreiben Parteien vor allem Politicking, streben also vorwiegend oder ausschließlich nach Machtpositionen, wie es etwa die ökonomische Theorie der Politik unterstellt65, oder spielen auch andere Motive eine Rolle? Warum werden bestimmte Konflikte oder Gegensätze polarisiert, also durch bestimmte Akteure zugespitzt, radikalisiert oder bis zur Gewalt eskaliert? All das kann man mit den hier ausgebreiteten analytischen Kategorien untersuchen und zugleich fragen, welche Praktiken hierbei zum Einsatz kommen. Ein weiter Horizont tut sich auf und man kann sehen, wie der politische Betrieb betrieben wird und welche Akteure wie, mit welchen Ressourcen und mit welchen Praktiken daran beteiligt sind. Im Folgenden konzentriere ich mich auf bestimmte Politikbereiche und verfolge deren Entwicklungsdynamiken durch das ganze Jahrhundert hindurch. Nach den Spielarten der Politik sollen nun die Spielbereiche in den Blick kommen, wobei man beide Dimensionen nicht strikt trennen kann. Aber man kann dennoch
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1. Die Politik und das Politische
Schwerpunkte setzen und sich auf zentrale Politikbereiche konzentrieren. In der Politik der Verfassunggebung legen Gesellschaften ihre institutionellen Grundsteine und sie bestimmen, welche Rechte und Pflichten die Bürger eines Staates haben, mittels welcher Verfahren politische Entscheidungen getroffen werden und wie politische Macht ausgeübt wird. Aber der Prozess bzw. die Verfahren der Verfassunggebung haben sich im Laufe des Jahrhunderts stark geändert, die souveräne verfassunggebende Gewalt des Volkes wird am Ende des Jahrhunderts durch koordinierte Transformationen ersetzt. In den mittel- und osteuropäischen Transformationen konnte man dies paradigmatisch beobachten, bei denen die alten Machthaber und die oppositionellen politische Kräfte an Runden Tischen die Schritte des Übergangs und eine neue Verfassung aushandelten. Dies alles ist Gegenstand des folgenden Kapitels. Anmerkungen 1 Vgl. etwa Marchart 2010; andere sprechen von einer „Leitdifferenz“, wie etwa Bedorf 2010: 15. 2 Vgl. dazu etwa Bedorf/Röttgers 2010; Marchart 2010; Bröckling/Feustel 2009; Mouffe 2007; Hirsch 2007, um nur einige der wichtigsten Beiträge zu erwähnen. 3 „Indem wir von dem Politischen sprechen, wollen wir gerade nicht die Politik bezeichnen“ – so Philippe Lacoue-Labarthe und Jean-Luc Nancy, die diese Diskussion im Jahr 1981 erneut begonnen haben; zit. nach Bedorf 2010: 14. 4 Ich habe Carl Schmitts „Zum Begriff des Politischen“ ein eigenes Kapitel in dem Unterabschnitt „Die Politik der Paranoia“ (vgl. unten Kap. 6) gewidmet. Dort führe ich die Auseinandersetzung mit seiner Schrift gründlicher und systematischer. 5 Zit. nach Mehring 2009: 202. 6 Mehring 2009: 213. 7 Ebd. 8 So ein zweiter Biograph von C. Schmitt, Paul Noack; vgl. Noack 1993: 52. 9 Schmitt 1919. 10 P. Noack betrachtet diese Schrift als das Freimachen von der „eigenen Unentschiedenheit, von den intellektuellen Verführungen folgenloser Diskussionen als Vorwand für Politik (...). Er machte sich von seinen subjektiven Gefährdungen (welchen eigentlich?; F.W.R.) frei, indem er sie zu geschichtlichen Konstanten deklarierte. (...) Schmitt bannt die eigene Gefährdung, indem er sie bei anderen, den Frühromantikern, aufdeckt. (...) Er (exorziert) die Gefahren in der eigenen Brust (...)“ und „thematisiert die Gefährdungen der eigenen Existenz“ (ebd.: 47f.). R. Mehring spricht den
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Frühschriften eine ähnliche Bedeutung zu: „(...) die Politische Romantik von 1919 und Die Diktatur von 1921, gehen auf die prägenden Erfahrungen der Frühzeit zurück. Mit der Romantik generalisiert Schmitt seine Individualismuskritik, verwirft die ganze Mentalität des Bürgertums, wie sie seit der Romantik entstand, und richtet sich damit in seiner überreizten Empfindsamkeit und Subjektivität auch selbst. Mit der Diktatur kritisiert er dann nicht mehr die subjektive Seite der bürgerlichen Welt, sondern ihre objektive politische Verfassung. (...) Aus der Erfahrung seiner Militärzeit meint er, dass die bürgerliche Welt in ihrer Mentalität und Verfassung kaum noch zu halten sei.“ Mehring 2009: 110f. Schmitt 1994 (1921). Schmitt 1996 (1922). Noack 1993: 70. Schmitt 1923. Noack 1993: 73. Schmitt 1991 (1923). Noack 1993: 37. Es versteht sich von selbst, dass in C. Schmitts Schriften seine konkreten, in den Fußnoten eingeführten Gegner oder ‚Feinde‘ sehr andere Personen waren, die je nach Ausgabe und damit historischer Situation wechselten. Seine sich durch alle Ausgaben ziehenden ‚Feinde‘ waren jedoch H. Kelsen mit seinem Rechtspositivismus und H. Laski mit seiner Pluralismus-Theorie. Jedenfalls tauchen A. E. F. Schäffle, K. Mannheim und M. Weber in der 1932er Fassung noch auf (1963 (1932), S. 22, FN 4,), in der 1933er Fassung ist der Teil, der sich mit dem Staat und dem
1.4. Zusammenfassung
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Politischen beschäftigt und in dem die erwähnten Autoren auftauchen, gestrichen. Schmitt 1931. Kelsen 1931. Vgl. zum Folgenden v.a. Kelsen 1922; ders. 1934. So Raphael Gross in seiner glänzenden Studie über C. Schmitts Antisemitismus; vgl. Gross 2005: 260; Herv. i. O. Schmitt 1963: 38f.; Herv. i. O. Schmitt 1963: 46. Schmitt 1963: 59. Marchart 2010: 21. Marchart 2010: 21f. Schmitt 1963: 33. Trotzki 1929. Marchart 2010: 27. Schmitt 1963: 46. Werden der Staat oder die Verfassung als Ausdruck der gesellschaftlichen Ordnung angegriffen, „muß sich daher der Kampf außerhalb der Verfassung und des Rechts, also mit der Gewalt der Waffen entscheiden.“ Schmitt 1963: 47; Herv. i. O. Innenpolitisch ist das dann der entfesselte Bürgerkrieg. Greven 1999: 59f. Schmitt 1963: 39. Ebd. Schmitt 1996 (1922): 37. Schmitt 1996 (1922): 37f. Schmitt 1996 (1922): 37. Hier ist vor allen an die beiden zentralen Bücher zu denken, die sie zu Beginn des 21. Jahrhunderts geschrieben haben. Zunächst „Empire. Die neue Weltordnung“ im Jahr 2002 und dann „Multitude. Krieg und Demokratie im Empire“ aus dem Jahr 2004. Zu der langsam unüberschaubar werdenden Literatur zu den beiden Werken vgl. den euphorisch zustimmenden Text von Brieler 2010. Vgl. Hardt/Negri 2004: 13. Hardt/Negri 2004: 77. Unsichtbares Komitee 2010: 11f. Die Figur des blinden Flecks geht prominent zurück auf Niklas Luhmann; vgl. Luhmann 1985: bes. 444; ders. 1997: bes. 1095f. und 1121f. Schmitt 1963: 28. Schmitt 1963: 30. Ebd.; alle Herv. i. O. Zit. nach Straßenberger/Münkler 2016: 31. Oakeshott 2000: bes. 16. Vgl. dazu auch Greven 2009; Oakeshott 2000.
61 50 Greven 2009: 36. 51 Offe 1989. 52 Vgl. dazu und zum Folgenden etwa Hirschman 1970. 53 Greven 2009: 50. 54 Elias 1976 (1939). 55 Greven 2009: 71; das innere Zitat ist einem Interview mit Karl-Dietrich Bracher entnommen, das in der Neuen Politischen Literatur im Jahr 1997 veröffentlich wurde; vgl. dazu NPL 2/1997, S. 259. 56 Diese Auffassung von Politisierung unterscheidet sich grundlegend von den Aspekten, die Martin Rhonheimer unter dem Stichwort „Politisierung“ im Historischen Wörterbuch der Philosophie abhandelt; vgl. Rhonheimer 1989. 57 Greven 2009; ders. 2000. 58 Im Deutschen ist allein der Webersche Begriff des „Politik treiben“ angemessen, im Französischen „faire de la politique“. Neben dem Englischen „politicking“ hat auch das Finnische eine eigene Verbform, nämlich „politikoida“; vgl. dazu Palonen 2003: 4. 59 Unter Performanz verstehe ich hier die Aufführung oder den Vollzug einer Handlung, die ein handelndes Subjekt voraus setzt. Performativität dagegen negiert die Vorstellung eines autonomen, intentional agierenden Subjekts. Die Performanz einer Äußerung oder Handlung dagegen betont den Sachverhalt, dass das Äußerungssubjekt und die Handlung, die vollzogen werden soll, erst durch einen Äußerungsakt hervorzubringen ist. 60 Palonen 1998: 336; Herv. i. O. 61 Palonen 1998: 335. 62 In seiner Heidelberger Antrittsvorlesung aus dem Jahr von 1960 hat D. Sternberger dies konzentriert formuliert. In vielen seiner anderen Schriften ebenfalls, aber immer als mitlaufende Prämisse; vgl. Sternberger 1984a; ders. 1986 und ausführlicher unten Kap. 9.2. 63 Das alles geht natürlich auf C. Schmitt zurück und wurde von mir in Kap. 1.1. und 1.2. ausführlich dargestellt. 64 Dies hat C. Schmitt immer wieder betont (vgl. etwa Schmitt 1932: 46) und seine Nachfolger sehen dies ebenso. 65 Das ist die Grundprämisse von Anthony Downs, nach dem die politischen Parteien mit politischen Konzepten hervortreten, um Wahlen zu gewinnen; sie gewinnen nicht die Wahlen, um mit politischen Konzepten hervorzutreten; Downs 1968: 28.
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2. Politik als Möglichkeitserweiterung und Kontingenzsteigerung
2. Politik als Möglichkeitserweiterung und Kontingenzsteigerung: Das Schäfflesche Moment Wann, womit und mit wem beginnen? Das ist die zentrale Frage aller zeithistorisch orientierten Geschichtsschreibung. Rein kalendarisch beginnt das 20. Jahrhundert mit einem eindeutigen Datum und es versteht sich von selbst, dass just zu diesem Zeitpunkt nicht zwingend eine neue Idee entspringt oder eine Neuorientierung des Politikbegriffs beginnt. Die Frage nach dem Zeitpunkt muss also anders beantwortet werden. Gleiches gilt für die Frage nach der Person. Wer hat als erster Autor eine Neukonzeptionalisierung eines Begriffs riskiert, die eine deutliche Differenz zu allem Bisherigen sichtbar macht? Schließlich: Warum war es gerade diese Person und welche persönlichen und sozialen Kontexte haben das begünstigt? Hier ist der Begriff des Moments hilfreich, weil er den neuen Zeitpunkt, die neue Substanz und die dafür verantwortliche Person miteinander verbinden kann. Das Moment verdeutlicht zunächst einen Zeitpunkt, ab dem etwas Neues, bisher nicht Dagewesenes formuliert wird. Zugleich leitet es eine Dauer, einen Zeitabschnitt ein, innerhalb dessen das Neue die wissenschaftliche Diskussion und das politische Denken prägt, aber nicht gleich dominiert. In der Regel kann man auch eine Person identifizieren, die das Neue zum Ausdruck gebracht und – in welcher Form auch immer – in die Öffentlichkeit getragen hat. Schließlich steckt der Begriff ein Feld ab, indem sich nun neue Autoren positionieren, sich durch Verweise miteinander verbinden und ein „Gewebe politischer Diskurse“1 entstehen lassen. In diesem Feld ist das Neue umstritten. Manche kritisieren es heftig, andere unterstützen seinen Kern, wieder andere entwickeln es weiter oder setzen neue Akzente. Das Neue wird zu einem umstrittenen, gleichwohl etablierten Begriff oder Denkmuster und bringt für eine gewisse Zeitspanne etwas Selbstverständliches zum Ausdruck. Irgendwann wird jemand anderes einen neuen und provokanten Begriff oder Gedanken formulieren, der erneut einen Moment markiert und den eben beschriebenen Prozess erneut auslöst – oder auch nicht. Das Neue des Politikbegriffs im 20. Jahrhundert wurde zwar nur kurz, aber dennoch vor der Jahrhundertwende formuliert. Es war im Jahr 1897 und viele Theoretiker, Wissenschaftler und politische Denker wurden von dieser Neuorientierung beeinflusst. Was war nun das Neue, das in diesem Moment formuliert wurde? Politik wurde von allen feststehenden, vorgegebenen und invariablen Vorstellungen – wie etwa „das Gute“ zu realisieren – gelöst und zu einem Prozessbegriff umgeschmolzen. Politik ist ein dynamischer und endloser Prozess, in dem verschiedene Akteure mit jeweils verschiedenen Vorstellungen um Anerkennung kämpfen und ihre Position zur momentan geltenden machen wollen. Politik
2. Politik als Möglichkeitserweiterung und Kontingenzsteigerung
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öffnet sich gegenüber Variationen und Wandlungen und wird in eine Prozesskategorie übersetzt. Das, was dann entschieden wird und zu einem bestimmten Zeitpunkt einen bestimmten Sachverhalt verbindlich regeln soll, entsteht in einem Prozess mit offenem Ausgang, indem verschiedenste Aspekte ver- oder gehandelt werden. Eine Entscheidung kann aber nicht mehr von einer übergeordneten und invariablen Norm deduktiv abgeleitet werden, diese Zeit ist nun vorbei. Politik wandelt sich zu einer Aktivität, die neue Spielräume schafft, das Gegebene in Frage stellt, neue Möglichkeiten eröffnet – und durch eine politische Entscheidung diesen Möglichkeitshorizont vorübergehend schließt. Denn sie kann sofort nach ihrer Fällung politisiert und damit in Frage gestellt werden. Diese rein formale Bestimmung von Politik als Aktivität des Spielräume-Schaffens markiert den Bruch zu allen alten Politikvorstellungen, die immer von der Realisation vorgegebener Substanzen ausging: Der Realisation des Guten im aristotelischen Sinne, der Staatsräson oder was auch immer die Substanz ausmachte. Der finnische Politologe und Ideengeschichtler Kari Palonen hat in verschiedenen historischen Studien den Wandel des Politikbegriffs in Europa untersucht. Er hat dabei festgestellt, dass wir es zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit einem Wandel vom Substanz- bzw. Disziplinbegriff zum Handlungsbegriff zu tun haben.2 Diesen Wandel will ich nicht erneut nachzeichnen, was angesichts der überragenden Quellenarbeit von K. Palonen auch vergebliche Mühe wäre. Was ich stattdessen versuche, ist mich auf drei Texte zu konzentrieren und diese im Detail und vor allem in ihrem Gewebe zu untersuchen. Ich betrachte diese Texte als ‚Fenster‘, durch die ich nach draußen auf die Landschaft der Politikbegriffe blicke und versuche, das jeweils Neue, die Zusammenhänge und die gemeinsamen Bezugspunkte ebenso herauszuarbeiten wie die Differenzen. Der für das Jahrhundert bahnbrechende Text wird von Albert E. F. Schäffle im Jahr 1897 verfasst und deshalb spreche ich vom Schäffleschen Moment. Das Kapitel beginnt mit der Darstellung seiner grundlegenden Ideen (Kap. 2.1.). Der Wissenssoziologe Karl Mannheim hat seine Gedanken aufgenommen und weitergeführt, ja fundamental weiterentwickelt. Er führt im Detail aus, welche Positionen bestimmte soziale Kräfte in der Sozialstruktur der Gesellschaft einnehmen und wie diese Stellung ihre politische Programmatik bestimmt. Karl Mannheim spricht von „Denkstilen“, durch die sich die politischen Kräfte unterscheiden und Differenzierungen bei der Wahrnehmung und Interpretation von sozialen Sachverhalten und bis in die Logik hinein bedingen. Welche Position sich im politischen Kampf durchsetzt und warum und wie, ist nicht berechen- und erwartbar (Kap. 2.2.). Max Webers Vortrag vor Studierenden in München, bei dem er über „Politik als Beruf“ sprach, kann als Versuch gelesen werden, zentrale politische und politologische Grundbegriffe neu zu umreißen und stellt einen wichtigen Baustein im ‚Gewebe‘ dieses Diskussionsfeldes dar (Kap. 2.3.). Dass M. Weber viele zentrale Ideen und Begriffe von A. E. F. Schäffle ohne Verweis auf ihn über-
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2. Politik als Möglichkeitserweiterung und Kontingenzsteigerung
nommen hat, sei hier nur am Rande, aber der Vollständigkeit halber erwähnt. Ein kurzer Versuch, das Neue dieser drei Autoren zusammenzufassen, schließt diesen Teil des Buches ab (Kap. 2.4.).
2.1. Politisches Handeln bei Albert E. F. Schäffle: Politik als Verflüssigung und des Zu-Ende-Schaffens Der deutsche Politiker, Nationalökonom und Soziologe Albert E. F. Schäffle hat 1897 – auf Wunsch der Leserschaft – in der „Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft“ einen Artikel „Über den wissenschaftlichen Begriff der Politik“3 geschrieben, der für meine Spurensuche das Moment markiert, aber in der Ideengeschichte weitgehend unberücksichtigt blieb.4 Hier vollzieht A. E. F. Schäffle eine radikale Neubestimmung des Politikbegriffs, indem er ihn nicht nur vom Staatsbegriff löst, sondern zugleich als Handlungsbegriff konzipiert, der keinem ex ante bestimmten Staatszweck bzw. einer Staatsräson folgt, sondern durch seine prinzipielle Offenheit und Ziellosigkeit charakterisiert ist. Zunächst führt A. E. F. Schäffle eine Trennung des Staatslebens in Politik einerseits und durch Recht und Bürokratie geprägte Tätigkeiten andererseits ein. Der eine Teil ist der der „Flüssigkeit, des Werdens, der Veränderung, der erst im Einzelfalle fertig zu bringenden Entscheidung, des erst zu Schaffenden, oder der Erhaltung als eines fortgesetzten Neuschaffens.“5 Der andere ist das feststehende, festgeordnete und gleichmäßig sich vollziehende Staatsleben, Man kann – so A. E. F. Schäffle weiter – den ersten Teil „in all ihren Erscheinungen als Politik“ und die andere Seite als „laufendes Staatsleben“ bezeichnen.6 Die gegebenen Träger der Macht, also die staatlichen Gewalten, Beamte, Vertretungskörper und das politische Publikum, sind als feststehende und fixierte Machtgrößen laufendes Staatsleben, weil sie „gesamtheitliches Wollen unverrückbar festhalten und auf mehr oder weniger gleichmäßig wiederkehrende, allseitig fest normierte Bedürfnisfälle staatlicher Art“7 konzentriert sind. In M. Webers Terminologie wäre das die rational bürokratische Herrschaft, die sich als feststehender Prozess in immer wieder neuen und sich in gleichlaufend wiederholenden, fast automatischen Abläufen vollzieht. Dagegen steht die Politik für eine Tätigkeit, eine Aktivität und eine Form des menschlichen Handelns, die – dies soll länger zitiert werden – davon ausgeht, „dass gesamtheitliches Wollen nicht ein für alle Male im voraus hergestellt und für immer gegeben ist, dass Größe, Art und Verteilung der gesamtheitlichen Macht auf verschiedene Träger wechselt, dass die Macht sorgfältig erst zu bilden und immer wieder neu zu gliedern ist, dass die Macht gebenden Kräfte immer wieder neu gesammelt werden müssen, dass nicht für jeden einzelnen Bedürfnisfall durchgreifend ein ins Einzelne durchreichendes positives Recht sich im voraus aufstellen lässt, dass erst im gegebenen Fall die staat-
2.1. Politisches Handeln bei Albert E.F. Schäffle
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lich zweckmäßigste unter mehreren möglichen Anwendungen des Gesamtwillens und der Macht zu finden, rein mechanisch laufende Staatsthätigkeit überhaupt ausgeschlossen ist.“8 „(....) Gar vieles ist flüssig, erst im Werden und nach Zeit wie Umständen zu machen, daher – politisch zu erledigen.“9
Politik wird hier als Verflüssigung, Veränderung oder umkämpfte Bewahrung des Bestehenden verstanden. Die Macht- und Willenskonstellationen sind veränderbar und die Um- und Neugruppierungen sind genuin politische Kämpfe, die als interaktive Auseinandersetzung mit ungewissem Ausgang konzipiert sind. Zeit und Umstände wandeln sich, die Kontexte der Politik variieren und eröffnen Chancen und Möglichkeiten. ‚Politisch erledigen‘ heißt, eine verbindliche Entscheidung zu treffen, die dann das Bewegte festhält und zur verwaltenden Staatstätigkeit werden lässt. Zwar bewegt sich die Politik innerhalb von strengen Gesetzen (den positiven Gesetzen und dem Sittengesetz), aber sie hat „ihren breitesten Boden und ihren reichsten Inhalt auf dem Boden der Fort-, Um- und Rückbildung des Bestehenden. Dafür gilt es, gesamtheitliches Wollen zu erzeugen und die zielführenden Mittel zu gewinnen, statt feststehendes Recht mit schon gegebenen Mitteln nach zeitweilig unveränderten Regeln zur Geltung zu bringen. Der für jede Zeit überaus inhaltsreiche und weite Kreis der Entwickelung des Ganzen im Einzelnen und des Einzelnen im Ganzen aus der Gegenwart heraus in die Zukunft hinein, das Entstehenlassen aus dem Bestehenden heraus, das Wachstum und der Verfall der Volksgemeinschaften sind die an Politik reichsten Gebiete staatlicher Thatsachen.“10
Die hauptsächliche Bedeutung der Politik liegt in der Kontingenzproduktion sowohl bei der Neuformierung von Machtverhältnissen als auch bei konkreten Policy-Entscheidungen. Beides eröffnet neue Möglichkeiten und neue Spielräume. Das Schöpferische, Neue, Flüssige ist als radikaler Gegensatz zur Routine und zur Wiederholung in bürokratischen Handlungsmustern konzipiert und Verflüssigen wird nun zum wesentlichen Merkmal der Politik. Sie ist durch keine Substanz, keine vorgegebenen Zwecke und Ziele, wie etwa die Staatsräson11, gekennzeichnet, sondern durch die Qualität des Neue-Spielräume-Schaffens. Politische Entscheidungen sind dann die Mechanismen, die diese Offenheit für kurze Dauer schließen und stabile Ordnungsmuster kreieren, die aber durch Politik sofort wieder hinterfragt und in Bewegung gesetzt werden können. Das Verhältnis von Öffnen und Schließen ist bei A. E. F. Schäffle asymmetrisch gedacht: Politik verkörpert den Primat des Öffnens, während Entscheiden und das Abschließen der Situation eine unvermeidliche, aber sekundäre Rolle spielt. Auffällig an dem Text sind die verwendeten Begriffe, die das bisherige Repertoire umschreiben.12 A. E. F. Schäffle verwendet an vielen Stellen das Wort „Politik treiben“, das M. Weber später wörtlich und ohne Quellenangabe übernimmt und in „Politik als Beruf“13 eine zentrale Rolle spielen wird. A. E. F. Schäffle hat dies vorweggenommen. Denn Staatsoberhäupter und Minister „treiben Politik“,14 sofern sie neue Machtkonstellationen bewirken wollen; wer nur repetitive
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2. Politik als Möglichkeitserweiterung und Kontingenzsteigerung
Tätigkeiten und Routinen vollzieht, der treibt nicht schon, wenigstens nicht ausschließlich und gänzlich Politik. Dagegen wird die von politischen Parteien betriebene Tätigkeit des Aufbaus und der Konzentration von politischer Macht für bestimmte Entscheidungen und v. a. die politische Agitation „als ein hervorragend ‚politisches Treiben‘ angesehen.“15 Und an anderer Stelle hat er festgehalten, dass Beamte, die eigentlich keine Politiker sind, dennoch „Politik treiben“, wenn sie ihre Vorgesetzten auf Missstände im Volksleben aufmerksam machen.16 Hat M. Weber den Text von A. E. F. Schäffle womöglich doch gekannt, hat er diese Begrifflichkeit wegen ihrer Anschaulichkeit und wegen seines ähnlich gelagerten Denkens einfach übernommen, ohne sich der Quelle bewusst zu sein? Oder hat er sie – was mir offensichtlich erscheint – einfach nicht angegeben?17 Heute würden wir sagen, dass M. Weber ein großer Plagiator war, aber für ihn war ein solches Vorgehen (oder Vergehen?) bei der Prägung seiner nominalistischen Grundbegriffe selbstverständlich. Wie dem auch sei: Politik ist nichts Feststehendes, also keine Substanz, kein vorgegebener Wille, kein feststehendes Gemeinwohl, weder das aristotelische „Gute“ noch eine zweckorientierte Staatsräson, sondern ein Phänomen der Kontingenz, das immer erst hervorzubringen, immer erst zu Ende zu schaffen, immer erst zu entscheiden ist. Aber auch das bereits Feststehende ist der Dynamik des Verflüssigens durch Politik ausgesetzt. Die Akteure der Politik sind nicht – wie man vermuten könnte – die obersten Regierungsorgane, sondern auch die Parteiführer, Volksvertretungen oder auch Einzelne, die in „geselligen Kreisen“18 auftreten und um ihre Positionen kämpfen. Politik als Kampf – das ist nicht erst bei M. Weber eine zentrale Prämisse, sondern bereits bei A. E. F. Schäffle prominent. Zwar tauchen Interessenorganisationen oder zivilgesellschaftliche Akteure nicht explizit auf, aber die ‚alten‘ sozialen Bewegungen, die Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegungen, sind bei ihm durchaus relevante Akteure, die Politik ebenso treiben wie das „politisierende Publikum“.19 Hier findet man bereits eine Dreiteilung in Politik, Verwaltung und Publikum, mit der dann N. Luhmann später in seinen systemtheoretischen Analysen des politischen Systems arbeitet.20 Zudem sieht A. E. F. Schäffle, dass Politik eine Tätigkeit ist, die mit Leidenschaften, Intensitäten und Emotionen operiert. Politik hat eine bestimmte Erlebnisqualität, wenn er z.B. schreibt, dass Wahlen das ganze Volk in „die politische Siedehitze des Wahlkampfes“ versetzen oder „in lichter Lohe die Rivalität“ zwischen politischen Persönlichkeiten entbrennt, seien es Parteiführer oder andere Politiker.21 Politik ist also nie ohne Leidenschaft spielbar und auch nicht denkbzw. analysierbar. Damit ist ein erster Markstein gesetzt: Politik und Verwaltung bzw. mechanische Staatstätigkeit lassen sich deutlich trennen und Politik ist der Teil, der sich zwar in den Institutionen und Regeln streng nach dem positiven oder dem Verfassungsrecht vollzieht, aber gleichwohl erhebliche Spielräume hat und sich auf
2.2. Karl Mannheims Verschärfung
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das Verflüssigen des Alten und Gestalten des Neuen konzentriert. Hierbei eröffnet sich ein weiter Spielraum, in dem das schöpferische, kreative, zukunftsorientierte Handeln sich ausspielen lässt und sich auf die Neuformung und Beherrschung von politischen Machtkonstellationen konzentriert. Das staatliche Leben ist somit zweigeteilt: in rational-bürokratischen Vollzug einerseits und in Politik anderseits, was für damalige Verhältnisse bahnbrechend war. Politik vollzieht sich in und ist begrenzt durch die zentralen Organe des Staates (Regierung, Parlament), aber vollzieht sich auch außerhalb und jenseits staatlicher Institutionen durch das ‚politisierende Publikum‘.22 A. E. F. Schäffle sieht also, dass es eine Politik ‚von unten‘ gibt und die von außerstaatlichen Kräften ausgeht. Politik wird immer mit Leidenschaften gespielt. Sie ist nie allein rationales oder interessiertes Handeln, sondern hat immer eine emotionale, leidenschaftliche und thymotische23 Dimension, die später aus dem Politikbegriff mehr oder weniger herausdefiniert wurde.24
2.2. Karl Mannheims Verschärfung: Rationaler Staat und Politik als „irrationales Spiel“ In Karl Mannheims „Ideologie und Utopie“ findet sich ein Kapitel, das mit „Kann es eine Wissenschaft von der Politik geben?“25 überschrieben ist und von der politischen Theorie bzw. der Politikwissenschaft – ebenso wie A. E. F. Schäffles Schrift – faktisch ignoriert worden ist. Was interessiert den Wissenssoziologen Mannheim an der Wissenschaft von der Politik und was die Politikwissenschaftler nicht? Ihn interessiert das Aufkommen und Verblassen von Problemen und ganzen Disziplinen, von denen die Wissenschaft von der Politik eine ist – oder sein könnte. Er will diese Fragestellung jedoch nicht aus der „Froschperspektive“ von Einzelnen untersuchen, sondern aus dem gesellschaftlichen Kontext heraus. Während die Soziologie und die Ökonomie – wenn auch in den verschiedenen Ländern mit je unterschiedlichen Dynamiken – bereits zu anerkannten Wissenschaften geworden sind, so sieht er das für die Politik nicht, wobei sie jedoch mindestens die gleiche Bedeutung, die gleiche Schicksalhaftigkeit hat wie die beiden anderen Disziplinen. Und er fragt sich, warum gerade „Politik noch nicht zur Wissenschaft geworden ist?“26 Er gibt sich und dem Leser zwei mögliche Antworten: Zum Einen ist sie „noch nicht“ eine Wissenschaft, weil es bisher zu wenig systematische Untersuchungen gibt, die aber im Laufe der Zeit erfolgen und in der Summe eine Wissenschaft von der Politik begründen könnten. Zum Anderen – und das ist die beunruhige Antwort – könnte es sein, dass sich der Gegenstand selbst gegen eine Verwissenschaftlichung sperrt, dass es also eine „Grenze des Wißbaren (gibt), die ein für allemal unüberschreitbar ist?“27
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2. Politik als Möglichkeitserweiterung und Kontingenzsteigerung
Was die Realpolitik angeht, also das Wissen, das ein Politiker für sein praktisches Handeln braucht, so könnte man aus dem unendlichen Wissensstoff die Praktiken herausdestillieren, die den handelnden Personen nützlich sein könnten. Hier stünde man allein vor der Frage, welche Praktiken relevant wären und welche nicht. Man könnte eine solche Auswahl auch aus pädagogisch-didaktischen Gründen treffen und eine Art Curriculum für brauchbare Realkenntnisse entwickeln. Das aber ist nicht das Problem, denn Politik handelt nicht – wie die anderen (Sozial)Wissenschaften – von Gesellschaft und Staat als geschichtlich gewordenen Gegenständen. Vielmehr „zielt politisches Handeln dagegen ab auf Staat und Gesellschaft, sofern diese im Werden begriffen sind. Das politische Handeln geht auf das Schöpferische im Augenblick, um aus den strömenden Kräften Bleibendes zu gestalten. Die Frage ist also die: Gibt es ein Wissen vom Fließenden, Werdenden, ein Wissen von der schöpferischen Tat?“28
An dieser Stelle kommt nun A. E. F. Schäffle ins Spiel. Er unterteilt – so K. Mannheim – das gesellschaftliche und soziale Leben in zwei getrennte Bereiche. Einmal in eine „gesellschaftliche Geschehensreihe“, in der alles sich gleichmäßig vollzieht und das Handeln „gleichsam festgeronnen“ ist, sich also in immer neuen Anläufen mehr oder weniger unverändert wiederholt. Zum Anderen in jenen, in dem alles sich im „Zustand des Werdens“ befindet und Entscheidungen „Neuformierungen“ zu Stande bringen.29 „Jeder gesellschaftliche Prozess ist zerlegbar in festgeronnene Bestandteile, ‚rationalisiertes Gebiet‘, und in einen ‚irrationalen Spielraum‘, von dem die ersteren umschlossen werden. (...) Handeln beginnt erst dort, wo der noch nicht rationalisierte Spielraum anfängt, wo nicht regulierte Situationen zur Entscheidung drängen.“30
Die Bezeichnung des irrationalen Spielraumes ist bei K. Mannheim ein bewusst gewählter Gegenbegriff zur M. Weberschen Rationalität, der sich auf alle Formen rational-bürokratischer Herrschaft und auf alles festgelegte Handeln bezieht. Rational sind all die Bereiche, die bereits durch Recht, strikte Verhaltensnormen und Bürokratie geregelt sind und in denen Menschen nach festgelegten Regeln handeln. Der irrationale Spielraum ist dann der Bereich, indem es keine Regeln gibt, den man gleichwohl durch Entscheidungen schließen muss. Irrational ist aber nicht identisch mit unvernünftig, erratisch, völlig beliebig, verrückt o. Ä., sondern als Gegenbegriff zu „rational“ im Sinne rationaler Herrschaft oder rationalem Handeln. Es muss Situationen geben, in denen und für die noch keine politischen Entscheidungen getroffen wurden und in dem Sinne offene Situationen sind, als in ihnen verschiedenste Möglichkeiten realisiert werden können. Der Begriff des Irrationalen will aber nicht nur solche ungeregelten Situationen markieren, sondern auch auf den Mangel an vernünftigen Gründen für diese oder jene Optionen hinweisen, die dann unvermeidlich dezisionistischen Charakter annehmen.31 Denn im Bereich der Politik stehen sich „politische Wollungen“, also politische Parteien, gegenüber, die bestimmte Weltsichten haben und in der
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freien Konkurrenz um Anteile an politischer Macht kämpfen. „Die Machtkompetenzen im staatlichen wie im zwischen-staatlichen Leben sind im irrationalen Kampfe errungen, wo also die Entscheidungen des Schicksals ausschlaggebend sind.“32 Und eben hier findet Politik statt bzw. wird Politik betrieben. K. Mannheim entwickelt einen weiteren Gedanken, der über A. E. F. Schäffle hinausgeht und für die wissenschaftliche Analyse der Politik zentral ist: Er sieht klar, dass die politischen Parteien bzw. die großen ideologischen Strömungen seiner Zeit (Sozialismus, Konservatismus, Liberalismus, aber auch Faschismus und Bürokratismus) sich mit einem spezifischen Wissen wappnen. Dieses Wissen ist politisches Wissen. Die ideologischen Strömungen sind nicht nur als „Denkstile“ zu betrachten, deren Differenzen „bis in das Gebiet der Logik hineinragen“33 und bereits die Art der Problemstellung sowie mögliche Handlungsoptionen beeinflussen. Die politischen Wollungen kämpfen zugleich um Anteile an Macht, was „fließende, im Werden begriffene, sich stets umformende Strebungen und Entelechien“ ebenso zur Folge hat wie sich wandelnde Kräftekonstellationen, die in „immer unberechenbareren Kombinationen“ auftreten.34 Politisches Wissen35 ist weder reine Betrachtung, evidenzbasiertes oder gar wissenschaftliches Wissen, noch diskursiv ermittelte Wahrheit. Vielmehr entsteht politische Erkenntnis „erst im Handeln und im Sich-Auseinandersetzen mit der Welt“ und „Selbsterkenntnis und Erkenntnis des anderen (sind) unzertrennbar verflochten mit Handeln und Wollen.“36 Erst in politischen Kampfkonstellationen entsteht politisches Wissen, das eben auch Kampfwissen und nicht nur Weltsicht ist. Hier tritt Handlungskontingenz37 auf, die sich aus der Unberechenbarkeit anderer Akteure38 ebenso ergibt wie aus den parteipolitisch bzw. ideologisch festgelegten ‚Denkstilen‘. Manche Denkstile, wie etwa der Sozialismus, setzten auf das überraschende Moment in der geschichtlichen Entwicklung, auf die revolutionäre Situation, in der sich die Leidenschaften der Massen entladen, in der alles möglich erscheint und in der durch Politik völlig Neues geschaffen werden kann. Das „Offensein gegenüber dem günstigen Augenblick“39 ist hier zentral und damit das Schaffen oder Ausnützen von sich zufällig ergebenden Zeitfenstern. Hintergrundkontingenz40 äußert sich in der grundlegenden Umkämpftheit der durch die Denkstile bedingten, unterschiedlichen Wahrnehmungen einer sozialen Situation, in die immer ein ganzer Komplex von ‚Fakten‘, Bedeutungen, Gelegenheiten, Möglichkeiten und Handlungsoptionen eingeht und die daher nie Gegenstand einer ‚objektiven‘ oder sachlichen Problemanalyse sein können. Das alles ist zugespitzter Ausdruck von irrationaler Politik. Im Mittelpunkt des K. Mannheimschen Denkens steht somit auch die Kontingenz des Bestehenden. Das Verflüssigen, das In-Bewegung-Setzen, das Umwerfen der gegebenen Kräftekonstellationen (mit unvorhersehbarem Ausgang), alles das ist nichts weniger als die Einführung von Kontingenz in das Gegebene. Und genau das ist es, was Politik vollzieht. Zugleich wird deutlich, dass politische Ent-
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2. Politik als Möglichkeitserweiterung und Kontingenzsteigerung
scheidungen immer willkürlich sind in dem Sinne, dass politisches Denken und Wahrnehmen immer politisch ist, konkret: dass Weltbetrachtung und die in sie eingehenden Ideologien, Ideen und Interessen stets eine untrennbare Einheit von Betrachtung und potentieller Entscheidung sind, die eben nicht rational und objektivistisch sind, sondern immer ein ‚irrationales‘ und willkürliches Element in sich tragen. Dieses Irrationale ist die unhintergehbare Entscheidungssituation, in der zwar der jeweils spezifische Denkstil einen groben Rahmen von möglichen Optionen gegenüber anderen absteckt, aber innerhalb dieses Rahmens sich Entscheidungen mehr oder weniger dezisionistisch ergeben. Denn Entscheiden heißt sich festlegen in einer Situation, die nicht durch Regeln durchstrukturiert ist, die neue Möglichkeitshorizonte eröffnet und in der es keine abschließenden Gründe gibt. Wie A. E. F. Schäffle, wenn auch deutlicher, sieht K. Mannheim Situationen, in denen „Handeln und Politik notwendig wird.“41 Der Spielraum eröffnet neue und vielfältige Wege, die jedoch um der Ordnung Willen entschieden und zur rationalen Ordnung umgeschmolzen werden müssen. Erneut ist das Verhältnis von Schließen und Öffnen – wie bei A. E. F. Schäffle – asymmetrisch, aber diesmal zugunsten der Ordnungsbildung. Dies ergibt sich auch aus K. Mannheims weiteren Überlegungen, ob es eine Wissenschaft von der Politik geben kann. Es kann sie nicht geben, aber eine Synthese der verschiedenen politischen Denkstile durch „freischwebende“ Intellektuelle, die in der Lage sind, eine rationalere und planbare Politik als zentralen Ordnungsfaktor zu entwickeln. Aber immer bleibt ‚irrationales‘ und grundloses Entscheiden zentrales Merkmal des politischen Handelns.
2.3. Max Webers Frage: Politik in der Massengesellschaft und als Kampf um Möglichkeitshorizonte Kari Palonen – an ihm und seiner Interpretation des Weberschen Werkes orientiere ich mich im Folgenden weitgehend – sieht die kleine Schrift „Politik als Beruf“42 als „ein Fragment zu ‚Politologischen Grundbegriffen‘“.43 Nach M. Webers Grundprämissen des soziologischen Denkens „(bildet) die Soziologie (...) Typen-Begriffe und sucht generelle Regeln des Geschehens. Im Gegensatz zur Geschichte, welche die kausale Analyse und Zurechnung individueller, kulturwichtiger Handlungen, Gebilde, Persönlichkeiten erstrebt.“44
Die Politologie kann man etwa in der Mitte zwischen beiden Positionen verorten – also als die Wissenschaft betrachten, die auch typenbildend arbeitet (hierin besteht ihr Gegensatz zur Geschichtswissenschaft), aber nicht ausschließlich auf „Typen-Begriffe“ und „generelle Regeln des Geschehens“ zielt (hierin besteht ihr
2.3. Max Webers Frage
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Gegensatz zur Soziologie). Aus der Weberschen Sicht müsste man dann davon ausgehen, „dass Politik als Handeln prinzipiell jede Regel brechen und neue Regeln schaffen kann. Die Politologie wäre demgemäß eine Wissenschaft, die darauf ausgerichtet ist, die Eigenart dieser regelbrechenden und -bildenden Tätigkeit ‚deutend zu verstehen‘.“45
Damit tun sich neue Perspektiven auf, unter denen man Politik begreifen und analysieren kann. Während bei A. E. F. Schäffle und K. Mannheim vor allem begrifflich-konzeptionelle Rekonstruktionen des Politikbegriffs im Mittelpunkt standen, konzentriere ich mich bei M. Weber auf die Topoi, mit denen er Politik als Aktivität beschreibt, und auf die Typen von Politikern, die diese Aktivitäten je unterschiedlich betreiben.46 Ich beginne mit Ersterem. Die Topoi bei M. Weber sind vielfältig, lassen sich aber auf drei wesentliche begrenzen. Zunächst sind Verben relevant, mit denen er die Politik als Aktivität beschreibt und die von A. E. F. Schäffle – wie oben angedeutet – zu großen Teilen übernommen sind. Drei Verben sind zentral, nämlich Politik treiben, nach Macht streben und dicke Bretter bohren. Sie alle bezeichnen Sachverhalte, die sich in einer Denkfigur bündeln lassen: Es sind zunächst von konkreten Zwecken unabhängige Tätigkeiten, die ausschließlich in der Veränderung des Status Quo ihren Sinn finden, dem Öffnen von Chancen und neuen Möglichkeiten und der Veränderung der Rahmenbedingungen. Beim Bohren47 ist – analog zum Streben – „die Veränderung das Primäre, das Ziel wird nicht genannt, vielmehr könnte als Resultat des Bohrens nur die Öffnung eines Spielraumes der Machtchancen erreicht werden, der zu unterschiedlichsten Zwecken benutzt werden könnte.“48
Bohren ist eine subversive Metapher, die zunächst nur Löcher und Brüche bringt, aber keine positiven Ziele formuliert. ‚Politik treiben‘49 meint Ähnliches: Es handelt sich um eine Aktivität, bei der das Ziel nie festgelegt sein kann, sondern die mit unsicheren Ergebnissen und Kontexten rechnen muss, aber genau diese Kontexte immer verändert und für neue Chancen öffnet. Und ‚Streben‘ nach Machtanteil „oder nach Beeinflussung der Machtverteilung“50 verweist ebenfalls auf Veränderung, aber muss immer mit dem Widerstand Anderer rechnen, der den Ausgang des Strebens prinzipiell offen hält und unvorhersehbar macht.51 Untrennbar damit verbunden ist die Metapher der Politik als Kampf, die die kleine Schrift durchzieht. Der Kampf bedeutet, „den eigenen Willen gegen einen widerstrebenden anderen unter Orientierung an den Erwartungen des Verhaltens des anderen, durchzusetzen“.52 Der Kampf hat immer mit der „Kontingenz der Alterität“53 zu tun, weil die Anderen immer in ihren Aktivitäten berücksichtigt werden müssen und im Kampf Widerstand entgegensetzen. Der Kampf (mit Anderen) setzt auch die eigene Kontingenz voraus, denn man entwickelt seine eigenen Aktivitäten immer auch in der Erwartung dessen, was diese tun könnten. Die Anderen relativieren die eigene Position, die man an das unsichere, aber dennoch
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2. Politik als Möglichkeitserweiterung und Kontingenzsteigerung
erwartbare Handeln der Anderen anpasst. Der Beamte, der nicht nur bei A. E. F. Schäffle und K. Mannheim, sondern auch bei M. Weber immer als der Gegentypus zum Politiker auftaucht, ist eben kein Politiker, weil „Kampf, Werbung um Bundesgenossen und von freiwilliger Gefolgschaft“ gerade nicht zu seinem Metier gehören. Der Politiker aber ist „Kämpfer“, denn der Kampf um politische Macht ist, wie K. Palonen anmerkt, für M. Weber zentral: „Die relationale und Aktivitätsdimension des Kampfes stecken den Horizont für die Eigenständigkeit der Politik als Handeln ab, sie machen sie sogar zum Paradigma eines Handelns, in dem der Kampf anwesend ist. (...) Die spezifisch politische Form des Kampfes kann somit als ein Komplex von intentionellem Streben und Widerstreben und deren wechselseitigen Nebenfolgen gedeutet werden. Die Interpretation dieser Nebenfolgen gehört aber schon zum Gegenstand des Kampfes. (...) Die besondere Nebenfolgenkontingenz des Kampfes wird durch die beiderseitige Unkontrollierbarkeit der Folgen des eigenen Handelns qualitativ noch gesteigert.“54
Politiker sind aber nicht nur Kämpfer, sondern sie kämpfen um etwas ganz bestimmes: um Anteile an politischer Macht. Hierbei umfasst der Machtbegriff bei M. Weber zwei Dimensionen: „Macht entweder als Mittel im Dienst anderer Ziele – idealer oder egoistischer – oder Macht ‚um ihrer selbst willen‘, um das Prestigegefühl, das sie gibt, zu genießen.“55 Beim Kampf um Macht geht es nicht um den Kampf der Machtlosen gegen die Machtvollen, sondern und vor allem um verschiedene Anteile an Macht bei den bereits über Macht Verfügenden.56 Eine bestehende Machtkonstellation zu verändern – das ist das zentrale Moment der Politik, das In-Bewegung-Bringen solcher Konstellationen und insofern eine rein formale Bestimmung. Denn es geht „bei der Macht nur um Mögliches, nicht aber um die Verwirklichung eines Zieles, Plans oder Projekts. In diesem Sinne kann die formale Zielsetzung der Politik als Streben nach neuen Möglichkeiten für das eigene Handeln gedeutet werden. Der Formalismus Webers liegt darin, dass Politik – anstatt als ‚Verwirklichung‘ gewisser substantieller Ziele – als Streben nach neuen Chancen für das eigene Handeln bestimmt wird, wobei deren Inhalt im Voraus nicht festgelegt werden kann. Man könnte von einer ‚Politik-als-Chancenschaffung‘ sprechen.“57
Macht ist somit eine Figur bzw. ein Topos, der sich auf einen Spielraum bezieht, konkreter: auf das Öffnen von Spielräumen und weniger auf eine faktische Konstellation. Der Kampf um Anteile an politischer Macht ist dann nicht primär Mittel für einen vorgegebenen politischen Zweck (die Realisierung eines Programms oder einer Policy), sondern vor allem und zunächst der Kampf um die (unbestimmte) Öffnung von Spielräumen. Dieser ergibt sich daraus, dass die Anderen Andere sind und im Prinzip das Gleiche wollen. Der Versuch, politisch etwas zu realisieren, also eine verbindliche Entscheidung über einen kontingenten Sachverhalt herbeizuführen, setzt den Kampf um die Möglichkeiten, um neue Chancen voraus, weil nur bei einem erfolgreichen Öffnen des Spielraums eine be-
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stimmte Policy realisiert werden kann. Aber dieses Machtspiel gehorcht anderen Logiken als die Realisation eines bestimmten Programms oder einer Policy.58 Nach den Topoi der Politik komme ich nun zu den Typen der Politik bzw. der Politik Treibenden. Sie sind bei M. Weber ausgesprochen vielfältig und auch hier kommt seine Kontingenzorientierung zum Tragen. Der erste und wichtigste Typus ist der selbständig Leitende. Politik – so M. Weber gleich zu Beginn seiner Abhandlung – ist „jede Art selbständig leitender Tätigkeit“59 oder die „planvolle Behandlung und Führung einer bestimmten Angelegenheit.“60 Politik ist entgegen der Tätigkeit von Beamten, „die Leitung oder die Beeinflussung der Leitung eines politischen Verbandes, heute also: eines Staates.“61 Politik zielt in diesem Sinne auf die Machtanteile, die man zur Leitung des Staates erkämpfen muss. Leitung heißt, Entscheidungen darüber zu treffen, was der politische Verband bzw. der Staat verwaltungs- und beamtenmäßig zu erledigen hat. Aber die Leitung selbst erfordert einen ganz anderen Geist als den der Ausführung von Entscheidungen. Leiten und Entscheiden sind eng verkoppelt, haben mit hoher Unsicherheit zu tun und sind Möglichkeiten erweiternde und ausnutzende Tätigkeiten, die zudem verantwortet werden müssen, während ausführen und verwalten unpolitisch sind. Neben den leitenden tritt dann der Gelegenheitspolitiker. Das sind wir alle, „wenn wir den Wahlzettel abgeben oder eine ähnliche Willensäußerung: wie etwa Beifall oder Protest in einer ‚politischen‘ Versammlung vollziehen, eine ‚politische‘ Rede halten usw. – und bei vielen Menschen beschränkt sich ihre ganze Beziehung zur Politik darauf.“62 Erneut sind die Parallelen zu A. E. F. Schäffle sichtbar, der vom politischen Publikum spricht, womit beide letztlich den politischen Staatsbürgerstatus meinen, sofern er durch politische Handlungen welcher Art auch immer aktiviert wird. Gelegenheit kann gelegentlich ebenso meinen wie eine Gelegenheit im Sinne einer Chance, einer Möglichkeit.63 Ihm zur Seite tritt der nebenberufliche Politiker, dessen Aktivitäten intensiver sind und alle die Personen umfasst, die bestimmte Tätigkeiten im Bedarfsfalle ausüben (Vertrauensmänner, Vorstände von politischen Vereinen und Parteien, herausgehobene Mitgliedspositionen u. Ä.), aber aus der Politik nicht ‚ihr Leben machen‘.64 Der hauptberufliche Politiker ist der Typus, dem Weber die meiste Aufmerksamkeit widmet und dem er in der politischen Gesellschaft eine herausgehobene Rolle zuschreibt. Er unterscheidet zwei Typen: Den für die Politik und den von der Politik lebenden. Ersterer macht im innerlichen Sinne sein Leben daraus, indem er den nackten Besitz der Macht genießt, oder „er speist sein inneres Gleichgewicht und Selbstgefühl aus dem Bewusstsein, durch Dienst an einer ‚Sache‘ seinem Leben einen Sinn zu verleihen.“65 Dieser Sinn ist jedem ernsthaften politischen Menschen inne, während der von der Politik lebende in ihr vor allem eine dauerhafte Einnahmequelle zu machen versucht. Dieses Von-der-Politik-Leben ist bedeutsam, weil der Berufspolitiker durch permanente Wahlen und der damit
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verbundenen Unsicherheit seiner Einkommensquelle immer bedroht ist. Das Bestreben der von der Politik Lebenden geht deshalb immer dahin, diese Unsicherheit der Politik-als-Beruf zu reduzieren und sie durch andere Positionen im Staat oder in den Parteien dauerhaft abzusichern.66 Vom Beamten oder Verwaltungsmenschen unterscheidet sich der von der Politik Lebende eben durch die permanente Unsicherheit seiner beruflichen Position in der Demokratie. Die Folge ist Patronage: „(…) heute sind es Ämter aller Art in Parteien, Zeitungen, Genossenschaften, Krankenkassen, Gemeinden und Staaten, welche von den Parteienführern für treue Dienste vergeben werden. Alle Parteikämpfe sind nicht nur Kämpfe um sachliche Ziele, sondern vor allem auch: um Ämterpatronage.“67
Unter historischer und vergleichender Perspektive unterscheidet M. Weber dann noch verschiedene Untertypen des Berufspolitikers, von denen ich nur die wichtigsten erwähnen will. Das ist zum Einen der Boss, der an der Spitze einer Parteimaschinerie steht und vor allem in den USA zu beobachten ist. Bedingt durch Beobachtungen auf seiner USA-Reise ist dieser Typus für ihn prägnant geworden. Dann der Demagoge, der sowohl in der Antike, besonders aber heute wegen der an Bedeutung gewinnenden Massenmedien bedeutsam geworden ist. Der Demagoge ist seiner Ansicht nach „seit dem Verfassungsstaat und vollends seit der Demokratie der Typus des führenden Politikers im Okzident. Der unangenehme Beigeschmack des Wortes darf nicht vergessen lassen, dass nicht Kreon, sondern Perikles der erste war, der diesen Namen trug.“68
Perikles leitete die Ekklesia des Demos von Athen und beeinflusste deren Dynamiken nach seinen Vorstellungen. Demagogie und Demokratie werden hier als unvermeidliche Zwillinge betrachtet, weil die führenden Politiker sich immer der Rede und des gedruckten Wortes bedienen müssen, um die Massen zu beeinflussen und eine gegebene Machtkonstellation ins Wanken zu bringen. Der Boss ist erneut der zugespitzte Ausdruck dieses Typus, der „keine festen Prinzipien (hat), er ist vollkommen gesinnungslos und fragt nur: Was fängt Stimmen?“69 Dieses Verhalten wird heute als „vote-seeking“ oder Stimmenmaximierung bezeichnet, wobei sich die Berufspolitiker oft „vollkommen gesinnungslos“ an den Stimmungen des Elektorats orientieren und keine Policies geschweige denn ‚Lösungen‘ für gesellschaftliche Problemen realisieren. Vielmehr entwickeln sie Policies, um Stimmen zu maximieren.70 M. Weber hat – um zusammenzufassen – einen neuen Horizont im Politikbegriff geöffnet. Er unterteilt den Begriff der politics, der das politische Handeln als konflikt- und konsensorientiertes Handeln bezeichnet, in zwei neue Unterdimensionen bzw. Handlungstypen:71 Politisierung (oder politicization) verweist auf die Öffnung oder Markierung eines Sachverhaltes, der nun ‚politisch‘ werden soll. Politisierung wäre dann die Tätigkeit, die einen bisher noch nicht bespielten Ge-
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genstand bespielbar machen will oder einen bereits bespielten, der aber im Moment nicht bespielt wird, erneut bespielbar zu machen trachtet. Politicking wäre dann derjenige Handlungstypus, der sich in dem zuvor bespielbar gemachten Raum vollzieht. Hier wäre zwar auch der Kampf um Machtanteile anzusiedeln, aber vor allem das politische Spiel, das um seiner selbst willen gespielt wird: als reine Performanz, als in der Gegenwart sich abspielendes „Theater“, das durch die Brillanz oder den Dilettantismus seiner Spieler und ihres Spiels das politische Publikum oder auch andere politische Spieler beeindrucken und in Anteile an politischer Macht übersetzen will. Hier kommt insbesondere der Spielcharakter der Politik zum Tragen. All die Metaphern, die dies andeuten (Theater, Dramatik, Symbolik, Schauspielern etc.), sind durchaus angebracht und bezeichnen einen wichtigen Handlungstypus. Der gesinnungslose Boss ist der Prototyp dieses Spielers, der beliebig agiert und ein professioneller Opportunist sein muss. Aber auch der Demagoge ist ein solcher Spieler: Er manipuliert die Massen, spielt mit ihren Leidenschaften, Emotionen und politischen Regungen und macht sie für seine Spiele nutzbar. Alles ist ein Spiel mit Kontingenzen, das der Bürokratisierung trotzt und ihr entgegensteht. Aber diese Denkfiguren kennen wir seit A. E. F. Schäffle.
2.4. Politik als Spiel und Möglichkeitsbeschaffung: Über Rationalität und Irrationalität der Politik Das Schäfflesche Moment, das dürfte in den vorangegangenen Ausführungen deutlich geworden sein, ist der erste Baustein in einem um die Jahrhundertwende entstehenden Gewebe von Neudefinitionen der Politik, in dem die drei erwähnten Autoren eine zentrale Rolle gespielt haben. A. E. F. Schäffle hat den Anfang gewagt und festgehalten, dass das Wesen der Politik in erster Linie nicht die Realisation vorgegebener und überzeitlicher Inhalte oder Substanzen ist, sondern etwas ganz Anderes. Politik ist vor allem und wesentlich die Aktivität des Verflüssigens, des Veränderns oder des umkämpften Bewahrens des Bestehenden, die zugleich in verbindlichen, aber gleichwohl kontigenten Entscheidungen ihren Niederschlag findet. Die für die Politik reichsten Gebiete sind Entwicklungen des Einzelnen und des Ganzen „in die Zukunft hinein, das neu Entstehenlassen aus dem Bestehenden heraus.“72 Politik realisiert keine vorgegebenen Zwecke, wie etwa damals prominente Vorstellungen einer Staatsräson, sondern Verflüssigt das Bestehende und schafft Neues, wobei A. E. F. Schäffle strikt alle inhaltlichen Vorgaben oder Andeutungen vermeidet. Für K. Mannheim und M. Weber waren das unhintergehbare Vorgaben, an denen sie sich zum Teil wörtlich, wie etwa M. Weber, orientierten und für die Entwicklung ihrer eigene Politikbegriffe genutzt haben. Es entstand ein bisher nicht dagewesenes Geflecht von Begriffen, Katego-
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2. Politik als Möglichkeitserweiterung und Kontingenzsteigerung
rien, Ideen und Bezeichnungen, die dem Politikbegriff seine neuen Konturen gaben. Jeder dieser drei Texte formulierte einen eigens akzentuierten Politikbegriff und betont bestimmte und neue Aspekte, die die anderen Autoren nicht gesehen haben. Aus dem ‚Gewebe‘ dieser Diskussionen ergab sich dann ein umfassendes, weitgehend konsistentes und neues Bild der Vorstellungen von Politik. Im Zentrum aller drei Politikbegriffe steht die Dialektik von Öffnen und Schließen, also den Aktivitäten, die Kontingenz in eine gegebene soziale und gesellschaftliche Situation einführen und dann durch eine verbindliche Entscheidung festhalten. Öffnen meint das Verflüssigen des Status Quo und Schließen die Entscheidung für einen neuen Status Quo, der jedoch immer und erneut kontingent ist. Allerdings wird die Dialektik des Öffnens und Schließens jeweils unterschiedlich gewichtet. Bei A. E. F. Schäffle dominiert das Öffnen gegenüber dem Schließen, während bei K. Mannheim, vermutlich bedingt durch seine Erfahrungen und Beobachtungen in der Weimarer Republik, das Schließen gegenüber dem Öffnen dominiert. Für ihn hatte die Stabilität des Gegebenen einen wichtigen Stellenwert und er wusste, mit welcher Energie und v. a. auch mit welcher Gewalt manche politischen Strömungen gegen den Status Quo und gegen die politischen Gegner ankämpften. K. Mannheims Fortschritt gegenüber A. E. F. Schäffle bestand vor allem darin, dass er die politischen Formationen der damaligen Zeit an Hand ihrer ideologischen Grunddispositionen nicht nur beschrieb, sondern auch das darin begründete Konfliktpotential deutlich erkannte. Dass politische Konflikte im Zweifelsfall auch mit Gewalt ausgetragen würden, schien für ihn selbstverständlich gewesen zu sein. Immerhin hatte er seine Bemerkungen zur Politik Ende der 20er Jahre in der Weimarer Republik formuliert und die damaligen Klassen- und andere politische Kämpfe sehr genau beobachtet.73 M. Weber hat dem einen neuen Aspekt hinzugefügt, der bei den beiden anderen Autoren noch nicht aufgetaucht war: Politik treiben als reiner Selbstzweck, als Spiel, das nur um seiner selbst Willen gespielt wird und weder intentional auf das Öffnen oder Schließen des Gegebenen noch auf die zielgerichtete Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse orientiert ist. Politik wird von ihm deshalb auch als reine Performanz, als sich in der Gegenwart abspielendes politisches ‚Theater‘ betrachtet, das durch seine Brillianz oder seinen Dilletantismus das Publikum bzw. den politischen Gegner beeindrucken will. Zwar kann Politik etwas bisher nicht Politisiertes politisieren und somit auf die Tagesordnung der Politik setzten und bis zu einer verbindlichen Entscheidung treiben. Das haben auch die anderen zwei erwähnten Theoretiker gesehen. Aber M. Weber fügt dem eine neue Dimension zu, indem er das rein zweckfreie Spiel der Politik mit sich selbst sieht und analytisch in den Politikbegriff aufnimmt. Alle drei Theoretiker haben Türen geöffnet, durch die man nun die Politik anders beobachten und analysieren kann als bisher. Leider sind viele der von ihnen entwickelten und neu eingeführten Kategorien, Begriffe und topoi von der Poli-
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2.4. Politik als Spiel und Möglichkeitsbeschaffung
tik- und Sozialwissenschaft nicht weiter verfolgt oder vertieft, sondern im Lauf des Jahrhunderts schlicht vergessen worden. Vor allem am Ende des Jahrhunderts dominierten Begrifflichkeiten, die Politik vorwiegend oder gar exklusiv als rationales Problemlösen konzipieren. Damit wurde deren Spannbreite massiv eingeschränkt und auf einen Aspekt festgelegt, der in der Realität immer weniger zum Vorschein kam und trotz deutlicher empirischer Widersprüche als faktisches Phänomen unterstellt wurde. Anmerkungen 1 Llanque 2008. 2 Palonen 1985; ders. 1989; ders. 1998; ders. 2003. 3 Schäffle 1897. 4 Kari Palonen hat Schäffle in seiner Schrift über den Horizontwandel des Politikbegriffs in Deutschland erwähnt; vgl. Palonen 1985: 116f. Auch der frühe Niklas Luhmann beschäftigt sich mit ihm in seiner politischen Soziologie; vgl. Luhmann 2010: bes. 43-45, 157. 5 Schäffle 1897: 589. 6 Ebd. 7 Ebd. 8 Ebd. 9 Schäffle 1897: 592. 10 Schäffle 1897: 593. 11 Zum Begriff der Staatsräson vgl. statt vieler Meineke 1929; Münkler 1987. 12 Vgl. Palonen 1998; ders. 2001. 13 Weber 1992 (1919). 14 Schäffle 1897: 583. 15 Ebd. 16 Schäffle 1897: 584. 17 Kari Palonen vermutet, dass Weber den Text kannte, aber – wie auch in seinen anderen Schriften – bei seinen nominalistischen Begriffsbildungen keinen Bezug auf die Ausführungen anderer Autoren nahm; vgl. dazu Palonen 2001: 26. 18 Schäffle 1897: 591. 19 Schäffle 1897: 592. 20 Luhmann 1968; ders. 1981; ders. 2000a; ders. 2010. 21 Schäffle 1897: 592. 22 Ebd. 23 Diese Dimensionen betonen insbesondere Fukuyama 1992 und Sloterdijk 2006. 24 Die emotionale und leidenschaftliche Dimension der Politik ist in der Politikwissenschaft kaum systematisch thematisiert und wenn, dann außerordentlich skeptisch betrachtet und als weitgehend irrelevant abgetan worden. Dies wird etwa in dem Sammelband von Klein/Nullmeier 1999 deutlich, in dem fast
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nur ich die Bedeutung von Emotionen betone und am Beispiel des Jugoslawienkrieges analysiert habe; vgl. Rüb 1999. Grundsätzlich aber auch Brunner (Hg.) 2010; Walzer 1999; Holmes 1995. Mannheim 1952 (1929). Mannheim 1952: 96. Ebd. Mannheim 1952 (1929): 97; Herv. i. O. Mannheim 1952 (1929): 98. Mannheim 1952 (1929): 99f. Palonen 1985: 118. Mannheim 1952 (1929): 100. Mannheim 1952 (1929): 101. Ebd. dazu Kettler et. al. 1989. Mannheim 1952 (1929): 148. Zu diesem Begriff und seinen Konnotationen vgl. Rüb 2012: bes. 125-128. Dieser Sachverhalt wurde später in der Systemtheorie als doppelte Kontingenz ausformuliert. Vgl. dazu Parsons 1951: 16; Luhmann 1987: 148-191. Mannheim 1952 (1929): 115. Zu diesem Begriff und seinen Konnotationen vgl. Rüb 2012: bes. 122-125. Er bezeichnet im Grunde das, was Kari Palonen in Anlehnung an Machiavelli „fortuna-Kontingenz“ genannt hat; Palonen 1998: 333-337. Mannheim 1952 (1929): 100. Weber 1992 (1919). Palonen 2002: 9. Ebd. Palonen 2002: 8. Meinen Überlegungen liegen v. a. die Analysen von Kari Palonen zu Grunde, der die Weberschen Schriften, v.a. aber „Politik als Beruf“, in verschiedenen Anläufen ausgedeutet hat. Vgl. Palonen 1998; ders. 2001 und besonders ders. 2002. Weber 1992 (1919): 82. Palonen 2002: 128. Weber 1992 (1919): 7; 14. Ebd.: 7. Palonen 1998: 158.
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2. Politik als Möglichkeitserweiterung und Kontingenzsteigerung
52 Weber 1985: 463, zit. nach Palonen 1998: 163. 53 Palonen 1998: 161; 163. 54 Palonen 1998: 167. 55 Weber 1992 (1919): 7. 56 Palonen 2002: 49. 57 Palonen 2002: 39. 58 So Weber 1992: 51. 59 Weber 1992 (1919): 5. 60 Weber 1980: 30. 61 Weber 1992 (1919): 5. 62 Weber 1992 (1919): 14. 63 Palonen 2002: 49. 64 Weber 1992 (1919): 14. 65 Weber 1992 (1919): 16; Herv. i. O. 66 Vgl. dazu ausführlich und sehr interessant Borchert 2003.
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Weber 1992 (1919): 20. Weber 1992 (1919): 33. Weber 1992 (1919): 54. Das ist im Übrigen die zentrale Prämisse der ökonomischen Theorie der Politik, die sich gleichwohl auf diese dürre, nutzenmaximierende Aktivität zurückzieht und die Vielfältigkeiten des politischen Handelns komplett ausblendet; vgl. prototypisch Downs 1968. 71 Palonen 1993. 72 Schäffle 1897: 539. 73 Zu den besonderen biografischen Aspekten des Mannheimschen Lebens im Vergleich zu mehreren seiner Zeitgenossen in der Zwischenkriegszeit die sehr anschauliche und sehr lesenswerte Biographie von Reinhard Blomert; vgl. Blomert 1999.
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3. Die Politik der Verfassunggebung. Der lange Abschied von der souveränen verfassunggebenden Gewalt des Volkes: Von der Oktoberrevolution zu den Runden Tischen in den osteuropäischen Transformationen „Unsere große und heilige Verfassung, durchlauchtigst und unverletzlich, dehnt ihre wohltätige Macht über unser Land aus, über seine Seen, Flüsse und Wälder, über jeder Mutter Sohn unter uns, wie der ausgestreckte Arm Gottes selbst. (…) O Du wunderbare Verfassung! Zauberpergament! Du Wort der Verwandlung! Schöpfer, Mahner, Hüter der Menschheit!“1
Dieser Lobgesang auf die amerikanische Verfassung, ‚gesungen‘ von einem renommierten Vertreter der New Yorker Anwaltschaft im Jahr 1913, erscheint uns heute nicht nur exaltiert, sondern fast peinlich. Aber er drückt durchaus eine bestimmte Stimmung aus, in der die (über)große Wertschätzung gegenüber dieser Verfassung zum Ausdruck kommt. Die Verfassung formt aus einer Gruppe von Menschen eine politische Körperschaft, die sich bestimmte Rechte und Pflichten zugesteht und Verfahren kreiert, mittels derer sie sich zu entscheiden und deshalb politisch zu verhalten vermag. Diese kreative Funktion der Verfassung ist zentral, denn erst sie konstituiert eine handlungsfähige politische Gesellschaft, also eine Gesellschaft, in der prinzipiell alles politisch entschieden werden kann.2 Die Trennung von Staat und Gesellschaft markiert zwar noch eine institutionelle Differenz, aber eine ‚politiklose‘ Gesellschaft, eine von politischen Regulierungen nicht massiv durchdrungene Gesellschaft ist im 20. Jahrhundert nicht mehr denk- und auch faktisch nicht mehr vorfindbar. Die Verfassungen von politischen Gesellschaften regeln genau die Prozesse und Dynamiken der Politisierung und Entpolitisierung dieser Gesellschaften. Aber wie entstehen solche Verfassungen? Welche Akteure sind mit welchen Rechten und Pflichten am Prozess der Verfassunggebung beteiligt? Wie hängen diese mit ihrem Ergebnis, einer konkreten Struktur einer Verfassung, zusammen? Jede Verfassung ist (in der Regel) ein geschriebener Text, der von einem Autor, konkret der verfassunggebenden Gewalt des Volkes, hervorgebracht wird. Das souveräne Volk ist kein Autor im traditionellen Sinne, sondern ein inhomogener, konfligierender und pluralistischer Wille, der seine Stimme erhebt, sich in heftigem Streit auf einen Text einigt und schließlich eine Verfassung hervorbringt. Dieser Text bezieht sich fast immer auf Kon-Texte, konkret auf andere Verfassungstexte, mit denen sich die Verfassungsgeber mehr oder weniger intensiv auseinandergesetzt haben. Zugleich entsteht jede Verfassung in einem bestimmten politisch-historischen Kontext, der herausragend, meist krisenhaft ist und in dem
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3. Die Politik der Verfassunggebung
bestimmte politische Kräfte eine neue Gesellschaft mittels einer neuen Verfassung kreieren wollen. Revolutionen, Putsche, Transformationen, tiefgreifende Krisen, neue Machtkonstellationen u. ä. sind hierfür prototypisch. Die Entstehung von Verfassungen ist ein genuin politischer Prozess, in dem es um viel, ja um sehr viel geht. Die beteiligten Akteure kämpfen hierbei nicht nur um privilegierte Zugänge zum Prozess der Verfassunggebung, sondern auch um inhaltliche Positionen, die sie in der Verfassung fixiert sehen wollen. Das Ergebnis dieser Politik – eine (meist) geschriebene Verfassung – ist für die Politik selbst von größter Bedeutung. Die Verfassung regelt die Art und Weise, in der die politische Macht hervorgebracht wird, wie sie geteilt und kontrolliert wird, wie sie sich legitimiert und wie sie sich in verbindlichen Entscheidungen entäußert. Sie legt parallel dazu einen Katalog von Rechten und Pflichten fest, auf den sich die Mitglieder der politischen Gesellschaft berufen können. Zunächst kommt der geschriebenen Verfassung als rechtlicher Form ein besonderer Rang unter allen Rechtsquellen zu. Sie liegt allen konkreten, von einer gesetzgebenden Versammlung entschiedenen Gesetzen voraus und strahlt in alle Rechtsbereiche einer Gesellschaft hinein. Ihre Qualität und Legitimität ergibt sich nicht durch das schlichte Faktum ihrer Entstehung, sondern leitet sich von einer ihr „vorausliegenden Größe“3 ab, der verfassunggebenden Gewalt. Sie fragt nach dem Ursprung und dem Geltungsgrund der Verfassung. Die die Verfassung hervorbringende und legitimierende Kraft muss sich zumindest als „politische Größe“ darstellen.4 Aber sie ist keine von der Verfassung selbst regulierte oder hervorgebrachte Größe, sondern sie liegt – mehr oder weniger unreguliert – der Verfassung voraus. Die verfassunggebende Gewalt des Volkes ist eine ‚originäre und ungebundene politische Entscheidungsgewalt der Nation‘ und mit dem Nationenbegriff – ein vom Abbè Sieyès im Kontext der Französischen Revolution eingeführter Begriff – ist eine neue Konnotation verbunden. Ihr oder dem Volk soll – entgegen der Idee der Monarchie und der von Gott gegebenen Ordnung – die volle Entscheidungsgewalt über die Verfassung zukommen. Das Volk oder die Nation ist „Urgrund und Quelle, das Formlos-Formende der politisch-rechtlichen Ordnung.“5 Als Subjekt der verfassunggebenden Gewalt kommt nur noch das Volk in Frage, aber das Volk „im politischen Sinn oder die Nation, d. h. die (politisch sich zusammenfassende und abgrenzende) Gruppe von Menschen, die sich ihrer selbst als politische Größe bewusst ist und als solche handelnd in die Geschichte eintritt. Dieses politische Volk kann, muss aber nicht zugleich, Volk im natürlichen Sinne sein. Die Schweiz ist dafür ein Gegenbeispiel.“6 Was immer ‚natürliches Volk‘ heißen mag, sei dahingestellt, aber es meint bei Ernst-Wolfgang Böckenförde wohl das sich durch Abstammung konstituierende Volk, das dann als ‚natürliches‘ oder auch ethnisch begründetes Volk gedacht wird.
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Die verfassunggebende Gewalt kann aber auch als eine spezifische Gruppe in einem Volk gedacht werden, die für sich beansprucht, das Volk zu repräsentieren. Diese Gruppe beansprucht dann, für das (gesamte) Volk zu sprechen und in seinem Auftrag eine Verfassung zu geben. Im Selbstverständnis des Marxismus kommt beispielsweise dem Proletariat diese Rolle zu. Es verkörpert den tatsächlichen und wahren Willen des Volkes, ja sogar der gesamten Menschheit, und agiert als dessen wahrhafter Repräsentant. In der kommunistischen oder revolutionären Partei findet dieser Wille des Volkes seinen organisatorischen Ausdruck. In den Verfahren demokratischer Verfassunggebung wird das Volk durch seine politischen Vertreter, meist die der politischen Parteien, repräsentiert, die in einer frei gewählten verfassunggebenden Versammlung durch Argumentieren und Verhandeln sich eine Verfassung geben. Sie ist ein Kompromiss unterschiedlicher Vorstellungen, der in einem konsistenten Dokument seinen Niederschlag findet und normative Geltung beansprucht. Die verfassunggebende Gewalt ist eine inhomogene politische Größe, die jedoch von dem einheitlichen Willen geeint ist, sich eine Verfassung zu geben. Dieser Wille eilt der Verfassung zeitlich und sachlich voraus und kreiert sie. Die Politik der Verfassunggebung sieht sich somit mit einem Paradox konfrontiert: Als souveräne verfassunggebende Gewalt ist sie an keine vorgegebenen oder ihr vorausgehenden konstitutionellen Normen gebunden, sondern kann sich im Prinzip für alles entscheiden. Zugleich legt eine Verfassung die Regeln des politischen Kampfes um Anteile an politischer Macht ebenso fest wie die Mechanismen der Ausübung von politischer Macht. Eine Verfassung ‚übersetzt‘ das Ungeregelte, Leidenschaftliche, Willkürliche und Konfrontative des Politischen in regelgeleitete Politik. Die „unberechenbaren Aktionen politischer Kräfte“, die „Unwägbarkeiten des Politischen“7 werden durch die Verfassung in erwartbare, geregelte, institutionalisierte und dauerhafte Verfahren und Positionen übersetzt, die für die politischen Akteure bindend sind. Die Politik der Verfassunggebung unterscheidet sich fundamental von der ‚alltäglichen‘ Politik. Letztere entscheidet über eine Vielzahl einzelner Sachverhalte zur Gestaltung der Gesellschaft, von der Wirtschafts-, Kultur bis zur Sozial- und Familienpolitik, während erstere über die grundlegenden Verfahren, Mechanismen und Grenzen der Ausübung von politischer Macht bestimmt. Verfassungen regulieren also den Bewegungsspielraum der Politik durch Begrenzungen und Entgrenzungen der politischen Macht. Während die Idee der Begrenzung für Demokratien typisch ist, ist es die der Entgrenzung für Diktaturen. Beide Politiken der Verfassunggebung und die durch sie entstandenen Verfassungen markierten den Anfang dieses Jahrhunderts: Das Grundgesetz der „Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik“ vom 10. Juli 1918 als Prototypus der entgrenzenden Verfassung und die Verfassung der Weimarer Republik als begrenzende und demokratische Verfassung. Sie wurde am 31. Juli 1919 in Weimar be-
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schlossen, am 14. August 1919 verkündet und stellte die erste demokratische Verfassung Deutschlands dar, konkret des Deutschen Reichs. Beide Verfassungen waren das Resultat oft erbitterter Konflikte und Kämpfe, die für den Prozess der Verfassunggebung typisch sind. Aber welche Regeln und Verfahren gelten für diesen Prozess? Kann man die verfassunggebende Gewalt des Volkes regeln und in institutionelle Rahmen gießen? Kann man sie auf irgendeine Art bändigen, regulieren oder zähmen? Eigentlich nicht, denn diese Gewalt kann Verfassungen gründen, an ihnen festhalten und sie legitimieren, aber ebenso gut auch zerstören. Immer ist dieser Grenzbegriff des Verfassungsrechts mit der Politik verwoben und kann nicht von ihr getrennt werden. Die Politik der Verfassunggebung ist vielfältig und je nach historischer Situation und politischer Konstellation sehr verschieden. Um diese Verschiedenheit im 20. Jahrhundert systematisch und vergleichend diskutieren zu können, konzentriere ich mich auf folgende Punkte:8 •
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In welcher politischen und wirtschaftlichen Situation findet die Verfassunggebung statt und wie reagiert sie darauf? Welche Rolle spielen hierbei politische, eventuell auch externe Kräfte? Wie war das Kräfteverhältnis der politischen Akteure ausgeprägt, wer hat wie die Institutionen – meist, aber nicht immer, die verfassunggebenden Versammlungen – geschaffen, in der die Verfassung diskutiert, formuliert und verabschiedet wurde und an welchem Ort fand dies statt? Welche Gründe, Interessen oder Leidenschaften nehmen wie auf die Gestalt der Verfassung und in welchem Ausmaß Einfluss? Wie wird die Verfassung ratifiziert und – genereller – welche Legitimität besitzt sie? Was ist für die Substanz der Verfassung prägend? Hierbei konzentriere ich mich auf die Grundfreiheiten und -pflichten, die Struktur des Regierungssystems, hierbei vor allem auf die Rolle des Parlaments und des Staatspräsidenten, und den Modus der Verfassungsänderung. Andere Sonderheiten werden selbstredend betont.
Der Prozess der Verfassunggebung und die an ihm beteiligten politischen Kräfte haben weitreichende Auswirkungen auf die Struktur und Substanz der neuen Verfassung. Man könnte vermuten, dass je demokratischer dieser Prozess organisiert und je bedeutender die demokratischen Kräfte sind, desto größer die Wahrscheinlichkeit der Entstehung einer demokratischen Verfassung. Umgekehrt gilt: Eine einseitig von den Machthabern formulierte und womöglich diktierte Verfassung, die nur noch zur Abstimmung vorgelegt wird, wird eher einen geringen demokratischen Gehalt aufweisen. Eine Analyse der Politiken der Verfassunggebung wird auf diese Fragen Antwort geben können.
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Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren zwei Prozesse der Verfassunggebung zentral, die zudem sehr unterschiedliche Verfassungen hervorbrachten. Ich werde zunächst die Entstehungsdynamiken und die Substanz der russischen und der Weimarer Verfassung skizzieren, wobei die Verfassung der Russischen Sowjetischen Föderativen Sowjetrepublik weltgeschichtlich die erste sozialistische Verfassung war. Sie formulierte für die sozialistische Entwicklung weitreichende Vorgaben, die jedoch im Verlauf des Jahrhunderts zum Teil erheblich verändert wurden, wie etwa durch die stalinistische Verfassung von 1938. Die demokratische Verfassung der Weimarer Republik entstand in etwa zeitgleich in einem dramatischen Abwehrkampf gegen sozialistische Bestrebungen in Deutschland nach dem Ende des Ersten Weltkrieges (Kap. 3.1.). Das Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933 kann als die ‚Verfassung‘ der nationalsozialistischen Terrorherrschaft betrachtet werden und darf hier nicht fehlen (Kap. 3.2.). Nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Sieg der Alliierten über den Faschismus hatten wir es in Deutschland mit zwei ‚diktierten‘ Verfassungen zu tun, dem Grundgesetz für die drei westlichen Besatzungszonen bzw. der späteren Bundesrepublik und der sozialistischen Verfassung der DDR, die beide nicht unterschiedlicher hätten sein können (Kap. 3.3.). In den Transformationen in den mittel- und osteuropäischen Staaten nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Regime fand welthistorisch eine neue Form der Verfassunggebung statt: Die Verfassunggebung an den Runden Tischen, die die Idee der souveränen verfassunggebenden Gewalt verabschiedete. Stattdessen setzten die beteiligten Akteure auf die Idee der verfassunggebenden Selbstbeschränkung, eine Idee, die auch in anderen Regionen der Welt, wie beispielsweise bei der Abschaffung des Apartheidregimes in Südafrika, realisiert wurde (Kap. 3.4.). „1989“ war auch im Kontext der bundesdeutschen Geschichte ein zentrales Ereignis, weil sich dadurch die Möglichkeit der deutschen (Wieder)Vereinigung eröffnete, die selbstverständlich ihren Niederschlag in einer neuen, gesamtdeutschen Verfassung finden musste. Aber wie sollte sie entstehen und mittels welcher Verfahren? Warum wurde hier nicht das Verfahren des Runden Tisches angewandt, sondern der Beitritt nach dem damaligen Art. 23 GG vollzogen und der Rechtsbestand der BRD fast unverändert auf das Gebiet der (ehemaligen) DDR übertragen (Kap. 3.5.)? Abschließend stellt sich die Frage, ob am Ende des Jahrhunderts die Idee der souveränen verfassunggebenden Gewalt des Volkes grundlegend verabschiedet und damit eine historische Etappe abgeschlossen wurde, die im Jahr 1789 mit der französischen Revolution begann und mit den Runden Tischen im Jahr 1989 endete. Liegt die Zukunft der Verfassunggebung in der politischen Selbstbeschränkung der Akteure und dem Verfahren der ‚radikalen Kontinuität‘ (Kap. 3.6.)?
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3.1. Die Oktoberrevolution und ihre sozialistische Verfassung und der Kampf um die Weimarer Reichsverfassung 1918 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts kämpften zeitgleich zwei Verfassungsverständnisse mit zwei völlig gegensätzlichen Konzepten der Verfassung bzw. der durch sie zu konstituierenden Gesellschaften um Anerkennung. Auf der einen Seite stand die Idee einer sozialistischen Verfassung, die die Errungenschaften der Oktoberrevolution der Bolschewiki nicht nur wiedergeben, sondern auch für die Zukunft fixieren sollte. In Weimar war man auch mit einer sozialistischen Option konfrontiert, die durch die Politik gewaltsam niedergeschlagen wurde und den Weg für die erste demokratische Verfassung auf deutschem Boden frei machte.
3.1.1. Die Politik der Verfassunggebung in Russland im Jahr 1918 Die Allrussische Konstituierende Versammlung war eine frei gewählte verfassunggebende Konstituante, die genau 15 Stunden tagte. Sie wurde dann von den Bolschewiki aufgelöst, die selbst in dieser Konstituante vertreten waren und mit ihren Delegierten die zweitgrößte politische Kraft darstellten. Sie begann ihre Arbeit am 5. Januar 1918 um 16 Uhr im Taurischen Palais und tagte die ganze Nacht über bis zum nächsten Morgen des 6. Januar um 4.40 Uhr. Um diese Zeit erklärte ein Vertreter der Wachmannschaft, dass die Wachen müde seien und die Versammlung wurde auf 17.00 am selben Tag vertagt. Am Abend jedoch kamen die Delegierten nicht mehr in das Gebäude, da es verschlossen war. Damit fand die verfassunggebende Versammlung ihr Ende, die dann durch ein Dekret des Allrussländischen Zentralen Exekutivkomitees (VCIK)9 am 6. Januar 1918 auch formell aufgelöst wurde. Dort wurde formuliert, dass sich diese Versammlung „unvermeidlich“ der Sowjetmacht in den Weg stellen müsste, weil die in ihr vertretenen politischen Kräfte nicht mehr die reale gesellschaftliche Kräfteverteilung wiederspiegeln würden. Die Bolschewiki und die Linken Sozialrevolutionäre hätten in den Sowjets „jetzt offenkundig die ungeheure Mehrheit“ und würden das „Vertrauen der Arbeiter und der Mehrheit der Bauern genießen.“ Die Konstituierende Versammlung würde dieses neue Kräfteverhältnis nicht mehr wiederspiegeln und stelle lediglich eine Kulisse dar, hinter der der Kampf der „Konterrevolutionäre für den Sturz der Sowjetmacht vor sich gehen würde.“ Schließlich heißt es unmissverständlich: „Deshalb beschließt das Zentrale Exekutivkomitee: Die Konstituierende Versammlung wird aufgelöst.“ Unübersehbar ist in diesem Dokument die konfrontative Haltung der beteiligten politischen Kräfte. Besonders die Bolschewiki wollten wegen ihres polarisierenden Politikverständnisses keine Verhandlungen oder gar Kompromisse mit
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den anderen politischen Kräften anstrengen. Stattdessen realisierten sie – auch mit Gewalt – ihr Politikverständnis und setzten vor allem auf ihre bereits institutionell abgesicherte politische Macht in den Sowjets und nicht auf die gewählte Versammlung. Eine Demonstration der Unterstützer der Sozialrevolutionäre wurde von den Roten Garden brutal niedergeschlagen, wobei mindestens 12 Personen getötet wurden. Das Land trieb sodann fast unvermeidlich in den Bürgerkrieg, weil die jeweiligen Positionen unversöhnlich waren. Bereits am 5. Januar hatten die Arbeiter in der Hauptstadt einen Streik begonnen, der um die 50 Betriebe umfasste. Die Arbeiter boten der Konstituante einen Raum an, indem sie ihre Versammlung weiter abhalten sollten. Aber die Mehrheit der sozialrevolutionären Delegierten lehnte diesen Vorschlag ab. Sie begannen sich stattdessen auf den bewaffneten Widerstand gegen die Bolschewiki vorzubereiten. Das Land driftete in den Bürgerkrieg. Die Bolschewiki dagegen konstituierten sich als souveräne verfassunggebende Gewalt. Die neue Verfassung wurde von den realen Machthabern entworfen und brachte ihre Machtposition nicht nur dadurch zum Ausdruck, dass sie alleine, ohne andere politische Kräfte mit einzubeziehen, die Verfassung formulierten. Sie wurde auch dadurch deutlich, dass sie diese Verfassung nie durch eine Volksabstimmung legitimierten. Sie wurde allein durch den III. Allrussischen Sowjetkongress am 10. Juli 1920 bestätigt und sicherte die politische Macht der Bolschewiki ab. Auf diesem Treffen spielte die Verfassung kaum eine Rolle, die Diskussion darüber bildete nicht einmal einen eigenen Tagesordnungspunkt. Einzig und allein der Abgeordnete Steklov referierte kurz über die Verfassung und deren Präferenz für die Zentralisierung der Macht. Nur ein Delegierter meldete sich mit einer Kritik daran zu Wort; aber ohne weitere Diskussion wurde sie dann verabschiedet.10 Während die Sozialisten unter Lenins Führung im Jahr 1905 und auch danach eine konstituierende Versammlung befürworteten, war dies 1917/1918 nicht mehr der Fall. Die Haltung der Sozialisten zur verfassunggebenden Versammlung und einer Verfassung überhaupt war von Beginn ambivalent. Einerseits betonten die Bolschewiki, dass in den Räten die Vertreter des Volkes bzw. der verschiedenen Klassen und Orte vertreten und sie gesetzgebende und vollziehende Gewalt zugleich sein sollten.11 Eine neue Verfassung spielte nur eine untergeordnete Rolle. Zum Zweiten wurde eine demokratisch-republikanische Verfassung allein als ein Zwischenschritt zur völligen Machtübernahme durch die Bolschewiki betrachtet. Als sich dann in den Sowjets eine Mehrheit der Bolschewiki abzeichnete, war die Konstituante nur noch – wenn überhaupt – zweitrangig. Durch die Wahl der Konstituante, in der die Bolschewiki keine Mehrheit hatten, drohte eine Art Doppelherrschaft, die ihre Machtposition in den Sowjets schmälern könnte. Daraufhin wurde die pluralistisch zusammengesetzte verfassunggebende Versammlung aufgelöst und die Bolschewiki begannen, die Verfassung alleine auszu-
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arbeiten und letztlich auch zu verabschieden. Es war ihre Verfassung. Sie war für diese Gruppe ‚maßgeschneidert‘ und sollte deren politische Machtpositionen und die damit verbundenen Gesellschaftsvorstellungen festschreiben. Dies wird insbesondere in den Passagen deutlich, die sich mit der Verteilung und Organisation der politischen Macht beschäftigten. In Art. 31 der Verfassung von 1920 wird unmissverständlich festgehalten, dass das „Gesamtrussische Zentralexekutivkomitee“ das „höchste gesetzgebende, verfügende und kontrollierende Organ“ der russischen Föderation sei. In Art. 32 wird eine Art Richtlinienkompetenz dieses Exekutivkomitees festgelegt und Art. 33 degradiert die ansonsten im Mittelpunkt stehenden Organe, den Gesamtrussischen Sowjetkongress und den Rat der Volkskommissare, weil das Zentralexekutivkomitee alle seine (und auch die anderer Organe) Dekretentwürfe und Gesetzesvorlagen „prüft und bestätigt“. Zwar formuliert Art. 10, dass alle politische Macht den Stadt- und Dorfsowjets gehört, aber dies wird durch die bereits erwähnten Artikel revidiert. Zudem sind auch die zentralen inhaltlichen Politikbereiche in der Verfassung geregelt. Sie legt unwiderruflich die Errichtung der Diktatur des städtischen und ländlichen Proletariats fest, die völlige Niederhaltung der Bourgeoisie, die Abschaffung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen und die Errichtung des Sozialismus, der weder eine Teilung der Klassen noch der Staatsmacht will. Die Staatsmacht ist deshalb diktatorisch in einer Hand konzentriert, dem Exekutivkomitee der Kommunistischen Partei. Alle Freiheiten (Versammlungs-, Presse-, Meinungs-, Religionsfreiheit, um nur die wichtigsten zu nennen; vgl. Art. 13-23) stehen unter dem Vorbehalt des ‚richtigen‘ Gebrauchs, konkret des Aufbaus und der Festigung des Sozialismus und der Stabilisierung der Diktatur des Proletariats.
3.1.2. Die Politik der Verfassunggebung zu Beginn der Weimarer Republik von 1918 Wie bereits erwähnt kämpften am Anfang des 20. Jahrhunderts zwei gegensätzliche Verfassungsverständnisse auf dem europäischen Kontinent gegeneinander – das sozialistische in Russland und das demokratische in Deutschland. Zu Beginn der Weimarer Republik wurde dieser Kampf auch direkt auf deutschem Boden ausgetragen und erst am Ende, nach intensiven und zum Teil gewaltsamen politischen Kämpfen, konnte sich das republikanisch-demokratische Verständnis durchsetzen und seinen Niederschlag in der Weimarer Reichsverfassung finden. Die Verfassunggebung fand in einer äußerst kritischen historischen und politischen Situation statt und hat ihren Niederschlag auch in der Verfassung selbst gefunden.12 Am Ende des ersten Weltkrieges und der Niederlage Deutschlands in diesem Krieg stellte sich die innen- wie außenpolitische Lage äußerst kompliziert
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dar. Der verlorene Krieg führte in Deutschland zu einer angespannten sozialen Lage, in der der Hunger, die vielen und zum Teil schwer verwundeten Kriegsveteranen, die zerstörte Infrastruktur, die extrem polarisierte Ausprägung der politischen Kräfte und das Diktat der Siegermächte es in eine tiefe Krise stürzten. Die monarchische Regierungsform war zwar bereits direkt nach dem Krieg beseitigt worden, aber eine neue war noch nicht in Kraft. Die Übergangsregierung um den schnell ernannten Reichspräsidenten Friedrich Ebert regierte in einem verfassungslosen Zustand, sein Kabinett wurde von vielen politischen Kräften nicht anerkannt. Das Ende des Krieges war zudem durch den Aufstand der Matrosen in Kiel und Wilhelmshafen gekennzeichnet, die sich dem Auslaufen der kaiserlichen Flotte widersetzten und gegen die aussichtslose Fortsetzung des Krieges ankämpften. Auch in anderen Städten und Ländern des Reiches kam es zu Aufständen und in vielen Städten zur Errichtung von Arbeiter- und Soldatenräten nach russischem Vorbild. Die alte Staatsmacht brach zusammen und Teile des Heeres und des Gewaltapparates, die den Aufstand niederschlagen sollten, verbrüderten sich mit den Aufständischen. Das Ganze begann in Wilhelmshafen mit einer Meuterei, weitete sich zum Aufstand in ganz Deutschland aus und endete in einer „echten Revolution, nämlich dem Sturz der alten Obrigkeit und ihr Ersatz durch eine neue Ordnung.“13 Die Eigentumsordnung blieb davon unberührt, in den Fabriken blieb vieles beim Hergebrachten, mit den alten Militärbehörden verschwand die militärisch dominierte Monarchie und die Autorität der Offiziere war in großen Teilen der Armee untergraben.14 An ihre Stelle traten die Soldatenräte; die Arbeiterräte waren vornehmlich politische Institutionen, die die zivile Macht übernahmen, aber erstaunlicherweise in den Fabriken die Eigentums- und Herrschaftsverhältnisse weitgehend unangetastet ließen. Die Revolution war nicht sozialistisch oder kommunistisch, sondern „mit einer gewissen unausgesprochenen Selbstverständlichkeit, fast nebenbei – republikanisch und pazifistisch; bewusst und vor allem war sie antimilitaristisch.“15 Sie hatte zudem keinen Revolutionär an ihrer Spitze und folgte keiner politischen Strategie. Sie war vielmehr „das spontane Werk der Massen, der Arbeiter und der gemeinen Soldaten. Darin lag ihre Schwäche, die sich nur zu bald zeigen sollte (…).“16 Am 9. November kristallisierten sich die vielen, bisher nebeneinander verlaufenden Dynamiken und machten diesen Tag zum Wendepunkt, ja Höhepunkt der Revolution. In Berlin verweigerten die Truppen der Berliner Garnison das gewaltsame Vorgehen gegen die Aufständischen und verbündeten sich stattdessen mit ihnen. Nachdem das staatliche Gewaltmonopol zusammenfiel, wurde Kaiser Wilhelm II. durch eine Falschmeldung des Reichskanzlers Max von Baden zum Rücktritt gezwungen, er ging am 10. November 1918 in die Niederlande ins Exil. Am selben Tag übergab Max von Baden alle Regierungsgeschäfte an Friedrich Ebert, der nun der neue Reichskanzler wurde – ein verfassungsrechtlich un-
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möglicher Vorgang in der noch bestehenden kaiserlich-monarchischen Verfassungsordnung. Auch war Philipp Scheidemann, damals Staatssekretär ohne Geschäftsbereich, beim Mittagessen gemeldet worden, dass Karl Liebknecht, der neben Rosa Luxemburg Führer des Spartakusbundes war, die „freie sozialistische Republik“ ausrufen und Deutschland in eine Republik nach russischem Muster verwandeln wolle. Zudem sollten sich große Menschenmassen zwischen dem Reichstag und dem Schloss bewegen, die K. Liebknecht möglicherweise zu gewaltsamen Aktionen motivieren könnten. Da ergriff Ph. Scheidemann die Initiative und rief – ohne staatliches Mandat und ohne Absprache mit seiner Partei bzw. deren politischen Führern – vom Westbalkon des Reichstages die demokratische Republik aus. Dies war bereits Ausdruck der neuen Lage der politischen Kräfte. Das liberale Bürgertum, Teile der konservativen Bevölkerung und zum Teil deren politische Partei, das Zentrum, waren der Monarchie überdrüssig. Die Sozialdemokratie war erstarkt und hatte großen Einfluss auf die Arbeitermassen. Die USPD, die sich wegen der Bewilligung der Kriegskredite durch die SPD von ihr abgespalten und sich im April 1917 neu gegründet hatte, vergrößerte ihren Einfluss auf die Arbeitermassen ebenfalls. Diese neue Lage eröffnete den Sozialdemokraten neue politische Handlungsspielräume, die sie auch nutze. Nicht nur war der erste Reichskanzler F. Ebert nach dem Krieg ein Sozialdemokrat, der eindeutig Position für eine demokratische Republik bezog und von den breiten Arbeitermassen so wie dem liberalen Bürgertum unterstützt wurde. Zudem waren die politischen Gegenkräfte geschwächt, von ihnen war kein massiver Widerstand gegen die Demokratisierung zu erwarten. Die Verfassunggebung und die Verfassung selbst waren das Ergebnis eines Kompromisses zwischen der Mehrheitssozialdemokratie und den bürgerlichen Kräften bzw. ihren Parteien, die Otto Kirchheimer als „Augenblickseinheit der Unterlegenen“17 mit den Sozialdemokraten bezeichnet hat. Das politische Machtvakuum wurde nur notdürftig von der Regierung F. Ebert ausgefüllt. In seinem Kabinett waren zwar mit Matthias Erzberger und Adolf Gröber zwei Vertreter des Zentrums, mit Konrad Haußmann ein Linksliberaler und mit Philipp Scheidemann und ihm zwei Sozialdemokraten und damit die wichtigsten politischen Kräfte vertreten. Die USPD als weitere wichtige, nicht zu übergehende Kraft, die vor allem über die Arbeiter- und Soldatenräte ein politischer, wenn auch oppositioneller Faktor war, war von der Regierungstätigkeit ausgeschlossen. Um diesen Zustand zu ändern, bildete die Reichsregierung mit der USPD den „Rat der Volksbeauftragten“, in dem jeweils drei Sozialdemokraten und drei USPD-Mitglieder vertreten waren. Er wurde schnell zu einer Art Parallelregierung, weil er sogleich das Recht der Gesetzgebung für sich reklamierte und hier eine rege Tätigkeit entfaltete. Allen politischen Kräften war klar, dass schnellstmöglich eine Nationalversammlung gewählt werden sollte, die zugleich als verfassunggebende Versamm-
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lung fungiert. Die USPD dagegen setzte auf eine Räterepublik und berief für den 16. Dezember 1918 den „Allgemeinen Deutschen Rätekongress“ ein, der zugleich als verfassunggebendes Organ fungieren und so den Weg für eine sozialistische und proletarische Demokratie ebnen sollte. Reichskanzler F. Ebert dagegen wollte die Wahl einer verfassunggebenden Nationalversammlung vorantreiben und berief bereits für den 25. November die „Große Reichskonferenz“ ein, zu der neben dem Rat der Volksbeauftragten und den Mitgliedern seines Kabinetts auch die Vertreter aller Landesregierungen eingeladen waren. Im Abschlusskommuniqué wird festgehalten, dass der Wahl einer konstituierenden Nationalversammlung zugestimmt wird und die Reichsregierung die Vorbereitungen hierfür möglichst schnell in Angriff nehmen sollte.18 Schließlich stimmten im Rat der Volksbeauftragten auch die Mitglieder der USPD der Wahl einer verfassunggebenden Nationalversammlung zu, die hierfür auch das Wahlverfahren festlegen sollte. Es sah eine allgemeine, freie und unmittelbare Wahl vor, setzte das Wahlalter von bisher 25 Jahren auf 20 Jahre herab, räumte endlich auch den Frauen das Wahlrecht ein,19 teilte das Reich in insgesamt 38 Wahlkreise ein, über die insgesamt 421 Vertreter in die Nationalversammlung gewählt werden sollten. Diese Verordnung trat am 30. November in Kraft. Der „Allgemeine Deutsche Rätekongress“, der am 12. Dezember tagen sollte, wurde mit dieser Verordnung übergangen. Allerdings sollte er gegen das Wahlgesetz sein Veto einlegen können, was jedoch nicht erfolgte. Auf dem Rätekongress dominierten – wider Erwarten der politischen Führung der USPD – die moderaten Kräfte. Ein Antrag, dass in der neuen Verfassung das Rätesystem als Grundlage einer sozialistischen Gesellschaft festgeschrieben werden sollte, wurde von den Delegierten mit deutlicher Mehrheit abgelehnt.20 Diese politische Konstellation spiegelte sich dann auch in der Wahl vom 19. Januar 1919 wider. Die sogenannte Weimarer Koalition, bestehend aus SPD, Zentrum und der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) erhielt zusammen 282 Sitze, ein Sitz über der Zweidrittelmehrheit. Die konservativen und die die Weimarer Republik ablehnenden Kräfte blieben klar in der Minderheit. Die rechtskonservative Deutschnationale Volkspartei (DNVP) und die nationalliberale Deutsche Volkspartei (DVP) kamen zusammen auf rund 15 % der abgegebenen Stimmen und die USPD auf rund 5 %. Die Nationalversammlung kam am 6. Februar 1919 zu ihrer ersten konstituierenden Sitzung in Weimar zusammen. Weimar wurde als Ort der Verfassunggebung ausgewählt, weil in weiten Teilen Deutschlands nach wie vor bürgerkriegsähnliche Zustände herrschten und Weimar selbst und sein Nationaltheater polizeilich gut zu schützen waren. Eines der ersten und wichtigsten Gesetzgebungsakte war die Verabschiedung des Gesetzes über die vorläufige Reichsgewalt. In ihm wurde festgehalten, dass allein die Nationalversammlung die künftige Reichsverfassung sowie die laufende Gesetzgebung beschließt; die Regierungsbil-
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dung wurde dem noch von den alten politischen Kräften ernannten Reichspräsidenten in die Hände gelegt, aber eine Neuwahl war bereits für den 11. Februar vorgesehen. F. Ebert wurde als Reichspräsident bestätigt, der schließlich Ph. Scheidemann zum ersten „Reichsministerpräsidenten“ und mit ihm das gesamte Kabinett ernannte. Noch bevor der verfassunggebende Ausschuss tagte, begann die Nationalversammlung mit einer intensiven Gesetzgebung und verabschiedete u. a. ein „Gesetz über eine vereinfachte Form der Gesetzgebung für die Zwecke der Übergangswirtschaft“. Es war das erste einer ganzen Reihe von Notverordnungen bzw. Ermächtigungsgesetzen, die dann während der Weimarer Republik relevant wurden und auch ihr Schicksal besiegelten: Dies erledigte dann das Ermächtigungsgesetz von 24. März 1933.21 Die Verfassunggebung vollzog sich im „Verfassungsausschuss“, der die eigentliche Arbeit leistete. Das Plenum der Nationalversammlung beschäftigte sich in den üblichen drei Lesungen mit ihr, wobei die zweite Lesung die wichtigste war und vom 2. bis 21. Juli andauerte. Die politischen Parteien konnten auf keine Entwürfe oder ausgereifte Vorüberlegungen zurückgreifen, gleiches galt auch für den Regierungsapparat. Die Reichsregierung musste nun selbst die Initiative ergreifen und beauftragte den Staatsrechtler Hugo Preuß mit der Ausarbeitung eines Entwurfs. H. Preuß wurde zwar von einigen Staatsrechtlern als der am weitesten links gerichtete Staatsrechtler des damaligen Deutschland bezeichnet. Aber unter den damaligen Verfassungsrechtlern stand keiner der SPD so nahe wie H. Preuß, der bereits im November 1918 von F. Ebert zum Staatssekretär des Inneren berufen wurde und sich vorwiegend mit Entwürfen für eine neue Verfassung beschäftigen sollte. Insofern war der Preußsche Entwurf der einzige Entwurf, der im politischen Prozess eine Rolle spielte und als ‚focal point‘22 für die gesamte Verfassungsdiskussion diente.23 Mit der Beauftragung von H. Preuß war zugleich eine klare Absage an alle rätedemokratischen oder sozialistisch-revolutionären Vorstellungen der USPD verbunden. Er hatte bereits 1915 von der Umwandlung des monarchischen Obrigkeitsstaates in einen „Volksstaat“ gesprochen, der demokratisch-pluralistisch organisiert sein sollte und in dem die Regierung vom Vertrauen eines frei gewählten Parlaments abhängig ist.24 In einer Denkschrift zum Entwurf der Verfassung vom 3. Januar 1919 und in der mündlichen Begründung in der Weimarer Nationalversammlung hatte er alle wesentlichen Argumente und (verfassungs)politischen Gründe zusammengefasst, die bei der Ausarbeitung ausschlaggebend waren. H. Preuß betont in beiden Schriften die bereits erwähnte Neuschaffung eines Volksstaates, der wegen der Revolution im Reich und den Ländern, die die alten Gewalten beseitigt hatten, nun neu gegründet werden musste. Die neue Republik kann, ja muss als „im wesentlichen einheitlicher Volksstaat auf das freie Selbstbestimmungsrecht der deutschen Nation in ihrer Gesamtheit gegründet werden. (…) Die deutsche Republik kann
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nur die demokratische Selbstorganisation des deutschen Volkes als einer politischen Gesamtheit sein.“25
Die Eigeninteressen der bisherigen 22 Einzelstaaten verhindern die freie Organisation des deutschen Volkes und müssten deshalb im Sinne des neuen Volksstaates aufgehoben werden. Aber dennoch unterstellt er, dass „dem deutschen Volkscharakter (…) unzweifelhaft eine starke Abneigung (…) gegen eine unbeschränkte Zentralisierung allen öffentlichen Lebens und gegen eine mechanische Leitung aller Verwaltung von einem Mittelpunkt aus innewohnt. (…) Dem neuen deutschen Volksstaat kann nichts ferner liegen, als sich diesem Zug des Volksgeistes zu widersetzen; vielmehr wird er in diesem Eigenleben seiner Glieder die starken Wurzeln seiner Kraft finden.“26
Auch die Sonderstellung Preußens musste in dem neuen Verfassungsentwurf geändert und zu einem ‚normalen‘ Land innerhalb des föderalen Staatsaufbaus herabgestuft werden. Die staatsorganisatorischen Fragen haben in den Preußschen Stellungnahmen – neben der nationalen Einheit – eine herausragende Bedeutung. Im Mittelpunkt stehen die Beziehungen zwischen dem Reich und den Ländern und die Struktur des parlamentarischen Regierungssystems. Ich konzentriere mich auf letzteres, weil hier die Grundfragen des neuen demokratischen Staatsgebildes und seiner Regierungsform ausgehandelt wurden. Auch haben die Erfahrungen mit der Weimarer Reichsverfassung in der Verfassungsdiskussion der Nachkriegszeit in beiden deutschen Staaten eine große Rolle gespielt, wobei in der SBZ völlig entgegengesetzte Lehren zu denen in den Westzonen gezogen wurden (vgl. dazu unten Kap. 3.4.). Preuß‘ zentrale Frage war die nach einem „echten“ Parlamentarismus, in dem sich der Wille des Volkes ungebrochen entfaltet, sich die Grundidee der Volksdemokratie am besten realisiert und die Revolution zum guten Abschluss kommt. Wie wollte er nun die geschichtliche Vergangenheit und die gegenwärtige Lage in Einklang bringen? Zunächst stellt er immer wieder fest, dass der Parlamentarismus die „beste und fruchtbarste Organisationsform der politischen Demokratie ist.“27 Das Regierungssystem sollte zudem die nur gering ausgeprägte demokratische Tradition überwinden und eine neue politische Kultur durch eine entsprechende Ausgestaltung des Regierungssystems entwickeln helfen. Die Verfassung bzw. die Beziehung zwischen Regierung und Volk sollte so gestaltet werden, dass sie als „politisches Erziehungsmittel“28 wirkt und die neue politische Kultur verbessert und stabilisiert. Schließlich war für ihn die Regierungsfähigkeit im neuen Staat außerordentlich wichtig. Denn auch in der Demokratie „muss eine Regierung regieren können. Es ist vielleicht die größte Gefahr, die der Demokratie erwachsen kann, wenn durch allzu gehäufte Kontrollmaßregeln die demokratische Regierung allzusehr am Regieren behindert wird. Der Parlamentarismus soll die Schule, die Auslese der demokratischen Führung sein; und diese Funktion darf ihm durch ein all-
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3. Die Politik der Verfassunggebung zu großes Überwuchern jener Einrichtungen des Mißtrauens nicht unmöglich gemacht werden.“29
Dazu bedurfte es eines ‚echten Parlamentarismus‘, der sich von einem unechten absetzt. Den Kern sollten „zwei einander wesentlich ebenbürtige höchste Staatsorgane“ bilden, das gewählte Parlament und der (direkt) gewählte Staatspräsident, und die Regierung das „bewegliche Bindeglied“ zwischen ihnen.30 Diese ebenbürtige Stellung konnte ein Präsident nur ausbilden, wenn er direkt durch das Volk und nicht – wie im ‚unechten Parlamentarismus‘ – von der Versammlung gewählt wird. Die plebiszitäre Legitimität bringt ihn in diese ebenbürtige Position, weil bei der Wahl durch das Parlament eine „Monokratie des Parlaments“31 entsteht. Umgekehrt führt es zu einer ‚Monokratie‘ des Präsidenten, wenn dieser selbst unmittelbar die Spitze der Regierung bildet und die Ressortminister von ihm abhängige Akteure sind. Dieses dualistische System – wie in den USA realisiert – führt zur „geistigen Verarmung und politischen Verödung der Volksvertretungen.“32 Die Volksvertretungen sind dann „beschränkt auf abstrakte Gesetzgebung, auf Kritik und Negation, ohnmächtig gegenüber der das praktische Leben wirklich bestimmenden Verwaltung. Diese äußere politische Ohnmacht der Parlamente hatte ihre innere politische Impotenz zur Folge, die Zersplitterung der rein dogmatischen Parteien und die anderen viel erörterten und viel beklagten Übel unseres alten Zustandes.“33
Die Parallele zwischen dem monarchischen Obrigkeitsstaat und dem amerikanischen Regierungssystem überrascht, aber entscheidend ist für H. Preuß die damit beabsichtigte Herabstufung des Parlaments als Ausdruck des souveränen Volkswillens. Verbunden ist damit zudem eine Entfremdung des Parlaments und seiner Abgeordneten von den realen gesellschaftlichen und sozialen Prozessen, die nicht mehr angemessen thematisiert und politisch entschieden werden können. Seine Vorstellung von einem parlamentarischen System unterstellt dem Parlament dagegen nach wie vor eine bedeutende Rolle im politischen Prozess. Allerdings teilen sich Parlament und Präsident viele Befugnisse, wobei die wichtigste die der Regierungsbildung ist. Der Präsident bildet die Regierung, aber nur beruhend auf vorherigem Vorschlag des Reichskanzlers, der von der Versammlung gewählt wird. Er schlägt dann die Ressortchefs vor, die vom Präsidenten ernannt (oder abgelehnt) werden und das Parlament hat das Recht, nicht nur dem Reichskanzler das Misstrauen auszusprechen und ihn abzuwählen, sondern auch jedem einzelnen Minister. Diese gewinnen dadurch an politischer Verantwortlichkeit, indem sie nicht allein vom Vertrauen des Reichskanzlers, sondern auch von dem des Parlaments abhängig sind. Was passiert aber nun, wenn beide vom Volk gewählten Repräsentanten, Parlament und Präsident, in grundlegende Konflikte verwickelt sind? H. Preuß‘ Antwort lohnt zitiert zu werden:
3.1. Die Oktoberrevolution und die Weimarer Reichsverfassung
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„Da sowohl Präsident wie das Parlament ihre politische Gewalt vom Volk ableiten, so muss die Entscheidung über sonst nicht auszugleichende Konflikte wiederum dem Volk zufallen. Demgemäß ist der Präsident befugt, durch Auflösung des Parlaments Berufung vor der Volksvertretung an das Volk selbst einzulegen.“34
Umgekehrt ist der Präsident zwar für eine fixe Amtsperiode gewählt, aber die Reichsversammlung kann ihn unter bestimmten Bedingungen abwählen. H. Preuß meint, dass „in besonders schweren politischen Konfliktsfällen auch dem Reichstag die Befugnis gegeben werden (soll), das Volk zu einem Urteil über die politische Haltung des Präsidenten anzurufen, indem der Reichstag durch Beschluß einer Zweidrittelmehrheit die Volksabstimmung über die Weiterführung der Präsidentschaft veranlaßt.“35
Wird in einer solchen Volksabstimmung der Präsident jedoch bestätigt, so soll dies zugleich als Wiederwahl für eine neue Amtsperiode gefasst werden. Beide Verfahren sollten sich gegenseitig ergänzen und grundlegende politische Konflikte, die zur Unauflösbarkeit tendieren, auf diese Weise vom Volk entschieden werden. Der ‚echte‘ Parlamentarismus setzt nach seiner Meinung ein „solches Gleichgewicht der Gewalten“ voraus, ja verlangt es.36 An anderer Stelle ist von einer „unmittelbar im Volke wurzelnde(n) ebenbürtigen(n) Potenz“ die Rede, die einem „Parlamentsabsolutismus“ entgegenwirken soll.37 Entstehen jedoch grundlegende Konflikte bei einfacher Gesetzgebung, so kann der Präsident diesen Konflikt durch eine Volksabstimmung auflösen, indem er ein Referendum darüber in Gang setzt. Interessant ist, dass H. Preuß in seiner Denkschrift den späteren Art. 48 der Weimarer Verfassung an keiner Stelle anspricht. Er schien dem damaligen Verfassungsverständnis nach unproblematisch zu sein, wurde aber zu einem zentralen Mechanismus zur Auflösung der Weimarer Republik, vor allem aber seit Beginn der 30er Jahre. Gleichwohl gab es im Prozess der Verfassunggebung Diskussionen um den Art. 48 (2) WRV, auch wenn diese Diskussionen erst relativ spät stattfanden.38 Sie drehten sich vor allem darum, ob Art. 48 (2) der Reichsregierung umfassendere Befugnisse geben sollte als die vergleichbaren Regelungen in der Preußischen Verfassung von 1850 bzw. dem Belagerungszustandsgesetz vom 4. Juni 1851. Die Diskussion kreiste um die Frage, ob „in Friedenszeiten weitergehende Notrechte gelten sollten als in der Vergangenheit in Kriegszeiten.“39 Zwei Positionen bildeten sich heraus. Die eine wollte der Diktaturgewalt (enge) Grenzen setzten, die USPD wollte den Paragraphen vollständig streichen. Es ging darum, welche Grundrechte ‚diktaturfest‘ sein sollten und welche durch Art. 48 suspendiert werden konnten. Die andere Richtung argumentierte, dass dieser Paragraph sich nicht gegen das Volk und seine Rechte richte (wie in der Monarchie der Belagerungszustand), sondern dass eine demokratisch legitimierte Regierung bzw. das Parlament Maßnahmen zum Schutz der Demokratie und zur Verteidigung der Rechte des Volkes ergreifen können muss. Eines besonderen Schutzes der Grund-
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3. Die Politik der Verfassunggebung
rechte bedürfe es daher nicht. Die Gegenzeichnungspflicht durch die Reichsregierung (Art. 50 WRV) und das parlamentarische Auflösungsrecht (Art. 48 (3), Satz 2) sollten Zustände wie in der monarchischen Vergangenheit verhindern. Welche Rolle dieser Paragraph dann bei der Auflösung der Weimarer Republik gespielt hat, konnten die Verfassungsgeber damals nicht ahnen. Eine für die Demokratiekonzeption weitere zentrale Frage war die des Wahlrechts. Hier waren bereits Vorentscheidungen gefallen, indem sich der Rat der Volksbeauftragten für das Verhältniswahlrecht bei der Wahl der verfassunggebenden Nationalversammlung entschied. Im Verfassungsausschuss war diese Frage bereits als selbstverständlich beantwortet und dies änderte sich nur kurzfristig, als ein Angeordneter der DDP sich für das Mehrheitswahlrecht aussprach.40 H. Preuß widersprach dem, indem er auf zwei Aspekte hinwies. Zum Einen würde ein Mehrheitswahlrecht nicht automatisch zu einem Zweiparteiensystem führen und die britischen Verhältnisse seien nicht umstandslos auf Deutschland (und andere Länder) übertragbar. Zudem sei die Stärke einer parlamentarischen Regierung nicht so sehr vom Wahlsystem, sondern von den Kompetenzen des Parlaments abhängig. Diese erst sehr spät stattfindende Diskussion hatte einen großen Mangel: Dass das Verhältniswahlrecht die Pluralität des Volkes und die damit verbundenen unterschiedlichen Interessen besser wiedergebe als das Mehrheitssystem, hat bei den Diskussion argumentativ keine Rolle gespielt. Neben den tradierten Grundrechten, die im Wesentlichen von der Paulskirchenverfassung von 1848 inspiriert waren, sah die Weimarer Verfassung einen umfangreichen Katalog sozialer Rechte vor, der in dieser Form welthistorisch neu war. Bereits die Präambel formulierte als Ziel, „den gesellschaftlichen Fortschritt zu fördern“, und übersetzte dies in eine umfassende Liste, die an den Gesetzgeber zur Realisation überantwortet wurde. Der Verfassungsauftrag zur Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse, insbesondere der Arbeits- und Sozialverhältnisse, brachte nicht nur ein neues Verständnis der Grundrechte zum Ausdruck, sondern formulierte zugleich den Anspruch, die Lebenslagen von sozialen Gruppen und – prinzipiell – die Gesellschaft durch Entscheidungen der Politik umzugestalten. Das soziale Programm war umfassend, es umfasste unter anderem die soziale Förderung der Familie, Mutterschutz, Bildung und Schulwesen, Garantie eines menschenwürdigen Daseins für alle durch die Ordnung der Wirtschaft, ausreichenden Wohnraum, Schutz der Arbeitskraft und Recht auf (und Pflicht zur) Arbeit, Mitgestaltung an den Wirtschafts- und Arbeitsbedingungen durch die Arbeitnehmer und einen umfassenden sozialen Schutz durch die Sozialversicherung. Der moderne Verfassungsstaat soll so zur Triebkraft des sozialen Fortschritts werden und die gesellschaftliche Ausgangslage in diesem Sinne laufend umgestalten. Die politische Gestaltbarkeit von Gesellschaft wird hier zum ersten Mal zum Prinzip einer demokratischen Verfassung und der durch sie vollzogenen Politik erhoben.
3.1. Die Oktoberrevolution und die Weimarer Reichsverfassung
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Die Verfassung von Weimar war ein Kompromiss zwischen den Mehrheitssozialdemokraten und den bürgerlichen Kräften. Vor allem im Grundrechtskatalog fand dies seinen Niederschlag in der Addition von im Kern konträren Vorstellungen. „In ihm fand die bestehende Geistes- und Sozialordnung der bisher herrschenden Klasse ihre Stätte neben den Forderungen der Arbeiterklasse. (…) Hier wurden Privateigentum und Sozialisierung von Unternehmungen und Grund und Boden, die freie Schule und die kirchlichen Heilsgüter, allgemeine Ämterbefähigung und weitherzige Garantie der bestehenden Beamtenmonopole, der Schutz des selbständigen Mittelstandes und zugleich die großen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen anerkannt. Dieses Sammelbecken möglicher Verfassungsstrukturen entsprach den politischen Machtverhältnissen in der augenblicklichen Lage, wie sie im Sommer 1919 bestand.“41
In der Tat, die Verfassung, insbesondere der Grundrechtskatalog, war ein Kompromiss zwischen, ja an manchen Stellen eine reine Addition der Vorstellungen der damaligen relevanten politischen Kräfte. Bei der Ausgestaltung des Regierungssystems dagegen lagen die Konzepte nicht so weit auseinander, hier stimmten die beteiligten politischen Kräfte im Wesentlichen überein. Resümiert man den gesamten Prozess der Verfassunggebung, so kommt man zu folgendem Ergebnis: „Ist man bereit, die frühen Entwürfe von H. Preuß als geschlossene Konzepte anzusehen, so wurde dieses in der Folgezeit nicht durch ein anderes ersetzt, sondern eher verwässert. Ein maßgeblicher Grund für diese Entwicklung dürfte gewesen sein, dass sich der Charakter der Verfassungsberatungen im Laufe der Zeit geändert hat. Während am Anfang ein geschlossener Entwurf mit Anspruch auf Konsistenz bestanden hatte, begaben sich die späteren Beratungen mehr oder weniger formell auf einen ‚Weg der Vereinbarungen‘. Mit unterschiedlichen Interessen wurden Verhandlungen aufgenommen, deren Ergebnisse dann in die Verfassungsberatungen eingebracht wurden und hier den weiteren Gang der Entwicklungen wesentlich mitbestimmten.“42
Während im ersten Entwurf von H. Preuß verfassungsrechtliche und politische Gründe dominierten – auch wenn man diese argumentativ bestreiten kann –, so wurden später Interessen, v. a. von den verschiedensten großen Verbänden, immer stärker in den Prozess der Verfassunggebung eingebracht und über Verhandlungen in die Verfassung selbst aufgenommen. Nach hitzigen Debatten verabschiedete die Nationalversammlung am 31. Juli 1919 die Verfassung der Weimarer Republik, der Reichspräsident unterzeichnete sie am 11. August und sie trat zum 14. August in Kraft. Sie hatte eine doppelte Legitimität. Ihre upstream-Legitimität43 gewann sie durch die demokratische Wahl der Nationalversammlung, die die konkrete Arbeit an den verfassunggebenden Ausschuss überwies, aber die gesamte Verfassung in drei Lesungen diskutierte. Ihre downstream-Legitimität erfuhr sie durch die Abstimmung im Reichstag, von dem sie mit großer Mehrheit verabschiedet wurde. Sofern Verfassungen zusätzlich durch ein Referendum bekräftigt werden, steigt deren Legitimität. Dies
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3. Die Politik der Verfassunggebung
war in Weimar nicht der Fall. Trotz dieser im Prinzip hohen Legitimität war ihre verfassungspolitische Lebensdauer kurz. Mit dem Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933 wurde ihr ihre Lebenskraft genommen. Die Weimarer Verfassung schuf das weltweit erste semi-präsidentielle Regierungssystem44, das dann im Verlauf des 20. Jahrhunderts verschiedenste Nachahmer fand, v. a. in Frankreichs Verfassung der Fünften Republik von 1958, der polnischen (bis 1997) und kroatischen Verfassung ebenso wie in der ukrainischen, die in den osteuropäischen Transformationen Anfang der 90er Jahre entstanden sind (vgl. dazu unten Kap. 3.4.). Die Weimarer Verfassung erfuhr im Zeitverlauf verschiedene Änderungen, aber ihr Kern blieb von ihnen unberührt. Ein grundlegender Wandel wurde erst durch das Ermächtigungsgesetz vom März 1933 in Gang gesetzt, das sie in ihrer Substanz außer Kraft setzte, obwohl sie formal-rechtlich nie außer Kraft gesetzt wurde.
3.2. Das Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933: Der Übergang von der kommissarischen zur souveränen Diktatur Das Ermächtigungsgesetz (ErmG) vom 24. März 1933 war nicht der Beginn der nationalsozialistischen Machtergreifung, sondern war die letzte Stufe der Festigung der noch fragilen Machtposition der NSDAP unter Adolf Hitler. Bis zu seiner Verabschiedung beanspruchten gewisse (verfassungs)rechtliche Regelungen der WRV noch Geltung, auch wenn die neuen politischen Kräfte immer wieder versuchten, diese neu zu deuten, zu umgehen oder mit falschen Prämissen zu arbeiten. Aber rechtlich war das ErmG ein „Wendepunkt“, nämlich die „Preisgabe des Grundsatzes der funktionellen und regionalen Gewaltenteilung“ und der entscheidende Schritt zur „Begründung des ungeteilten und unkontrollierten Führerregimes.“45 Es war der letzte Schritt der Transformation der WRV in einen rechtlichen Rahmen, der eine totalitäre Diktatur ermöglicht. Insofern gibt es zwischen dem Weg des Zustandekommens und dem rechtlichen Inhalt dieses Gesetzes einen engen Zusammenhang. Verfassungsrechtlich haben wir es mit dem Paradox oder besser der Unmöglichkeit zu tun, dass mit einem verfassungsändernden Gesetz, das im rechtlichen Rahmen der Weimarer Verfassung zustande kam, genau diese Verfassung außer Kraft gesetzt wurde. Die Kompetenz zur Änderung einer Verfassung ist „Kompetenz-Kompetenz“46, die von einer gegebenen und geltenden Verfassung verliehen wird und nicht zu deren Beseitigung verwendet werden kann. Genau das aber wurde durch das ErmG vom März 1933 verfolgt. Damit vollzog sich der Wandel von einer kommissarischen zu einer souveränen Diktatur.47 Nur letztere Kategorie erfasst den grundlegenden Charakter der national-sozialistischen Herrschaftsform.
3.2. Das Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933
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In der Weimarer Republik waren Ermächtigungsgesetze zwar nicht an der Tagesordnung, gleichwohl aber wurde in vielen Phasen über Ermächtigungsgesetze regiert, v. a. in den Wirren der Nachkriegszeit und dann in den Wirtschaftskrisen der 20er Jahre. Aber das Ermächtigungsgesetz von 1933 unterscheidet sich fundamental von allen bisherigen. Diese Differenz lässt sich an einer ‚kleinen‘ Formulierung festmachen, die große, ja fatale und desaströse Auswirkungen hatte. In § 1 des Reichsermächtigungsgesetzes von 1923 hieß es: „Die Reichsregierung wird ermächtigt, die Maßnahmen zu treffen, die sie im Hinblick auf die Not von Volk und Reich für erforderlich hält und dringend erachtet. Eine Abweichung von den Vorschriften der Reichsverfassung ist nicht zulässig.“48
In dem vom damaligen Reichsinnenminister Wilhelm Frick dem Kabinett vorgelegten Entwurf von 1933 hieß es dann – fast wortgleich: „Die Reichsregierung wird ermächtigt, die Maßnahmen zu treffen, die sie im Hinblick auf die Not von Volk und Staat für erforderlich hält. Dabei kann sie von den Bestimmungen der Reichsverfassung abweichen.“49
Die Differenz ist klar: Das neue Ermächtigungsgesetz50 kann die Grundprinzipien der WRV verlassen und damit Recht jenseits der Verfassung kreieren. Damit steht die Verfassung selbst und generell zur Disposition. Sie kann nicht nur durch einfaches Gesetz der Nationalversammlung außer Kraft gesetzt werden, sondern zudem durch Ermächtigungsgesetze, die ohne Mitwirkung des Reichstages verabschiedet werden können. Mit anderen Worten: Die Reichsregierung kann im Alleingang und ohne weitere Kontrollen Gesetze verabschieden, die verfassungsrechtliche Bestimmungen negieren. Verfassungsändernde Gesetze können ansonsten nur mit einer Zweidrittelmehrheit verabschiedet werden, während die Reichsregierung dies nun alleine unternehmen kann. Damit ist bereits vom Verfahren her ein zentraler Grundsatz der WRV außer Kraft gesetzt. Hinzu kommt noch die Befähigung, auch substantielle Grundsätze und Rechte zu negieren, was auf vielen Ebenen die Verletzung und Außerkraftsetzung von verfassungsrechtlichen Normen zur Folge hat. Um Kritik von den damals an der Regierung beteiligten politischen Kräften zu unterbinden, bestand der Reichsminister des Inneren W. Frick auf der Forderung, dass die verfassungsändernde Mehrheit das Gesetz binnen 3 Tagen verabschieden sollte. Die Fraktionen des Reichstages erhielten den Entwurf am 20. März 1933, der 21. März entfiel wegen eines „Tages für Potsdam“ für Beratungen. Es blieb somit nur der 22. März, weil am 23. März das Gesetz verabschiedet werden sollte. Das verfassungsändernde Gesetz wurde als Initiativantrag der Fraktionen der NSDAP und der DNVP eingebracht und musste so nicht schriftlich begründet werden. Auch bedurfte es nicht der vorherigen Zustimmung des Reichsrates. Die 2. und 3. Lesung des Gesetzes schloss sich unmittelbar an die erste Lesung an,
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3. Die Politik der Verfassunggebung
die zweite Beratung dauerte ungefähr drei Minuten, die dritte nur rund eine Minute – und dann erfolgte die namentliche Abstimmung.51 Die Abstimmung fand in einer gespenstischen Atmosphäre statt. Der am 23. März zusammengetretene Reichstag tagte ohne die 81 KPD-Abgeordneten, die nicht einmal zu der Sitzung eingeladen wurden. Ein Teil der sozialdemokratischen Abgeordneten war bereits geflohen, untergetaucht oder vorher in „Schutzhaft“ genommen worden. Bei der Abstimmung skandierten SA-Männer trotz Bannmeilengesetz vor der Kroll-Oper, im Plenarsaal selbst waren zahlreiche SAund SS-Männer in Uniform zugegen und zogen einen immer engeren Kordon um die verbliebenen SPD-Abgeordneten. Zudem war eine gewaltige Hakenkreuzfahne im Sitzungssaal befestigt, was der geltenden Geschäftsordnung ebenso widersprach wie die Anwesenheit der SA- und der SS-Männer. Auch die Abstimmung selbst bzw. deren Auszählung war problematisch.52 Bedeutete eine Zweidrittelmehrheit die aller oder nur der anwesenden Angeordneten? Eigentlich waren die 81 gewählten KPD-Abgeordneten nach wie vor Mitglieder des Reichstages, auch wenn sie von der Sitzung ausgeschlossen waren. Die für ein verfassungsänderndes Gesetz erforderliche Anwesenheit von zwei Dritteln der gesetzlichen Mitgliederzahl war gegeben, auch wenn Reichstagspräsident Göring hier andere Zahlen nannte. Aber rein formal war die Abstimmung in Ordnung, weil insgesamt 444 Abgeordnete für das Gesetz gestimmt hatten und somit die notwendige Mehrheit gegeben war. Die Zustimmung des Reichsrates war ebenfalls erforderlich und er trat noch am Abend der parlamentarischen Verabschiedung zusammen. Etliche Mitglieder dieses Gremiums waren der Reichsregierung gegenüber weisungsgebunden und er war zudem nicht ordnungsgemäß aus den Vertretern der Länder zusammengesetzt. Reichsinnenminister W. Frick hielt eine kurze Rede und „ohne Diskussion beschlossen die Mitglieder des Reichsrates einstimmig, von dem Gesetzentwurf Kenntnis zu nehmen, ohne Einspruch zu erheben. Damit war das Ermächtigungsgesetz förmlich verabschiedet.“53
Es war zeitlich begrenzt. In Art. 5 ist festgehalten, dass es „mit dem 1. April 1937 außer Kraft (tritt); es tritt ferner außer Kraft, wenn die gegenwärtige Reichsregierung durch eine andere ersetzt wird.“ Bereits im Januar 1937 wurde es vom damaligen Reichstag verlängert, erneut dann im Januar 1939, wobei die vorfristige Verlängerung dem Anschluss Österreichs und des Sudetenlandes an das Deutsche Reich geschuldet war.54 Der damals gebildete Großdeutsche Reichstag sollte dem nun verlängerten Ermächtigungsgesetz einen legalistischen Anstrich geben, so als hätten die neu hinzugekommenen Abgeordneten es auch für ihre Gebiete beschlossen.55 Andere Regelungen wurden ebenfalls – entgegen der Formulierung im Gesetz selbst – unter der Herrschaft der Nationalsozialisten geändert. Der Reichstag wurde bereits im Februar 1934 aufgelöst, das Amt des
3.2. Das Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933
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Reichspräsidenten ging auf den Führer und Reichskanzler A. Hitler im August 1934 über, nachdem Reichspräsident Paul von Hindenburg gestorben war. Auch war die „gegenwärtige Regierung“, für die das Gesetz gelten sollte, längst nicht mehr im Amt. Eigentlich hätte es bereits am 29. Juni 1933 seine Geltung verlieren müssen, weil mit dem Rücktritt des Doppelministers Alfred Hugenberg die seither amtierende Regierung in dieser Form nicht mehr existierte. Aber der Begriff „gegenwärtig“ war damals umstritten und Teile der den Nationalsozialisten nahestehenden Rechtswissenschaft deuteten den Begriff so, als ob damit eine Regierung unter der Führung des Reichskanzlers A. Hitlers gemeint sei und sich nicht auf die konkrete Zusammensetzung des Regierungskabinetts beziehe. Die ‚Verfassunggebung‘ des Nationalsozialismus vollzog sich in verschiedenen Schritten und das ErmG war der letzte und entscheidende Schritt, der die Transformation von der kommissarischen zur souveränen Diktatur vollendete. Die kommissarische Diktatur dient der „Ermächtigung einer höchsten Autorität, die rechtlich imstande ist, das Recht aufzuheben und einen Diktatur zu autorisieren, d. h. eine konkrete Ausnahme zu gestatten, deren Inhalt im Vergleich zu dem anderen Fall einer konkreten Ausnahme, der Begnadigung, ungeheuerlich ist.“56
Die ‚Ungeheuerlichkeit‘ ist darin zu sehen, dass sie erheblich weitreichendere Maßnahmen ergreifen kann (und vielleicht auch muss!), um den alten Zustand, den status quo ante, wieder herzustellen. Die kommissarische Diktatur rechtfertigt sich dadurch, dass sie zwar „das Recht ignoriert, aber nur, um es zu verwirklichen.“57 Sie ist durch eine bereits gegebene Verfassung autorisiert und legitimiert und hat in dieser ihren einzigen Ausgangspunkt. Die alte Verfassung kann sogar weiterhin gelten, weil Suspensionen nur Teile von ihr betreffen oder nur in Teilen des Staatsgebietes diktatorische Maßnahmen ergriffen werden oder – sofern sie völlig außer Kraft gesetzt ist – nur eine konkrete Ausnahme für einen begrenzten Zeitraum legitimiert. Aber das Ziel ist die Wiederherstellung des ursprünglichen verfassungsmäßigen Zustandes. Die kommissarische Diktatur ist in ihrem Selbstverständnis durch drei substantielle Merkmale charakterisiert, durch deren rationale Vernunft, deren Technizität und deren exekutiven Kern.58 Nur die (rationale) Vernunft kann diktieren und betrachtet das Volk bzw. die Masse als irrational, die durch die Ratio geführt, überlistet oder beherrscht werden muss. Nur sie kann die Triebe und Leidenschaften sowohl des Diktators als auch der Massen kontrollieren und beherrschen. „Die Vernunft diktiert“ – dies ist das Diktum von C. Schmitt.59 Alle rationalen Maßnahmen sind allein durch ihre Instrumentalität oder Technizität gerechtfertigt. Es muss dem Diktator darum gehen, einen bestimmten Erfolg herbeizuführen und hierbei allein die ‚richtigen‘ Instrumente einzusetzen. Erfolgreich ist eine solche Diktatur dann, wenn der status quo ante wieder hergestellt ist und das rein technische Interesse an staatlichen und politischen Dingen gebietet, auf bestimmte (verfassungs)recht-
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3. Die Politik der Verfassunggebung
liche Gebiete – zeitlich und sachlich begrenzt – keine Rücksicht zu nehmen. Schließlich ist sie eine exekutive Diktatur, der Diktator ist „Aktionskommissar.“60 Seine Maßnahmen müssen reibungslos vollzogen werden können. Die anderen politischen Institutionen, etwa im Rahmen der Gewaltenteilung, müssen sich dem Diktator und seinem angestrebten zweckmäßig-technisch „glatten Ablauf“61 unterwerfen. Im Gegensatz dazu ist die souveräne Diktatur dadurch charakterisiert, dass sie „in der gesamten bestehenden Ordnung den Zustand (sieht), den sie durch ihre Aktionen beseitigen will. Sie suspendiert nicht eine bestehende Verfassung kraft eines in diesem begründeten, also verfassungsmäßigen Rechts, sondern sucht einen Zustand zu schaffen, um eine Verfassung zu ermöglichen, die sie als wahre Verfassung ansieht.“62
Diese ‚wahre Verfassung‘ ist verfassungslos, ihr liegt keine strukturierende und die politischen Gewalten bindende bzw. limitierende Verfassung zu Grunde, sondern sie lebt von der prinzipiellen Bindungslosigkeit und lässt sich nicht rationalisieren. „Das Volk, die Nation, die Urkraft alles staatlichen Wesens, konstituiert immer neue Organe. Aus dem unendlichen, unfassbaren Abgrund entstehen immer neue Formen, die sie jederzeit zerbrechen kann und in denen sich ihre Macht niemals definitiv abgrenzt.“63
Die souveräne Diktatur ist grenzenlos, sie kann durch Dekrete, Rechtssetzung oder tatsächliche Akte welcher Art auch immer zeitlich und inhaltlich unbegrenzt agieren. Sie handelt nicht von der Situation her, sondern – sofern sie mit dem Zusatz ‚revolutionär‘ verknüpft ist – dauerhaft und weiß sich als solche zu etablieren, was unvermeidlich mit dem Einsatz ungebundener Gewalt verbunden ist. Mit dem ErmG vom 24. März 1933 war der Schritt von der kommissarischen zur souveränen Diktatur endgültig und unwiderruflich vollzogen. Zuvor durchlief die Weimarer Republik mehrere Schritte, die diesen Weg vorbereiteten, aber der endgültige Bruch wurde durch das ErmG vollzogen. Die zentralen Stufen der Außerkraftsetzung der Weimarer Reichsverfassung können hier nur kurz skizziert werden.64 Der erste Schritt war der Beschluss des Reichspräsidenten P. von Hindenburg, den erst zwölf Wochen zuvor gewählten Reichstag durch Erlass vom 1. Februar 1933 aufzulösen und Neuwahlen auszuschreiben. Die damalige Reichsregierung, eines der typischen Präsidialkabinette, die vom Reichspräsidenten ins Amt gebracht wurde, war am 30. Januar 1933 von Reichspräsident P. von Hindenburg ernannt worden und agierte mit A. Hitler als Reichskanzler. In dieser Regierung waren nationalsozialistische Minister in der Minderheit, es war eine eher rechtsautoritäre Regierung, die jedoch über keine Mehrheit im Reichstag verfügte. Den Einbezug anderer Parteien, v. a. des Zentrums, wollte die damalige Regierung nicht und setzte stattdessen auf Neuwahlen. Franz von Papen, damals Vize-Kanzler, machte den Vorschlag, dass die Wahl nach dieser Auflösung „die letzte sein
3.2. Das Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933
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sollte und eine Rückkehr zum parlamentarischen System für immer zu vermeiden sei.“65 A. Hitler als Reichskanzler stimmte dem natürlich zu und versicherte, dass die Neuwahl an der Zusammensetzung der gegenwärtigen Regierung nichts ändern könnte. Die Wahl war somit eine fiktive Wahl und die Begründung zur Auflösung des Reichstages widersprach bereits fundamental Geist und Buchstabe der Weimarer Verfassung. Sie stellt das Verhältnis zwischen Regierung und Parlament auf den Kopf. In der Begründung zur Auflösung hieß es, dass „nachdem sich die Bildung einer arbeitsfähigen Mehrheit als nicht möglich herausgestellt hat, löse ich nach Art. 25 der Reichsverfassung den Reichstag auf, damit das deutsche Volk durch Wahl eines neuen Reichstages zur neugebildeten Regierung des nationalen Zusammenschlusses Stellung nehmen kann.“66
Während nach der Verfassung die Regierungsbildung gemeinsame Aufgabe von Reichstag und Reichspräsident ist, die Regierung also als Ausschuss des Parlaments agiert, wird in der Auflösungsbegründung anders formuliert. Das Volk kann zur der (alten) Regierung „Stellung nehmen“. Indem allein eine ‚Stellungnahme‘ zu einer bereits existierenden Regierung angestrengt wurde und zudem diese Stellungnahme dem Volk zugesprochen wurde, wurde dem Parlament als der Institution, die über die Regierungsbildung entscheidet, seine zentrale Bedeutung genommen. Damit war der erste, aber bereits zentrale Schritt zu einem „antiparlamentarischen, plebiszitären Akklamationsregime“67 vollzogen. Zwar wurde die Auflösung unter Berufung auf Art. 25 legitimiert, aber für einen Vorgang instrumentalisiert, der durch diesen Artikel und seinen Geist nicht gedeckt war. Buchstabe und Geist der Verfassung wurden zudem durch verschiedene Notverordnungen verletzt, die den Wahlkampf unfair machten und die politische Opposition, vor allem die Sozialdemokratie, benachteiligte.68 Die Reichstagsbrandverordnung vom 28. Februar 1933 war der nächste Schritt. Einen Tag zuvor brannte der Berliner Reichstag und als einzig möglicher Brandstifter wurde der holländische Kommunist Marinus van der Lubbe von den Sicherheitskräften verhaftet. Ob er diesen Brand alleine gelegt oder ob er Mittäter hatte oder ob der Brand von den Nationalsozialisten selbst gelegt wurde, ist bis heute umstritten.69 Seine Instrumentalisierung durch die Nationalsozialisten dagegen nicht. Die entsprechende Notverordnung wurde durch Art. 48 (2) begründet und verabschiedet. Als wichtiges Instrument der kommissarischen Diktatur wurde sie von P. von Hindenburg erlassen und vom Reichskanzler A. Hitler, dem Reichsminister des Inneren W. Frick und dem Reichsminister der Justiz Dr. F. Gürtner gegengezeichnet. In Art. 1 werden die Grundrechte der Weimarer Verfassung „bis auf weiteres außer Kraft gesetzt“ und Aktionen „außerhalb der sonst hierfür bestimmten Grenzen“ ermöglicht. In Art. 2 wird die Reichsregierung ermächtigt, zur „Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung“ die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, falls dies in einem Lande nicht erfolgt. Der Begriff der
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3. Die Politik der Verfassunggebung
„Wiederherstellung“ deutet zwar auf die Wiederherstellung des status quo ante hin, jedoch wurde diese Formulierung von den politischen Kräften im Sinne eines zukünftig herzustellenden Zustandes umgedeutet, also eines status quo futurus. Als letzte Stufe und endgültigen Bruch mit Buchstabe und Geist der Weimarer Verfassung fungierte dann das bereits dargestellte ErmG vom 24. März desselben Jahres. Die nationalsozialistische Diktatur war nun etabliert und (verfassungs)rechtlich abgesichert. Besser: pseudo-(verfassungs)rechtlich und vor allem mittels ungebundener Gewalt abgesichert. Das Tor zur totalitären Gewaltanwendung und zur unbegrenzten Politik der Tötung (vgl. dazu Kap. 7) war nun endgültig und weit geöffnet.
3.3. Die diktierten Verfassunggebungen in der Nachkriegszeit in Deutschland: Die ‚disziplinierte‘ Westdemokratie gegen die ‚undisziplinierte‘ Volksdemokratie? Nach dem Ende des verlorenen Zweiten Weltkrieges prallten in Deutschland zwei unterschiedliche Verfassungskonzeptionen aufeinander. Sie standen stellvertretend für die unterschiedlichen Lehren, die aus dem Faschismus und dem Zweiten Weltkrieg gezogen wurden und die von den jeweiligen externen politischen Kräften in die innerdeutsche Diskussion eingebracht wurden. Die Westlichen Alliierten, v. a. die Amerikaner, bestanden auf einer Form der Demokratie, die man in Anlehnung an den Verfassungsrechtler Karl Loewenstein als „disziplinierte Demokratie“ bezeichnen kann.70 Sie war geprägt von der Furcht vor den Massen, deren Entflammbarkeit und Leidenschaftlichkeit man für eine wichtige, wenn nicht wesentliche Ursache für den Faschismus hielt und nun nach Formen der Demokratie suchte, die dagegen immun wären. Der Idee der Volkssouveränität, v. a. auch bei der Verfassunggebung, wurde größtes Misstrauen entgegengebracht. Man wollte sie so weit wie möglich einschränken und ein Institutionengefüge finden, das Politik moderiert und den reflektierten und rational agierenden politischen Eliten mehr Bedeutung zugesteht. Das Volk wurde misstrauisch betrachtet und man fürchtete sich vor seiner „pathetischen Emotionalität“71, auf die sich die faschistische Bewegung gestützt hatte. Demokratien hatten ihr gewaltenteilende und moderierende Institutionen entgegenzusetzen, weil sie darin das Allheilmittel gegen die Infektion des Volkes mit dem Bazillus der Leidenschaft sahen. Dies schlug sich schon im Prozess der Verfassunggebung nieder, aber fand seinen Niederschlag ebenso im Text der Verfassung. In der damaligen sowjetischen Besatzungszone bzw. der späteren DDR wurde dagegen das Volk verfassungspolitisch aufgewertet. Es sollte der zentrale Verfassungsgeber sein, der sich uneingeschränkt und deshalb souverän seine Verfassung geben sollte. In der angestrebten Volksdemokratie war das Volk die wichtigste
3.3. Die diktierten Verfassunggebungen in der Nachkriegszeit in Deutschland
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politische Größe, ihm sollte alle politische Macht zukommen und sie auch weitgehend ungebremst ausüben können. Dass Volk und kommunistische Partei identisch gesetzt wurden und das Volk innerhalb der Partei eine immer geringere Rolle spielte, wurde selbstverständlich ignoriert, aber gleichwohl war der Prozess der Verfassunggebung grundlegend anders organisiert als in der damaligen Westzone. Die Beteiligung des Volkes oder zumindest Teile von ihm waren dort realisiert und hat sich im Inhalt der Verfassung ebenso niedergeschlagen wie das Misstrauen gegenüber dem Volk in der westdeutschen. Die deutsche Verfassungsdiskussion verlief nicht autonom, sondern war in massiver Weise durch die Konflikte der Siegermächte um die deutsche Frage geprägt. Sie fanden in den Entwürfen bzw. späteren Verfassungen ihren ausdrücklichen Niederschlag.72 Die wesentlichen Konfliktpunkte waren sicherlich der Aufbau des Staates (föderal versus zentralistisch), die Wirtschaftsform (wesentlich Privateigentum versus wesentlich vergesellschaftet), das Ausmaß der Sozialisierung (moderat versus intensiv) und die Bodenreform (keine versus intensiv). Aber auch in Grundrechtsfragen waren Differenzen unübersehbar, auch wenn sie nicht dieselbe Bedeutung hatten wie die anderen Faktoren. Beide deutschen Verfassungen entstanden deshalb auch, aber nicht ausschließlich, als Gegenverfassung zur jeweils anderen: Die der SBZ als Gegenentwurf zum Grundgesetz und das Grundgesetz als Gegenentwurf zur Verfassung der SBZ. Aber beide unternahmen zugleich zwei weitere Abgrenzungen: einmal zur Verfassung der Weimarer Republik, wobei die SBZ-Entwürfe beim Grundrechtsteil erstaunliche Anleihen bei ihr nahmen, beim Regierungssystem dagegen – wie das Grundgesetz auch – völlig andere Wege gingen. Beide standen zudem in scharfer Abgrenzung zum nationalsozialistischen Totalitarismus. Diese dreifache Gegnerschaft, zu Weimar, zum Nationalsozialismus und der gegeneinander, prägte nicht nur die Politik der Verfassunggebung, sondern auch die jeweiligen inhaltlichen Ausprägungen. Wie vollzogen sich nun die Verfassunggebungen im Einzelnen? Ich beginne mit der Verfassunggebung in der damaligen Sowjetischen Besatzungszone und stelle dann den Entstehungsprozess des Grundgesetzes in dem Westzonen dar.
3.3.1. Die Politik der Verfassunggebung in der SBZ: Der Kampf um die Souveränität des Volkes In der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) versuchte man – ebenso wie in den Besatzungszonen der drei Westalliierten – die politischen Lehren aus dem Faschismus zu ziehen. In der SBZ verlief die Diskussion erheblich anders, ja fast entgegengesetzt zu der in den westlichen Zonen. Hier sollte das Volk nicht nur so direkt wie möglich an der Verfassunggebung beteiligt werden, sondern auch in
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3. Die Politik der Verfassunggebung
der Verfassung selbst und damit in der Politik eine herausragende Rolle spielen. Die Souveränität des Volkes sollte sich immer realisieren können und nicht durch die Verfassung eingeschränkt sein. Der verfassunggebende Ausschuss arbeitete dementsprechend öffentlich, die Bevölkerung wurde massiv in den Prozess der Verfassunggebung einbezogen. Aber das Volk sollte auch danach, in der ‚normalen‘ Politik, souverän sein in dem Sinne, als es sich bei der Gesetzgebung nicht durch ein (Verfassungs)Gericht oder andere institutionelle Mechanismen einschränken bzw. kontrollieren lassen sollte. Dem „Bonner Machwerk“, das ohne Beteiligung des Volkes entstanden war und auch dem Volk im politischen Prozess keine überragende Rolle einräumte, wurde die neue Verfassung entgegengestellt. Sie sollte für das gesamtdeutsche Volk gelten und den Willen des Volkes souverän zum Ausdruck bringen und nicht durch ein Verfassungsgericht oder andere Institutionen der Kontrolle unterworfen sein. Der Entwurf für eine neue Verfassung wurde am 10. August 1946 veröffentlicht und legte die wichtigsten Grundprinzipien dar, die allerdings im Verlauf der Verfassunggebung durch die SED-Spitze und z. T. durch die Sowjetische Militäradministration bzw. die Spitzen der KPdSU erheblich verändert wurden. Der Autor dieses Entwurfs war der Staats- und Verfassungsrechtler Karl Polak, der während des Nationalsozialismus im russischen Exil war und im März 1946 in die damalige SBZ zurückkehrte.73 Die politische Führung beauftragte ihn, einen ersten Entwurf zu formulieren. Die Verfassunggebung wurde von der sowjetischen Besatzungsmacht beschleunigt, weil sie nach der Sitzung des Rates der Außenminister der Alliierten im Juli 1946 in Paris zu der Ansicht gekommen war, dass eine einheitliche Deutschlandpolitik nicht mehr im Bereich des Möglichen lag. Dort hatte der amerikanische Außenminister James F. Byrnes einen Deutschlandplan vorgelegt, der eine weitgehende Föderalisierung Deutschlands vorsah und dem die Sowjetunion nicht folgen wollte. Auch die SED sollte dem entgegenwirken, indem sie möglichst schnell einen Entwurf für eine gesamtdeutsche Verfassung erarbeiten und breit in der (gesamt)deutschen Öffentlichkeit diskutieren sollte. Zudem waren in der SBZ die ersten demokratischen Wahlen, konkret zu den Kommunalparlamenten, für den Herbst 1946 geplant und die Bedeutung und Formen der kommunalen Selbstverwaltung weitgehend ungeklärt. Aber auch in den Ländern der westlichen Besatzungsmächte wurde die Verfassunggebung auf Länderebene in Angriff genommen, was die Föderalisierungstendenzen ebenfalls beschleunigte. Durch den Verfassungsentwurf wollte die Führung der SBZ ihren gesamtdeutschen Gestaltungswillen zum Ausdruck bringen und den Föderalisierungstendenzen entgegentreten. K. Polaks Entwurf war erstaunlich stark von der Weimarer Verfassung inspiriert, während sie bei der Verfassunggebung in den drei westlichen Zonen eher als Negativfolie diente. Er hielt fest, dass sich die „Diskussion um die zukünftige demokratische Staatsform Deutschlands (…) als Diskussion um die Weimarer
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Verfassung und die Weimarer Republik (entwickelt)“74, weil dort zum ersten Mal in der Geschichte die „Überwindung des Obrigkeitsstaates“ gelungen und der „Durchbruch zum demokratischen Staatswesen“ erfolgt sei.75 Aber sie hatte einen zentralen Mangel, weil der „Durchbruch zu einer wahren Volksherrschaft“ nicht vollzogen und das Volk weiterhin „Objekt der Staatsmacht“ und nicht sein Subjekt wurde.76 Der große Mangel an Weimar war, dass der „Reichstag, das einzige demokratische Organ der Weimarer Republik, von beiden Seiten in die Zange“ genommen wurde, Diese Zange bildete zum einen die Reichsregierung und die Staatsverwaltung und zum anderen die Justiz, die den Reichstag „langsam ab(würgten)“.77 In K. Polaks Entwurf gab es zwei Spalten. In der einen waren die Artikel oder Hinweise auf die WRV vermerkt, in der anderen waren die Formulierungen für die neue Verfassung abgetragen.78 Bei den Grundrechten und -pflichten sind die Überschneidungen unübersehbar, bei der Konstruktion des Regierungssystems dagegen sind keine Verweise vorhanden, hier ist die Absetzung von ihr überdeutlich. Dieser doppelte – positive wie negative – Bezug musste Auswirkungen auf die Grundstruktur der neuen Verfassung haben. K. Polak stellte die Souveränität des Volkes in den Mittelpunkt seiner Verfassungskonstruktion. Die Gewaltenteilungslehre, die auch ein Grundelement der Weimarer Verfassung war, sollte, ja durfte in der neuen Verfassung keine Rolle mehr spielen. Stattessen musste die Souveränität des Volkes bekräftigt werden und uneingeschränkt zum Ausdruck kommen. Die Volkskammer sollte „gleichsam die natürliche Fortsetzung des politischen Willens der Massen“ sein und die Kluft zwischen Staatsmacht und Volk schließen.79 Diese ‚natürliche Fortsetzung‘ sollte so erfolgen, dass bei der Kandidatenaufstellung nicht nur die politischen Parteien, sondern auch verschiedene gesellschaftliche Gruppierungen das Sagen haben, also Vereinigungen, Gewerkschaften, Frauen- und Jugendverbände u. ä. Diese Idee findet sich etwas abgeschwächt in Art. 56 des Entwurfs und wortgleich in der endgültigen Verfassung (Art. 43) wieder, im allerersten Vorentwurf war dies weitgehender gefasst. Untrennbar damit verbunden war das Verhältniswahlrecht und der Grundsatz der freien, gleichen, unmittelbaren und geheimen Wahl (Art. 54). Das Parlament ist das höchste Staatsorgan der Republik, in seiner Hand liegt die Gesetzgebung und die Kontrolle über die Verwaltung (Art. 53). In der endgültigen Verfassung ist die Souveränität des Volkes dagegen sehr viel weitgehender gefasst. Art. 50 der Verfassung formuliert klar und bündig: „Höchstes Organ der Republik ist die Volkskammer“ und diese Prämisse wird in der gesamten Verfassung durchgehalten. In der Hand des Parlaments liegt nun die Gesetzgebung, die „oberste Kontrolle über alle Regierungsmaßnahmen, Staatshandlungen, über die gesamte Verwaltung und Rechtsprechung.“ (Art. 40). Die Kontrolle über die Rechtsprechung und damit die Aufhebung der Gewaltenteilung war in dem Entwurf von K. Polak nicht vorgesehen, obwohl auch er eine verfassungsrechtliche
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Kontrolle der Gesetzgebung als Eingriff in die Souveränität des Volkes ablehnte. In den späteren Entwürfen ist diese Position radikalisiert. Nun wird zwar festgehalten, dass die Richter in ihrer Rechtsprechung unabhängig und nur der Verfassung und dem Gesetz unterworfen sind. Aber zugleich werden die obersten Richter auf Vorschlag der Regierung durch die Volkskammer gewählt, die selbst aber kein Vorschlagsrecht besitzt. Weit wichtiger, sie können durch die Volksvertretung abberufen werden, wenn sie gegen die Verfassung der Republik oder der Länder oder auch gegen Gesetze verstoßen. Wahl und Abwahl der Richter ist Ausdruck der Parlamentssouveränität, die sich auch auf die Rechtsprechung erstreckt und die tradierte, rechtsstaatliche Gewaltentrennung unterminiert. Denn im Gegensatz zu einer unabhängigen juristischen Verfassungsrechtsprechung wird die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen durch einen Verfassungsausschuss der Volksversammlung geprüft. Erneut wird hier die Vorstellung der Souveränität der Volksversammlung deutlich, weil sie – wenn auch über einen besonderen Ausschuss – die alleinige Berechtigung besitzt, Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen in die Wege zu leiten (Art. 4; Art. 63 (1) und Art. 66 (3)). Das Volk bzw. einzelne Individuen sind hiervon als direkte Akteure ausgeschlossen. Verfassungsänderungen sollten, sofern mindestens zwei Drittel der gesetzlichen Mitglieder anwesend sind, mit zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen von der Volksversammlung vorgenommen werden können (Art. 83). Die Regierung und einzelne Minister sind durch ein einfaches Misstrauensvotum abwählbar (Art. 82). Die Volkskammer wählt ein Präsidium, indem auch Vertreter der Bundesländer vertreten sind. Es soll die Versammlung einberufen und – weit wichtiger – auflösen, die verfassungsmäßigen Gesetze ausfertigen und verkünden, bei Verfassungsstreitigkeiten zwischen Republik und Ländern bzw. auch zwischen den einzelnen Ländern entscheiden und es kann nicht abberufen werden. Das Präsidium verfügt über außerordentliche Befugnisse und kann diese während der gesamten Legislaturperiode uneingeschränkt ausüben. Ein Präsidentenamt war in dem ersten Entwurf von K. Polak gar nicht vorgesehen, in späteren Entwürfen wird dieses Amt dann eingeführt und auf repräsentative Funktionen beschränkt. Die Wahl des Staatspräsidenten erfolgt durch die Volksversammlung und die Länderkammer, er kann aber auch – ähnlich wie die Regierung – durch eine Art Misstrauensvotum abgewählt werden, wobei allerdings eine Zweidrittelmehrheit erforderlich ist (Art. 103 des Entwurfs vom 3. Oktober 1949 und Verfassung vom 7. Oktober 1949). Die Verfassung umfasst einen weiten Grundrechtsteil, der die gängigen Grundrechte umfasst. Sie reichen von der Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz, der Gleichberechtigung von Mann und Frau über die persönlichen Freiheiten, wie Unverletzlichkeit der Wohnung, Postgeheimnis und Niederlassungsfreiheit über Meinungs-, Versammlungs-, Vereinigungs- und Pressefreiheit bis zum Schutz der
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Familie und der Ehe, der Freiheit der Kunst, Wissenschaft und Lehre bis zur Religionsfreiheit (Art. 6 bis 49). Die sozialen Grundrechte sind stark ausgestaltet ebenso wie die Vorgaben für die Wirtschaftsordnung. Hier wird die sozialistische Orientierung besonders deutlich, auch wenn das Privateigentum gewährleistet wird. Abschließend darf ein Kuriosum nicht unerwähnt bleiben: Die neue Verfassung garantiert allen Abgeordneten freie Fahrt in allen öffentlichen Verkehrsmitteln (Art. 70). Der Einfluss der sowjetischen Militäradministration und vor allem der sowjetischen Regierung ist unübersehbar. Alle Schritte wurden mit ihnen abgestimmt und mussten von dort genehmigt werden. Aber die sowjetische Besatzungsmacht bzw. die KPdSU griff nie öffentlich und direkt in den Prozess der Verfassunggebung ein.80 Im Vergleich zum (versuchten) Einfluss der Westmächte auf das Grundgesetz war der Einfluss der Sowjets moderat. Die gesamte Verfassungsdiskussion dauerte der Regierung der SBZ viel zu lange, weil mit jedem Tag die Chancen zur Beeinflussung der Diskussion in den Westzonen sanken. Endlich, am 8. November 1948, konnte der Entwurf im SED-Zentralsekretariat diskutiert werden. Ein Verfassungsausschuss beschäftige sich mit dem Entwurf und formulierte eine leicht geänderte Version, die am 14. November vom Parteivorstand der SED gebilligt und am 16. November 1948 im Neuen Deutschland veröffentlich wurde. Der weitere Verlauf der Verfassunggebung war kompliziert. Zunächst wurde der Entwurf in einer breiten öffentlichen Debatte diskutiert, wobei die Diskussion in Bürger- und Gemeindeversammlungen ebenso relevant war wie die in Schulen und Universitäten. Insgesamt wurden rund 15.000 Änderungsvorschläge unterbreitet, die dann in 52 Änderungen des Entwurfs ihren Niederschlag fanden, aber meist formale Aspekte betrafen. Grundlegenden Veränderungen an dem Entwurf fanden nicht statt. Im März 1949 wurde dieser Entwurf vom Volksrat bestätigt. Der sogenannte Dritte Volkskongress bildete einen Deutschen Volksrat, der sich als „provisorische Volkskammer“ konstituierte und einen Verfassungsausschuss einsetzte. Volkskongress und Volksrat waren keine von den Landtagen bzw. den kommunalen Volksvertretungen gewählten Institutionen, sondern setzten sich aus Delegierten der Massenorganisationen zusammen, in denen die SED klare Mehrheiten besaß. Beide Gremien waren am 15./16. Mai 1949 neu gewählt worden. Gegen den Widerstand vor allem der CDU (Ost) und der LPD wurde über Einheitslisten gewählt, die bereits vor der Wahl die Zusammensetzung der politischen Kräfte festgelegten und über die man nur mit Ja oder Nein in Gänze abstimmen konnte. Die neue Verfassung wurde somit von einem Gremium erarbeitet, dem „selbst die eingeschränkte Legitimation des (nur) von den Landtagen der 11 westdeutschen Länder gewählten Parlamentarischen Rates fehlte.“81 Im März 1949 legte der Volksrat dem nun Dritten Volkskongress einen Verfassungsentwurf vor, der
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von ihm am 30. Mai 1949 verabschiedet wurde. Weil in der Zwischenzeit alle Versuche einer gesamtdeutschen Verfassunggebung gescheitert waren und die Westzonen wie die Ostzone immer eigenständiger wurden, wurde am 7. Oktober der Deutsche Volksrat in „Provisorische Volkskammer“ umbenannt und die noch in der SBZ erarbeitete Verfassung mutierte dann zur Gründungsverfassung der DDR. Sie wurde am 7. Oktober 1949 durch ein eigenes Gesetz in Kraft gesetzt. Obwohl in der Diskussion um die Verfassunggebung die Souveränität des Volkes eine große Rolle gespielt hatte, war die demokratische Legitimität der Verfassung selbst äußerst gering. Es gab keine Wahl einer verfassunggebenden Versammlung oder zu einem demokratisch legitimierten Parlament, das neben der Gesetzgebung auch die Verfassung ausarbeitete. Auch wurde sie nie durch eine Volksabstimmung bestätigt. Allein die öffentliche Diskussion, die im Vergleich zu den Westzonen breit und umfassend war, gab ihr eine gewisse Legitimität, die aber nie durch ein formales Verfahren begleitet wurde. In allen Phasen wollten die politische Führung der SBZ und auch die sowjetische Militäradministration bzw. die Führung der KPdSU die Fäden in der Hand behalten. Das Interesse der herrschenden Staatspartei, den Prozess der Verfassunggebung weitgehend zu kontrollieren, war unübersehbar. Die upstream- wie auch die downstream-Legitimität82 der neuen DDR-Verfassung war somit außerordentlich gering. Aber sie legte die Grundlagen für die Phase der sogenannten „antifaschistisch-demokratischen Ordnung“, die dann 1968 von der neuen Verfassung abgelöst wurde, die der sozialistischen Phase den konstitutionellen Rahmen gab. Zuvor wurden jedoch drei wichtige Änderungen vorgenommen, die kurz erwähnt werden müssen. Seinen Anfang nahm dies mit einem Gesetz zur Ergänzung der Verfassung vom 26. September 1955, das im Zusammenhang mit der Gründung der Nationalen Volksarmee die allgemeine Wehrpflicht einführte. Das Änderungsgesetz zur Abschaffung der Länderkammer vom 8. Dezember war ein wichtiger Schritt der Zentralisierung des Regierungssystems. Schließlich wurde die Zentralsierung des Staates noch weiter getrieben, indem der Staatsrat eingeführt wurde, der die Institution des Staatspräsidenten zugunsten dieser neuen Institution ersetzte. Die neue Verfassung von 1968 enthielt wesentliche Änderungen im Vergleich zur 1949er Verfassung und sollte dem neuen Stand der historischen Entwicklung, der sozialistischen Phase der DDR, entsprechen. Am 1. Dezember 1967 schlug der Staatsratsvorsitzende Walter Ulbricht der Volkskammer die Bildung einer Kommission zur Erarbeitung einer sozialistischen Verfassung vor. Bereits einen Monat später wurde dieser Entwurf von W. Ulbricht in der Volkskammer vorgestellt. Dem schloss sich unmittelbar eine breite Diskussion in der Bevölkerung an. Tausende von öffentlichen Veranstaltungen folgten und endeten in insgesamt über Zehntausend eingegangenen Änderungsvorschlägen, die dann zu 118 Änderungen in der Präambel und bei 55 Artikeln führten.83 Allerdings blieben sub-
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stanzielle Änderungen weitgehend aus.84 Im Gegensatz zur 1949er Verfassung wurde sie durch einen Volksentscheid legitimiert. Am 6. April 1968 sprachen sich über 94 % der Bevölkerung für die neue Verfassung aus, die dann bereits am 9. April 1968 in Kraft trat. Die Änderungen der 1949er durch die 1968er Verfassung sind gravierend. Der Grundrechtskatalog ist nun erheblich eingeschränkt, es fehlen das in der alten Verfassung gewährte Widerstandsrecht (Art. 4 (1)), das Verbot der Pressezensur (Art. 9 (2)), das Auswanderungsrecht (Art. 10 (3)), das Streikrecht (Art. 14 (2)), das Recht auf die wirtschaftliche Freiheit des Einzelnen (Art. 19 (3)), die Gewährleistung des Privateigentums (Art. 22 (1)), die Freiheit von Kunst, Wissenschaft und Lehre (Art. 34 (1)) und schließlich die freie Berufswahl (Art. 35 (1)).85 Während die Gründungsverfassung noch eine Art Mischwirtschaft aus privatem und Volkseigentum vorsah, wird nun deutlicher von einer „sozialistische(n) Planwirtschaft“ (Art. 9 (3)) gesprochen, die auf dem „sozialistischen Eigentum an den Produktionsmitten (beruht)“ und sich gemäß den „ökonomischen Gesetzen des Sozialismus auf der Grundlage der sozialistischen Produktionsverhältnisse“ entwickelt (Art. 9 (1)). Der Schutz des sozialistischen Eigentums ist die Pflicht jeden Staatsbürgers, aber zugleich werden das private Eigentum und das Erbrecht gewährleistet (Art. 11 (1)). Das Regierungssystem wird durch die Einführung des Staatsrates dramatisch zentralisiert. Nicht nur weil die Vertretung der Länder durch die Länderkammer entfällt, sondern auch durch seine außerordentlich weitreichenden Kompetenzen. Er ist das mächtigste Staatsorgan, das die politischen Fäden in seiner Hand konzentriert. Er ist zwar formal ein Organ der Volkskammer und von ihr gewählt, aber seine weitreichenden Kompetenzen machen es zu einer Herrschaftsinstitution über die Volkskammer. Seine Mitglieder können nicht abberufen werden, er hat zudem Gesetzgebungskompetenz in Form von Staatsratserlassen, die eine neue Rechtsform darstellen. Sie müssen zwar der Volkskammer zur Bestätigung vorgelegt werden, die jedoch zu einem „reinen Formalakt“86 herabgesunken ist. Auch kann er Beschlüsse mit rechtsverbindlicher Kraft fassen. Der Ministerrat bildet – in Analogie zur Regierung in der BRD-Verfassung – ein Organ, das die politischen, ökonomischen, kulturellen und sozialen Angelegenheiten organisiert. Der Vorsitzende wird nicht von der Volkskammer, sondern vom Staatsratsvorsitzenden vorgeschlagen und ernennt dann selbständig den Ministerrat. Er arbeitet auf der Grundlage der Beschlüsse und Erlasse der Volkskammer und des Staatrates, der dadurch unmittelbaren Einfluss auf die Regierung ausüben kann (Art. 79 (1)). Mit dieser Verfassung war die Transformation von der antifaschistisch-demokratischen Epoche in die des entwickelten Sozialismus abgeschlossen. Sie formulierte nun die verfassungsrechtlichen Prämissen, die für diese neue Phase der gesellschaftlichen Entwicklung prägend sein sollten.
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3.3.2. Die Politik der Verfassunggebung in den Westzonen bzw. der BRD Die Erarbeitung des Grundgesetzes war ein komplizierter Prozess, der nicht nur außerordentlich konflikthaft war, sondern auch verschiedene Stufen durchlief. Am wichtigsten waren die Konflikte zwischen den Deutschen und den drei westlichen Alliierten, die den Prozess prägten und bei dem sich letztlich die deutschen Positionen mehr oder weniger durchsetzten. Aber ebenso wie in der SBZ waren die Vorgaben der Siegermächte von großer Bedeutung. Das Grundgesetz (GG) ist nicht in nationaler Selbständigkeit entstanden, sondern war durch Vorgaben und Interventionen in den laufenden Prozess der Verfassunggebung in gewisser Weise vorbestimmt und stand unter dem Genehmigungsvorbehalt der Alliierten. Zudem wurde es als vorläufige Verfassung konzipiert und bekam deshalb den Namen ‚Grundgesetz‘, weil die Verfassunggeber keine Verfassung für das gesamte Deutsche Volk erarbeiten wollten. In der SBZ war die Verfassunggebung erheblich schneller gegangen und weiter fortgeschritten, aber die Idee eines einheitlichen Deutschlands fand seinen Niederschlag im vorläufigen Charakter des Grundgesetzes. Es sollte nur so lange Geltung besitzen, bis sich das gesamte Deutsche Volk in Freiheit eine eigene Verfassung geben würde. Im Prozess der Verfassunggebung mussten sich die politischen Kräfte – ähnlich wie in der SBZ – von einer dreifachen Gegnerschaft absetzen: von den Grundideen der Weimarer Reichsverfassung, von denen der Nationalsozialisten und von denen der in der SBZ-Verfassung zum Ausdruck kommenden. Diese drei verfassungspolitischen Kon-Texte spielten eine bedeutende Rolle, vor allem der gerade militärisch niedergeschlagene Nationalsozialismus und seine menschenverachtende Politik waren als Negativfolie immer präsent. Aber auch die Lehren aus Weimar waren wichtig, denn nach Ansicht vieler Verfassungsexperten war die angebliche Fehlkonstruktion der Weimarer Reichsverfassung mitverantwortlich, wenn nicht der alleinige Grund für den Untergang dieser Republik. Zugleich tauchte im Osten ebenfalls ein Konkurrent auf, die neue SBZ-Verfassung, die – wie oben angedeutet – als expliziter Gegen- und Konkurrenzentwurf zum Grundgesetz ausgearbeitet wurde – zeitlich wie auch inhaltlich. Die Verfassung des Parlamentarischen Rates hatte einen Vor-Text, den Herrenchiemseer Entwurf. So wie der Polak-Entwurf der SBZ-Verfassung vorausging, so hatte auch das Grundgesetz in diesem Entwurf seinen Vorläufer. Der Autor dieses Vorlaufs war jedoch ein Kollektiv, das durch Beschluss der Ministerpräsidenten der Länder nach einer Besprechung am 15./16. Juli 1948 im Jagdschloss Niederwald bei Rüdesheim institutionalisiert wurde. Es sollte ein Verfassungsausschuss gegründet werden, der aus 11 Mitgliedern bestehen und in das jedes (westliche) Bundesland einen Vertreter entsenden sollte. Auf Vorschlag des bayrischen Ministerpräsidenten sollte das Gremium auf der Insel Herrenchiemsee tagen, um „unbeeinflusst vom amtlichen Getriebe gründliche Arbeit zu leisten.“87
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Am 25. Juli wurde dann ein formeller Beschuss zur Einsetzung dieses Gremiums gefasst, das vom 10. bis zum 23. August 194588 tagte und dann seinen abschließenden Entwurf vorlegte. An dessen erstem Arbeitstag wurde der Entwurf der SBZ-Verfassung in (Ost-)Berlin öffentlich gemacht und setzte die westdeutschen Verfassunggeber unter erheblichen Zeitdruck. Neben dem jeweiligen Vertreter eines Bundeslandes, meist Parteipolitiker mit großem verfassungspolitischen Sachverstand, waren auch Mitarbeiter zugelassen, die aus Verwaltung, Justiz oder Wissenschaft kommen konnten. Zugegen waren hochgradig belastete Personen aus der Zeit des Nationalsozialismus ebenso wie aus dem Exil zurückgekehrte Personen. Es kam zu der Situation, dass Theodor Maunz89, der zu einem der führenden Rechtswissenschaftlicher im Nationalsozialismus aufgestiegen war, auf Hans Nawiasky90 traf. Er war als Jude nach einer bereits 1931 stattgefundenen Hetzkampagne an der Münchener Universität und nach Übergriffen auf sein Haus im Jahr 1933 vor den Nationalsozialisten geflohen. An diese Fakultät wurde dann 1933 ausgerechnet Th. Maunz berufen, der dann dort während der ersten Jahre der nationalsozialistischen Terrorherrschaft lehrte. Verfassunggebung auf einer Insel hatte große symbolische Bedeutung. Die Abgeschiedenheit von den laufenden parteipolitischen Auseinandersetzungen war dadurch nicht nur symbolisch, sondern auch faktisch gegeben. Eine gewisse Überparteilichkeit konnte sich zusätzlich durchsetzen, weil die Personen nicht nach Parteienproporz bestimmt wurden, sondern von den jeweiligen Länderregierungen delegiert wurden und fast ausschließlich (Verfassungs)Juristen waren. Diese wurden zwar auch nach parteipolitischen Erwägungen ausgewählt, aber konnten hinsichtlich ihrer verfassungspolitischen Positionen dennoch relativ frei und weitgehend unabhängig von den politischen Parteien agieren. Dadurch war das „Diskussionsklima und die Diskussionsproblematik im Verfassungskonvent völlig anders als in den einst von den politischen und sozialen Kräften eines Volkes (…) beherrschten verfassunggebenden Versammlungen der deutschen Länder.“91
Die Suche nach einer ‚guten‘ Verfassung war dominant, die in Abgrenzung und Auseinandersetzung mit den drei Gegnerschaften die Lehren aus der Geschichte ziehen sollte. Auch hatten die Ministerpräsidenten die „Aufgaben des Verfassungskonvents nur vage umrissen“92, so dass dieser relativ frei agieren konnte. Im Parlamentarischen Rat, der dann die endgültige Fassung des Grundgesetzes erarbeitet, waren die wichtigsten Mitglieder des Herrenchiemseer Konvents erneut vertreten und übten einen großen Einfluss aus. Umgekehrt waren die Fragen, über die in Herrenchiemsee keine Einigung erzielt werden konnte, auch im Parlamentarischen Rat heftig umstritten. Durch den Herrenchiemseer Entwurf
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wurden somit wesentliche verfassungspolitische Prämissen des späteren Grundgesetzes vorgeprägt. Zu klären war zunächst, ob Deutschland als Staat untergegangen war oder ob es sich um dessen Reorganisation handelt. Erstere Position wurde vor allem von H. Nawiasky vertreten, die Idee der Reorganisation von Carlo Schmid. Der Staat – so diese Position – sei nicht untergegangen, sondern habe allein seine Handlungsfähigkeit verloren und müsse nun neu organisiert werden. Dies habe von „dem in Ländern gegliederten Volk des neu zu organisierenden Gebietes auszugehen.“93 Faktisch aber wurde durch das Grundgesetz ein Staatsgebilde erschaffen, das „angesichts der Vollständigkeit des vorgelegten Verfassungskonzepts“94 kein Provisorium wurde, sondern ein funktionierender und selbstständiger Staat, so wie in der SBZ und der späteren DDR ein ebensolcher Staat entstand. Auch die Grundstruktur des Regierungssystems wurde von ihm vorgegeben, wobei das konstruktive Misstrauensvotum die Regierung gegenüber dem Parlament ebenso stärken sollte wie die weitgehend auf symbolische Bedeutung reduzierte Rolle des Bundespräsidenten. Allerdings konkurrierten hier zwei Alternativen, weil einerseits ein Bundespräsident und andererseits ein Bundespräsidium vorgeschlagen wurde, das aus dem Präsidenten des Bundestages, des Bundesrates bzw. Senates und dem Bundeskanzler bestehen sollte. Direktdemokratische Verfahren waren weitgehend ausgeschlossen, allein Verfassungsänderungen sollten durch Plebiszit vorgenommen werden können. Schließlich war die Bedeutung der Grundrechte unumstritten, in dem Entwurf wurde – wie später im Grundgesetz auch – betont, dass die Grundrechte Gesetzgeber, Richter und Verwaltung unmittelbar binden und Einschränkungen das „Grundrecht als solches unangetastet lassen“ müssen (Art. 21 HChE). Schließlich war ein starkes Bundesverfassungsgericht vorgesehen, das – neben anderen Funktionen – auch den Gesetzgeber hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit seiner Gesetze kontrollieren sollte. Uneinigkeit bestand vor allem hinsichtlich des föderalen Staatsaufbaus. Der Konvent sah einen stärker föderalen Staatsaufbau vor, was vor allem darin seinen Grund hatte, dass die Mitglieder Bevollmächtigte der jeweiligen Länderregierungen waren und deren Selbständigkeit stark betonten. Strittig war auch die Vertretung der Länder auf Bundesebene. Sollte es ein Bundesrat werden, indem die Mitglieder der Länderregierungen agierten oder ein Senat, der aus Einzelpersonen besteht, die von den Länderparlamenten gewählt werden sollten? Hier traf man keine Entscheidung, sondern formulierte beide Positionen verfassungsrechtlich aus. Auch der Ausnahmezustand wurde geregelt, er kann durch die Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrates/Senats ausgerufen werden; das Parlament ist hierbei nicht beteiligt. Alle Notverordnungen treten nach vier Wochen außer Kraft, es sei denn, sie werden vom Bundestag oder seinem Ausschuss verlängert. Hier ist er beteiligt und ebenso kann er Verordnungen, die die Grund-
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rechte betreffen, außer Kraft setzten (Art. 111 HChE). Der Herrenchiemseer Entwurf – so kann man zusammenfasend sagen – „(trägt) formalistischen Charakter, der justizstaatliches Denken verrät. Von einem Verständnis der Demokratie als Gesellschafts- und Lebensform, die zugleich den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang durchdringen und auf die Verwirklichung sozialer Probleme eine Antwort finden müsse, kann im Herrenchiemseer Entwurf – der wichtigsten Vorlage für den Parlamentarischen Rat! – kaum gesprochen werden.“95
Diese Vorlage wurde dann vom Parlamentarischen Rat zum Grundgesetz verarbeitet. Seine Zusammensetzung war formaler als die des Konvents, weil die Alliierten vorgaben, dass auf je 75.000 Einwohner ein Abgeordneter vom Landtag oder der Bürgerschaft des jeweiligen Landes gewählt werden sollte. Dies wurde auf den Anteil der Parteien in den jeweiligen Landtagen nach dem Proporzprinzip heruntergerechnet und die Fraktionen konnten ihre Kandidaten bestimmen. Dem Parlamentarischen Rat gehörten dann insgesamt 65 stimmberechtigte Mitglieder (und fünf nicht stimmberechtigte aus Berlin) an, wobei die beiden größten Parteien, die CDU/CSU und die SPD, jeweils 27 Delegierte stellten, die FDP (bzw. FDP/DVP-LDP) fünf, die DP, das Zentrum und die KPD jeweils zwei. Die meisten seiner Mitglieder waren bereits in der Weimarer Republik politisch aktiv gewesen, noch Ende des 19. Jahrhunderts geboren und der Altersdurchschnitt war deshalb relativ hoch. Immerhin waren neben den berühmten ‚Vätern‘ des Grundgesetzes auch vier ‚Mütter‘ an der Verfassunggebung beteiligt. Es waren Frederike Nadig und Elisabeth Selbert (SPD), dann Helene Weber (CDU) und Helene Wessel (Zentrum). Es versteht sich von selbst, dass die Parteien ihre wichtigsten Verfassungspolitiker in den Rat schickten. Diese waren auch schon bei der Erarbeitung des Herrenchiemseer Entwurfs dabei und auch bei den Verfassungsentwürfen ihrer eigenen Parteien federführend. Die organisierten Interessen waren im Rat unterrepräsentiert, aber ihr Einfluss war gleichwohl erheblich und sie brachten ihn auf andere Weise zur Geltung.96 Die Mitglieder unterlagen im Prinzip keinem imperativen Mandat, sondern sollten frei handeln und entscheiden können. Allerdings wurden die Vertreter der SPD mehr oder weniger stark einem imperativen Mandat der Parteiführung unterworfen, die sich in einem Konfliktfall massiv gegenüber den Mitgliedern des Rates durchsetze.97 Die erste konstituierende Sitzung fand am 1. September 1949, direkt nach dem offiziellen Festakt im Museum König, in der Pädagogischen Akademie statt. Die ‚richtige‘ Arbeit des Rates wurde durch eine Generaldebatte am 8. und 9. September eröffnet und durch eine lange und grundsätzliche Rede von C. Schmid (SPD) eingeleitet. Die Hauptarbeit erfolgte in insgesamt sechs Ausschüssen98, die – im Gegensatz zum Hauptausschuss – unter Ausschluss der Öffentlichkeit tagten.
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Beim Grundrechtsverständnis des Rates herrschte weitgehend Übereinstimmung, auch wenn die Begründungen vor allem bei den beiden großen Parteien sehr unterschiedlich waren. Während die christlichen Parteien die Grundrechte aus naturrechtlichen und von Gott gewollten Prämissen ableiteten, betonten die Sozialdemokraten zwar auch die „Gültigkeit vorstaatlicher Rechte“, aber machten hierbei klar, dass die Grundrechte „das Grundgesetz regieren“ müssen. Der Staat „soll nicht alles tun können, was ihm gerade bequem ist (…), sondern der Mensch soll Rechte haben, über die auch der Staat nicht soll verfügen können.“ – so der SPD-Politiker C. Schmid.99 Auch die anderen Parteien – sieht man von der FDP und der KPD ab – hatten ein naturrechtlich begründetes Grundrechtsverständnis. Hierbei setzte die SPD aber auf rational-naturrechtliche Grundlagen, die Christdemokraten, Zentrum und DP eher auf christlich-neothomistische Prämissen. Die Folge jedoch war ein ausgeprägter Grundrechtskatalog, der sich allerdings auf die individuellen Freiheitsrechte beschränkte und konkrete soziale Rechte negierte. Zu heftigen Diskussionen führte die Frage, wie weit in Grundrechte eingegriffen werden dürfe und – wenn ja – ob auf der Grundlage von Gesetzen. Letztlich setzte sich eine Position durch, dass in die Rechte auf Leben, körperliche Unversehrtheit und Freiheit der Person „nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden“ darf – so der abschließende Art. 2 GG. Dagegen wollten manche Mitglieder die Absolutheit der Grundrechte stärker verankert wissen, weil diese auch eine Schutzfunktion gegenüber dem Gesetzgeber haben sollten. Die Formulierung, dass in die Grundfreiheiten durch ein förmliches Gesetz eingegriffen werden kann, wurde zeitweilig vom Rechtsausschuss abgelehnt, weil nach seiner Meinung „eine solche Bestimmung zwar der Willkür von Verwaltung und Rechtsprechung, nicht aber der oft viel gefährlicheren des Gesetzgebers Schranken gesetzt hätte.“100 Diese Position konnte sich aber letztlich nicht durchsetzen. Die Angst vor der Willkür des Staates, konkret von Verwaltung, Rechtsprechung und Gesetzgeber, fand verfassungsrechtlich keinen Niederschlag, aber die Angst vor dem Missbrauch der Grundrechte zum Kampf gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung. Das Grundgesetz sollte zwar eine Ordnung schaffen, „die jedem einzelnen Deutschen die Freiheitsrechte schützt, ohne die ein Leben in Würde und Selbstachtung nicht möglich ist.“ Aber zugleich „soll sich jener nicht auf die Grundrechte berufen dürfen, der von ihnen Gebrauch machen will zum Kampf gegen die Demokratie und die freiheitliche Grundordnung“101 – so C. Schmid, der die vorherrschende Meinung im Rat wiedergab. Die Diskussionen um die Struktur des Regierungssystems waren wenig kontrovers, hier bildete sich schnell ein Konsens heraus und eine grundsätzlichere Auseinandersetzung darüber fand nicht statt, wohl auch aus Zeitgründen. Zwar war dem Rat klar, dass die Struktur des Regierungssystems ein „Kernstück jeder demokratischen Verfassung“ sei102, aber eine gründliche Diskussion blieb gleich-
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wohl aus. Allein durch den Antrag zweier FDP-Abgeordneter, den Staatspräsidenten direkt zu wählen und ihn zudem mit exekutiven Befugnissen auszustatten, wurde kurz eine grundlegende Diskussion angestoßen, aber dies blieb bei allen anderen Parteien ohne Echo. Die Idee eines parlamentarischen Systems mit einem indirekt gewählten und exekutiv sehr schwachen Präsidenten dominierte – nicht zuletzt wegen der Weimarer Erfahrungen. Wie sahen nun die letztlich gefundenen Regelungen aus? Die Stabilität der Regierung war die zentrale Prämisse, die von allen Parteien geteilt wurde, und durch zwei konstitutionelle Regelungen realisiert werden sollte. Bereits im Herrenchiemseer Entwurf war eine starke Regierung vorgesehen, die zwar vom Vertrauen des Parlaments abhängig, aber durch ein konstruktives Misstrauensvotum vor dem Parlament geschützt sein sollte (Art. 90 (1) HChE). Das Grundgesetz hat dann fast wortgleich formuliert (Art. 67 (1) GG) und ein Regierungschef kann nur dann vom Parlament entlassen werden, wenn es zugleich mit der Mehrheit seiner Mitglieder einen Nachfolger wählt. In fast allen Verfassungsentwürfen der Parteien waren ähnliche Regelungen vorgesehen, weil die Stabilität der Regierung eine wichtige Grundidee für die neue Verfassung war. Ergänzt wurde diese Idee durch die hervorgehobene Stellung des Bundeskanzlers. Das konstruktive Misstrauensvotum, so die Erwartung, bringe unvermeidlich „eine herausgehobene und sehr starke Stellung des Kanzlers“103 mit sich. Zudem ist der Bundeskanzler allein für die Regierungsgeschäfte verantwortlich und nur er – und nicht der Bundestag – kann einzelne Minister ernennen oder entlassen, wobei dieser Vorgang formal vom Bundespräsidenten vollzogen wird (Art. 64 GG). Verstärkend tritt die sogenannte Richtlinienkompetenz hinzu (Art. 65 GG), die bereits im Herrenchiemseer Entwurf vorgesehen war (Art. 93 HChE). Auch die Minister sollten auf Vorschlag des Kanzlers ernannt und entlassen werden, aber immer war hier die Zustimmung des Bundestages erforderlich (Art. 89 HChE). Das Grundgesetz bzw. der Parlamentarische Rat sind hier noch radikalere Wege gegangen und haben den Bundeskanzler dadurch weiter gestärkt. Die Regierung ist ausschließlich seine Regierung. Schließlich kann die Bundesregierung Gesetze des Bundestages zurückweisen, die entweder Ausgabenerhöhungen oder Einnahmenminderungen mit sich bringen und Abstimmungen darüber im Bundestag aussetzen; zudem kann sie innerhalb von vier Wochen verlangen, dass eine erneute Abstimmung über solche Gesetze erfolgen muss (Art. 113 (2) GG). „Stabilitätsdenken und Antiparteienaffekt (…) waren die Paten der genannten Bestimmungen“104 und der Parlamentarische Rat hat sich auf die „Stärke der Regierung und deren Effizienz“ konzentriert und „kaum auf die Bedeutung der Parlamentsfunktion.“105 Entsprechend wurde die Stellung des Staatspräsidenten geschwächt. Er vollzieht weitgehend symbolische Funktionen und ist dem Tagesgeschäft der Politik
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entzogen. Allein bei Regierungskrisen wird er bedeutsam. Umstritten war zunächst, ob ein staatsrechtliches Provisorium überhaupt einen Staatspräsidenten brauche und eine solche Institution nicht falsche Signale aussende. Bei allen Parteien wurde nach anfänglichen Differenzen klar, dass man nicht nur einen Staatspräsidenten brauche, sondern dass er auch nicht direkt vom Volk gewählt werden sollte. Unklar dagegen war der Wahlmechanismus bzw. das Wahlgremium, insbesondere ob und wenn ja, wie die Länder involviert werden sollten. Ob die Landtage an der Wahl beteiligt werden oder die Länderregierungen Delegierte bestimmen sollten, war hochgradig umstritten. Dies insbesondere zwischen SPD und CDU/CSU, wobei letztere eher den Einfluss der Landesregierungen bei der Wahl stärken wollten. Eine Einigung konnte erst in letzter Minute und über komplizierte Verfahren erreicht werden.106 C. Schmid sprach sogar davon, dass der Bundespräsident nicht eigentlich gewählt, sondern gekürt werden sollte. „Gerade die Wahl des Bundespräsidenten ist (…) eine ‚Kür‘, nicht eine Wahl im beliebigen Sinne des Wortes. Der Bundespräsident muss durch einen einmaligen Gesamtakt, der alle Elemente der Spontaneität in sich tragen muss, ‚gekürt‘ werden. Darin liegt seine wahre Autorität.“107
Ebenso umstritten war seine Funktion bzw. seine staatsrechtliche Bedeutung. Schließlich einigte man sich darauf, dass er „den ausgleichenden Faktor zu bilden, die vielfach divergierenden politischen und wirtschaftlichen Interessen zusammenzufassen und miteinander zu versöhnen“ habe, wie es das Mitglied A. Süsterhenn formulierte.108 Vielfach wurde seine Bedeutung als die eines ‚pouvoir neutre‘ beschrieben, der über den politischen Kräften und Strömungen zu stehen habe. Entsprechend wurden seine Kompetenzen bestimmt und vor allem auf symbolische Funktionen reduziert. Er vertritt den Bund völkerrechtlich, er ernennt und entlässt hohe Bundesbeamte und -richter, fertigt die Gesetze aus, übt das Begnadigungsrecht aus und schlägt dem Bundestag den Kandidaten für die Bundeskanzlerwahl vor. Hinter all dem stand das Bestreben, den vermeintlichen Konstruktionsfehler der Weimarer Reichsverfassung zu vermeiden, die ein semipräsidentielles Regierungssystem109 institutionalisiert hatte und dessen Fehlkonstruktion für das Scheitern verantwortlich gemacht wurde. Seine Entpolitisierung wurde zunächst darin deutlich, dass er „ohne Aussprache von der Bundesversammlung gewählt“ wird (Art. 54 GG) und wesentlich auf repräsentative Funktionen beschränkt ist. Allein in Zeiten einer Regierungskrise soll ihm explizit politische Verantwortung zufließen, vor allem dann, wenn der Bundestag selbst in einem zweiten Wahlgang keinen Kanzler wählen kann. Dann kann er entweder den gescheiterten Kandidaten ernennen oder den Bundestag auflösen (Art. 63 (4) GG). Nur auf „Ersuchen“ kann er einen Bundesminister verpflichten, seine Amtsgeschäfte bis zur Ernennung eines Nachfolgers weiterzuführen (Art. 69 (3) GG).
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Verfassungsänderungen – eine wichtige und politisch bedeutsame Kompetenz – können nur durch die Zustimmung von zwei Dritteln des Bundestages und des Bundesrates vorgenommen werden. Hierbei dürfen die Gliederung des Bundes in Länder, die Mitwirkung der Länder an der Gesetzgebung und die in den Art. 1 und 20 festgeschriebenen Grundsätze nicht aufgehoben werden (Art. 79 (3) GG). Im Verlauf der Nachkriegsgeschichte erfolgten vielfältige Verfassungsänderungen.110 Sie konzentrierten sich zeitlich auf die Jahre 1953 bis 1970, wobei in den 50er Jahren die meisten Änderungen erfolgten und dann erneut in den Jahren 1990 bis 1994. Bei letzteren waren dies meist Erfordernisse, die sich aus dem Einigungsprozess ergaben, während in den 50er Jahren die ‚Lücken‘ und Mängel des Grundgesetzes korrigiert wurden. Hier erfolgte der „Ausbau des Provisoriums zur Vollverfassung.“111 Inhaltlich bezogen sich die meisten Änderungen auf die Gesetzgebungskompetenzen des Bundes, das Finanzwesen und auf die BundLänder-Beziehungen, während bei der Struktur des Regierungssystems faktisch keine Änderungen erfolgten. Mit den Stimmen von jeweils zwei Dritteln des Bundestages und des Bundesrates waren die Hürden zu Veränderungen im Vergleich zu den Verfassungen anderer europäischer Länder sehr niedrig und sie erfolgten zudem ohne die Beteiligung des Volkes durch Plebiszite, eine europäische Ausnahmeregelung. Die vielleicht umstrittensten Änderungen betrafen die Einführung der Bundeswehr und die damit verbundene Wehrpflicht (1956) und die Notstandsgesetze (1968), die verschiedene Regelungen über den Ausnahmezustand sowie über den Verteidigungs- und Katastrophenfall umfassten. Die politischen Konflikte bei diesen Verfassungsänderungen waren ausgesprochen intensiv. Schließlich und weniger umstritten war die Reform der Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern im Jahr 1969. Auch wurde vor der Bundestagswahl 1953 die Fünf-ProzentKlausel in das Wahlrecht eingefügt, was allerdings durch einfaches Gesetz möglich war. Kleine und unbedeutende Parteien sollten dadurch aus dem Bundestag ausgeschlossen werden. Der Einigungsprozess von 1989/1990 erforderte verschiedenste Verfassungsänderungen. Auch durch die Europäisierung wurden manche Änderungen unvermeidlich, vor allem in der Folge der Verträge von Maastricht von 1992 und Lissabon im Jahr 2009. In den grundlegenden Fundamenten erwies sich das Grundgesetz jedoch als erstaunlich robust, während die meisten Änderungen bei eher technisch-funktionalen Aspekten vorgenommen wurden. Das Verfassungsgericht spielt als Hüter der Verfassung eine bedeutende Rolle. Während in der SBZ-Verfassung das Volk souverän in dem Sinne ist, dass die Volkskammer unbeschränkt Gesetze verabschieden konnte, sollte im GG die Gesetzgebung der Kontrolle des Verfassungsgerichts unterliegen. Seine Bedeutung ist groß, es hat seit seiner Einrichtung im Jahr 1951 viele Initiativen des Gesetzgebers in die Schranken verwiesen bzw. bestehende Regelungen für verfassungs-
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3. Die Politik der Verfassunggebung
widrig deklariert. Vor allen bei der Parteienfinanzierung war seine Rolle außerordentlich wichtig, aber auch bei der Durchsetzung der Grundrechte und in vielen anderen Bereichen. Die Richter des Bundesverfassungsgerichts werden gewählt, zur Hälfte vom Bundestag und vom Bundesrat. Der Bundestag wählt mittels eines Wahlausschusses, dem 12 Mitglieder aller Fraktionen angehören, der Bundesrat dagegen im Plenum. Um eine Parteipolitisierung der Richterwahl zu vermeiden, ist in beiden Verfahren eine Zweidrittelmehrheit notwendig; gleichwohl wechselt das Vorschlagsrecht zwischen den Parteien, was einer Politisierung dieser Wahl Vorschub leistet. Die Richter müssen mindestens 40 Jahre alt sein und eine Befähigung zum Richteramt besitzen oder eine Rechtsprofessur an einer deutschen Universität innehaben. Ihre Amtszeit beträgt 12 Jahre, Wiederwahl ist nicht möglich. Die demokratische Legitimität des Grundgesetzes ist nur schwach ausgeprägt. Weder wurde eine verfassunggebende Versammlung gewählt noch wurde es durch eine Volksabstimmung bestätigt. Die insgesamt 65 Mitglieder des Parlamentarischen Rates wurden von den Landtagen der westlichen Länder nach Parteienproporz ernannt, die Auswahl lag in den Händen der jeweiligen Parteifraktionen. Die politischen Parteien entschieden exklusiv über die Zusammensetzung sowohl des Parlamentarischen Rates als auch des vor ihm tagenden Herrenchiemseer Sachverständigenausschusses. Auch wurde das Grundgesetz nicht – wie von den Alliierten mehrfach eingefordert – durch ein Referendum legitimiert, sondern von den Landtagen gebilligt.
3.4. Die Runden Tische und die Idee der verfassunggebenden Selbstbeschränkung in den osteuropäischen Demokratisierungsprozessen Die in Mittel- und Osteuropa stattgefundenen Transformationen zu Demokratie und Marktwirtschaft sind oft und – wie ich meine – fälschlicherweise als Revolutionen bezeichnet wurden. Verfassunggebung in revolutionären Situationen bedeutet immer und unvermeidlich die Konstitution einer souveränen verfassunggebenden Gewalt, die ohne jegliche Einschränkungen eine neue Verfassung gibt. Der Revolutionsbegriff verdunkelt aber gerade das welthistorisch Neue, das in diesen Transformationen seinen Niederschlag gefunden hat. Die Besonderheit der in Mittel- und Osteuropa (MOE) stattgefundenen Systemwechsel ist gerade in der bewussten Absetzung vom traditionellen Revolutionsbegriff zu sehen. Sie stellten ihn nicht nur grundsätzlich in Frage und erklärten ihn als geschichtlich überholt, sondern entwickelten zugleich ein welthistorisch neues Modell der Verfassunggebung. Die Begrifflichkeiten variieren, sie reichen von der ‚koordinierten Transformation‘ über die Idee und Praxis der Selbstbeschränkung oder der ‚radi-
3.4. Die Runden Tische
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kalen Kontinuität‘112 bis zu ‚verhandelten Übergängen‘ – aber alle vermeiden den Revolutionsbegriff, der das welthistorisch Neue dieser Verfassunggebungen nicht zur Geltung kommen lässt. Wie vollzogen sich nun diese koordinierten Transformationen und welche Differenzen kann man im Vergleich zu anderen Wegen der Demokratisierung feststellen? Welche Rolle spielen hierbei die Massen und die politischen Eliten, konkret die alten kommunistischen Eliten und die sich neu herausgebildeten oppositionellen Kräfte? Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede lassen sich in den jeweiligen Ländern beobachten? Ich werde in diesem etwas längeren Teil in drei Schritten vorgehen. Ich kläre zunächst, ob der Zusammenbruch der sozialistischen Regime eine Revolution (wenn auch mit Adjektiven) war oder ob der Begriff der ‚koordinierten Transformation‘ das Neue dieser grundlegenden Änderungen präziser markieren kann (Kap. 3.4.1.). Ich werde dann die Phasen der Systemwechsel und die Rolle der Massen und Eliten in den mittel- und osteuropäischen Staaten in vergleichender Perspektive darstellen (Kap. 3.4.2.). Abschließend fasse ich die Ergebnisse zusammen und begründe, warum die ‚koordinierten Transformationen‘ in Mittelund Osteuropa ein grundlegend neues Modell des Systemwechsels und der damit verbundenen Verfassunggebung in die Geschichte eingeführt haben (Kap. 3.4.3.).
3.4.1. „Koordinierte Transformation“? Konzeptionelle Annäherung und verfassungstheoretische Überlegungen Um es erneut zu betonen: Die Systemwechsel waren keine Revolutionen, sondern koordinierte Transformationen, in denen die oppositionellen Kräfte bewusst darauf verzichteten, die Massen dauerhaft zu mobilisieren und sich als souveräne (verfassunggebende) Gewalt zu konstituieren, um der Gesellschaft ein neues und revolutionäres Programm aufzuerlegen. Stattdessen trachteten sie danach, den Status der Rechts- und Verfassungslosigkeit nie eintreten zu lassen und der Gesellschaft allein Verfahren mit offenem Ausgang zur Gestaltung ihrer gesellschaftlichen Ordnungen zur Verfügung zu stellen. Aber sie wollten während der unmittelbaren Transformation keine substantiellen Ordnungsvorstellungen realisieren. Welche zentralen definitorischen Momente umfasst der Revolutionsbegriff? Es gibt viele und unterschiedliche Begrifflichkeiten, aber man kann sie alle auf einen gemeinsamen Nenner zurückführen, der vier definitorische Merkmale umfasst, die alle gleichzeitig realisiert sein müssen:113 •
Der Bruch mit den konstitutionellen Grundsätzen der bisherigen Verfassung, die vollständig delegitimiert ist;
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• •
3. Die Politik der Verfassunggebung
die Konstitution einer souveränen, verfassunggebenden Gewalt, die der Gesellschaft eine neue politische und/oder soziale bzw. ökonomische Ordnung oktroyiert; die Mobilisierung der Massen, die die revolutionäre Machtergreifung durch ihre Aktionen unterstützen oder selbst die Macht ergreifen; und schließlich die Anwendung von Gewalt, weil zwei Gruppen unvereinbare Ansprüche auf die Macht in einem Staat stellen und sich die alte Elite nicht freiwillig aus ihren Machtpositionen zurückzieht.
Der Kampf um die Souveränität, der aus den unvereinbaren Machtansprüchen der kämpfenden Gruppen entspringt, ist ein, vielleicht das zentrale Merkmal von Revolutionen und die souveräne Gewalt ist an keine ihr übergeordneten normativen Prämissen oder Rechtssätze gebunden. Im Gegensatz zu Reformen, die sich innerhalb der Regeln und Institutionen eines bestehenden (politischen) Systems vollziehen, das nicht vollständig delegitimiert ist, sind Revolutionen durch einen abrupten Bruch mit dem bestehenden Verfassungs- und Institutionengefüge und dem gewaltsamen Austausch der alten Elite verbunden. Sicherlich können auch systemische, ökonomische, soziale und politische Änderungen innerhalb und mit Hilfe des bestehenden Institutionensystems vollzogen werden, aber zentral ist, dass bei Reformen das alte politische Regime entweder unberührt bleibt oder mit den Regeln zur Änderungen von Regeln verändert wird. Es kommt aber nicht zu einem Bruch mit diesen Regeln, in dem eine neue Gruppe als souveräne Gewalt neue Regeln setzt. Im Gegenteil, sie verfügen – ebenso wie die politischen und wirtschaftlichen Eliten – nach wie vor über eine breite legitimatorische Basis. Revolutionen dagegen setzen an die Stelle des alten Institutionengefüges ein komplett neues, das von der souveränen verfassunggebenden Gewalt des Volkes gegeben wird und die Konstituierung ebendieser souveränen Gewalt voraussetzt. Die Aneignung der souveränen Gewalt muss sich nicht unbedingt in einem gewaltsamen Akt vollziehen, sie kann sich ebenso durch freie Wahlen zu einer verfassunggebenden Versammlung vollziehen, wie etwa nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland durch die Wahl der Weimarer Reichsversammlung. Aber zentral ist die Ausarbeitung einer neuen konstitutionellen Ordnung durch die souveräne verfassunggebende Gewalt des Volkes, weil die alte ihre Legitimität vollständig verloren hat. Um die Besonderheiten der mittel- und osteuropäischen Transformationen genauer zu sehen, ist eine Erinnerung an verfassungstheoretische Grundsätze hilfreich. Die Kompetenz zur Änderung einer Verfassung ist eine Kompetenz-Kompetenz, die von einer gegebenen Verfassung verliehen wird und die aus logischen und systematischen Gründen nicht dazu verwendet werden kann, genau diese Verfassung außer Kraft zu setzen.114 Sie dient allein dazu, die „Erhaltung der Kontinuität im geschichtlichen Wandel“115 zu bewirken und ist mit einem „Ver-
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3.4. Die Runden Tische
bot, die Identität der Verfassung und mit ihr die Kontinuität der rechtlichen Grundordnung des Gemeinwesens aufzugeben“116, untrennbar verbunden. Deshalb ist es eigentlich unmöglich, die Änderungsregeln einer Verfassung zu benutzen, um eine Verfassung mit einer völlig neuen Identität und völlig neuen normativen Prämissen zu kreieren. Dies geht nun dann, wenn die alte Verfassung bereits politisch und rechtlich tot ist.117 Umgekehrt aber steht mit der alten, jedoch bereits ‚toten’ Verfassung ein institutioneller Rahmen bereit, der die Konstituierung einer souveränen verfassunggebenden Gewalt des Volkes faktisch überflüssig macht und zugleich ein semantisches Vokabular der Selbstbeschränkung für beide Seiten, die oppositionellen Kräfte wie die alten Machthaber, bereitstellt. Die alten Machthaber müssen nicht die revolutionäre Gewalt des Volkes fürchten, sondern können mit den Oppositionellen einen Übergang verhandeln, in dem sie während und auch nach der Transformation einen rechtlich und institutionell geschützten Rahmen haben, in dem sie sich als politische Kräfte bewegen können. Und die oppositionellen Kräfte können gegen das Ancien Régime um die Macht kämpfen, ohne Gewalt anwenden zu müssen. Was wir in Mittel- und Osteuropa beobachten konnten ist ein Grenzfall der Verfassungstheorie und -praxis, die man weder mit dem Begriff der Reform noch dem der Revolution analytisch angemessen bezeichnen kann. Der Begriff, der diesen Grenzfall analytisch angemessen reflektiert, ist der bereits oben eingeführte der „koordinierten Transformation.“118 Um ihn konzeptionell exakter zu fassen und von anders gelagerten Begriffen abzusetzen, ist eine Vier-Felder-Matrix hilfreich. Sie kombiniert die die bisher diskutierten zwei Dimensionen, die Kontinuität/Diskontinuität der (verfassungs)rechtlichen Strukturen und die Anwesenheit/Abwesenheit einer tiefen legitimatorischen Krise. Schaubild 2: Typen von systemischem Wandel Legitimationskrise
Ja Verfassungskontinutät Nein
Ja
Nein
koordinierte Transformation
Reform
Revolution
Staatsstreich (coup d’état)
Quelle: eigenes Schaubild.
Koordinierte Transformationen sind – wie Revolutionen auch – durch eine tiefgreifende Krise der Legitimität der institutionellen (und oft ökonomischen) Ordnung begleitet, die die Autorität der Machtelite, bindende Entscheidungen zu
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3. Die Politik der Verfassunggebung
treffen, nachhaltig und unwiderruflich in Frage stellt. Gleichwohl vollzieht sich der Wandel – wie bei Reformen – innerhalb des bestehenden rechtlichen Rahmens, ohne dass sich eine souveräne verfassunggebende Gewalt des Volkes konstituiert, die der Gesellschaft eine neue politische und/oder ökonomische Ordnung diktiert. Im Gegenteil, die verhandelnden politischen Kräfte setzen ausdrücklich auf konstitutionelle Kontinuität, um den Boden des Rechts nicht zu verlassen und um einseitige Ordnungssetzungen zu verhindern. Jedoch, und das unterscheidet die mittel- und osteuropäische Situation von traditionellen Reformen, verfügen die alten Machthaber über keine legitimatorische Basis mehr, grundlegende Änderungen selbst in Gang zu setzen. Dazu mussten sie die oppositionellen Kräfte während des Übergangs in das alte Machtgefüge kooptieren und sich mit ihnen koordinieren, um eine revolutionäre Situation zu vermeiden. Nach den verhandelten Übergängen mussten sie in der neuen institutionellen Ordnung, insbesondere bei den ersten freien Wahlen, mit ihnen konkurrieren. So entstanden keine unvereinbaren Ansprüche auf die politische Macht, weil die alten Eliten nicht auf die gewaltsame Verteidigung ihrer Macht setzten, sondern als „Helden des Rückzugs“119 agierten. Da auch koordinierte Transformationen immer mit der Mobilisierung der Massen verbunden sind und sie eine bedeutende Rolle spielen, ist die Frage nach der Bedeutung von Eliten und Massen gleichbedeutend mit der Frage nach den jeweiligen konkreten und empirisch beobachtbaren Untertypen von koordinierten Transformationen, die in den jeweiligen Ländern unterschiedliche Ausdrucksformen fanden. In der ehemaligen DDR dagegen war die Ausgangslage sehr anders und der Prozess der Verfassunggebung ebenfalls (vgl. unten Kap. 3.5.).
3.4.2. Revolution oder „koordinierte Transformation“? Zum Charakter des Systemwechsels in Mittel- und Osteuropa Die in der Transformationsforschung gängige Unterteilung der „modes of transition“ oder auch „modes of extrication“120 unterscheidet vier Grundtypen, die allen Transformationen, sei es in Südeuropa, Lateinamerika, Asien oder Mittelund Osteuropa, unterlegt wurden. Zunächst Transitionen durch Pakte, die dann entstehen, wenn „elites agree upon a multilateral compromise among themselves“; durch Zwang, sofern „elites use force unilaterally and effectively to bring about regime change against resistance of the incumbents”; dann durch Reform, sofern „masses mobilize from below and impose a compromised outcome without resorting to violence“ und schließlich durch Revolution, „when masses rise up in arms and defeat the previous authoritarian rules militarily.“121 Überträgt man dieses Kategoriensystem (zu) schematisch auf MOE, dann betreibt man „concept-strechting“: Man findet dann Transitions durch Revolution
3.4. Die Runden Tische
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in Rumänien, durch Reform in der ehemaligen Tschechoslowakei, durch Pakte in Bulgarien, Polen und Ungarn und durch Zwang in Albanien.122 Das Problem dieser Konzepte sehe ich darin, dass sie keine Differenzierung zwischen den unterschiedlichen Transformationen vornehmen, sondern bestimmte, an den südeuropäischen und lateinamerikanischen Fällen gewonnene Kategorien über unterschiedlichen Transitions hinweg anwenden. Aber während es sich in den lateinamerikanischen und südeuropäischen Transitions zur Demokratie um Wechsel der politischen Regime handelt, vollzog sich in MOE eine vierte Welle, die mit einen kompletten Systemwechsel und dem damit verbundenen Problem der Simultaneität von politischer und ökonomischer, ja zum Teil auch territorialer Transformation konfrontiert war.123 Auch wenn ich die damit verbundenen Überspitzungen hinsichtlich der Komplexität dieser Transformationen nicht teile,124 so markieren diese Überlegungen jedoch die Sonderstellung der MOE Transformationen, die eine unmittelbare Übertragung der Transitionskonzepte fragwürdig erscheinen lässt. Stattdessen scheint es mir sinnvoller, die Besonderheiten MOE generell als koordinierte Transformationen zu markieren und dann nach Übereinstimmungen und Differenzen innerhalb dieser einen Gattung und nicht zwischen unterschiedlichen Gattungen von Transformationen zu fragen. Das Leitkonzept ‚koordinierte Transformation‘ kann dann mit Subtypen innerhalb des Konzepts operieren und neue Gesichtspunkte aufdecken, für die die anderen Konzepte ‚blind‘ sind. In einem Vergleich der Transformationen zwischen Ungarn und Polen hat der polnische Politologe Jerzy J. Wiatr festgehalten, dass „(…) there is a number of explanations for this difference. Neither the political cultures – with interesting similarities – nor the socio-economic situation will suffice, however. The explanation should be sought in the way in which the negotiated revolution has taken place, in the behaviour of the main actors (on part of both the former regime and the opposition), in the legal framework chosen for the first stage of democratic transformation, and in the role of the leaders.”125
J. Wiatr weist darauf hin, dass wir es zwar in Polen und in Ungarn mit koordinierten Transformationen zu tun haben, aber gleichwohl mit zwei unterschiedlichen Subtypen innerhalb dieser Gattung. Und er weist zudem auf drei wichtige Variablen hin, die diese Differenz ausmachen könnten: Das Verhalten der zentralen Akteure, die Rolle von politischen Eliten bzw. herausgehobenen Führungspersönlichkeiten und die Bedeutung der neuen institutionellen Architektur. Generell kann man vermuten, dass sich in den anderen Ländern, wie etwa der ehemaligen Tschechoslowakei, Rumänien, Albanien, Bulgarien u. a., weitere Untertypen finden lassen, die man ebenfalls als Untertypen innerhalb des Genus ‚koordinierte Transformation‘ konzeptionalisieren kann – und nicht als Revolutionen, Reformen oder Staatstreich. Genau dies will ich im Folgenden versuchen und hierbei insbesondere die Rolle von Eliten und Massen beobachten.126
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3. Die Politik der Verfassunggebung
3.4.2.1. Polen: Der Runde Tisch als Paradigma der Transformation Am Anfang stand Polen und der Anfang ist immer am schwersten. Es gab kein historisches Vorbild, an dem man sich hätte orientieren können und alle Beteiligten sind mit falschen Vorstellungen in die Verhandlungen am Runden Tisch (RT) gegangen. Voraussetzung für die Einrichtung des Runden Tisches war u. a. eine grundlegende Neueinschätzung der politischen und ökonomischen Ausgangslage durch die reformorientierten Kräfte in der polnischen KP und dem Militär. Sie mussten anerkennen, dass die Opposition in Form der Solidarność und anderer Kräfte kein vorübergehendes, sondern ein dauerhaftes Phänomen ist und Ausdruck einer grundlegenden und nicht zu korrigierenden Legitimationskrise des alten Regimes. Ökonomische Reformen konnten deshalb nicht ohne den Einbezug der oppositionellen Kräfte realisiert werden, was umgekehrt bedeutete, das Monopol einer politischen Kraft auf die politische Macht aufzugeben.127 Seinen institutionellen Niederschlag fand diese Einschätzung im Runden Tisch, dessen erste öffentliche Sitzung am 6. Februar 1989 begann. An ihm verhandelten die Reformer innerhalb der militärischen und politischen Elite und die moderaten Kräfte der Opposition über die zukünftigen Spielräume der Zivilgesellschaft. Die Verhandlungen bezogen sich anfänglich auch auf wirtschaftliche Reformen und andere Fragen, aber diese Gespräche führten – wie später in den anderen Ländern MOE auch – zu keinen Ergebnissen. Alle substantiellen sozio-ökonomischen Fragen der neuen Gesellschaftsordnung waren keinem Kompromiss zugänglich, aber man konnte sich darauf einigen, Verfahren zu verhandeln, über die dann in einem nächsten Schritt die substantiellen Fragen entscheiden werden sollten. Infolgedessen wurden v. a. verfassungsrechtliche und institutionelle Fragen verhandelt. Der Verlauf und die Ergebnisse der RT-Verhandlungen sind weitgehend bekannt und ich zeichne sie hier nur in groben Strichen nach. Für die reformorientierten Kräfte in der kommunistischen Partei war relevant, dass sie im Amt des Staatspräsidenten eine Vetoposition hatten, der den Verlust ihrer politischen Macht kompensieren sollte. Vier seiner Machtbefugnisse waren zentral und standen im Mittelpunkt des Konflikts. Zunächst sein Recht, Dekrete mit Gesetzeskraft zu erlassen, dann sein Vetorecht gegenüber Gesetzen des Sejm, auch das Recht der Parlamentsauflösung und schließlich seine außen- und innenpolitischen Kompetenzen. Zudem sollte er nicht in freien Wahlen, sondern vom Sejm und dem Senat gewählt werden, in denen die ‚gewählten‘ kommunistischen Abgeordneten über klare Mehrheiten verfügten. Im Sejm sollten in den ersten Wahlen allein 35 % der Sitze frei gewählt werden, so dass die kommunistische Mehrheit in der zentralen gesetzgebenden Kammer gewährleistet war. Beides, die undemokratische ‚Wahl’ des Staatspräsidenten und die im Wahlgesetz festgelegte 65 %-Mehrheit der Kommunisten, musste mit massivem Widerstand der Opposi-
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tion rechnen. Kurz vor dem Scheitern der Gespräche wurde die Blockade der Verhandlungen durch einen Vorschlag von A. Kwasniewski, einem der wichtigen Verhandlungsführer der Regierung, aufgelöst. „The silent deadlock was interrupted by Kwasniewski’s extemporaneous suggestion: ‚How about electing the president by Sejm and the Senate which, in turn, will be elected freely?’ ‚This is worth thinking’, said Geremek. The opposition did not care about the Senate but was attracted by the idea of free elections in general. The party went along, seeing in Kwasniewski’s proposal a road to electing their own candidate with some measure of legitimacy. Thus, through mutual self-interest, a compromise was reached, one of the most significant decisions of the Round Table, that is free elections to the Senate.”128
Die Logik der Machtteilung wird hier überdeutlich und die weiteren Verhandlungen drehten sich dann darum, welche Befugnisse jeweils Präsident und Senat im neuen Verfassungsgefüge haben sollten. Diese Verhandlungen waren nur deshalb erfolgreich, weil zentrale Konflikte nicht öffentlich, sondern geheim und unter Vermittlung der katholischen Kirche in Gesprächen im Kloster Magdalenka außerhalb von Warschau beigelegt wurden. Die Massen waren an diesen Verhandlungen nur ‚indirekt‘ beteiligt. Sie fungierten als fiktives Drohpotential, das aber im Extremfall auch faktisch einsetzbar gewesen wäre. Die Legitimationskrise des alten Regimes war so dramatisch, dass allen Beteiligten klar war, dass die Massen jederzeit mobilisierbar waren und eine erneute Verhängung des Kriegsrechts wie 1980/1981 keine realistische Option mehr war. Das Ergebnis der ersten Wahlen in Polen kennen wir. Solidarność gewann – bis auf einen unabhängigen Kandidaten – alle Sitze im frei gewählten Senat und alle der 35 % frei wählbaren im Sejm. Dies stellte die am Runden Tisch vereinbarten Ergebnisse so grundlegend in Frage, dass in einer Ad-hoc-Revision eine neue Regierungszusammensetzung mit Regierungschef Tadeusz Mazowiecki von der Opposition vereinbart wurde. Gleichwohl blieb es bei der Idee der Machtteilung: Die Opposition besetzte die Mehrheit der Ministerposten, gewährte aber – auch mit Rücksicht auf die Sowjetunion – den alten Eliten bestimmte Ministerposten, u. a. für Innen- und Verteidigungspolitik so wie für auswärtige ökonomische Beziehungen. Zudem hatte Staatspräsident Wojciech Jaruzelski die Zeichen der Zeit erkannt und signalisierte bereits im Juli 1990 die Bereitschaft zum Rücktritt; zu groß und zu deutlich war der Legitimationsverlust des alten Regimes. In einer Direktwahl des Staatspräsidenten gewann der Führer der Solidarność, Lech Walesa, gegenüber dem amtierenden Ministerpräsidenten T. Mazowiecki, der bereits im ersten Wahlgang scheiterte. Der Prozess der Verfassunggebung blieb kompliziert und vollzog sich über die sog. „Kleine Verfassung“ bis zur endgültigen Verabschiedung einer Verfassung im Mai 1997. Sie wurde mit einer denkbar knappen Mehrheit durch ein Referendum angenommen; bei einer Wahlbeteiligung von nur 43 % stimmten gerade einmal 54 % der Wahlberechtigten für die Verfassung.
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3. Die Politik der Verfassunggebung
Beide Bedingungen für eine koordinierte Transformation waren gegeben: zunächst eine tiefgreifende Legitimationskrise des alten Regimes, die dazu führte, dass die reformorientierte Elite innerhalb des herrschenden Blocks keine andere Möglichkeit für Reformen sah, als Teile der moderaten und verhandlungsbereiten Opposition einzubeziehen. Die Logik der Machtteilung fand ihren Ausdruck in einer bestimmten institutionellen Architektur des Regierungssystems, wobei alle Änderungen der Verfassung und anderer Institutionen immer den Gang der Verfassungsänderung oder den der normalen Gesetzgebung nahmen; aber nie trat eine Situation ein, in der der Boden des (Verfassungs)Rechts verlassen wurde. Verfassungsrechtliche Kontinuität bei radikalem Bruch mit der alten kommunistischen Verfassung. Immerhin wurde die neue Verfassung durch ein Referendum bestätigt, sie hatte also die Legitimität des Volkes. Aber die souveräne verfassunggebende Gewalt des Volkes hat sich nie konstituiert. 3.4.2.2. Ungarn Obwohl auch in Ungarn alle wesentlichen Fragen am Runden Tisch verhandelt wurden, entstand die Verfassung nicht ausschließlich nach der Logik der Machtteilung. Stattdessen wurden viele zentrale Fragen durch Volksentscheid entschieden. Sechs Tage nach der verheerenden Wahlniederlage der Kommunisten in Polen begannen die RT-Verhandlungen. Während – wie in Polen – alle Verhandlungen über inhaltliche Fragen der Politik, wie Wirtschafts- oder sozialstaatliche Reformen, scheiterten, waren die über Verfahrensfragen weitgehend erfolgreich. Das neue Wahlgesetz, das eine reine Addition der Vorschläge der Opposition und der Reformer beinhaltete, wurde vom alten, kommunistisch dominierten Parlament verabschiedet. Auch wurden alle Grundfragen der neuen Verfassung verhandelt, wobei die zentralen Konflikte bei der Wahl und den Machtbefugnissen des Staatspräsidenten ausbrachen. An diesen Fragen aber, wer den Präsidenten (Parlament oder Direktwahl durch das Volk) und wann er (vor oder nach den Parlamentswahlen) gewählt werden sollte und welche Machtbefugnisse er haben sollte, zerbrach der Runde Tisch. Um einen vollständigen Bruch der Verhandlungen zu verhindern, stimmte ein Teil der Opposition einem Kompromissvorschlag der Reformkommunisten zu, wobei die dafür notwendigen Verfassungsänderungen erneut vom Parlament mit Hilfe der Regeln zur Änderungen der Verfassung – innerhalb weniger Stunden und fast ohne Diskussion – verabschiedet wurden. Der radikale Teil der Opposition suchte außerhalb von Verhandlungen eine Entscheidung über ein Plebiszit, mit dem zugleich auch die Wahlchancen der oppositionellen Parteien bei den ersten freien Wahlen erhöht werden sollten. Mit der denkbar knappen Mehrheit von 50,14 % der Stimmen – das entsprach genau 6101 Stimmen – war der Volksentscheid bei einer Wahlbeteiligung von rd. 60 % erfolgreich.129 Die Massen wurden nicht auf die Straße, sondern in
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die Wahllokale mobilisiert. Gleiches galt auch für die ersten freien Wahlen, die das Ungarische Demokratische Forum (MDF) gewann und mit einer der beiden liberalen Parteien (der SZDSZ) eine Regierungskoalition bildete. Zusammen hattes sie wegen des hohen disproportionalen Effekts des Wahlsystems mit nur 52,7 % der Wählerstimmen eine Mandatsmehrheit von über 72 %, so dass sie nicht nur über die verfassungsändernde Mehrheit, sondern über die zur Verabschiedung einer gesamten neuen Verfassung verfügte. Dies sollte nach dem Koalitionsvertrag in der ersten Legislaturperiode erfolgen. In einem Akt der Selbstbeschränkung einigte man sich jedoch, die sog. „Methode der radikalen Kontinuität“ fortzuführen und Verfassungsänderungen wie die Verabschiedung einer komplett neuen Verfassung nur im Konsens mit den oppositionellen Parteien zu vollziehen. Der verfassunggebende Ausschuss des Parlaments wurde paritätisch (und nicht proportional zu den Mandatsanteilen) besetzt und jeder Beschluss dieses Ausschusses konnte nur mit Zustimmung von fünf der insgesamt sechs (im Parlament vertretenen) Parteien gefasst werden. War bei bestimmten Fragen eine Einigung nicht möglich, so blieb die Regelung der alten (kommunistischen) Verfassung automatisch in Kraft, was die verfassungsrechtliche Kontinuität erneut bekräftige. Erst im März 1996 wurde dann ein „Entwurf für die Grundzüge einer neuen Verfassung“ fertig gestellt, der vom Parlament verabschiedet werden konnte. Bei dieser Abstimmung stimmten dann mehrere Regierungsmitglieder der inzwischen an die Macht gekommen Nachfolgeorganisation der Kommunistischen Partei nicht für diese Grundzüge, so dass nur eine erhebliche Anzahl von Verfassungsänderungen verabschiedet werden konnte. Die neue ungarische Verfassung war dann die grundlegend veränderte alte und ist es bis zum 1. Januar 2012 geblieben.130 Sie war das Ergebnis eines Elitenkompromisses und wurde dem Volk nie zur Abstimmung vorgelegt. Während des gesamten Verfassunggebungsprozesses wurde die Methode der „radikalen Kontinuität“131 angewendet, nie und zu keinem Zeitpunkt wurde der Boden des (Verfassungs)Rechts verlassen, während die anderen grundlegenden Fragen, wie die Wirtschaftsreformen und die Umgestaltung des Sozialstaates, mit einfachen Mehrheiten, aber begleitet durch erbitterte parteipolitische Kontroversen, durch die jeweiligen Parlamentsmehrheiten verabschiedet wurden. Aber dieses „post sovereign paradigm“132 war immer gefährdet, wie der Fall Ungarn im Besonderen zeigt. Wegen dieser Gefährdung und potentiell einseitigen Verfassungsänderungen wurden 1995/1996 erhebliche Änderungen an der Verfassung vorgenommen. Sie bezogen sich vor allem auf die Regelungen, nach denen eine gänzlich neue Verfassung verabschiedet werden kann. Wie bereits oben erwähnt, ermöglicht das extrem disproportionale Wahlrecht verfassungsändernde Zweidrittelmehrheiten mit bereits rd. 50 % der Wählerstimmen. Da es Bestrebungen gab, mit diesen Wählerquoten einseitig die Verfassung zu ändern, wurde
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3. Die Politik der Verfassunggebung
einer Verfassunggebung mittels dieser Quoten ein Riegel vorgeschoben. Dies sollte in Zukunft nur noch mit einer Vier-Fünftel-Mehrheit möglich sein, was es in der Regel unvermeidlich machte, oppositionelle politische Parteien in diesen Prozess miteinzubeziehen. Entgegen dieser Regel verabschiedete die Orbán-Regierung ihre neue Verfassung im April 2011, die mit Beginn des Jahres 2012 in Kraft trat. Sie wurde – entgegen dem alten Verfassungstext – nur mit einer Zweidrittelmehrheit verabschiedet und beinhaltete einen grundlegenden Wandel hin zu einer national-autoritären Regierungsform.133 Es war ein einseitiges Diktat einer politischen Partei, im konkreten Fall von FIDESZ, die wegen des disproportionalen Wahlrechts über mehr als Zweidrittel der Stimmen im Parlament verfügte. Mit dieser Mehrheit, die Buchstabe und Geist der ungarischen Verfassung widersprach, wurde die neue Verfassung beschlossen und in Kraft gesetzt. Die Idee der post-souveränen Verfassunggebung wurde damit verabschiedet und die der souveränen erneut installiert. Erschwerend trat hinzu, dass die FIDESZ-Regierung das Parlament zur souveränen Institution erklärte und so das Parlament zur verfassunggebenden Versammlung erhob, die dann mit seiner Zweidrittelmehrheit eine neue Verfassung gab. Dieser im Kern verfassungswidrige Prozess der Verfassunggebung hatte selbstverständlich weitreichende Auswirkungen auf die Substanz der Verfassung. Sie unterscheidet sich von der alten dramatisch und nach einer Beurteilung durch die sogenannte „Venedig-Kommission“, die den Europäischen Rat in zentralen Verfassungsfragen berät und dessen Beurteilung die ungarische Regierung verlangte, ist sie eine problematische, ja in Teilen autoritäre Verfassung.134 Sie bemängelte in ihrem Bericht vom Juni 2011 nicht nur den einseitigen, wenig transparenten und zum Teil undemokratischen Prozess der Verfassunggebung wie auch die zu schnelle Verabschiedung, sondern auch viele der Neuregelungen selbst. Sie kritisierte unter anderem die Beschränkung der Befugnisse des Verfassungsgerichts, die zu hohe Anzahl an Zwei-Drittel-Gesetzen, die von nachfolgenden Regierungen ohne diese Mehrheit nur schwer geändert werden können, das starke Vetorecht des Haushaltsrates gegenüber Parlamentsbeschlüssen, unklare Definitionen der Pressefreiheit und von Minderheitenrechten. Auch das unklare Verhältnis zu den im Ausland lebenden ungarischen Minderheiten wurde kritisiert. Als ebenso problematisch wurden bestimmte Formulierungen in der Präambel betrachtet, etwa die unklaren Bezugnahmen auf die „historische Verfassung“ Ungarns als Rechtsmaßstab und der Ausschluss der in Ungarn lebenden Minderheiten aus der „ungarischen Nation“. Durch weitere verfassungsändernde Gesetze, die mit Zweidrittelmehrheit von FIDESZ im Parlament durchgedrückt wurden, wurden im März und April 2013 vor allem die Rechte des Verfassungsgerichtes eingeschränkt. Es darf sich unter anderem nicht mehr auf die Rechtsprechung des Gerichts vor Inkrafttreten der
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neuen Verfassung berufen und Verfassungsänderungen nur noch formal, aber nicht mehr substantiell beurteilen. Auch kann die Meinungsfreiheit zum Schutz der „Würde der ungarischen Nation sowie von nationalen und konfessionellen Gemeinschaften“ eingeschränkt werden – eine im Kern beliebig ausweitbare Leerformel. Der weitere Umbau der Verfassung, nur ein Jahr nach der Verabschiedung der neuen Verfassung, macht überdeutlich, dass die neue Verfassung allein ein Übergangsstadium darstellt, das durch verfassungsändernde Gesetze einen national-autoritären Staat weiter festigen soll. Damit wird nicht nur die Idee der post-souveränen Verfassunggebung, an deren Entwicklung Ungarn maßgeblich beteiligt war, gründlich verabschiedet. Es wird zugleich signalisiert, dass auch der Weg der Verfassungsänderung strikt und einseitig dazu genutzt wird, die Macht einer politischen Gruppierung bzw. einer politischen Partei fundamental und weitgehend unwiderruflich zu stabilisieren. 3.4.2.3. Die Transformationen in der Tschechoslowakei, Bulgarien und Rumänien In der ehemaligen Tschechoslowakei spielten die Massen eine überragende Rolle bei der Implosion des alten Systems, das ohne großen Widerstand in sich zusammenbrach. Die oppositionellen Kräfte richteten – ebenso wie in Polen und Ungarn – einen Runden Tisch ein, an dem die alte kommunistische Elite vertreten war, obwohl sie faktisch über keine Macht mehr verfügte. Das dort verhandelte Wahlrecht für die ersten freien Wahlen war ein fast reines Verhältniswahlrecht, das den alten politischen Kräften einen erheblichen Anteil an politischer Macht sicherte, obwohl die Opposition ohne weiteres ein für sie günstigeres hätte durchsetzen können. Diese Strategie der freiwilligen Selbstbeschränkung wurde auch bei den Änderungen der politischen Institutionen verfolgt. Hier war das Prinzip der unbedingten Legalität zentral, auch hier wurden alle Änderungen der bestehenden Verfassung mit den Änderungsregeln genau dieser Verfassung vollzogen. Das Verhältniswahlrecht hatte zur Folge, dass viele kommunistische und auch nationalistische Kräfte in den beiden föderalen Parlamenten und den beiden Kammern des Zentralstaates vertreten waren. Aufgrund der komplizierten Verfassungsstruktur mit einem asymmetrischen Föderalismus verfügte die slowakische Minderheit über ein außergewöhnlich starkes Minderheitenveto, das einfache Gesetzgebung und insbesondere Verfassungsänderungen extrem schwierig machte. Dennoch wurde durch „eine lange Reihe mosaikartiger Verfassungsänderungen“135 die alte Verfassung demokratischen Grundsätzen angepasst. Die komplizierte Verfassungsstruktur des föderalen Staates führte letztlich dazu, dass viele wirtschaftliche und soziale Reformvorhaben durch die Vetopositionen der Slowaken verhindert und dadurch die Trennung der beiden Republiken beschleu-
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3. Die Politik der Verfassunggebung
nigt wurde. Die Massen brachten das vollständig delegitimierte System zur Implosion, aber alle weiteren Prozesse wurden von der schwachen Opposition und den wenigen reformorientierten Kräften in der alten Nomenklatura verhandelt. Es handelte sich – trotz mancher Besonderheiten – wie in Polen und Ungarn um eine koordinierte Transformation auf dem Boden des (Verfassungs-)Rechts. Bulgarien und Rumänien fallen aus dem bisher skizzierten Schema heraus. In Bulgarien reagierten die alten kommunistischen Kräfte präventiv, was durch eine Spaltung innerhalb des kommunistischen Machtblocks forciert wurde. Die reformorientierten Kräfte lösten den Chef der KPB, Todor Schiwkow, nach zwei langen Sitzungen des Politbüros ab, an denen auch der russische Außenminister teilgenommen hatte. In wichtigen Positionen des Staats- und Parteiapparates wurden Umbesetzungen vorgenommen, so dass die KPB eine weitaus höhere Legitimität genoss als in den bisher erwähnten Staaten. Auch entwickelte das kommunistische Parlament eine erstaunliche Gesetzgebungsaktivität und veränderte bestimmte Bestimmungen des rigiden Strafrechts und strich die Rolle der KP aus der Verfassung. Erst danach gründeten sich einige oppositionelle Gruppierungen, fast alle in der Hauptstadt. Im Dezember 1989 fanden erste Demonstrationen in Sofia statt, die nicht sofort unterdrückt oder niedergeschlagen wurden. Der Runde Tisch war eine präventive Einrichtung der KP, der eher als eine Art Konsultationsorgan fungierte denn als Verhandlungsorgan mit gleichberechtigten Mitgliedern. Auch sollte der RT nicht die institutionellen Grundlagen der neuen Ordnung beraten und beschließen, sondern allein das Wahlgesetz für die ersten Wahlen formulieren. Als verfassunggebendes Organ sollte dann das gewählte Parlament fungieren, das auch die am Runden Tisch erzielten Ergebnisse erneut und endgültig entscheiden sollte, was die Möglichkeit einer Revision der Beschlüsse einschloss, weil das Parlament eine andere Legitimation besaß als der Runde Tisch. Die erste Wahl endete überraschend mit einem Sieg der Kommunisten. Der noch von der alten Nationalversammlung gewählte Staatspräsident Petar Mladenow musste zurücktreten, weil er die zunehmenden Massenproteste, die sich gegen den Wahlsieg der Kommunisten richteten, durch Einsatz des Militärs unterdrücken wollte. Dies verdeutlichte zum Einen, wie gefährlich für die alten Eliten die mobilisierten Massen waren; und zum Anderen die große Bedeutung der Staatspräsidenten, die in der Regel den Oberbefehl über die Streitkräfte hatten. Nachdem der Kandidat der Opposition, Schelju Schelew, von der Nationalversammlung zum neuen Präsidenten gewählt wurde, entspannte sich die Lage, weil der Einsatz des Militärs angesichts sich ausweitender Proteste der Bevölkerung unwahrscheinlich wurde. In über 20 Städten wurden sogenannte „Städte der Wahrheit“ aus permanenten Zeltlagern errichtet und täglich fanden in der Hauptstadt Sofia Demonstrationen vor dem Parlament statt.
3.4. Die Runden Tische
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Die Lage spitze sich erneut zu, als die Nationalversammlung am 20. Juli 1990 die erste komplett neue Verfassung in ganz Osteuropa verabschieden wollte. Sie war zuvor im verfassunggebenden Ausschuss zwischen der Opposition und den regierenden Sozialisten ausgehandelt worden, aber die Opposition war nicht kohärent und ein Teil ihrer Abgeordneten verließ vor der Abstimmung demonstrativ das Parlament, begann einen Hungerstreik und erklärte sich zur außerparlamentarischen Opposition. Damit war nicht nur der Verlust der qualifizierten Mehrheit zur Verabschiedung der Verfassung verbunden, sondern auch der Grundstein für eine „binäre Fundamentalkonfrontation“136 gelegt, die die weitere politische Entwicklung in Bulgarien begleitete. Zwar nahm durch Vermittlung des Staatspräsidenten Schelju Schelew ein Teil der oppositionellen Abgeordneten ihre Arbeit wieder auf und die Verfassung konnte nun verabschiedet werden, aber die starke Konfrontation bleib gleichwohl erhalten. In Rumänien gestaltete sich der Übergang noch komplizierter, bis heute sind nicht alle Tatsachen erhellt. Zentral für das Verständnis ist jedoch der enge Zusammenhang zwischen der Gewaltsamkeit als Auslöser und späterem ständigen Begleiter der Transformation und dem „Mythos“ einer Revolution. Die Gewaltsamkeit des Systemwechsels machte es für alle beteiligten Gruppierungen unumgänglich, die Legitimation ihrer jeweiligen Machtpositionen und die Legitimität der Verfassung aus dem Mythos der Revolution heraus zu begründen. Man brauchte einen „clear title to having brought off the revolution. No group could hope to exercise power effectively unless legitimated by a heroic role in the revolution; hence the battle over the revolution as a symbol.“137
Die Verfassung selbst war ein solches legitimatorisches Symbol im Machtkampf, denn sie sollte nicht nur das Ende des alten, sondern auch den Beginn des neuen Zeitalters symbolisieren. Insofern war auch die politische Praxis des ‚neuen‘ Regimes durch den Revolutionsbegriff legitimiert und nicht durch institutionell geregelte Verfahren. Am 22. Dezember 1989 konstituierte sich der Rat der Front der Nationalen Rettung (FSN) als souveränes Organ, das sich alle anderen Staatsorgane unterordnete bzw. deren Tätigkeit unterband. Zwar wurde die alte Verfassung nicht explizit außer Kraft gesetzt, aber alle Macht lag in der Hand des Rates. Per Dekret erklärte er sich am 27.12.1989 zum alleinigen Machthaber mit allen exekutiven und legislativen Rechten, einschließlich der Befehlsgewalt über die Streitkräfte. Er konnte dem gemäß auch einfache Gesetze erlassen und bestimmte Ion Iliescu zum Ratsvorsitzenden. Am 31.12.1989 wurde per Dekret eine neue revolutionäre Regierung installiert, die das politische Programm des Rates umsetzen sollte. Die revolutionäre Gruppe aus der alten kommunistischen Elite wollte ihre
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3. Die Politik der Verfassunggebung
Macht auch plebiszitär legitimieren und dazu waren Wahlen, welcher Art auch immer, unvermeidlich. Obwohl die Front im Prinzip die gesamte Macht in den Händen hielt, wurde auf Grund von Demonstrationen und anderer Proteste ein Runder Tisch (der „Provisorische Rat der nationalen Einheit“) eingerichtet, der das Wahlgesetz verabschiedete. Obwohl die Mitglieder der Front an dem knapp 250 Personen umfassenden Runden Tisch die Mehrheit hatten, konnte die Opposition das ursprünglich geplante Mehrheitswahlrecht durch ein fast reines Verhältniswahlrecht ersetzen, was ihre Erfolgsaussichten erheblich verbesserte. Dies war ein erstaunlicher Erfolg angesichts der eindeutigen Mehrheitsverhältnisse der FSN und der schwachen und intern fraktionalisierten Opposition. Echte Verhandlungen konnten so nicht stattfinden, aber das absolute Machtmonopol der FSN war durch den Runden Tisch aufgebrochen. Das am 20.05.1990 neu gewählte Parlament fungierte zugleich als verfassunggebende Versammlung, die dann – zusammen mit der Zweiten Kammer – im November 1991 mit der Mehrheit der FSNAbgeordneten eine neue Verfassung verabschiedete, die im Kern die bestehende Machtpositionen des FSN festschrieb. Beide Transformationen können als ‚unsaubere‘ Koordinationen bezeichnet werden, weil effektive Koordination die gleichberechtigte Beteiligung der außerinstitutionellen Opposition voraussetzt. Wird wie in Bulgarien die (äußerst schwache) Opposition nur formal konsultiert und dominiert die alte Elite den Prozess der Ablösung und Demokratisierung, dann haben wir es mit einer ‚verwässerten‘ Koordination zu tun. In Rumänien dagegen übernahm eine Gruppe innerhalb der alten Elite in einer unklaren Situation die politische Macht, liquidierte den sultanistischen Machthaber (und seine Frau) und proklamierte die ‚Revolution‘ für sich, in deren Namen dann auch der Einsatz außerlegaler und gewaltsamer Macht gerechtfertigt wurde. Hier handelt es sich um verfälschte Koordination, denn es fanden weder eine Revolution, noch eine Reform, noch ein klassischer Staatstreich statt. Letzterem kommt Rumänien zwar am nächsten, aber die Beteiligten eines ‚echten‘ und erfolgreichen Staatsstreiches lassen sich nicht von der Opposition an einem Runden Tisch einen Teil ihrer gerade erkämpften Machtpositionen abhandeln.
3.5. Die Politik der Verfassunggebung in Deutschland nach dem Ende der DDR Während die bisher dargestellten mittel- und osteuropäischen Transformationen durch „voice“ der Massen in Gang gesetzt und begleitet wurden, war die Lage in der ehemaligen DDR grundlegend anders. Hier vollzog sich die Delegitimation und anschließende Implosion des alten Regimes in der Parallelität von „voice“
3.5. Die Politik der Verfassunggebung in Deutschland nach dem Ende der DDR
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und „exit“.138 In keinem anderen Land in MOE konnte man diese Parallelität beobachten, weil nur in der ehemaligen DDR die Ausreise in die Bundesrepublik als Exit-Option vorhanden war. Die massiven Auswanderungswellen, die sich in den Botschaftsbesetzungen in der Tschechoslowakei, Polen und Ungarn niederschlugen, fanden ihren Höhepunkt in der Auswanderungswelle durch die Öffnung der ungarischen Grenze im September 1989. Während das ‚alte‘ Konzept von Abwanderung und Widerspruch als einfaches „‚hydraulisches‘ Modell“139 davon ausging, dass mit zunehmender Abwanderung als weitgehend privater und stummer Entscheidung Widerspruch als öffentliche und kollektive Aktivität abnehmen würde, führte ersteres in der DDR zur Verstärkung des internen Widerstandes. Diese Verstärkung der Massenbewegungen war nicht ohne Gefahren für die Transformation. Zwar war nach den Entwicklungen in den anderen Ländern klar, dass die Sowjetunion militärisch nicht intervenieren würde, aber die alte Elite war in ihrer tiefen Verunsicherung nicht in der Lage, sich auf eine einheitliche Linie – welcher Art auch immer – zu einigen. Die Möglichkeit der gewaltsamen Unterdrückung stand immer im Raum, insbesondere bei den immer größer werdenden Demonstrationen in Leipzig und anderen Städten. Insofern war Gewaltfreiheit aller Voice-Aktionen eine unhintergehbare Voraussetzung für deren Erfolg. Die immer wieder betonte und auch faktisch realisierte Absage an Gewalt war die zentrale Legitimationsquelle der Bürgerbewegungen und zugleich eine Voraussetzung, die (noch) herrschende Elite von der Gewaltoption abzuhalten. Der Zwang der Bürgerbewegungen und deren lokaler Organisatoren, jegliche Gewalt oder auch nur Chaos zu verhindern, waren immens. Bereits ein einzelner Provokateur hätte die Situation unkontrollierbar eskalieren lassen können und man muss es nachträglich fast als Wunder betrachten, dass dies nicht durch Spitzel der Stasi oder einfache Gewaltabenteurer geschah. Die programmatischen Positionen der oppositionellen Bürgerbewegungen waren durch eine nach wie vor existierende Loyalität gegenüber dem sozialistischen Regime gekennzeichnet. Alle zentralen Dokumente enthalten ein Bekenntnis zum Sozialismus.140 Jens Reich, einer der führenden Figuren des Neuen Forums, hatte formuliert, dass man nicht die politische Macht usurpieren, sondern freie Wahlen realisieren wollte, in denen sich die Vielfalt der gesellschaftlichen Kräfte ausdrücken sollte.141 Wie an den anderen Runden Tischen auch konnte man zwar über die rechtlichen Verfahren zur ersten freien Wahl eine Einigung erzielen, aber nicht über die zentralen und substantiellen Politikziele.142 Während die durch die ersten freien Wahlen an die Macht gebrachten Oppositionellen oder (wie in Rumänien und Bulgarien) die alten Eliten ein mehr oder weniger striktes Programm sozialer und ökonomischer Reformen in Gang setzten, war die am 18. März 1990 gewählte Volkskammer ein historisches Provisorium, das über nur geringe Handlungsspielräume verfügte. Die radikale Umgestaltung wurde nicht von ihr
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3. Die Politik der Verfassunggebung
in Gang gesetzt, sondern durch die mit der Kohl-Regierung ausgehandelten Verträge. Durch den Staatsvertrag zur Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion vom 18. Mai 1990 und den am 20. September 1990 in der Volkskammer und dem Bundestag verabschiedeten Einigungsvertrag wurde die weitgehende Übertragung aller rechtlichen, institutionellen und politischen Strukturen der BRD auf die (ehemalige) DDR vorgenommen. Dies waren alles Meisterleistungen der bundesrepublikanischen Exekutive, die Massen spielten in diesen Prozessen keine Rolle, sieht man von der erneuten Mobilisierung im Kontext der ersten freien Wahl einmal ab. Sie wurde aber bereits von den westdeutschen Parteien mit ihrem finanziellen und organisatorischen Potential dominiert und als „Stellvertreterkrieg“ organisiert, bei dem es auch um den langfristigen Machterhalt in Westdeutschland ging.143 Zwar hatte der Runde Tisch eine eigene Verfassung erarbeitet, die für Gesamtdeutschland gelten sollte, die Erfahrungen der Bürgerbewegung verarbeitete und einige interessante Neuerungen gegenüber dem GG vorsah, aber diese hatte – ebenso wie die sogenannte Paulskirchenverfassung – nie eine realistische Chance zur Realisation. Sie wurde wegen der Einigungs- und Beitrittsverhandlungen nach Art. 23 GG nie in die Volkskammer eingebracht. Obwohl Art. 146 GG einen eigenständigen Prozess der Verfassunggebung vorsah, wurde er in den hitzigen Debatten der damaligen Zeit von den verantwortlichen Eliten und einem Teil der Verfassungsrechtler nie ernsthaft erwogen. Nicht einmal zu einer abschließenden plebiszitären Selbstvergewisserung des GG, das nun die Verfassung des gesamten deutschen Volkes war, konnte sich die politische Elite durchringen. Die Konstituierung einer verfassunggebenden Gewalt des Volkes, in welcher von den politischen Eliten auch immer kontrollierten Form, sollte es nie geben.144
3.6. „1989“: Das Ende des „Zeitalters der Revolutionen“ oder der Wandel zum „post sovereign constitution-making“? Der Charakter der mittel- und osteuropäischen Transformationen ist umstritten und schwankt – wie oben bereits dargelegt – zwischen Reform und Revolution. Verfassungstheoretisch haben diese Transformationen ein neues Paradigma der Verfassunggebung kreiert, das A. Arato in einer neueren Analyse als „post souvereign“ bezeichnet hat145 und in diesen Demokratisierungsprozessen als Novum auf der verfassungspolitischen Agenda erschienen ist. Aber auch die südafrikanische Verfassungspolitik ist bei der Überwindung des Apartheidregimes streng diesem Paradigma gefolgt.146 Es umfasst vier Merkmale:147 Zum einen meint „post sovereign“ den Verzicht auf eine souveräne Institution, sei es eine verfassunggebende Versammlung, eine sonstige (politische) Institution oder eine einzelne Person, die diesen Prozess exklusiv dominiert und sich als
3.6. „1989“: Das Ende des „Zeitalters der Revolutionen“
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einzige konstituierende politische Kraft versteht. Zudem bezeichnet „post revolutionary“ den Sachverhalt, dass sich radikale Verfassungswandel jenseits der tradierten Dichotomie von Reform und Revolution vollziehen können. Schließlich lenkt die Begrifflichkeit das Augenmerk auf eine zentrale Institution, den Runden Tisch, der Ausdruck der Pluralität der an der Verfassunggebung beteiligten politischen Kräfte ist. Als letzter Punkt dieses Paradigmas konzentriert sich der Blick auf die herausragende Rolle der alten bzw. auf Interimsverfassungen, die einen verfassungslosen Zustand grundlegend verhindern sollen. Nur unter diesen vier Bedingen können zwei Sachverhalte realisiert werden. Zunächst die Legitimität einer Verfassung, die wegen der Verschiedenheit der beteiligten Akteure eine pluralistische Rechtfertigung haben kann, die auf einer Vielzahl von Werten beruht, wie etwa Inklusion, Pluralität, verschiedenen Gerechtigkeitskonzeptionen, aber auch von Legalität, weil sie sich eben auf dem Boden des (Verfassungs)Rechts vollzieht. Zudem wird Lernen ermöglicht, weil entgegen dem Souveränitätsparadigma durch den Austausch der Erlebnisse und Positionen der pluralistischen Kräfte neue Erfahrungen gemacht und Lehren aus anderen Verfassunggebungen gezogen werden können. Hinzu kommt, dass Verfassunggebung in einem zeitlich gestuften Prozess erfolgte und Erfahrungen mit bereits erprobten Verfahren oder Regelungen in den jeweils anderen Ländern gemacht werden konnten. An allen Runden Tischen waren diese Prämissen präsent, wenn auch im Detail etwas unterschiedlich ausgeprägt. Mit ihm verschiebt sich auch die Bedeutung von Masse und Elite, die in der Transformationsforschung gut herausgearbeitet wurde. In den hier beschriebenen koordinierten Transformationen ist das Elitenverhalten die „Schlüsselvariable“148 für den Erfolg. In der Regel kam es zu einem Kompromiss, oft begünstigt durch eine Selbstbeschränkung der oppositionellen Kräfte, der sich v. a. auf die verfassungsrechtliche und institutionelle Ebene bezog. Wird dieser Institutionenkonsens später durch einen Programmkonsens hinsichtlich der dringlichsten ökonomischen und sozialen Reformen ergänzt, dann sind die Erfolgsaussichten einer Transformation noch günstiger.149 Der Elitenkonsens wurde öffentlich an den Runden Tischen ausgehandelt, zentraler waren aber oft geheim und in großer Autonomie von den Massen getroffene Kompromisse, wie beispielsweise in Polen im Kloster Magdalenka.150 Die Massen und ihre potentielle Mobilisierungsfähigkeit wurden dann zu einem strategischen Kalkül, das die moderaten Reformer zur Stärkung ihrer Verhandlungsposition benutzten.151 Insgesamt lässt sich ein Zyklus von Aufschwung und Abschwung beobachten, der einem klar identifizierbaren Rhythmus folgt: In der „revolutionären Situation“152, in der das alte Regime herausgefordert und dessen schwindende Legitimationsbasis überdeutlich wird, spielen die Massen eine herausragende Rolle. Während des elite settlements wird dagegen bedeutsam, dass die Massen nicht unkontrolliert agieren und die hardliner im alten Regime nicht herausfordern, die dann
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3. Die Politik der Verfassunggebung
dem friedlichen Prozess durch Gewaltanwendung ein Ende setzen könnten. In Bulgarien und in Leipzig standen die Transformationen kurz vor der Gewaltanwendung, in der eine ‚chinesische Lösung‘ nicht ausgeschlossen schien. Nachdem die zentralen institutionellen und verfassungsrechtlichen Fragen verhandelt wurden und Gründungswahlen bevorstanden, kam es erneut zu einem Aufschwung der Massenmobilisierung, denn nun ging es um die zukünftige Machtverteilung in dem neuen demokratischen Gefüge. Gleichwohl war es eine ‚zivilisierte‘ Massenbewegung, die vorwiegend im Kontext von Wahlkämpfen und -verfahren und den damit verbundenen institutionellen Regeln agierte. Der Revolutionsbegriff zur Kennzeichnung von „1989“ wird von verschiedenen Seiten vehement verteidigt und ist oft mit dem Vorwurf verbunden, dass man den unbändigen Freiheitswillen der Menschen nicht als entscheidenden Schlüssel für die Umwälzungen betrachte und zugleich das alte Regime verharmlose.153 Aber man kann die zentrale Rolle der Massen ebenso anerkennen wie den widerlichen und unmenschlichen Charakter der alten diktatorischen Regime, auch wenn man den Revolutionsbegriff analytisch nicht für plausibel hält. Zentral aber für den Prozess des Übergangs ist die Idee und Praxis der Selbstbeschränkung und – damit untrennbar verbunden – die Idee und Praxis der radikalen Kontinuität.154 Die bisherigen europäischen und außereuropäischen Revolutionen, von der französischen über die russische bis zur chinesischen, mobilisierten nicht nur massiv die sozialen Kräfte bzw. die Massen, die sie unterstützen. Zudem konstituierten sich diese Kräfte als ‚souveräne‘ Macht, die aus der Revolution hervorgegangen war und der Gesellschaft ihr neues Programm aufzwang – gegen den Widerstand der alten Kräfte und mit massiver Gewalt. Selbst die Arbeiter- und Soldatenräte zu Beginn der Weimarer Republik konstituierten sich als souveräne Gewalt, die der Gesellschaft ihr sozialistisches Programm oktroyieren wollten. In dem im Reichsgesetzblatt veröffentlichen Aufruf hieß es: „Die aus der Revolution hervorgegangene Regierung, deren politische Leitung rein sozialistisch ist, setzt sich zur Aufgabe, das sozialistische Programm zu verwirklichen.“155 Zudem kündigten die Räte die Einberufung einer „Konstituierenden Versammlung“ an, die eine neue Verfassung ausarbeiten sollte. Das sich selbstbeschränkende Moment der osteuropäischen Systemwechsel bestand nun darin, dass sie im Kern ein entgegengesetztes Ziel verfolgten: Sie wollten kein revolutionäres Programm realisieren, sondern allein den institutionellen und verfassungsrechtlichen Rahmen abstecken, in dem sich die dann demokratisch organisierte Gesellschaft in ‚normalen‘ Politikprozessen über ihre Vorstellungen verständigt und mit und innerhalb dieser Verfahren den eher radikalen oder schrittweisen Übergang zur Markwirtschaft vollzieht. Das Programm dieser Marktwirtschaften, ob sie eher liberalistisch oder sozialdemokratisch sein sollten, ob sie als Schocktherapie oder als schrittweiser Übergang realisiert werden sollten, welche Form der Arbeitsbeziehungen eingeführt werden sollten – all dies
3.6. „1989“: Das Ende des „Zeitalters der Revolutionen“
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wurde von den revolutionären Kräften nicht vorgegeben. Vielmehr musste jede Gesellschaft die Beantwortung dieser Fragen in einer Art Münchhausen-Prozess an sich selbst vollziehen und realisierte „varieties of capitalism“156, deren Grundstrukturen von den moralischen, normativen, institutionellen und politischen Kompetenzen und Kräften einer Gesellschaft abhängen. Die Runden Tische verstanden sich nicht als Repräsentanten revolutionärer Massen, nicht als „aus der Revolution hervorgegangen“, sondern bereits als Repräsentanten der Vielheit, Pluralität und Unterschiedlichkeit der civil society. In Ungarn wurde dies besonders deutlich, weil die oppositionellen Kräfte sich bereits als Vielheit an einem ‚vorgelagerten‘ Runden Tisch trafen und dort ihre Strategien gegenüber den kommunistischen Reformkräften am eigentlichen Runden Tisch aushandelten. Ulrich K. Preuß hat das neue Verständnis treffend charakterisiert: „(...) alle diese Charakteristika der Revolutionen des Jahres 1989 haben eine innere Verbindung darin, dass sie die für die europäischen Revolutionen kennzeichnende Absicht verwerfen, der Gesellschaft einen souveränen und homogenen Willen ‚des Volkes‘ aufzuerlegen und sie mittels dessen Macht nach einem bestimmten politischen Plan zu gestalten. (...) Wenn es denn eine Utopie gibt, so ist sie das Gegenteil der Utopie einer im Staat institutionalisierten Einheit von kollektiver Vernunft und säkularisierter Allmacht: die Idee der Autonomie der Zivilgesellschaft und ihrer Fähigkeit, in diskursiven Prozessen und durch kluge Institutionalisierung auf sich selbst einzuwirken.“157
Insofern drückte sich diese Form der Selbstbeschränkung nicht nur im Prozess der Verfassunggebung, sondern auch in der Verfassung selbst aus. Während Verfassunggebung durch die Runden Tische unter Nutzung der Änderungsregeln der alten kommunistischen Verfassung die Konstituierung einer souveränen Gewalt des Volkes verhindern sollte, hat die (demokratische) Verfassung eine andere Aufgabe: In ihr drücken sich die „Politikmöglichkeiten einer Gesellschaft“158 viel deutlicher aus als in der souveränen Gewalt, weil sie die Pluralität der Gesellschaft und ihrer divergierenden Interessen und Normen weit mehr zur Geltung bringen kann als eine souveräne Gewalt. Zentral wird dann, ob Verfassungen konsumptiv oder investiv geschaffen werden. Investiv sind sie dann, wenn sich die beteiligten Akteure über die institutionellen Formen der Selbstregierung verständigen, die sich nicht nur in einem Katalog von individuellen und politischen Freiheitsrechten ausdrücken, sondern auch in einer gelungenen horizontalen Gewaltenteilung. Sie ist nicht nur – wie wir seit Montesquieu wissen – eine Form der Begrenzung der politischen Macht zum Schutz der Freiheiten, sondern steigert zugleich die Selbstthematisierungsfähigkeit von Gesellschaften. Durch eine gelungene Ordnung des institutionellen Gefüges des Regierungssystems kann eine Verbesserung der Selbstwahrnehmungsfähigkeit gesellschaftlicher und sozialer Probleme ebenso gelingen wie die Rationalisierung des gesetzgeberischen Entscheidungsprozesses.159 Zwar wurden viele der
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3. Die Politik der Verfassunggebung
mittel- und osteuropäischen Verfassungen an den Runden Tischen verhandelt und reflektieren die machtorientierten Interessen der beteiligten politischen Kräfte. Aber synchron wurden immer auch grundsätzliche Fragen der institutionellen Ausgestaltung des Regierungssystems zur Rationalisierung des politischen Prozesses durch argumentative Prozesse thematisiert.160 Verfassungen sind konsumptiv, sofern sie unmittelbar der Stabilisierung einer historisch gegebenen Machtkonstellation dienen und nicht für zukünftig andere Machtverhältnisse entworfen werden. Sie verbrauchen sich, sofern sich die Machtverhältnisse ändern und werden dann häufig geändert, weil sie Gesellschaften kein plausibles institutionelles Potential zur Selbstthematisierung bereitstellen. Dies war in Rumänien und Bulgarien der Fall und deshalb auch die massiven Konflikte über die Verfassung selbst. Der Revolutionsbegriff, seine zentralen definitorischen Merkmale und die damit verbundenen semantischen und konnotativen Assoziationen verhindern geradezu die Beobachtung des mit den mittel- und osteuropäischen Transformationen verbundenen Paradigmenwechsels. Es waren koordinierte Transformationen, die die Idee der souveränen verfassunggebenden Gewalt ad acta legten, sich eine erstaunliche Form der Selbstbindung auferlegten und so eine historisch neue Form der gesellschaftlichen Umwälzung ins Spiel brachten. Die „post-souveräne“ Verfassunggebung161 stellt den zivilgesellschaftlichen Kräften einen Rahmen bereit, indem sie ihre gegenwärtigen und zukünftigen Herausforderungen mit Hilfe dieser Verfahren produktiv bearbeiten können. So können auch innovative gesellschaftliche Ordnungsformen kreiert werden, die neue Möglichkeiten zur laufenden Selbstkorrektur der Gesellschaft und ihrer Institutionen durch die civil society eröffnen. Aber gerade die Entwicklung in Ungarn ab 2006 unter V. Orbán zeigt, wie brüchig dieses Paradigma ist und gerade auch von den politischen Kräften beseitigt werden kann, die es zuvor nicht nur entwickelt und getragen, sondern von ihm auch profitiert haben (vgl. unten Kap. 11.5.). Anmerkungen 1 Zit. nach Preuß, U. K. 1990a: 11. 2 Der Begriff der politischen Gesellschaft und die damit verbundenen Prämissen sind ausführlich entwickelt bei Greven 2000; ders. 2009. 3 Böckenförde 1991: 91. 4 Ebd. 5 Böckenförde 1991: 95f. 6 Böckenförde 1991: 96. 7 Böckenförde 1991: 99. 8 Ich orientiere mich hier v. a. an Elster 1993; ders. 1995. 9 Ich zitiere das Dekret nach der Datenbank Schlüsseldokumente zur Russischen und Sow-
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jetischen Geschichte; vgl. https://www.1000dokumente.de/index.html?c=1000_dokumente_ru&l=de. Pietsch 1969: 84. Kropat 1957: 492. Ich stützte mich im Folgenden vor allem auf Gusy 1994; Mußgnug 2009; Müller, T. 2014. Haffner 2008: 68. Ebd. Ebd. Haffner 2008: 69. Kirchheimer 1976: 70. Mußgnug 2009: 352.
3.6. „1989“: Das Ende des „Zeitalters der Revolutionen“ 19 In vielen anderen Ländern Westeuropas erfolgte dies viel später: In England erst 1928, in Frankreich erst 1944, in Belgien 1948. In Norwegen waren die Frauen dagegen bereits 1913 voll wahlberechtigt; dazu Müller, T. 2014: 38f. 20 Siehe dazu Mußgnug 2009: 353. 21 Vgl. dazu unten Kap. 3.2. 22 Als ‚focal point‘ wird oft eine Option oder eine Lösung bezeichnet, auf die sich verschieden Personen oder Gruppen von Personen ohne Kommunikation einigen (würden), um etwas zustande zu bringen. Konkret: sich an einem bestimmten Ort zu treffen, sich auf eine Option für etwas zu einigen (so machen wir es eben) etc. Die Idee geht zurück auf Thomas C. Schelling; vgl. Schelling 1960: bes. Kap. 3. 23 Zwar gab es auch Verfassungsentwürfe von einzelnen Personen, v.a. von konservativen Staatsrechtlern und zum Teil von Monarchisten, die aber keine Rolle in der Verfassungsdiskussion im Ausschuss spielten bzw. nicht einmal diskutiert wurden; vgl. die Aufzählung solcher Entwürfe bei Gusy 1994: 759, FN 68. 24 Vgl. dazu Müller, T. 2014: 45f. Die kurze Schrift ist dokumentiert in Preuß 2007a (1926): 365-368. 25 Preuß 2007b (1926): 379. 26 Preuß 2007b (1926): 372. 27 Preuß 2007b (1926): 368f. 28 Preuß 2007b (1926): 387. 29 Preuß 2007b (1926): 426. 30 Ebd. 31 Preuß 2007d (1926): 417. 32 Preuß 2007b (1926): 386. 33 Ebd. 34 Preuß 2007b (1926): 388. 35 Ebd. 36 Preuß 2007d (1926): 417. 37 Preuß 2007d (1926): 426f. 38 Konkret war es die 47. Sitzung der Nationalversammlung, als sie am 5. Juli 1919 den 5. Entwurf der Verfassung diskutierte; vgl. dazu Gusy 1994: 761. 39 Gusy 1994: 762 und auch zum Folgenden. 40 Das Folgende basiert v. a. auf Gusy 1994: 760-761. 41 Kirchheimer 1976: 72. 42 Gusy 1994: 760 43 Die Begriffe der upstream- and downstreamLegitmität stammen von Jon Elster, der diese Begriffe bzw. Kategorien im Kontext der mittel- und osteuropäischen Verfassunggebungen entwickelt hat; vgl. Elster 1993. 44 Vgl. dazu statt vieler und umfassend Rüb 2001: bes. 103-116. 45 Schneider, H. 1953: 196. 46 So C. Schmitt in seiner Verfassungslehre; vgl. Schmitt 1993 (1928): 102; 386.
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47 Diese Differenzierung geht zurück auf C. Schmitt, der sie in seinem grundlegenden Werk über die Diktatur einführte und die Verfassungstheorie bis heute prägt; vgl. Schmitt 1994 (1921). 48 Zit. nach Strenge 2013: 2; Herv. von mir. 49 Ebd.; Herv. von mir 50 Im dann verabschiedeten Gesetzt heißt es in Art. 2: „Die von der Reichsregierung beschlossenen Gesetze können von der Reichsverfassung abweichen, soweit sie nicht die Einrichtung des Reichstages und des Reichstages als solche zum Gegenstand haben. Die Rechte des Reichspräsidenten bleiben unberührt.“ 51 Schneider 1953: 205. 52 Dazu ausführlich Schneider 1953: 207f. 53 Schneider 1953: 208. 54 Dazu und zum folgenden erneut ausführlich Schneider 1953: 209-215; Strenge 213: 12. 55 Vgl. dazu Strenge 2013: 12, FN 113. 56 Schmitt 1994 (1921): xviii. 57 Ebd. 58 Ich stütze mich hier und im Folgenden unverkennbar auf C. Schmitts Definitionen und Merkmale einer kommissarischen ebenso wie später einer souveränen Diktatur; vgl. Schmitt 1994 (1921). 59 Schmitt 1994 (1921): 10. 60 Schmitt 1994 (1921): 11. 61 Schmitt 1994 (1921). 12. 62 Schmitt 1994 (1921): 134. 63 Schmitt 1994 (1921): 139. 64 Vgl. zum Auflösungsprozess ausführlich und immer noch lesenswert Bracher 1960; Bracher/Sauer/Schulz 1960; Broszat 1969. 65 Zit. nach Bracher/Sauer/Schulz 1960: 48. 66 Zit. nach Bracher/Sauer/Schulz 1960: 50. 67 Bracher/Sauer/Schulz 1960: 51. 68 Karl-Dietrich Bracher et. al. kommentierten diese so, dass dadurch „schon lange vor dem Ermächtigungsgesetz und auch vor der Reichstagsbrandverordnung einer Minderheitenregierung kraft eigenem Ermessen die Vollmacht zur Ausschaltung der konkurrierenden Gruppen, zur Gleichschaltung der öffentlichen Meinungsbeeinflussung, zur Institutionalisierung der auf Ausnahme gegründeten Herrschaft“ verschafft wurde und so „die Grundlage für jenen Prozess der pseudo-legalen Machtergreifung, dessen erstes Ziel dann mit der Manipulation des Ermächtigungsgesetzes durch Drohung und Zwang erreicht war.“ Bracher/Sauer/Schulz 1960: 55f. 69 Bracher/Sauer/Schulz 1960: 75-82. 70 Loewenstein 1937a: 656. 71 Loewenstein 1937a: 647. 72 Herwig Roggemann schreibt zum Beispiel, dass diese Verfassungen „in gewissem Sinne oktroyierte Verfassungen (waren), festgelegt
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3. Die Politik der Verfassunggebung auf die unterschiedlichen politischen und wirtschaftlichen Zielvorstellungen der Siegermächte: Der Sowjetunion einerseits und der Westmächte andererseits.“ (Roggemann 1970: 16). Zu klären bliebe allerdings, was die Formulierung „in gewissem Sinne oktroyiert“ ausdrücken soll. Zu den Details seines Aufenthalts im russischen Exil und seiner Rückkehr in die SBZ vgl. ausführlich Amos 2006: 42-52. Polak 1949: 10. Polak 1949: 18. Polak 1949: 27. Polak 1949: 22. In dem lesenswerten Buch von Heike Amos sind im Anhang diese beiden Spalten dokumentiert und zugleich mit der endgültigen Verfassung von März 1949 in einer dritten Spalte konfrontiert; vgl. Amos 2006: 318-405. Polak 1949: 31. Amos 2006: 350. Roggeman 1970: 24. Zu diesen Begrifflichkeiten vgl. oben FN 43. Roggemann 1970: 27. Die Details sind ausgeführt bei Roggemann 1970: bes. 27ff. Alle Paragraphenangaben in diesem Absatz beziehen sich auf die Verfassung von 1949. Roggemann 1970: 184. Zit. nach Vogel 1988: 56. Die Arbeit an einem Vorentwurf für eine zukünftige westdeutsche Verfassung begann gerade an dem Tag, als bereits der Entwurf einer SBZ-Verfassung in (Ost)Berlin öffentlich gemacht wurde; vgl. oben Kap. 3.3.1. Theodor Maunz war eine extrem schillernde Figur in der deutschen (Rechts)Geschichte. Er war nicht nur einer der führenden nationalsozialistischen Staats- und Rechtstheoretiker, sondern zudem in der Nachkriegszeit einer der Mitherausgeber und Mitautor eines der wichtigsten Grundgesetzkommentare, dem „Maunz-Dürig-Herzog-Scholz“. Zudem war er von 1953 bis 1963 bayrischer Minister für Kultur und musste 1963 nach Vorwürfen wegen seiner nationalsozialistischen Vergangenheit zurück treten. 1993, kurz nach seinem Tod am 10.09.1993, machte der Herausgeber der rechts-nationalen Deutschen Nationalzeitung, Dr Frey, publik, dass er mit Th. Maunz nicht nur seit über 25 Jahren gut befreundet gewesen war und sich seit den 70er Jahren fast wöchentlich mit ihm zur Diskussion politischer Fragen getroffen hatte. Auch schrieb er Rechtsgutachten für Dr. Frey, u. a. wegen einer Anklage zur Entziehung der Grundrechte nach Art. 18 GG. Und schließlich veröffentlichte Th. Maunz in diesem rechtsradikalen Blatt selbst über Jahre hinweg unter
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Pseudonym Artikel zu verschiedensten politischen und juristischen Fragen und Themen. Vgl. dazu knapp, aber wichtig Stolleis 1993. Vgl. zu dessen biographischen Stationen und staats- und verfassungsrechtlichen Positionen Zacher 1971. Abendroth 1978: 37. Otto 1971: 31. Zit. nach Otto 1971: 34. Otto 1971: 35. Otto 1971: 41. Dazu umfassend Sörgel 1969. Es handelte sich hier um den SPD-Vertreter Dr. Fritz Löwenthal, der ab April 1949 nicht mehr an den Sitzungen der SPD-Fraktion teilnahm und dann als parteiloses Mitglied des Parlamentarischen Rates geführt wurde. Die SPD-Führung bekräftigte daraufhin das imperative Mandat durch ihren Parteivorsitzenden Kurt Schumacher; vgl. dazu im Detail Otto 1971: 45f. Es waren dies der Ausschuss für Grundsatzfragen, für Organisation des Bundes, für Verfassungsgerichtshof und Rechtspflege, für Zuständigkeitsabgrenzung, für Finanzfragen, für Wahlrechtsfragen und schließlich für das Besatzungsstatut; vgl. dazu Feldkamp 1999: 23; ders. 2008: 27f. Zit. nach Otto 1971: 86. Zit. nach Otto 1971: 72. Zit. nach Otto 1971: 75. Otto 1917: 125. Diese Position wurde in einer Drucksache des Parlamentarischen Rates formuliert; zit. nach Otto 1971: 134. So Otto 1971: 136. Otto 1971: 137. Vgl. dazu im Detail Otto 1971: 141-142. Zit. nach Otto 1971: 141. Zit. nach Otto 1971: 140. Zum Begriff des semi-präsidentiellen Regierungssystems vgl. Rüb 2001: bes. 103-116. Andreas Busch zählt bis Juni 1998 insgesamt 189 Änderungen, das sind knapp 4 pro Jahr; vgl. Busch 1999. Busch 1999: 559. Vgl. zu diesem Begriff und seinen Konnotationen Arato 1990; ders. 1995a; Preuß, U. K. 1990. Tilly 1999: 29-46; Griewank 1973: 21f.; Friedrich (Hg.) 1966; Goldstone 1986; Hobsbawn 1986; Brinton 1959. Schmitt 1928: 103. Hesse 1976: 276; Herv. i. O. Hesse 1976: 277. Arato 1993: 675. Die Begrifflichkeit geht auf Janos Kis (1998: 319) zurück, der jedoch den der „coordinated transition“ benutzt. Transitionen bezeichnen in der Systemwechseltheorie den Wandel al-
3.6. „1989“: Das Ende des „Zeitalters der Revolutionen“
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lein von politischen Regimen, während wir in MOE mit einem systemischen Wandel konfrontiert waren (und sind), der politischen, ökonomischen und sozialen Wandel umschließt und besser als „Transformation“ oder auch „Systemwechsel“ bezeichnet werden sollte; vgl. dazu auch Merkel/Thierry 2008; Merkel 2010. Enzensberger 1997a. Karl/Schmitter 1991. Karl/Schmitter 1991; ähnlich auch von Beyme 1994: 95. Karl/Schmitter 1991. Offe 1991; Elster 1993. Vgl. statt vieler Merkel 2010. Wiatr 1996: 110. Die folgenden Darstellungen basieren v. a. auf Rüb 2001 und der dort in den einzelnen Länderstudien angegebenen Literatur; vgl. aber auch von Beyme 1996; Merkel 2010; Linz/ Stepan 1996. Osiatynski 1996: 24. Osiatynski 1996: 53f. Neben der Frage der Wahl des Staatspräsidenten wurden noch drei weitere Sachverhalte entschieden, über die am RT keine Einigung erzielt werden konnte. Es handelte sich um die Entwaffnung der sog. Arbeitermilizen, dann um das Verbot politischer Aktivitäten in Betrieben und schließlich um die Offenlegung des Vermögens der kommunistischen Partei bzw. ihrer Nachfolgepartei. Im Jahr 2011 wurde durch die FIDESZ-Regierung unter Victor Orbán auf eine verfassungsrechtlich äußerst fragwürdige Weise eine gänzlich neue Verfassung beschlossen. Vgl. dazu die Anmerkungen am Ende dieses Kapitels. Arato 1995. Zu dieser Begrifflichkeit neuerdings und in Abwandlung seiner älteren Terminologie vgl. Arato 2016.
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133 A. Arato hat diesen Prozess ausführlich beschrieben und verfassungstheoretisch tiefgreifend reflektiert; vgl. Arato 2016: 161-222. 134 Europäische Kommission für Demokratie durch Recht (Venedig-Kommission): Opinion on the New Constitution of Hungary, abrufbar unter http://www.venice.coe.int/docs/ CDL-AD%282011%29016-e.pdf. 135 Slapnicka 1991: 258. 136 Höpken 1996: XI. 137 Verdery/Gligman 1992: 122. 138 Hirschmann 1970; ders. 1992; Pfaff 2006. 139 Hirschmann 1992: 334. 140 Pfaff 2006: 194. 141 Nach Pfaff 2006: 208. 142 Thaysen 1990. 143 Lehmbruch 1990: 470. 144 Es wurde sogar die Streichung des Art. 146 gefordert, weil er eine „Zeitbombe im Verfassungsgefüge“ sei. So jedenfalls J. Isensee in der FAZ vom 28.08.1990. 145 Arato 2016. 146 Vgl. dazu die knappen, aber interessanten Beobachtungen bei Arato 2016: 104-106; aber auch ausführlicher Faure/Lane 1996; Friedman/Atkinson 1994. 147 Dazu und zum Folgenden vgl. ausführlich Arato 2016: 10-13. 148 Burton et al. 1992: 8. 149 Rüb 1996: 54. 150 Merkel 2010: 91. 151 Ebd. 152 Tilly 1999: 31ff. 153 Pointiert Kowalczuk 2009a; ders. 2009b. 154 Arato 1990; ders. 1995; Preuß, U. K. 1990. 155 Zit. nach Preuß, U. K. 1990: 60. 156 Hall/Soskice 2001. 157 Preuß, U. K. 1990: 64. 158 Preuß, U. K. 1990: 65. 159 Holmes 1995: 143-176. 160 Elster 1996; Rüb 2001: bes. 622-689. 161 Arato 2016.
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4. Die Politik der Massen
4. Die Politik der Massen: Über das Irrationale eines Kollektivsubjekts, seine politische Zähmung in der Massendemokratie und seine Auferstehung als ‚Multitude‘ „Die Städte sind überfüllt mit Menschen, die Häuser mit Mietern, die Hotels mit Gästen, die Züge mit Reisenden, die Cafés mit Besuchern; es gibt zu viele Passanten auf den Straßen, zu viele Patienten in den Wartezimmern berühmter Ärzte; Theater und Kinos, wenn sie nicht ganz unzeitgemäß sind, wimmeln von Zuschauern, die Badeorte von Sommerfrischlern. Was früher kein Problem war, ist es jetzt unausgesetzt: einen Platz zu finden.“1
Man findet keinen Platz mehr – das ist, wie aus obigem Zitat deutlich wird, ein Problem geworden. Aber das ist nicht alles: Die Masse hat den Platz eingenommen, den man früher innehatte. ‚Man‘, das war die Elite, die „verfeinerten Schöpfungen der Kultur“, die in der Gesellschaft bestimmte Positionen ausfüllten. Nicht nur ist alles überfüllt, nun sitzen überall die minderwertigen Massen und die Elite findet keinen Platz mehr. Das ist das Neue und Umstürzende und deshalb konnte der spanische Intellektuelle und Soziologe José Ortega y Gasset in seinem kleinen Büchlein vom „Aufstand der Massen“ reden.2 Zwar waren die Massen schon immer da, aber irgendwo anders, an einem anderen Ort, im Unten: im Keller der Gesellschaft und dort als kleinere Gruppen, Vereinzelte, nicht Sichtbare. Unten heißt auch kulturell, intellektuell, vom Stand der Bildung aus gesehen unten. Zwar nicht ganz unten, wie der Pöbel, die Arbeiterklasse, aber irgendwo unten, als „Durchschnittsmensch“3 eben, bewegen sich die Massen. Sie erobern sich nun einen Platz in der Gesellschaft und in der Politik, der ihnen in der bestehenden Ordnung eigentlich nicht zusteht. Sie haben die Tür zur Geschichte geöffnet, sind trotz großen Widerstandes eingetreten und haben angefangen, selbst Geschichte zu machen. Das ist die unwiderrufliche Tatsache der modernen Gesellschaften des 20. Jahrhunderts: Die Massen sind aufgestanden. Sie machen Politik, indem sie „Aufgaben der Regierung“ übernehmen und sich des „politischen Urteils über öffentliche Angelegenheiten“4 anmaßen. Wie kaum ein anderer hat J. Ortega y Gasset den Aufstand der Massen als politisches Phänomen analysiert oder – wie man auch vermuten könnte – seine Ängste und Bedrohungsphantasien auf die Massen projiziert. Zeitgleich mit den Massen betritt ebenfalls etwas politisch Neues die Bühne der Weltgeschichte: Der politische Führer. Er ist ihr Zwillingsbruder und in der Lage, ihre niedrigsten Instinkte, Leidenschaften, ja Irrationalitäten zu entzünden und sie in die heroischsten und zugleich niedrigsten Kämpfe zu führen. Mit ihnen kommt eine neue Dimension der Politik zum Vorschein, die es in dieser Intensität
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und Verbreitung bisher nicht gab. In den ‚großen‘ Revolutionen dieses Jahrhunderts, der nationalsozialistischen und der sozialistischen Oktoberrevolution, haben die politischen Führer eine überragende Rolle gespielt. „Aber mit dem Führer kommt eine neue Qualität der Politik, also ein Kulturmerkmal, zum Vorschein, und dieses Kulturmerkmal ist von einer bislang unbekannten Intensität und Verbreitung, so dass es müßig wäre, nach Parallelen in der Vergangenheit zu suchen.“5
Der Führer baut einen Personenkult um sich, der meist mythisch begründet ist und führt ein hohes Maß an Irrationalität in die Politik ein, weil er seine – oft paranoiden – Ideen um jeden Preis realisieren will. Regeln und Verfahren werden zweitrangig oder ganz eliminiert, allein der Wille des Führers zählt. Im nationalsozialistischen Führerprinzip kulminierte diese Vorstellung. Der Wille des Führers ist unbegrenzt: Keine (verfassungs)rechtlichen Bremsen und Kontrollen können (und sollen) ihn einschränken, was jegliche demokratische oder andere Formen der Beteiligung an Willensbildungsprozessen ausschließt, der Wille des Führers wird total. Verschmelzen Masse und Führer, so sind sie zu Taten und Untaten fähig, auf die die Menschheit nur mit großer Bewunderung oder tiefem Grauen blickt. Massen machen Politik und werden zum Gegenstand der Politik – diese Doppeldeutigkeit der Massen ist erst relativ spät zum Thema der Ideengeschichte bzw. der Politischen Theorien geworden. Einerseits ist die Masse der Inbegriff der Leidenschaften, des Zügellosen, des Unkontrollierbaren, ja des Irrationalen, des leidenschaftlich, scheinbar irrationalen Mitgerissen-Seins zum Falschen und zum Schlechten. Aber sie wird zudem als eigenständiges politisches Subjekt betrachtet. Mit der Massenpolitik wird zugleich ein Grundthema6 angesprochen, das bisher nicht oder nicht in dieser Schärfe thematisiert wurde: In der Masse – dies ist die grundstürzende Erkenntnis der Theoretiker der Massen – handeln Individuen vollkommen anders als einzelne Individuen. Ein neues politisches Subjekt, ein bisher nicht gekanntes und vor allem leidenschaftlich-irrational handelndes Kollektivsubjekt, tritt in die Geschichte ein und beginnt, ihren Gang grundlegend zu verändern. Andererseits wird die Masse zum Gegenstand der Politik, der von politischen Führern manipuliert und mobilisiert wird und Kräfte freisetzt, die bestehende Macht- und Herrschaftsstrukturen umwälzen und neue Handlungsoptionen in das Repertoire der Politik einführen. Die Instrumentalisierung der Massen für die Zwecke der Führer ist also die andere Seite des Massephänomens. Die Massen werden hier zum manipulierbaren Kollektivobjekt, das ebenfalls den Gang der Geschichte grundlegend ändert. Ein gänzlich neues Verständnis von Politik beginnt sich abzuzeichnen, das nicht nur mit dem Irrationalen spielt, sondern die Politik womöglich selbst irrational werden lässt. An die Stelle religiöser Heilserwartungen traten nun weltliche Ideologien, die die Massen in Trance, in einen Rausch versetzen und sie zu
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4. Die Politik der Massen
Taten bewegen, die sie sonst nicht tätigen würden. Die zahlreichen Autoren des 20. Jahrhunderts haben eine große Ambivalenz, wenn nicht Abneigung gegenüber den Massen empfunden. Für sie war die Masse oft kein empirischer Gegenstand, sondern weit mehr Projektionsfläche von Sehnsüchten und Ängsten. Analysen über die Masse waren meist die Auseinandersetzungen verschiedener Projektionen, in die sich die Sorgen und Phantasien der jeweiligen Autoren tief eingegraben haben. Die Verachtung der Massen war in diesen Diskursen dominant und ihre Bedrohlichkeit für eine bestehende politische Ordnung, der potentielle Aufstand der Massen, ebenfalls. Aber immer zeichneten sich Versuche ab, ihnen ihre Bedrohlichkeit zu nehmen und in neue Formen der Politik zu gießen. Die Massenparteien waren historisch der erste Versuch, sie zu organisieren und strategisch in den politischen Auseinandersetzungen einzusetzen. Die totalitären Massenbewegungen waren ein weiterer Versuch, der tiefe Spuren des Grauens in der Geschichte des 20. Jahrhunderts hinterließ. Die einzige Theorie, die ihnen positiv gegenüber stand, war der Marxismus bzw. später der Leninismus. Aber auch hier war die Position nie eindeutig: Aus der Masse musste zunächst die Klasse werden, was mehr ist als nur der Austausch zweier Buchstaben. Und aus der Klasse „an sich“ musste die Klasse „für sich“ werden – zum objektiven Moment musste das subjektive treten, denn nur so hat die Klasse das Bewusstsein, im Sinne der Geschichtsphilosophie des Marxismus fortschrittlich zu werden und die Menschheit zu ihrem eigentlichen Ziel zu treiben: Der klassenlosen Gesellschaft.7 Die Freisetzung der Massen, ihre Befreiung aus der Unmündigkeit und ihre Verwandlung in ein bewusst handelndes politisches, ja revolutionäres Subjekt war das große Projekt des Marxismus. Sind die Massen von der richtigen Idee, der richtigen Politik ergriffen, dann werden sie zur unüberwindbaren Triebkraft der Geschichte. Aber „die Waffe der Kritik“ – so Karl Marx – kann „die Kritik der Waffen nicht ersetzten, die materielle Gewalt muss gestürzt werden durch die materielle Gewalt, allein die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift.“8
Die Idee ist klar: Man muss die Massen von ihren schlechten Eigenschaften befreien und sie dadurch zum Motor der Geschichte machen. Sind sie jedoch von ihrer blinden Irrationalität befreit, so wird aus der Masse etwas anderes: Die Klasse, das Proletariat als Motor der Geschichte. Nur die Klasse – unter Führung der kommunistischen Partei, versteht sich –, aber nie die Masse an sich kann den teleologisch gedachten und sich gesetzmäßig vollziehenden Geschichtsprozess zu ihrem Ende bringen. Drei Phänomene beschäftigen nun die politischen Denker und die denkenden Politiker: Die Masse, ihre Führer und ihre gegenseitige Verschmelzung. Die Massenpsychologie untersucht diese Interaktionen und wird zur „Wissenschaft einer neuen Politik“9 und – noch radikaler formuliert – „genau betrachtet ist in unse-
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ren Massengesellschaften die Kunst, die Massen aufzupeitschen, die Politik, eine auf die Füße gestellte Religion.“10 Damit ist ein neuer Politikbegriff gewonnen, der sich klar von den bisherigen absetzt und eine neue Qualität der Politik beschreibt: Die Mobilisierung der Massen nach den Gesetzen der Massenpsychologie. Die Masse, von einem politischen Führer mobilisiert und elektrisiert, eröffnet bisher nicht gekannte Spielräume in der Politik und ermöglicht ungeheure Machtkonzentrationen, die das 20. Jahrhundert geprägt haben. Politik wird dann – sofern sie die Gesetze der Massenpsychologie anwendet – die „rationale Form der Ausbeutung der irrationalen Tiefenschicht der Massen. Alle von ihr vorgeschlagenen Propagandamethoden, alle Suggestionstechniken, die ein Führer auf die Massen anwenden kann, sind daraus abgeleitet. Sie zielen auf die Emotionen der Individuen, um diese in ein kollektives Material zu verwandeln. Und wir wissen, dass ihnen das vortrefflich gelingt.“11
Aber wir wissen auch, dass es irrationale Formen der Ausbeutungen der irrationalen Tiefenschichten der Massen gab und gibt. Die Verschmelzung von Masse und Führer wird zum Treibstoff, der das 20. Jahrhundert entzündete und dessen Brandgeruch noch heute in der Luft liegt. Der deutsche Faschismus hat wie kein anderes politisches Regime zuvor die Massen manipuliert und zum Töten aufgehetzt, so dass sich im Nachkriegsdeutschland eine tiefe Skepsis gegenüber den Massen, weniger gegenüber den politischen Führern, verbreitet hat. Politik wie Politik- und Sozialwissenschaften verabschiedeten sich von den Massen und am Ende des Jahrhunderts haben sich die politischen Denker, Publizisten und Politiker beruhigt. Die Angst vor den Massen wich der Zuversicht, sie zu etwas anderem, harmloseren machen zu können. Zwar finden sich die Massen in verschiedensten Begriffskombinationen wieder, wie Massendemokratie, Massenmedien, Massenkonsum, Massenkultur etc., aber nach Ansicht vieler haben sie sich schlafen gelegt. Im Zeitalter der Individualisierung und neuer Techniken der Massenbeeinflussung scheint ihre Transformation in einen ungefährlichen Rohstoff der Politik gelungen. Das 20. Jahrhundert wurde „Das Zeitalter der Massen“12 genannt und ist es weitgehend geblieben. Der Verfasser dieses Buches, Gustave Le Bon, sieht klar, dass es die Gesellschaften am Anfang des 20. Jahrhunderts mit einer neuen politischen Kraft zu tun haben. Die Macht der Massen ist diese neue politische Kraft (Kap. 4.1.). Die ersten Versuche, die Kraft der Massen für bestimmte politische Zwecke zu organisieren, waren die Massenparteien. Sie entstanden um die Jahrhundertwende und prägten das neue Jahrhundert bis weit in die 50er und 60er Jahre hinein. Politik wurde vor allem mittels der politischen Parteien betrieben und eröffnete ihren Führern bzw. ihrem Spitzenpersonal neue Handlungsoptionen (Kap. 4.2.). Parallel dazu wurde deren Entpolitisierung betrieben, die auf sozial-psychologischer Ebene vor allem von Sigmund Freud vorgenommen wurde. Die Massen werden nicht von politischen Motiven und entsprechenden Leiden-
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schaften angetrieben, sondern von der Libido, einer psychischen Triebkraft, die er auch Liebe nennt. Er will aber gleichwohl Konzepte entwickeln, wie die Menschen aus ihrer Unmündigkeit in den Massengesellschaften befreit und zu autonomen Individuen gemacht werden können (Kap. 4.3.). Dass die Massen bzw. die Massenpolitik im Faschismus eine zentrale Rolle spielte, ist sicherlich unumstritten, aber es gab in der damaligen Zeit nur einen Versuch, dies theoretisch zu fassen. Wilhelm Reichs „Massenpsychologie des Faschismus“, bereits 1933 geschrieben, war dieser umstrittene, gleichwohl unvermeidliche Versuch. Die Ursache für die Passivität der Masse sieht er in der Unterdrückung des Sexualtriebes, der die Menschen zu passiven und autoritätshörigen statt zu politisch aktiven Wesen macht (Kap. 4.4.). Ein anderer Autor, der in der Nachkriegszeit die Rede von den Massen als ‚Ammenmärchen‘ abkanzelt, hat in der Weimarer Republik ein Buch geschrieben, das die Massen ganz anders sieht. Theodor Geiger attestiert ihnen eine revolutionär-destruktive Macht, die die bestehende Sozial- und Wirtschaftsordnung umstürzen kann. Aber sie sind nicht in der Lage, eine neue Ordnung aufzubauen (Kap. 4.5.). Derselbe, aber auch viele andere Autoren haben dann in den 60er Jahren die Massen verabschiedet und ihnen keine Bedeutung im Bereich der Politik (und der Gesellschaft) mehr zugeschrieben. Statt mit der Masse hätten wir es nun mit einer Vermassung zu tun, die durch die Massenproduktion und die Massenmedien hervorgebracht wird (Kap. 4.6.). Doch Totgesagte leben länger – dies gilt auch für die Massen. In den mittel- und osteuropäischen Transformationen zur Demokratie traten sie unübersehbar als politischer Akteur auf, die die kommunistischen Regime meistens friedlich stürzten und eine neue Gesellschaftsordnung errichteten. In der ehemaligen DDR konnte man – anders als in den anderen mittel- und osteuropäischen Ländern – eine eigentümliche Mischung von ‚Abwanderung und Widerspruch‘ (Albert O. Hirschman) beobachten, wobei die Abwanderung zu einer spezfischen Politik der Massen, ja zu einem Massenereignis wurde (Kap. 4.7.). Das Kapitel endet mit der Beobachtung, dass wir es am Ende des Jahrhunderts mit sich widersprechenden Diagnosen zu tun haben. Während einige Autoren vom Verschwinden der Massen sprechen, sehen wieder andere, vor allem marxistisch inspirierte Autoren wie Michael Hardt und Antonio Negri, eine Wiederauferstehung der Masse, die nun allerding mit einem neuen Begriff, dem der Multitude, versehen wird. Auch seien die bisherigen und tradierten Aktionsmodi der Politik unangemessen und müssten in der ‚post-politischen‘ Phase durch neue Aktionsformen ersetzt werden (Kap. 4.8.). Das abschließende Kapitel fragt, ob die Massen am Ende des Jahrhunderts nun wirklich Geschichte geworden sind oder ob sie erneut auf die politische Bühne zurückkehren und ihre Hand in die Speichen des Rades der Geschichte legen könnten (Kap. 4.9.).
4.1. Die Masse als politisches Kollektivsubjekt
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4.1. Die Masse als politisches Kollektivsubjekt: Gustave Le Bon und die Psychologie der Massen Der erste und vielleicht bedeutendste Blick auf die Massen wird am Ende des 19. Jahrhunderts geworfen. Die Frage ist, ob sich die Masse als neu auftretender politischer Akteur von den bisherigen grundlegend unterscheidet und ob neue Aspekte im Politikbegriff aufkommen. Die Antwort muss ‚ja‘ lauten: Es entsteht die Massenpsychologie bzw. die kollektive Psychopolitik, die mit dem Aufkommen der Massen, konkret der Versammlungsmassen, verbunden ist. Die Massenpsychologie glaubt nicht an eine durch Vernunft und Interessen begründete Politik. Sie glaubt dagegen, dass die Masse ein eigenes politisches Subjekt mit eigenen spezifischen Handlungsmustern ist, das einer ihr eigenen Logik folgt und im Kern nicht kontrollierbare, nicht vorhersehbare und nicht rationale politische Aktionen realisiert. Das für das 20. Jahrhundert wichtigste und einflussreichste Buch über die Massen wurde 1895 von Gustave Le Bon geschrieben. Wie in einem Brennglas fokussiert er die bisherigen massen-psychologischen Diskussionen, formuliert sie in einem kleinen Text eingängig und krempelt gleichwohl die bisherige Sichtweise um: Das Massenphänomen ist nicht länger das der Größe, noch das einer spezifischen sozialen, meist am Rande der Gesellschaft existierenden Gruppe. Vielmehr ist es das einer emotional-unbewussten Vereinigung beliebiger Menschen zu etwas Neuem: einem bisher nicht beobachteten sozialen und politischen Phänomen, das eine neue Dynamik in die Politik der modernen Gesellschaften einführt. Das Merkmal dieses neuen Kollektivsubjekts beschreibt G. Le Bon eindrücklich so: „Das Überraschendste an der psychologischen Masse ist: Welcher Art auch die Einzelnen sein mögen, die sie bilden, wie ähnlich oder unähnlich die Lebensweise, Beschäftigung, ihr Charakter, ihre Intelligenz ist, durch den bloßen Umstand ihrer Umformung zu Masse besitzen sie eine Art Gemeinschaftsseele, vermöge derer sie in ganz anderer Weise fühlen, denken und handeln als jeder von ihnen für sich fühlen, denken und handeln würde.“13
Der Begriff der „Gemeinschaftsseele“ versucht zwei Sachverhalte zu kennzeichnen. Er will zunächst verdeutlichen, dass sich die Individuen in der Masse nicht nur auflösen, sondern dass alle sozialen, geschlechtlichen und kulturellen Grenzen verschwimmen und alle Eins werden, unabhängig von allen anderen Merkmalen, die sie als Individuen auszeichnen. Dennoch werden sie – und das ist viel beunruhigender – auch Andere, weil das In-der-Masse-Sein auch das Seelenleben, die Psyche jedes Einzelnen, verändert. Die Masse verwandelt die Einzelnen und macht aus jedem Einzelnen etwas Anderes.
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4. Die Politik der Massen
4.1.1. Die Eigenschaften der Masse und ihre politische Qualität Wie sieht G. Le Bon nun die Masse? Seine Definition ist nicht überraschend – und ist es doch. „Im gewöhnlichen Wortsinn“ – so schreibt er – „bedeutet Masse eine Vereinigung irgendwelcher einzelner von beliebiger Nationalität, beliebigem Beruf und Geschlecht und beliebigem Anlass der Vereinigung.“ Sie besitzt vom „Menschen neue, von den Eigenschaften der einzelnen, die diese Gesellschaft bilden, ganz verschiedene Eigentümlichkeiten. (...) Sie bildet ein einziges Wesen und unterliegt dem Gesetz der seelischen Einheit der Masse.“14
Dass der Massebegriff den mehr oder weniger spontanen Zusammenschluss von beliebigen Menschen beinhaltet, ist nicht verwunderlich, aber dennoch eine bemerkenswerte Einsicht. Denn in der Masse brechen alle sonstigen Differenzierungen, die in Gesellschaften existieren, zusammen und es entsteht eine undifferenzierte, eine homogene Gruppe von Menschen, die es ansonsten nicht gäbe und sich nach der Massebildung wieder auflöst. Das Überraschende an seiner Definition aber ist, dass sie sich „aus beliebigem Anlass“ bildet. Von manchen Autoren wird dies als zentraler Mangel, als Unzulänglichkeit der Begriffsbildung betrachtet, sei doch gerade der Anlass der Massebildung der Punkt, an dem sich das wissenschaftliche Interesse entzünden müsste.15 Die Kontingenz des Anlasses unterstreicht jedoch, dass es beliebige Funken sein können, die die Zündung für die Massebildung in Gang setzen. Elias Canetti hat dies vielleicht am prägnantesten gesehen: „Einige wenige Leute mögen beisammen gestanden haben, fünf oder zehn oder zwölf, nicht mehr. Nichts ist angekündigt, nichts erwartet worden. Plötzlich ist alles schwarz von Menschen. (...) Viele wissen nicht, was geschehen ist, sie haben auf Fragen nichts zu sagen, doch haben sie es eilig, dort zu sein, wo die meisten sind. (...) Die Bewegung der einen, meint man, teilt sich den anderen mit, aber das allein ist es nicht: sie haben ein Ziel. Es ist da, bevor sie Worte dafür gefunden haben: das Ziel ist das schwärzeste – der Ort, wo die meisten Menschen zusammen sind.“16
Der Anlass der Massebildung ist beliebig, es müssen nur einige wenige beisammenstehen. Manchmal entsteht sie durch ein (unbestimmtes) Ereignis und manchmal mögen es auch gute oder letzte Gründe sein – aber das Skandalon von G. Le Bon bleibt: „beliebiger Anlass der Vereinigung“. Ist der beliebige Anlass eingetreten, dann entsteht die Masse durch puren Sog, sie zieht es dorthin, wo es am schwärzesten ist: Menschenschwärze. Jenseits der reinen Vereinigung besitzt eine Versammlung von Menschen eine neuartige Qualität, die G. Le Bon in Ermangelung eines besseren Begriffs „psychologische Masse“17 nennt. Sie ist ein unbestimmtes Wesen, das aus ungleichartigen Bestandteilen besteht und sich dennoch zu einem Ganzen wandelt und als Ganzes zu Denken, Fühlen und Handeln beginnt.
4.1. Die Masse als politisches Kollektivsubjekt
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„In der Gemeinschaftsseele verwischen sich die Verstandesfähigkeiten und damit auch die Persönlichkeiten der Einzelnen. Das Ungleichartige versinkt im Gleichartigen und die unbewussten Eigenschaften überwiegen. Eben die Vergemeinschaftlichung der gewöhnlichen Eigenschaften erklärt uns, warum die Massen niemals Handlungen ausführen können, die eine besondere Intelligenz beanspruchen. (...) Die Masse nimmt nicht den Geist, sondern nur die Mittelmäßigkeit in sich auf.“18
Masse und Mittelmäßigkeit – dies ist noch eine den Massen schmeichelnde Beschreibung und diese Kombination entsteht durch verschiedene Faktoren. Zunächst empfindet der Einzelne in der Masse „unüberwindliche Macht“19, die ihn zu triebhaften Handlungen veranlassen, die er sonst durch seine Kontrolle in Zaum halten würde. Anonymität und geschwundenes Verantwortungsgefühl steigern die Triebhaftigkeit. Der Einzelne geht sozusagen in der Masse unter und handelt nur noch als ‚Masse‘. Zweitens kommt durch Übertragung die eine Richtung zustande, in die sich die Masse bewegt. In der Masse ist jedes Empfinden, jedes Gefühl, jede Handlung übertragbar wie ein Funke, der von einem zum anderen springt und alle miteinander zu einem neuen Organismus verbindet. Und schließlich ist Beeinflussbarkeit der wichtigste Faktor der Entstehung der Massenseele. Die Masse ist von außen und von innen beeinflussbar: von innen durch „Ausströmungen“20, die von ihr selbst ausgehen, und von außen durch eine Art Hypnose, die durch Führer oder andere Manipulateure erfolgt. Ob die Masse erregt wird oder nicht, hängt stark von den Anreizen ab, denen sie von außen ausgesetzt ist. Dies können Bilder, Mythen, Legenden oder auch Ereignisse des Augenblicks sein, die aber von der Masse selbst umgeformt werden. Durch die kollektive Phantasie der Massen entstehen „ungeheuerliche Entstellungen“21, die mit der Wirklichkeit oder beobachtbaren Tatsachen oft nichts mehr zu tun haben. Es sind „Kollektivhalluzinationen“22, die eine eigene Wirklichkeitsdimension erlangen, schon allein weil sie von den Vielen geteilt und bestätigt werden.23 Durch all das ist der Einzelne nicht mehr er selbst, sondern hat sich in ein triebhaftes und instinktgeleitetes Wesen verwandelt, das er nicht mehr unter Kontrolle hat. Er wird zum „Automaten“ und steigt allein wegen seiner Mitgliedschaft in der Masse „mehrere Stufen von der Leiter der Kultur hinab.“24 Hier sind wir wieder beim „Unten“ – der Einzelne in der Masse und die Masse selbst wird zum „Barbar“, zu einem „ursprünglichen Wesen.“25 Die Mittelmäßigkeit, von der G. Le Bon an anderer Stelle spricht, ist hier nach ganz unten abgerutscht und bewegt sich auf dem Niveau von Wilden, Kindern, Barbaren – diesmal keine Schmeichelei für die Massen, sondern Verachtung. Eine weitere Eigenschaft ist von Bedeutung: ihre Veränderbarkeit und Fluidität. Sie kann ihre Aufmerksamkeit, ihr Wollen nicht dauerhaft auf einen Gegenstand richten, sondern ändert ihre Richtung fortwährend. Flatterhaftigkeit – so die patriarchale Assoziation – sei weiblich; überall seien „die Massen weibisch, die weibischsten aber sind die lateinischen Massen.“26 Äußert sich die Gemein-
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schaftsseele, so werden zwei Sachverhalte überdeutlich. G. Le Bon nennt sie Überschwang und Einseitigkeit und „den Frauen gleich gehen sie sofort zum Äußersten.“27 Nur durch übermäßige Empfindungen kann die Masse erregt werden und nur gute Redner, die auf der Klaviatur dieser Gefühle virtuos spielen, werden die Massen zur leidenschaftlichen Aktion treiben können. Erneut betont G. Le Bon die Gefühlsebene, kein Redner darf einen Beweis oder Einzelheiten beibringen, um die Massen zu bewegen. G. Le Bon kennt kein Halten und treibt die Verachtung der Massen immer weiter. Ihre Sympathie – so behauptet er – gilt nie den Schwachen, den Zauderern, sondern den Tyrannen, Herrschsüchtigen, den Despoten. Ihnen errichten sie Denkmäler und ihnen ordnen sie sich unter und beugen sich „knechtisch vor einer starken Herrschaft.“28 Gegen Neuerungen ist sie allergisch, sie hält immer an dem Bestehenden fest. Wie alle „Primitiven“ hat sie einen „Beharrungsinstinkt“ und eine „fetischistische Ehrfurcht vor den Überlieferungen, einen unbewussten Abscheu vor allen Neuerungen.“29 Zu einer weiteren Besonderheit äußert er sich ambivalent – zu ihrer Sittlichkeit. Sie sind einerseits zu großen und heroischen Taten fähig, die „hochsittliche(n) Handlungsweise(n)“30 nahe kommen. Zugleich können sie ihren niedrigen Instinkten folgen und grauenhafte Taten begehen. Ein weiterer Aspekt muss noch erwähnt werden. Die Überzeugungen der Massen nehmen immer die Form religiöser Gefühle an, mit der immer Unduldsamkeit und Fanatismus verbunden ist. Nur so ist es zu erklären, dass Menschen in der Masse oder die Masse als Ganzes bereit ist, ihre Führer nicht nur anzubeten, sondern auch ihr Leben für bestimmte Ideen oder Ideale zu opfern. Gute Führer sind „große Seeleneroberer“31 und es ist kein Zufall, dass er hier von der Männern zugeschriebenen Eigenschaft des Eroberns spricht.
4.1.2. Die Massen und der Führer: Zum Amalgam von Herrschaft und Knechtschaft in der Massenpolitik Über das Verhältnis von Massen und Führer macht G. Le Bon nicht viel Federlesen. Um keine Zweifel aufkommen zu lassen, behauptet er gleich zu Beginn, dass eine Herde Tiere ebenso wie eine Menschenmenge sich unwillkürlich einem Führer unterstellt. Unwillkürlich – also ist die Masse wie eine Herde, die sich ohne Hirten nicht zu helfen weiß. Deshalb immer und unwillkürlich der Ruf nach dem Führer. „Sein Wille ist der Kern, um den sich die Anschauungen bilden und ausgleichen.“32 Damit scheint alles geklärt, aber dann macht er eine überraschende Bemerkung, wenn er auf die Charaktereigenschaften der Führer zu sprechen kommt. Er sieht klar, dass viele Führer zuvor Geführte waren und nun von einer Idee so hypnotisiert oder fanatisiert sind, dass sie sich zu Führern aufschwingen. Sie teilen die ganzen Eigenschaften der Masse, die er zuvor beschrieben hat. Aber
4.1. Die Masse als politisches Kollektivsubjekt
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nun kommt eine Beobachtung hinzu, die verblüfft und zugleich enorm weitsichtig ist. „Man findet sie (die Führer, F.W.R.) namentlich unter den Nervösen, Reizbaren, Halbverrückten, die sich an der Grenze des Irrsinns befinden. So abgeschmackt auch die verfochtene Idee oder das verfolgte Ziel sein mag, gegen ihre Überzeugung wird alle Logik zunichte. Verachtung und Verfolgung stört sie nicht. (...) Sogar der Selbsterhaltungstrieb ist bei ihnen ausgeschaltet, und zwar in solchem Maße, daß die einzige Belohnung, die sie oft anstreben, das Martyrium ist.“33
Man muss diese Stelle nicht mehrmals lesen, um die gleiche Verachtung zu verspüren, die er auch gegen die Masse hegt. „An der Grenze des Irrsinns“ – da bewegen sich die Führer. Wenn man von heute auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts zurückblickt, ist man von der Weitsicht seiner Beobachtung beeindruckt. Hätten die Zeitgenossen diese Zeilen doch aufmerksamer gelesen! Die Führer folgen unbeirrt und unausgesetzt einer Idee, von der sie getrieben werden und sie verfolgen ihre Idee – im Zweifelsfall am Rande des Irrsinns – mit „beharrlichem Willen“, der eine „unendlich seltene und unendlich mächtige Eigenschaft“ ist.34 G. Le Bon benutzt hier zweimal das Wort unendlich, um die Seltenheit des Auftretens solcher ‚großen‘ Führer zu betonen. Sie bilden den Gipfel einer absteigenden Reihe, in deren Mitte oder Ende sich die ‚kleinen‘ Führer befinden, die in „rauchigen Kneipen“35 ihre Botschaften predigen.36 Damit aber die großen Führer die Massenseele erreichen, müssen sie drei Beeinflussungstechniken verwenden: Behauptungen ohne jeden Beweis und ohne Belege, die durch immerwährende Wiederholung den Charakter einer ‚bewiesenen‘ Wahrheit annehmen und von den Massen geglaubt werden. Wenn Behauptungen oft genug wiederholt werden, dann bildet sich eine geistige Strömung, die sich durch Übertragung in den Massen verbreitet. Ideen, Gefühle, Erregungen, Glaubenslehren – alles überträgt sich und steckt die Massen an. Und bereits 1895 erkennt G. Le Bon, dass Übertragung nicht die Anwesenheit der Masse, also die Versammlungsmasse, voraussetzt. Sie kann auch aus der Entfernung erfolgen und dennoch die Vereinzelten erreichen und sie in die gleiche Richtung lenken. Später werden diese Funktion das Radio und noch später die Massenmedien übernehmen, die die Propaganda der Führer in jeden Winkel eines Landes übertragen – durchaus im doppelten Wortsinne: in der von G. Le Bon formulierten „Übertragung“ und in einem technischen Sinne mittels der verwendeten Medien. Was aber motiviert die Führer, die die Massen motivieren? Es ist eine Idee oder Ideologie, die sie unausgesetzt führt und antreibt und ihnen keine Ruhe lässt. Als „Gefangene einer Mission“37 sind sie in sich selbst eingeschlossen, sie bewegen sich im Gefängnis ihrer Ideen, aus dem es kein Entkommen gibt. Und so wie der Führer von seiner Idee beherrscht ist, so versucht er die Massen zu beherrschen. Nur wenn die Idee tyrannisch ist, ist es auch der Führer und ermöglicht ihm die Überlegenheit, die die Massen erwarten.
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4. Die Politik der Massen „Wohl haben die Seher, Apostel, Führer, mit einem Wort die Überzeugten, eine ganz andere Gewalt als die Verneiner, Kritiker und Gleichgültigen, aber wir dürfen nie vergessen, dass eine einzige Anschauung, die genügend Nimbus gewänne, um sich durchzusetzen, mit Hilfe der Macht der Massen bald eine so tyrannische Gewalt erlangen würde, dass sich alsbald alle vor ihr beugen müssten.“38
In der Aufzählung treten die Politiker nicht explizit auf, aber man kann ‚Führer‘ immer auch als ‚politische‘ Führer lesen. Die Besessenheit von einer Idee macht sie zu dem Typus von Menschen, der sie an die ‚Grenzen des Irrsinns‘ treibt. Aber sie können in das Ich eines jeden Teils der Masse eindringen, sich dort einnisten und es beherrschen. Diese Beherrschung – so folgert die Massenpsychologie – lässt in der Masse das Bedürfnis nach Dankbarkeit und Bewunderung aufkommen, die den Führern entgegengebracht wird. Was G. Le Bon nicht sehen konnte, aber das Jahrhundert überdeutlich gemacht hat: Die Autorität der Führer wird durch den alltäglichen Terror ergänzt, der das Opfer von Abermillionen erfordert. Die Massen werden dadurch von ihren Führern nicht entfremdet, im Gegenteil. Man kann unschwer erkennen, dass umso mehr Dankbarkeit und Bewunderung die Führer erfahren, desto gewalttätiger agieren sie. Nach Stalins Tod weinten die Massen auf den Straßen und trotz der sich abzeichnenden militärischen Niederlage Hitlers gingen viele Menschen freiwillig in den Krieg und den sicheren Tod. Der Tod der Führer hinterlässt eine „Vakanz der Macht“,39 der für sie unerträglich ist und sie in Panik und Unsicherheit stürzt. Deshalb auch der immerwährende Versuch, den Tod von politischen Führern hinauszuzögern, so als ob diese niemals sterben, sondern ewig leben würden.
4.1.3. Das „automatische Denken“ der Masse: Von der Idee zur Tat Was bewegt die Massen und wie schlägt das Unbewusste in die Tat um? Dies sind die zentralen Fragen, mit denen sich die Massenpsychologie beschäftigte. Die Antwort auf diese Fragen ist komplex und die unterschiedlichen Theoretiker haben sie jeweils unterschiedlich beantwortet, aber man kann auf ein zentrales Konzept rekurrieren, das vor allem G. Le Bon formuliert hat. Man muss davon ausgehen, dass das, was das Individuum normalerweise ausmacht, in der Masse verschwindet und durch andere Mechanismen ersetzt wird. „Schwinden der bewussten Persönlichkeit, Vorherrschaft des unbewußten Wesens, Leitung der Gedanken und Gefühle durch Beeinflussung und Übertragung in der gleichen Richtung, Neigung zur unverzüglichen Verwirklichung der eingeflößten Ideen. Der Einzelne ist nicht mehr er selbst, er ist ein Automat geworden, dessen Betrieb sein Wille nicht mehr in der Gewalt hat.“40
4.1. Die Masse als politisches Kollektivsubjekt
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Das sind wahrlich keine freundlichen Beschreibungen und es tauchen verschiedene Begriffe auf, bei denen man länger verweilen könnte. Zentral aber ist die Vorstellung, dass die Individuen zu Automaten werden, die nicht mehr vom individuellen Willen kontrolliert werden. Was sind nun die Merkmale des automatischen Denkens? Die Massen bedienen sich, erstens, nicht der Logik oder der Vernunft, sondern ‚denken‘ mit Bildern und Metaphern. Die Idee der Hypnose unterstellt, dass Bilder zentral sind und Überlagerung und Projektion eine große Rolle spielen. Überlagerung bedeutet, dass Vorstellungsbilder auf der Grundlage oberflächlicher Merkmale einander zugeordnet werden; man erwartet, dass ein durchsichtiger fester Körper wie Eis im Mund zerschmilzt und erwartet das auch bei Glas. Diese vorschnelle Übertragung der Eigenschaft eines Gegenstandes auf einen anderen, aber nur ähnlichen, ist ein wichtiges Merkmal. Projektion ist die Unfähigkeit, die Wirklichkeit von ihrer (richtigen oder falschen) Darstellung zu unterscheiden. Derart projiziert die Masse ihre eigenen, oft falschen Vorstellungen nach außen auf die Wirklichkeit, ohne die Differenz zwischen beiden zu prüfen.41 Aber Bilder haben die Kraft, bestimmte Vorstellungen in der Masse, die zuvor nur geschlummert haben, zum Leben zu erwecken, sie zu erschüttern und zur Tat zu animieren. Das zweite Merkmal ist die „Gleichgültigkeit gegen den Widerspruch.“42 Die Masse übernimmt bestimmte fiktive Sachverhalte, die sie nicht durch die Wirklichkeit oder durch vernünftige Argumente, Gründe oder Tatsachen prüft. Die Verletzung der Prinzipien der Elementarlogik führt auch dazu, dass die Masse schwankt: An einem Tag verfolgt sie diese Idee, am nächsten eine andere. „Man wird also einsehen, dass in der Masse die entgegengesetzten Vorstellungen einander folgen. Unter dem Einfluss einer der verschiedenen in ihrem Verstand aufgespeicherten Ideen folgt die Masse dem Zufall des Augenblickes und wird infolgedessen die verschiedenartigsten Taten begehen. Der völlige Mangel an kritischem Geist lässt sie die Widersprüche nicht sehen.“43
Die Leidenschaftlichkeit ist die dritte Eigenart der Masse, die es ihr erlaubt – oft durch Suggestion oder Einfluss von außen – aus einer Fülle von Bildern im Prinzip beliebige hervorzubringen und diese zu aktualisieren. Oft genügt ein Wort – etwa „Ausländer“ oder „amerikanische Hochfinanz“ – um bestimmte Assoziationen und Verknüpfungen zu aktualisieren, die tief in der Masse gespeichert sind, blitzartig an die Oberfläche gelangen und zur unmittelbaren Aktion drängen. Aber nicht die Beweiskraft, sondern die Zeigekraft eines Bildes ist zentral.44 Und die Masse wird – wie bei Machiavelli die fortuna – bei G. Le Bon erneut mit dem Weibischen identifiziert: Launenhaftigkeit, Unberechenbarkeit, Emotionalität, Leidenschaft etc. Hinzu tritt eine weitere, mit dem Weibischen assoziierte Eigenschaft: ihre Eroberbarkeit. „Die Masse liebt die starken Männer. Die Masse ist wie eine Frau.“45
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4. Die Politik der Massen
Mit diesen Überlegungen war der Anfang gesetzt und die Diskussion des 20. Jahrhunderts konnte hinter diese Erkenntnisse nicht zurückfallen. G. Le Bon hatte – wie erwähnt – vor allem die Versammlungsmassen im Blick und die Politik der Massen und mit den Massen. In der Verschmelzung von Masse und Führer sah er den gefährlichsten Sprengstoff, der bisherige Macht- und Herrschaftsstrukturen aufsprengen konnte. Dass dieser Sprengstoff im 20. Jahrhundert so verheerende Wirkungen zeitigen würde, das konnte selbst der pessimistische G. Le Bon nicht erahnen.
4.2. Die Politik der organisierten Massen: Die politischen Parteien als Massenorganisationen Für die Politische Theorie bzw. die Politikwissenschaft waren und sind die Massen – wenn überhaupt – nur ein Randphänomen. In den heutigen einschlägigen Lexika der Politikwissenschaft findet man in der Regel keinen Eintrag unter dem Stichwort „Masse“ oder „Massendemokratie“, allenfalls „Massenmedien“ tauchen gelegentlich auf. Allein in der Parteientheorie geisterten sie in Form der „Massenparteien“ herum, die in der Nachkriegsphase – so die herrschende Meinung46 – allerdings durch einen neuen Parteientypus abgelöst wurde, den der Volkspartei oder „catch all“-Partei.47 Die Massenparteien wurden so zum historischen Relikt abgestempelt, das in der Reservatenkammer der Geschichte verstaubt. Man kann dieses Relikt wie im Museum noch bestaunen, man kann sich noch vor seiner vergangenen Kraft grauen, man kann seine heroischen Taten bewundern, aber es ist Geschichte. Die Massen wurden zum ‚Elektorat‘, zum unorganisierten Volk, auf das die Volksparteien und später dann die professionalisierten Wählerparteien ihre (Wahl-)Aktivitäten richteten. Historisch betrachtet traten zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit den unorganisierten Versammlungsmassen relativ schnell die organisierten Massen auf, deren dominierende Organisationsform die politischen Parteien wurden. Sie fanden ihren politisch wichtigsten Ausdruck in den Massenparteien, die die natürlichen zu künstlichen Massen machten (vgl. dazu ausführlich Kap. 12). Sie sind das Produkt von strategischen Handlungen, präziser: von Organisierung, wodurch eine neue politische Qualität bzw. eine neue politische Handlungsagentur entsteht. „Die organisierten Massen dagegen, Verbindungen höherer Ordnung, bilden und entwickeln sich aufgrund innerer Bedingungen, unter dem Antrieb kollektiver Anschauungen, Wünsche, über eine Kette von Nachahmungen, die die Individuen mehr und mehr einander und ihrem gemeinsamen Vorbild, dem Führer, gleichen lassen.“48
Hier werden die Vorteile der Organisation deutlich angesprochen. Die ‚Kette von Nachahmungen‘ sind in den politischen Parteien die vielen Hierarchien, die in ihnen entstehen und in denen Ketten von Handlungsmustern, Wiederholungen von
4.2. Die Politik der organisierten Massen
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Ideen und Bildern und schließlich auch hypnoseähnliche Suggestionen in einem weit höheren Maß reproduziert werden als im unmittelbaren Zusammenspiel zwischen Führer und Masse. Die organisierten Massen werden durch die politischen Parteien nun zu einem neuen Typus der politischen Handlungsfähigkeit umgeformt. • •
• •
Vervielfältigung der Möglichkeiten von Führern und Führung; Anordnungen und Umsetzungen der Ideen, Programme, Bilder etc. des Führers werden durch hierarchische Strukturen erleichtert und deren Chancen auf Realisation gesteigert; Mechanismen der Nachahmung werden stabilisiert und zugleich vervielfältigt; die Reproduktionsfähigkeit, die Fähigkeiten zu Wiederholungen werden gesteigert und verlaufen von „oben“ nach „unten“, wodurch zugleich die Chancen und Möglichkeiten der politischen Führer und deren Organisationen gesteigert werden.
Am radikalsten haben sicherlich R. Michels49 und später M. Weber50 diese Form der politischen Organisation der Massen durch die politischen Parteien beschrieben. Bei ihnen werden Maschinenmetaphern zentral, mit denen sie nicht nur die sozialistischen, sondern alle Massenparteien beschreiben.51 Die Massenparteien sind der unvermeidliche Ausdruck der modernen Massengesellschaften und sofern diese demokratische Grundstrukturen annehmen, wie in der Weimarer Republik, sind sie Kinder der Demokratie. Die Einführung des allgemeinen Wahlrechts, die damit verbundenen Wahlkämpfe um Wählerstimmen, die Parteienkonkurrenz etc., all das machte die Organisation der Masse zu handlungsfähigen und vereinheitlichten Gruppen unvermeidlich. R. Michels hat diese Dynamiken in seiner Schrift „Zur Soziologie des Parteiwesens“52 eindringlich beschrieben. Während die Massen in den Schriften der Massenpsychologie von G. Le Bon, G. Tarde u. a. noch als eigenständiges politisches Subjekt, als kollektive Handlungsfähigkeit mit eigenen Gesetzmäßigkeiten beschrieben weden, kehrt sich bereits seit R. Michels und dann vor allem bei M. Weber diese Beobachtung um, aber aus der Massenpsychologie werden gleichwohl wichtige Prämissen übernommen.53 Zentral aber war die Orientierung nicht an den Massen an sich, sondern an spezifischen Teilen. Die Hauptaufgabe der Parteien in der damaligen Zeit war die Beeinflussung, Festigung und Organisierung der jeweiligen sozialen Segmente, die sie unterstützten. Bei den ‚Massen‘ handelte es sich um bereits durch bestimmte soziale oder Klassenlagen vordefinierte und klar abgrenzbare soziale Gruppen, die zugleich durch eine bestimmte, sozio-kulturell definierte Identität geprägt waren, die große Teile des sozialen Lebens bestimmten (Neumann 1956: 403). Umgekehrt war es die Aufgabe der Partei, diese Identität immer wieder neu
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zu formen und innerhalb ihrer Mitgliedschaft zu organisieren. Richard S. Katz und Peter Mair sprechen von einer „strategy of encapsulation“, die hierfür entwickelt wurde. 54 Das Spitzenpersonal der politischen Parteien waren die Agenten dieser sozialen Gruppen, die deren Interessen in den politischen Prozess einbrachten, entsprechende Forderungen bzw. Programmatiken formulierten und diese vor allem im politischen Kampf und auch durch die Besetzung von öffentlichen Ämtern durchsetzen wollten. Die Massenparteien und ihre Abgeordneten repräsentierten also nur ein und v. a. ein klar abgrenzbares Segment der Gesellschaft und nicht die Gesellschaft als Ganzes. Die von den Massenparteien formulierten Gesellschaftsentwürfe waren miteinander unvereinbar, dem Kompromiss nicht zugänglich und bedingten eine unvermeidlich extrem polarisierte Parteienkonkurrenz. Diese schlug – wie wir aus der Geschichte der Weimarer Republik wissen – oft in gewalttätige Konflikte um. K. Mannheim hat in seiner Wissenssoziologie die Programmatik der großen und relevanten ideologischen Strömungen bzw. deren Parteien unübertroffen beschrieben und zugleich auf die soziale Stellung dieser Gruppen in der Gesellschaft zurückgeführt.55 Um aber als Kampfpartei bzw. „kriegführende Partei“56 agieren zu können, bei der nicht nur die große Zahl der zu mobilisierenden Massen ausschlaggebend war, sondern auch die Schnelligkeit und Schlagfertigkeit des Agierens, bedurfte es einer umfassenden Organisation, die in eine radikale Oligarchisierung der Parteien umschlug. Die Notwendigkeit der Organisation und straffer hierarchischer Führung führte zu dem Paradox, dass, um handlungsfähig zu sein, die Massenparteien eine organisatorische Struktur annehmen mussten, die ihren programmatischen Grundsätzen, der Durchsetzung der Demokratie generell und der innerparteilichen Demokratie im Besonderen, fundamental widersprach. Um politisch wirksam zu sein, musste sich die Partei immer neue Massen erschließen57 und diese in ihre soziale und politische Programmatik einbinden. Aber Massenherrschaft ist ohne ein System der Vertretung oder der Delegation unmöglich. Die Delegierten sollten „für die Massen auftreten und die Ausführung ihres Willens erleichtern“58, aber die Delegierten begannen sich von den Massen zu entfernen und zusammen mit den Bürokraten und den sich professionalisierenden Parteieliten ein „Eigeninteresse, ein Interesse an sich selbst und für sich selbst“ zu entwickeln59 und führten dadurch eine von den Massen abgehobene Existenz. Zentral war zudem die Dominanz der außerparlamentarischen Partei gegenüber der Partei in den staatlichen Ämtern.60 Politische Parteien waren Organisationen, die v. a. in der Gesellschaft präsent und aktiv waren, aber auch einen parlamentarischen Arm besaßen, der jedoch der Partei außerhalb des Staates untergeordnet war. Die Parlamentsvertreter waren Delegierte der Partei, die mit einer Art imperativem Mandat versehen waren, das sie zum „Mund der Massen“ machen sollte, ohne großen Spielraum und ohne von den Massen getrennte Interes-
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sen zu haben. Die „party of social integration“61 war vorwiegend gesellschaftliche Organisationsform, die über ihren parlamentarischen Arm eine Verbindung, ein „linkage“ zwischen Gesellschaft und demokratischem Staat herstellte. Die Wähler wählten nicht zwischen verschiedenen Parteien, sondern bestätigten ihre Identität durch die Wahl ihrer Partei.62 Und Politik ist hier der politische Kampf und außerordentlich polarisierte Konflikt zwischen Parteien, die um Anteile an politischer Macht kämpfen, um ihre jeweiligen Gesellschaftsentwürfe durchzusetzen, notfalls auch mit Gewalt. Die verschiedenen Gesellschaftsentwürfe umfassten auch unterschiedliche Konzeptionen des politischen Regimes, wovon die parlamentarische Demokratie nur eine von vielen möglichen war. Sie konkurrierte mit dem Konzept der plebiszitären Demokratie ebenso wie mit nicht-demokratischen, seien es sozialistische politische Regime, die Diktatur des Proletariats oder ständische Regime, um nur die wichtigsten zu nennen. Die parteipolitisch-organisatorische Durchdringung der Massen steigerte ihre Kontrollierbarkeit und machte sie dadurch zum Instrument einer massenbasierten Politik. Die Furcht vor den Massen schwand zwar nicht, sie war immer noch die unkontrollierbare, dämonische und schwankende Handlungsfähigkeit, aber durch Organisierung wurde sie zu einer handhabbaren Gruppe, die zudem die Massengesellschaften intern strukturierte.
4.3. Die (Ent-)Politisierung der Massen und deren Psychologie bei Sigmund Freud: Masse und Libido Sigmund Freud schrieb im Jahr 1921 ein zwar kleines, aber folgenreiches Büchlein mit dem Titel „Massenpsychologie und Ich-Analyse“, mit dem er an die Arbeiten v. a. von G. Le Bon, aber auch von G. Tarde, anknüpft und sie zugleich weiterentwickelt. Was mag ihn getrieben haben, seine Konzentration auf die Individualanalysen – theoretisch wie praktisch – aufzugeben und sich im Alter von fast 65 Jahren der Sozialpsychologie zu widmen? Zum ersten Mal erwähnt er diese Arbeit in einem Brief vom Mai 1919 an seinen Freund und Kollegen Sándor Ferenczi,63 aber über die Gründe schweigt er sich – auch in anderen Briefen – leider aus. Er tat sich nicht leicht mit diesem Werk. In einem Brief an seine Tochter Anna schreibt er Anfang August 1920, dass er Notizen zu diesem Thema in seinen Urlaub nach Bad Gastein in den Alpen mitgenommen und durchgesehen habe, „aber es drängt mich noch nicht zu ihr.“64 Ein paar Tage später berichtet er, dass er an dem Manuskript arbeitet und Mitte August schreibt er, „ich zittere, mit dem Entwurf der Massenpsychologie nicht fertig zu werden.“65 S. Freud hatte mit dieser Angst völlig Recht. Das Buch ist nie fertig geworden – im übertragenen Sinn zumindest. Es wurde gedruckt, es wurde rezipiert, es wurde einflussreich, aber es ist nie fertig geworden. An das Ende des Manuskrip-
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4. Die Politik der Massen
tes hat er „Nachträge“ hinzugefügt, die ebenso additiv sind wie die einzelnen Kapitel, aus denen es besteht. Zwar schreibt Freud über Massenpsychologie, aber immer wieder kehrt er zu individualpsychologischen Fragen zurück. Sein Buch endet mit keinem Ausblick, keiner Zusammenfassung, keiner Zuspitzung der Gedanken oder Verallgemeinerungen – es endet einfach. Es hätte auch anders enden können, ohne das letzte Kapitel oder mit irgendeinem anderen. In den Nachträgen werden verschiedene Stränge erneut aufgenommen, aber auch hier wirkt die Aneinanderreihung willkürlich. Er fügt etwas zum Christentum dazu, dann etwas zur Urhorde, dann zu gehemmten und ungehemmten Sexualtrieben, obwohl er sonst von Libido spricht etc. Insgesamt ist es ein Fragment geblieben, etwas Unfertiges und Unvollständiges, aber es fügt sich in die am Ende seines Lebens gefundenen Thematiken ein, die das Gesellschaftliche oder das Soziale weit mehr betreffen als die Individualpsychologie. Die Gründe, dieses Buch zu schreiben, bleiben ebenso unklar. Keine der einschlägigen Biographien gibt hierüber klare Auskunft.66 Aber es gibt gewisse Anzeichen, dass er in der lieblos-militaristischen Behandlung vieler Soldaten im Ersten Weltkrieg eine der Ursachen für die vielen Neurosen sah, von denen die Soldaten befallen waren und die letztlich die Willenskraft der Armee zersetzten.67 So ist es auch zu erklären, dass das Heer bzw. das Militär als eines von zwei Beispielen für organisierte Massen in seinem Buch auftaucht.68 Zudem mögen die „düsteren Aussichten der politischen Lage“69 in Österreich eine Rolle gespielt haben, weil die Koalition zwischen den Sozialdemokraten und den Christlich-Sozialen bereits im Jahr 1920 zerbrochen war und die antisemitischen politischen Kräfte an Bedeutung gewannen. Auch die fragwürdigen Ergebnisse seiner Hypnoseversuche könnten dazu geführt haben, dass er sich nun verstärkt sozialen Problemen zuwandte und diese mit den Theorien der Psychologie bearbeiten wollte.70 Darüber hinaus waren die Massen seit den heftigen und auch gewalttätigen Kämpfen in der Frühzeit der Weimarer Republik und in Österreich eine nicht zu übersehende soziale, aber vor allem auch politische Größe im gesellschaftlichen Leben. Massenstreiks, revolutionäre Bewegungen und neue demokratische Einrichtungen unter Beteiligung der Massen waren in den Jahren während und nach dem Sturz der Monarchie unübersehbar und bestimmten die Politik. Diesen aufgewühlten Zuständen konnte niemand entrinnen – und S. Freud als interessierter Beobachter des Geschehens noch viel weniger. Sein Interesse an sozialpsychologischen Themen zieht sich durch sein gesamtes Spätwerk, stehen doch die Führer und die Religion und ihrer beider Bedeutung bei der Unterdrückung der positiven Kräfte von Menschen dort ebenso im Mittelpunkt wie in seiner Massenpsychologie.71 Gleichwohl taucht in dem gesamten Text das Wort Politik bzw. politisch – wenn ich ihn recht gelesen habe – nicht ein einziges Mal auf – und doch ist der politische Kontext nicht zu übersehen. Im Gegensatz zu den bisherigen Theoreti-
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kern der Massen versucht er nicht nur einen neuen Zugriff zur Erklärung des Massenphänomens, sondern stellt auch weit mehr die Rolle der Führer in den Mittelpunkt. Und die Führer konnten nur politische Führer sein, andere Figuren waren und sind nicht denkbar. Allein der Führer ist in der Lage, das gefährliche Potential der Massen zu entzünden und zur Entladung zu bringen. Allein der politische Führer mobilisiert oder instrumentalisiert die Massen, um bestehende Macht- und politische Kräftekonstellationen zu verändern und neue zu generieren. Aber das alles bleibt eigentümlich unthematisiert. Gleich zu Beginn seiner kleinen Schrift formuliert er drei Fragen: „Was ist nun eine ‚Masse‘, wodurch erwirbt sie die Fähigkeit, das Seelenleben des Einzelnen so entscheidend zu beeinflussen, und worin besteht die seelische Veränderung, die sie dem Einzelnen aufnötigt?“72 Das sind seiner Ansicht nach die drei zentralen Fragen der Massenpsychologie, auf die er nun Antworten finden muss. Er beginnt – etwas erstaunlich – die dritte zu beantworten, die nach den ‚aufgenötigten‘ Veränderungen der Seele des Einzelnen, während die anderen beiden eher am Rande thematisiert werden. Aber immerhin versucht er sich in der Einleitung an einer Definition der Masse und legt fest, dass die Massenpsychologie „also den einzelnen Menschen (behandelt) als Mitglied eines Stammes, eines Volkes, einer Kaste, eines Standes, einer Institution oder als Bestandteil eines Menschenhaufens, der sich zu einer gewissen Zeit für einen bestimmten Zweck zur Masse organisiert.“73 Unschwer kann man erkennen, dass diese Definition außerordentlich weit ist und weit auseinanderliegende Phänomene erfasst: Vom Stamm über das Volk bis zu einem Menschenhaufen und damit entfernt sich Freud auch von den Theoretikern, auf die er sich so stark beruft. Aber seine Definition bekommt eine gewisse Plausibilität dadurch, dass er diese Phänomene als Entäußerung eines allen ihnen zugrunde liegenden Triebes auffasst, eines sozialen Triebes „herd instinct, group mind“, wie er ergänzend, aber nicht wirklich präzisierend hinzufügt.74 Was sind nun die seelischen Veränderungen, die sich in der Masse vollziehen? Bei seiner Analyse bleibt S. Freud eng bei G. Le Bon und zitiert so ausführlich wie in keiner seiner anderen Schriften. Seitenweise übernimmt er längere Zitate aus G. Le Bons „Psychologie der Massen“ und kommentiert sie, jedoch immer sehr spärlich. Ausdrücklich hält er fest, dass diese Betonungen und Überlegungen zum unbewussten Seelenleben mit seinen eigenen übereinstimmen.75 Die Referenzen zu anderen Autoren sind eher eingestreut, etwa zu W. McDougalls „The Group Mind“.76 In den nur wenigen Kommentaren zu G. Le Bon macht er jedoch einen Punkt deutlich, den er später schärfer herausarbeitet. „Es genügt uns zu sagen, das Individuum komme in der Masse unter Bedingungen, die es ihm gestatten, die Verdrängung seiner unbewußten Triebregungen abzuwerfen. Die anscheinend neuen Eigenschaften, die es dann zeigt, sind eben Äußerungen dieses Unbewußten, in dem ja alles Böse der Menschenseele in der Anlage enthalten ist; das Schwin-
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4. Die Politik der Massen den des Gewissens oder des Verantwortungsgefühls unter diesen Umständen macht unserem Verständnis keine Schwierigkeiten.“77
Hier wird deutlich, dass er nicht nur das ‚Böse‘ in jeder Menschenseele zu finden glaubt, sondern dass es immer das schon Vorhandene, aber gleichwohl Verdrängte oder Unterdrückte ist. Durch das In-der-Masse-Sein werden die unbewussten Kontrollen abgelegt, die den bisherigen Triebhaushalt steuerten und das ‚Böse‘ unterdrückten. Der Massemensch hat keinen von seinen vorherigen Eigenschaften getrennten Charakter. Allein das bisherige ‚in der Anlage‘ Enthaltene, aber Verdrängte und Unbewusste, kommt nun zum Vorschein. Während die bisherigen Massentheoretiker ein rationales, vernünftiges und kalkulierendes Individuum voraussetzten, das erst in der Masse ein irrationales wird, sind bei Freud die psychologischen Ursachen für den Massemenschen bereits im Individuum vorhanden, wenn auch unterdrückt und kontrolliert. Es ist allein im Dunkeln und erst in der Masse tritt es unmittelbar und sichtbar zu Tage. Die Masse ist das Unbewusste, hier kann man es direkt sehen und seine destruktiven wie schöpferischen Dynamiken beobachten. Blickt man in die Masse, so spiegelt sich in ihr unmittelbar das Unbewusste des individuellen Menschen. Erst im zweiten Teil entwickelt er seine eigenen Ideen und führt den zentralen Begriff der Libido ein, der die gesamte Erklärungskraft seiner Massenpsychologie trägt. Seine Kritik an G. Le Bon bezieht sich auf dessen Ideen der „Suggestion“ und der „mentalen Ansteckung“, die er beide ablehnt und denen er keine genügende Erklärungskraft zugesteht. Wenn er nun „nach etwa dreißigjähriger Fernhaltung“78 sich dem Begriff der Libido erneut nähert, dann weil er zu einem Allerweltsbegriff geworden ist, der im Kern alle Formen der gegenseitigen Beeinflussung kennzeichnen will und damit an analytischer Schärfe verliert. Libido ist ein Ausdruck der „Affektivitätslehre“ und bezeichnet die „Energie solcher Triebe, welche mit all dem zu tun haben, was man als Liebe zusammenfassen kann.“79 Sie entspricht dem aus der griechischen Philosophie kommenden Begriff des Eros und kann sich auf die geschlechtliche, aber auch auf andere Formen der Liebe beziehen, wie die zu Eltern und Kindern, zu Freunden, aber auch zu konkreten Gegenständen und „abstrakten Ideen“.80 Letztere spezifiziert er nicht, aber man kann unschwer auch politische Ideen oder politische Ideologien zu den ‚abstrakten Ideen‘ rechnen, ohne S. Freud misszuverstehen. Die Libido wird als eine erotische Energie aufgefasst, die nur dann konstant bleibt und sich dauerhaft stabilisiert, wenn sie sich von zwei antisozialen Neigungen abgrenzt: Dem Narzissmus und der unmittelbaren Triebbefriedigung. Ersteres ist die reine Selbstliebe, die keine Übertragung auf Andere ermöglicht und so auch keine Sozialität stiften kann. Gleiches gilt für die unmittelbaren Triebbefriedigungen, denn sie gehen als „direkt sexuelle jedesmal durch die Befriedigung ihrer Energie (…) verlustig und (müssen) auf Erneuerung durch Wideranhäufung der sexuellen Libido warten, wobei inzwischen das Objekt gewechselt werden
4.3. Die (Ent-)Politisierung der Massen und deren Psychologie
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kann.“81 Allein durch Sublimation, also durch „gehemmte Triebe“82 und deren Umleitung auf Ersatzobjekte kann eine Stabilität in der Libido erreicht werden, denn „(a)lle Bindungen, auf denen die Masse beruht, sind von der Art der zielgehemmten Triebe“83 und insofern machen „Liebesbeziehungen (indifferent ausgedrückt: Gefühlsbindungen) auch das Wesen der Massenseele aus.“84 Die Masse wird durch eine spezifische ‚Macht‘ zusammengehalten und welcher „Macht könnte man diese Leistung eher zuschreiben als dem Eros, der alles in der Welt zusammenhält?“85 Zum anderen vermutet er, der Einzelne gibt seine Eigenart auf, um mit allen anderen im Einvernehmen zu handeln statt im Gegensatz, also „vielleicht doch ‚ihnen zuliebe‘“.86 Dieses Wortspiel ist nicht nur gekonnt, sondern gibt die ganze Richtung seiner weiteren Überlegungen an. Wie aber kommt nun die Deformation des Einzelnen, die „Haupterscheinung der Massenpsychologie, die Unfreiheit des Einzelnen in der Masse“87, zu Stande? S. Freud hat darauf klare Antworten: Wenn, erstens, die gefühlsmäßigen Bindungen des Einzelnen in zwei Richtungen gehen, zum Führer und zu den anderen Massenindividuen, so ergeben sich daraus Veränderungen und Einschränkungen der Persönlichkeit. Seine „Formel für die libidinöse Konstruktion einer Masse“88 ist diese „doppelte Art der Bindung“89: Einmal die Bindung der Massenindividuen an den Führer und zum anderen der Massenindividuen untereinander. Zunächst lebt die Masse von der Illusion, dass der Führer alle Einzelnen der Masse mit der gleichen Liebe liebt.90 Zerfällt diese Illusion, zerfällt auch die Masse. Der Führer – das räumt S. Freud möglichen Kritikern durchaus ein – kann auch durch politische Ideen, wie Nationalismus, Vaterlandsliebe, Antisemitismus etc. ergänzt oder ersetzt werden. Aber davon bleibt seine Grundüberzeugung unberührt: Dass die Libido der zentrale psychologische Mechanismus ist, der die Masse bildet und zusammenhält. Die Persönlichkeit von Menschen ändert sich insofern, als sich die Massenindividuen den Ideen des Führers unterwerfen und sie als ihre eigenen betrachten. Der Wille des Führers wird zu ihrem eigenen Willen und dadurch vergelten sie die Liebe des Führers zu ihnen. Dann lebt, zweitens, die Masse von der Fiktion, dass sich die Massenindividuen als gleich oder gleichförmig betrachten. Sie dulden, besser: negieren ihre Differenzen, stellen sich den anderen gleich und entwickeln kein Gefühl der Abstoßung. Die Selbstliebe wird eingeschränkt, ja umgeleitet und richtet sich auf die anderen oder auf bestimmte Objekte. So entsteht eine dauerhafte Einschränkung des Narzissmus, der die Massenbildung stabilisiert. Zusätzlich wird ein Sachverhalt zentral, den S. Freud Identifizierung nennt und der in der Psychoanalyse gut bekannt ist. Man übernimmt hierbei einen Teil oder viele Eigenschaften der geliebten oder verehrten Person und macht sie zu seinen eigenen. Dieser Mechanismus ist insbesondere für das Verhältnis zwischen Führer und Massen wichtig, weil sich letztere mit ersterem identifizieren. Aber er wirkt auch innerhalb der Masse. Hinzu treten Idealisierungen, die ebenfalls eine Form möglicher libidinö-
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4. Die Politik der Massen
ser Beziehungen darstellen und das eigene Urteil fälschen.91 Die auf unmittelbare Sexualbefriedigung drängende Libido wird zurückgedrängt und zugleich immer stärker auf ein Objekt gerichtet. Dies wird dadurch idealisiert, ja verherrlicht, während das eigene Ich immer schwächer und bedeutungsloser wird. Das Ich-Ideal, das bei S. Freud als eine oberste Instanz über dem Ich steht und später als Über-Ich bezeichnet wird, ist eine Art moralisches Gewissen, eine Art Richter oder Kritiker, das bestimmte Handlungsmuster erlaubt und andere verwirft. Bei starker Idealisierung verliert diese Instanz an Kraft und kann die moralische Kontrolle nicht mehr ausüben. Das Gewissen oder andere kritische Instanzen verlieren ihre Bedeutung. In der „Liebesverblendung wird man reuelos zum Verbrecher“, konstatiert er ungerührt und schlussfolgert: „Das Objekt hat sich an die Stelle des Ichideals gesetzt.“92 Es tritt dann jener eigentümliche Sachverhalt auf, den man „demütige Unterwerfung, Gefügigkeit, Kritiklosigkeit“93 nennen kann und die Position des Massenmenschen gegenüber dem Führer präzise beschreibt. Nach dem gleichen Muster erfolgt die Unterwerfung unter eine politische Ideologie oder Idee und Masse wird nun weitgehend identisch mit Unterwerfung, sei es unter die Herrschaft eines Führers oder einer politischen Ideologie. „Eine solche primäre Masse ist eine Anzahl von Individuen, die ein und dasselbe Objekt an die Stelle ihres Ichideals gesetzt und sich infolgedessen in ihrem Ich miteinander identifiziert haben. (...) (D)er Einzelne (gibt) sein Ichideal auf und (vertauscht) es gegen das im Führer verkörperte.“94
Zusammenfassend kann man den Vorgang der Massebildung in eine ‚Formel‘ von vier Schritten bringen: Der erste Schritt ist die Identifikation der Massenindividuen untereinander, dem die Identifikation der Massen mit dem (politischen) Führer oder der (politischen) Ideologie folgt. Der dritte Schritt ist die Abtretung des Ichideals an den Führer oder die politische Ideologie, wobei Identifizierung und Idealisierung zentral werden und die eigenen Kontrollinstanzen schwächen. Im letzten und vierten Schritt erfolgt dann die vollständige Ersetzung des Ichideals durch ein Objekt (Führer oder Ideologie). Der Massenmensch verfügt dann über keine Selbstkontrollen mehr und regrediert auf die Stufe des Primitiven, der alle die schlechten Eigenschaften übernimmt, die die Masse ausmachen. S. Freud hat auch kein Problem, die Masse ‚im Unten‘ zu lokalisieren. Seine Beschreibungen sind ebenso unfreundlich wie die anderer Massentheoretiker. Er diagnostiziert auch bei ihr einen Rückschritt der „seelischen Tätigkeit auf eine frühe Stufe, wie wir sie bei Wilden oder bei Kindern zu finden nicht erstaunt sind“95 und der sowohl bei den organischen wie den künstlichen Massen auftreten kann. Die Masse – so fasst er zusammen – ist gekennzeichnet durch „(...) den Mangel an Selbständigkeit und Initiative beim Einzelnen, die Gleichartigkeit seiner Reaktionen mit der aller anderen, sein Herabsinken zum Massenindividuum sozusagen. Aber die Masse zeigt, wenn wir sie als Ganzes ins Auge fassen, mehr die Züge von
4.3. Die (Ent-)Politisierung der Massen und deren Psychologie
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Schwächung der intellektuellen Leistung, von Ungehemmtheit der Affektivität, die Unfähigkeit zur Mäßigung und zum Aufschub, die Neigung zur Überschreitung aller Schranken in der Gefühlsäußerung und zur vollen Abfuhr derselben in Handlung, dies und alles ähnliche (...) ergibt ein unverkennbares Bild von Regression der seelischen Tätigkeit (...).“96
Durch die Konzentration auf die Libido als dem wesentlichen Moment der Massebildung und -stabilisierung hat sich S. Freud ein Kriterium gewählt, das zu viele Erscheinungsformen umfasst. Sowohl die Urhorde, die spontanen Massebildungen im 19. und 20. Jahrhundert als auch hochdifferenzierte Organisationen wie Kirche und Militär fallen bei ihm unter den Massebegriff. Dann kann man nicht mehr plausibel differenzieren und das Spezifische des Massebegriffs geht womöglich verloren. Aber er hat deutlich gemacht, dass für den Prozess der Massebildung die Führer bzw. politische Ideologien elementar sind und bei deren Wegfall die Massen oft von ihrer Auflösung bedroht sind. Eine weitere Korrektur der Ausgangsprämissen der Massentheoretiker und -psychologen hat er zudem vorgenommen: Die Vorstellung des vernünftigen, rationalen, kontrollierten und sich selbst steuernden Individuums hat er durch den sozial vermittelten Menschen ergänzt. S. Freud schreibt über Politik, ohne den Begriff je zu verwenden. Aber seine Kritik der Religion und des Militärs sind eine massive Kritik an diesen beiden Institutionen und – darüber hinausgehend – an allen Institutionen oder Organisationen, die die Menschen in den Zustand der ‚Regression ihrer seelischen Tätigkeiten‘ versetzen. Es geht ihm um die Entschlüsselung des „Rätsel(s) der Unterwerfung der Menschen und der Kunst, sie zu beherrschen“97 ebenso wie um die Untersuchung der Gründe für die Entstehung und Konstanz des ‚Unbewussten‘ und des Ursprungs der Religionen und ideologischer Glaubenssysteme. Und das sind genuin politische (und auch politikwissenschaftliche) Fragestellungen. Es sind Fragen nach der Macht, der Beherrschung und auch der Befreiung aus der Unmündigkeit und von den Fesseln des Unbewussten. Neben S. Freud waren an diesen Überlegungen auch andere Sozialpsychologen beteiligt, wie etwa Wilhelm Reich, Alfred Adler, Paul Federn u. a. S. Freud macht diese Perspektive in seiner Schrift sehr deutlich, wenn er schreibt: „Die Aufgabe besteht darin, der Masse gerade jene Eigenschaften zu verschaffen, die für das Individuum charakteristisch waren und die bei ihm durch die Massebildung ausgelöscht wurden.“98 Er versucht also der Masse die Qualitäten zurückzugeben, die sie aus dem regressiven Zustand zurückholt und in den der bewussten und rationalen Handlungen überführt. Mit anderen Worten: Wie sie (wieder) zu einem handlungsfähigen, ja vielleicht sogar revolutionären Subjekt werden kann. Dazu brauchte er seine Untersuchung über die Massenpsychologie. Sie sah dabei viele Gründe für die Unbewusstheit der Massen, aber ein, wenn nicht sogar der wichtigste Punkt war die sexuelle Unterdrückung,
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4. Die Politik der Massen
die konstitutiv für die Entstehung von politischer Herrschaft und Unterwerfung ist.99 S. Freud sieht zwar klar die seelische und intellektuelle Regression der Individuen in der Masse und siedelt sie im ‚Unten‘ der Gesellschaft an; aber zugleich versucht seine Analyse die Faktoren zu identifizieren, die die Masse aus dem ‚Unten‘ in ein handlungsfähiges politisches Subjekt transformieren könnten. In der Ambivalenz des beobachteten Phänomens liegt die Stärke – andere würden sagen, die Schwäche – seiner kleinen Schrift. Vielleicht war sie auch eine Abklärung für ihn selbst, wie der unübersehbare Eintritt der Masse in die Geschichte zu bewerten sei, und welche Hoffnungen und Ängste er damit verband.
4.4. Wilhelm Reichs Massenpsychologie des Faschismus In der Ankündigung der „Hochschule für Werktätige“ für das erste Trimester 1931/1932 wurde unter der Nummer 177 ein Kurs über die „Geschichte der Sexualmoral“ angeboten. Er umfasste an Montagen jeweils vier Doppelstunden und fand am Abend ab 20.00 Uhr im zentralen Schullokal statt. Mittwochs gab derselbe Dozent – dieses Mal allerdings elf Doppelstunden – eine kurze Ausbildung für Referenten der marxistischen Sexualpolitik. Beginn ebenfalls 20.00 Uhr, damit Arbeiter und Werktätige daran teilnehmen konnten. Der Dozent war ein gewisser Dr. Wilhelm Reich, der 1933 – gedruckt und veröffentlicht im dänischen Exil – ein Buch mit dem Titel „Massenpsychologie des Faschismus“ vorlegte.100 Es blieb in der damaligen Zeit weitgehend ohne Resonanz, weder die Psychoanalyse noch die damaligen antifaschistischen Bewegungen nahmen Notiz davon. Eine große Rolle spielte es dagegen rund 35 Jahre später in der 68er Studentenbewegung. Ich hatte mein Exemplar des Buches Ende der Siebzigerjahre in einer Kneipe am Savignyplatz in Berlin als Raubdruck für damals zwei DM gekauft. Wilhelm Reich selbst veröffentlichte 1942 eine erheblich überarbeitete Ausgabe dieser Schrift101, in der seine inzwischen erfolgte Abkehr vom Marxismus überdeutlich wurde. Das Buch ist politisch in einem doppelten Sinne: Es kritisiert die einseitig ökonomisch ausgerichtete Politik der damaligen Sozialdemokraten und Kommunisten, versucht zugleich eine neue Politik, eine fortschrittliche Psychopolitik der Massen, zu konzipieren und diese in der kommunistischen und Arbeiterbewegung zu verankern. Zudem macht das Buch dieses umstrittenen Autors einen analytischen Schritt, den (fast) kein anderer Autor der damaligen Zeit vollzog. Es widmet sich – gewappnet mit Freudschen und marxistischen Prämissen – der Analyse des Faschismus als Massenbewegung. Die faschistischen Bewegungen hatten unübersehbar alle die zentralen Fragen auf die Tagesordnung gesetzt, die die Sozial- oder Massenpsychologie hätte beschäftigen müssen: Die Rolle des (politischen) Führers, konkret A. Hitlers, das Sichtbarwerden der Masseinstinkte,
4.4. Wilhelm Reichs Massenpsychologie des Faschismus
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die zunehmende Gewalttätigkeit der Massen, ihre sichtbare Verführbarkeit und – das hat W. Reich wie die meisten Marxisten im Besonderen irritiert – ihre Bereitschaft, gegen ihre Interessen zu handeln. Es versteht sich von selbst, dass das Buch und – fast noch mehr – sein Autor massiver Kritik ausgesetzt waren. Diese ging so weit, dass er auf Betreiben von S. Freud aus der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (DGP) und nur wenig später aus der internationalen Psychologenvereinigung unter äußerst mysteriösen Umständen und mit ebenso mysteriösen Gründen ausgeschlossen wurde. W. Reichs Massenpsychologie ist „der einzige psychoanalytische Versuch, eine spezifische und umfassende Theorie der sozialpsychologischen Voraussetzungen des Faschismus zu formulieren.“102 Zwar haben in der Nachkriegszeit verschiedene Autoren auf W. Reich Bezug genommen, aber als Zeitdiagnostiker war er erstaunlicherweise der einzige, der die bisher verborgenen Verbindungen zwischen dem Unterbewusstsein der Massen und dem Faschismus systematisch entwickelt hat. Auch die zeitgenössischen Psychoanalytiker haben diesen Zusammenhang weder systematisch thematisiert noch Bezug auf W. Reichs Schriften genommen. A. Peglau erwähnt in seinem Buch über die Psychoanalyse im Faschismus allein eine und zudem sehr kurze Rezension. Überhaupt waren der Faschismus und die faschistischen Bewegungen kein Thema für die Psychoanalyse in der Weimarer Republik. In einer Aufzählung fast aller ihrer damaligen Schriften taucht der Begriff des Faschismus faktisch nicht auf.103 Was könnten die Gründe dafür gewesen sein, dass ausgerechnet W. Reich eine solche Theorie entwickelte? Noch in Wien war W. Reich Zeuge des Wiener Arbeiteraufstandes im Jahr 1927, in dessen Verlauf rund 100 Menschen von der Polizei erschossen wurden. W. Reich, der sich mit seiner Frau Anni den Protestierenden angeschlossen hatte, schrieb rückblickend: „Der unauslöschliche Eindruck blieb: Hier kämpft seinesgleichen mit seinesgleichen! Die Polizei, die an diesen zwei Tagen 100 Menschen erschoss, war sozialdemokratisch organisiert. Die Arbeiterschaft war sozialdemokratisch organisiert (...). Klassenkampf? Innerhalb derselben Klasse?“104
‚Unauslöschlicher Eindruck‘ – eine weitreichende Formulierung, die durch ein weiteres Erlebnis verstärkt wurde. Als Begleiter einer Kindergruppe musste W. Reich in Berlin ein paar Jahre später mit ansehen, wie diese von der Polizei zusammengeknüppelt wurde. Die Gruppe sang Lieder, die damals verboten waren. In einer Notiz stellte er fest, dass er bei solchen Ereignissen immer „den Eindruck (hatte), dass an die Stelle eines lebendigen Denkens und Fühlens eine automatische Reaktion tritt.“105 Wie kommt diese ‚automatische Reaktion‘ zu Stande, die er sowohl in Wien als auch in Berlin beobachtet hatte? Wie kommt es, dass so viele Arbeiter, die nach Ansicht des Marxismus auf der Seite des Fortschritts und der Revolution stehen müssten, entgegen der vermeintlich objektiven Gesetze der marxistischen Geschichtsphilosophie an der Seite A. Hitlers für den Faschismus
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4. Die Politik der Massen
kämpften? Dass diese Massen auch die grauenhaften Verbrechen der Judenvernichtung in ebenso automatischer Reaktion vollziehen würden, konnte er damals nicht ahnen. Ein weiterer Grund mag hinzutreten. In seiner therapeutischen Arbeit war er mit der Destruktivität seiner Patienten konfrontiert, die er mit deren sexualfeindlichen Sozialisation in der autoritären Familie erklärte. „Auf der Basis umfangreichen theoretischen Wissens, mehrjähriger Erfahrung in Therapie, Beratung und Öffentlichkeitsarbeit von Literatur- und ‚Feldstudium‘ sowie praktischer Mitwirkung in den alltäglichen politischen Auseinandersetzungen erarbeitete sich Reich freilich also allmählich jene Auffassungen über die psychosozialen Grundlagen des Nationalsozialismus, die dann 1933 in die Massenpsychologie des Faschismus eingeflossen sind.“106
W. Reichs Analyse der Massenpsychologie des Faschismus ist eines der ganz wenigen Werke, das sich explizit mit der Sozialpsychologie des Faschismus auseinandersetzt. Ich muss es präziser formulieren: Es ist das einzige zeitgenössische Buch, das sich in explizit politischer Absicht mit diesem Problem beschäftigt. Es gibt Auskunft über zwei zentrale Sachverhalte, die alle Theoretiker der Massen beschäftigt haben, wenn auch eher dem einen oder dem anderen Pol zuneigend: Die Politik der Massen und die Politik mit den Massen. W. Reichs kleine Schrift nimmt beide Dimensionen auf, wobei er letzteres als die zentrale Frage sieht: Wie konnte es passieren, dass der Faschismus die Massen – und dabei Kleinbürger ebenso wie große Teile des Proletariats – für seine Ziele begeistern konnte, also Politik mit den Massen machte? Umgekehrt wurden die Massen ihres eigentlichen revolutionären Impulses beraubt, dem W. Reich durch seine Schrift zum Durchbruch verhelfen wollte. Er zielte also auch auf die Politik der Massen. W. Reich konnte sehen, wie immer mehr Kleinbürger und auch große Teile der Arbeiterklasse trotz massiver materieller Not nicht gegen ihre Ausbeuter bzw. das Gesellschaftssystem rebellierten, obwohl es ihren ‚objektiven‘ Interessen entsprochen hätte. Nach den Prämissen des Marxismus, dem W. Reich anhing, hätten sich die Arbeiter bzw. die Massen gegen diese soziale und gesellschaftliche Situation auflehnen und für den sozialen Fortschritt eintreten müssen. Stattdessen liefen sie genau den politischen Kräften hinterher, die diese Verhältnisse zementierten und die soziale Revolution aufhielten. Aber er selbst hatte lange keine Vorstellung davon, woran das liegen könnte. „1928-1930 (...) hatte ich wenig Ahnung vom Faschismus, etwa so viel wie der durchschnittliche Norweger 1939 oder der Amerikaner 1940. Ich lernte ihn erst zwischen 1930 und 1933 in Deutschland kennen. Ich war hilflos perplex, als ich ihm begegnete und in seinem Wesen Zug um Zug den Gegenstand der Auseinandersetzung mit Freud wiedererkannte. Allmählich begriff ich, daß dies logisch war. In den genannten Auseinandersetzungen war um die Beurteilung der menschlichen Struktur, um die Rolle der menschlichen Glückssehnsucht und der Irrationalität im gesellschaftlichen Leben gerungen worden. Im Faschismus bot sich die seelische Massenerkrankung unverhüllt dar.“107
4.4. Wilhelm Reichs Massenpsychologie des Faschismus
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‚Unverhüllt‘ – in dieser Formulierung wird deutlich, dass die faschistischen Massenbewegungen, die zu Beginn der 30er Jahre in Deutschland unübersehbar geworden waren, eine große praktische wie theoretische Herausforderung darstellten. Er begann sich damit zu beschäftigen und las die wichtigsten Schriften der faschistischen Theoretiker, etwa A. Hitlers ‚Mein Kampf‘, A. Rosenbergs ‚Mythos des 20. Jahrhunderts‘, einige der Kampfschriften von J. Goebbels und eine Unmenge an völkischen, nationalistischen und nationalsozialistischen Zeitungen und Zeitschriften. Aus diesen Schriften und aus den praktischen Erfahrungen in der sogenannten Sexpol-Bewegung108 gewann er seine zentralen Erkenntnisse, die er dann in seiner Massenpsychologie verdichtete. Es war eine sozialpsychologische Analyse, aber immer auch eine politische Kampfschrift, die sich an die Arbeiterklasse und ihre Parteien, insbesondere die KPD, richtete. Diese wollte von Reichs Analysen aber nichts wissen und schloss ihn 1933 wegen konterrevolutionärer Ideen aus. Dem ersten Kapitel seiner Schrift, „Die Ideologie als materielle Gewalt“, folgt unmittelbar ein Unterkapitel, das mit „Die Schere“ überschrieben ist.109 Die Schere – das ist das Leitmotiv des gesamten Buches und er beschreibt nicht nur diese Schere, sondern versucht ihr Entstehen mit Hilfe von Freudschen Kategorien zu erklären.110 Was hat es mit dieser Denkfigur auf sich? „Es ergab sich eine Schere zwischen der Entwicklung in der ökonomischen Basis, die nach links drängte, und der Entwicklung der Ideologie breiter Schichten, die nach rechts erfolgte. Diese Schere wurde übersehen. Und weil sie übersehen wurde, konnte auch nicht die Frage gestellt werden, wie ein Nationalistischwerden der breiten Massen in der Pauperisierung möglich ist.“111
Das war seine – unübersehbar marxistisch inspirierte – Frage, mit der er erklären wollte, warum immer mehr Kleinbürger, aber auch große Teile des Proletariats nach rechts abschwenkten. Die Marxsche Grundkonzeption akzeptierte er, nach der alle ökonomischen, ja ‚objektiven‘ Voraussetzungen für eine Radikalisierung der Massen in der jetzigen Situation gegeben sind: Die Konzentration des Kapitals in wenigen Händen ist vollzogen, die Internationalisierung der Weltwirtschaft unübersehbar, die Wirtschaft reizt ihre Kapazitäten nur zur Hälfte aus, die Mehrheit der Bevölkerung ist in den kapitalistischen Staaten verelendet, ungeheure Menschenmengen sind arbeitslos und fristen ein elendes Dasein. Aber die Enteignung der Kapitalisten bleibt aus und dies kann man nur massenpsychologisch erklären. Zugleich war seine Schrift eine politische Schrift, die eine radikale Kritik an den bisherigen Strategien der kommunistischen und revolutionären Bewegung formulierte. Die bisherigen Mobilisierungsversuche, die allein die ökonomische Dimension des Proletariats thematisierten, mussten seiner Ansicht nach scheitern. Sie vernachlässigten – wie er es nannte – den „subjektiven Faktor der Geschichte“, die „ideologische Struktur der Menschen einer Epoche“112, wobei
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‚ideologische Struktur‘ bei ihm identisch ist mit der psychologischen Disposition. Die kommunistischen Parteien trugen eine erhebliche Mitschuld an der Machtergreifung des Faschismus: „(D)ie marxistische Politik hatte (...) die Psychologie der Massen (...) in ihre Kalkulationen und ihre politische Praxis nicht oder nicht richtig einbezogen. Wer die Theorie und Praxis des Marxismus der letzten Jahre in der revolutionären Linken verfolgte und praktisch miterlebte, musste feststellen, dass sie auf dem Gebiet der objektiven Prozesse der Wirtschaft und auf die engere Staatspolitik eingeschränkt war, den ‚subjektiven Faktor‘ der Geschichte, die Ideologie der Massen, in ihrer Entwicklung und ihren Widersprüchen weder aufmerksam verfolgte noch erfasste.“113
W. Reich sah das Problem aber nicht allein in der politischen Praxis der revolutionär-kommunistischen Parteien, sondern auch im (frühen) Marxismus selbst angelegt. Er konzentrierte sich zu sehr auf die soziologischen und ökonomischen Prozesse, weil es zu Marx‘ Zeit noch keine analytische Psychologie gab. Und die Massenpsychologie setzt gerade da an, wo die unmittelbar ökonomische Erklärung ihre Grenzen hat. Die Sozialökonomie kann gesellschaftliche und soziale Tatbestände dann erklären, wenn Menschen rational und zweckorientiert handeln.114 Sie kann es nicht mehr, wenn psychologische Momente ins Spiel kommen, über die allein die analytische Psychologie Auskunft geben kann. W. Reich spricht oft von irrationalem Handeln, und zwar immer dann, wenn seiner Ansicht nach Menschen gegen ihre ‚objektiven‘ (Klassen-)Interessen verstoßen. Um diesem irrationalen Handeln auf die Spur zu kommen und es zu überwinden, muss man klären können, was psychologisch „in den Massen vorgeht.“115 Die Psychologie wird dann zur Massenpsychologie, sofern sie die „gemeinsamen, typischen psychischen Prozesse“ einer Gruppe, Schicht oder Klasse untersucht und hierbei die Unterschiede zwischen den Individuen vernachlässigt. Dann kommt in den Blick „wie der Mensch in einer Epoche etwa aussieht, denkt, handelt, wie sich die Widersprüche seines Daseins in ihm auswirken, wie er mit seinem Dasein fertig zu werden versucht.“116 Das ist also sein Arbeitskonzept und diese Fragen will er in seiner Analyse klären. Für ihn war klar, dass die „sexualökonomische Strukturpsychologie nun der wirtschaftlichen Beschreibung der Gesellschaft die charakterliche und biologische an(fügt).“117 Und diese stellt sich dar als der „typisch hilflose, autoritäre Charakterzug der Menschenmassen.“118 Aber wie entsteht dieser? Wie kommt es, dass die Charakterstruktur hinter der ökonomischen Entwicklung zurückbleibt und die Massen gegen ihre eigenen (objektiven) Interessen zu handeln beginnen? Seine Antwort: „Indem aber eine Ideologie die psychische Struktur der Menschen verändert, hat sie sich nicht nur in diesen Menschen reproduziert, sondern, was bedeutsamer ist, sie ist in Gestalt des derart konkret veränderten und infolgedessen widerspruchsvoll handelnden Menschen zur aktiven Kraft, zur materiellen Gewalt geworden. (…) Die Feststellung,
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dass sich die ‚Ideologie‘ langsamer umwälzt als die ökonomische Basis, erfährt hier bestimmte Präzision. Die psychischen Strukturen, die einer bestimmten historischen Situation entsprechen, in der frühen Kindheit in den Grundzügen formiert werden und einen weit konservativeren Charakter haben als die technischen Produktivkräfte, so ergibt sich, dass mit der Zeit die psychischen Strukturen hinter der Entwicklung der Seinsverhältnisse, denen sie entsprangen und die sich rasch weiterentwickeln, zurückbleiben und mit den späteren Lebensformen in Konflikt geraten müssen.“119
Das alles ist – im Gegensatz zu Freuds Ausgangspunkt – doch sehr dogmatisch im marxistisch-materialistischen Basis-Überbau-Schema gedacht, aber das neue, sozusagen revolutionäre Moment seiner Überlegungen wird überdeutlich. Das Zurückbleiben des Überbaus gegenüber der Basis liegt in der unterdrückten Sexualität. Die zentrale Frage der sozialen Sexualökonomie lautete dann: „Aus welchem soziologischen Grunde wird die Sexualität von der Gesellschaft unterdrückt und vom Individuum zum Verdrängen gebracht? (…) Die Umstrukturierung des Menschen erfolgt – das muss genau festgehalten werden – zentral durch die Verankerung sexueller Hemmung und Angst am lebendigen Material der sexuellen Antriebe.“120
Und die Institutionen, die diese Unterdrückung leisten, sind v. a. die kleinbürgerlich-autoritäre Familie, die Kirche und der Staat. Sie zusammen unterdrücken die lebendige und freiheitsliebende Sexualität und somit auch die auflehnenden oder gar revolutionären Kräfte im Menschen. Man kann – gerade bei W. Reich – klar sehen, dass es hier um eine revolutionäre Sichtweise auf die Massen geht, die aus ihrer Unmündigkeit befreit und zu einem handelnden Subjekt der Selbstbefreiung gemacht werden sollen. S. Freud war hier die zentrale Figur, der diese Neuorientierung in Gang setzte. S. Moscovici hat diese Wende am deutlichsten gesehen, wenn er schreibt, dass „(d)ie erste Generation, die Tardes und Le Bons, das konservative Element der Massen (betonten). Sie sahen in ihr einen Schutzschild gegen die Revolution. Die neue Generation, die Freuds, sorgt sich darum, weil sie darin einen Hemmschuh der Revolution sieht. Welches sind die Gründe dafür, fragt sie? Warum lassen sich die Massen nicht für die Revolution gewinnen, wenn die ökonomischen und sozialen Bedingungen doch danach rufen? Dieses Problem fällt ins Ressort der Psychologie, darüber ist man sich einig.“121
Ja und nein: Denn dieses Problem fällt ins Gebiet der Sozialpsychologie, die dadurch Gesellschaftswissenschaft wird. Sie wird zugleich zur politischen Wissenschaft, weil sie nach den Bedingungen der rückwärtsgewandten, konservativen Politik der Massen ebenso fragt wie nach der revolutionären, zukunftsorientierten. Und die Sozialpsychologie nach S. Freud will die Faktoren identifizieren, die die Massen von einer fortschrittlichen Politik abhalten und sie aus dem Bann der autoritären Führer befreien. Der Einfluss der ‚Freudschen Sozialpsychologie‘ hat ebenso wie der von W. Reich in den sozialen und politischen Bewegungen der 68er eine große Rolle gespielt. Und nicht ohne Grund ist Freuds Schrift „Massenpsychologie und IchAnalyse“ zu einer der meist zitierten Schriften der Kritischen Theorie bzw. der
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Frankfurter Schule um Th. W. Adorno und M. Horkheimer geworden. In der Studentenbewegung dagegen war der Text von W. Reich einflussreicher und wurde in vielen Seminaren als Basistext zum besseren Verständnis des Faschismus gelesen und heftig diskutiert.
4.5. Massen und Revolution: Theodor Geigers Massen als destruktivrevolutionäre Kraft Nur wenige Autoren haben der Masse positive Eigenschaften attestiert. Einer dieser Wenigen war Theodor Geiger, der Mitte der 20er Jahre ein eigentümliches und zugleich faszinierendes Buch geschrieben hat. Der Haupttitel ist eher trocken-wissenschaftlich: „Die Masse und ihre Aktionen“, während der Untertitel eher irritiert: „Ein Beitrag zur Soziologie der Revolutionen.“122 Masse und Revolutionen hängen offensichtlich unmittelbar zusammen. Keiner der anderen zeitgenössischen Autoren hat diesen Zusammenhang so intensiv gesehen, geschweige denn thematisiert. Bei Th. Geiger aber ist die Masse nicht nur ein politischer Akteur, der innerhalb einer Gesellschaft wirkt, sondern über eine gegebene Gesellschaft hinausgeht – transzendent und transzendierend ist – in dem Sinne, als ihre revolutionäre Umgestaltung immanenter Bestandteil des Massebegriffs selbst wird. Th. Geigers Buch gibt der Masse eine immense politische Bedeutung, denn die Revolution ist die politischste aller möglichen politischen Aktionen. In ihr wird eine alte Ordnung zerstört, in Trümmer gelegt und darauf aufbauend eine neue Gesellschaftsordnung errichtet. Die Politik der Massen wird hier identisch mit der Revolution selbst, wobei der Masse – in Abgrenzung zum Proletariat – eine besondere Rolle zukommt. Während das Proletariat beim Aufbau der neuen Gesellschaftsordnung eine zentrale Rolle spielt, übernimmt die Masse den destruktiven Part der Revolution: Sie zerstört die alte Ordnung, hebt sie aus den Angeln und zertrümmert sie letztlich. Kein Buch über die Massen ist deshalb so politisch wie das von Th. Geiger, aber als Soziologe betont er ausdrücklich, „dass unser Phänomen Masse nicht nur im Bereich der Politik (im landläufigen Sinne) vorkomme; wir beweisen sogar das Gegenteil.“123 Das gelingt ihm – zum Glück – nicht umfassend, aber unübersehbar ist sein Versuch der Soziologisierung der Masse, die er in kritischer Auseinandersetzung mit G. Le Bons Massenpsychologie betreibt. Soziologisierung der Masse – was bedeutet das konkret und im Gegensatz zu den Massenpsychologen? Drei Schritte sind bei ihm zentral: zunächst die Entwicklung eines soziologischen Begriffs der Masse, dann die Analyse des Wesens der Masse und schließlich die Aufdeckung der Funktionen der Masse in modernen Gesellschaften, bei ihm gedacht als Bestandteil einer revolutionären Dynamik.
4.5. Massen und Revolution
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In den „unterirdischen Kellergelassen ihres Baus“ – so Th. Geiger fast schon apokalyptisch – beherbergt die moderne Gesellschaft das „unheimliche Gespenst Masse, das dem Hausherrn sein Heim zu verleiden gewillt ist. Es wird ihn zwingen, die alten Hallen zu verlassen, oder es wird mit unwiderstehlicher Geisterhand den Bau in Schutt und Asche legen.“124 Aber wer ist nun dieses ‚unheimliche Gespenst‘ Masse? Kann man es exakt definieren? Geiger unternimmt den Versuch und sagt, dass sie der „von der destruktiv-revolutionär bewegten Vielheit getragene soziale Verband (ist), für welchen es einen besonderen Namen bisher nicht gibt.“125 Masse ist also zunächst durch ihre ‚Vielheit‘, also die reine Anzahl der Mitglieder gekennzeichnet, die nicht spezifiziert werden kann. Zudem ist die Masse ein Kollektivsubjekt, in seinen Worten ein „supraindividuelle(s) Kollektivum“126, das zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt in der Gesellschaft entsteht. Seine Geburtsstunde kann nicht exakt definiert werden, aber Th. Geiger betont immer wieder die kollektive Dimension der Masse im Kontext einer revolutionären Dynamik. „(D)ie Geburt der Masse ist spontanes Auflodern lange darbender Gemeinschaftssehnsucht in der Opposition gegen das Überwuchern des Gesellschaftsprinzips. Dem Zustand des Leidens entrafft sich die Dynamik des Nicht-Leiden-Wollens.“127
Diese Begrifflichkeit führt Th. Geiger auf F. Tönnies zurück, der zwischen Gesellschaft und Gemeinschaft als zwei verschiedenen Organisationsprinzipien des Sozialen unterscheidet.128 Aber der Begriff der Masse muss präzise gefasst werden und Th. Geiger unterscheidet scharf zwischen ihr als einem bestimmten „sozialpsychischen Zustand“ und einem „sozialen Gestaltungstyp“129 und nur letzterer ist die Basis für (s)einen soziologischen Massenbegriff. Diesen Gestaltungstyp nennt er einen Verband, der objektiven Charakter hat in dem Sinne, als er seine Mitglieder zu einem Verhalten bringt, das sie von sich aus nicht haben würden. „Ihr Kommen und Gehen (der Mitglieder, FW.R.) hat auf das Wesen des Verbandes einen im Ganzen verhältnismäßig geringen Einfluss. (…) Zehn Mitglieder von Hundert können im Laufe eines Jahres austreten, dreißig neue könnten eintreten, ohne dass darum am Verbande selbst (…) sich etwas ändert als die Mitgliederzahl. (…) (F)ür uns sind die mit dem Verband im Zusammenhang stehenden Verhaltensweisen der Verbandsmitglieder verursacht durch die ‚Gruppe‘. Die Gruppe also ist das Primäre, die Verbandshaltung der Glieder ist das Sekundäre.“130
Damit verbunden ist die Feststellung, dass eine Gruppe bzw. ein sozialer Verband einen eigenen „Lebensdrang“ hat, der mit dem seiner einzelnen Mitglieder nicht deckungsgleich ist.131 Psychologen – so sein Verdikt – erklären das Verhalten eines sozialen Verbandes aus dem Verhalten der einzelnen Mitglieder, während die Soziologie das Verhalten der Mitglieder als durch den Verband verursacht betrachtet. Dadurch gewinnt er seinen ‚objektivistischen‘ Charakter und seine jeweils spezifischen Wirkungsweisen. Masse ist
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4. Die Politik der Massen „einheitlich, überlokaler Objektivverband, aber die lokalen Massenaktionen sind Ausdruck dieses Objektivverbandes. Die Menschen verlassen ihr Haus und gehen auf die Straße bereits im seelischen Zustande der ‚Massenhaltung‘. Nicht etwa wird diese typische Haltung erst herbeigeführt im Gewühl der Aktion oder durch die Rede eines Agitators (…).“132
Th. Geiger besteht darauf, dass zuerst das ‚objektivistische‘ Wir, dieses eigentümliche ‚supraindividuelle Kollektivum‘ existiert und erst aus dieser Gegebenheit entspringt die Aktion. Genau umgekehrt formuliert die Massenpsychologie, bei der das supraindividuelle Kollektivum erst durch die Aktion selbst entsteht und nicht der Aktion vorausgeht. Zudem besteht er im Gegensatz zu G. Le Bon darauf, dass das Individuum in der Masse nicht verschwindet, sich in Gänze auflöst, sondern vom In-der-MasseSein immer nur zu Teilen ergriffen wird. In Massensituationen behält es immer noch seine individuellen Fähigkeiten und Handlungsmotive. Dennoch betont er – jetzt ähnlich wie G. Le Bon –, dass es zu einer Zurückdrängung der individuellen Rationalität kommt und die impulsiven, affektiven und leidenschaftlichen Momente deutlicher zum Ausdruck oder Ausbruch kommen und bestimmte Vermassungserscheinungen auftreten. Er nennt dies „Kollektiverlebnis“ und kommentiert, dass die Masse „ein seelisches Subjekt ‚Wir‘ (ist), d. h. ein Subjekt, das seelischer Akte fähig ist, die dem Ich für sich nicht zukommen. Umgekehrt aber ist dieses Wir nicht all jener Akte fähig, welche das Ich zu vollziehen imstande ist.“ Und soweit das Individuum „an einem Kollektivakt beteiligt ist, haben seine Ichqualitäten keine Bedeutung und sind daher außer Funktion. Statt dessen wirken die ‚unbewusst‘ genannten Wirqualitäten des Individuums. (…) Das intelligente Ich spielt beim Wirakt nur die Rolle eines reflektierenden Beobachters und ist als solches (…) mehr oder minder lahmgelegt.“133
Die Masse wird also zum ‚seelischen Subjekt‘, das eigene psycho-soziale Verhaltensmuster entwickelt und als Kollektivsubjekt zu politischen Handlungen in der Lage ist, die individuelle politische Subjekte nicht vollziehen würden und auch nicht vollziehen können. Dass das intelligente Ich ,mehr oder minder lahmgelegt’ ist, ist eine schwierige Formulierung, die wenig präzise angeben kann, wieviel Individuum noch in der Massensituation bzw. -aktion erhalten bleibt und das Individuum als Individuum weiter konstituiert. Aber sie verdeutlicht, dass Th. Geiger – ebenso wie G. Le Bon und andere Massentheoretiker – von einem Verschwimmen oder gar Verschwinden der Eigenschaften und Kompetenzen des Individuums in der Masse ausgeht. Es kommt zu einer Massenaktion, die durch irgendein zufälliges Erlebnis veranlasst (nicht verursacht!) wird. Aus einer ‚provisorischen‘ Haltung wird die proletarische Masse durch verschiedene, im Kern beliebige Anlässe, aufgeschreckt: Hungersnot, verlorener Krieg, eklatante Fälle von Klassenjustiz etc., die Beispiele können beliebig vermehrt werden. Auch wenn die Anlässe kontingent sind, das Spezifische der Masse ist ein strukturelles Moment. Sie ist
4.5. Massen und Revolution
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nicht durch ihre „Negativität als Haltung, sondern durch die Negation des Bestehenden“134 grundlegend charakterisiert. Ist die Masse aber einmal entstanden, dann „vergessen die Individuen für Augenblicke, Stunden oder Tage all ihre sozialen Dauerbindungen und vollziehen gemeinsam Akte, die nach Inhalt und Struktur dem einzelnen Individuum ebenso fern liegen, wie sie mit dem Sinngehalt seiner sonstigen sozialen Bindungen unvereinbar sind.“135
Masse und Proletariat sind bei Th. Geiger unmittelbar miteinander verknüpft, man könnte sagen, dass die Masse eine Teilmenge des Proletariats ist, die funktional im Prozess der Revolution eine bestimmte Aufgabe übernimmt – die Zerstörung des Alten –, während das Proletariat den Neuaufbau übernimmt. Aber warum kommt es überhaupt zu einer revolutionären Situation? Die Entstehung des Proletariats und der Masse ist bei ihm die Folge der Auflösung gemeinsam geteilter und zentraler Werte einer Gesellschaft. In stabilen Ordnungsstrukturen teilen die Oberschicht und andere soziale Gruppen diese Werte und solche Gesellschaften sind integriert und stabil. Th. Geiger betont die Dominanz der Oberschicht in einer Gesellschaft, solange diese auf dem Prinzip der Repräsentation aufgebaut ist. Ist erst einmal eine solche privilegierte Klasse entstanden, will sie ihre Macht und damit verbundene gesellschaftliche Positionen nicht mehr abgeben. Durch Macht und Täuschung der Massen versucht sie, ihre Position zu halten und beruft sich hierbei auf die Wertvorstellungen, die ihrer Herrschaft früher einen Sinn gaben. Durch soziale und kulturelle Veränderungen entstehen zwei Klassen, die „konservative Oberklasse der Wenigen“ und die „fortschreitend revolutionäre der Vielen.“136 Die Diskrepanz zwischen den (dominierenden) Werten der Oberschicht und den faktischen sozialen und politischen Einrichtungen wird nun unübersehbar und bestimmte Bevölkerungsschichten, konkret das Proletariat und die Masse als ihre Teilmenge, geraten in fundamentalen Konflikt mit dieser dominierenden Schicht. Das Proletariat ist die Unterklasse der Vielen und „das Menschenmaterial des sozialen Verbandes Masse“137, aber Masse und Proletariat sind nicht identisch, sondern zwei verschiedene Größen. Das Proletariat kann in verschiedenen Formen auftreten, eine davon ist das Auftreten als Masse. Diese prinzipielle Möglichkeit ist mit der Entstehung des Proletariats immer gegeben, das „aktive Auftreten“ dagegen ist – wie bereits erwähnt – von äußeren Anreizen abhängig.138 Kommt es zu einer Revolution, so vollzieht sich diese in zwei zeitlich unterteilten Schritten. Zunächst das Zerstören des Alten und daran anschließend der Aufbau des Neuen, wobei die Masse ersteres macht: Die „destruktive Funktion“ kommt den Massen zu, die letztere dem Proletariat.139 Die Revolution ist „der Umsturz sinnentleerter und Aufrichtung werterfüllter neuer sozialer Gestalten“140 und hat diese zwei Phasen zu durchlaufen.
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4. Die Politik der Massen „Alle Revolutionen sind Masserevolutionen – sofern der Masse die destruktive Rolle in jeder Revolution zukommt; keine Revolution ist Massenrevolution in dem Sinne, dass sie in ihrem ganzen Umfang Werk der Massen wäre.“141
Hier kommt bei Th. Geiger die Demokratie ins Spiel. Sie kann man als Versuch bezeichnen, „das revolutionäre Explodieren dieser Massen im Bereich des politischen Lebens zu verhüten.“142 Die Demokratie war und ist in der Lage, das Proletariat durch demokratische Verfahren in den Prozess der politischen Willensbildung einzubinden und zum Bestandteil einer „planmäßig organisierten und legalen Politik“143 zu machen. Die „Politik der Straße ist eine Politik des Ressentiments, (…) deren wesensmäßiges Merkmal eben die Ablehnung der legalen, verfassungsmäßigen Politik ist.“144 Umgekehrt hat die Demokratie das Ziel der „Beseitigung des Proletariats als enterbte Schicht.“145 Sie will durch ihr Gleichheitsprinzip die „Bodenschicht zur Mitträgerin der politischen Einheit machen, indem sie nach Zersetzung der Wertinhalte die Formseite zum intentionalen Gehalt der nationalen Einheit zu machen versucht.“146 Es kann historische Situationen geben, in denen die Demokratie und das Proletariat ein ähnliches Ziel haben, nämlich die Aufhebung des Proletariats und seine Transformation in Staatsbürger mit gleichen individuellen, politischen und sozialen Rechten. Aber die Ziele des Proletariats sind weitergehend. Es will die bisher bestehende nationale Einheit aufheben und sich in einer neuen Gesellschaftsform eine neue Position geben. Es gab einen Autor, der das Gegenteil von Th. Geiger behauptete, indem er noch weiter ging als die Massenpsychologen seiner Zeit und die „Massenwahntheorie“147 formulierte. Sie stammt von Hermann Broch, hatte manche literarische und politische Vorläufer und wurde erst Ende der 30er Jahre ausformuliert. Für ihn haben die Massen nichts revolutionäres, nicht einmal die bei Th. Geiger thematisierte destruktiv-revolutionäre Funktion. Vielmehr sind sie bei ihm vom Wahn befallen und haben alle Verbindungen zu den fundamentalen Werten und Normen abgestreift, die eine Gruppe von im Prinzip beliebigen und unterschiedlichen Menschen zu einer Gesellschaft formen. Stattdessen sind die Massen ausschließlich triebgesteuert und gegen jegliche Rationalisierungsversuche resistent. Die Individuen sind atomisiert, keine sozialen und wertemäßigen Bande halten sie zusammen. Stattdessen leben sie in einem „Dämmerzustand“, der sie für den Wahn anfällig macht. Die vereinzelten Menschen lassen sich leicht vom „Massenwahn“ anstecken und werden zu „Schlafwandlern“, die H. Broch in seinem gleichnamigen und monumentalen Roman beschrieben hat.148 Und erneut stand bei vielen Überlegungen zum psychologischen Zustand der „Schlafwandler“ G. Le Bon und seine Massenpsychologie Pate. Aber wie kein anderer Autor hat H. Broch den Kontext vom Zerfall der Werte, dem Aufstieg der Massen zum zwar wahnbefallenen, aber dennoch politischen Akteur und der Entstehung des Faschismus beschrieben und zum Gegenstand einer (unvollendet gebliebenen) politischen Theorie des Massenwahns gemacht.
4.6. Vom Massesein zur Vermassung
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4.6. Vom Massesein zur Vermassung: Die Massen als „optische Täuschung“ (R. König) Die sozio-ökonomischen Dynamiken der Nachkriegszeit, insbesondere das langanhaltende Wirtschaftswachstum, führten dazu, dass verschiedene Sozialwissenschaftler die Bedeutung der Massen völlig anders bewerteten als die der Zwischenkriegszeit. Der Todesstoß – so ihre Diagnose – wurde den Massen von der Massenproduktion, dem Massenkonsum und den Massenmedien versetzt. Die Alternative zu den leidenschaftlichen und aufrührerischen Massen wurde nun die „friedlich konsumierende Zivilgesellschaft.“149 Die Befreiung von materieller Not befriedet die Massen, führt zu politischer Stabilität und funktionierenden Demokratien, weil die verbesserten Lebenslagen und der Zugang zum Konsum die Masse in ein passives Subjekt verwandelt. Die sozialwissenschaftliche Fundierung hierfür lieferten David Riesman u. a. in ihrem 1950 erschienenen Büchlein „The Lonely Crowd“. Es avancierte schnell zum soziologischen Klassiker150, wurde 1956 ins Deutsche übertragen und mit einer ausführlichen Einleitung von Helmut Schelsky versehen. Mit der Denkfigur der Außengeleitetheit des Menschen legte die Masse ihren dämonischen Mantel ab und mutierte zu einem harmlosen Phänomen. Eine neue Phase der Stabilisierung der modernen Gesellschaften schien dadurch erreicht, indem die außengeleiteten Massen auf innere, triebhafte und instinktgeleitete Handlungen verzichteten und sich stattdessen am Konsumverhalten der Anderen und den durch die Massenmedien propagierten Verhaltensstandards orientierten. Dadurch erfährt der moderne Mensch eine stabile Orientierung in seinem Sozialverhalten, das ihn erwart- und berechenbar macht. D. Riesman u. a. erbringen ein Übermaß an empirischen Belegen für ein wachsendes und stabiles ‚Desinteressement‘, das eine dem Industriezeitalter angemessene „Verbraucherhaltung gegenüber der Politik“151 entstehen lässt. Diese Verbrauchermentalität führt zur politischen Apathie, zu einer erheblichen Passivierung der Massen, die mental zu Konsumenten werden und sich nicht mehr als handelndes politisches Subjekt verstehen. Aus dem Dämon Masse ist der harmlose Löwe im Käfig der Außengeleitetheit geworden, den man bestaunen kann, dem man seine ehemalige Wildheit und Leidenschaftlichkeit noch ansehen mag und der einen noch erschaudern lässt. Auch die bundesdeutsche und andere Nachkriegsgesellschaften waren insbesondere nach dem Nationalsozialismus erneut mit Diskussionen über die Massen konfrontiert, die gänzlich andere Verlaufsformen annahmen und die ‚alten‘ Diskussionen ablösten. Nichts – so ein Autor der 60er Jahre – scheint heute „so sehr zur Vermassung zu prädisponieren wie der Kampf gegen die Masse und ihre vermeintlich kulturzerstörende Wirkung in unserer Zeit.“152 Es war der Soziologe René König, der dies schrieb und zugleich fragte, ob die ganze Massenproblematik nichts anderes sei als die „optische Täuschung (…) eines Beobachters, der mit
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4. Die Politik der Massen
einem besonderen Blicksystem eine Ordnung betrachtet, die nicht die seine ist.“153 Er führte eine Unterscheidung ein, die den alten Massediskurs nicht völlig ad acta legte und seine Relevanz akzeptierte, aber die sozialen und ökonomischen Bedingungen für sein Entstehen heute nicht mehr gegeben sah. Im Gegenteil, in den modernen Nachkriegsgesellschaften haben wir es zwar auch mit Massenphänomenen zu tun, die gleichwohl gänzlich anders gelagert sind. R. König unterscheidet zwischen Massesein und Vermassung, wobei ersteres den psychologischen Zustand beschreibt, der durch das Fließende, Eruptive, Leidenschaftliche, Einebnende etc. gekennzeichnet ist und von den frühen Theoretikern wie G. Le Bon, G. Tarde und S. Freud umfassend beschrieben wurde. Die Massen sind hypnotische Massen und durch spezifische psychische Verhaltensmuster gekennzeichnet. Sie können immer von der latenten zur aktuellen Masse werden. Das Massesein ist Ausdruck der „Eigentümlichkeit des Menschen überhaupt“154 und kann immer und überall auftreten. Vermassung dagegen ist Resultat der modernen Industriegesellschaften und in anderen historischen Situationen unmöglich. Wodurch ist sie gekennzeichnet? Zentral für R. König ist die Massenproduktion, die vom Massenkonsum begleitet wird. Beides steigert den Lebensstandard der Menschen in den Industriegesellschaften, wobei Standardisierung und Nivellierung produktionstechnische Erscheinungen sind, die gleichwohl als gleichmachende Formen im Alltagsleben der Gesellschaft sichtbar werden. Aber diese Angleichung der Konsumgewohnheiten führt nicht – wie im Massesein – zu einer grundlegenden Veränderung der psychischen Strukturen der Individuen, sondern lässt das „rationale Ichbewusstsein“155 und die Fähigkeit zu Selbstbestimmung und Kritik unberührt. Ein weiteres Moment tritt hinzu. Die modernen Konsumgesellschaften sind intern differenzierte und von vielfältigen Organisationen und Gruppenbildungen durchzogene Gesellschaften, in denen die Menschen stabile soziale Beziehungen aufgebaut haben, wobei die Arbeitsbeziehung die wichtigste ist. Vom Herausgefallensein der Menschen aus sozialen Bindungen kann heute keine Rede sein. Dem Massesein wird ein Riegel vorgeschoben, der durch zunehmende soziale Verflechtung und die erforderlichen Verhaltensmuster in den modernen Arbeitsbeziehungen gebildet wird. Vermassung ist also gegeben und wird als Voraussetzung für eine Standardisierung von Menschen betrachtet, die wiederum die Bedingung für ein Zusammenleben nach bestimmten gesellschaftlichen Normen ist. Insofern ist nach R. König die Masse im alten Sinne eine „optische Täuschung“, die Vermassung dagegen gesellschaftliche Wirklichkeit. Die Emotionen der Masse, ihre Entladung und ihre politische Mobilisierbarkeit spielen keine Rolle mehr. Die politische Gesellschaft ist ‚beruhigt‘ und die Politik operiert auf der Basis der Massendemokratie, für die eine systematische Desinteressiertheit an politischen Fragen charakteristisch ist. Gleichwohl kann man die Massen bei Wahlen und anderen wichtigen politischen Ereignissen ge-
4.7. Die Wiederauferstehung der Massen
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fahrlos erwecken. Man mobilisiert sie nicht mehr, sondern holt sie zu gegebenem Anlass aus ihrem politischen Tiefschlaf und erwartet von ihnen allein ihre Stimmabgabe. Für ihre Unterhaltung, die sie in einen gefahrlosen Erregungszustand versetzt, sind die Massenmedien zuständig. Und wenn sich die Masse selbst bewegt, dann im Massenverkehr, in der sie jedoch schnell zum Stillstand kommt, weil sich zu viele zur gleichen Zeit auf den Weg machen. Im Massentourismus schließlich werden ihre außengeleiteten Sehnsüchte – von großen Unternehmen gut organisiert – umfassend befriedigt.
4.7. Die Wiederauferstehung der Massen in den mittel- und osteuropäischen Transformationen Eine beunruhigende Frage blieb: Könnten sich die Massen am Endes des 20. Jahrhunderts erneut als politisches Subjekt konstituieren oder hat das „Zeitalter der Massen“ unwiderruflich sein Ende gefunden? Wider Erwarten waren die Massen nur scheinbar von der Bühne der Politik verschwunden. Sie kehrten während des gesamten Jahrhunderts immer wieder in ihrer ‚Rohform‘ zurück. In den Aufständen in Osteuropa, sei es 1953 in der DDR, 1956 in Ungarn, 1968 in der Tschechoslowakei oder als Solidarność 1981 in Polen, war dies unübersehbar. Aber erneut und konzentriert traten sie beim Zusammenbruch des sozialistischen Ostblocks am Ende des 20. und des beginnenden 21. Jahrhunderts auf der Bühne der Geschichte auf. Auch wenn es 1989 in der DDR nicht nur Protestierende wie in Leipzig und anderswo gab, sondern auch ‚auswandernde‘ Massen, sie entzogen dem gewaltvoll herrschenden Regime die Legitimität, brachten es zum Schwanken und letztlich zum Sturz. Analoges gilt für die vielen anderen osteuropäischen Länder. Auch in den Umstürzen in Tunesien, Ägypten, Libyen und anderen nordafrikanischen Staaten zu Beginn des 21. Jahrhunderts waren die Massen unübersehbar. Sie besetzten öffentliche Räume bzw. eroberten an diesen Orten die Öffentlichkeit zurück und wurden zum politisch handelnden Subjekt. Fast scheint „1989“ eine Bestätigung der marxistischen These, aber unter umgekehrten Vorzeichen: Die Massen waren nicht die Zugmaschine der marxistischen Geschichtsteleologie, sondern betätigten die Bremsen, stiegen aus dem vom Marxismus postulierten Zug der Geschichte aus und stellten sich aufmüpfig daneben: Nicht mit uns, wir gehen unseren eigenen Weg. Der Zusammenbruch der sozialistischen Regime in Mittel- und Osteuropa ist durch den Druck der Massen zustande gekommen, die den herrschenden Eliten ihre letzte Legitimation nahmen und ihre Selbstzweifel so weit vergrößerten, dass sie als „Helden des Rückzugs“156 keine Gewalt gegen die Massen einsetzten, sondern in verhandelten Transformationen ihren Machtverlust noch mitgestalten konnten. Auch in den Sozialwissenschaften wurde der Begriff der Masse als sozi-
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4. Die Politik der Massen
alwissenschaftliche Kategorie nicht mehr verwendet. Neue Konzepte hatten sie abgelöst, wie etwa das der Neuen Sozialen Bewegungen; andere wiederum ersetzten die Masse durch den Begriff des Volkes, der sowohl analytisch wie politisch andere Akzente setzt.157 Die soziale Zusammensetzung der damals Protestierenden machte deutlich, dass Intellektuelle in der Minderheit, jedoch alle wichtigen Berufsgruppen, die kein Studium erforderten, an den vielfältigen Protestformen beteiligt waren und die Altersgruppe unter 40 Jahren dominierte. Daraus wurde geschlussfolgert, dass „wenn man diesen quantitativem wie qualitativen Befund auf einen Begriff bringen will, dann war der Träger der Revolution der Durchschnittsbürger oder eben wirklich: das Volk.“158 Und an andere Stelle: „Ihr Träger war das ganze Volk in allen seinen Schichten. Herausragende, die Bewegung beherrschende Leitfiguren gab es nicht.“159
Zwar spielten zu Beginn die Intellektuellen eine größere Rolle, aber deren Bedeutung wurde dann im weiteren Verlauf vom ‚Volk‘ übernommen. Das Volk, in dessen Namen die SED-Diktatoren vorgaben zu handeln, ergriff nun selbst die Initiative und begann als eigenständige und selbst organisierte Kraft zu agieren. Die Verwendung des Begriffes ‚Volk‘ zur Selbstbezeichnung der Aufständischen hatte auch den Sinn, diesem Begriff eine faktisch sichtbare und damit politische Bedeutung zurückzugeben. Der Begriff wurde im Verlauf der Proteste jedoch eigentümlich soziologisiert: Volk wurde im Selbstverständnis der Aufständischen zum – fast möchte man sagen: repräsentativen – Durchschnitt der Bevölkerung, während der Volksbegriff zuvor meist substantialistisch gefasst wurde.160 Entstanden ist diese Selbstbezeichnung angeblich auf einer Demonstration am 2. Oktober 1989 in Leipzig, wie ein Teilnehmer berichtet: „Da hatte ich ganz große Angst. Aber das allerbeste ist, an diesem Abend hörte ich zum ersten Mal diesen Spruch ‚Wir sind das Volk‘. Als die Polizisten den Lautsprecher einschalteten und sagten: ‚Hier spricht die Volkspolizei‘, antwortete die Menge: ‚Wir sind das Volk‘. Sie kamen gar nicht dazu, diesen Spruch zu vollenden. Es gab wirklich so einen Art Wechselgesang, was uns eine Zeitlang sehr amüsierte.“161
Erneut ist die Begrifflichkeit interessant: Nicht die Masse, sondern die Menge antwortet und die Selbstbezeichnung als ‚Volk‘ entstand in einer Art politischen Kontroverse zwischen – sagen wir – Menge und Volkspolizei, wobei das ‚Volk‘ reklamierte, dass die Polizei nicht ihre Polizei ist. Wenn sie dies denn sein will, dann war die Anwendung von Gewalt gegen die Demonstranten schlicht außerhalb des Handlungshorizontes. Aber immer wieder wird der Volkscharakter betont, wenn an der Revolution „das ganze Volk einschließlich der Durchschnittsbürger“ teilnahm und an deren Beginn „Massendemonstrationen“ standen. Nur an dieser Stelle taucht der Massenbegriff auf, sonst nicht mehr; und zwar deshalb, weil sich dann später „allmählich eigene politische Organisationsformen“ ausbildeten.162
4.7. Die Wiederauferstehung der Massen
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Unschwer ist zu erkennen, dass der Begriff des Volkes sich in den vielfältigen Selbstbeschreibungen vom analytischen zum politischen Begriff wandelt. Dem Regime, das sich immer als Vertreter des Volkes bezeichnet hat und allen zentralen politischen Institutionen die Vorsilbe ‚Volk‘ angeheftet hatte, musste dieser Vertretungsanspruch streitig gemacht werden. Folgerichtig bezeichneten sich die Demonstranten bzw. die aufständischen Massen als ‚Volk‘, besser: als das wahre Volk, das mit dem inzwischen delegitimierten und leeren Volksvertretungsanspruch des alten Regimes nichts mehr gemein hatte. Zudem waren die vorgängigen Aufstände der 50er und 60er Jahre in den mittel- und osteuropäischen Staaten von den westlichen Medien und politischen Kräften – ebenfalls in politischer Absicht – als „Volksaufstände“ bezeichnet worden. Und diese positive, ja revolutionäre Konnotation haben die politischen Kräfte im Jahr 1989 übernommen. Warum diese aber keine Revolutionen waren, wird in Kap. 9 ausführlich diskutiert. Nur ein Autor, es ist Jochen Schade, hat versucht, die Ereignisse in der DDR 1989 in den Massenkategorien G. Le Bons zu analysieren.163 Die Leipziger Montags- oder auch Massendemonstrationen waren die Auslöser für den Zusammenbruch des Regimes. Sie entstanden spontan und unorganisiert und die Anzahl der Demonstranten wuchs von Woche zu Woche: Von rd. 5.000 am 25. September 1989 über 20.000 am 2. Oktober bis zu fast einer halben Million am 6. November.164 Es war eine offene Masse, die immer weiter wuchs und immer mehr Menschen wie durch einem Sog anzog. Teilnehmer schilderten im Rückblick Gefühle von „Ergriffenheit, Gehobenheit, Siegeszuversicht und rauschhafte Begeisterung, die die latente Angst übertönten. Sie berichteten ferner, dass sie sich auf eine überwältigende Weise einig, gleichstrebend und zusammengehörig fühlten.“165
Diese Begrifflichkeiten wurden unverkennbar und bewusst vom Autor der ‚Massenpsychologie‘ übernommen. Die Führerlosigkeit dieser Massen stand nur scheinbar im Widerspruch zu den wichtigsten Massentheoretikern, die für jede Masse einen Führer voraussetzen, auf den sie ausgerichtet ist, der sie im Zweifelsfall führt und mit dem sie sich identifizieren konnten. Es gab zwar keinen direkt teilnehmenden Führer, aber einen „ideellen oder virtuellen“ in der Person Michail Gorbatschows.166 Sein Name war der in den Demonstrationen am meisten gerufene, es gab den Sprechchor „Gorbatschow hilf“, dann auch „Gorbi, Gorbi“-Rufe. Er hatte die Sowjetunion von einem Reich der Bedrohung und sein Amt von einer unberechenbaren Unterdrückung in ein Reich der Verwandlung und zu einer Schutzmacht verwandelt. Er konnte deshalb als Schutzpatron, im übertragenen Sinne als ‚Führer‘, der Massen anerkannt werden. Ein anderer Sachverhalt ist in diesem Kontext wichtig, weil er erneut die Massenfrage berührt. Es ist der Kontext von Abwanderung und Widerspruch, den
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4. Die Politik der Massen
zunächst Detlef Pollack in seinen Analysen über den Zusammenbruch der DDR thematisiert hat.167 Darauf reagierte der Urheber dieses Kategorienpaares, der amerikanische Soziologe Albert O. Hirschman, in einem ausgreifenden Artikel. Beginnen wir mit der Abwanderung, hier nun aus der DDR. Albert O. Hirschmann diskutiert dies in seinem Artikel ausführlich und stellt dabei fest, dass das „wirkliche Mysterium der Ereignisse von 1989 die Transformation dessen (ist), was als rein private Aktivität begann und beabsichtigt war, – das Bemühen einzelner Individuen, von Ost nach West zu ziehen –, in eine breite Bewegung öffentlichen Protestes.“168
Zwei Umstände waren hierfür relevant. Zum einen hatten „zu viele Menschen dieselbe Idee“ und – als ein äußeres Ereignis – wurde die Ausreise durch die „Entschärfung der Grenzkontrollen“169 zu einem – ja, zu einem Massenereignis. Der Begriff der Masse wird nur einmal verwendet, wenn A. Hirschman von einem „Massenexodus“ bzw. von einer „Massenflucht“ 170 spricht, aber dass hier Massenphänomene und massenpsychologische Verhaltensmuster eine große Rolle spielen, wird an keiner Stelle auch nur angedeutet. Und das, obwohl A. Hirschman schreibt, dass als die Menschen „realisierten, dass sie nicht länger alleine waren, sie einander als Gleichgesinnte an(erkannten) und sich über die Gemeinschaft, die sie ahnungslos geschmiedet hatten, (freuten).“171 Im Gegensatz zu seinen früheren Analysen aus den 1970er Jahren sieht er nun Abwanderung und Widerspruch nicht als sich gegenseitig ausschließend, sondern sich gegenseitig verstärkend. Es war das Zusammenfließen und die gegenseitige Verstärkung, die zum Zusammenbruch des DDR-Regimes führten. Es werden zwar Zahlen genannt und viele Phänomene beschrieben, die typisch für Massenverhalten sind, aber nie wird dies systematisch in die Analyse eingebaut. Auch hier kann man das Verschwinden der Massen und alles, was dazu gehört, beobachten. Systemverändernde Aktionen, wie öffentlicher Protest, Demonstrationen, selbstorganisierte Widerstandsformen etc., die alle massenhaft stattfanden und weitgehend ohne tradierte politische Führer bzw. politische Führung, werden nun ohne den Rückgriff auf den Massenbegriff beschrieben bzw. analysiert. Die Politik der Massen und ihre grundlegenden Prämissen gehören nicht länger zum Analysepotential der modernen politischen Theorie, sei sie von politischen Denkern oder denkenden Politikern formuliert. Die offene Frage, die man sicherlich nicht einfach beantworten kann, lautet dennoch: Sind die Massen als Masse verschwunden, haben wir es also mit einer „Antiquiertheit der Massen“172 zu tun oder sind sie ‚nur‘ aus dem Begriffsarsenal der politischen Theorie bzw. des politischen Denkens verschwunden? Es gibt in der Tat die Masse als „intellektuelle Projektion“ und zugleich als „Beharrlichkeit des Projizierten.“173
4.8. Von der ‚Verachtung der Massen‘
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4.8. Von der ‚Verachtung der Massen‘ zu ihrer Auferstehung als ‚Multitude‘. Die Bezeichnung der Massen als ‚optische Täuschung‘ durch die Nachkriegssoziologen erfuhr in den 80er Jahren eine weitere Radikalisierung. Diese Radikalisierung ging so weit, nicht nur eine „Verachtung der Massen“ zu diagnostizieren, sondern diese als nicht mehr real existent, sondern als Simulakrum zu bezeichnen. Es würde durch die modernen Medien produziert, die die Massen als nicht mehr existent betrachten. Für erstere Position steht der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk174, für die zweite der französische Philosoph Jean Baudrillard175. Obwohl die Massen am Ende des Jahrhunderts erneut auf der politischen Bühne auftauchten und den Sozialismus in den meisten mittel- und osteuropäischen Staaten zu Fall brachten, wurden sie von einem Teil der politischen Philosophie bzw. der politischen Theorie als Fiktion, als Simulakrum mit keinem realen Bezug betrachtet. Mit dem Verschwinden der Massen wurde zugleich auch eine neue Form der Politik prognostiziert: Es gibt eine post-politische Situation, in der die Verbindung zwischen den Massen und der Politik unterbrochen ist und sich beide jeweils autonom und ohne Bezug zueinander entwickeln würden. Noch weitgehender: Die Massen befinden sich in einer „post-political era“, in der die tradierten Formen der Politik zusammengebrochen sind, v. a. die verschiedensten Formen der politischen Repräsentation und mit ihnen die Massen bzw. die Massen- und Volksparteien als zentrale politische Akteure. Diese Vorstellung, nach der die Massen Politik treiben, sei es als eigenständige, autonome politische Kraft oder vermittelt über die politischen Parteien, die die Massen bzw. Segmente der Massen im politischen Betrieb repräsentieren, wurde von diesen (und anderen) Autoren nicht nur verabschiedet, sondern als weltfremdes und ideologisches Relikt, als überholte Reminiszenz an vergangene Zeiten bewertet. Aber immer gibt es die einsamen Rufer in der Wüste: Michael Hardt und Antonio Negri haben die Masen erneut auferstehen lassen, aber in einem neuen Gewand, als ‚Multitude‘.176 Durch was ist die post-politische Situation gekennzeichnet? Welche Merkmale machen eine post-politische Politik aus und in welchem Zustand müssen sich die Massen befinden, wenn sie nur noch als Simulakrum und im Stadium der Verachtung existieren? Ich beginne mit der ‚Verachtung der Massen‘ und skizziere dann kurz die Idee der ‚schweigenden Mehrheit‘. Die mit diesen Begriffen verbundenen Implikationen sind weitreichend und die des Endes des Sozialen und – damit untrennbar verbunden – des Endes der Politik sind sicherlich die radikalsten. Die Gegenstimme, die die Wiederauferstehung der Massen als Multitude beschwört, darf am Ende dieses Kapitels nicht fehlen. Die Frage muss geklärt werden, ob dies eine Art Rückkehr zum Beginn des 20. Jahrhunderts wäre, bei dem
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4. Die Politik der Massen
die Massen auch als revolutionäre Kraft betrachtet wurden, die als Motor der Geschichte agieren.
4.8.1. Die Verachtung der Massen und die neue Massenkultur In der Postmoderne, das ist der Ausgangspunkt von Peter Sloterdijk, hat sich der Charakter der Masse grundlegend gewandelt. Während in der Moderne die Massen als zwar bedrohliches, aber dennoch handlungsfähiges Subjekt betrachtet wurden, das auch in der Politik als organisiertes Subjekt in Form der Massenund später Volksparteien große Bedeutung hatte, wird die Masse in der Postmoderne zu etwas Neuem. „Die aktuellen Massen haben im Wesentlichen aufgehört, Versammlungs- und Auflaufmassen zu sein; sie sind in ein Regime eingetreten, in dem der Massencharakter nicht mehr im psychischen Konvent, sondern in der Teilnahme an Programmen der Massenmedien zum Ausdruck kommt. (…) Aus der Auflaufmasse ist eine programmbezogene Masse geworden – diese hat sich definitionsgemäß von der physischen Versammlung an einem allgemeinen Ort emanzipiert.“177
Die Masse hat nun keinen Ort mehr, sie ist ortlos geworden. Dies hat zur Folge, dass sich die Individuen nicht mehr in der Masse auflösen und zu einem neuen handlungsfähigen Kollektivsubjekt verschmelzen können. Stattdessen bleiben sie in der ‚neuen‘ Masse Individuen. „Man ist jetzt Masse, ohne die anderen zu sehen.“178 Und nicht nur das: Man spürt auch die Anderen nicht mehr, man kann sich nicht in einen psycho-politischen Körper verwandeln, der politisch agiert und handelt und in E. Canettis „Masse und Macht“179 unübertrefflich beschrieben und von P. Sloterdijk zustimmend erwähnt wird. Entladung, Enthemmung, Mitgerissenheit (zum Guten wie zum Schlechten), kinetische Energie – all das sind Bezeichnungen, die die psycho-politische Bedeutung der Massen kennzeichnen und ihre Rolle im politischen Prozess andeuten. In der Postmoderne dagegen ‚organisieren‘ sich die Massen „nur über massenmediale Symbole, über Diskurse, Moden, Programme und Prominenzen.“180 Ihr Zustand ist nicht mehr energetisch, sie strömen nicht mehr zusammen, sie haben keinen Versammlungsort mehr, sie erheben oder empören sich nicht mehr gegen etwas. Ihr Zustand ist ein anderer geworden, er entspricht „dem eines gasförmigen Aggregats, dessen Partikel je für sich in eigenen Räumen oszillieren, mit jeweils eigenen Ladungen an Wunschkraft vorpolitscher Negativität, und jedes für sich vor den Programmempfängern ausharrend, immer von neuem dem einsamen Versuch gewidmet, sich zu erhöhen oder zu amüsieren. (…) Bei Massen, die nicht mehr als aktuell versammelte zusammenkommen, liegt es nahe, dass ihnen mit der Zeit das Bewusstsein ihrer politischen Potenz verloren geht. Sie empfinden das Gefühl ihrer Schlagkraft, den Rausch ihres Zusammenströmens und ihrer Vollmacht, zu fordern und zu stürmen, nicht mehr so wie damals in den Hochzeiten der Aufläufe und Aufmärsche. Die
4.8. Von der ‚Verachtung der Massen‘
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postmoderne Masse ist Masse ohne Potential, eine Summe aus Mikroanarchismen und Einsamkeiten, die sich kaum noch erinnert an die Zeit, in der sie – angereizt und zu sich selbst gebracht durch ihre Vorsprecher und Generalsekretäre – als ausdrucksschwangeres Kollektiv Geschichte machen wollte.“181
Die Diagnose ist eindeutig: Den Massen kommt durch ihren Wandel das ‚politische Potential‘ abhanden, das sie zuvor ausgezeichnet hatte. Die modernen Massenmedien lassen Medienmassen entstehen, die über die Medien verbunden sind und so zu einem Ganzen verschmelzen, das gleichlaufend und gleichgültig wird und sich nur noch vor dem Fernseher durch Unterhaltung erregt. Das neue dieser Masse ist auch darin zu sehen, dass ihre Führer und Vorsprecher keine herausgehobenen Persönlichkeiten mehr sind, die sich von den Massen abheben und so eine vertikale Differenz erfahrbar werden lassen. Vielmehr sind sie aus demselben Holz geschnitzt, aus dem auch die Masse geschnitzt ist. „Die Eignung Hitlers für seine Rolle im deutschen Psychodrama beruhte nicht auf außergewöhnlichen Fähigkeiten oder weithin leuchtenden Charismen, sondern auf seiner unfassbar evidenten Vulgarität und seiner hieraus folgenden Disposition, sehr großen Zahlen von Menschen aus der Seele zu grölen. (...) Das Geheimnis der Führer von einst und der Stars von heute besteht darin, dass sie gerade ihren dumpfesten Bewunderern so ähnlich sind, wie kaum ein Beteiligter zu vermuten wagt.“182
Man muss diese Position nicht unbedingt teilen, um zu sehen, dass sich bei den postmodernen Massen etwas vollzieht, das man als „Umfunktionierung der vertikalen Spannungen in horizontale Spiegelung“ beschreiben kann.183 Hier wird das zentrale Argument – wenn auch etwas übertrieben am Beispiel Hitler demonstriert – deutlich: Bei horizontalen Spiegelungen können sich die Menschen in ihrem Gegenüber spiegeln, sie müssen keine jenseits ihrer selbst liegenden Maßstäbe oder Ansprüche formulieren oder realisieren. Und was für Hitler galt, gilt heute generell und markiert den postmodernen Gesellschaftszustand. Die herausgehobenen Personen werden von den Massen nicht wegen einer fundamentalen vertikalen Differenz anerkannt, sondern wegen ihrer ‚unfassbar evidenten Vulgarität‘. Dies gilt vor allem für den Bereich der Politik, hier haben die Massenmedien und die professionalisierte Politik die Manipulation der Massen bis zur Perfektion getrieben. Vertikale Differenzen und Spannungen sind auch hier verschwunden. Umgekehrt hat sich bei den Herausgehobenen, sei es im Bereich der Kultur, der Philosophie, der Literatur, des politischen Denkens oder denkender Politiker eine Verachtung der Massen ausgebildet, die unübersehbar geworden ist. In einer Gesellschaft, die durch Kämpfe um Anerkennung gekennzeichnet ist, „heißt (v)erweigerte Anerkennung Verachtung.“184 Die Massen- und zum Teil auch noch die Volksparteien waren Organisationsformen, die auf der Anerkennung der Massen beruhten und ihnen eine politische Ausdrucksform anboten, mit der sie um Anerkennung kämpfen konnten.185
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Die Massenkultur dagegen hat die Aufgabe, „das Uninteressanteste als das Auffälligste“ zu bezeichnen, was oft mit einer „Aufmerksamkeitserzwingung“ verbunden ist.186 Da Massesein einen Unterschied zu machen heißt, ohne dass es einen Unterschied macht, ist die Postmoderne hier auf besondere Verfahren und Techniken angewiesen. Ohne Frage kommen die heutigen Gesellschaften nicht ohne Differenzierungen aus, die sich in den verschiedensten Bereichen sicherlich unterschiedlich ausprägen, aber überall sind Wertungen, Rankings, Platzierungen etc. an der Tagesordnung. „Daher müssen in der modernen Gesellschaft der Sport, die Finanzspekulation, und nicht zuletzt der Kunstbetrieb zu immer bedeutsameren psychosozialen Regulatoren werden, denn in den Stadien, an den Börsen und in den Galerien platzieren sich die Konkurrenten um Erfolg und Anerkennung durch ihre Ergebnisse weitgehend selbst. Weil solche Platzierungen selbst mitbewirkte Unterscheidungen sind, wirken sie hassreduzierend, wenn auch nicht versöhnend. Sie heben den elementaren Neid nicht auf, aber sie geben ihm eine Form, in der er sich bewegen kann.“187
Mechanismen solcher Art sind für postmoderne Gesellschaften unhintergehbar, wollen sie nicht an ihren Neidspannungen scheitern. Platzierung ist ein solcher Mechanismus, er macht postmoderne Gesellschaften vertikal beweglich und ersetzt das alteuropäische Hierarchiedenken durch zeitgenössische Rankings, die gerade in modernen Massendemokratien, die auf dem Prinzip der politischen Gleichheit beruhen, von großer Bedeutung sind. Demokratien – so könnte man in Anlehnung an P. Sloterdijk formulieren – sind der Versuch von Gesellschaften, „ihre Ungleichheit anders zu leben.“188 Sie machen die Menschen hinsichtlich ihrer demokratisch-politischen Rechte gleich, ohne die anderen Ungleichheiten, v. a. die sozialen, ökonomischen und intellektuellen, zu beseitigen. Die Idee des gleichen sozialen Wertes wurde erst spät im 20. Jahrhundert formuliert und ist bis heute eine hochgradig umstrittene Kategorie geblieben (siehe unten Kap. 5.6.). Man lebt nun die Ungleichheit anders und gerade in Demokratien sind die sozialen und alle anderen Unterschiede politisch gemachte Unterschiede, die die Demokratie beibehält, aber im Prinzip durch sie selbst – in welchem Umfang auch immer – beseitigt werden könnten.
4.8.2. Von der Masse zur ‚Multitude‘: Die Neubestimmung des aufständischen Subjekts durch M. Hardt und A.Negri Eine der wenigen Texte, der den Massen im Kontext der Postmoderne erneut eine revolutionäre Rolle zubilligt, ist der von Michael Hardt und Antonio Negri verfasste und im Jahr 2000 veröffentlichte Text „Empire“189, der im Jahr 2002 auch auf Deutsch erschien.190 Ein paar Jahre später fand dies seine Fortsetzung in dem Buch „Multitide“191, in dem vor allem die bisher diffus gebliebene Idee der
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Multitude präzisiert und weiter ausgeführt wird. In beiden Büchern beschreiben die Autoren die Konturen einer neuen globalen Weltordnung und entwerfen zugleich ein Konzept zu ihrer Bekämpfung und Überwindung. Hierbei spielen die Massen, bei ihnen „Multitude“ genannt, eine wichtige Rolle, wobei sich der neue Begriff von dem der Masse systematisch absetzen soll. Es ist einer der wenigen Texte am Ende des 20. Jahrhunderts, der der Multitude bzw. der ‚Menge‘ – so der Begriff in der deutschen Übersetzung – eine positive, ja die neue kapitalistische Weltordnung überwindende Bedeutung zumisst. Die Multitude ist am Ende des 20. Jahrhunderts das neue revolutionäre Subjekt, das alle Hoffnungen der Autoren auf eine revolutionäre Umgestaltung der globalen Welt trägt. Was unterscheidet nun die ‚Menge‘ von ähnlichen Begriffen wie Volk, Masse oder Arbeiterklasse? Letztere Begriffe setzten einen einheitlichen Willen voraus, eine Identität, die die politischen Handlungseinheiten zu einer gezielten Handlung oder Aktion führt. Auch die Masse als formlose, aber gleichwohl formbare Entität gehört deshalb in diese Kategorie, weil sie durch politische Führer zu einer willentlich und einheitlich handelnden Einheit geformt werden kann. Die Menge dagegen ist allein durch ihren Widerpart gegenüber der neuen Herrschaftsstruktur, dem Empire, charakterisiert. Diese neue Herrschaftsstruktur unterscheidet sich grundlegend von der des bisherigen kapitalistischen Imperialismus und trägt Merkmale in sich, die so beschrieben werden: „Im Gegensatz zum Imperialismus etabliert das Empire kein Zentrum der Macht, noch beruht es auf von vorneherein festgelegten Grenzziehungen und Schranken. Es ist dezentriert und deterritorialisierend, ein Herrschaftsapparat, der Schritt für Schritt den globalen Raum in seiner Gesamtheit aufnimmt, ihm seinen offenen und sich weitenden Horizont einverleibt. Das Empire arrangiert und organisiert hybride Identitäten, flexible Hierarchien und eine Vielzahl von Austauschverhältnissen durch abgestimmte Netzwerke des Kommandos.“192
Im „glatten Raum des Empire“ gibt es keinen Ort der Macht mehr, sie ist nicht mehr konzentriert, man kann sie nicht mehr lokalisieren, wie beispielsweise den Monarchen oder die Macht in den tradierten Nationalstaaten. Das Empire ist der „Nicht-Ort“, die Macht ist „zugleich überall und nirgends.“193 Unter solchen Gegebenheiten ändert sich auch die Struktur des Widerparts. Alle zentralisierten und hierarchisch aufgebauten politischen Handlungsmuster müssen sich dieser neuen Herrschaftsstruktur anpassen und die einzig angemessene Ausdrucksform ist die der Multitude, die der Menge. Aber sie ist keine homogene Einheit, hat kein übergreifendes Bewusstsein, sondern „weist in sich vielfältige Unterschiede auf, die niemals auf eine Einheit oder einzige Identität zurückzuführen sind. (…) Die Menge ist bunt wie das Gewand des biblischen Josef. Die Herausforderung besteht darin zu begreifen, wie eine gesellschaftliche Vielfalt es bewerkstelligen kann, die Differenz aufrechtzuerhalten und gleichzeitig miteinander Beziehungen einzugehen und gemeinsam zu handeln.“194
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Ihre schöpferische Kraft liegt darin, den „weltweiten Strömen und Austauschverhältnissen eine andere politische Gestalt zu geben“, in der die Menge „neue Formen der Demokratie und eine neue konstituierende Macht“ aufbaut und ein „Gegen-Empire“ entwickeln wird.195 Das sind sehr allgemeine Ausführungen und sie werden nie konkreter. Nur an einer Stelle wird der Versuch unternommen, die netzwerkartige und diffuse Struktur zu verdeutlichen. „Die Menge ist eine Vielfalt, ein Feld von Singularitäten, ein offenes Beziehungsgeflecht, das nicht homogen oder mit sich selbst identisch ist, sondern ein indistinktes, einschließendes Verhältnis zu denen, die außerhalb stehen, besitzt. Im Gegensatz dazu neigt das Volk zu Identität und Homogenität nach innen, indem es den Unterschied zu und den Ausschluss der Außenstehenden betont. Während die Menge eine unabgeschlossene konstituierende Beziehung ist, bildet das Volk eine festgefügte Synthese, die zur Souveränität bereit ist.“196
Abseits von ihrem durchaus bestreitbaren Volksbegriff kann man unschwer die diffuse und unscharfe Definition der Menge beobachten. Zu ihr gehören all die Individuen und (lose organisierten) sozialen Gruppen, die als Netzwerke oder auch als isolierte Einzelne Widerstand und Aufstände gegen das Empire durchführen, ohne dass eine einheitliche Organisation entstehen würde. Vielmehr ergeben sich diese Aktivitäts- und Widerstandsformen spontan und richten sich gegen die globale, aber ebenso dezentrierte und entterritorialisierte Macht des imperialen Kapitals und seine Kommandostrukturen. Keine Gruppe ist in diesem Widerstand entbehrlich, alle müssen direkt und unmittelbar agieren und alle Modelle der Repräsentation oder Stellvertretung sind Relikte einer ver- oder bereits untergangenen Zeit. Die Menge ist in diesem Konzept keine empirisch ausgeprägte oder beobachtbare Größe, sondern eher eine abstrakte Möglichkeit, ein Potential, das noch nicht ausgeschöpft ist und sich erst im Verlauf der kommenden Kämpfe ausbilden wird. Durch rebellische Akte, durch neue Interaktionsformen, lose Netzwerkstrukturen und politische Akte der Liebe werden sich die bereits vorhandenen und – weit wichtiger – die neu entstehenden Bewegungen in etwas Neues verwandeln, das umgekehrt das Empire von innen heraus in etwas Neues, bisher nicht Dagewesenes transformiert. Aber eigentlich ist dies keine Transformation, sondern in den Worten der beiden Autoren eine Metamorphose, die sich quasi von selbst vollzieht und keine organisierten Handlungsstrukturen wie bei einer Transformation voraussetzt. Damit wandelt sich auch die Politikvorstellung fundamental. Der Begriff der Politik ist in dem gesamten Buch marginal, an manchen Stellen wird – mehr oder weniger nebenbei – die Politik erwähnt. Wann und unter welchen Bedingungen werden die Handlungen der Menge politisch? Die Antwort: „Das Handeln der Menge wird zuallererst dann politisch, wenn es sich unmittelbar und in angemessenem Bewusstsein gegen die zentralen Unterdrückungsaktionen des Empire richtet. Es geht darum, die imperialen Initiativen zu erkennen und zu attackieren und es
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ihnen somit fortwährend unmöglich zu machen, die Ordnung wieder herzustellen. Es geht darum, die Grenzen und Segmentierungen, die der neuen kollektiven Arbeitskraft auferlegt werden, zu überschreiten und niederzureißen; es geht darum, diese Widerstandserfahrungen zu sammeln und sie konzentriert gegen die Nervenzentren der imperialen Befehlsgewalt einzusetzen.“197
Zugleich halten sie fest, dass dies eine ziemlich abstrakte Bestimmung von politischem Handeln ist. Durch welche spezifischen und konkreten Praktiken sich dies vollzieht, bleibt allerdings offen. Aber einen Programmpunkt nennen sie: Das „allgemeine Recht, ihre eigenen Bewegungen zu kontrollieren, ist letztlich die Forderung der Menge nach einer Weltbürgerschaft.“198 Und diese Forderung ist insofern politisch, als sie den Apparat der imperialen Kontrolle über den Körper und die Produktion in Frage stellt und sie ist eine Macht, die „Kontrolle über den Raum wiederzuerlangen und damit eine neue Weltkarte zu entwerfen.“199 Zentral sind noch die Forderungen nach einem sozialen Lohn, einem garantierten Einkommen für alle und nach einem Recht auf Wiederaneignung der kognitiven und biopolitischen Produktionsmittel. Auch wenn vieles auf Möglichkeiten, auf kontingente Politiken der Zukunft orientiert ist, die Beispiele für die politischen Ausdrucksformen der Menge sind eindeutig: Die Widerstände gegen den G 8-Gipfel in Genua im Jahr 2001, bei denen ein Demonstrant von der Polizei erschossen wurde und hunderte Personen bei den extrem gewalttätigen Auseinandersetzungen verletzt wurden. Militanz ist bei ihnen eine wichtige Aktionsform, sie ist eine „positive, konstruktive und innovative Tätigkeit“, die die Militanten als „kreativen Widerstand gegen die imperiale Befehlsgewalt ausüben.“200 Damit sind wir in gewisser Weise beim Ausgangspunkt angelangt. Bei ihnen erstehen die Massen erneut auf – zwar nicht als die traditionelle Masse, sondern als in die Multitude transformierte. Aber der Kreis schließt sich bei M. Hardt und A. Negri, die Massen kehren auf die Bühne der Politik zurück, auch wenn bei ihnen der Politikbegriff diffus und unausformuliert bleibt.
4.9. Das Ende der Politik der Massen und ihre Verabschiedung aus der Geschichte? Kaum ein politischer Begriff ist so umstritten und so mehrdeutig wie der der Masse. Sind sie nur eine Projektion der Ängste und Bedrohungen der jeweiligen Autoren? Sind sie – wie etwa Th. Geiger in den 20er Jahren formulierte – eine empirisch beobachtbare soziale Gestalt mit objektivistischem Charakter?201 Oder sind sie ein „Überrest“202, eine übrig gebliebene soziale Gruppierung von unterschiedlicher Homogenität, die Anerkennung und Repräsentation sucht? Oder sind sie durch ihre „Stellung außerhalb aller gesellschaftlichen Strukturen und Zugehörigkeiten wie jenseits aller politischen Repräsentation“ definiert, wie et-
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wa Hannah Arendt vermutet?203 Dann kommen sie dem nahe, was dieselbe Autorin als „Mob“204 bezeichnet hat und der aller positiven politischen Eigenschaften verlustig gegangen ist. Wie dem auch sei, die Rekonstruktion des Massebegriffs hat deutlich gemacht, dass das Phänomen nie als eine ausschließlich objektivistische Kategorie gehandhabt wurde, sondern immer die Spuren der subjektiven Wahrnehmung trug. Aber alle Theorien und Konzepte sind sich einig, dass die Masse ein (neuer) politischer Akteur war bzw. ist, der das Spektrum des politischen Handelns enorm erweiterte und neue Formen des Politiktreibens hervorbrachte – Massendemonstrationen, Massenaufläufe, Massenstreiks, Massenparteien, um nur einige zu nennen. Sie sind sich zudem einig, dass dieser neue Akteur ein äußerst zwiespältiger Akteur ist, dessen Rationalität und Plausibilität ebenfalls von allen hier erwähnten AutorInnen als problematisch betrachtet wird. Manche gingen soweit, die Politik der Massen als den Inbegriff des irrationalen Handelns zu fassen. 205 Die Politik der Massen wurde in bestimmten Phasen des Jahrhunderts, insbesondere in denen des Totalitarismus, durch eine Politik mit den Massen überlagert. Politische Führer tauchten auf der Bühne der Politik auf und begannen, die Massen mit neuen Techniken der Beeinflussung bzw. der Manipulation für ihre Interessen oder Ideologien zu mobilisieren. Die faschistischen Regime waren sicherlich der zugespitzteste Ausdruck der Politik mit den Massen, die in Bereiche gejagt wurden, die sich selbst die skeptischsten Autoren zu Beginn des Jahrhunderts nicht in dieser Intensität und Brutalität vorstellen konnten. Die Einschätzung der Rolle der Masse ist ambivalent. Das Auf und Ab ihrer Thematisierung und das Auf und Ab ihrer politischen Bedeutung schwankt in Abhängigkeit der jeweiligen historischen und politischen Lage, in der sich eine Gesellschaft befindet. Man findet keinen Platz mehr – das war der Ausgangspunkt von José Ortega y Gasset und wurde mit dem ‚Aufstand der Massen‘ gleichgesetzt. Ihr möglicher Aufstand wurde von den politischen Denkern und den denkenden Politikern nicht nur antizipiert, sondern auch in den schwärzesten Farben dargestellt. Ihre Leidenschaften, ihre Irrationalität, ihre Menschenschwärze – all das war eine wahrgenommene Bedrohung für die gesellschaftliche und politische Ordnung. In den faschistischen Massenbewegungen in der Mitte des Jahrhunderts wurde dies unübersehbare Wirklichkeit. Ein weiteres Phänomen trat nun ebenfalls auf: Die politischen Führer, die die Massen für ihre Ideologien mobilisierten und sie zu Taten anstachelten, die man bisher nicht für möglich gehalten hätte. Aber bereits zu Beginn des Jahrhunderts hatte G. Le Bon sie ziemlich unfreundlich, aber ziemlich realistisch als an der ‚Grenze des Irrsinns‘ operierende politische Akteure bezeichnet.206 Durch sie wurden die Massen zu einem nur noch indirekten Akteur, zur abgeleiteten Größe, zum Nebenprodukt. Sie waren die Kreation der Führer, sie waren die Geführten und nicht die Führenden. Ob sie die Massen von Soldaten waren, die von ihren Befehlshabern in die
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Maschinengewehrsalven oder das Giftgas der Feinde während des Ersten Weltkrieges geschickt wurden, oder ob es die mordenden und brandschatzenden Soldaten der Nazis in den europäischen Staaten im Zweiten Weltkrieg waren, macht keinen gravierenden Unterschied. Die Masse war hier der vom Führer beeinflusste, ja manipulierte Gegenstand. In den 60er und 70er Jahren der modernen Industriegesellschaft verloren die Massen dagegen ihren Schrecken und wurden als ‚optische Täuschung‘ charakterisiert, als ein Phänomen, das nun unwiderruflich von der politischen Bühne verschwunden sei. Sie existierten – der Massenproduktion und dem Massenkonsum sei Dank – nun nur noch als Konsumenten mit gleichlaufenden Geschmacks-, Kaufs- und Mediengewohnheiten. Ihr bedrohliches oder gar revolutionäres Potential war in diesen Diskussionen endgültig verschwunden. Und damit verschwanden auch die politischen Führer, die nun durch Parteibürokraten an der Spitze der Massen- oder Volksparteien ersetzt wurden. Aber Totgesagte leben länger. In den Demokratisierungsprozessen in den mittel- und osteuropäischen Transformationen zur Demokratie ebenso wie in den Arabellionen traten sie erneut auf die politische Bühne. Auch wenn die Resultate nie ganz eindeutig sind, hier waren sie die Motoren der Weltgeschichte. Dennoch konnten sie ihrem Schicksal, dem Massenschicksal, nicht ganz entkommen. Nachdem sie auf der Bühne der Weltgeschichte aufgetreten waren und die erfolgreichen Umwälzungen in Gang gebracht hatten, verschwanden sie zwar nicht im Dunkeln oder in den Kellergeschossen der Gesellschaft, aber ihre Aktionen und Ambitionen nahmen doch sichtbar und erheblich ab. In den meisten und wichtigsten Darstellungen der Massen im 20. Jahrhundert wurde ihnen eine zwar ambivalente, aber dennoch eigenständige politische Bedeutung zugemessen. Sie können Energien mobilisieren und in die politischen Kämpfe dieses Jahrhunderts einführen, die anderen politischen Kräften in diesem Ausmaß nicht zur Verfügung stehen. Ihre Leidenschaftlichkeit, ihre Emotionalität, ihre Unerschrockenheit und ihre Qualität als kollektiver Akteur kann von keiner anderen politischen Kraft realisiert oder simuliert werden. Werden die Massen aktiviert oder aktivieren sie sich selbst, dann suchen sich die politischen Leidenschaften neue Ausdrucksformen jenseits tradierter Verfahren und Wege und es kommt im Extremfall zur Explosion der Massen. Dem Aufflammen der Leidenschaften folgt dann das Aufflammen von Gebäuden, während umgekehrt die herrschen Mächte – wie gerade in China – die Massen mit Panzern niederwalzen. Das Aufschießen der Flammen und das Niederschießen der Massen – beides sind genuin politische Phänomene des 20. Jahrhunderts. Welche Rolle die Massen im 21. Jahrhundert spielen werden, muss hier allerdings offen bleiben.
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Ortega y Gasset 1956: 7f. Ortega y Gasset 1956. Ortega y Gasset 1956: 9. Ortega y Gasset 1956: 11. Ortega y Gasset 1956: 10f.; Herv. von mir. Diese Aussage ist sofort zu relativieren: Die Masse war in Deutschland (und auch in anderen europäischen Ländern) v. a. ein Problem der Weimarer Soziologie und Politologie, während die Sozialwissenschaften der Nachkriegsliteratur dieses Phänomen faktisch negierten. Für sie war die Masse nicht mehr existent. Eine der lesenswerten Ausnahmen ist sicherlich König 1992. Stattdessen tauchte der Begriff fast nur noch in Wortverbindungen auf: Massenkultur, Massengesellschaft, Massendemokratie, Massenmedien etc., so als ob man damit die Masse als einzelnes Phänomen zu bändigen versuchte, indem man ihr ein weiteres Wort zur Seite stellte. In der Wortverbindung existierte die Masse allerdings weiter. „Die ökonomischen Verhältnisse haben zuerst die Masse der Bevölkerung in Arbeiter verwandelt. Die Herrschaft des Kapitals hat für diese Massen eine gemeinsame Situation, gemeinsame Interessen geschaffen. So ist diese Masse bereits eine Klasse gegenüber dem Kapital, aber noch nicht für sich selbst. In dem Kampf, den wir nur in einigen Phasen gekennzeichnet haben, findet sich die Masse zusammen, konstituiert sich als Klasse für sich selbst. Die Interessen, welche sie verteidigt, werden Klasseninteressen. Aber der Kampf von Klasse gegen Klasse ist ein politischer Kampf.“ Marx 1962b: 180f. Marx 1962a: 385. Moscovici 1984: 46. Moscovici 1984: 15. Moscovici 1984: 54; Herv. i. O. Le Bon 1982 (1911): 1. Le Bon 1982 (1911): 13; Herv. von mir. Le Bon 1982 (1911): 10; Herv. i. O. Stefan Günzel hat in seinem ansonsten kenntnisreichen und lesenswerten Aufsatz über den „Begriff der ‚Masse‘ in Philosophie und Kulturtheorie“ genau dies als die zentrale Unzulänglichkeit von Le Bon gebrandmarkt (Günzel 2005: 125), während dies im Gegenteil eine tiefe Einsicht ist: die Kontingenz des Anlasses. Die Sozialwissenschaft kann offensichtlich die Prämisse der Kontingenztheorie nicht akzeptieren, dass es keinen notwendigen, letzten oder strukturellen Grund für das Entstehen einer Masse gibt. Canetti 1980 (1960): 10f. Le Bon 1982 (1911): 10.
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Le Bon 1982 (1911): 14-15. Ebd.; Herv. von mir. Le Bon 1982 (1911): 16. Le Bon 1982 (1911): 23. Le Bon 1982 (1911): 24. Le Bon erwähnt hier mehrere Beispiele, während ihn die Empirie ansonsten nicht weiter interessiert: Eine Fregatte kreuzt auf dem Meer, um die im Sturm verloren gegangene Korvette wiederzufinden. Plötzlich sichtet die Wache ein Schiff in Seenot. Ein Boot wird ausgesetzt und die sich im Boot befindenden Offiziere und Matrosen sehen „Massen von Menschen sich hin und her bewegen, die Hände ausstrecken und vernahmen den dumpfen und verworrenen Lärm einer großen Anzahl Stimmen.“ Als das Boot nahe kam, fand man nur mit Blättern bedeckte Baumstämme, die sich von der Küste losgerissen hatten; Le Bon 1982 (1911): 24f. Suggestion und Übertragung lassen sich hier wunderbar beobachten. Ebd. Ebd. Le Bon 1982 (1911): 22. Le Bon 1982 (1911): 30. Le Bon 1982 (1911): 34. Le Bon 1982 (1911): 35. Le Bon 1982 (1911): 37. Le Bon 1982 (1911): 49. Le Bon 1982 (1911): 83. Le Bon 1982 (1911): 83f. Le Bon 1982 (1911): 86. Ebd. Die Konzeption von großen bis zu kleinen Führern erinnert stark an A. Gramscis Bestimmung des organischen Intellektuellen, der sich aus der Bewegung erhebt und im Kleinsten (Stammtisch) auf den Alltagsverstand im Sinne einwirkt und so zum Hauptakteur von Hegemoniekämpfen wird. Moscovici 1984: 220. Le Bon 1982 (1911): 111. Moscovici 1984: 225. Le Bon 1982 (1911): 17; Herv. von mir. Beispiel: Die tatsächliche Anzahl der Muslime und die projizierte liegen weit auseinander; vgl. FAZ oder SZ vom 09. bzw. 10. Januar 2015. Moscovici 1984: 129f. Le Bon 1982 (1911): 39. Moscovici 1984: 130. Le Bon 1982 (1911): 30ff. Vgl. zu dieser Problematik vor allem Beyme 2000; Katz/Mair 1995; Duverger 1959; Kirchheimer 1965. Kirchheimer 1965.
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Moscovici 1984: 209f.; Herv. von mir. Michels 1987 (1925). Weber 1992. Bei M. Weber werden später Parteien ebenso zu Maschinen, bei ihm sind es dann „Anstaltsbetriebe“, „Parteibetriebe“ oder gar „Parteimaschinen“; vgl. Weber 1992. Michels 1925. Bei Michels heißt es entsprechend, dass die politisch indifferente Masse froh ist, wenn „sich Männer finden, welche bereit sind, die politischen Geschäfte für sie zu besorgen. Das Führungsbedürfnis, meist verbunden mit einem regen Heroenkult, ist in den Massen, auch in den organisierten Massen der Arbeiterparteien, grenzenlos“; Michels 1989: 50. Und umgekehrt gelingt es den Führern, eine „suggestive Macht über die Massen“ auszuüben; Michels 1989: 79; vgl. ausführlicher Michels 1987: 74-86. Katzt/Mair 2002: 117. Mannheim 1952: bes. 102-133. Michels 1925: 38. Die Sozialdemokratie hatte in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts immerhin rd. 3,5 Mill. Mitglieder. Michels 1925: 31. Michels 1925: 366; Herv. i. O. Katz/Mair 1995: 6f. Neumann 1956. Vgl. dazu Rose/McAllister 1986. „Ich hatte (...) mit einem simplen Einfall eine (...) Begründung der Massenpsychologie versucht. Jetzt soll das ruhen (...)“; zit. nach Freud 2004: 258, Anm. 9. Freud 2004: 257. Freud 2004: 271. Vgl. etwa Jones 1961; Brumlik 2006; Stefan Jonsson allerdings führt in seinem lesenswerten Buch über „Masse und Demokratie“ insgesamt sechs mögliche Gründe an, die alle sehr bedenkenswert sind; vgl. Jonsson 2013: 167f. So jedenfalls eine Passage in der Massenpsychologie selbst; vgl. Freud 1987 (1921): 34. Annette Meyhöfer schreibt in ihrer FreudBiographie, dass er auch eine Polemik gegen die „Parteien oder politischen Bewegungen“ in seiner Massenpsychologie formuliert hätte; vgl. Meyhöfer 2006: 519. Aber in dem Büchlein selbst findet sich für diese Aussage kein überzeugender Beleg. Meyhöfer 2006: 529. Diese Vermutung formuliert jedenfalls Moscovici sehr deutlich: vgl. Moscovici 1984: 277-289. Zu denken ist hier vor allem an „Der Mann Moses und die monotheistischen Religionen“ und ebenso an „Das Unbehagen in der Kultur“; vgl. Freud 1996; ders.1994.
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Freud 1987: 11 Freud 1987: 10. Ebd. Freud 1987: 23. McDougall 1920. Le Bon 1982: 13. Freud 1987: 29. Freud 1987: 27. Freud 1987: 30. Freud 1987: 78. Ebd. Ebd. Freud 1987: 31. Freud 1987: 13. Freud 1987: 31. Freud 1987: 67. Freud 1987: 55. Freud 1987: 39. Freud 1987: 67. Ebd. Ebd. Ebd. Freud 1987: 55; 68. Freud 1987: 56. Ebd. Moscovici 1984: 292. Freud 1987: 26. Moscovici 1984: 269. Reich 1933. Reich 1974. Peglau 2013: 240f. Peglau 2013: 221-239. Zit. nach Peglau 2013: 242; Herv. i. O. Zit. nach Peglau 2013: 244. Peglau 2013: 245. Reich 1987: 177; Herv. i. O. Die Sexpol-Bewegung war Teil der anti-autoritären Bewegung, die Wilhelm Reich in den 30er Jahren für die sozialistische Arbeiterjugend ins Leben gerufen hatte. Sie sollte die Jugend von den Zwängen der repressiven Sexualmoral jener Zeit, die als Mittel der Disziplinierung an die Ausbeutungsverhältnisse eingesetzt wurde, befreien und sie für den Widerstand gegen den Kapitalismus gewinnen. Ich zitiere im Folgenden immer aus der 1933er Original- bzw. Erstausgabe. Die „Scherenidee“ taucht erneut auf den Seiten 26, 33 und 40 auf. Reich 1933: 19; Herv. i. O. Reich 1933: 29. Reich 1933: 16f. Das wäre der Bereich, den die heutige ökonomische Theorie der Politik erklären könnte. Sie reduziert die wissenschaftliche Analyse allein auf die Bereiche des menschlichen Handelns, die rein zweckmäßig sind und den ökonomischen Rationalitätskriterien gehorchen. Reichs Faschismusanalyse ist die erste Kritik an diesem Denkansatz, auch wenn sie noch
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4. Die Politik der Massen relativ eng in ein marxistisches Konzept eingebunden ist. Reich 1933: 36. Reich 1933: 30. Dieses Zitat ist nur in der Einleitung zur erweiterten und korrigierten 3. Ausgabe von 1942 enthalten; vgl. Reich 1974 (1942): 25f. Reich 1933: 26. Reich 1933: 39. Reich 1933: 48 bzw. 50f. Moscovici 1984: 294. Geiger 1926. Geiger 1926: 32-33. Geiger 1926: 74. Geiger 1926: 22; vgl. ähnlich auch 27f. Geiger 1926: 17; Herv. von mir. Geiger 1926.: 73; Herv. i. O. Tönnies 2010. Geiger 1926: 35. Geiger 1926: 7f. Ebd. Geiger 1926: 81. Geiger 1926: 184f.; ebenso 188. Geiger 1926: 76; Herv. i. O. Geiger 1926: 66. Geiger 1926: 40. Ebd. Geiger 1926: 50. Geiger 1926: 53. Geiger 1926: 58. Geiger 1926: 61f.; das ganze Zitat ist bei Geger kursiv! Geiger 1926: 42. Geiger 1926: 43. Ebd. Geiger 1926: 46. Ebd. Broch 1986. Broch 1994. Berghahn 2002: 172. Riesman et al. 1950. Riesman et. al. 1956: 16; deutsche Übersetzung. König 1965: 463. Ebd. König 1965: 466. Ebd. Enzensberger 1997a. Schuller 2009. Schuller 2009: 281. Schuller 2009: 300. Volk ist meist der Begriff für eine durch bestimmte und gemeinsame Merkmale (Abstammung, Kultur, Religion, Sprache o. Ä.) gekennzeichnet Gruppe von Menschen, die sich durch diese Merkmale grundlegend von anderen Gruppen unterscheiden. Im eher verfassungs- und staatsrechtlichen Sinne ist es die Gesamtheit der StaatsbürgerInnen. Die Differenz zur Nation ist umstritten, manche
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setzen beides gleich; vgl. zu den begrifflichen Trennungen statt vieler Leibholz 1958. Zit. nach Schuller 2009: 306. Schuller 2009: 307. Schade 2003. Zu diesen Zahlen und auch zu den folgenden Überlegungen und Details vgl. Schade 2003, der selbst an diesen Demonstrationen teilgenommen hatte. Zit. nach Schade 2003: 42. Schade 2003: 45. Pollack 2000. Hirschman 1992: 354. Hirschman 1992: 354f. Hirschman 1992: 353f.; 344. Hirschman 1992: 355; Herv. i. O. Diese Formulierung ist unverkennbar eine Anspielung auf G. Anders „Antiquiertheit des Menschen“; vgl. Anders 1956. Genett 1999. Sloterdijk 2000. Baudrillard 2010. Hardt/Negri 2002; dies. 2004. Sloterdijk 2000: 16f. Ebd. Canetti 1980 (1960). Ebd. Sloterdijk 2000: 18. Sloterdijk 2000: 25. Sloterdijk 2000: 28. Sloterdijk 2000: 31. Vgl. etwa Sloterdijk 2000: 32f. Sloterdijk 2000: 46. Sloterdijk 2000: 91. Das Zitat geht auf Alain Finkielkraut zurück, der unter Rückgriff auf Blaise Pascal geschrieben hat, dass sein Werk „wider Willen die Entmystifizierung (betrieb), welche die Menschen dazu bringt, ihre Ungleichheit anders zu leben.“ (Finkielkraut 1998: 33) Und das wichtigste Instrument ist sicherlich die Demokratie, die alle Menschen hinsichtlich ihrer demokratischen und politischen Rechte gleich macht – trotz aller anderen Ungleichheiten, die sie sonst haben und in (post)modernen demokratischen Gesellschaften weiter bestehen. Hardt/Negri 2000. Hardt/Negri 2002. Hardt/Negri 2004. Hardt/Negri 2002: 11. Hardt/Negri 2002: 202. Hardt/Negri 2004: 10. Hardt/Negri 2002: 13. Hardt/Negri 2002: 116. Hardt/Negri 2002: 406. Hardt/Negri 2002: 409. Ebd. Hardt/Negri 2002: 419. Geiger 1926. Jonsson 2013: 43.
4.9. Das Ende der Politik der Massen und ihre Verabschiedung 203 Arendt 2017 (1958): 674; 702-725. 204 Arendt 2017 (1958): 674.
205 Moscovici 1984: bes. 54. 206 Le Bon 1982 (1911): 83.
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5. Die Politik des Sozialen
5. Die Politik des Sozialen: Von der ‚sozialen Frage‘ über die Entstehung und den Wandel des modernen Wohlfahrtsstaates bis zur Sozialpolitik zweiter Ordnung Alfred Marshall, ein wichtiger Ökonom des 19. Jahrhunderts, hielt im Jahr 1873 im Cambridge Reform Club einen Vortrag. Das Publikum bestand damals ausschließlich aus älteren Herren, die nach einem strengen Verfahren aufgenommen worden waren. Es versteht sich von selbst, dass die Mitglieder exklusiv den höchsten englischen Gesellschaftsschichten entstammten. Das Thema des Vortrages hatte mit einer Gruppe von Menschen zu tun, die niemals Zutritt zu diesem Club bekommen hätten: Der Arbeiterklasse. Der Titel des Vortrages lautete „The Future of the Working Classes“ und Alfred Marshall formulierte eine weitreichende Prämisse: „The question is not whether all man will ultimately be equal – that they certainly will not – but whether progress may go on steadily, if slowly, till the official distinction between working man and gentleman has passed away, till, by occupation at least every man is a gentleman. I hold that it may and that it will.“1
Jeder arbeitende Mensch soll ein gentleman werden können – so seine Vorstellung und die Politik sollte diese gentlemen durch Rechtssetzung und die soziale Gestaltung der Gesellschaft sozusagen ‚ausbilden‘. Der working man dagegen ist ein Mensch, der tief in den Überlebenskampf und in ökonomische Verteilungskonflikte verstrickt ist, bei dem die Arbeit massiv gegenüber der Freizeit dominiert, der raue Sitten anstelle eines zivilisierten Lebens bevorzugt, bei dem Privatheit gegenüber dem zivilgesellschaftlichen Engagement überwiegt und bei dem die Berufs- gegenüber der allgemeinen Bildung dominiert. Der gentleman (und die gentlewoman) dagegen ist jemand, der nicht nur Würde, Anerkennung und Respekt erfährt, sondern der zusätzlich durch bestimmte Rechte vor Übergriffen und Ausbeutung durch Andere, hier der Kapitalistenklasse, geschützt wird und volles Mitglied der Bürgerschaft ist. Gentlemen zu generieren – das war die programmatische Utopie der Politik des Sozialen im 20. Jahrhunderts. Ob diese Vorstellung durch die Politik des Sozialen realisiert wurde, sei hier dahingestellt. Man kann gleichwohl intensive Versuche erkennen, aus unterdrückten und ausgebeuteten Arbeitern gentlemen zu machen. Die jeweiligen Staaten sind hierbei sehr unterschiedliche Wege gegangen. Wie jede Politik hat auch die Politik des Sozialen ideologische, ideengeschichtliche, programmatische und interessierte Grundlagen. Diese sind nicht unbedingt kompatibel mit den drei großen ideologischen Strömungen des 19. und 20. Jahrhunderts, dem Liberalismus, Sozialismus und Konservatismus. Vielmehr hat die Politik des Sozialen eigenständige ideologische und programmatische Wurzeln und wirkt als eigenständige Politikform mit eigenen ideologischen und program-
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matischen Prämissen. Wichtig ist ihre Eigendynamik, die durch zwei Antriebsmotoren in Gang gehalten wird. Zunächst durch die sozialpolitische Diskussion, die sich immer auf sich selbst bezieht, ein Netz von kontroversen sozialpolitischen Diskursen ausbildet und eine programmatische Eigendynamik entwickelt. Sie reagiert auf externe geschichtliche und gesellschaftliche Grundprobleme einer spezifischen historischen Situation und reflektiert den Horizont möglicher politischer Optionen. Diese finden ihren Niederschlag in den diversen Politiken des Sozialen. Niklas Luhmann hat sogar gemeint, dass die „ungesicherte Möglichkeit der Sozialität überhaupt als die die Disziplin (hier die Soziologie, F.W.R.) konstituierende Problemstellung“ zu betrachten sei.2 Insofern ist soziale Politik immer auch das Nachdenken über die Grundfragen und -lagen der Gesellschaft zu einem gegebenen Zeitpunkt in der Geschichte. Sie wird aber auch durch interne Dynamiken in Gang gehalten, also durch die Interaktion von Texten mit anderen Kon-Texten. Insofern sind begriffsgeschichtliche Analysen der sozialpolitischen Diskussion und ihrer Texte für ein vertieftes Verständnis außerordentlich wichtig.3 Daneben tritt ein zweiter Antriebsmotor. Soziale Politik ist immer auch der Versuch, durch (Um-)Verteilung von Wohltaten bestimmte soziale Gruppierungen zu bevorzugen (und andere zu benachteiligen), um Herrschafts- und Machtkonstellationen zu stabilisieren oder zu verändern. Sozialpolitik zielt immer auch auf die Legitimität einer Herrschaftsordnung oder einer spezifischen Machtkonstellation. Sozialpolitik als Wahlpolitik – das wäre die zugespitze Bezeichnung hierfür in der Demokratie und Sozialpolitik als Legitimationspolitik die in diktatorischen Herrschaftsordnungen. Weder will sie dort soziale Probleme oder Verteilungskonflikte regeln noch eine gerechtere Gesellschaft erreichen, sondern durch die zielgerichtete Besserstellung von bestimmten sozialen Gruppen das Unterstützerpotential für die jeweilige autoritäre Herrschaftsordnung oder für die herrschende Clique steigern. Solche Maßnahmen haben zwar abgeleitete Auswirkungen auf die Stellung von sozialen Gruppen im Gesellschaftsgefüge, aber der primäre Zweck solcher Maßnahmen ist die Stabilisierung autoritärer Herrschaftsstrukturen. Der Ausbau der modernen Wohlfahrtsstaaten erfolgte eben auch aus herrschaftsstabilisierenden bzw. in Demokratien auch aus wahltaktischen und nicht nur ausschließlich aus sozialen Gründen. Der Begriff der Sozialpolitik tauchte erst spät in der Begriffsgeschichte auf.4 Erst im Kontext der Bismarckschen Sozialgesetzgebung der 1880er Jahre wird er häufiger verwendet. Der „Verein für Socialpolitik“ trägt diesen Begriff zwar in seinem Namen, wurde aber auf einem Kongress für „soziale Reform“ im Jahr 1872 gegründet und veröffentlichte seine Publikationen als „Versammlung zur Besprechung der socialen Frage“. Wie der Name „Verein für Socialpolitik“ zu Stande kam, ist ungeklärt.5 Aber zu Beginn und verstärkt ab Mitte des 20. Jahrhunderts setzte sich der Begriff immer mehr durch.
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Die Politik des Sozialen, damals noch nicht mit dem Begriff der Sozialpolitik versehen, bezog sich zunächst auf die Armen. Sie waren der bevorzugte Gegenstand der sozialpolitischen Diskussion und der damit verbundenen sozialen Reformen. Erst mit der Gründung des „Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins“ durch Ferdinand Lassalle im Jahr 1863 und anderen, meist gewerkschaftlichen Organisationsformen der Arbeiterklasse, wurde auch die Arbeiterfrage für die politischen Akteure zentral. Dies führte in Deutschland zu einer „institutionellen Arbeitsteilung zwischen einer weithin privatisierten Fürsorge für Arme und einer wohlfahrtsstaatlich regulierten Daseinsvorsorge für die Arbeiter.“6 Während die ‚sociale Frage‘ nun weitgehend identisch mit der Arbeiterfrage war, setzte sich die ‚Sozialreform‘ von der engen Fassung der ‚socialen Frage‘ ab und umfasste bald ein erweitertes Feld möglicher Politiken des Sozialen. Der langjährige sozialpolitische Berater Bismarcks, Hermann Wegener, deutete bereits um die Jahrhundertwende das neue Verständnis der Sozialpolitik an, obwohl er den Begriff selbst nicht verwendete. Auf einer Konferenz zur ‚socialen Frage‘ sprach er davon, „dass, um die Frage in fruchtbarer Weise behandeln zu können, man sich nicht auf die Arbeiterfrage werde beschränken können, sondern die soziale Frage im weiteren Sinne ins Auge zu fassen habe als den Gesamtzusammenhang der gegenwärtigen Gesellschaft, (...) dass man diese Aufgabe nicht der Gesellschaft zuweisen und überlassen kann, sondern dass auch Staat und Regierung dazu schreiten müssten, diesen Dingen politische Form zu geben.“7
Die soziale Frage ist also ein Sachverhalt, der den Gesamtzusammenhang der ‚Gesellschaft‘ umfasst und sich nicht (mehr) nur auf die Arbeiterfrage konzentriert. Zudem ist die Gestaltung des Gesamtzusammenhanges eine Aufgabe der Politik, also politisch zu entscheiden und so den ‚Dingen politische Form zu geben‘. Die Politik des Sozialen war im Selbstverständnis der damaligen Zeit auf die Gestaltung und Regulierung der gesamten Gesellschaft bzw. auf eine Vielzahl sozialer Gruppierungen gerichtet, von denen die Armen und die Arbeiterklasse sicherlich die wichtigsten waren, die aber zugleich auch andere Gruppen einschlossen. Sie konzentrierte sich hierbei auf zwei gesellschaftliche Bereiche. Im betrieblichen Bereich stellte sich die Frage, ob man den (freien) Arbeitsvertrag zwischen Unternehmer und Arbeiter durch staatliche Regelungen einschränken sollte. Bis zum Ersten Weltkrieg gab es faktisch keine Beschränkung der Vertragsfreiheit, einzig die Auszahlung des Lohnes in (meist minderwertigen) Naturalien war durch das Allgemeine Preußische Landrecht verboten. In der Weimarer Republik wurde vor allem um den Sinn eines Kündigungsschutzes gestritten, der die Begrenzung der Arbeitszeit, den Aufbau von Gesundheitsschutz in Betrieben u. Ä. politisch regeln sollte. Das Tarifvertragsrecht bzw. Betriebsvereinbarungen traten nun an die Stelle von individuellen Verträgen, was die Position der Arbeiter nicht nur verbesserte, sondern sie auch als rechtlich anerkannte Vertrags-
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partner etablierte. Die Arbeiterklasse wurde dadurch als ökonomisch und z. T. auch als politisch relevante Kraft akzeptiert. Bei Nichteinigung konnte der Staat über Zwangsschlichtungen in die Tariffreiheit eingreifen. Die Löhne wurden in solchen Fällen dann politisch bestimmt und der Staat bzw. in diesem Fall das zuständige Reichsarbeitsministerium wurden zu Institutionen, die in die ökonomische Entwicklung über die Lohnschlichtung massiv eingriffen. Während der Arbeitsschutz eine internalisierende Option war, war die Unfallversicherung von 1884 eine externalisierende.8 Sie war die erste Sozialversicherung und transformierte den Unfall in ein soziales Risiko, das durch die Berufsgenossenschaften bzw. spezielle Unfallversicherungen abgedeckt war. Dieser politisch auf den Weg gebrachte Arbeitsschutz war bahnbrechend, aber das Deutsche Reich hinkte im Vergleich zur Schweiz oder Großbritannien hinterher. Hier waren schon früher weitreichende Maßnahmen ergriffen worden.9 Die Unfallversicherung, die ausschließlich von den Arbeitgebern finanziert wird, wurde relativ schnell durch weitere Sozialversicherungen ergänzt. Die Invaliden- und Alterssicherungen wurden noch im 19. Jahrhundert und die Arbeitslosenversicherung im Jahr 1927 gegründet, während die gegliederte Krankenversicherung immer stärker staatlich reguliert wurde.10 Die Sozialversicherungen waren selbstverwaltet und wurden hälftig von den Arbeitgebern und Arbeitnehmern finanziert, zum Teil durch staatliche Zuschüsse ergänzt, wie in der Invaliden- und Alterssicherung. Die sozialen Sicherungen waren politisch entschiedene und meist staatlich organisierte Institutionen, die bei Eintritt bestimmter sozialer Risiken die damit verbundenen Kosten durch Gewährung eines unbedingten Rechtsanspruches kompensierten. Bei der Gründung der Sozialversicherungen wollten die Herrschenden die Arbeiterklasse mit dem monarchischen Obrigkeitsstaat versöhnen, was vor allem für die Herrschenden am Ende des 19. Jahrhunderts von größter Bedeutung war. In der Weimarer Demokratie rückte ein anderer Aspekt in den Mittelpunkt. Die Sozialpolitik wurde nun durch die Verfahren der Demokratie und die damit verbundenen politischen Konflikte gestaltet, wobei unterschiedliche gesellschaftliche Kräfte und Parteien um die Anerkennung ihrer jeweiligen programmatischen Positionen kämpften und auf politische Entscheidungen Einfluss nahmen. Im Verlauf der begriffsgeschichtlichen Kontroversen schälte sich immer mehr ein gemeinsamer Bedeutungskern heraus: Sozialpolitik ist die durch Recht vollzogene Bearbeitung von sozialen Risiken und damit zugleich die Gestaltung von Lebenslagen verschiedener sozialer Gruppen über verbindliche Entscheidungen, deren Intensität und Umfang politisch entschieden werden. Die Kontingenzen des Sozialen und die Idee des sozialen Risikos standen am Anfang der sozialpolitischen Debatte (Kap. 5.1.). Als Antwort auf die Idee der Gestaltung des Sozialen durch Sozialpolitik entwickelt sich eine Gegenbewegung, die vor allem von der
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katholischen Soziallehre ausging und in der sozialpolitischen Diskussion unverrückbare und religiös-naturrechtlich abgeleitete Grundsätze formulierte, die der politischen Variation nicht offen, sondern unverrückbar feststehen sollten. Auch die sozialistischen Bewegungen gingen von der Nichtreformierbarkeit der kapitalistischen Gesellschaften aus und wollten stattdessen die Transformation des Kapitalismus in eine sozialistische Gesellschaftsordnung (Kap. 5.2.). Ungeachtet dieser Positionen entwickelte sich im Deutschen Reich und in England eine Sozialpolitik, die sich anschickte, die Idee der (sozialen) Gestaltbarkeit von Gesellschaft zu realisieren. Allerdings gingen beide Gesellschaften sehr unterschiedliche Wege. Deutschland bevorzugte unter Bismarck das Sozialversicherungsmodell, England dagegen den Weg der Staatsbürgerversorgung, wobei beide Wege zu sehr unterschiedlichen Sozialitäten von Gesellschaft führten (Kap. 5.3.). Aber eine Idee hatte sich trotz erheblicher Erfolge der Sozialpolitik in den kapitalistischen Ökonomien nicht vergessen: Die Idee der Transformation des Kapitalismus in den Sozialismus mittels einer Politik des Sozialen. Eduard Heimann war hier prägend und er hat diese Idee am prägnantesten ausgearbeitet, während ihm Hugo Sinzheimer im Bereich des Arbeitsrechts gefolgt ist (Kap. 5.4.). Aber auch autoritäre bzw. totalitäre Regime verfolgten eine Sozialpolitik, die am Beispiel des Nationalsozialismus und des autoritären Staatssozialismus in knappen Zügen nachgezeichnet wird. Wollte auch hier die Sozialpolitik aus Armen und Unterdrückten gentlemen und gentlewomen machen, wie dies A. Marshall vorgedacht hatte, oder verfolgt die Sozialpolitik in autoritären bzw. totalitären Regimen ganz andere Zielsetzungen (Kap. 5.5.)? Einen völlig anderen Weg ist ein Theoretiker gegangen, der zu einem der wichtigsten sozialpolitischen Denker des 20. Jahrhunderts wurde und dessen Grundideen in Großbritannien zwar nicht eins zu eins, aber dennoch weitgehend realisiert wurden. Diese Idee war die des Staatsbürgerstatus, der sich aus dem bürgerlichen, dem politischen und – schließlich im 20. Jahrhundert – aus dem sozialen Status zusammensetzt. Es war Thomas H. Marshall, der diese Idee des ‚gleichen sozialen Wertes‘ der Staatsbürger am klarsten ausformuliert hat (Kap. 5.6.). Während in der Gründungsphase der Sozialpolitik vornehmlich die Armen die Zielgruppe der Sozialpolitik waren, ging es dann um die Arbeiterklasse, aber zugleich und vor allem später immer mehr um die Gestaltung der Lebenslagen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wandelte sich Sozialpolitik zur „Gesellschaftspolitik“11, also zur demokratischen Politik der umfassenden Gestaltung der modernen Gesellschaften. Hier wird dann auch die Ambivalenz des Begriffs überdeutlich: einerseits eine soziale Politik zur Gestaltung des sozialen Lebens moderner Gesellschaften und zugleich Wahl- und Machtpolitik zu sein, die die Chancen in der parteipolitischen Auseinandersetzung um Anteile an politischer Macht erhöhen soll. Diese sozialpolitischen Dynamiken sind für die modernen Wohlfahrtsstaaten typisch und im Verlauf des
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Jahrhunderts beginnen sich immer deutlicher die Konturen verschiedener Typen von Wohlfahrtsstaaten12 auszubilden (Kap. 5.7.). Am Ende des Jahrhunderts sind die Politiken des Sozialen und ihre Gegenstände ebenso heftig umstritten wie zu seinem Beginn. Der große Konsens der 60er und 70er Jahre über Programm und Richtung des modernen Wohlfahrtsstaates ist längst verflogen und seine Zukunft ist so unklar und unbestimmt wie selten in der Geschichte dieses Jahrhunderts. Die Politik des Sozialen ist reaktiv geworden und kombiniert problemlos verschiedene Bausteine der konservativen, universalistischen und liberalen Sozialpolitik. Es entstehen rekombinante Wohlfahrtsstaaten, die die klaren Konturen der 70er und 80er Jahre vermissen lassen.13 Es kommt nun zu einer Sozialpolitik zweiter Ordnung14, in deren Mittelpunkt nicht mehr die Gestaltung von Lebenslagen, sondern die (finanzielle) Stabilisierung der Systeme der sozialen Sicherung steht. Die Politik des Sozialen hat sozusagen vom Sozialen ‚abgehoben‘ und sich auf die systemische Stabilisierung verlagert (Kap. 5.8.). Parallel dazu kann man ein neues Phänomen beobachten: das der Exklusion von Individuen und ganzen sozialen Gruppen aus den Funktionssystemen der (modernen) Gesellschaften, die dann nur noch als Körper in den Slums oder Favelas existieren, aber nicht mehr als Mitglieder einer Gesellschaft mit spezifischen Rechten anerkannt werden (Kap. 5.8.3.). Die Fragen, die A. Marshall schon 1873 beschäftigt hatten, stellen sich heute erneut und verschärft: nämlich ob sich „the official distinction between working man and gentleman“15 tatsächlich verflüchtigt hat oder ob Exklusion eine neue Dimension von sozialer Ungleichheit von Menschen einführt, die in dieser Schärfe womöglich erst am Ende des 20. Jahrhunderts bewusst geworden ist. Dies wird abschließend kurz diskutiert (Kap. 5.9.).
5.1. Die Kontingenz des Sozialen und die Idee des (sozialen) Risikos Die kapitalistisch-industrielle Entwicklung zerstörte bisherige Arbeits- und Familienverhältnisse ebenso wie die damit verbundenen sozialen Arrangements. Die Armutsdiskussion, die in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts begann und das 19. dominierte, war nicht allein eine unmittelbare Antwort auf dieses neue soziale Phänomen, sondern konzentrierte die Diskussion der damaligen Zeit auf die Gesellschaft selbst, ihre Grundprobleme, den Umgang mit neuen sozialen Risiken, ihre gesellschaftlichen Kontingenzen und mögliche Reaktions- und Regulationsmuster.16
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Das Reaktionsmuster auf die damalige Armut hat Francois Ewald so zusammengefasst: „(...) niemand (kann) die Lasten seiner Existenz, die Schicksalsschläge und Unglücksfälle, die ihm widerfahren, auf jemand anderen abwälzen, außer in dem Fall, dass sie von jemandem verursacht wurden, der die oberste Regel der Koexistenz der Freiheiten, nämlich niemandem Schaden zuzufügen, verletzt hat. Mit anderen Worten, jeder ist für sein Los, für sein Leben, für sein Schicksal selbst verantwortlich, muß es sein und wird dafür auch verantwortlich gehalten.“17
Zwar wurde eine bestimmte Form der (meist religiös inspirierten) Wohltätigkeit anerkannt, aber es war eine rein individuelle moralische Verpflichtung, die durch die Politik nicht zu einer universellen Regel der Gesellschaft gemacht wurde. Gleichwohl lassen sich Bausteine eines Modells der Regulierung von Armut beobachten, die für die damalige Zeit vorherrschend und anti-politisch waren. Die individuelle Verantwortlichkeit wurde als der zentrale Regulator aller sozialen, gesellschaftlichen und ökonomischen Gefahren betrachtet. Niemand kann einen Misserfolg, einen Fehlschlag oder ein Unglück einem anderen zuschreiben, jeder bleibt auf sich selbst zurückgeworfen und kann nur sich alleine verantwortlich machen. Die Ursachen der Armut sind ausschließlich in den Armen selbst zu suchen, in ihrer Verantwortungslosigkeit, mangelnder Moral und fehlendem Willen, sie zu beseitigen.18 Da aber – und das war den Zeitgenossen klar – Armut viele, nicht ausschließlich in der Disposition des Individuums liegende Ursachen hatte, wurde daraus die Pflicht des Individuums zur eigenen Vorsorge abgeleitet. Die Eigenvorsorge (u. a. durch Sparen oder private Versicherung) ist die Tugend, die den Staat und die Allgemeinheit von der Übernahme der Verantwortung für individuelles Fehlverhalten entbindet. Die einzige rechtliche Regulierungsform, die damals anerkannt wurde, war das Haftungsprinzip. Sein Grundprinzip bestand im Ausgleich zweier Prinzipien: Niemand darf sein Schicksal einem Anderen aufbürden und niemand darf einem Anderen schuldhaft einen Schaden zufügen. Das Grundproblem dieser Konstruktion liegt im Begriff des Verschuldens: Es genügt nicht, dass jemand einem Anderen einen Schaden zufügt, sondern die Zufügung muss einem Individuum eindeutig zuordenbar sein. Zwischen Täter und Opfer muss eine eindimensionale Verursachungskausalität vorliegen. Die damals bestehende Haftpflicht provozierte laufend Prozesse der Arbeiter gegen die Fabrikanten, die betriebliche und Klassenkonflikte verstärkten. Zudem konnte sie keine ausreichende Sicherheit garantieren, weil viele Arbeiter (bzw. bei deren Tod die Hinterbliebenen) keine Prozesse anstrengten; außerdem waren diese Prozesse schwierig zu führen, weil eine Verurteilung ein präsumptives Verschulden des Unternehmers voraussetzte.19 Das der Haftpflicht inhärente Verschuldensprinzip erwies sich wenig rechtlich handhabbar und wurde wegen der neuen Risikostrukturen der industriellen Gesellschaften immer weniger plausibel.
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5.1.1. Vom Risiko zum sozialen Risiko Es eröffnete sich bald eine neue Sichtweise, nach der „Arbeiter-Armut nicht länger (und nicht nur) selbstverschuldetes individuelles Schicksal (war), sondern es konnte nun auch als Problemgebiet begriffen werden, das kollektiver Anstrengungen sozialer und staatlich-politischer Akteure zugänglich war.“20 Einen neuen Zugriff auf die neuen Probleme versprach eine gänzlich neue Idee, die Idee des Risikos und der Versicherung. Was war nun das Bahnbrechende dieser Idee? Zunächst wird das Risiko zu einer neuen Umgangsform mit Unsicherheit, indem im Prinzip alles zum Gegenstand der mathematischen Kalkulation und Wahrscheinlichkeitsrechnung gemacht werden kann. Die Einführung der Versicherung als Technik des Umgangs mit Risiken war begleitet von einer Orgie des Messens und Kalkulierens und der Konstruktion des Durchschnittsmenschen, die mit dem Namen L. A. J. Quetelet verbunden war.21 Sein zentrales Gesetz lautete: „Je größer die Anzahl der beobachteten Personen, um so mehr werden Besonderheiten, seien sie physischer oder sittlicher Natur, ausgelöscht, so dass die allgemeinen Faktoren dominieren, dank derer die Gesellschaft besteht und sich erhält.“22
Diese ‚allgemeinen Faktoren‘ transzendierten jegliches individuelle Handeln und machten es in gewisser Weise für gesellschaftliche Prozesse bedeutungslos. Das eigenverantwortliche Individuum wurde von den überindividuellen Regelmäßigkeiten der Gesetze der großen Zahl abgelöst und die individuelle Verantwortlichkeit für bestimmte ökonomische oder gesellschaftliche Ereignisse marginalisiert. Der Unfall wurde auf diese Weise ‚objektiviert‘: Er tritt zufällig ein und wird nicht durch eine (falsche) Entscheidung eines Individuums ausgelöst; und er unterliegt überindividuellen und berechenbaren Logiken, die seine finanzielle Kompensation durch Versicherungen möglich machen. Das Risiko stellt zudem einen Kalkulationsmodus bereit, der grundsätzlich auch auf andere Institutionen und Situationen anwendbar ist, wie später etwa in den Sozialversicherungen. Durch genaue Berechnungen ließen sich Gegenwartsphänomene durch systematische Untersuchungen der Vergangenheit begreifen und ermöglichten Prognosen über die Zukunft. Die Gesellschaft verlor damit allen mythischen, undurchdringlichen und undurchschaubaren Charakter und wurde nicht nur zum Gegenstand sicheren Wissens, sondern umfassend gestaltund planbar, indem die zukünftigen Auswirkungen gegenwärtiger Entscheidung kalkulierbar wurden. Das Risiko ermöglicht noch etwas Weiteres. Es macht aus situativer Wohltätigkeit eine zukünftig sicher erwartbare, weil vertraglich vereinbarte und rechtlich strukturierte soziale Beziehung. Sie entsteht zwischen dem Individuum bzw. potentiellem Leistungsempfänger und (s)einer Versicherungsgesellschaft. Es verrechtlicht den wohltätigen Samariter und macht aus ihm eine auf dem Markt
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operierende Organisation, die neues Kapital anhäuft und in den Wirtschaftskreislauf einschleust. Die Versicherungspraxis wird durch einen Mythos begleitet, den Mythos der Versichertengemeinschaft. Der Risikoausgleich innerhalb homogener Risikogruppen macht im Selbstverständnis der Versicherung ihre Sozialität aus und findet seine semantische Überhöhung schließlich im Begriff der Solidargemeinschaft.23 Politische und staatliche Akteure sahen in der Versicherung und dem damit verbundenen Solidarprinzip eine institutionelle Form, mit der sie auf soziale Gefahren reagieren und durch politische Entscheidungen für die verschiedensten Formen des sozialen Risikoausgleichs nutzbar machen konnten.24 Individuelle und soziale Gefahren sollten so nicht nur kompensiert, sondern zugleich auch der politischen Gestaltung zugänglich gemacht werden. Dazu bedurfte es aber einer eigentümlichen Umformung des Risikos in ein soziales Risiko. Das Adjektiv ‚sozial‘ sollte nicht nur eine Grenzziehung zum mathematisch kalkulierbaren, ‚reinen‘ Risiko markieren, sondern allgemeiner als bisher einen Sachverhalt kennzeichnen, der in einer Entscheidungssituation besteht und sich nicht allein in der Möglichkeit des Eintretens ungewisser und riskanter Ereignisse, wie Naturkatastrophen, Unfälle, Stockungen der ökonomischen Entwicklung u. Ä., erschöpft. Erst wenn solche Situationen in den Bereich von (politischen) Entscheidungen hineinstrahlen und kontingente Entscheidungen provozieren, werden aus Gefahren bzw. Unsicherheiten soziale Risiken.25 Die Politik des Sozialen als immer umkämpfte und umstrittene Politik muss nun laufend entscheiden, was als soziales Risiko betrachtet wird. Sie muss zudem entscheiden, wie diese sozialen Risiken bearbeitet werden sollen: Soll es einen unbedingten Rechtsanspruch auf eine finanzielle Kompensation geben oder nicht? Werden die sozialen Leistungen über Beiträge oder Steuern oder gemischt finanziert? Leiten sich die sozialen Leistungen vorwiegend vom Arbeitsvertrag oder vom Staatsbürgerstatus ab? Man kann unschwer erkennen, dass die Gestaltungsspielräume der Politik hier außerordentlich weit gespannt waren. Da die (europäischen) Staaten des 20. Jahrhunderts weitgehend demokratische Staaten waren und damit ein universalistisches, alle Staatsbürger als Gleiche und Freie umfassendes Rechtsprinzip begründeten, entsteht eine Art Gesellschaftsvertrag und eine neue Regel der Verantwortlichkeit. Die Semantik von Risiko und Versicherung verliert ihren engen Bezug zur versicherungstechnischen Arithmetik und wird nun zum Inbegriff demokratischer Gestaltbarkeit von Gesellschaft durch die Politik. Der Risikobegriff wird zum allgemeinen gesellschaftlichen Regulativ und das (Sozial-)Recht leitet sich nicht von übergeordneten Ordnungsvorstellungen ab (wie Subsidiarität, Selbstverantwortung, naturrechtlichen Solidaritätsvorstellungen u. Ä.), sondern von den zu bewältigenden Problemlagen. Alles kann nun – sofern es die demokratische Politik entscheidet – zum sozialen Risiko werden und alles kann durch positiviertes Recht zum Gegenstand politischer Gestaltung werden. Die Gesellschaft mit ihren Armuts-, Arbeiter- und
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Rebellionsproblemen ist nicht länger ein Gefahrenpotential, sondern wandelt sich zum Gestaltungspotential der Politik und der politischen Parteien im modernen Wohlfahrtsstaat. Es wurde in den unterschiedlichen Staaten unterschiedlich ausgelegt (vgl. unten Kap. 5.3.). Aber zu Beginn des Jahrhunderts gab es starke und einflussreiche soziale und politische Kräfte, die die Idee der radikalen Kontingenz der Politik des Sozialen abstritten und nicht-kontingente Programme zur Regulierung der sozialen Frage vorlegten. Dies waren die einflussreiche katholische Kirche und die revolutionäre Arbeiterbewegung.
5.2. Die Politisierung des Sozialen durch Entpolitisierung: Die Sozialenzykliken der Katholischen Kirche und die sozialistische Revolution von 1917 Man kann ohne große Umschweife feststellen, dass ein großer Teil der europäischen Wohlfahrtsstaaten, insbesondere der bundesdeutsche, katholische Wohlfahrtsstaaten sind. Dies verweist auf ein überraschendes Paradox: Einmal politisieren die Sozialenzykliken ein soziales Problem, die Lage der arbeitenden Klassen, und schlagen staatliche Maßnahmen zur Heilung der ‚sozialen Frage‘ vor. Zum anderen entpolitisieren sie, indem sie sich auf unhinterfragbare, unwandelbare und ewig wahre Prämissen stützen, die die Kontingenzen des politischen Entscheidens aufheben und auf eine göttliche bzw. naturgesetzliche, also einzige ‚Wahrheit‘ reduzieren. Es muss eine Politik des Sozialen durch die religiösen Kräfte geben, aber es darf nur eine Politik sein, die strikt naturrechtlich-religiöse Prämissen realisiert. Auch die sozialistische Arbeiterbewegung war mit einem ähnlichen Paradox konfrontiert: Einerseits sollte, ja musste die organisierte Arbeiterbewegung um soziale Reformen innerhalb des kapitalistischen Wirtschaftssystems kämpfen, um ihre organisatorische und politische Stärke zu demonstrieren und die eigene kollektive Identität, das Selbstbewusstsein des einzelnen Arbeiters und das der arbeitenden Klasse an und für sich, auszubilden. Hierbei ging es um die Erkämpfung von sozialen und Arbeitsrechten, die die gegebene Ausprägung des Kapitalismus kontingent setzten. Andererseits war der Kapitalismus eine Struktur, die allein durch die sozialistische Revolution unter der Führung des Proletariats überwunden und durch eine neue, auf Gemeinschaftseigentum beruhende Gesellschaft abgelöst werden konnte. Durch Klassenkämpfe um soziale Rechte im Kapitalismus konnte man die Entwicklung zum Sozialismus im günstigsten Fall beschleunigen, aber die sozialen und gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten nicht grundlegend verändern. Die sozialistische Arbeiterbewegung und ihre revolutionäre Partei verfolgten ein aus den Gesetzmäßigkeiten des wissenschaftlichen Sozialismus abgeleitetes Ziel, das sich notwendig und unvermeidlich durchsetzen würde.
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Beide Ideologien, die katholische Soziallehre und die sozialistische Utopie, hatten beide eine zutiefst religiöse Dimension: Die katholische Soziallehre wollte durch die Realisation göttlicher und naturrechtlicher Gesetze bereits im Hier und Jetzt auf Erden einen Teil des göttlichen Reiches realisieren. Die sozialistische Arbeiterbewegung war zukunftsorientierter: Erst nach langen Kämpfen und intensivem Leiden kommt die Zeit der absoluten Befreiung des Menschen aus allen Abhängigkeiten und Unterdrückungen, ein sozialistisches Paradies auf Erden. Beide Ideologien formulierten grundlegende Prämissen, die die sozialpolitische Diskussion um die Jahrhundertwende, dann in der Weimarer Republik und zum Teil bis heute beeinflussen.
5.2.1. Die Katholische Sozialehre und Subsidiarität als „Baugesetz“ der Gesellschaft Die Texte der katholischen Soziallehre, vor allem ihre Sozialenzykliken, waren außerordentlich wichtige Texte für die Politik des Sozialen im 20. Jahrhundert. Sie haben nicht nur im Denken über die ‚soziale Frage‘ ihren Niederschlag gefunden, sondern auch in den institutionellen Ausprägungen vieler europäischer Wohlfahrtsstaaten, insbesondere aber des Deutschen. Er kann sicherlich als katholischer Wohlfahrtsstaat charakterisiert werden, lagen doch die zentralen politischen Entscheidungen in den Händen von Politikern des Zentrums bzw. in der Bundesrepublik in denen der CDU, die den katholischen Teil der Arbeiterbewegung repräsentierten und denen die katholische Soziallehre als Leitfaden bei der institutionellen Ausgestaltung diente. Die Sozialenzykliken wurden so zu „Baugesetzen der Gesellschaft“26 und der Begriff des ‚Gesetzes‘ verweist auf ein Spezifikum der katholischen Soziallehre. Die Sozialenzykliken berufen sich fast ausschließlich auf (von ihnen selbst formulierte!) Naturgesetze und weniger auf biblische Ausführungen bzw. religiös-christliche Grundsätze. Ihre sozialen Programmatiken werden von einer „Natur des Menschen“ abgeleitet und unterstellen deren Erkennbarkeit mittels der menschlichen Vernunft und für „alle Menschen guten Willens.“27 Noch drastischer: Die katholische Soziallehre bezieht sich auf die „ewig junge und unwandelbare Kirchenlehre“ und bezeichnet sich selbst als „katholische Gesellschaftswissenschaft.“28 Sie sitzt auf festen, nicht kontingenten Prämissen und Prinzipien auf, die sich in der sozialen Gesetzgebung von Staaten niederschlagen und als ‚unwandelbar‘ gelten sollen. Der erste Ausfluss dieser katholischen Gesellschaftswissenschaft war die Sozialenzyklika „Rerum Novarum“ aus dem Jahr 1891. Von Papst Leo XIII. verfasst richtete sie sich gegen den „Geist der Neuerungen.“ Auf politischem Gebiet richtete sie sich gegen die aufkommende Demokratie und die damit verbundene Pluralisierung und Politisierung vieler sozialer und ökonomischer Sachverhalte. Auf
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wirtschaftlichem Gebiet richtete sie sich gegen die Neuerungen des modernen Industriekapitalismus mit allen seinen negativen Auswirkungen. Ein längeres Zitat soll den ‚Geist‘ dieser ersten Sozialenzyklika verdeutlichen: „Der Geist der Neuerung, welcher seit langem durch die Völker geht, mußte, nachdem er auf dem politischen Gebiete seine verderblichen Wirkungen entfaltet hatte, folgerichtig auch das volkswirtschaftliche Gebiet ergreifen. Viele Umstände begünstigten diese Entwicklung; die Industrie hat durch die Vervollkommnung der technischen Hilfsmittel und eine neue Produktionsweise mächtigen Aufschwung genommen; das gegenseitige Verhältnis der besitzenden Klasse und der Arbeiter hat sich wesentlich umgestaltet; das Kapital ist in den Händen einer geringen Zahl angehäuft, während die große Menge verarmt; es wächst in den Arbeitern das Selbstbewußtsein, ihre Organisation erstarkt; dazu gesellt sich der Niedergang der Sitten. Dieses alles hat den sozialen Konflikt wachgerufen, vor welchem wir stehen. (…) In der Umwälzung des vorigen Jahrhunderts wurden die alten Genossenschaften der arbeitenden Klassen zerstört, keine neuen Einrichtungen traten zum Ersatz ein, das öffentliche und staatliche Leben entkleidete sich zudem mehr und mehr der christlichen Sitte und Anschauung, und so geschah es, daß die Arbeiter allmählich der Herzlosigkeit reicher Besitzer und der ungezügelten Habgier der Konkurrenz isoliert und schutzlos überantwortet wurden. Ein gieriger Wucher kam hinzu, um das Übel zu vergrößern, und wenn auch die Kirche zum öfteren dem Wucher das Urteil gesprochen, fährt dennoch Habgier und Gewinnsucht fort, denselben unter einer andern Maske auszuüben. Produktion und Handel sind fast zum Monopol von wenigen geworden, und so konnten wenige übermäßig Reiche einer Masse von Besitzlosen ein nahezu sklavisches Joch auflegen.“29
Der ‚Geist der Neuerung‘ schlug sich im politischen Bereich in zwei großen geistigen Strömungen nieder, dem Liberalismus und dem Sozialismus. Die katholische Kirche betrachtete sie nicht nur als ideologische Konkurrenten, sondern auch als politische Gegner, die man bekämpfen musste. Die ‚soziale Frage‘ war die Frage der damaligen Zeit und verschiedene Antworten konkurrierten um Anerkennung: vom Nachtwächterstaat des Liberalismus bis zur gewaltsam erkämpften Diktatur des Proletariats und – damit verbunden – der Abschaffung des Privateigentums. Und die katholische Kirche positionierte sich hier – in gewisser Weise zwischen beiden und als eine Art ‚Dritter Weg’ – mit ihrer eigenen Soziallehre. Neben der absoluten Anerkennung des Privateigentums stellte sie die Familie in den Mittelpunkt ihrer Gesellschaftslehre, die sie ebenfalls als bedroht ansah. Sie war – historisch betrachtet – vor dem Staat da und hat deshalb gesellschaftlichen Vorrang vor ihm. In der Familie realisiert die männliche Vorherrschaft die Erziehung der Kinder und damit die Grundlegung alles menschlichen Lebens. In ihr vollzieht sich die eigenverantwortliche Lebensgestaltung und ihr gebührt der absolute Vorrang, weil sie näher zur Natur steht als etwa Stände oder der Staat. Und in ihr realisiert sich die Herrschaft des christlichen Glaubens, der allein das moralische Fundament der modernen Gesellschaft bilden kann.
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Der Staat hat zwar einen beschränkten Wirkungskreis, vor allem was seine möglichen Eingriffe in die Familie und das Privateigentum betrifft, wobei letzteres den Schutz des Staates genießt. Aber in der ‚sozialen Frage‘ soll der Staat – im Gegensatz zu den liberalen Vorstellungen – eine Schutzfunktion gegenüber den Arbeitern ausüben. Die Lohnarbeit soll unter einer „besonderen Obhut“30 des Staates stehen, er soll im Zweifelsfall für einen gerechten Lohn sorgen. Die mit dem Industriekapitalismus verbundenen sozialen Risiken sollten nach der Vorstellung von Rerum Novarum vor allem durch ‚brüderliche Liebe‘, Barmherzigkeit und durch christlich motivierte Fürsorge gemildert werden. Der Staat sollte hier nicht in Erscheinung treten. Ansonsten sollten Selbsthilfeeinrichtungen der Arbeiter, aber auch Organisationsformen gemeinsam mit den Arbeitgebern, eine finanzielle Kompensation des ausgefallenen Lohnes bei Eintritt von sozialen Risiken ermöglichen. Aber diese durften nur in der schlimmsten Not helfen, weil sonst die Selbsthilfekräfte unterminiert würden. In den Worten der Enzyklika: „Endlich können und müssen aber auch die Arbeitgeber und die Arbeiter selbst zu einer gedeihlichen Lösung der Frage durch Maßnahmen und Einrichtungen mitwirken, die den Notstand möglichst heben und die eine Klasse der andern näherbringen helfen. Hierher gehören Vereine zur gegenseitigen Unterstützung, private Veranstaltungen zur Hilfeleistung für den Arbeiter und seine Familie bei plötzlichem Unglück, in Krankheits- und Todesfällen, Einrichtungen zum Schutz für Kinder, jugendliche Personen oder auch Erwachsene. Den ersten Platz aber nehmen in dieser Hinsicht die Arbeitervereinigungen ein, unter deren Zweck einigermaßen alles andere Genannte fällt.“31
Aber bei aller materieller Hilfe und Selbsthilfe solle ein zentraler Sachverhalt nicht vergessen werden und dies formuliert Rerum Novarum unmissverständlich: „Die Religiosität der Mitglieder soll das wichtigste Ziel sein, und darum muß der christliche Glaube die ganze Organisation durchdringen. Andernfalls würde der Verein in Bälde sein ursprüngliches Gepräge einbüßen; er würde nicht viel besser sein als jene Bünde, die auf die Religion keine Rücksicht zu nehmen pflegen. Was nützt es aber dem Arbeiter, für seine irdische Wohlfahrt noch soviel Vorteile vom Verein zu gewinnen, wenn aus Mangel an geistiger Nahrung seine Seele in Gefahr kommt?“32
Während in Rerum Novarum bereits grundlegende Prinzipien der gesellschaftlichen Organisation angesprochen wurden, formulierte die 1931 veröffentlichte Sozialenzyklika „Quadrogesimo Anno“ von Papst Pius XI. eine Art katholische Gesellschaftstheorie. Sie konzentriert sich auf zwei große Bereiche, die „Zuständigkeitsreform und die Sittenbesserung.“33 Für die Zuständigkeitsreform formulierte sie erneut, aber anders akzentuierte „Baugesetze der Gesellschaft“34 und das wichtigste und hier zum ersten Mal ausformulierte ‚Baugesetz‘ ist die Subsidiarität. Es ist verblüffend einfach: Die Gemeinschaften höherer Ordnung dürfen den kleineren Gemeinschaften zwar Unterstützung gewähren, aber nur wenn diese sich nicht mehr selbst helfen können. Die kleinste und natürlichste Gemeinschaft ist die Familie, sie ist der Kern und
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die Basis allen gesellschaftlichen – die Enzyklika bevorzugt den Begriff des gemeinschaftlichen – Lebens. Die gemeinschaftliche Ordnung und die naturgesetzlichen Zuständigkeiten sind durch den liberalen und den individuellen Geist soweit zerstört worden, dass das gegliederte Leben „zerschlagen und nahezu getötet“ wurde.35 Drastische und dramatische Worte, die die ‚Heilung‘ durch die katholischen Prinzipien umso dringlicher macht. Das Subsidiaritätsprinzip wird nicht nur als grundlegendes Gestaltungsprinzip für die Politik des Sozialen betrachtet, sondern zugleich als übergreifendes Ordnungsprinzip der gesamten Gesellschaft. „Wenn es nämlich auch zutrifft, was ja die Geschichte deutlich bestätigt, dass unter veränderten Verhältnissen manche Aufgaben, die früher leicht von kleineren Gemeinschaften geleistet wurden, nur mehr von großen bewältigt werden können, so muss doch allzeit unverrückbar jener höchst gewichtige sozialphilosophische Grundsatz fest gehalten werden, an dem nicht zu rütteln noch zu deuteln ist: wie dasjenige, was der Einzelmensch aus eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften leisten kann, ihm nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden darf, so verstößt es gegen die Gerechtigkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zu gutem Ende führen können, für die weitere und übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen; zugleich ist es überaus nachteilig und verwirrt die ganze Gesellschaftsordnung. Jedwede Gesellschaftstätigkeit ist ja ihrem Wesen nach und Begriff nach subsidiär: sie soll die Glieder des Sozialkörpers unterstützen, darf sie aber niemals zerschlagen oder aufsaugen.“36
Diese Position richtete sich gegen die damals aufkommende nationalsozialistische Ideologie ebenso wie gegen sozialistische Gesellschaftsvorstellungen. Denn im Zentrum steht die Eigenverantwortung, die jedes Individuum sich selbst und allen anderen Individuen gegenüber, aber auch gegenüber allen Gemeinschaften oder staatlichen Institutionen, hat. Das bedeutet nur jene Art von Hilfe zu geben, „die den Menschen instandsetzt oder es ihm erleichtert, sich selbst zu helfen, oder die seine Selbsthilfe erfolgreicher macht; (…) noch so wohlgemeinte Maßnahmen, die den Menschen an der Selbsthilfe hindern, ihn davon abhalten oder den Erfolg seiner Selbsthilfe beeinträchtigen oder sie ihm verleiden, sind in Wahrheit keine Hilfe, sondern das Gegenteil davon, schädigen den Menschen.“37
Selbsthilfe, oft auch mit dem Begriff der Eigenverantwortung umschrieben, steht im Zentrum des subsidiären Denkens. Oft wird das Subsidiaritätsprinzip mithilfe des Bildes von konzentrischen Kreisen verdeutlicht. Im Zentrum steht das (eigenverantwortliche) Individuum bzw. die Familie. Danach kommen nachbarschaftliche Zusammenschlüsse, dann berufsständische Einrichtungen, die im Zweifelsfall sozialen Schutz bieten und erst zum Schluss staatlich garantierte soziale Rechte. Alle Aktionen stehen unter der Devise der „Hilfe zur Selbsthilfe“. Insofern ist das Subsidiaritätsprinzip nicht nur ein religiös-moralisches Gebot, sondern strukturiert zugleich die institutionellen Zuständigkeiten und finanziellen Zuwendungen eines subsidiär gedachten Wohlfahrtsstaates. Die außerordentlich wichtige Rolle der freien Wohlfahrtsverbände im bundesdeutschen Wohlfahrts-
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5. Die Politik des Sozialen
staat hängt u. a. mit dem Subsidiaritätsprinzip zusammen, weil es diese Verbände als Ausdruck gesellschaftlicher Selbsttätigkeit begreift. Die ‚Sittenbesserung‘ spielt in beiden Enzykliken eine zentrale Rolle. Ohne „innerliche Erneuerung im christlichen Geist“38 sind alle Bemühungen für eine Neuordnung der Gesellschaft vergeblich. Bereits Rerum Novarum formuliert apodiktisch: „Was aber im Staate vor allem Glück und Friede verbürgt, das ist Ordnung, Zucht und Sitte, ein wohlgeordnetes Familienleben, Heilighaltung von Religion und Recht, mäßige Auflage und gleiche Verteilung der Lasten, Betriebsamkeit in Gewerbe und Handel, günstiger Stand des Ackerbaues und anderes ähnliche. Je umsichtiger alle diese Hebel benützt und gehandhabt werden, desto gesicherter ist die Wohlfahrt der Glieder des Staates.“39
Quadragesimo Anno hält in genau dieser Tradition noch schärfer fest, dass die „Wurzel allen Übels“ die „Sorge um die vergänglichen Güter“ ist. Dies führt dazu, dass die Menschen auf die „Nichtigkeiten diesseitigen Lebens starren“, aber ihre „Blicke (…) nicht himmelwärts richten.“40 Und an anderer Stelle werden die „ungeordnete Begierlichkeit in der Menschenbrust“ oder die „ungeordneten Triebe“ gegeißelt; und an wieder anderer Stelle die „allgemeine Erschlaffung gläubigchristlichen Sinnes“ und dass der „Hände Arbeit“, die von Gott nach dem Sündenfall für die Menschen leibliche und seelische Wohlfahrt bringen sollte, nun zur „Quelle sittlicher Verderbnis“ geworden ist.41 Diese Liste ließe sich noch weiter führen, aber der Tenor ist deutlich: Die alles überformende Aufgabe ist die Rückkehr zum christlichen Glauben, der sowohl die Arbeitermassen als auch das Kapital zu gedeihlicher Zusammenarbeit bringt, die Klassenkonflikte der damaligen Zeit abschwächt bzw. überwindet und alle Kräfte der Gesellschaft am Gemeinwohl orientiert. Dies würde sich einstellen, wenn sich das Subsidiaritätsprinzip als ‚Baugesetz der Gesellschaft‘ samt der damit verbundenen religiösen Erneuerung durchsetzt. Man kann ohne Übertreibung sagen, dass das Subsidiaritätsprinzip eine ‚deutsche‘ Erfindung ist. Der Jurist Gustav Gundlach und der Theologe Oswald von Nell-Breuning waren die Verfasser von Quadragesimo Anno, die vermutlich die einflussreichste aller Sozialenzykliken geworden ist. Dieses Prinzip liegt – wenn auch teilweise modifiziert – dem deutschen Wohlfahrtsstaat ebenso zu Grunde wie anderen konservativen Wohlfahrtsstaaten in Europa.42
5.2.2. Der Primat der sozialistischen Revolution: Die historische Notwendigkeit des Sozialismus und die Gesetzmäßigkeit der Geschichte Eine andere Diskussion wurde um die Jahrhundertwende zentral. Sie hing eng mit der organisierten sozialistischen Arbeiterbewegung zusammen und spielte auch während der Zeit der Weimarer Republik eine wichtige Rolle. Sie drehte
5.2. Die Politisierung des Sozialen durch Entpolitisierung
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sich um die neuen Herausforderungen, die mit der Entstehung der kapitalistischen Produktionsweise in unmittelbaren Zusammenhang gebracht wurden. Konnte man diese reformieren und den Arbeitern politische Rechte und soziale Positionen einräumen, sie also im Sinne von Alfred Marshall zu „gentlemen“ machen? Oder musste man den Kapitalismus durch eine sozialistische Revolution überwinden, um der Ausbeutung endgültig ein Ende zu setzen und eine freie Gesellschaft zu gründen? „Sozialreform oder Revolution“ – der Titel der programmatischen Schrift von Rosa Luxemburg aus dem Jahr 1899 beschreibt treffend die damals in der Arbeiterbewegung verhandelten Positionen. Dort kritisierte sie massiv die von Eduard Bernstein und anderen sozialistischen Theoretikern vertretene These, dass man den Kapitalismus und innerhalb desselben die Lage der Arbeiterklasse so weitgehend reformieren könne, dass die sozialistische Revolution überflüssig würde. Mit anderen Worten: Dass man den Kapitalismus so kontingent setzen könnte, dass er zu einem sozialen Kapitalismus wird, indem sich die Lage der arbeitenden Klasse fundamental verändert bzw. verbessert und die Arbeiter zu ‚gentlemen‘ werden. Die Position der revolutionären Sozialisten war klar gegen diese Prämisse gerichtet: Der Kapitalismus musste notwendig an seiner eigenen Widersprüchlichkeit zu Grunde gehen und seine Überwindung im Sozialismus war Ausdruck der geschichtlichen Gesetzmäßigkeit im Marxschen Sinne. R. Luxemburg führt drei wichtige Punkte an, die den Untergang des Kapitalismus unvermeidlich machen: „Die wissenschaftliche Begründung des Sozialismus stützt sich nämlich bekanntermaßen auf drei Ergebnisse der kapitalistischen Entwickelung: vor allem auf die wachsende Anarchie der kapitalistischen Wirtschaft, die ihren Untergang zum unvermeidlichen Ergebnis macht, zweitens auf die fortschreitende Vergesellschaftung des Produktionsprozesses, die die positiven Ansätze der künftigen sozialen Ordnung schafft, und drittens auf die wachsende Macht und Klassenerkenntnis des Proletariats, das den aktiven Faktor der bevorstehenden Umwälzung bildet.“43
Hier wird auf der Unvermeidlichkeit des Zusammenbruchs des Kapitalismus bestanden. Alle Politiken des Sozialen mögen zwar das Klassenbewusstsein der Arbeiter stärken, ihren Organisationsgrad erhöhen und ihre faktische Lebenslage verbessern, aber an der Grunddynamik der gesellschaftlichen Entwicklung würden sie nichts ändern. Im Gegenteil: Die sozialen Reformen und die politische Demokratie stärken die Differenz zwischen Kapitalismus und Sozialismus und machen die Überwindung des ersteren immer unvermeidlicher. „Die Produktionsverhältnisse der kapitalistischen Gesellschaft nähern sich der sozialistischen immer mehr, ihre politischen und rechtlichen Verhältnisse dagegen errichten zwischen der kapitalistischen und der sozialistischen Gesellschaft eine immer höhere Wand. Diese Wand wird durch die Entwicklung der Sozialreformen wie der Demokratie nicht durchlöchert, sondern umgekehrt fester und höher gemacht. Wodurch sie also niedergerissen werden kann, ist einzig der Hammerschlag der Revolution, d. h. die Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat.“44
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5. Die Politik des Sozialen
Auch hier kann man – ähnlich wie bei der katholischen Soziallehre – ‚ewig‘ gültige und unwandelbare Gesetze beobachten, die jedoch nicht von GOTT bzw. der (göttlichen) Natur gegeben sind, sondern vom wissenschaftlichen Marxismus. Die Entwicklung der menschlichen Geschichte unterliegt unhintergehbaren Notwendigkeiten und die Infragestellung bzw. das Kontigentsetzen dieser scheinbar vorgegebenen Entwicklung wird als Verrat an diesen Ideen und der sie tragenden Arbeiterklasse denunziert. Dagegen setzt der angebliche ‚Revisionismus‘ Eduard Bernsteins auf die Idee der prinzipiellen und weitgehenden Anpassungsfähigkeit des Kapitalismus: „Ein annähernd gleichzeitiger völliger Zusammenbruch des gegenwärtigen Produktionssystems wird mit der fortschreitenden Entwicklung der Gesellschaft nicht wahrscheinlicher, sondern unwahrscheinlicher, weil dieselbe auf der einen Seite die Anpassungsfähigkeit, auf der anderen – bzw. zugleich damit – die Differenzierung der Industrie steigert.“45
Der Kapitalismus steigert seine ‚Anpassungsfähigkeit‘ – das ist die Grundidee der Kontingenz dieses Gesellschaftssystems und die Demokratie, die die ökonomischen Dynamiken dieser Gesellschaftsordnung durch verbindliche Entscheidungen erheblich modifizieren kann, ist der Motor dieser Kontingenz. Dies hat E. Bernstein in seiner Schrift „Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie“ im Jahr 1899 systematisch durchdacht. Er beantwortet die Frage der damaligen Zeit, Sozialreform oder Revolution, fundamental anders als R. Luxemburg und begründet dies mit der Anpassungsfähigkeit des Kapitalismus, die allerdings eine starke Arbeiterbewegung voraussetzt. Armut und Unsicherheit der damaligen Zeit werden bereits in einem spezifischen Kontext thematisiert. Der Arbeiter hat – im Gegensatz zum ‚nur‘ Armen – eine klar umrissene soziale Position, die sich aus seiner Stellung im Produktionsprozess und daraus abgeleiteten Interessen ergibt. Anders als beim Armen „gibt dem Arbeiter das Eingeschlossensein in das Arbeitssystem eine Grundlage, die sich als tragfähig erweisen soll, um andere Ausschließungen als Diskriminierungen begreifen und bekämpfen zu können.“46 Aus dieser Position im kapitalistischen Produktionsprozess entsteht eine kollektive Identität, die E. Bernstein im Anschluss an Karl Marx als Klassenbewusstsein bezeichnet. Die Armen werden als faulende soziale Unterschicht, ohne Bewusstsein, ohne wichtige Rolle im historischen Prozess und ohne politische Bedeutung betrachtet. Die politische Bedeutung der Arbeiterbewegung dagegen beruht auf ihrem Klassenbewusstsein, das aber erst in der Demokratie seine eigentliche Bedeutung ausspielen kann. Die Demokratie lässt das Beharren auf der revolutionären Machtergreifung des Proletariats und der kompletten Umschichtung der ökonomischen und politischen Macht als Relikt einer autoritären Politik erscheinen. Stattdessen postuliert E. Bernstein: „Ich bin der Anschauung entgegengetreten, dass wir vor einem in Bälde zu erwartenden Zusammenbruch der bürgerlichen Gesellschaft stehen und dass die Sozialdemokratie ihre
5.3. Die Entstehung der Sozialversicherung in Deutschland
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Taktik durch die Aussicht auf eine solche bevorstehende große soziale Katastrophe bestimmen bzw. von ihr abhängig machen soll.“ Die neue Aufgabe sei es, „die Arbeiterklasse politisch zu organisieren und zur Demokratie auszubilden und für alle Reformen im Staate zu kämpfen, welche geeignet sind, die Arbeiterklasse zu heben und das Staatswesen im Sinne der Demokratie umzugestalten.“47
Hier deutet sich eine radikale Neukonzeption der Politik des Sozialen an. E. Bernstein will, dass man ‚für alle Reformen im Staat’ kämpfen und somit die ‚Lage der arbeitenden Klasse‘ – um einen berühmten Buchtitel von F. Engels zu paraphrasieren – durch politisch entschiedene Reformen laufend verbessern soll. Die Bedingungen des politischen Kampfes sind umso besser, je organisierter die Arbeiterbewegung und je demokratischer ein Staatswesen ist. Diese Politik des Sozialen will die soziale Lage und zugleich die demokratische Lage der Arbeiterklasse verbessern. Im politischen Kampf werden die zentralen Weichen gestellt, deren konkrete Ausprägungen jedoch kontingent sind. Aber in der demokratisch organisierten Gesellschaft kann die Arbeiterklasse durch politische Entscheidungen ihre soziale Situation verändern, ja verbessern und das Armuts- und Arbeiterproblem durch verbindliche Entscheidungen bearbeiten. Es geht um die Verwandlung von sozialen Gefahren in politisch definierte und politisch entschiedene soziale Risiken, die mit einem Rechtsanspruch auf bestimmte soziale Leistungen verbunden sind. Die Möglichkeit der politischen Gestaltbarkeit von (kapitalistisch organisierten) Gesellschaften war mit E. Bernstein zur leitenden Prämisse eines wichtigen Teils der Sozialdemokratie geworden. Diese Position war im gesamten 20. Jahrhundert dominant und löste die Vorstellung von der Unvermeidlichkeit und geschichtlichen Notwendigkeit der sozialistischen Revolution endgültig ab. Ende der 20er Jahre wurde die Dialektik von (sozialer) Reform und Revolution wieder aufgegriffen und in einem anderen, eher christlich inspirierten Kontext ausgearbeitet. Es war das Verdienst Eduard Heimanns, diese Frage erneut zu durchdenken (vgl. unten Kap. 5.4.1.).
5.3. Die Entstehung der Sozialversicherung in Deutschland und Englands Antwort: Bismarck versus Beveridge Das 19. Jahrhundert hat seinen Schatten auch auf das folgende Jahrhundert geworfen. Hier soll der Schatten der Sozialversicherung betrachtet werden, den ihre Einführung unter Reichskanzler Bismarck auf das 20. Jahrhundert warf. Es geht mir an dieser Stelle nicht um die Details des politischen Entscheidungsprozesses oder der Nachzeichnung der ideengeschichtlichen Grundlagen, sondern um eine prinzipielle Frage: Welche Gefahrenkonstellation wurden von den herrschenden politischen Kräften als problematisch oder bedrohlich empfunden? Mit welchen
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5. Die Politik des Sozialen
institutionellen Antworten reagierten sie auf diese Problemlagen und mit welchem Selbstverständnis arbeitete die Sozialversicherung? Inwieweit war sie eine Versicherung, analog zu den Privatversicherungen, oder war sie etwas historisch Neues? Die Entstehung der Sozialversicherungen kann als Suchprozess mit offenem Ausgang beschrieben werden, in dem die politischen und gesellschaftlichen Akteure in zum Teil äußerst konflikthaften Prozessen nach politischen Antworten auf die sozialen Gefahren suchten, die durch den Industrialisierungsprozess ausgelöst wurden. Gegenstand der folgenden Überlegungen ist jedoch nicht dieser Prozess48, sondern die Selbstinterpretation der letztlich gefundenen Optionen, die in Deutschland ihren institutionellen Niederschlag als Sozialversicherungen gefunden haben. Andere Länder, wie etwa Großbritannien, sind sehr unterschiedliche Wege gegangen und haben die sozialen Gefahren über sich am Staatsbürgerstatus orientierende Institutionen bearbeitet. Beide Wege, besser das Selbstverständnis dieser zwei Wege, will ich kurz nachzeichnen. Die Idee eines Selbstverständnisses von Institutionen ist in den Sozialwissenschaften umstritten.49 Aber jede Institution verfügt über eine Identität, die sie in komplizierten und konflikthaften Prozessen ausbildet. Sie kann als in sich konsistenter ‚Text‘ gelesen werden, der das institutionelle Selbstverständnis formuliert, das ihr von den sie konstituierenden politischen Kräfte zugeschrieben wurde. In einem Zusammenspiel von Selbstbeschreibung und Fremdzuschreibung entsteht eine institutionelle Identität, die immer aus Überhöhungen, Vereinfachungen, Mystifizierungen und begrifflichen Markierungen besteht. Sozialversicherung ist eine solche institutionelle Identität, deren komplexe und konflikthafte Identität im Folgenden rekonstruiert werden soll.
5.3.1. Identität und Struktur der Sozialversicherung Die Institutionen der Sozialversicherung reagierten auf soziale, ökonomische und gesellschaftliche Veränderungen, die durch den Industrialisierungsprozess in Gang gesetzt wurden. Die wichtigsten waren sicherlich die Wanderungen in die Städte, die damit ausgelöste Urbanisierung, vor allem in den industriellen Gebieten, die zunehmende Industrialisierung wichtiger Produktionsbereiche, die Auflösung tradierter Familien- und Wertestrukturen, die Säkularisierung und schließlich die Entstehung und Politisierung der Massen. Zentral hierbei war die fundamentale Abhängigkeit größer werdender Teile der Bevölkerung von der lohnzentrierten Erwerbsarbeit. Die Löhne wurden von den Kapitalisten zu Beginn nicht nur willkürlich festgelegt, sondern entfielen vollständig beim Eintritt sozialer Risiken (wie etwa bei Krankheit, Invalidität, Arbeitslosigkeit etc.), auch wenn es rudimentäre, aber meist willkürliche Sicherungen in Form der Armenfürsorge
5.3. Die Entstehung der Sozialversicherung in Deutschland
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gab. Auf diese Herausforderungen konnte man mittels verschiedener Optionen reagieren, in Deutschland setzte sich – im Gegensatz etwa zur Staatsbürgerversorgung in Großbritannien – die Idee der Sozialversicherung durch. Politische Motive haben ebenfalls eine große Rolle gespielt, man wollte Gewerkschaften und Sozialdemokratie schwächen und die Legitimität des monarchischen Obrigkeitsstaates erhöhen. Die Sozialversicherungen sollten die Arbeiter an die Monarchie und die herrschenden Klassen binden. Zu Beginn der Industrialisierung war der Arbeitsunfall die am häufigsten auftretende Gefahr, die mit dem Ausfall des Arbeitseinkommens einherging. Zahl und Schwere der Unfälle nahmen wegen des mangelnden Arbeitsschutzes, der Unerfahrenheit aller mit den neuen Produktionstechniken, vor allem der Dampfmaschine, zu. Grubenunglücke, Bergwerkseinbrüche, explodierende Maschinen etc. waren ebenso an der Tagesordnung wie Entlassungen wegen Absatzeinbrüchen. Zunächst reagierte die Politik des Deutschen Reiches mit dem Reichshaftpflichtgesetz von 1871, das sich zur Regulierung dieser Gefahren bald als untauglich erwies.50 Deren neue Qualität und ihre neue Deutung durch die politischen Kräfte machten den Arbeitsunfall zu einem vordringlich zu bearbeitendem Problem. Im Unfallversicherungsgesetz von 1884 wurde die Idee der Verantwortung des Staates für arbeitsbedingt eingetretene Gefahren bzw. Unglücke durch soziale Rechte institutionalisiert. Das individuelle Verschulden spielte nun keine Rolle mehr und zum ersten Mal in der deutschen Sozialgeschichte wurde eine Gefahr in ein soziales Risiko umgewandelt, das mit einen Rechtsanspruch auf finanzielle Kompensation verbunden wurde. Der Anspruch auf eine soziale Leistung wurde kausal mit der Erwerbsarbeit verbunden, bei der der Unfall eingetreten sein musste. Aber der finanzielle Ausgleich sollte von den Arbeitgebern alleine getragen werden. Mit dem Invaliditäts- und Altersversicherungsgesetz von 1889 wurde diese Idee weiter gefasst und auf Sachverhalte übertragen, die nicht mehr unmittelbar mit der Erwerbsarbeit verknüpft wurden. Auf eine unmittelbare und v. a. rechtsverwertbare Ursache der Erwerbsminderung bzw. -unfähigkeit kam es nun nicht mehr an, obwohl in der damaligen Zeit der Zusammenhang zwischen Erwerbsarbeit und Erwerbsminderung deutlich und sichtbar war. Und im Gegensatz zur Invalidität war Alter ein Anspruch auslösender sozialer Tatbestand, der mit unmittelbarer Erwerbsarbeit sachlich nichts mehr zu tun hatte. Stattdessen wurde eine pauschale Erwerbsunfähigkeit unterstellt – unabhängig vom jeweiligen Einzelfall. Bei der Gesundheitsversicherung war die politische Dimension noch deutlicher: Krankheit war infektionell und motivational ansteckend.51 Deshalb musste eine dritte Instanz, konkret die Ärzteschaft, diesen Zustand diagnostizieren, der dann durch soziale Dienstleistungen und materielle Kompensationen (wie Krankengeld) bearbeitet wurde.
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5. Die Politik des Sozialen
Bei der Arbeitslosenversicherung, die erst 1927 eingeführt wurde, wird die Lösung von der Versicherungsidee noch deutlicher. Arbeitslosigkeit war kein kalkulierbares Risiko, wie es für die tradierten und auf dem Markt operierenden Versicherungen konstitutiv ist. Zudem stand damals die Arbeitsvermittlung im Zentrum der Tätigkeit und erst nachrangig ging es um die finanzielle Unterstützung der Arbeitslosen. Auch hier standen – ähnlich wie bei der Krankenversicherung – soziale Dienstleistungen im Mittelpunkt und nicht die Gewährleistung beitragsbegründeter Leistungen. Alle Rechtsansprüche setzten eine sozialversicherungspflichtige Tätigkeit voraus, deren Umfang erneut politisch reguliert war. Mit den Sozialversicherungen der 1880er Jahre wurden privatrechtlich nicht ‚versicherbare‘ Gefahren sozialversichert in dem Sinne, als politisch entschiedene Tatbestände mit einem Anspruch auf Dienstleistungen oder finanzielle Kompensation verkoppelt wurden. Statt privatrechtlicher Vereinbarungen wie im normalen Versicherungsgeschäft war das soziale Recht öffentliches Recht. Bereits in der Begründung des UVG von 1884 hieß es: „(...) dass die Sicherstellung der Arbeiter gegen die wirtschaftlichen Folgen der Unfälle sich nicht als eine privatrechtliche Verbindlichkeit der Betriebsunternehmer zum Schadensersatz, sondern als eine öffentlich-rechtliche Fürsorgepflicht darstellt.“52
Diese Sichtweise hatte weitreichende Folgen. Sieht man einmal von dem Begriff der ‚Fürsorge‘ ab, so wird hier klar formuliert, dass Arbeiter und Staat eine Rechtsbeziehung eingehen, die sich im Bereich des öffentlichen Rechts realisiert. Die Kosten konnten nach Gesichtspunkten des öffentlichen Rechts verteilt werden und dies bedeutete unmissverständlich, dass politisch entschieden wird, wer wie an der Finanzierung beteiligt ist. Die Arbeitgeber mussten die Kosten dieser ‚Versicherung‘ alleine tragen, während die Arbeiter beitragsfrei Leistungen erhielten. Selbst ein Reichszuschuss, der ursprünglich vorgesehen war, wurde nicht realisiert. Die Leistungen der Unfallversicherung waren nicht – wie es ein privatrechtliches Verhältnis vorsehen müsste – ein äquivalenter Schadensersatz für den durch Prämien abgedeckten Schaden. Vielmehr formulierte der damalige Gesetzentwurf, dass die soziale Leistung als „Anspruch auf eine ‚billig zu bemessende Versorgung‘“ zu verstehen sei. Ein Kommentator des Gesetzes schrieb, der „Schadensersatz ist in keinem Falle die Deckung des wirklich erlittenen Unfallschadens, sondern eine nach gesetzlichen Merkmalen fixierte Leistung.“53 Unverkennbar ist die immer wieder vorgenommene Betonung der politischen Gestaltbarkeit der sozialen Leistungen oder – wie es damals hieß – des Schadensersatzes durch die Sozialversicherungen. Umgekehrt war der Beitrag kein der Privatversicherung ähnlicher Beitrag, sondern eine vom Staat einseitig erzwungene Maßnahme. Der Abschluss eines Arbeitsvertrages hatte unvermeidlich den Versicherungs- und Beitragszwang zur Folge, der aber umgekehrt den Zugang zu staatlichen Sozialleistungen eröffnete.
5.3. Die Entstehung der Sozialversicherung in Deutschland
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Der Beitrag selbst war einheitlich, weder differenzierte er zwischen Männern und Frauen noch zwischen bestimmten Risikogruppen und auch nicht nach Beitrittsalter – alles konstitutiv für Privatversicherungen. Die enge Verbindung zwischen Arbeitsvertrag und sozialen Leistungen machte die Sozialversicherungen zur Versicherung der Arbeiter, später dann der Angestellten und anderer Berufsgruppen; aber immer war Erwerbsarbeit der Ausgangspunkt aller Regelungen und nicht der Staatsbürgerstatus. Der rechtlich normierte Zugang zu Sozialleistungen konstituierte einen Status, der durch öffentlich-rechtliche Rechtssetzung in Gang gesetzt wurde und spezifische Ansprüche gegenüber dem Staat bzw. den Institutionen der Sozialversicherung begründete. Der einzige Grund für staatlich gewährte Leistungen war der politische entschiedene und dann rechtlich fixierte Tatbestand, allein er löste die zugesicherte Sozialleistung in Form subjektiv-öffentlicher Rechte aus. Bei Eintritt politisch normierter Tatbestände, z. B. das Erreichen einer Altersgrenze oder der Eintritt der Arbeitslosigkeit, wird eine staatliche Leistung ausgelöst. Als Kommentar von einem der führenden Staatsrechtler und in der Sprache der damaligen Zeit formuliert: „Das Reich erkennt die Fürsorge für die erwerbsunfähigen und altersschwachen Arbeiter als eine auf politischen Gründen beruhende, selbständige Staatsaufgabe, nicht als Gegenleistung für die eingezahlten Beiträge an und erhebt diese nur, um diese Aufgabe ohne unerträgliche Überbürdung anderer Berufsstände erfüllen zu können.“54
Der Begriff der Fürsorge war der damaligen Zeit durchaus angemessen, denn die politischen Akteure des monarchischen Obrigkeitsstaates konnten autonom sowohl über die Finanzierungs- als auch die Leistungsmodi entscheiden. Aus dem Fürsorgerecht wird in demokratischen Rechtsstaaten die Selbstbestimmung der Gesellschaft über Qualität und Umfang des politisch gewollten sozialen Risikoausgleichs.
5.3.2. Identität und Struktur des Staatsbürgerstatus In Großbritannien vollzog sich der politische Risikoausgleich in anderen Bahnen. Im Gegensatz zur Bismarckschen Konstruktion setzte man dort auf am Staatsbürgerstatus anknüpfende Formen der sozialen Sicherung. Konstitutiv hierfür sind meist steuerfinanzierte Leistungen, die aber – wie im Beveridge-Plan vorgesehen – auch über Beiträge finanziert werden können; dann ein öffentlicher Gesundheitsdienst, eine Anspruchsberechtigung für alle Staatsbürger und oft eine einheitliche und einen Mindeststandard sichernde Einkommensposition. Meist konzentrieren sich diese Formen des politischen Risikoausgleichs auf die Vermeidung bzw. Beseitigung von Armut.
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5. Die Politik des Sozialen
Im Beveridge-Plan von 1942 wurde die Idee des staatsbürgerorientierten politischen Risikoausgleich am radikalsten formuliert und zu gewissen Teilen durch die Labour Party umgesetzt, die 1945 an die Macht gelangte. Dieser Plan war der systematische Gegentext zum Sozialversicherungs-Kon-Text und formulierte Ideen, die auf die sozialpolitische Nachkriegsdiskussion in ganz Europa einen großen Einfluss ausübten. Nach dem Zweiten Weltkrieg besuchte eine deutsche Delegation London, um das dortige Wohlfahrtssystem zu studieren. Aber selbst bei den sozialdemokratischen Vertretern der Besuchergruppe war die deutsche Tradition wichtiger und die Ideen Lord Beveridges blieben im Nachkriegsdeutschland ohne Bedeutung. Wahrscheinlich hat noch nie ein sozialpolitischer Plan eine so große Bedeutung für die mediale Öffentlichkeit und die Gesamtbevölkerung eines Landes gehabt wie der Beveridge-Plan. Im ersten Monat nach seinem Erscheinen waren bereits 100.000 Exemplare verkauft, für die Armee wurde sogar eine spezielle Billigausgabe gedruckt.55 Alle politischen Parteien setzten sich mit ihm auseinander und selbst in der konservativen Partei fand er große Unterstützung. Was waren nun seine grundlegenden Ideen und welche Rolle sollte die Politik spielen? Im Gegensatz zur Arbeiterversicherung unter Bismarck sollte nach Sir William Beveridges Vorstellungen ein moderner Wohlfahrtsstaat im Wesentlichen durch drei Sachverhalte gekennzeichnet sein, die zu den leitenden Grundsätzen seines Berichts gehörten.56 Zum einen sollten bei der Konzeption wie der Realisation seines Planes die Sonderinteressen, die bei der Entstehung des Systems der sozialen Sicherung wichtig waren, in der neuen Sozialpolitik keine große Rolle mehr spielen. Die neue Sicherung sollte alle Staatsbürger mit möglichst gleichen Rechten und Pflichten ausstatten und die bisher ausdifferenzierten sozialen Einrichtungen zu einer Gesamtorganisation zusammen fassen. Der einheitliche und staatlich organisierte Gesundheitsdienst war am bedeutsamsten. Dann sollte die Sozialversicherung „lediglich als Teil einer umfassenden Politik des sozialen Fortschritts behandelt werden“, wobei die Beseitigung von Not neben Krankheit, Unwissenheit, Schmutz und Müßiggang das am leichtesten zu beseitigende der fünf Grundübel sein sollte. Drittens sollte der Staat Sicherheit für die Leistungen und Beiträge bieten, aber die Eigenverantwortlichkeit der Individuen nicht ersticken. Auf der Basis einer im ganzen Land geltenden Mindestversorgung sollte es dem Einzelnen überlassen bleiben und ihn anspornen, durch „freiwillige Handlungen sich und seiner Familie mehr als dieses Minimum zu sichern.“57 Nach seinem Plan sollten vorab geleistete Beiträge die sozialen Leistungen begründen, die den Lebensunterhalt absichern und dies auf „Grund eines Anspruchs und ohne Bedürftigkeitsprüfung, so dass die einzelnen frei darauf aufbauen können.“58 Die Geldleistungen sollten nicht nur als unbedingter Rechtsanspruch und ohne Bedürftigkeitsprüfung, sondern „so lange geleistet werden wie das Bedürfnis anhält.“59 Die Möglichkeit des unbefristeten Bezugs von sozialen
5.3. Die Entstehung der Sozialversicherung in Deutschland
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Leistungen war einer der umstrittensten Punkte in seinem Plan, der von der Regierung bei seiner Umsetzung auch nicht übernommen wurde. Arbeitslosengeld konnte nur 12 Monate bezogen werden. Diese Grundsätze gehören zum Wesen der Beveridgeschen Idee einer Sozialversicherung, die sich aus Beiträgen der Versicherten, der Arbeitgeber und des Staates finanziert und in einem Staatsfond gesammelt werden. Die Beitragsfinanzierung sei ein Wunsch der Bevölkerung, der sich in der wachsenden Popularität der Sozialversicherung und einer steigenden Ablehnung der Bedürftigkeitsprüfung manifestiert.60 Die Beitragsfinanzierung war der wichtigste Grund, warum das einheitliche und staatlich organisierte Sicherungssystem als Sozialversicherung bezeichnet wurde. Zugleich unterscheidet sie sich von der privaten Versicherung grundlegend. Da die Macht des Staates eine Zwangsversicherung für alle Staatsbürger realisieren kann, muss der Beitrag nicht nach Risiken differenziert werden. Auch kann die soziale Sicherung in Umlage finanziert werden, weil aufeinanderfolgende Generationen erneut durch staatliche Macht zu Beiträgen oder Steuern gezwungen und so eine Kapitalanhäufung wie bei Privatversicherungen vermieden werden kann. Dennoch war Beveridge gegen das Umlageverfahren. Auch könnte der Staat risikoäquivalente Beiträge erheben, aber er kann sich „aus Gründen der Politik“ auch anders entscheiden.61 Die Staatsversicherung – so fasst er zusammen – ist „ein neuer Typus menschlicher Einrichtungen, welcher sich von den früheren Methoden, Elend zu verhüten oder zu lindern, und von der freiwilligen Versicherung unterscheidet. Die Bezeichnung ‚Sozialversicherung‘ zur Charakterisierung dieser Einrichtung besagt sowohl, dass sie zwangsmäßig ist, als auch, dass die Menschen mit ihren Kameraden zusammenstehen.“62
Auch wenn die Sprache etwas altertümlich ist, Sir William Beveridge macht sehr klar, dass es sich bei seinem Konzept der Sozialversicherung um etwas grundlegend Neues handelt und dass dieses Neue eine Kreation der Politik ist. Die konkrete Ausgestaltung ist erneut ‚politisch‘ in dem Sinne, als sich die Vorstellungen eines notwendigen Mindesteinkommens im Zeitverlauf ändern und analoges gilt für den Beitragssatz. Zudem kann der Staat jederzeit durch sein Steuermonopol zur Finanzierung beitragen. Die Sozialversicherung im Beveridgeschen Sinne ist als genuin politische Veranstaltung konzipiert und alle zentralen Parameter müssen durch die Politik entschieden werden. Die Geldleistungen sind – wie bereits erwähnt – unbegrenzt gedacht, was bei Alter und Invalidität kein Problem ist. Bei Arbeitslosigkeit sieht der Report jedoch gewisse Probleme. Zwar wird festgestellt, dass Menschen, die an Arbeit gewöhnt sind, lieber arbeiten als arbeitslos zu sein. Dennoch wird formuliert: „Die Gefahr einer Vorsehung von Leistungen, die sowohl der Höhe nach hinreichend als auch unbeschränkt in ihrer Dauer sind, liegt darin, dass Menschen als Geschöpfe, die sich den Umständen anpassen, sich daran gewöhnen können. (...) Die Gegenleistung dazu,
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5. Die Politik des Sozialen dass es der Staat auf sich nimmt, für unvermeidliche Verdiensteinbrüche ohne Rücksicht auf die Dauer angemessene Entschädigungsleistungen zu gewährleisten, ist die dem Bürger auferlegte Verpflichtung, alle vernünftigen Arbeitsgelegenheiten zu suchen und anzunehmen, in einem Maße, welches darauf abzielt, ihn vor der Gewöhnung an den Müßiggang zu bewahren (...).“63
Es ist unverkennbar, dass auch in diesem sehr generösen Konzept eine gegenseitige Verpflichtung eingebaut ist, die den Empfängern des im Prinzip unbegrenzten Arbeitslosengeldes bestimmte Pflichten zur Wiederaufnahme der Arbeit auferlegt. Ab einem bestimmten Zeitpunkt soll die Teilnahme an einem „Arbeitslager oder einer Umschulungsanstalt“ sogar unvermeidlich werden.64 Zudem löst der Plan die bisherige Trennung zwischen Sozial- und Wirtschaftspolitik auf und formuliert eine gesamtgesellschaftliche Perspektive. Vollbeschäftigung war das zentrale und übergeordnete Ziel. Sie sollte vor allem durch eine staatliche Verteilung des Arbeitskräftepotentials erzielt werden, aber auch staatliche Investitionen und Investitionskontrollen und die Verstaatlichung von bestimmten Industriezweigen waren wichtige Bestandteile des Programms. Der Beveridge-Plan war der erste und systematische Entwurf eines sozialpolitischen Gesamtkonzeptes, dem die Staatsbürgeridee zu Grunde lag und konsequent beim institutionellen Aufbau des britischen Wohlfahrtsstaates umgesetzt wurde. Alle sozialen Rechte waren unbedingte Rechtsansprüche, die sich aus dem Staatsbürgerstatus ergaben. Die Beitragsfinanzierung war nicht der Grund für einen unbedingten Rechtanspruch, sondern eher eine pädagogische Veranstaltung. Ohne Beiträge wäre der Staat in den Augen der Bürger „a source of free gifts. A contributory scheme sets up the State as a comprehensive organism to which the individual belongs and in which he, under compulsion if need to, play his part.”65 Gerade diese Verbindung von Staat und Individuum zu einer Art Organismus war Sir William Beveridge wichtig. Sein Konzept der sozialen Sicherheit war ein Baustein zu einem umfassenderen Programm, das fünf große Übel der damaligen Zeit bekämpfen sollte. Sickness wirkungsvoll durch das nationale Gesundheitssystem, Idleness durch verschiedenste Beschäftigungsprogramme und staatliche Interventionen, Squalor durch bessere Wohnungsplanung in den Städten und auf dem Land und durch den Bau von mehr und besserer Wohnungen und Ignorance durch mehr und bessere Schulen. Wants schließlich sollten vor allem durch die Maßnahmenpalette des Beveridge-Planes bekämpft werden, auch wenn dieser Auswirkungen auf die anderen vier „evils“ hatte. Sir William Beveridge hatte bereits im Jahr 1907 Deutschland besucht und wollte so die Grundstrukturen des Bismarckschen Wohlfahrtsstaates kennenlernen. Aber die berufsständische Gliederung und die Konstruktion der Sozialversicherung als Arbeiterversicherung überzeugten ihn nicht. Deutschland ist in der Tat einen ganz anderen Weg gegangen. Selbst die beiden Theoretiker, die mit der
5.4. Die Politik des Sozialen als Überwindung des Kapitalismus
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Sozialpolitik am weitesten gingen und mit ihr sogar friedlich den Sozialismus erkämpfen wollten, waren immer arbeits-, aber nicht staatsbürgerzentriert.
5.4. Die Politik des Sozialen als Überwindung des Kapitalismus In der Weimarer Republik intensivierte sich die sozialpolitische Diskussion, wobei ich zwei Entwicklungen heraus greife. Zunächst die Vorstellung, dass man mittels der Sozialpolitik den Kapitalismus überwinden und zum Sozialismus vorwärts kommen kann. Diese Position wurde bereits um die Jahrhundertwende von E. Bernstein vertreten (siehe oben Kap. 5.2.), aber erfuhr nun eine bisher nicht dagewesene theoretische Fundierung und sozialpolitische Präzisierung. Eduard Heimanns „Soziale Theorie des Kapitalismus. Theorie der Sozialpolitik“ aus dem Jahr 1929 ist hier der Schüsseltext. Er konzentriert sich vor allem auf die Bedeutung der staatlichen Gesetzgebung. Parallel dazu verlief eine Diskussion, die sich mit einer Politik des Sozialen beschäftigte, die in der Auseinandersetzung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern entstand und das Arbeitsrecht hervorbrachte. Der wichtigste theoretische Kopf war hier ohne Frage Hugo Sinzheimer, der sich mit diesem Recht am intensivsten auseinander gesetzt hat. Es entsteht durch nicht-staatliche Gesetzgebung, die er als Selbstgesetzgebung der wirtschaftlichen Kräfte bezeichnet. Dies war historisch neu und kann in meinem Kontext nicht unerwähnt bleiben.
5.4.1. Die Politik des Sozialen und der Sozialismus: Eduard Heimanns Theorie der Sozialpolitik Selten gab es eine Schrift, die so einseitig gelesen, interpretiert oder aus politischen Gründen so falsch rezipiert wurde. Sowohl zum Zeitpunkt ihrer Entstehung als auch später bei ihrer (spärlichen) Rezeption wurde sie instrumentell ‚geplündert‘ und ihre grundlegenden Ideen ohne Respekt vor dem Autor und seinem Leben ignoriert.66 Es handelt sich um Eduard Heimanns Schrift „Soziale Theorie des Kapitalismus. Theorie der Sozialpolitik“, die 1929 erschien und ein Weckruf an die sozialistische und sozialdemokratische Arbeiterbewegung sein sollte, sich politisch-programmatisch neu aufzustellen. Die tiefe Krise der Weimarer Republik war unübersehbar und die aufkommende faschistische Bewegung ebenfalls. 1930 gründete er – zusammen mit Paul Tillich, Fritz Klatt und August Rathmann – die Zeitschrift „Die Neuen Blätter für den Sozialismus“, in denen sozialistische Ideen vertreten wurden, die stark auf christlichen Prämissen beruhten. Diesen Zusammenhang hat E. Heimann 1927 in einem kleinen, aber wegweisenden Artikel zusammengefasst.67 In seinem für die Weimarer Zeit zentralen Sozialpolitik-
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buch sind diese religiösen Prämissen unübersehbar formuliert, aber wurden von der Rezeption weitgehend ignoriert. Da E. Heimann Jude war, musste er seine Hamburger Professur aufgeben und 1933 mit seiner Familie ins Exil in die USA gehen. An der New School for Social Research in New York fand er eine Anstellung und unterrichtete und forschte dort bis 1958 als Wirtschaftswissenschaftler und Soziologe. Im Exil ließ er sich christlich taufen und kehrte 1963 nach Hamburg zurück, wo er bis zu seinem Tod im Jahr 1967 lebte und als Emeritus an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät lehrte.68 Über die näheren privaten und gesellschaftlichen Umstände, die ihn gerade dieses und kein anderes Buch schreiben ließen, finden sich in den wenigen biographischen Arbeiten keine Hinweise. Aber das Buch (und auch andere während dieses Zeitraums verfassten Schriften) macht eine zweifache Abgrenzung deutlich: Einmal richtet es sich gegen den gegenwärtigen Kapitalismus und die durch ihn bedingte ökonomische und soziale Krise. Zum anderen ist es eine Kritik des dogmatischen Marxismus, der den Kampf der Arbeiterbewegung auf rein ökonomische Dimensionen beschränkt und sich den Weg zum Sozialismus als einmaligen Akt vorstellt, als Akt der gewaltsamen Revolution. Mit dieser Schrift will er auch in die Konflikte in der Weimarer Republik eingreifen und als Mitglied der SPD an deren offizieller Programmatik und Klassenkampfpolitik Kritik üben. Er setzt dem ein grundlegend anderes Konzept entgegen, das den Kampf um den Sozialismus als einen viel breiteren, als einen Kampf um die Realisation grundlegender Werte und Sinnstiftungen begreift. Er reicht über das rein ökonomische weit hinaus und will einen neuen Menschen kreieren, der sich selbst befreit und seinem Leben einen eigenen Sinn gibt. Wie kann man die Grundideen dieser Schrift zusammenfassen? Es ist eine christlich fundierte Kapitalismuskritik, die dem Kapitalismus die Verletzung grundlegender religiöser Prämissen vorwirft, weil er den Arbeiter auf eine auszubeutende Arbeitskraft reduziert. Die Arbeiterklasse wehrt sich dagegen und setzt viele soziale Reformen durch, die sowohl durch Tarifpolitik als auch durch die Verfahren der Demokratie realisiert werden. Die Kapitalistenklasse fühlt sich durch diese Kämpfe bedroht und erkennt die historische Notwendigkeit, viele der Forderungen der sozialen (Arbeiter-)Bewegung zu akzeptieren und so zu besänftigen. So wird Schritt für Schritt und mittels der Sozialpolitik das Gegenprinzip des Kapitalismus in ihn selbst eingebaut, das, je mehr es ausgebaut und institutionell gefestigt wird, den Kapitalismus an seine Grenzen führt, ja letztlich über ihn hinausführt. Die politische Demokratie, innerhalb derer sich dieser Kampf abspielt, geht von einer „vollkommenen Elastizität der Sozialgestaltung“69 aus, deren Intensität und Richtung von den politischen Kräften und deren Kräfteverhältnis bestimmt wird. ‚Vollkommene Elastizität‘ – diese etwas seltsame Formulierung legt den Schluss nahe, dass durch die Demokratie alle zentralen Merkmale und Grundlagen des Kapitalismus verändert, ja überwunden werden können.
5.4. Die Politik des Sozialen als Überwindung des Kapitalismus
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Aber beginnen will ich mit der Fortschrittlichkeit des Kapitalismus, die E. Heimann so stark betont. Die soziale Theorie des Kapitalismus geht von der Idee des „ökonomisch-sozialen Liberalismus“70 als geschichtlicher Gegebenheit aus und verfolgt die Dynamiken, die der Kapitalismus in Gang setzt. Gerade seine Abweichung von dieser ursprünglich fortschrittlichen Idee bringt die sozialen Konflikte hervor, die mittels der Sozialpolitik ausgetragen und politisch entschieden werden. Die liberale Freiheitsidee ist zugleich auch immer Gemeinschaftsidee. Denn weil „Gott das freie Zusammenwirken aller Glieder zur Harmonie ordnet, darf die Freiheit zur Mitwirkung in dem umfassenden Plane keinem Gliede vorenthalten bleiben. (…) Die Freiheit aller ist dann die Bedingung der allgemeinen Harmonie.“71 Im „göttlichen Plan des liberalen Weltbildes (erscheinen) die Freiheit der Individuen und die Harmonie des Zusammenlebens als mit- und durcheinander gesetzt, als die beiden Pole, um deren Achse das Leben kreist.“72
Die religiöse Dimension ist hier ebenso unübersehbar wie der Gottesbezug. Er geht noch einen Schritt weiter: Die theoretischen Grundsätze des Liberalismus decken die „Harmonie der Schöpfung“ auf, weil der Mensch vernunftbegabt ist und das Gesetz der Eigenbewegung der Gesellschaft erkennen kann. Und er schlussfolgert dramatisch: „Die ökonomische Theorie dient dem Beweis des Glaubenssatzes von der Harmonie, sie ist eine Art von Gottesbeweis.“73 Der Kapitalismus und seine liberal-sozialen Grundprämissen bilden eine perfekte Theorie, die auch in der gesellschaftlichen Praxis die Menschen aus ihrer vorangegangenen Abhängigkeit, dem Feudalsystem und anderen Abhängigkeiten, befreit und ihnen Rechte und ökonomische Positionen einräumt, die sie vorher nicht hatten. Sie werden nun frei und koordinieren sich über den Markt, der sie wiederum zur Gemeinschaft zusammenführt, zur bereits erwähnten Harmonie im Sinne der Übereinstimmung von Produktion und Bedarf. Es entsteht eine wechselseitige Abhängigkeit zwischen Kapital und Arbeit und jeder ist auf den anderen angewiesen. Das Kapital jedoch – jetzt tauchen marxistische Prämissen auf – enthält dem Arbeiter sein „Lebensrecht“74 vor, weil er ihn „zum Rädchen im Betriebe, ja zum Gegenstand der Machtausübung, des Machtgenusses, entwürdigt; weil (er) den Anspruch auf Geborgenheit in der Gemeinschaft, auf Würde in der Arbeit und ihrer äußeren Ausstattung missachtet, weil (er) den Ungebildeten die ‚höhere Bildung‘ versagt, die allein nach der intellektualistischen Meinung der Zeit das Leben sinnvoll macht.“75
Auch hier ist der religiöse Unterton unübersehbar, insbesondere wenn er hinzufügt, dass auch dieser ‚böse‘ oder ‚sündig‘ gewordene Teil, die „Ordnung des Unrechts“76, ein kräftiges und stürmisches Leben ebenso lebt wie das ‚gute‘, das freiheitlich-gemeinschaftliche. Da der Kapitalismus die Fesseln der Feudalherrschaft gesprengt und eine „märchenhafte Entfaltung der persönlichen Kräfte und sachlichen Leistungen“77 ermöglicht, ist auch er eine Schöpfung Gottes. Aber er ist
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jetzt gefallen, er ist der gefallene Engel Luzifer, der ebenfalls durch Gottes Hand geschaffen wurde. Luzifer hat sich „frevelhaft gegen seinen Herrn und Schöpfer“ erhoben, seine Lebenskraft gegen seinen Ursprung gewendet und so die große Harmonie zerstört. Und so wie er hat sich der Kapitalismus absolut gesetzt, endgültig gemacht, keine Wandlung akzeptiert und eine „proletarische Knechtschaft“ erzwungen.78 Der Sozialismus ist die Gegenbewegung gegen diese Kraft, der Kampf gegen die „lebensfeindlichen Mächte, der Kampf um Lebenserneuerung und Sinnerfüllung.“79 Wie unterschiedlich aber die Definition des Sozialismus gegenüber den damaligen sozialdemokratischen und sozialistischen Positionen ist, wird besonders deutlich, wenn E. Heimann schreibt, dass „wir alle den Sozialismus nicht erdacht und nicht errechnet haben, sondern dass wir zu Sozialisten geworden sind durch das Schicksal der Zeit, um ihren göttlichen Sinn zu erfüllen.“80
Die Sozialpolitik bekommt in einem solchen Kontext einen religiösen Sinn. Die Arbeit im Kapitalismus ist nicht nur entfremdend, sie ist zugleich unterdrückerisch und ausbeuterisch. Der Mensch ist dem Herrn, hier dem Kapitalisten und seinen Befehlen, unterworfen. Damit wird die Arbeit zu einem beliebigen Gebrauchsgegenstand für das Kapital und der Mensch wird zur Ware erniedrigt, sowohl auf dem Markt als auch im Betrieb. Gegen diese Entwürdigung der Arbeit und des Trägers der Arbeit erhebt sich die Arbeiterbewegung. Sie ist der dialektische Widerspruch zum Kapitalismus im Kapitalismus, in dem die Idee der Würde der Arbeit und der Wille zur Freiheit beheimatet sind. Der Wille, der in der Arbeiterschaft entsteht, ist nicht ein Interesse im üblichen Sinne, sondern etwas anderes. Er ist „elementar und existentiell, vormoralisch und vorrational; er ist der Lebensdrang in den geknechteten Menschen der kapitalistischen Arbeitswelt. Darum ist er auch im echten Sinne des Wortes geistig: unmittelbar aus der Tiefe des Lebens aufsteigend und neuartigen Lebenssinn verwirklichend, auf neuartige Weltgestaltung gerichtet. Er ist eine echte Idee: hineingeboren in die werdende Gestalt der Arbeiterbewegung und durch sie in die Welt geboren, ihre Kraft ausmachend und mit ihrer Kraft sich selbst durchsetzend.“81
Erneut sind die religiösen Konnotationen unüberhörbar: Das Geborenwerden von Ideen bzw. dem politischen Willen aus den Tiefen des Lebens und Parallelen zu der Geburt von Jesus Christus sind deutlich. Die Idee des Sozialismus ist den Arbeitern bzw. der Arbeiterbewegung eingeboren. Die Idee ist nicht rein gedanklich, sondern mehr: Sie ist das „innere Leben, die kämpfende und gestaltende Kraft der Menschen, in die sie hineingesenkt ist, und sie ringt sich mit ihnen und durch sie empor.“82 An anderer Stelle wird dies noch dramatischer formuliert: „(...) alle Kraft und Leidenschaft konzentriert sich auf die soziale Verheißung, auf die Verheißung neuen Lebens, die aus der liberalen Grundlage des Kapitalismus entwickelt wird; die ausgebrannte und ausgeweinte Seele erfüllt sich mit diesem Trost und findet in
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der Verheißung künftigen Lebens und dem opferreichen Dienst für seine Vorbereitung schon jetzt ein neues, von Grund auf verwandeltes Leben. Das ist über alles Rational-Institutionelle hinaus der Sinn des Sozialismus für den kapitalistischen Arbeiter.“83
Der Politik der sozialen Bewegung kommt eine religiös-messianische Bedeutung zu, die eher indirekt und durch die von E. Heimann verwendeten Metaphern deutlich wird. Der Begriff der Verheißung wird von ihm gleich dreimal verwendet, wobei Verheißung eine Heilsankündigung bezeichnet, deren Urheber immer GOTT ist, auch wenn sie durch einen Menschen verkündet wird. Allein diese Verheißung, nicht ein ökonomisch begründetes Eigeninteresse der Arbeiterklasse wie im dogmatischen Marxismus, kann die Arbeiterklasse zur Aktion treiben und sie motivieren. Was aber ist nun Sozialpolitik, gerade in diesem religiösen Kontext? Und was ist das Politische und was das Soziale an der Sozialpolitik? E. Heimann ist hier klar und deutlich. Sozialpolitik ist diejenige Politik, die den arbeitenden Menschen Schritt für Schritt aus seiner Unterdrückung und Ausbeutung befreit und ihn aus einer Sache des Kapitals in ein lebendiges und freies Wesen verwandelt. Sozialpolitik ist auch der Abbau der Herrschaft zugunsten der Beherrschten. „Sozialpolitik ist also der Einbau des Gegenprinzips in den Bau der Kapitalherrschaft und Sachgüterordnung; es ist die Verwirklichung der sozialen Idee im Kapitalismus gegen den Kapitalismus. In der Doppelstellung der Sozialpolitik als Fremdkörper und zugleich als Bestandteil im kapitalistischen System liegt ihre eigentümliche Bedeutung; darin ihre Dynamik, darin ihre dialektische Paradoxie und theoretische Problematik (…).“84
In dieser oft zitierten Stelle und auch in anderen Formulierungen wird nicht ganz klar, was er mit Sozialpolitik meint. Das Zitat nährt eher die Vermutung, dass er sie als bereits geronnene Politik betrachtet, also als institutionelle Ausformungen und als soziale Rechtspositionen, die bereits faktisch das Gegenprinzip zum Kapitalismus realisieren. Nur dann kann dieses Soziale ein Gegenprinzip zum Kapitalismus sein, der selbst auch ein geronnenes Gebilde aus Institutionen und Rechten ist, während Politik der dynamische Prozess ist, der Kampf der gegenlaufenden Ideen um Anerkennung und Dominanz. Zur Sozialpolitik finden sich nur wenige und verstreute Anmerkungen, die keine Bausteine oder gar eine Theorie der Politik des Sozialen ergeben würden. Der Begriff der sozialen Bewegung ersetzt den der Politik, wenn E. Heimann formuliert, dass die „soziale Bewegung eine elementare Bewegung auf ein ganz bestimmtes geistig-soziales Ziel hin“ sei.85 Das Bewegen, das Verflüssigen, das auf ein Ziel hin Orientieren, das die geistige Idee Ausspielende, all das sind Metaphern, mit denen die Politik umschrieben wird. Aber die Vorstellung der Kontingenz moderner Politik wird immer wieder vom Begriff der politischen oder produktionspolitischen Notwendigkeit eingeengt und in eine strukturelle Dimension gezwängt.86 Dennoch – und solchen Überlegungen zum Teil konträr – stellt er fest:
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Aber nur die soziale Idee, getragen und verwirklicht durch die soziale Bewegung, kann diese ‚vollkommene Elastizität‘ der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse realisieren. E. Heimann fasst die Sozialpolitik sehr eng und zugleich sehr weit. Sie kann eine ‚vollkommene Elastizität‘ der gesellschaftlichen Verhältnisse realisieren, sofern die sozialen Ideen in politischen Entscheidungen ihren Niederschlag finden. Das ist in der Tat eine weite, ja extrem weite Fassung. Zugleich engt er den Begriff extrem ein. Sozialpolitik ist bei ihm ausschließlich Arbeitersozialpolitik, die die tradierte Armen- und Wohlfahrtspflege nicht erfasst. Letztere bearbeiten irgendwelche Notstände, die etwa bei Kriegsversehrten, Vertriebenen, Inflationsgeschädigten, Hinterbliebenen, der ländlichen Bevölkerung etc. auftauchen. Aber ihnen fehlt die soziale Idee, die allein aus dem Konflikt (oder auch aus der Dialektik) zwischen Arbeit und Kapital entstehen kann. Den anderen Notlagen entgeht das „eigentlich geistige Wesen, welches die Sozialpolitik als den Niederschlag einer neuartigen Idee auszeichnet.“88 Infolgedessen stehen im Mittelpunkt der Sozialpolitik die produktionspolitischen Dimensionen. Sozialpolitik erwächst aus „innerkapitalistischen Notwendigkeiten“89 und bewegt sich in den Bereichen, die unmittelbar zur kapitalistischen Produktion gehören. Arbeiterschutz, Lohnauseinandersetzungen, Arbeitszeitfragen, Betriebsräte und deren innerbetriebliche Politik. Er thematisiert aber auch mögliche Einschränkungen der kapitalistischen Produktion und des Konsums90 – eine frühe sozial-ökologische Position, die man bei keinem anderen Theoretiker der Sozialpolitik der damaligen Zeit findet. Sozialpolitik wird somit auch zentral über gewerkschaftliche Kämpfe, Klassenkämpfe, Tarifauseinandersetzungen, innerbetriebliche Politiken der Betriebsräte etc. betrieben. Die eher tradierten Bereiche der Politik, die Dynamiken der Parteienkonkurrenz und andere Formen demokratischer Politik, spielen bei ihm fast keine Rolle. So verwundert es auch nicht, dass die Institutionen der sozialen Sicherungen bei ihm nur geringe Bedeutung haben. Dies aus mehreren Gründen: Zunächst beklagt er den Entstehungszusammenhang der (deutschen) Sozialversicherung, deren Entwicklung von autoritären politischen Kräften und nicht von der sozialen Bewegung selbst in Gang gesetzt wurde. Deshalb steht die Sozialversicherung von vorne herein am „alleräußersten Rande der echten Sozialpolitik. (…) Sozialversicherung ist eben ausdrücklich nicht Arbeiterschutz; sie sucht den Arbeiter zu fördern, ohne dem Unternehmer wehe zu tun.“91 Durch die politische Konstellation bei der Entstehung ist somit auch eine substantielle Schlagseite in die Sozial-
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politik eingeführt worden: Die Schonung der Kapitalseite. Ähnliches gilt auch für die Unfallversicherung, die ausschließlich von den Unternehmern finanziert wird, aber deren Durchführung von staatlichen Agenturen bzw. den Beamten der Berufsgenossenschaften überwacht wird. Und schließlich fragt er sich, ob die Sozialversicherung mit „ihrem kolossalen Apparat“ faktisch mehr leistet als ein höherer Lohnanteil, der ein gesünderes Leben ermöglichen würde und eine darüber finanzierte Privatversicherung mit ihren Leistungen bei Eintritt bestimmter Risiken.92 Eine Sozialpolitik, die zum Sozialismus führen soll, muss unhintergehbar an der Produktionsseite anknüpfen und hier den zentralen Kern des politischen Kampfes suchen. Der sozialpolitische Kampf richtet sich auf die Gestaltung der sozialen Betriebsordnung, denn der kapitalistische Betrieb ist der Ort, wo der „Arbeiter lebt und wirkt und wo er sein Arbeitsleben nun unter eigener Verantwortung ordnen soll.“93 Das Privateigentum mit seinen ausufernden Verfügungsrechten über den Arbeiter wird durch Sozialpolitik zur sozialen Betriebsordnung und „Ausbau der Sozialpolitik ist unmittelbar Abbau des Privateigentums, unmittelbar Sozialisierung im engsten Sinnen des Wortes.“94 Die Arbeit hört dann auf eine Ware zu sein, über die der Unternehmer beliebig nach rein sachlichen Motiven verfügt. Die neue soziale Betriebsordnung macht den Arbeiter zum Menschen und gibt ihm seine Freiheit, seine Verfügung über sich selbst, zurück. Das Privateigentum besteht zwar formal weiter, aber es wird systematisch ausgehöhlt und verliert seine exklusive Verfügungsmacht. Es ist Sozialisierung von unten, die allmählich zu einer neuen sozialen Ordnung führt und kein revolutionärer Umsturz von oben, wie es der tradierten sozialistischen Arbeiterbewegung vorschwebte. Durch die vielen und verschiedensten Kämpfe lernt das Proletariat zudem, mit den Freiheitsrechten umzugehen und diese sinnvoll auszufüllen. „Denn die neu eroberten Rechte stellen neue Anforderungen; sie wollen wahrgenommen, der neue Freiheitsraum will ausgefüllt und gestaltet werden, und das muss Schritt für Schritt gelernt werden und wird gelernt, solange die Kraft anschwillt. Jedes Stück Freiheit, das errungen wird, ist dann Selbstzweck und zugleich Mittel für die Erringung weiterer Freiheit. Dies ist der Weg des aufsteigenden Lebens, der Weg der Sozialpolitik zur sozialen Freiheit.“95
Unüberhörbar ist erneut der religiöse Unterton. Aufsteigendes Leben – in vielen biblischen Texten taucht diese Metapher auf als der einzige Weg, der ins Himmelreich führt und den der Mensch für seine angestrebte Befreiung gehen muss. Ja, man könnte fast vermuten, dass je mehr der Kapitalismus zugunsten der sozialen Idee bekämpft und verdrängt wird, desto mehr kommt eine Art irdisches, sozialistisches Paradies zum Vorschein, indem die Freiheit weitgehend entfaltet ist, aber das ‚Böse‘, die kapitalistische Sünde, immer noch schlummert und bekämpft werden muss. Dann wäre in der Tat das eingetreten, was er in dem Arti-
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kel über Religion und Sozialismus angedeutet hatte und der bereits oben zitiert wurde: Dass die soziale Idee bestimmt ist durch das Schicksal der Zeit, um ihren göttlichen Sinn zu erfüllen.
5.4.2. Die Politik des Sozialen jenseits der Politik: Hugo Sinzheimer und das moderne Arbeitsrecht Hugo Sinzheimer gilt als der Begründer des Arbeitsrechtes, dessen Grundkonzept vor allem in der Weimarer Republik entwickelt wurde. Das Arbeitsrecht, dem er seine ganze Aufmerksamkeit widmete, ist ein nicht-staatliches Recht und gehört damit nicht direkt zur Politik des Sozialen und dem durch sie institutionalisierten politischen Risikoausgleich. Das Arbeitsrecht bildet vielmehr eine eigene Rechtskategorie, es ist „autonome(s) Arbeitsrecht“, das durch die „Koalition“ hervorgebracht wird.96 Die Koalition – dieser Begriff sollte nach H. Sinzheimers Plänen auch in der Verfassung der Weimarer Republik verwendet werden – steht für Vereinigungen der Gewerkschaften und der Arbeitgeberverbände und genau diese sind die Schöpfer des Arbeitsrechts. Neben die staatliche bzw. politische Demokratie, an der die Arbeiter durch ihre politischen Repräsentanten bzw. ihre Parteien beteiligt sind, soll nun eine zweite ‚Demokratie‘ treten, die Wirtschaftsdemokratie. An ihr sind die Arbeiter als Arbeiter – nicht als Staatsbürger – direkt beteiligt. Es ist ein Klassenrecht oder vielleicht besser ein Recht der oder für die Wirtschaft, das allein durch die Auseinandersetzungen zwischen Kapital und Arbeit entsteht. Beide verhandeln – mit allen Drohungen, Streiks, Aussperrungen etc., also im Extremfall wirklich durch ‚Klassenkampf‘ – dieses Recht und ‚schöpfen‘ es auf diese Weise. In der Formulierung H. Sinzheimers: „Wir brauchen im Arbeitsrecht vor allem eine lebendige Kraft. Wir brauchen einen Springquell urwüchsigen Lebens, der immer von neuem das Recht selbst erschafft, das die Beteiligten brauchen, und selbsttätig das Recht verwaltet, das für die Betroffenen da ist. Das ist der Gedanke des autonomen Arbeitsrechts. Im Vordergrund der Fortbildung des Arbeitsrechts darf nicht stehen die staatliche Bürokratie, die uns eine Rechtsordnung vorschreibt, sondern im Mittelunkt der zukünftigen Arbeitsrechtsreform muss stehen der Geist der sozialen Selbstgesetzgebung und Selbstverwaltung.“97
Dieses Tarifrecht begreift H. Sinzheimer durchaus als soziales Recht, das aber nicht vom Staat, sondern von den gesellschaftlichen Kräften, besser vielleicht den ökonomisch-sozialen Kräften geschaffen wird. Dieses Recht – das betont er ausdrücklich – ist ein bewegliches Recht, das immer neu geschaffen werden muss. Es ist mit anderen Worten kontingent und sein Inhalt, seine Substanz wird durch die Kräftekonstellation in der Koalition bestimmt, also auch von der Stärke der Arbeiterbewegung. Je stärker diese ist, desto sozialer und vor allem antikapitalistischer ist dieses Recht. Im Extremfall könnte es nicht nur soziales Recht sein, son-
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dern sozialistisch in dem Sinne, dass die Arbeiter(klasse) bzw. die Gewerkschaften sich gegenüber dem Kapital durchsetzen und die Mitbestimmung im Betrieb soweit ausdehnen, dass sie die betrieblichen Abläufe dominieren oder gar exklusiv bestimmen. Damit wäre der Übergang zum Sozialismus eingeleitet. Die Koalition ist zu einem „Rechtsbildungs- und Verwaltungsorgan“98 und damit zu einem Bestandteil des Staates geworden. Zudem hat sie aus der Masse der Menschen einen „disziplinierten Gesamtkörper“99 geschaffen, der zwar immer neu hergestellt werden muss, der aber seinen Schrecken verloren hat. Die Koalition ist nun zu einer „positiven Grundlage unseres gesellschaftlichen, unseres Volks- und Staatslebens“ geworden.100 Und je mehr Rechte die Arbeiterklasse bekommt, desto stärker wird ihre Bindung an den Weimarer Staat und die ihm zu Grunde liegenden Prinzipen sein. Aus einem „Untertan der Wirtschaft“ wird nun – analog zum Staatsbürger – ein „Wirtschaftsbürger“, der an der „Regierung der Wirtschaft teilnimmt.“101 Die sprachliche Analogie zur Demokratie ist frappierend: Wirtschafts- und Staatsbürger, Regierung der Wirtschaft und Regierung der Gesellschaft, an beidem nimmt der Arbeiter teil: beide Male als Mitglied eines Teilsystems, einmal als Mitglied des ökonomischen und das andere Mal des politischen Systems. Die Arbeiterbildung und -bewegung soll Wirtschaftsbürger hervorbringen, die in der Lage sind, verantwortlich „mit zu herrschen, mit zu verwalten“.102 Dadurch wird nach seiner Ansicht auch die Produktivität der Arbeit ansteigen. „Der neue Lebensquell im Menschen, der innerlich erschlossene Sinn für die Arbeit, die Einsicht in ihren Zusammenhang, der Anblick des ganzen wirtschaftlichen Werks der Gesamtarbeit, die Freude der Wertschöpfung – hier allein ist der Quell reicherer Arbeit.“103
Das alles klingt für heutige Ohren etwas schwülstig, aber das konnte man damals auf Gewerkschaftskongressen noch sagen. Das Protokoll verzeichnet jedoch hier – im Gegensatz zu vielen anderen Stellen in der Rede H. Sinzheimers – keinen Beifall. Bei beiden Autoren sind trotz großer Differenzen zwei Gemeinsamkeiten deutlich. Beide konzentrieren oder reduzieren den Begriff der Sozialpolitik auf die produktionspolitische Dimension, alle anderen sozialen oder gesellschaftlichen Bereiche spielen bei ihnen – wenn überhaupt – nur eine untergeordnete Rolle. Das ist bei E. Heimann umso erstaunlicher, weil er die staatliche Sozialpolitik auf die produktionspolitische Dimension beschränkt und anderen möglichen Sozialpolitiken nur eine Randstellung einräumt. Zudem sind beide der Ansicht, dass man durch den Einbau des sozialen Gegenprinzips in den Kapitalismus diesen ‚von unten‘ überwinden kann. Bei H. Sinzheimer durch die Ergänzung des Staatsbürgers durch den Wirtschaftsbürger und der politischen Demokratie durch die Wirtschaftsdemokratie. Bei E. Heimann bleibt die politische Demokratie das wichtigste Mittel, aber mit ihr kann man das kapitalistische Unternehmen
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durch staatliche Politiken Schritt für Schritt ‚sozialisieren‘. Das alles führt zu einer eigentümlichen Einengung des Politikbegriffs und der Politik des Sozialen.
5.5. Die Politik des Sozialen in nicht-demokratischen Staaten Die oben skizzierten Diskussionen wurden durch die nationalsozialistische Machtergreifung in Deutschland jäh unterbrochen. Demokratische Sozialpolitik unterscheidet sich grundlegend von der in autoritären und totalitären Staaten. Aber auch in solchen Regimen betreiben Akteure eine Politik des Sozialen. Sollen auch hier die Arbeitenden und zugleich Unterdrückten zu „gentlemen“ gemacht werden oder ist dies in autoritären Staaten nicht gewollt bzw. grundsätzlich unmöglich? Hat hier die Sozialpolitik eine andere Bedeutung? Und wenn ja, welche? Ich will diese Fragen an zwei Politiken des Sozialen beantworten, an der im Nationalsozialismus in den 30er und 40er Jahren in Deutschland und an der im realen Sozialismus in der ehemaligen DDR. Ich beginne mit der Politik des Sozialen im totalitären Nationalsozialismus.
5.5.1. Die Politik des Sozialen in totalitären Staaten: Das Beispiel des Nationalsozialismus In autoritären und totalitären Staaten spielt die Sozialpolitik eine große Rolle – auch wenn sie nur am Rande wissenschaftlich untersucht wurde. Aber der politische und gesellschaftliche Kontext, in dem sich die Sozialpolitik bewegte, besser: in dem die Sozialpolitik durch die totalitären Führer ihren Zielen unterworfen wurde, brachte neue, bisher nicht dagewesene Prämissen an den Tag. Die Texte, die diese Neuorientierung in Gang setzten, wurden zum Teil schon in der Weimarer Republik formuliert und fanden dann ihren zugespitzten Ausdruck in den von den Nationalsozialisten formulierten Prinzipien. In Jahr 1929 erschien ein Buch mit dem Titel „Grenzen der Sozialpolitik“, dessen Autor Josef Winschuh formulierte: „Die deutsche Sozialpolitik von heute, in noch stärkerem Maße die der Zukunft, ist Volksstrukturpolitik. Ihre Ziele sind: gesunde Gliederung der Nation, ihre soziale Einigkeit und damit die größtmögliche Entwicklung der produktiven und gesellschaftlichen Kräfte des Volkes.“104
Die Verengung der Politik des Sozialen wird schon hier deutlich: Sie soll ‚Volksstrukturpolitik‘ werden, die sich auf die Förderung des Nationalen und des ‚gesunden‘ Volkskörpers richtet. Schon hier werden biologistische und rassistische Prämissen angedeutet, denn nur die produktiven Kräfte des Volkes sollen Gegenstand der Sozialpolitik werden. Im Nationalsozialismus erfährt dies eine drasti-
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sche Verschärfung. In einer Rede am 28. Juni 1933, also unmittelbar zu Beginn der nationalsozialistischen Machtergreifung, hielt der Reichsinnenminister Dr. Wilhelm Frick auf der ersten Sitzung des Sachverständigenbeirates für Bevölkerungs- und Rassenpolitik eine grundsätzliche Rede, in dem die Sozialpolitik in einen völlig neuen Kontext gestellt wird.105 Die nationalsozialistische Bewegung muss den „kulturellen und völkischen Niedergang“ des Deutschen Volkes aufhalten. Dies ist nicht nur eine Frage der Geburtensteigerung an sich, weil die Geburtenrate „in bedrohlichem Maß“ abnimmt und eine „Bereinigung der Lebensbilanz“ vorgenommen werden muss, um das deutsche Volk vor dem Aussterben zu retten. In gleichem Maße aber ist auch „die Güte und Beschaffenheit unserer deutschen Bevölkerung“ zentral. Angeblich sind „bereits 20 % der deutschen Bevölkerung als erbbiologisch geschädigt anzusehen (…), von denen Nachwuchs nicht mehr erwünscht ist. Es kommt hinzu, daß gerade oft schwachsinnige und minderwertige Personen eine überdurchschnittlich große Fortpflanzung aufweisen. Während die gesunde deutsche Familie heute nicht mehr als zwei Kinder im Durchschnitt dem Staat zur Verfügung stellt, findet man gerade bei Schwachsinnigen und Minderwertigen (…) durchschnittlich die doppelte, oft sogar die dreifache Zahl. Das bedeutet aber, daß die begabtere wertvolle Schicht von Generation zu Generation abnimmt und in wenigen Generationen nahezu völlig ausgestorben sein wird, damit auch die Leistung und deutsche Kultur.“106
Zuwanderung durch Rassenfremde und Fremdstämmige verschärft dieses Problem und führt zum „völkischen Verfall“. Der Liberalismus hat Geist und Seele vergiftet und den Sinn für das Familienleben und den Willen zum Kind getötet. Mann und Frau wurden einander entfremdet, unter anderem auch durch die zunehmende Erwerbstätigkeit der Frauen, die sie dem „Familienleben entfremdet“ und das „Mannweib verherrlicht“. Der faschistische Staat wird insgesamt an einen „Umbau der gesamten Gesetzgebung und einer Verminderung der Lasten für Minderwertige und Asoziale heranzugehen haben. Wie sehr die Ausgaben für Minderwertige, Asoziale, Kranke, Schwachsinnige, Geisteskranke, Krüppel und Verbrecher heute das Maß dessen überschreiten, was wir unserer schwer um ihre Existenz ringenden Bevölkerung zumuten dürften, ersehen wir aus den Kosten, die heute vom Reich, den Ländern und den Kommunen zur ihrer Versorgung aufgebracht werden müssen. (…) Was wir bisher ausgebaut haben, ist also eine übertriebene Personenhygiene und Fürsorge für das Einzelindividuum ohne Rücksicht auf die Erkenntnisse der Vererbungslehre, der Lebensauslese und der Rassenhygiene. Diese Art der modernen ‚Humanität‘ und sozialen Fürsorge für das kranke, schwache und minderwertige Individuum muß sich für das Volk im Großen gesehen als größte Grausamkeit auswirken und schließlich zu seinem Untergang führen.“107
Der ‚Umbau der gesamten Gesetzgebung’ muss somit eine Neustrukturierung der Umverteilung von den Asozialen zu den produktiven Bevölkerungsschichten umfassen und die normativen Prämissen der Politik des Sozialen im oben zitierten Sinne neu formulieren. Weg von der Fürsorge Einzelner, weg vom ‚Humanismus‘,
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weg von der Verbesserung der Lebenslagen benachteiligter sozialer Gruppen und hin zur Stärkung des ‚gesunden Volkes‘, der Neuausrichtung der Familie und zur Förderung der Rassenhygiene und nicht der Personenhygiene – was letzteres auch immer bedeuten mag. Die Frage, ob wir es im Nationalsozialismus mit Kontinuität oder Bruch in der Sozialpolitik zu tun haben,108 erübrigt sich damit: Es ist nicht allein ein Bruch, sondern ein radikaler Buch mit allen ihren bisherigen Prinzipien. Insofern kann man formulieren, dass sich „ein völlig neues Verständnis der Sozialpolitik (andeutet), dem es nicht mehr um individuelle Freiheit und Sicherheit des Bürgers, sondern um die Verwirklichung der rassistischen Utopie des ‚gesunden Volkes der Zukunft‘ ging. (…) Sozialpolitik diente damit nicht mehr vorrangig der Stabilisierung bürgerlicher Normalstandards, sondern der Profilierung sozialrassistischer Persönlichkeitstypen. (…) Sie alle aber (die sozialpolitischen Maßnahmen, F.W.R.) zielten in ihrer nationalsozialistischen Form auf die Verfestigung rassistischer Ungleichheit, auf die Entrechtung des Individuums und seine Unterwerfung und die rassistisch definierte Gemeinschaft.“109
Insbesondere im Bereich der Gesundheitspolitik wurden die sogenannte Sozialhygiene, die Eugenik und die rassistische Bevölkerungspolitik zu leitenden Prämissen und fanden beispielsweise im „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ vom 14. Juli 1934 ihren Niederschlag. Vor allem das Gesundheitswesen wurde strikt nach der nationalsozialistischen Ideologie umstrukturiert und dies vor allem „auf dem Gebiet der Rassenhygiene und der ‚negativen Eugenik‘, der Verhinderung von ‚erbkranken‘ Gemeinschaftsunfähigen durch Zwangssterilisation und der Vernichtung angeblich ‚lebensunwerten Lebens‘ durch eine spezifisch nationalsozialistische Ausprägung der Euthanasie.“110
Die oben bereits zitierte ‚Volksstrukturpolitik‘ nahm rassistische Formen an und prägte den gesamten Zeitraum der Herrschaft der Nationalsozialisten. Neben der Gesundheitssicherung wurden auch die anderen Institutionen der sozialen Sicherung neu geordnet. Die erste Phase der Politik des Sozialen war stark durch institutionelle Umgestaltungen geprägt, die sich bis ins Jahr 1937 hinzogen.111 Hier handelte es sich um die Gleichschaltung und Entdemokratisierung der Institutionen der sozialen Sicherung, insbesondere der sozialen Selbstverwaltungen. Sie fand ihren Niederschlag allgemein in der gewaltsam vollzogenen Ausschaltung der Vertretungen der Arbeiterbewegung, v. a. der Gewerkschaften und der (sozialdemokratischen und kommunistischen) politischen Parteien und im Besonderen in der Einführung des Führerprinzips in den Selbstverwaltungen. Mit dem Gesetz zum Aufbau der Sozialversicherung aus dem Jahr 1934 wird zudem die beamtete wie ehrenamtliche Tätigkeit von Juden und anderen „missliebigen und staatsfeindlicher Personen“ in der Selbstverwaltung verboten. Diese Gleichschaltung wurde durch die in der Sozialverwaltung ergänzt. Konkret wurden fast 10 % aller rund 25.000 in den Sozialverwaltungen der Krankenkassen arbeitenden Be-
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schäftigten entlassen, d. h. rund 2800 Ärzte, 500 Zahnärzte und 200 Dentisten verloren ihre Berufszulassung.112 Die Gleichschaltung der Ärzte verlief über deren Verpflichtung auf eine rassistische und völkische Gesundheitspolitik. Parallel dazu wurde eine Entrechtlichung der Leistungsansprüche vorangetrieben. In fast allen Sozialversicherungen wurde ein Tatbestand eingeführt, der das Versagen von staatlichen Leistungsansprüchen bei „staatsfeindlicher Betätigung“ ermöglichte, was einen radikalen Bruch mit dem Prinzip des unbedingten Rechtsanspruchs auf durch eigene Beiträge aufgebaute sozialrechtliche Leistungen bedeutete. In der Gesetzlichen Krankenversicherung wurde der Vorrang des rassischen und völkischen Volksganzen vor dem individuellen Recht auf Krankenbehandlung institutionalisiert. Begleitet wurde dies durch eine Orgie biologistisch und rassisch begründeter Gesetzgebung. Erwähnt sei hier nur das Gesetz zur Verhütung des erbkranken Nachwuchses, das Gesetz zum Schutz des Deutschen Blutes und der Deutschen Ehre und das Ehegesundheitsgesetz, das die Heirat mit anderen ‚Rassen‘ verbot und zugleich das Recht auf Zwangssterilisation bei bestimmten Personen einschloss. Ansonsten wurde der äußerliche Aufbau der Sozialversicherungen weitgehend beibehalten. Die Leistungen der Sozialversicherungen blieben bis Anfang der 40er Jahre weiter auf dem niedrigen Niveau, das in der Endphase der Weimarer Republik durch die Notverordnungspolitiken durchgesetzt wurde. Trotz massivem wirtschaftlichem Aufschwung und dem Rückgang der Arbeitslosigkeit – beides bedingt durch differenzierte Arbeitsbeschaffungsprogramme und der damit verbundenen forcierten militärischen Aufrüstung – wurden die dadurch frei werdenden finanziellen Ressourcen nicht für Leistungsverbesserungen eingesetzt, sondern zur Finanzierung des (geplanten) Krieges herangezogen. Damit verbunden war auch die Einschränkung der freien Wahl des Arbeitsplatzes, die zunehmend durch eine staatliche und weitreichende Lenkung des Arbeitskräfteangebots ersetzt wurde. Im Jahr 1938 wurde die Freizügigkeit und freie Arbeitsplatzwahl durch die Einführung einer Teildienstverpflichtung massiv eingeschränkt. „Der damit eingeleitete staatliche Abbau substantieller Rechte der Arbeitnehmer bewirkte zunehmend einen Prozeß der Militarisierung der Arbeitswelt, der seine Höhepunkte in der Dienstverpflichtung (1.9.1939) aller Arbeitnehmer, der generellen Einfrierung der Löhne (12.10.1939) und der Möglichkeit der Wiedereinführung eines zehnstündigen Maximalarbeitstages (12.12.1939) fand. Zugleich wurden damit Stationen eines Weges deutlich, der zur zwangsweisen Integration des Arbeiters in eine Rüstungswirtschaft führte, die für ihn ohne strukturelle Veränderungen zur Kriegswirtschaft umgestaltet werden konnte, und in der er dann als Soldat der Arbeit seinen Beitrag in der Produktionsschlacht des Zweiten Weltkrieges zu leisten hatte.“113
Es versteht sich von selbst, dass in diesem Kontext alle Ansätze einer Wirtschaftsbzw. einer Betriebsdemokratie strikt abgebaut wurden. Auch hier kann man die
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radikale Unterwerfung der Politik des Sozialen unter die der Aufrüstung und der Kriegsvorbereitung beobachten. Götz Aly macht eine Beobachtung, die vielen Analysen des NS-Regimes in gewisser Weise entgegen läuft. Das Regime war gerade im Bereich der Politik des Sozialen zutiefst zerstritten, es gab innerhalb der nationalsozialistischen Elite erstaunlich heftige Konflikte über den hier einzuschlagenden Kurs. Die Deutsche Arbeitsfront (DAF) unter Leitung von Robert Ley wollte beispielsweise eine komplette Neuordnung der institutionellen Grundstruktur der sozialen Sicherung realisieren. Im ‚Sozialwerk des Deutschen Volkes‘ sollten nicht nur die getrennt bestehenden Systeme der sozialen Sicherung, also das Gesundheits-, die Invaliden-, Alters- und Hinterbliebenen- sowie die Arbeitslosenversicherung vereinheitlicht werden. Zusätzlich sollten alle sozialen Gruppen, also nicht nur die Arbeiter und Angestellten, sondern auch die freien (Handwerks)Berufe und die Beamten, also alle Staatsbürger, in diesem System versichert werden. Auch wollte die DAF die Finanzierung der wichtigsten sozialen Leistungen von der Beitrags- auf die Steuerfinanzierung umstellen. Die DAF konnte sich zwar auf einen angeblichen Auftrag A. Hitlers berufen, aber sie scheiterte am massiven Widerstand der Beamten verschiedener Ministerien, v. a. des Arbeits-, Wirtschafts- und Finanzministeriums. Es ist erstaunlich, welche massiven und fundamentalen Konflikte während der Zeit des Nationalsozialismus im Bereich der Politik des Sozialen existierten. Die zweite Phase der Sozialpolitik, die weitgehend mit dem Kriegsbeginn zusammen fiel, begann in den 40er Jahren und sah vor allem Verbesserungen im sozialen Leistungsrecht vor. Während 1933 die Renten um 10 % gekürzt wurden, schlug man 1941 den umgekehrten Weg ein: Sie wurden nicht nur um durchschnittlich rd. 15 % erheblich erhöht, sondern die Kleinrentner erhielten zusätzlich eine pauschale Erhöhung um sechs, die Witwen um fünf und die Waisen um vier Reichsmark. Zudem wurden die Rentner in die gesetzliche Krankenversicherung aufgenommen, während sie sich vorher entweder an die Fürsorge wenden oder sich privat versichern mussten. Weitere Rentenerhöhungen, die das Reichsarbeitsministerium realisieren wollte, scheiterten am Widerstand des Finanzministeriums. Insgesamt war die Politik des Sozialen äußerst spontan angelegt, sie agierte, besser: reagierte oft situativ und die politischen Akteure handelten als „Stimmungspolitiker. Sie fragten sich fast stündlich, wie sie die allgemeine Zufriedenheit sicherstellen und verbessern könnten.“114 Das ‚stündlich‘ darf man sicherlich nicht wörtlich, sondern nur metaphorisch verstehen, aber es verweist auf die situative Dimension der Politik des Sozialen. Hinzu tritt ein weiterer Faktor. Die Zustimmungs- oder Gefälligkeitsdiktatur opponierte gegen finanzpolitischen Sachverstand in den verschiedensten Ministerien, der „politische Opportunismus setzte sich fortwährend gegen fachliche Einsicht durch.“115 Dies ergab sich aus
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den politischen Dynamiken, die dieser Sozialstaat entwickelte. Die „jederzeit mehrheitsfähige Zustimmungsdiktatur“116 erforderte ungeheure Summen an Geld, die neben der laufenden Kriegsfinanzierung aufgebracht werden mussten. Ein Musterbeispiel hierfür waren der Familienunterhalt und andere öffentliche Beihilfen. Sie sollten offiziell der „Erhaltung von Wehrwillen und Wehrfreudigkeit und der Sicherung der inneren Front dienen.“117 Während des Zweiten Weltkrieges brachte das Deutsche Reich die ungeheure Summe von 27,5 Milliarden Reichsmark auf. Parallel dazu stiegen die Haushaltsposten, aus denen Familien Zuschüsse im Rahmen „bevölkerungspolitischer Maßnahmen“ erhielten, von 250 auf 500 Millionen Reichsmark. Im Krisenjahr 1942 wurden sie verdoppelt. Die Steigerungsraten für Kindergeld und Familienbeihilfe lagen (bei einer Ausgangsbasis 1938 von 100 %) im Jahr 1939 bei 25, dann 1940 bei 40, 1941 bei 56 und schließlich 1942 bei dramatischen 96 %.118 Eine Intervention des Reichswirtschaftsministers Walther Funk im April 1943 scheiterte am Widerstand des „Triumvirats der Stimmungspolitiker Hitler, Göring und Goebbels“.119 Die Politik des Sozialen im deutschen Faschismus vollzog einen radikalen Bruch mit allen bisher geteilten Grundprämissen. Der nationalsozialistische Kontext und die im Vorfeld und durch ihn selbst produzierten Kon-Texte haben eine Idee der Sozialpolitik entwickelt, die in der Geschichte des 20. Jahrhunderts einmalig war. Kein anderes Regime hat eine solche menschenverachtende und inhumane Idee der Sozialpolitik realisiert wie der deutsche Faschismus. In keinem anderen Regime wurde die Sozialpolitik so unmittelbar zur Herrschaftssicherung instrumentalisiert wie unter der totalitären und kriegstreibenden Elite der Nationalsozialisten. Zwar wurde auch in den autoritär-sozialistischen Staaten die Sozialpolitik dem ideologischen Diktat unterworfen, aber dieses Diktat war weniger inhuman als das der totalitären Diktatur. Dennoch dominierte auch hier die Instrumentalisierung der Sozialpolitik für übergeordnete gesellschaftspolitische Prämissen. Wie sahen diese im Konkreten aus?
5.5.2. Die Politik des Sozialen im autoritären Staatssozialismus der DDR Die Sozialpolitik der sowjetischen Besatzungszone und späteren DDR war durch eine Besonderheit geprägt: Sie hatte immer ein Pendant, das sie unmittelbar herausforderte und gelegentlich massiv in Frage stellte. Bei diesem Pendant handelte es sich um die Sozial-, aber auch die Wirtschaftspolitik der BRD. Seit dem Mauerbau im Jahr 1961 verschärfte sich diese Parallelentwicklung dramatisch, weil nun der Blick nach dem Westen immer ein vergleichender Blick war, der keine Exit-Option120 nach Westdeutschland bzw. in die BRD mehr zuließ, sondern sich als potentieller Widerspruch äußerte. Um Loyalität gegenüber dem Regime zu erzeugen, musste die Sozialpolitik vor allem ab den 60er Jahren eine bedeutendere
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Rolle spielen als zuvor – und das tat sie dann auch. Während sie in den 50er und 60er Jahren eher zur Sicherung und dann zur Vergrößerung des Arbeitskräftepotentials eingesetzt wurde, veränderte sich dies in den 70er Jahren. Bedeutsam war der Übergang von Walter Ulbricht zu Erich Honnecker an der Spitze der SED. Die Sozialpolitik wurde „spürbar auf(gewertet), nicht im Sinne einer grundsätzlichen Abkehr von der bisherigen Politik, aber doch im Sinne beschleunigter Fahrt auf einem Weg, der zuvor schon eingeschlagen war und nunmehr ausgebaut wurde.“121 Programmatisch fand dies seinen Niederschlag in einer wichtigen, zugleich offenen und ambivalenten Formel, der „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“, die auf dem VIII. Parteitag der SED im Jahr 1976 beschlossen wurde. In den folgenden Jahren war dies ein „‚Freifahrtschein‘ für eine expansive Sozialleistungspolitik“122, der die Sozialpolitik an den Rand des Finanzierbaren brachte und erhebliche Auswirkungen vor allem auf die 80er Jahre bis zum Zusammenbruch der DDR im Jahr 1989 hatte. Es gibt einen Text, der das damalige Verständnis wie kein anderer auf den Begriff brachte. Er war die Arbeit eines Autorenkollektivs, so dass alle Positionen innerhalb dieses von der Partei eingesetzten Kollektivs abgestimmt waren. Alle wichtigen sozialpolitischen Theoretiker waren hier vertreten und fungierten zugleich als Mitglieder des Instituts für Soziologie und Sozialpolitik der Akademie der Wissenschaften der DDR. Auch dadurch war die offizielle Parteilinie garantiert. Der Titel lautet – wenig inspiriert – „Theorie und Praxis der Sozialpolitik in der DDR“ und lässt das damalige Selbstverständnis wie in einem Brennglas sichtbar werden. Selbstverständlich wurde dieser Text – wie viele andere zum Thema – nicht zuletzt zum Zweck der Verschleierung verfasst, indem er viele Fakten und Befunde weglässt und ein beschönigtes Bild der sozialen Lage in der DDR entwirft. Dennoch werden in ihm Reaktionen auf reale gesellschaftliche Entwicklungen und Variationen in der Sozialpolitik ansatzweise deutlich. Die literarische Eleganz solcher Texte ist äußerst gering, was durch den ‚Politsprech‘ dieser offiziellen Parteidokumente begünstigt wird, der immer auch propagandistischen Charakter hat. Wie in allen ideologisch begründeten Diktaturen sind für die Ausprägung der einzelnen Politiken die Beschlüsse der führenden Partei zentral. Dies gilt auch hier: Der VIII. Parteitag der SED hat in Umrissen ein neues Sozialpolitikverständnis formuliert, das für das Autorenkollektiv selbstverständlich bindend war und in dem Buch seinen Niederschlag finden musste. Überdeutlich ist das Bestreben, durch eine Aufwertung der verteilungspolitischen Dimensionen der Sozialpolitik die Lebenslagen der Arbeiterklasse und anderer sozialer Schichten zu verbessern. Dieser Gedanke wurde mit der bereits oben erwähnten – zugegeben umständlichen – Formel der „Einheit der Wirtschafts- und Sozialpolitik“ ausgedrückt. Zur Konkretisierung hieß es in dem neuen Parteiprogramm:
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„Entsprechend dem ökonomischen Grundgesetz des Sozialismus besteht die Hauptaufgabe bei der Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft in der weiteren Erhöhung des materiellen und kulturellen Lebensniveaus des Volkes auf der Grundlage eines hohen Entwicklungstempos der sozialistischen Produktion, der Erhöhung der Effektivität, des wissenschaftlich-technischen Fortschritts und des Wachstums der Arbeitsproduktivität.“123
Präzisiert und ergänzt wurde dies durch die Formulierung, dass die „soziale Sicherheit und stetige Erhöhung des Lebensniveaus für alle Werktätigen und die Herausbildung eines neuen Bewusstseins“ als aktuelle Aufgaben zentral seien. Sozialpolitik – so die Prämisse – sei nicht wie im Kapitalismus als eigenständige Politik gegen die Wirtschaft gerichtet, sondern umgekehrt integrativer Bestandteil einer erfolgreichen Wirtschaftspolitik. Beide Politikbereiche seien eng verflochten – eigentlich eine sozialpolitische Trivialität, die auch für die Politik des Sozialen im Kapitalismus gilt. Das Spezifikum einer sozialistischen Sozialpolitik wird in folgenden Faktoren gesehen. Zunächst darin, dass Sozialpolitik erst bei der „Gesamtheit der Gestaltung der sozialen Beziehungen und der ihnen zugrunde liegenden materiellen und ideellen Bedingungen wirksam“ werden soll. Dann darin, dass sie auf die Minderung der vorhandenen Unterschiede zwischen den Klassen, Schichten und sozialen Gruppen und zwischen geistiger und körperlicher Arbeit ausgerichtet ist. Sie soll zudem die Einheit von „politisch-organisatorischer und politisch-ideologischer Einflußnahme“ gewährleisten und schließlich die territorialen wie betrieblichen Arbeits- und Lebensbedingungen gestalten. So soll sie das Lebensniveau der Klassen, Schichten und sozialen Gruppen verbessern und die „Ausprägung der sozialistischen Lebensweise“ fördern.124 An einer anderen Stelle wird der Wandel in der Sozialpolitik erneut deutlich. Es wird eine Definition von Sozialpolitik zitiert, die bisher herrschend war und nun zwar nicht grundlegend, aber dennoch deutlich verändert wird. Als Sozialpolitik, so die (bisherige) offizielle Parteidefinition, „bezeichnet man im Allgemeinen die Gesamtheit der Tätigkeit des Staates oder der Klassen mit ihren Organisationen, die darauf gerichtet ist, im Rahmen der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse der Bevölkerung oder den Angehörigen der jeweiligen Klassen einen möglichst weitgehenden Schutz vor den vielfältigen Wechselfällen des Lebens zu geben. (…) Ziel der Sozialpolitik ist die ständige Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen, die Erweiterung der sozialen Sicherheit, die Festigung der Solidarität und die Formung des sozialistischen Menschen durch die volle Nutzung aller durch die Gesellschaft und die Entwicklung der Produktivkräfte gegebenen Möglichkeiten.“125
Aber dies – so die Autoren – sei heute nicht mehr die Hauptaufgabe der Sozialpolitik, weil ein großer Teil dieser Aufgaben erfüllt sei, vor allem der Schutz gegen die ‚vielfältigen Wechselfälle des Lebens‘ durch soziale Grundrechte und die betrieblichen und staatlichen Institutionen der sozialen Sicherung. Stattdessen stehe heute im Mittelpunkt die
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5. Die Politik des Sozialen „stete Hebung des materiellen und geistig-kulturellen Lebensniveaus und die Ausprägung der sozialistischen Lebensweise und damit eine spezifische Einflussnahme auf die soziale gesellschaftliche Entwicklung.“126
Hier wird nun die Sonderheit der ‚neuen‘ Ausrichtung der Sozialpolitik deutlich. Es geht um ‚spezifische‘ Maßnahmen, die das soziale Lebensniveau der Werktätigen anheben sollten, und damit um massive Umverteilungsmaßnahmen, die nicht ohne finanzielle Auswirkungen bleiben konnten. In allen wichtigen Bereichen stiegen die Ausgaben massiv an, seien es die Subventionen für Grundnahrungsmittel und Mieten, seien es die Ausgaben für Alter, Invalidität und Gesundheit, seien es die für Mindestlöhne oder für die Familien. Alle Warnungen vor den finanziellen Folgen wurden in den Wind geschlagen. Als der Chef der damaligen Planungskommission, Gerhard Schürer, der Staatsführung drastische Einsparungen nahe legte, erhielt er vom damaligen Ministerpräsidenten Willi Stoph die Antwort, dass „nicht die Zahlungsbilanz, sondern die Beschlüsse zur Einheit der Wirtschafts- und Sozialpolitik Grundlage unseres Handelns (der SED, F.W.R.) sein müssen.“127 Dass solche Positionen mittel- und langfristig nicht ohne Folgen bleiben, versteht sich von selbst. Sie waren ein nicht unwesentlicher Faktor für den Zusammenbruch der DDR Ende der 80er Jahre. Hier wird die legitimatorische Rolle der Sozialpolitik besonders deutlich. Die Formel der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik im Kontext der Gesamtgestaltung der sozialen Beziehungen sollte die Lebenslage eines Großteils der Bevölkerung verbessern und die Versorgung mit den wichtigsten Gütern und Dienstleistungen des laufenden Tagesbedarfs auf einem bestimmten Mindestniveau sicher stellen. Nur so konnte auf die Dauer das drastische Bild des eher aussichtslosen Wettlaufs mit dem westlichen Kapitalismus der BRD gemildert werden, wobei der vergleichende Blick in den Westen immer mehr an Bedeutung gewann. Das Fernsehen ebenso wie persönliche Beziehungen machten diesen Blick im wahrsten und im übertragenen Sinnen problematisch, weil sich die propagandistischen Versprechungen des Sozialismus als nicht tragfähig erwiesen. Die Ausweitung und Vertiefung der sozialpolitischen Korrekturen, die die Mängel der sozialistischen Produktionsweise ansatzweise kompensieren sollten, erwiesen sich jedoch als wenig wirksam. Dessen ungeachtet vervielfachte und intensivierte sich die sozialistische Propaganda hinsichtlich der Wirksamkeit der neuen Wirtschafts- und Sozialpolitik. In der Sozialpolitik – so die offizielle Bedeutung – „kommt der qualitative Unterschied zwischen den verschiedenen Gesellschaftssystemen unmittelbar zum Ausdruck, werden die Vorzüge des Sozialismus sichtbar und für den Bürger spürbar.“128 An insgesamt fünf Punkten verdeutlicht der Bericht dann deren „revolutionären Charakter.“129 Die sozialistische Sozialpolitik soll besser als die kapitalistische die grundlegende Befriedigung der Bedürfnisse der Arbeiterklasse und ihrer Verbündeten si-
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cherstellen und sich an den dringlichsten Bedürfnissen orientieren. Dann soll sie die soziale Sicherheit gewährleisten und zugleich die noch existierenden sozialen Unterschiede in den Lebensniveaus der Klassen und Schichten angleichen. Im Kapitalismus dagegen vertiefe sich die Ungleichheit und damit verbunden die soziale Spaltung der Gesellschaft. Vorhandene „Differenzierung“ – dies ist der hier gebrauchte Terminus für den ansonsten verwendeten Begriff der sozialen Ungleichheit – ist in diesem Stadium des Sozialismus unvermeidlich, wird aber auf dem Weg zum Kommunismus weitgehend beseitigt werden. Eine weitere Besonderheit der Politik des Sozialen liege „in der planmäßigen Entwicklung der Wirksamkeit der ökonomischen und sozialen Beziehungen.“130 Planung kann „alle Seiten des gesellschaftlichen Lebens“ umfassen und zugleich „vorausschauende Politik“131 sein. Das Neue dieser Sozialpolitik besteht dann auch noch in einer intensivierten Zusammenarbeit mit anderen sozialistischen Staaten, die die ökonomische Integration und höhere Formen der Kooperation, das menschliche Zusammenleben, die Befriedigung der Bedürfnisse der Menschen und den Abbau der Ungleichheit zwischen den (National-)Staaten begünstigen soll. Und schließlich hat die organische Verbindung von wirtschaftlichem und sozialem Fortschritt einen unmittelbaren Einfluss auf den weltrevolutionären Prozess. Diese Form der Sozialpolitik und ihre Erfolge werden – so die Erwartung – zum Anziehungspunkt für die internationale Arbeiterbewegung in allen Ländern und würden den revolutionären Impuls für den Sozialismus stärken. Von der Politik des Sozialen in anderen Ländern unterscheidet sich die sozialistische schließlich durch ihre Wissenschaftlichkeit, die auf der „Kenntnis sozialer Gesetze und Gesetzmäßigkeiten, ihrer Wirkungsbedingungen und ihres Wirkungsmechanismus (beruht).“132 So kann die Sozialpolitik den „objektiven Erfordernissen der gesellschaftlichen Entwicklung (entsprechen)“ und vermeidet „Subjektivismus und Oberflächlichkeit.“133 Auch die Aufgabenverteilung zwischen Staat, Betrieben und regionalen bzw. kommunalen Gebieten wird ausführlich thematisiert. Hier ist unübersehbar, dass dem Staat (und nicht mehr den Betrieben) die Hauptaufgabe bei der Entwicklung und Umsetzung der Sozialpolitik zufällt. Man kann in dem ganzen Bericht unschwer die Verstaatlichung der Sozialpolitik erkennen, die mit der neuen Formel der ‚Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik‘ verbunden ist. Ich muss hier nicht auf die ausführlich aufgeführten Maßnahmen eingehen, die aus der Neuorientierung abgeleitet werden. Aber man kann unschwer gewisse Parallelen zur sozialpolitischen Diskussion in der Bundesrepublik erkennen. Die Verzahnung von Wirtschafts- und Sozialpolitik fand ihren Höhepunkt in der Keynesianisierung der Sozialpolitik; die Verwissenschaftlichung in der Idee, die Gesellschaft durch computerbasierte, gesamtgesellschaftliche Indikatoren- und Entscheidungssysteme zielgerichtet in die Zukunft hinein zu steuern. Auch die Idee des Abbaus der sozialen Ungleichheit hat in den Diskussionen und bei poli-
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tischen Entscheidungen eine wichtige Rolle gespielt.134 Davon bleibt die zentrale Differenz zwischen den beiden deutschen Staaten unberührt: In der BRD handelte es sich um eine demokratisch legitimierte Sozialpolitik auf der Basis der kapitalistischen Marktwirtschaft. In der DDR dagegen um die Sozialpolitik einer autokratisch regierenden Einheitspartei, die sich im Besitz der objektiven Erkenntnis über die ökonomischen, sozialen und gesellschaftlichen Dynamiken zu befinden glaubte und gleichzeitig den ökonomischen Schwächen einer zentral gesteuerten Volkswirtschaft ausgesetzt war.
5.6. Sozialpolitik und „gleicher sozialer Wert“: Die Idee der sozialen Staatsbürgerschaft bei Thomas H. Marshall Thomas A. Marshall hat in den 50er Jahre eine Idee formuliert, die sich nicht vergisst. Wie alle Ideen hat auch sie ihren Niederschlag in den institutionellen Ausgestaltungen vieler europäischer Wohlfahrtsstaaten gefunden. Sein wichtigster Text ist vermutlich der 1950 erschienene Text „Citizenship and Social Class“, der auf Vorlesungen zu Ehren seines Namensvetters Alfred Marshall in Cambridge im Jahr 1949 beruht. Es versteht sich von selbst, dass sich T. H. Marshall in entscheidenden Passagen seines eigenen Vortrages auf den ‚anderen‘ Marshall bezieht, aber mit voller Absicht wird ein Satz, besser: eine Grundidee wieder aufgegriffen, die er in seinem Vortrag systematisch weiterentwickelt. Diesen entscheidenden Satz A. Marshalls habe ich bereits am Anfang des Kapitels erwähnt und er soll hier erneut in Erinnerung gerufen werden. „The question is not whether all man will ultimately be equal – that they certainly will not – but whether progress may go on steadily if slowly, till the official distinction between working man and gentleman has passed away, till by occupation at least every man is a gentleman. I hold that it may and that it will be (…).“135
Die soziologische oder auch sozialpolitische Hypothese, die in diesem Satz steckt, kann man dahingehend zusammenfassen, dass nicht mehr die soziale Position auf dem Arbeitsmarkt ausschlaggebend für das gesellschaftliche Leben sein soll. Andere Maßstäbe müssen hinzu treten, die die Wirkungen der wirtschaftlichen Konkurrenz modifizieren und so den Lohnarbeiter zum gentleman machen. Nur gentlemen, und selbstverständlich auch gentlewomen, können sich als Gleiche begegnen. Überträgt man diese Idee auf die staatliche Ebene, so landet man bei der Staatsbürgeridee und beim Begriff des Status. Status setzt sich ab von den auf Märkten durch Leistung und Differenzierung realisierten Positionen. Status dagegen ist eine Position, die sich allein aus staatlich garantierten und abstrakten Rechtspositionen zusammensetzt und eine Persönlichkeit konstituiert, die mit bestimmten, gleichwohl kontingenten Rechten ausgestattet ist.136 Volljährigkeit als Status ist zum Beispiel unmittelbar verknüpft mit bestimmten Rechten, wie Auto
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zu fahren, sein Wahlrecht auszuüben etc. Ein Status umfasst unterschiedslos alle Mitglieder einer bestimmten sozialen Gruppe, hier der Staatsbürger. Interne Differenzierungen, wie etwa in Sozialversicherungsstaaten nach Arbeitern, Angestellten, Freiberuflern, und differenzierte Leistungen je nach sozialer Position sind hier nicht vorstellbar, alle Mitglieder einer Gruppe sind hinsichtlich des Status gleich. Doch woher kommt diese Vorstellung der Statusgleichheit? Warum hat sie gerade Thomas H. Marschall theoretisch-konzeptionell so prominent ausbuchstabiert? Ich sehe mehrere Punkte. Ein, vielleicht der wichtigste Punkt war sicherlich die Auseinandersetzung mit Alfred Marshall, der eine große Rolle bei der Entwicklung von T. H. Marshalls eigenen Ideen gespielt hat. Ähnlich wie A. Marshall hat auch Lord Beveridge in seinem berühmten Plan zur Neugestaltung der britischen Sozialpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg die Bedeutung des Status als zentrale Begrifflichkeit betont. Damit verbunden war ein unbedingter Rechtsanspruch auf eine soziale Leistung, bei Beveridge auf ein Existenzminimum, der nicht mit einer Bedürftigkeitsprüfung verbunden war. Diese Idee war ‚eindeutig neu‘ – wie T. H. Marshall rückblickend feststellt. Sie entstand in der unmittelbaren Nachkriegszeit und hatte als Grund – dies soll hier ausführlicher zitiert werden – „die gemeinsame Erfahrung des Krieges, als die Wohlfahrtsbedürfnisse, die durch Maßnahmen der Regierung befriedigt werden mussten, wenig oder nichts mit der persönlichen Einkommenslage oder mit Klassenunterschieden zu tun hatten, sondern einem Schicksal entsprangen, dem alle ausgesetzt waren. (…) Aber noch wichtiger (…) war der psychologische Effekt der vereinten Anstrengungen angesichts einer gemeinsamen Gefahr. Der britische Wohlfahrtsstaat ist einzigartig, weil er unter einzigartigen Begleitumständen geboren wurde. Kein anderes Land der Erde durchschritt fest und vereinigt die ganze Reihe von Erfahrungen – Widerstand gegen den Angriff, der Schlag gegen den Feind, der Sieg auf dem Feld, und, ohne Unterbrechung (mit der Ausnahme eines Regierungswechsels), die Einschränkungen der Nachkriegszeit und der Wiederaufbau. Unter derartigen Umständen schien jede Beschränkung sozialer Dienstleistungen auf eine bestimmte Klasse fast undenkbar – genauso wie ihre Einschränkung durch eine Bedürfnisermittlung, denn für den Augenblick wurde ‚Klasse‘ zu einem unanständigen Wort. Es war so offensichtlich, dass die gemeinsame Verteidigungsgesellschaft des Krieges zur gemeinsamen Zuwendungsgesellschaft des Friedens werden würde.“137
Dieses lange Zitat verdeutlicht in immer neuen Begriffs- und Wortkombinationen das zentrale Element des Gemeinsamen, des gemeinsamen Staatsbürgerstatus. Aus der ‚gemeinsamen Verteidigungsgesellschaft des Krieges‘ wurde nun die ‚gemeinsame Zuwendungsgesellschaft‘ – zweimal wird hier und auch an anderer Stelle das Gemeinsame betont –, die eben die Gemeinsamkeit der Staatsbürger ist und nicht die einer Klasse oder besonderen sozialen Gruppe. Wie präzisiert nun T. H. Marshall seine Idee des Staatsbürgerstatus? Zunächst klärt er, was unter den Nachkriegsbedingungen der gentleman bzw. die gentlewoman bedeuten könnte und ersetzt ihn durch den Begriff des zivilisier-
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ten Lebens. Der Maßstab eines zivilisierten Lebens ist ein unbedingter Anspruch, als „volles Mitglied der Gesellschaft anerkannt zu werden, und das ist: als Staatsbürger.“138 Volles Mitglied einer Gemeinschaft zu sein kann heute zumindest in Europa nur mit dem Begriff des Staatsbürgerstatus gefasst werden, der mit bestimmten rechtlichen Ungleichheiten unvereinbar ist, gleichwohl andere Ungleichheiten akzeptieren kann. Er präzisiert: „Die Ungleichheit eines Systems sozialer Ungleichheit kann unter der Voraussetzung akzeptiert werden, dass die Gleichheit des Staatsbürgerstatus anerkannt ist.“139 Statusgleichheit ist wichtiger als faktische soziale Gleichheit. Dann teilt T. H. Marshall den Staatsbürgerstatus in die bekannten drei Untertypen: Der bürgerliche Status besteht aus den individuellen Freiheitsrechten, der Freiheit der Person, der Rede-, Religions-, Gedankenfreiheit, der Eigentumsfreiheit und der Freiheit, Verträge abzuschließen, auch Arbeitsverträge. Der politische Status garantiert die Teilhaberechte am politischen Prozess, also Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit ebenso wie die aktive und passive Teilnahme an freien und demokratischen Wahlen. Der soziale Status schließlich umfasst eine Reihe von Rechten auf ein Mindestmaß an Wohlfahrt und sozialer Sicherheit, die dem Leben als zivilisiertes Wesen entsprechen und an gesamtgesellschaftlichen Standards orientiert sind.140 Alle drei Status haben die Gleichheit zur Voraussetzung – alle Staatsbürger haben diese Rechte und können sich auf sie berufen, während die konkrete Ausprägung kontingent ist und von den politischen Dynamiken der jeweiligen Gesellschaften abhängt. Letzteres ist vor allem bei beim sozialen Status wichtig, weil die demokratische Politik ihn am intensivsten ändern kann. Die Staatsbürgerrechte verleihen Menschen einen Status, „mit dem all jene ausgestattet sind, die volle Mitglieder einer Gemeinschaft sind. Alle, die diesen Status innehaben, sind hinsichtlich der Rechte und Pflichten, mit denen der Status verknüpft ist, gleich. Es gibt kein allgemeines Prinzip, das bestimmt, was dies für Rechte und Pflichten sein werden. Die Gesellschaften aber, in denen sich die Institutionen der Staatsbürgerrechte zu entfalten beginnen, erzeugen die Vorstellung eines idealen Staatsbürgerstatus, an dem die Fortschritte gemessen und auf den die Anstrengungen gerichtet werden können.“141
Während in diesem Bereich alle Mitglieder der Gesellschaft – weil Staatsbürger – gleich sind, bleiben die sozialen Ungleichheiten, die sich aus den unterschiedlichen Positionen im ökonomischen und anderen Systemen der Gesellschaften ergeben, bestehen. Soziale Klassen lösen sich durch Status nicht auf, sondern es sind zwei Ideen und zwei davon abgeleitete soziale Positionen, die miteinander konkurrieren. Jedoch ist der Status dominant, weil er von der Politik entschieden und verliehen wird. Hier kann die Politik weit in andere Teilsysteme, vor allem in das ökonomische, hineinregieren. Im 20. Jahrhundert liegen die Staatsbürgerrechte und das kapitalistische Klassensystem miteinander „im Krieg“142 – eine
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Formulierung, die andeutet, wie intensiv der Kampf zwischen diesen beiden ‚Welten‘ sein kann. Im Bereich des sozialen Status hat sich die Idee des „gleichen sozialen Wertes“143 realisiert, während man beim bürgerlichen und politischen Status von natürlichen Rechten sprechen konnte, die mit dem Menschsein gesetzt waren. Nun tritt im 20. Jahrhundert der gleiche soziale Wert hinzu, dessen Substanz von der Politik einer Gesellschaft je nach ihrem Entwicklungsstatus entschieden werden muss. Der „normale Weg der Schaffung sozialer Rechte ist aber der Einsatz politischer Macht, weil soziale Rechte kein absolutes Recht auf einen bestimmten Kulturstandard implizieren.“144 T. H. Marshall betont die Dimension des Einsatzes der politischen Macht deshalb, weil parallel und ergänzend zum System der politischen Staatsbürgerrechte durch die Vertrags- und Organisationsfreiheit des Arbeitsmarktes ein „zweites System“145 wirtschaftlicher Staatsbürgerrechte geschaffen wurde. Primär bleibt aber immer der durch die Politik ausgestaltete Staatsbürgerstatus, der die Menschen gleich macht und sie als gleichberechtigte Mitglieder einer politischen Gesellschaft vereint. Der soziale Status umfasst in der Regel ein Minimum an sozialen Rechten, wie etwa eine allgemeine Gesundheitsversorgung, ein staatlich garantiertes Grundeinkommen jenseits der Markteinkommen; es kann auch Bildung, Kinder- oder Familiengeld oder andere soziale Leistungen umfassen, aber der Kern ist die staatlich garantierte soziale (Minimal-)Absicherung für alle. Ansprüche entstehen nicht – wie etwa in den tradierten Sozialversicherungsstaaten – durch vorangegangene Beitragsleistungen, sondern aufgrund der Mitgliedschaft in einem Staat. Radikaler formuliert: Soziale Rechte werden nicht wegen sozialer Nöte, zur Bedürfnisbefriedigung oder zur Kompensation von sozialen Risiken institutionalisiert – das sicherlich auch. Der wichtigste Grund ist jedoch die Idee des Staatsbürgerstatus, nach der alle gleich sein und nach der alle den gleichen sozialen Wert haben sollen. Staatliche Sozialpolitik ist zwar auch der Versuch, die Einkommenspositionen der Menschen anzugleichen, aber das gehört in eine andere Abteilung der Sozialpolitik und ist nicht ihr wichtigster Punkt. Beim gleichen sozialen Wert „interessiert die allgemeine Bereicherung der konkreten Substanz eines zivilisierten Lebens, die generelle Verminderung der Risiken und Unsicherheiten, der Ausgleich zwischen den mehr oder weniger Glücklichen auf allen Ebenen – zwischen dem Gesunden und Kranken, dem Alten und dem Erwerbstätigen, dem Junggesellen und dem Vater einer großen Familie. Die Gleichstellung geschieht weniger zwischen den Klassen als vielmehr zwischen den Individuen einer Bevölkerung. Statusgleichheit ist wichtiger als Einkommensgleichheit.“146
Hier wird in aller Deutlichkeit formuliert, was der Kern der Politik des sozialen Status ist: Die Gleichstellung aller Staatsbürger hinsichtlich bestimmter und unhintergehbarer sozialer Positionen, die die Risiken und Unsicherheiten der mo-
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dernen Gesellschaften kompensieren und die Menschen mit einem Bündel von absoluten sozialen Rechten ausstatten, die ihnen ein zivilisiertes Leben auch jenseits des Arbeitsmarktes ermöglichen. Diese Idee hat Vorrang vor der Einkommensgleichheit, die zwar auch eine große Bedeutung in den modernen Gesellschaften hat, die aber hinter die Statusgleichheit zurücktreten soll. Der Staatsbürgerstatus sickert auch in andere Bereiche der Gesellschaft ein, wie beispiesweise in den Arbeitsmarkt. Werden z. B. Marktpreise nach Kriterien der sozialen Gerechtigkeit modifiziert, etwa wenn Löhne auf dem Arbeitsmarkt staatlich reguliert oder Mindestlöhne eingeführt werden, dann wird der freie Tausch der Arbeitskraft und der entsprechende Marktpreis durch politische Entscheidungen überformt. Dies bezeichnet T. H. Marshall als „Eindringen des Status in den Vertrag“147, ein Phänomen, das für moderne Gesellschaften typisch ist. Der geschichtliche Kontext dieser Idee – dies wurde bereits oben erwähnt – war die ‚gemeinsame Zuwendungsgesellschaft‘ der unmittelbaren Nachkriegszeit. Zwei zusätzliche Faktoren stellten diese Idee in gewisser Weise auf Dauer. Fast alle europäischen Nachkriegsgesellschaften waren durch erhebliches wirtschaftliches Wachstum gekennzeichnet, das die Gemeinsamkeit dieser Gesellschaften begünstigte. Die Verteilungsspielräume erhöhten sich und es kam zu einer Art Klassenkompromiss zwischen Kapital und Arbeit, der sich als relativ stabil erwies und in fast allen europäischen Ländern zu beobachten war. Doch spätestens seit Ende der 70er und Anfang der 80er Jahre löste sich der Nachkriegskonsens in Großbritannien auf und die Klassen- und Verteilungskonflikte traten deutlicher zu Tage. Die politischen Reformen der damaligen Zeit und das Aufkommen der neoliberalen politischen Strömungen, die sich auch in Regierungswechseln der damaligen Zeit niederschlugen, ließen das Pendel wieder zugunsten des Marktes und seiner ungleichen Verteilungsmechanismen zurückschwingen. Der Vertrag begann gegenüber dem Status erneut zu dominieren.148 Aber die normative Grundprämisse für eine Politik des Sozialen, die sich am (sozialen) Status orientiert, bleibt als Idee erhalten und lässt sich nicht vergessen.
5.7. Die Politik des Sozialen in modernen Wohlfahrtsgesellschaften: Sozialpolitik als aktive Gesellschaftspolitik und das Eigengewicht der Institutionen Im oben bereits erwähnten Beveridge-Plan aus dem Jahr 1942 hat sich eine gewisse Trendwende in der Politik des Sozialen abgezeichnet. Lord Beveridge und seine Mitautoren haben den Wandel der Sozialpolitik bereits in groben Zügen angedeutet: keine Konzentration auf die Armuts- und Arbeiterfrage, der Einbezug der Bildungs- und Familienpolitik in die Sozialpolitik, die Verbindung der Wirtschaft- und Arbeitsmarktpolitik mit der des Sozialen und schließlich die Ori-
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entierung an der sozialen Gestaltung der Zukunft. Mit Hans Achinger tritt uns ein Autor gegenüber, der diese Sachverhalte sieht, aber einen neuen Akzent in dieser Diskussion setzt: Er sieht als erster Autor, dass die Sozialpolitik ein Eigenleben zu führen beginnt, eine sich selbst antreibende Dynamik realisiert und sich gegenüber den politischen und sozialen Kräften verselbstständigt. Die Politik des Sozialen kreiert Institutionen, die eine eigene Identität, ein eigenes Wissen von der Welt, ein eigenes Vokabular entwickeln und mit dieser ideologischen ‚Brille‘ einen durch sie geprägten (oder getrübten) Blick auf die Gesellschaft werfen. So entsteht eine künstliche Wirklichkeit, eine Wirklichkeit „zweiter Instanz“, die bestimmte soziale Dynamiken verdunkelt und der politischen Aufmerksamkeit entzieht, aber Sozialpolitik als Gesellschaftspolitik konstituiert. Seine Fortsetzung findet diese Politik in der Vorstellung einer aktiven Sozialpolitik, die mittels computergestützter Informations- und Planungssysteme beginnt, die gesellschaftlichen Dynamiken auf den grünlich flimmernden Bildschirmen der modernen Computer zu simulieren. Die Folgen bestimmter politischer Entscheidungen konnten nun mittels Simulationsmodellen zielgerichtet berechnet werden und den politischen Entscheidern die Ungewissheit über die Folgen ihrer Entscheidungen nehmen. Die Politik des Sozialen wird nun zur aktiven und zukunftsorientierten Gesellschaftssteuerung, in die alle Hoffnungen auf zielgerichtete Sozialpolitik Eingang finden.
5.7.1. „Sozialpolitik als Gesellschaftspolitik“: Hans Achingers Idee der sozialen Institute Die Überschrift dieses Kapitels übernimmt den Titel eines Buches, dessen Untertitel „Von der Arbeiterfrage zum Wohlfahrtsstaat“ lautet. Das Buch ist im Jahr 1958 erschienen und sein Autor Hans Achinger bewegte sich zwischen sozialpolitischer Praxis und wissenschaftlicher Beschäftigung mit der Sozialpolitik. Sein kleines Büchlein ist eines der inspirierendsten und klügsten, die in diesem Kontext geschrieben wurden, und formuliert auch für die heutige Diskussion noch große Einsichten. Was sieht er, was andere Texte nicht oder nicht in dieser Schärfe sehen? Der Text markiert einen Wendepunkt im sozialpolitischen Denken, der die Sozialpolitik von der Arbeiter- oder Klassenfrage löst und sie – erheblich systematischer als T. H. Marshall und Lord Beveridge – als Gesellschaftspolitik konzipiert. Welche Konturen hat eine solche die Gesellschaft aktiv gestaltende Sozialpolitik? Welchen Gefahren ist sie ausgesetzt? Auf welchen Voraussetzungen beruht sie und welche Folgen zeitigt sie? Das sind die wichtigsten Fragen, die sein Text zu beantworten sucht. H. Achinger betont an vielen Stellen seiner Schrift, dass die ‚Arbeiterfrage‘ zu Recht der Ausgangspunkt der Sozialpolitik am Ende des 19. und zu Beginn des
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20. Jahrhunderts gewesen war. Heute ist sie nicht mehr vorwiegend Arbeiterpolitik, also der Versuch, der „politisch bedrohten und in menschlich unerträglichen Verhältnissen lebenden kleinen Minderheit (hier der Industriearbeiterklasse, F.W.R.) bessere Daseinsformen zu schaffen.“149 Aber der Begriff der Arbeiterfrage erlaubte es den frühen Theoretikern der Sozialpolitik, „ihre Disziplin im Zusammenhang mit jener großen gesellschaftlichen Umwälzung, nämlich als eine bestimmte Reaktion auf diese Umwälzungen aufzufassen. (...) Überschaut man, was heute in der Sozialpolitik der Arbeit wie in der ungeheuer angewachsenen Politik der sozialen Sicherung erstrebt wird und bereits institutionell gefestigt dasteht, so wird man nicht umhin können, die Herleitung der heute für die Sozialpolitik entscheidenden Maßstäbe von der Arbeiterfrage als überholt, als nicht mehr ausreichend zu empfinden.“150
Die ‚Arbeiterfrage‘ ist nicht verschwunden, aber sie ist nur noch ein, wenn auch vielleicht wesentliches Merkmal der Sozialpolitik, aber nicht mehr konstitutiv. Vielmehr betrachtet H. Achinger die heutige Gesellschaft als eine Formation, in der alle wesentlichen sozialen und ökonomischen Beziehungen durch eine außerordentliche Unsicherheit gekennzeichnet sind. Der Begriff der Unsicherheit taucht an vielen Stellen seiner Schrift auf, er ist zentral für sein Verständnis der modernen Industriegesellschaft.151 Ebenso zentral sind Begriffe wie Beweglichkeit, Dynamik, Geschwindigkeit, mit denen er moderne Gesellschaften charakterisiert. Sozialpolitik verändert ihren Charakter und H. Achinger betont, dass „jeder einmal geschehene sozialpolitische Eingriff ein Faktum ist, ein materiell und psychologisch weiterwirkendes Faktum, ja dass der mit großer Schnelligkeit innerhalb des alten Gehäuses von Gesetzen ablaufende Steigerungsprozess der sozialpolitischen Eingriffe der Begriffswelt vorauszueilen begonnen hat. (...) (D)iese Rückwirkung beginnt bereits mit den ersten Versuchen sozialpolitischer Intervention. Sie wird aber immer deutlicher und bedeutsamer, je länger die sozialpolitischen Aktionen andauern und je mehr sie sich in Institutionen befestigen, die ihre eigenen Denkgewohnheiten ausbilden. Heute, mehr als Hundert Jahre nach den ersten Projekten, ist dieses Eigengewicht der Sozialpolitik auf allen Gebieten spürbar, ein Begreifen der heutigen Wirtschafts- und Gesellschaftsverhältnisse nicht mehr denkbar, ohne dass jener starke und sehr spezielle Einfluss der Sozialpolitik erkannt und in allen Stadien des Verlaufs verfolgt würde.“152
Durch die Industrialisierung entstehen neue und vor allem unsichere Arbeits- und Lebensformen, wobei Wanderungen vom Land in die Städte neue Arbeitsformen und neue Unsicherheiten hervorbringen, die von „flüchtige(m) Charakter“ sind. Hinzu treten neue Einkommensformen, vor allem Geld- statt Naturalleistungen, und die damit einhergehenden Wandlungen der Familie und des generativen Verhaltens. In dieser Phase richtet die Sozialpolitik ihre Bemühungen darauf, den Aufbau neuer Lebensformen nicht nur zu begleiten, sondern ihn durch die sozialpolitischen Institute erst zu ermöglichen. Zusammenfassend kommentiert er: „Allen diesen Erscheinungen ist gemeinsam, dass für den einzelnen und den Einzelhaushalt alle überkommenen Normen des Zusammenlebens, die Regeln für die Arbeit wie das
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Geflecht der familialen Pflichten, fragwürdig werden, ja ganz verloren gehen. Damit wäre bereits begründet, dass eine neue Gesellschaftspolitik versuchen müsste, an der Schaffung neuer Lebensformen mitzuwirken. Wie dieser Versuch in der besonderen Form der Sozialpolitik unternommen wurde, ist nun von den Besonderheiten der modernen Wirtschaftsgesellschaft ebenso mitbestimmt worden wie von dem Schatz der normativen Ideen, die seit der Aufklärung wirksam waren.“153
Hier wird erneut betont, dass Sozialpolitik nicht mehr allein ‚Arbeiterfrage‘ ist, sondern die Ausbildung und laufende Gestaltung neuer Lebensformen zum Gegenstand hat. Moderne Gesellschaften sind Gesellschaften, die mit einem stabilen Gerüst von politisch entschiedenen Instituten durchzogen sind und die das moderne Leben begleiten und formen. H. Achinger sieht als einer der Ersten die große Bedeutung, die Sozialleistungen bei der Stabilisierung der Massenkaufkraft haben. Was später in der keynesianistisch inspirierten Sozialpolitik zentral wird, wird hier bereits vorgedacht. Der – auch sozialpolitisch induzierte – Wohlstand der Massen wird zum Wirtschaftsfaktor. Es entsteht ein „Dauerzusammenhang“ zwischen technologischem Fortschritt, Produktionsbreite und Massenkonsum, in den die sozialen Institute fundamental eingebunden sind. Er macht deutlich, dass Sozialpolitik ein ökonomisch wichtiger Faktor ist, der in Krisenzeiten die Nachfrageseite des Wirtschaftskreislaufes in gewissem Ausmaß stabilisieren und Krisen zwar nicht verhindern, aber in ihren Auswirkungen abschwächen kann. Auch betont er den Doppelcharakter dieser neuen Sozialpolitik. Sie behält immer den Charakter von Interventionen in die Ökonomie und muss ihr jeden Eingriff, vor allem beim Arbeitsschutz und bei der sozialen Einkommensverteilung, abringen und doch zugleich auf die Ökonomie Rücksicht nehmen. Hier gerät die Sozialpolitik an Grenzen, die sie nicht überschreiten kann, ohne den Gesamtzusammenhang der Gesellschaft zu zerstören.154 Zu den geistigen Voraussetzungen der Sozialpolitik gehören nach seiner Ansicht mehrere Strömungen. Zum einen die Idee der Machbarkeit bzw. Gestaltbarkeit von Gesellschaft, denn es ist vom Menschen und von „seinem freien Willen abhängig, ob er in schlechten oder guten Verhältnissen lebt.“155 Hinzu tritt das Ideal der Gleichheitsvorstellung, die in der englischen Diskussion bei T. H. Marshall in der Idee des gleichen sozialen Wertes ihren Ausdruck gefunden hat (vgl. unten Kap. 5.4.2.). So weit geht H. Achinger nicht, aber er formuliert klar, dass „der Glaube an die Gleichheit von Personen ungleicher sozialer Stellung notwendig zu der Ansicht (führt), dass die Mehrung sozialer Ungleichheit immer ein Übel, die Minderung sozialer Ungleichheit immer ein Fortschritt sei.“156 Es ist unschwer zu erkennen, dass bei ihm die Idee des sozialen Fortschritts große Bedeutung hat und somit die planvolle und zielgerichtete Gestaltung der Zukunft. Darin eingeschlossen ist auch die Bildungspolitik, die die kulturellen und kognitiven Bausteine des sozialen Fortschritts gestalten soll. Obwohl die So-
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zialpolitik auf bestimmte Problemkonstanten trifft, die ihre Dynamik bestimmen und auf die sie reagiert, wirkt sie zugleich auf diese Strukturen und deren Dynamiken zurück. Sie setzt also ihrerseits „gesellschaftspolitische Daten (...), je länger ihre Institute und ihr geistiger Einfluss dauern.“157 Zusammenfassend ist die Sozialpolitik „ein Versuch, an der neuen Lebensform der Menschen im Industriezeitalter mitzuwirken, und sie ist, wie sich im weiteren ergeben wird, inzwischen zu einem konstituierenden Bestandteil geworden, einem Bestandteil der Wirtschafts- und der Lebensordnung wie auch der Anschauungswelt (...): jede künftige Ordnung der Wirtschaftsgesellschaft, auch diejenige, die den Forderungen der Gerechtigkeit entspricht, ist durchzogen und durchsetzt von sozialen Einrichtungen und Grundsätzen, die an die Stelle früherer Formen der Kohäsion und Kooperation getreten sind.“158
Er formuliert deutlich, dass moderne Industriegesellschaften politische Gesellschaften sind, die von einem Dauergerüst sozialer Institute durchzogen sind und das nicht mehr wegzudenken ist. Es ist für die Existenz moderner Gesellschaften konstitutiv, für ihre Formen der ‚Kohäsion und Kooperation‘, für individuelle Lebensläufe ebenso wie für das ‚Leben‘ von sozialen Gruppen und für die wichtigsten sozialen und ökonomischen Dynamiken. Die sozialpolitischen Institute erfassen die gesamte Bevölkerung und regulieren ihre komplexen sozialen Beziehungen, auch wenn der Sozialstaat selbst aus einem an der Armuts- und Arbeiterfrage orientierten Kontext entstanden ist. Sozialpolitische Institute nehmen in H. Achingers Theorie eine zentrale Stellung ein. Institute, so definiert er, sind „alle Apparaturen des Vollzugs sozialer Geld- und Sachleistungen (...), die Dauer besitzen, von einem eigenen Geist erfüllt sind und ihrerseits nach kurzer Zeit beginnen, die soziale Intention der Gesamtheit zu beeinflussen, zu deklarieren und zu steuern.“159
Diese – wie er sagt – autonomen Gebilde beginnen eine eigene Dynamik zu entwickeln, die die Wahrnehmung der sozialen Verhältnisse bestimmt. Sie führen ein Vokabular ein, das nicht mehr etwas Originäres bezeichnet, sondern eine eigene Wirklichkeit, eine Wirklichkeit „zweiter Instanz“.160 Diese Ideenwelt der Institute sieht er außerordentlich kritisch, denn sie können zu einer „Versteinerung“161 führen und die Begriffe und Einrichtungen der Sozialpolitik ins Ideologische abgleiten lassen. Die Frage ist dann, ob man diese Versteinerungen aufbrechen und die Verhältnisse zum Tanzen bringen kann – also Kontingenz in diese ideologischen Strukturen einführen kann. Er sieht eine zunehmende Stabilität und Autonomie der sozialen Apparaturen, die das ganze Jahrhundert und hierbei die verschiedensten politischen Regime überdauert haben, obwohl sie doch erst zu Beginn des Jahrhunderts entstanden sind. Die große Bedeutung der umfassenden politischen Gestaltung der modernen Gesellschaften durch Sozialpolitik ist unübersehbar, aber am Ende seiner brillanten Schrift ist seine Skepsis gegenüber der Politik nicht zu übersehen:
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„(…) offensichtlich wird die Kunst, die Gesellschaft mit politischen Mitteln zu gestalten, in großem Umfang ausgeübt. Aber diese Kunst ist noch nicht in ihren Voraussetzungen erkannt oder gar in den Weiterwirkungen des Handelns berechnet; vielfach sind sich die Akteure ihrer Reichweite kaum bewusst. Daher auch jener Glaube, man könne in gesellschaftlichen Dingen dies und jenes nacheinander isoliert aufgreifen und ‚lösen‘, ohne andere Wirkungen auszulösen, die niemand gewollt hat. Daher auch die heute international dominierende Meinung, das einfachste Mittel, die Einkommensumverteilung nämlich, sei tatsächlich das dominierende Werkzeug des sozialen Fortschritts. Daher auch die Blindheit gegenüber tiefer wurzelnden Krankheiten der Industriegesellschaft, etwa der schweren Bedrohung der Kindheit, daher das Unverständnis für Frauen- und Familienfragen, für nicht summierbare, für spezifische, regionale, nicht rational-juristisch faßbare Gegebenheiten.“162
Hier formuliert er seine großen Sorgen gegenüber den Akteuren der Sozialpolitik, die möglicherweise keine neuen Leitlinien, keine neuen normativen Ideen oder Grundrichtungen suchen, wie die Sozialpolitik der Gegenwart aussehen sollte. Es erstaunt, dass in dem Büchlein zwar den Interessengruppen und Verbänden ein großer Stellenwert eingeräumt wird, wohingegen die politischen Parteien als zentrale Akteure der Sozialpolitik geradezu stiefmütterlich behandelt werden. Sie werden kaum erwähnt, geschweige denn ihre Rolle und Bedeutung in der Politik des Sozialen systematisch entwickelt. Aber er betont immer wieder, dass Sozialpolitik faktisch – wenn auch oft über unbeabsichtigte Nebenwirkungen – die sektorale Einteilung der Politik in spezifische Politikfelder übergreift. Sie hat sich zu einer „tiefgreifende(n) Gesellschaftspolitik“163 gewandelt, die die Lebensverhältnisse und Einkommenspositionen aller Mitglieder der Gesellschaft positiv oder negativ berührt und zugleich kontingent setzt. Das Leben ist fundamental ‚zweischalig‘ geworden. Es gibt das immer weiter schrumpfende genuine Leben ohne den (Sozial-)Staat und dann das Leben, das durch sozialstaatliche Maßnahmen – in welcher Form auch immer – begleitet und eingerahmt wird. Letztere ‚Schale‘ ist konstitutiv für das moderne Leben, sie lässt sich nicht mehr wegdenken. Sie signalisiert, wie weit das Leben bereits verpolitisiert ist und dass wir in ‚politischen Gesellschaften‘ (M. Th. Greven) leben, die von einem massiven und dauerhaften, gleichwohl kontingenten Gerüst (sozial)staatlicher Regelungen und Institutionen durchdrungen sind. Gesellschaft als politiklose Gesellschaft ist nicht mehr denkbar, nicht einmal mehr in den einfallslosesten Phantasien weltfremder Soziologen oder Ökonomen.
5.7.2. Die Politik des Sozialen als aktive Gesellschaftssteuerung Seit H. Achingers Buch wissen wir um die Bedeutung der Sozialpolitik für die Einkommens- und Lebensverhältnisse aller Mitglieder der modernen Gesellschaften (vgl. oben Kap. 5.7.1.). Ende der 70er Jahre hat diese Vorstellung eine Radi-
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kalisierung erfahren, die die Ansprüche an die Politik des Sozialen fast ins Unerreichbare steigerte. Sozialpolitik soll nicht mehr nur aktive Gesellschaftspolitik sein, sondern aktive Gesellschaftssteuerung. Steuerung setzt immer eine bestimmte Zielgröße voraus, auf die hingesteuert werden soll. Im Kontext von Gesellschaftsteuerung ist die Konstruktion eines Zielsystems für die Gesellschaft eine im Kern unlösbare Aufgabe für die politischen Planer. Gleichwohl waren die Protagonisten der gesamtgesellschaftlichen Steuerung Ende der 70er und Anfang der 80er Jahre nicht nur prominent, sondern auch äußerst optimistisch. Viele Sozialwissenschaftler sowie politische Planer in den jeweiligen Ministerien waren von dieser Idee fasziniert. Zwei Faktoren haben hierbei eine große Rolle gespielt. Zum Einen die zunehmende Prominenz keynesianischer Ideen, bei denen die Sozialpolitik zentral war. In ökonomischen Krisen kann durch staatliche Politik die Nachfrageseite des Marktes gestärkt werden, indem der Staat selbst durch Investitionen oder andere ökonomische Anreize die Nachfrage nach Gütern und Produkten stabilisiert oder gar stärkt und so eine antizyklische Wirtschaftspolitik realisiert. Neben massiven staatlichen Investitionen, die meist mit einer hohen Staatsverschuldung einhergingen, spielten auch die Einkommen der Beschäftigten eine wichtige Rolle. Sowohl direkte Lohnzahlungen als auch die ‚Quasi-Einkommen‘ der sozialen Sicherungssysteme waren nach der keynisianischen Theorie nicht mehr nur einzelwirtschaftliche Kostenfaktoren, sondern zugleich gesamtwirtschaftlich bedeutende Nachfragevariablen, die man politisch gestalten konnte. Steigende soziale Sicherungsleistungen, die Beseitigung sozialer Ungleichheiten, gewerkschaftlich durchgesetzte oder staatlich entschiedene Lohnsteigerungen ließen sich nun durch ökonomische Funktionalitäten rechtfertigen.164 Dem Bedeutungswandel der Sozialpolitik ging ein Wandel des Staatsverständnisses voraus. Der Staat wurde nun als Bestandteil des gesamtwirtschaftlichen Kreislaufs gedacht, der die Marktmechanismen ergänzte, die bei bestimmten Sachverhalten oder bei ökonomischen Krisen versagten. Besonders deutlich wurde das bei der Erfüllung gesamtgesellschaftlich relevanter Sachverhalte, wie beispielsweise bei Vollbeschäftigung und Preisstabilität. Politische Entscheidungen mussten sich verstärkt auf makro- wie mikroökonomische Ziele beziehen, wodurch sich die Komplexität des staatlichen Handelns enorm erhöhte. Die Verwissenschaftlichung der Politik war die unausweichliche Folge, die durch die Einsetzung von Sachverständigenkommissionen und durch wissenschaftliche Politikberatung vorangetrieben wurde. Aber auch die Politik bzw. staatliche Behörden schufen sich selbst ein informationstechnisches Instrumentarium, um politische Entscheidungen rationaler und zielangemessener treffen zu können. Zum zweiten und parallel dazu konnte man eine Informationalisierung der Politik beobachten, die in Prognose- und Simulationsmodellen, Frühwarnsystemen, computergestützter volkswirtschaftlicher Gesamtrechnung, datenbasierten Entscheidungssystemen u. ä. ihren Ausdruck fand. Die Entwicklung leistungs-
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starker Computer war eine der zentralen Voraussetzungen für die Realisation dieser Ideen. In diesem Zusammenhang wurden auch gesamtgesellschaftliche Zielsysteme entwickelt, die allgemeine Wertvorstellungen wie soziale Gerechtigkeit, Wohlstand, Verteilungsgerechtigkeit und Zukunftsgestaltung präzisierten und quantifizierten. Dies gelang mittels hochkomplexer Indikatorensysteme, die diese normativen Prämissen nachbildeten und messbar machten. Konzepte einer aktiven Gesellschaftssteuerung und einer integrierten Sozialpolitik wurden nun in der Politik und in den Politik- bzw. Sozialwissenschaften prominent.165 Dass sich damit verbundene Hoffnungen – insbesondere in der Bundesrepublik – nicht erfüllt haben und diese Konzepte inzwischen stillschweigend beerdigt wurden, ist eine andere Geschichte, die nicht unerwähnt bleiben darf. Eine integrierte, zukunftsorientierte und (deshalb) rationale Sozialpolitik musste zwei Dimensionen umfassen. Die externe Rationalisierungsstrategie bezog sich auf das Verhältnis der Sozialpolitik zu anderen Politikbereichen, vor allem zur Wirtschaftspolitik. Die Sozialpolitik ist wie kaum ein anderes Politikfeld äußerst eng mit dem ökonomischen System verkoppelt; in der traditionellen Sicht kompensiert sie die von ihm produzierten Probleme und ist somit reaktiv. Sozialpolitik hatte nach dieser Sicht strukturerhaltenden Charakter. Eine steuernde bzw. aktive Sozialpolitik sollte diesen Abhängigkeiten entgegensteuern und sich der „Bekämpfung von Ursachen“ und der „vorbeugenden Verhinderung“ sozialpolitischer Problemlagen zuwenden.166 Da das finanzielle Aufkommen der sozialen Sicherungssysteme über die Beitragsfinanzierung eng an die Dynamiken des ökonomischen Systems gekoppelt ist, ist eine rationale Abstimmung von Wirtschafts-, Finanz-, Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik mit der Sozialpolitik unabdingbar.167 Mit einer solchen Rationalisierung – so eine weitere Erwartung – könnte auch eine einseitige Interessenformulierung in der Sozialpolitik aufgehoben und zugunsten einer rationalen und an gesamtgesellschaftlichen Werten orientierten Sozialpolitik ersetzt werden. Computergestützte Informations- und Indikatorensysteme könnten die Bedürfnis- und Problemlagen der Bevölkerung repräsentativ ermitteln und Politik diese zielgerichteter bearbeiten. Die interne Rationalisierung wollte die historisch entstandene und deshalb erratische Struktur der sozialen Sicherungssysteme überwinden und konsistente Ordnungsmuster in sie einbauen. Unumstritten war zur damaligen Zeit das Fehlen einer sozialpolitischen Gesamtkonzeption für die sozialen Sicherungssysteme. Eine Neu- und Umformung der bisherigen sozialpolitischen Systeme konnte nur von einer klaren Bestimmung des Ziels ausgehen, auf das hin alle Maßnahmen, Programme und einzelne Policies ausgerichtet und geplant wären. Dieses übergeordnete Leitbild konnte nur das einer integrierten, zukunftsorientierten und aktiven Sozialpolitik sein. Als Integration wurde damals „der geplante und gesteuerte Prozess der rationalen Abstimmung von Zielen und Instrumenten von zwei oder mehreren Programmen eines Politikbereiches (= interne Integrati-
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5. Die Politik des Sozialen on) oder von zwei oder mehreren Politikbereichen (= externe Integration) verstanden. Integration beruht insbesondere auf einer gewollten und kontrollierten Beobachtung der Verflechtung, d. h. der Auswirkungen eines Bereichs auf den anderen und der Rückwirkung des zweiten auf den ersten Bereich. Da diese Interaktionen über Zeit stattfinden, müssen die Verflechtungen zum selben Zeitpunkt und zu unterschiedlichen Zeitpunkten beachtet werden.“168
Eine Konsequenz aus dieser Vorstellung war die Reduktion der Anzahl möglicher Ziele. Wenn weniger Ziele mit einer gleichbleibenden oder gar steigenden Anzahl von Mitteln bzw. Instrumenten verfolgt werden können, so erhöhen sich die „Freiheitsgrade und damit die Steuerungsfähigkeit des Systems.“169 Unschwer ist die technokratische Dimension und zugleich der utopische Charakter dieses Politikverständnisses zu erkennen. Der Blick auf den Bildschirm eröffnet den Blick auf die Gesamtgesellschaft, auch wenn diese in endlosen Datenkolonnen am Auge des Beobachters und Simulators vorbeizieht. Aber dieser Blick eröffnet völlig neue Perspektiven bzw. Phantasien, wie man diese computergestützten Simulationsmodelle durch Variation einzelner Parameter in Bewegung setzen und die dadurch bewirkten Dynamiken beobachten kann. Dies schien die perfekte Herstellung der Zukunft, man sieht exakt und präzise die Wirkungen bestimmter politischer Maßnahmen, heruntergebrochen auf einzelne soziale Gruppen oder Einkommenspositionen. Der Blick auf den Bildschirm und der Blick in die Zukunft werden identisch. Allerdings nur unter der nicht bewiesenen Prämisse, dass das Modell und die ihm unterstellten und programmierten Interaktionen und Dynamiken mit den tatsächlichen in der hochkomplexen Wirklichkeit übereinstimmen. Ist allerdings ein Computersimulationsmodell vorhanden, so wird es mit seiner Hilfe möglich, „die Auswirkungen diverser integrierter Politiken durchzuspielen und ihre Effizienz schon in der Planungsphase beurteilen zu können.“ Es könnte „einen Großteil der kostenwirksamen staatlichen Aktivitäten auf ihre Nachfrage-, Produktions-, Beschäftigungs-, Preisund Einkommenswirkungen hin untersuchen. Dies gilt auch für implizite Transfers, die beispielsweise im Einkommenssteuerrecht eingebaut sind, und für staatliche Realtransfers.“170
Erneut wird deutlich, welch ungeheuer große Erwartungen und Ansprüche an computergestützte Planungs- und Simulationsmodelle geknüpft waren. Der Siegeszug des Keynesianismus in den Wirtschaftswissenschaften und der verstärkte Einsatz der Informationstechnologien in der Politik waren zwei Seiten eines Gesamtprozesses, die sich gegenseitig beeinflusst und bedingt haben. Wie in fast keinem anderen Politikbereich konnte man beobachten, wie intensiv sich die Vorstellung einer zielgerichteten und zukunftsorientierten Politik festgesetzt hatte. Unzählige Sozialwissenschaftler und Informatiker programmierten während dieser Zeit mit der festen Überzeugung an computergestützten Simulati-
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251
ons- und Planungsmodellen, dass die Zukunft durch politische Entscheidungen aktiv und zielgerichtet gestaltet werden könnte. Die Gesamtgesellschaft und ihre dynamischen Interkationen konnten nicht nur an den flimmernden Bildschirmen beobachtet werden, sondern man konnte auch die Wirkungen bestimmter Maßnahmen in der Zukunft sehen. Welch ein Traum wurde hier geträumt! Es war der Traum der vollkommenen Verfügbarkeit der Welt für die politischen Entscheider.
5.7.3. Die Entstehung und Auflösung von Typen von Wohlfahrtsstaaten Die Intensitäten der Politiken des Sozialen ändern sich nicht allein im Zeitverlauf, sondern sind auch in einzelnen Ländern zu bestimmten Zeitpunkten unterschiedlich intensiv. Als Folge davon entstehen nicht nur sehr unterschiedliche Wohlfahrtsstaaten, die die Diversität und erstaunliche Spannbreite der Politiken des Sozialen verdeutlichen. Man kann zudem – das war eine große Neuerung in den 1980er Jahren – zwischen verschiedenen ‚Welten von Wohlfahrtskapitalismen‘ und Typen von Wohlfahrtsstaaten unterscheiden. Damit verbunden war die Hoffnung, nicht allein die Sozialausgaben als zentralen Indikator für den Vergleich der sozialen Politiken zu nehmen, sondern ‚tiefer‘ in deren Strukturen und Dynamiken zu blicken. Andere dagegen haben darauf bestanden, dass „typologizing (...) is the lowest form of intellectual endeavour, parallel to the works of bean-counters and bookkeepers.”171 Das ist nicht sehr freundlich formuliert und so trivial ist das Geschäft der Typenbildung dann doch nicht. Wie dem auch sei, im Jahr 1990 erschien ein Buch des dänischen Soziologen Gøsta Esping-Andersen, das ein neues Fenster öffnete und den Blick auf die Welt der Politik des Sozialen grundlegend änderte. Sein Blick reduzierte die unübersehbare Vielfalt der nationalen Ausprägungen auf allein „(t)hree worlds of welfare capitalism.“172 Es eröffnete zugleich eine völlig neue Perspektive, denn nun konnte man durch diese Brille auf Typen blicken, die nach drei Merkmalen unterschieden wurden. Die Kriterien, auf denen er sein Unterfangen gründete, waren nicht immer ganz klar und sind in seinen empirischen Untersuchungen auch nicht immer konsequent umgesetzt. Aber seine Ausgangsprämisse war offensichtlich: Inwieweit entfernt eine politisch entschiedene, soziale Position die Menschen von den Abhängigkeiten des Arbeitsmarktes bzw. dem des Verkaufs der Ware Arbeitskraft und inwieweit können sie ein Leben jenseits des Arbeitsmarktes, allein mittels sozialer Leistungen, realisieren? Sein Begriff hierfür war Dekommodifizierung und er hält fest: „(…) to emancipate workers from market dependency (…) required a major realignment of social policy, including two basic changes: first, the extension of rights beyond the narrow terrain of absolute need; and second, the upgrading of benefits to match normal earnings and average living standards in the nation. In reference to the former, what mat-
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5. Die Politik des Sozialen tered especially was the introduction of a variety of schemes that permit employees to be paid while pursuing activities other than working, be they child-bearing, family responsibilities, reeducation, organizational activities, or even leisure. Such programs are, in spirit, truly de-commodifying.“173
Dekommodifizierung bezeichnet somit einen Status, in dem Einkommens- und Verteilungsfragen vom Markt entkoppelt sind und so die Position der Arbeiter gegenüber der Verfügungsgewalt der Unternehmer stärkt. Dekommodifizierung hat auch eine politische Dimension, weil sie die Solidarität der Arbeiter begünstigt und ihre Widerstandskräfte gegenüber dem Kapital erhöht. Diese klassenkampf-politische Dimension – dies wird bei G. Esping-Andersen nicht wirklich klar – wird durch politische Entscheidungen positiv oder eher negativ ausgestaltet. Dekommodifizierung ist das Ergebnis politischer Auseinandersetzungen und unterstellt, dass die Stärke der Arbeiterbewegung und/oder der sozialistischen bzw. sozialdemokratischen Parteien in den Parlamenten über das Ausmaß der Dekommodifizierung entscheidet. Die Welten der Wohlfahrtskapitalismen werden noch durch zwei weitere Dimensionen beeinflusst. Eine ist Stratifizierung, das heißt die Strukturmuster der sozialen Beziehungen, die in einer Gesellschaft bestehen und selbstverständlich auch von sozialpolitischen Entscheidungen abhängen. „Der Wohlfahrtsstaat ist nicht allein ein Instrument zur Beeinflussung und gegebenenfalls Korrektur der gesellschaftlichen Ungleichheitsstruktur. Er stellt vielmehr ein eigenständiges System der Stratifizierung dar, indem er in aktiver und direkter Weise soziale Beziehungsmuster ordnet.“174
Eigenständige soziale Sicherungssysteme für Arbeiter, Angestellte und Beamte differenzieren die Bevölkerung in bestimmte ‚Klassen‘ und spalten die Bevölkerung. Ähnliches geschieht durch die Trennung von (Armen-)Fürsorge und Sozialversicherung, die jeweils sehr unterschiedliche Anspruchsvoraussetzungen und Leistungsniveaus formulieren. Umgekehrt vereinheitlichen staatsbürgerorientierte soziale Sicherungen die Mitglieder einer Gesellschaft (vgl. dazu ausführlich Kap. 5.6.) Schließlich spielt die Mischung aus staatlichen und privaten (Ver)Sicherungen eine große Rolle, weil private Versicherungen nach völlig anderen Maßstäben ihre Beiträge und davon abgeleitete Leistungen bemessen als staatliche (Sozial)Versicherungen.175 Später differenziert er dieses Merkmal und betrachtet weit stärker die Trias von Staat, Markt und Familie und deren konkretes Zusammenoder auch Gegeneinanderwirken. Welche drei Typen bzw. welche drei Welten von Wohlfahrtskapitalismen kann man nun unterscheiden? G. Esping-Andersen identifiziert mit Daten aus den 80er Jahren liberale, konservative und universalistische Wohlfahrtsstaaten.176 Liberale Wohlfahrtsstaaten haben den geringsten Dekommodifizierungsgrad und sind gekennzeichnet durch bedarfsgeprüfte Sozialfürsorgeleistungen, niedri-
5.7. Die Politik des Sozialen in modernen Wohlfahrtsgesellschaften
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ge universelle Transferleistungen und bescheidene Sozialversicherungsprogramme. Hier dominiert die Vorstellung, dass die Menschen auf marktbasierte Einkommenspositionen verwiesen sein sollen und dass staatliche Leistungen eher ergänzend und nur unter strikten Bedürftigkeitsprüfungen gewährleistet werden. Private Versicherungen gegen soziale Risiken werden oft durch staatliche Subventionen begünstigt. Die USA, Kanada und Australien waren damals die typischen Vertreter, abgeschwächt aber auch die Schweiz und Großbritannien, wobei die Einordung der beiden zuletzt genannten Länder äußerst umstritten ist. Konservative Wohlfahrtssaaten befinden sich in einer ‚mittleren‘ Position. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie die Gewährung von sozialen Leistungen an den Erwerbsstatus knüpfen und sich die Höhe der staatlichen Sozialleistungen an den auf dem Arbeitsmarkt erzielten Einkommen orientiert. Insofern erhalten sie die Einkommensdifferenzierungen des Arbeitsmarktes weitgehend aufrecht und ‚transportieren‘ sie in den Wohlfahrtsstaat. Der Wohlfahrtsstaat wird so zum Generator sozialer Ungleichheit und produziert das, was als Stratifizierung bezeichnet wird. Verstärkt wird dies durch die berufsständische Gliederung der sozialen Sicherung. Beamte, freie Berufe, Selbständige und andere soziale Gruppen verfügen über eigenständige Systeme der sozialen Sicherung, vor allem in der Alterssicherung. Dies stärkt unübersehbar die Stratifizierung. Schließlich spielt in diesem Typus die Familie eine zentrale Rolle. Sein Leitprinzip ist Subsidiarität, das besonders für den bundesdeutschen Wohlfahrtsstaat prägend war und ist. So wird beispielsweise die staatliche Fürsorge in der Sozialhilfe nur dann gewährt, wenn der Rückgriff auf Verwandte ersten Grades keine Ressourcen für die Betroffenen erschließt. Ihre Unterstützung ist primär, die des Staates tritt erst sekundär, besser subsidiär ein. Die traditionelle Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau wird durch diesen Typus unterstützt, weil Frauen, vor allem nicht-erwerbstätige Frauen, zwar keine eigenständige Sicherung haben, aber über den Erwerbsstatus der Männer mittels abgeleiteter Leistungen gesichert sind. Kostenfreie Mitversicherung von Frauen und Kindern in der gesetzlichen Krankenversicherung und Witwenrenten, die sowohl vom Grund als auch der Höhe von der Erwerbsarbeit des Mannes abhängig sind, sind hierfür typisch. Die Bundesrepublik verkörpert diesen Typus vielleicht am klarsten, aber auch Belgien, Frankreich, Italien und Österreich gehören dazu. Universalistische Wohlfahrtsstaaten knüpfen ihre Sozialleistungen an den Staatsbürgerstatus und nicht an lohnzentrierte Erwerbsarbeit. Alle wesentlichen Leistungen werden ohne vorangegangene Beitragszahlungen gewährt und infolgedessen fast exklusiv aus Steuermitteln finanziert. „(Universalismus heißt): Alle Bürger werden, unabhängig von ihrer Klassenzugehörigkeit oder Marktstellung, mit ähnlichen Rechten ausgestattet.“177 Auf diese besteht ein unbedingter Rechtsanspruch und kein subsidiärer. Der Kern der sozialen Sicherung besteht in einer materiellen Grundsicherung im Falle von Krankheit, Alter, Invalidität und Ar-
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beitslosigkeit, wobei dies durch ein ausgebautes und gut organisiertes System von Dienstleistungen ergänzt wird. Die Stellung der Frauen ist von der in konservativen Wohlfahrtsstaaten erheblich unterschieden. Es gibt ein umfassendes System der Kinderbetreuung, das den Frauen Erwerbsarbeit ermöglicht und sie ist auch – im Vergleich mit den konservativen – erheblich ausgeprägter. Zum anderen bietet der öffentliche Dienst ein erhebliches Arbeitskräftepotential an gut abgesicherten Teil- und Vollzeiterwerbsplätzen, in denen vorwiegend Frauen beschäftigt sind. Abgeleitete soziale Sicherung von Frauen, die dem Grunde und dem Inhalt nach von den (Ehe)Männern abhängt, spielt eine untergeordnete Rolle, weil wichtige soziale Rechte am Staatsbürgerstatus anknüpfen und nicht als abgeleitete institutionalisiert sind. Die nordischen Wohlfahrtsstaaten, konkret Schweden, Dänemark, Norwegen und – wenn auch umstrittener – Finnland verkörpern diesen Idealtypus. Jeder dieser drei Typen entsteht durch Politik und es ist nun zu fragen, welche Politik des Sozialen welchen Typus hervorbringt und welche politischen Kräfte G. Esping-Andersen hierfür ‚verdächtigt‘. Seine Antwort ist eindeutig und zugleich kausal: Je größer die parlamentarischen und exekutiven Machtressourcen von linken Parteien sind, desto ausgeprägter ist der Dekommodifizierungsgrad und je universalistischer der wohlfahrtskapitalistische Typus. Seine Indikatoren hierfür sind der Anteil linker Parteien an Parlamentssitzen und die Anzahl der Kabinettssitze dieser Parteien. Ein weiterer Faktor tritt hinzu: Je höher die Seniorenquote eines Landes, desto universalistischer ist die wohlfahrtsstaatliche Ausprägung. Verstärkt wird dies durch historische Pfadabhängigkeiten, wobei die Staaten eine intensivere Politik des Sozialen betreiben, die staatsabsolutistische Traditionen aufweisen. Selbstverständlich entzündeten sich an den Grundprämissen seines Konzepts kontroverse Diskussionen, die ich hier nicht in aller Ausführlichkeit wiedergeben will.178 Erwähnt sei nur, dass G. Esping-Andersen etwas vorschnell von programmatischen Politikprämissen auf deren umstandslose Realisation in Policies ausgeht, während Entscheidungen auch nicht-intendierte Folgen haben können und Programm und Policy nie eins-zu-eins übereinstimmen.179 Zudem unterstellt er eine erstaunliche Trägheit der einmal entstandenen Typen, die sich aber im Zeitverlauf ändern können.180 Dies gilt gerade für die sozialpolitischen Dynamiken, die vor allem am Endes des Jahrhunderts die reinen Typen auflösen und rekombinante Welten des Wohlfahrtskapitalismus entstehen ließen (vgl. dazu unten Kap. 5.8.2.). Mit erstaunlicher Leichtigkeit verlassen sie nicht nur unterstellte Pfadabhängigkeiten, sondern rekombinieren auch problemlos typische Merkmale von liberalen, konservativen und universalistischen Regimen zu immer neuen Formen, bis sich eine neue spezifische Mischung ergibt, die sich seiner Typologisierung entzieht.181 Auch wurden zwei neue Typen identifiziert, die seine Dreiertypologie erweitern sollten. Zum einen rudimentäre Wohlfahrtsregime, die einen
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starken landwirtschaftlichen Produktionssektor haben und in denen Kommodifizierung noch nicht dominant geworden ist. Portugal und Spanien wurden in den 80er und 90er Jahren dazu gezählt.182 Auch wurde später der postsozialistische Typus identifiziert, der in den Nachwehen der Transformationen zur Demokratie in den ehemals sozialistischen Staaten entstanden ist. Dessen Konturen haben sich noch nicht klar ausgebildet und kombinierten oft Reste der sozialistischen Wohlfahrtsregime mit stark reformierten Sektoren.183 Schließlich wird G. EspingAndersen aus feministischer Sicht Geschlechterblindheit vorgeworfen.184 Die Kategorie der Dekommodifizierung setzt vorangegangene Kommodifizierung voraus, also die Marktgängigkeit der Ware Arbeitskraft. Dies ist in vielen Wohlfahrtsstaaten ein männliches Privileg, während Frauen diese Voraussetzungen wegen Kindererziehung, anderer familiärer Tätigkeiten oder geringerer beruflicher Qualifikation oft nicht erfüllen. Die von G. Esping-Andersen eingeführte Typologie hat den Blick auf verschiedene Typen von Wohlfahrtsstaaten und ihre konstitutiven Merkmale gelenkt, aber auch die politischen Dynamiken bei deren Entstehung ansatzweise untersucht. Aber die Schlüssel für eine genauere Analyse der Politik des Sozialen hat er nicht im Detail entwickelt und auch nicht umfassend geklärt. Aber er hat verdeutlicht, dass in der empirischen Analyse der Politiken des Sozialen der Schlüssel für Entstehung, Stabilisierung und Wandel von Wohlfahrtsstaaten bzw. Typen von Wohlfahrtskapitalismen liegt.
5.8. Von der Gestaltung des Sozialen zur (Selbst)Steuerung von Systemen: Die Sozialpolitik zweiter Ordnung, die Entstehung rekombinanter Wohlfahrtsstaaten und das Problem der Exklusion Am Ende des Jahrhunderts sind wir mit Politiken des Sozialen konfrontiert, denen die zielgerichtete, an normativen Prämissen orientierte Gestaltung des Sozialen abhanden gekommen ist. Stattdessen haben die politischen Entscheider von diesen anspruchsvollen Konzepten Abschied genommen und sich auf reaktive Politiken zurückgezogen. Zwei Faktoren mögen dafür verantwortlich sein. Zum einen globale Dynamiken, die sich im Kontext oder auch als Folge der zunehmenden Globalisierung aller ökonomischen, sozialen und politischen Prozesse ergeben haben. Politik kann dann nicht mehr auf mögliche Ursachen von sozialen Problemen zurückgreifen, weil diese außerhalb des Zugriffsradius der nationalen Politiken liegen. Die Europäisierung oder Globalisierung der Politik hinkt weit hinter den Geschwindigkeiten her, mit denen sich diese Prozesse vollziehen. Sie kommt nicht nur immer zu spät, weil die Problemkonstellationen längst weitergezogen sind. Sie kommt auch nicht mehr an die möglichen Ursachen heran, weil sich diese auf die transnationale Ebene verlagert haben.
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Zum anderen Resignation, die sich im Bewusstsein der denkenden Politiker oder politischen Denker ausgebreitet hat und zu einem nie explizit diskutierten Hintergrund des politischen Entscheidens geworden ist. Die Komplexität der gesellschaftlichen Verhältnisse ist so überwältigend und die Leichtfertigkeit der Politik so gravierend, dass die Selbststeuerung von bestimmten Institutionen oder Organisationen als rationale Option im Gegensatz zur rational angelegten politischen Steuerung angesehen wird. Selbststeuerung ist dann der Mechanismus, über den ‚Systeme‘ Anpassungen an Variationen von externen Faktoren selbstständig vollziehen. Es ist der perfekte Reaktionsmechanismus, weil sich alle Anpassungen ohne Hinzutun von Akteuren vollziehen und Re(a)gieren automatisiert wird. Die Politik des Sozialen verliert ihren Gegenstand: Während sie es bisher entsprechend dem Anspruch aller Beteiligten mit der umfassenden Gestaltung von Lebenslagen durch normativ orientierte und/oder zielgerichtete Politiken zu tun hatte, richtet sie sich nun auf die Stabilisierung von Systemen. Selbststeuerung als Entpolitisierung, die politische Produktion von rekombinanten Wohlfahrtsstaaten und die Ausbildung von Wettbewerbsstaaten transformieren die Sozialpolitik erster Ordnung in eine Sozialpolitik zweiter Ordnung185, die von grundlegend anderen normativen Prämissen angeleitet wird. Nicht mehr die politische Ausbildung von gentlemen im Marshallschen Sinne steht nun im Zentrum der Politik des Sozialen, sondern die situative, reaktive und vorwiegend finanzielle Stabilisierung eines bestehenden Institutionengebildes der sozialen Sicherung. Zeitorientierte Reaktivität dominiert dann das Alltagsgeschäft der Politiktreibenden. Ich will dies an vier Beispielen verdeutlichen: Der Einführung der Selbststeuerung in der gesetzlichen Rentenversicherung, nicht nur, aber vor allem in Deutschland (Kap. 5.8.1.). Eine Analyse der Gründe der bereits erwähnten und politisch induzierten Auflösung von Typen von Wohlfahrtsstaaten folgt (Kap. 5.8.2.) und wird durch die Beobachtung des Wandels vom Wohlfahrtszum Wettbewerbsstaat ergänzt (Kap. 5.8.3.). Stellt durch diese Dynamiken die Sozialpolitik von einem Instrument der Inklusion zu einem der Exklusion um? Vor allen in den Staaten der Dritten und Vierten Welt, aber auch in den modernen Industrie- und Wohlfahrtsstaaten wird Exklusion als neues Phänomen beobachtet, das durch staatliche Sozialpolitiken nicht verhindert, sondern womöglich begünstigt wird (Kap. 5.8.4.).
5.8.1. Selbststeuerung in der Sozialpolitik: Das Beispiel der Rentenreform 1989 in der Bundesrepublik und andere Beispiele Am 9. November 1989 verabschiedete der Bundestag in zweiter und dritter Lesung das Gesetz zur Reform der Gesetzlichen Rentenversicherung (Rentenreformgesetz 1992) – zur gleichen Zeit wurde die Deutsch-Deutsche Grenze geöff-
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net und damit die Teilung Deutschlands beendet. Die versehentlich erfolgte Grenzöffnung hat ohne Frage eine viel weitreichendere Bedeutung als das am gleichen Tag verabschiedete Rentenreformgesetz. Aber für eine Sozialpolitik zweiter Ordnung war dieses Gesetz eine ‚Grenzöffnung‘, weil zum ersten Mal in der Geschichte der Sozialpolitik der Prototyp eines sich selbst steuernden Systems der sozialen Sicherung konstituiert wurde. Seither gab es viele analog gefasste Gesetze, die die europäische Sozialpolitik immer mehr zu dominieren beginnen und einen grundlegenden Wandel der Politik des Sozialen signalisieren. Die Lawine ins Rollen gebracht hat ein Gesetzentwurf der SPD aus dem Jahr 1984. In den gesamten 80er Jahren wurden Reformen der gesetzlichen Rentenversicherung von allen wichtigen Akteuren diskutiert und verschiedenste Vorstellungen konkurrierten in der Öffentlichkeit. 186 Hintergrund waren die erwarteten demographischen und sozialen Veränderungen, die den damaligen Computersimulationen zufolge zu erheblichen Finanzierungsproblemen führen mussten. Ebenso wichtig waren aber auch politische Faktoren. Sozialpolitik, insbesondere aber Rentenpolitik, ist immer auch Wahlpolitik und die Rente, konkret Rentenanpassungen, war immer auch ein Instrument der gerade regierenden Koalitionsparteien, sich durch Rentenerhöhungen die Gunst der RentnerInnen bei bevorstehenden Parlamentswahlen zu sichern. Zudem schwebte über allen Beteiligten das sogenannte „Rentendebakel“ des Jahres 1976. Entgegen vieler Warnungen und computergestützten Berechnungen hatte die damalige sozial-liberale Bundesregierung an einer Rentenerhöhung von 11 % festgehalten. Änderungen im Rentenrecht vor der damaligen Bundestagswahl anzukündigen erschien den Politikern und Wahlkampfplanern als geradezu selbstmörderisch. Aber nach der Wahl war man – erwart- und vorhersehbar – mit geradezu dramatischen Finanzierungsproblemen der GRV konfrontiert, auf die man dann unmittelbar reagieren musste: Die übliche Rentenanpassung wurde verschoben und durch andere Kürzungsmaßnahmen ergänzt. Die CDU-Opposition und die Sozialverbände beschuldigten die Regierung der „Rentenlüge“, dem „Betrug am Wähler“, einem „Vertrauensbruch“ u. Ä. und die innerparteilichen Konflikte in den Regierungsparteien waren immens. Dies alles hat bei einer Minderheit in den Parteien zu Überlegungen einer Entpolitisierung der Politik der Rente geführt, weil die Versuchungen der Sozialpolitik als Wahlpolitik unübersehbar waren und auch für die Zukunft nicht ausgeschlossen werden konnten. Die angemessene Entpolitisierung sah man in der Selbststeuerung der GRV, die quasi-automatisch auf Veränderungen ihrer Umwelt reagiert. Dazu sollten die wesentlichen Größen, die die Finanzentwicklung bestimmen, so miteinander verkoppelt werden, dass die finanzielle Stabilität des in Umlage finanzierten Systems auch bei externen Turbulenzen erhalten bleibt. Beitragssatz, Bundeszuschuss und Rentenanpassung sollten in der Rentenanpassungsformel so miteinander verkoppelt werden, dass immer Stabilität gegeben ist. In dem 1984 von der oppositio-
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nellen SPD in den Bundestag eingebrachten Gesetzentwurf hieß es, dass die drei eben erwähnten Größen so miteinander verbunden werden sollten, dass „sich das Rentenversicherungssystem (…) auch bei Änderungen der ökonomischen und demographischen Rahmenbedingungen nach einer gesetzlich im Voraus festgelegten Form stabilisiert, ohne dass Eingriffe des Gesetzgebers notwendig werden.“187
‚Ohne Eingriffe des Gesetzgebers‘ – das war die nun zentrale Formel. Bisher hatte der Gesetzgeber relativ unabhängig von allen kontextuellen Rahmenbedingungen sowohl den Beitragssatz als auch die Höhe der Rentenanpassung und die Höhe des Bundeszuschusses per Gesetz bestimmt. Nun sollte das nicht mehr möglich sein, sondern alle Größen sollten sich aus einer neuen Rentenformel automatisch ergeben und durch Rechtsverordnung des Ministeriums umgesetzt werden. Der Handlungsspielraum der Politik wird dadurch auf Null reduziert; diese Selbstentmächtigung musste sich aber die Politik selbst auferlegen. Dies erfolgte im Jahr 1989 im Rahmen der sogenannten Rentenreform ’92. Hier wurde die Idee zum Gesetz. Bei der Lektüre der Begründung zum Gesetzentwurf drängt sich der Eindruck eines überbordenden Sicherheitsbedürfnisses der ministeriellen Verfasser auf, die das Rentensystem gegenüber Veränderungen durch die Umwelt und durch die Politik immunisieren wollten. Zentral wurde dann die Vorstellung einer autonomen, sich ohne Politik vollziehenden Selbststabilisierung des Systems. Eine längere Passage aus der Begründung zum Gesetzentwurf soll dies verdeutlichen: „Schließlich bewirkt die selbstregulierende Verbindung von Beitragssatz, Bundesbeitrag und Rentenanpassung, dass deren Werte sich von selbst und nicht erst aufgrund von neuen Abwägungs- und Entscheidungsprozessen des Gesetzgebers ergeben. Dann ist es auch folgerichtig, dass diese Werte nicht durch ein Gesetz, sondern nur durch Rechtsverordnung festgestellt werden. Denn bei einer gesetzlichen Festlegung ergäbe sich Jahr für Jahr die Frage, ob nicht aus bestimmten aktuellen Überlegungen von dem System abgewichen werden soll. Selbst wenn es letztlich nicht zu einer Abweichung kommt, wird dennoch das Vertrauen durch solche Diskussionen gestört. Dies ist nicht der Fall, wenn der Verordnungsgeber, der keine Abweichungsmöglichkeiten hat, aufgrund eindeutiger gesetzlicher Vorgaben die maßgebenden Werte feststellt. (…) Wenn der Gesetzgeber von dem Selbstregulierungsmechanismus abweichen will, müsste er künftig die Initiative ergreifen, weil anderenfalls die Werte entsprechend diesem Mechanismus festgestellt werden. Dann steht aber der Gesetzgeber auch in einem besonderen Begründungszwang, warum er von diesem Mechanismus abweichen will, welche langfristigen Vorstellungen er damit verbindet und ob er den Mechanismus nicht entsprechend ergänzen will, so dass er in Zukunft wieder uneingeschränkt anwendbar ist. Dies führt dazu, dass künftige Eingriffe nur noch unter langfristigen Zielsetzungen vertretbar sind und die Rentenversicherung aus der Tagespolitik herausgehalten wird, so dass Eingriffe auf das Unvermeidbare beschränkt werden und durch die Beachtung langfristiger Ziele Vertrauen erhalten bleibt.“188
Man kann in diesen Formulierungen die Aversion der Ministerialbeamten gegenüber der Politik spüren, denn in immer neuen Anläufen wird betont, welchem Vertrauensverlust, welchen Irritationen und welchen Irrationalitäten die Renten-
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politik im politischen Tagesgeschäft ausgesetzt ist. Der Begriff des ‚Mechanismus‘ taucht oft auf und in der Tat ist dann die Politik des Sozialen zu etwas ‚Mechanischem‘ geworden, zu einem Prozess, der sich quasi bewusstlos vollzieht und bestimmten Gesetzen, Regelmäßigkeiten und Mustern unterworfen ist, die sich unveränderlich durchsetzen – wie in der (mechanischen) Physik. Dieses mechanistische Verständnis der Politik, das seinen zugespitzten Ausdruck im ‚Selbstregelungsmechanismus‘ gefunden hat, ist der Inbegriff einer Sozialpolitik zweiter Ordnung.189 Mit diesem Mechanismus unmittelbar verbunden ist die Verlagerung der Entscheidungsarena. Entscheidungen werden nun nicht mehr im demokratisch-parlamentarischen Prozess getroffen, sondern allein durch ministerielle Verordnungen. Das Rentenreformgesetz ’92 ist ein typisches, kybernetisch inspiriertes Selbststeuerungsgesetz. Es setzt einen Sollwert voraus, dessen laufende Aktualisierung vom System angestrebt wird. Er wird zum normativen Maßstab, an dem die Wirksamkeit des Systems bewertet wird. Damit verschiebt sich das Zielsystem der Rentenversicherung auf diesen Sollwert. Die Stabilisierung des finanziellen Gleichgewichts, die sich in der laufenden Übereinstimmung der Einnahmen und Ausgaben über einen bestimmten Zeitraum ergibt, wird zur primären Zielgröße. In einer Politik des Sozialen erster Ordnung kann die finanzielle Stabilität eines in Umlage finanzierten Sozialversicherungssystems nur ein Mittel, eine Art Zwischenziel für ein eigentliches Ziel sein.190 Dieses ist in der Regel politisch durchaus umstritten, aber eine Politik erster Ordnung versucht immer, zielorientiert bestimmte Wirkungen zu entfalten – sei es bei sozialen Sicherungsniveaus, der Regelaltersgrenze, bei Mindestsicherungselementen, der Anrechnung von Kindererziehungszeiten etc. Kybernetische Selbststeuerung führt dagegen zu einer Schließung des politischen Prozesses, da nun alle ökonomischen, sozialstrukturellen, arbeitsmarktpolitischen und demographischen Veränderungen sozusagen ‚lautlos‘ aufgenommen, automatisch verarbeitet werden und als ministerielle Verordnungen dann Eingang in die Politik des Sozialen finden. So verständlich eine Politik der Automatisierung des Regierens auch nach den Erfahrungen der 70er und 80er Jahre sein mag, sie rechtfertigt keine fast völlige Verabschiedung der Forderung nach (ziel-)rationaler Sozialpolitik und auch nicht, sie dem demokratischen Prozess zu entziehen. Ähnlich gelagerte Typen des automatischen Regierens als Ausdruck einer Sozialpolitik zweiter Ordnung sind in anderen Ländern ebenfalls implementiert worden. Ein typisches Beispiel waren die Reformen in Griechenland in der Folge der tiefgreifenden Finanzkrise im Jahr 2010.191 Sollten die Rentenausgaben – aus welchen Gründen auch immer – mehr als 2,5 % des Bruttoinlandprodukts überschreiten, so muss die Regierung umgehend Maßnahmen ergreifen, die die Rentenausgaben auf dieses Niveau zurückführen und Kürzungen verschiedenster Art
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beinhalten können. Unterhalb der 2,5 %-Grenze kann die Regierung handeln, liegen die Ausgaben darüber, muss sie es. Auch dies ist eine automatisierte Form des Regierens, die man auch weit früher in Kanada im Jahr 1988 beobachten konnte. Hier handelte es sich um die Einführung einer Bedarfsprüfung bei hohem Renteneinkommen im Alter. Sie wurde als gegen die Reichen gerichtete Maßnahme bezeichnet und konnte so leicht durchgesetzt werden. Die Einkommensgrenze, ab der die Einkommensbegrenzung wirkt, ist jedoch so indexiert, dass sie sich nur bei Inflationsraten von über 3 % verändert. Da Renten und andere Einkommenspositionen im Alter laufend an die Preisentwicklung angepasst werden, frisst sich diese Grenze langsam nach unten durch die Einkommenspyramide hindurch, bis langfristig nur noch niedrige Renten von der Bedarfsprüfung ausgenommen sind.192 Hier wurde automatisches Regieren mit mittel- oder langfristig einsetzenden Wirkungen kombiniert. Die Logik des Abbaus impliziert, dass nicht ein radikaler Wurf implementiert wird, sondern schritt- und stufenweise Änderungen vorgenommen werden. Gegenwärtig vorgenommene kleine Veränderungen können kumulative große Wirkungen in der Zukunft erzielen, indem sie Weichenstellungen vornehmen, die den wohlfahrtsstaatlichen Zug zwar langsam, aber energisch in diese neue Richtung laufen lassen.193
5.8.2. Die Auflösung von Typen von Wohlfahrtsstaaten und die Entstehung rekombinanter oder hybrider Typen Am Ende des 20. Jahrhunderts kann man die Auflösung der tradierten Typen von Wohlfahrtsstaaten beobachten, die alle auf die Typologie von G. Esping-Andersen194 positiv oder negativ Bezug nahmen. Vergleichende Studien zeigen, dass wir es heute mit rekombinanten Wohlfahrtsstaaten195 zu tun haben, die problemlos universalistische, konservative und liberale Elemente verbinden. Diese Dynamik verdeutlicht erneut die politische Dimension von Wohlfahrtsstaaten, deren Pfadabhängigkeiten zwar unübersehbar sind, aber deren grundlegende Kontingenz durch die Rekombinierbarkeit verschiedener typologischer Bausteine am Ende des 20. Jahrhunderts sichtbar wird. Zwar konnte man innerhalb der einzelnen Typen von Wohlfahrtsstaaten eine erhebliche Bandbreite empirischer Variationen beobachten, aber sie waren dennoch von übergreifenden normativen Prämissen geprägt, die von der Politik realisiert wurden. Nur so konnten sich die oben erwähnten Typen von Wohlfahrtsstaaten ausbilden. Verlieren diese übergreifenden Prinzipien in den Anpassungsprozessen an Bedeutung, so gehen auch die typologischen Merkmale verloren und es entstehen Wohlfahrtsstaaten, die ‚konturlos‘ werden und sich zu rekombinanten Wohlfahrtsstaaten entwickeln.
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Beginnen möchte ich mit den Wohlfahrtsstaaten, die sich in den Transformationen vom Sozialismus in den mittel- und osteuropäischen Staaten herausgebildet haben. Während sie unter dem Sozialismus einem einheitlichen Typus zugeordnet werden konnten (vgl. unten Kap. 4.5.2.), sind sie nach dem Zusammenbruch sehr eigenständige Wege gegangen.196 Eine vergleichende Untersuchung von zehn der mittel- und osteuropäischen Staaten, die inzwischen der EU beigetreten sind,197 kommt zu folgendem Schluss: „Es wird deutlich, dass die Einordnung der MOEL (mittel- und osteuropäischen Länder, F.W.R.) in die vier wichtigsten Wohlfahrtswelten westlicher Wohlfahrtsstaatstheorien nicht praktikabel ist. Die Heterogenität der Systeme lässt auch kein generalisierendes Bild zu, das die Etablierung des mittel- und osteuropäischen Wohlfahrtsstaats als eigenständiges Modell, als neue Kategorie erlaubt. Beobachtbar ist eine zunehmende Angleichung aller zehn analysierten Staaten an westliche Vorbilder, jedoch ohne dabei einem bestimmten Beispiel musterhaft zu folgen. Stattdessen werden Anleihen in allen westlichen Wohlfahrtsstaatsfamilien gemacht, die mit eigenen Erfahrungen und Traditionen sowie einem spezifischen Reformumfeld verwoben werden.“198
Man kann unschwer eine „Hybridisierung“199 beobachten, die neue Mischformen ausbildet und eine bisher nicht dagewesene Kontingenz der Politik des Sozialen verdeutlicht. Sie geht nun Wege, die bisher nicht gegangen wurden und kreiert bisher nicht kreierte Welten von Wohlfahrtskapitalismen. Dies wird von weiteren Studien gestützt, die ebenfalls feststellen, dass die „East Central European welfare states (are) more diverse and mixed than their Western counterparts. This makes it difficult to pace them into the categories of ‚conservative-corporatist‘, ‚liberal’ or ‚social democratic’. The constant changing nature of the East European welfare regimes led some authors to describe the systems as ‚faceless‘ (Lelkes 2000), ‚mixed‘ (Szikra 2005) or ‚institutionally volatile‘(Tomka 2005).“200
Die Tendenz ist eindeutig: Die mittel- und osteuropäischen Wohlfahrtsstaaten sind das Ergebnis situativer Politiken, die in den Transformationsprozessen nach den ‚friedlichen Revolutionen‘ entschieden wurden. Internationale Organisationen, v.a. die Weltbank, versuchten zwar ihre neoliberal geprägten Ideen in manchen der Staaten, v. a. in der Rentenpolitik, zu realisieren. Aber diese Versuche waren allein zu Anfang und in nur wenigen Staaten, wie etwa in Polen, erfolgreich. Sie wurden später von einer Welle unsystematischer und situativer Anpassungspolitiken überschwemmt, die zu den weitgehend ‚gesichtslosen‘ Wohlfahrtsstaaten geführt haben.
5.8.3. Vom modernen Wohlfahrtsstaat zum Wettbewerbsstaat Die Internationalisierung der Finanzmärkte, die steigende Mobilität von Kapital, Wissen und Arbeit im Weltmaßstab und der Aufstieg ehemaliger industrieller
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Schwellenländer zu ernsthaften ökonomischen Konkurrenten der traditionellen Industrieländer sind die wichtigsten Erscheinungen, die mit dem Begriff der Globalisierung erfasst werden.201 In der Folge veralten nicht nur deren traditionelle staatlichen Steuerungsinstrumente, sondern es verändern sich die generellen Ausgangs- und Rahmenbedingungen nationaler Politik und als Folge die etablierten Strukturen gesellschaftlicher Steuerung.202 Dies führt unvermeidlich zu Anpassungsprozessen und folglich zur Konvergenz in einer Reihe von Politikfeldern, am deutlichsten in der Wirtschafts- und insbesondere in der Geldpolitik.203 Moderne Wohlfahrtsstaaten werden in dieser Sichtweise zu einem Luxusgut, das in seiner bisherigen Form nicht mehr aufrechtzuerhalten ist. Die Folgen der Globalisierung machen aus dem Wohlfahrtsstaat einen „Wettbewerbsstaat“204, der sich vor eine doppelte Aufgabe gestellt sieht. Er muss zunächst die Wettbewerbsfähigkeit von einzelnen Unternehmen und Wirtschaften erhalten und zugleich die generelle Standortqualität eines Landes bzw. eines Nationalstaates garantieren, um reale oder angedrohte Abwanderungen von Unternehmen zu verhindern. Die Sozialpolitik ist hier für beide Problemfelder relevant und gerät unter den Druck dieser Handlungsfelder, der für alle auf dem Weltmarkt operierenden Staaten im Prinzip gleichermaßen gilt. Welche möglichen Folgen hat dies für den Wohlfahrtsstaat? Die Konvergenzthese geht davon aus, dass sich mehr oder weniger alle Wohlfahrtsstaaten diesem einen Ziel verschreiben müssen: Die Wettbewerbsfähigkeit der nationalen Volkswirtschaften im globalen Kampf um Märkte zu verbessern, indem alle marktkorrigierenden oder markthemmenden Regelungen abgebaut und die Sozialausgaben gesenkt werden. Die Globalisierung – so resümiert Geoffry Garret diese Diskussion – lässt langfristig nur noch ein Politikmodell zu: „The imperatives of the market impose heavy constraints on the bounds of democratic choice. Good government is a market friendly government and this effectively rules out most of the ‚welfare state‘ policies that the left labored long and hard to establish in the forty years following the great depression.“205
Die Folge ist, dass der De-Kommodifizierungsgrad von Wohlfahrtsregimen zwar in unterschiedlicher Intensität, aber dennoch kontinuierlich abnimmt und alle mehr oder weniger auf liberale bzw. residuale Wohlfahrtsstaaten einschwenken. Handlungstheoretisch wird die von G. Esping-Andersen formulierte These von den Füßen auf den Kopf gestellt. Die Machtressourcen von (internationalen) Kapital- und Unternehmensbesitzern sind so groß, dass sie alle sozialdemokratischen, linken oder auch andere Alternativen ausstechen, ihre Position unter allen Umstände durchsetzen und dass diese Position immer die eines im Prinzip residualen bzw. liberal ausgerichteten Wohlfahrtsstaates ist.206 Die empirische Vielfalt der jetzt existierenden Wohlfahrtsstaaten wird dabei allerdings übersehen. Auch die institutionellen und politischen Vermittlungsprozesse, über die sich die
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vermeintlich universalistischen Anforderungen der Globalisierung in konkrete Sozialpolitiken übersetzen, bleiben weitgehend ausgeblendet.
5.8.4. Exklusion: Die Umkehrung der wohlfahrtsstaatlichen Dynamik und die Überflüssigkeit von Menschen Exklusion – der Begriff markiert einen politischen, sozialen und räumlichen Sachverhalt, den andere Begriffe, wie soziale Ungleichheit, Armut, u. ä. in dieser Radikalität nicht markieren können. Exklusion kann als eine Art Megacodierung betrachtet werden, die die funktionale Differenzierung von Gesellschaften samt ihrer sozialen und anderer Problematiken hinter sich lässt und eine Art Vorsortierung liefert.207 Menschen werden in zwei Gruppen sortiert, die Inkludierten und die Exkludierten, wobei die Inkludierten sich in den modernen, funktional ausdifferenzierten Gesellschaften bewegen bzw. aufhalten, während die Exkludierten sozusagen vor ihren verschlossenen Türen stehen. Ich konzentriere mich im Folgenden auf die Ausführungen von N. Luhmann, weil er den Begriff der Exklusion zwar nicht eingeführt, aber dennoch systematisiert und vor allem radikalisiert hat. Zudem sind seine Theoretisierungen durch Erfahrungen geprägt, die er bei Fahrten in die Favelas in Brasilien und später in Armutsgebieten anderer Länder gemacht hat. Das dort Gesehene hat ihn so stark beeindruckt, dass er eine zwar nicht neue, aber in ihrer Radikalität neu ausformulierte Kategorie einführt und ihre Auswirkungen auf die soziale Lage von Menschen als unmenschlich betrachtet. Eine systemtheoretisch inspirierte Sichtweise geht davon aus, dass für moderne Gesellschaften die schrittweise „Einbeziehung der Gesamtbevölkerung in die Leistungen der einzelnen gesellschaftlichen Funktionssysteme“ typisch ist. In diesem Prozess werden Gruppen, die „am gesellschaftlichen Leben nicht oder nur marginal teilhaben“, nach und nach in die diversen Funktionssysteme der Gesellschaften aufgenommen. 208 Die umfassende Einbeziehung der Gesamtbevölkerung in die Funktionssysteme der modernen Gesellschaften wurde von T. Parsons und später von N. Luhmann als Inklusion bezeichnet. T. Parsons betonte hierbei die Idee der vollen Mitgliedschaft im Gesellschaftssystem, wobei die Differenzierung in Bürger erster und zweiter bzw. Ober- und Unterklasse im geschichtlichen Prozess überwunden wird und eine einheitliche Staatsbürgerschaft entsteht. Sie umfasst – im Sinne von T. H. Marshall – alle drei Staatsbürgerrechte, die individuellen, die politischen und die sozialen, und inkludiert auf diese Weise die Menschen in die Gesellschaft. Sie macht sie zu vollwertigen Mitgliedern bei gleichzeitiger funktionaler Ausdifferenzierung der gesellschaftlichen Teilsysteme.209 Citizenship wird zum zentralen Inklusionsmechanismus der modernen Gesellschaft.
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N. Luhmann setzt die Akzente etwas anders. Für ihn umfasst Inklusion den Einbezug immer größerer Personenkreise in die vielfältigen Funktionssysteme der modernen Gesellschaften, die allerdings ihre jeweils spezifischen Inklusionsmechanismen ausgebildet haben und diese autonom regeln. Die Wirtschaft hat andere als die Religion, diese andere als die Bildung und diese wiederum andere als die Politik. Aber bei ihm ist – wie bei T. Parsons auch – die Dynamik der Inklusion eindimensional und moderne Gesellschaften realisieren sie umfassend. Der Ausschluss aus einem Funktionssystem kann sich selbstverständlich ereignen, aber das bleibt ein zeitlich begrenztes Phänomen und – am wichtigsten – er bleibt ohne Auswirkungen auf die Inklusion in die anderen Teilsysteme der Gesellschaft, also auch funktional begrenzt. Arbeitslosigkeit als Ausschluss aus dem ökonomischen System führt nicht zum Verlust des Wahlrechts oder zum Ausschluss aus dem Bildungssystem. Selbst abweichendes Verhalten führt nicht zum Ausschluss aus anderen funktionalen Teilsystemen, sondern – umgekehrt – begünstigt die Inklusion. Es wird zum Grund für „Sonderbehandlungen zum Zwecke der Inklusion. (...) Hoffnungslose Fälle werden psychiatrisiert, das heißt: als Krankheit aufgefasst, die in der Verantwortung der Gesellschaft liegen und mit Sonderrechten und Sonderpflichten, das heißt: anstaltlich, zu lösen sind.“210
Bei der Inklusionsdynamik spielt der moderne Wohlfahrtsstaat eine zentrale Rolle. Er ist der Mechanismus, über den die Inklusion in die funktionalen Teilsysteme der Gesellschaft bewerkstelligt wird und zugleich den dauerhaften Ausschluss aus ihnen verhindert. „Wohlfahrtsstaat, das ist realisierte politische Inklusion“211 – und die Reduktion auf politische Inklusion hat seinen Grund darin, dass der Wohlfahrtsstaat vor allem über politische Entscheidungen die Gestaltung der Gesellschaft vollzieht und in die verschiedenen funktionalen Teilsysteme durch verbindliche Entscheidungen, also politisch, interveniert. Bei den Diskussionen über Inklusion ist sowohl bei T. Parsons als auch bei N. Luhmann die Eindimensionalität dieser Dynamik vorausgesetzt. Inklusion ist ein nicht umkehrbarer Prozess, der sich immer umfassender und systematischer vollzieht und eben zu modernen Gesellschaften bzw. modernen Wohlfahrtsstaaten führt. Erst rund 10 Jahre später taucht der Gegenbegriff, der der Exklusion, auf. Das Interessante daran ist, dass dieser Begriff nicht aus der theorieinternen Weiterentwicklung der Systemtheorie entstanden ist, sondern durch eine persönliche Erfahrung, die N. Luhmann tief beeindruckt und tief irritiert hat. Lassen wir ihn selbst zu Wort kommen: „Zur Überraschung aller Wohlgesinnten muss man feststellen, dass es Exklusion gibt, und zwar massenhaft und in einer Art von Elend, das sich der Beschreibung entzieht. Jeder, der einen Besuch in den Favelas südamerikanischer Großstädte wagt und lebendig wieder herauskommt, kann davon berichten. (...) Es bedarf dazu keiner empirischen Un-
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tersuchungen. Wer seinen Augen traut, kann es sehen, und zwar in einer Eindrücklichkeit, an der die verfügbare Erklärungen scheitern.“212
Sein Nachdenken über Exklusion wurde anlässlich einer Konferenz in Brasilien angestoßen, als er von den Gastgebern mit dem Auto an den Rand einer oder sogar in eine Favela gefahren wurde. Man kann spüren, wie tief der Schock bei ihm sitzt und welche Herausforderung das für ihn gewesen sein muss. Das massenhafte Elend ‚entzieht sich der Beschreibung‘, man kann es womöglich nur entsetzt sehen und spüren und ist mit etwas völlig Unerwartetem konfrontiert. Der hochabstrakt Denkende und hochwissenschaftlich Arbeitende war plötzlich mit Ausschnitten der faktischen Welt konfrontiert, die sein Vorstellungsvermögen übertrafen. Das von ihm beobachtete Phänomen war nicht ein Rand- oder regional begrenztes Phänomen, sondern es ging vielmehr um eine „in die Milliarden gehende Menge“, um „riesige Menschenmengen“, die von Exklusion betroffen sind.213 An anderer Stelle kommt sein Erschrecken und sein Unverständnis erneut zu Geltung: „Große Teile der Weltbevölkerung finden sich aus allen Funktionssystemen so gut wie ausgeschlossen: Keine Arbeit, kein Geld, keinen Ausweis, keine Berechtigungen, keine Ausbildung, oft nicht die geringste Schulbildung, keine ausreichende medizinische Versorgung und mit all dem wieder: keinen Zugang zur Arbeit, keinen Zugang zur Wirtschaft, keine Aussicht, gegen die Polizei oder vor Gericht Recht zu bekommen.“214
Das Gesehene lässt dem Systemtheoretiker keine Ruhe, denn an anderer Stelle und Jahre später kommt er abermals auf das Thema zurück und erweitert seinen Beobachtungshorizont. „In Bombay beispielsweise leben sicher mehrere Millionen Menschen auf der Straße. Wenn sie keine feste Adresse haben, können sie ihre Kinder nicht in die Schule schicken und so weiter, mit allen Konsequenzen, die daraus folgen. Viele Leute in Brasilien haben keinen Ausweis. Die wurden von Leuten geboren, die auch keinen Ausweis hatten und wurden nicht angemeldet. Die Mutter hat vielleicht irgendwo als Hausmädchen gearbeitet. Die Kinder wurden von der Oma erzogen. Dann waren sie groß und hatten keinen Ausweis. Ohne Ausweis ist der Zugang zu Schulen ein Problem, ist jede Sozialleistung unerreichbar, kann man sich nicht als Wähler registrieren lassen und so weiter. (…) Das einzige, was in den favelas in Brasilien zu funktionieren scheint, ist die Impfung. Denn vor Ansteckung hat natürlich jedermann Angst. Die Impfung wird dotiert mit Gutscheinen für Milch für die Babys. Diese Gutscheine können ausgetauscht werden gegen Scheine für Bier. Und derjenige, der diese Scheine erwirbt, gibt einen gewissen Geldbetrag, davon können die Mütter Bohnen kaufen und sich selbst ernähren.“215
Erneut verbindet Luhmann seine gemachten Erfahrungen mit Orten, an denen er diesen Erscheinungen ausgesetzt war. Wieder argumentiert er mit dem Phänomen der Kettenreaktion: Aus einem Sachverhalt ergeben sich so viele, unvermeidlich andere, die bei den betroffenen Menschen eine Abwärtsspirale in Gang setzt und zur Exklusion führt. Unübersehbar ist zudem der Wandel in seinem Schreibstil: Seine ansonsten hochabstrakte Wissenschaftssprache bricht in sich zusammen
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und die reine Anschaulichkeit wird deutlich. Er versucht, das eigentlich Unbeschreibbare mit seinen manchmal etwas hilflos wirkenden Worten zu beschreiben. Doch was meint Exklusion in der Luhmannschen Sichtweise? N. Luhmann ist nicht immer klar, aber in einer ersten Näherung ist es der Ausschluss von Personen aus den funktionsspezifischen (Teil)Systemen einer Gesellschaft. „Von Exklusion kann man sprechen, wenn die weitgehende Ausschließung aus einem Funktionssystem (zum Beispiel extreme Armut) zur Ausschließung aus anderen Funktionssystemen (zum Beispiel Schulerziehung, Rechtsschutz, stabile Familienbindung) führt.“216
Wieder wird der Mechanismus der Kettenreaktion angeführt, nachdem der (weitgehende) Ausschluss aus einem Funktionssystem als unvermeidliche Folge den Ausschluss aus anderen nach sich zieht, im schlimmsten Fall aus allen Funktionssystemen einer Gesellschaft. Auch tauchen bei N. Luhmann nun Begriffe auf, die in seiner ansonsten strikt theoretisch durchgeführten Systemtheorie nicht auftauchen: Körper im Besonderen, aber auch Raum und Sichtbarkeit bzw. Unsichtbarkeit. Die Exkludierten sind für die Funktionssysteme der Gesellschaft nicht sichtbar, denn Exklusion „definiert mehr oder weniger große Teile der Bevölkerung, die häufig dann auch wohnmäßig separiert und damit unsichtbar gemacht werden.“217 Die Exkludierten leben in bestimmten Räumen, die ‚wohnmäßig separiert‘ sind und damit einen spezifischen Ort markieren, in dem sich die Inkludierten nicht bewegen oder ihren Wohnsitz haben. Sie ‚funktionieren‘ in anderen Räumen, die umgekehrt für die Exkludierten nicht oder nur schwer zugänglich sind. Es gibt Grenzen, die diese Räume voneinander trennen und so Inkludierte und Exkludierte separieren. Die Exkludierten werden dann für die Inkludierten in gewisser Weise unsichtbar. Auch wird eine Beobachterperspektive eingeführt, die sich von der ansonsten in seiner Systemtheorie verwendeten deutlich unterscheidet. Um das Phänomen der Exklusion zu erkennen, besser: zu ‚sehen‘, sind besondere Anstrengungen zu machen: „Exklusion folgt wie ein logischer Schatten und es bedarf einer besonderen Anstrengung, die Beobachtung über die Grenze hinweg auf Exklusion zu richten.“218 Ein einfacher Blick ist nun nicht mehr ausreichend, vielmehr bedarf es einer ‚besonderen Anstrengung‘ eines Beobachters, um das zu sehen, was man ansonsten nicht sieht. Der Sehende wird zu einer neuen Figur, an die Luhmann appelliert und zugleich mit der Aufforderung verbindet, sich dem von ihm beschriebenen Sachverhalt auszusetzen, indem man die besondere Anstrengung des genauen Hinsehens auf sich nimmt. Dann wird Exklusion zu einem Phänomen, das man skandalisieren, moralisch verurteilen und für bestimmte Gesellschaften als nicht akzeptabel betrachten kann. Da es immer auch ein politisches Phänomen ist, kann man es, ja muss man es politisieren.
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Zentral aber ist, dass zwar Exklusion/Inklusion als dichotome Kategorien formuliert werden, die aber in der gesellschaftlichen Realität so nicht wiederzufinden sind. Er betont, dass es keine „prinzipielle Exklusion aus Funktionssystemen (gibt) (...), aber es kommt über die genannten negativen Interdependenzen doch zu einer mehr oder weniger effektiven Gesamtexklusion aus der Teilnahme an allen Funktionssystemen.“219
An anderer Stelle formuliert er, dass die Geltung der Codes der jeweiligen Funktionssysteme davon abhängt, in welchem Segment der Gesellschaft man sich aufhält, denn sie gelten in dem einen und in einem anderen nicht.220 Moderne (und weniger moderne) Gesellschaften bilden somit nicht nur Differenzen zwischen den Inkludierten und Exkludierten, sondern auch Grauzonen, in denen für manche etwas gilt und für andere nicht. Manche haben beispielsweise Zugang zum Rechtssystem, andere dagegen nicht; manche haben Zugang zum Gesundheitssystem, andere dagegen nicht etc. Es hängt davon ab, an welchem ‚Ort‘ man sich in der Gesellschaft befindet bzw. welchen Ort man zugeordnet bekommt. Claus Offe hat diese Kategorie von Menschen auch als die „Überflüssigen“ bezeichnet, die man von den „Verlierern“ unterscheiden muss.221 Letztere nehmen noch am Verteilungsspiel der Gesellschaft teil, gehören (noch) zu den Inkludierten und haben Rechte, sind in Interessengruppen organisiert, wählen bestimmte politische Parteien etc., während erstere von diesen Rechten und Dynamiken ausgeschlossen sind. Die Differenzierung zwischen Inklusion und Exklusion ist dichotom, aber innerhalb der beiden Kategorien lassen sich Unterkategorien bilden, die Differenzierungen innerhalb der jeweiligen Kategorien ermöglichen. Wie bereits angedeutet kann man zwischen räumlicher, sozialer und politischer Inklusion unterscheiden. Gated communities wären beispielsweise eine Differenzierung innerhalb der räumlichen Inklusion, indem bestimmte Gebiete nur für bestimmte, im konkreten Fall sehr gut verdienende, Gruppen offen sind und gegenüber anderen Gebieten abgeschottet sind. In vielen Städten der Ersten, aber auch der Dritten Welt ist das gängige Praxis. Soziale Inklusion eröffnet allen Bevölkerungsgruppen die Möglichkeit, an den wichtigsten sozialen, kulturellen, ökonomischen und bildungspolitischen Prozessen einer Gesellschaft teilzunehmen. Realisierte Schulpflicht ist hierbei eine ebenso zentrale Variable wie ein mehr oder weniger stark ausgebautes System von sozialen Rechten, insbesondere bei Einkommensverlust und Krankheit. Sind bestimmte soziale Gruppen, etwa die Unterklasse, systematisch aus bestimmten Dynamiken, etwa der weiterführenden oder höheren Bildung – aus welchen Gründen auch immer – ausgeschlossen, so kann man zwar von sozialer Ungleichheit in den Bildungsprozessen sprechen, aber nicht von der Exklusion dieser Gruppe. Politische Inklusion erfolgt durch die Gewährung von akti-
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ven und passiven politischen Teilhaberechten bis hin zu garantierten individuellen und bürgerlichen Freiheitsrechten. Ist eine dieser drei Dimensionen nicht vollständig realisiert, so ist das nicht identisch mit Exklusion, aber mit einer Minderung des Status der Inklusion. Beteiligen sich bestimmte soziale Gruppen an Wahlen weniger systematisch oder gar nicht, so richten die politischen Parteien in der Regel ihre Programmatiken nicht an diesen aus. Die Nichtwähler sind uninteressant und die politischen Parteien konzentrieren sich auf die Wählenden und entwickeln für diese elaborierte Wahlstrategien.222 Umgekehrt sind die Interessen der WählerInnen in Wahlen (über)repräsentiert, wobei diese Gruppen ihre Interessen und Privilegien oft auch noch auf anderen Wegen durchsetzen können. Innerhalb der Inkludierten haben wir es eben mit Ungleichheiten, Ungleichgewichten, Privilegien und Benachteiligungen zu tun, die für Gesellschaften der Inklusion typisch sind. Auch gibt es eine Oberklasse, die eine herausgehobene Position einnimmt, weltweit anschlussfähig ist und auch bei ‚Migration‘ in andere Länder nicht (teil)exkludiert, sondern ohne weiteres inkludiert ist. Ihr juristischer Status (weltweit akzeptierte Nationalität), ihre materielle Ausstattung (Geldvermögen und Konten bei international operierenden Banken) und ihre kulturelle Prägung (gute Berufsausbildung, Englischkenntnisse u. Ä.) verleihen ihnen einen Status, der den Zugang zu anderen Nationalstaaten ohne Statusverlust bzw. im Extremfall ohne Exklusion ermöglicht. Migration und Statuserhalt ist bei ihnen gleichzeitig gewährleistet.223 Exklusion lässt sich in Unterkategorien aufteilen, wobei die Trennung in räumliche, soziale und politische erneut hilfreich ist. Die Verschärfung der europäischen Außengrenzen im Sommer/Herbst 2018 ist eine spezifische Form der räumlichen Exklusion, die bestimmte Gruppen aus der Dritten oder Vierten Welt an der Einreise nach Europa hindern soll, während politische Verfolgte weiterhin Asyl beantragen können, auch wenn die Kategorie ‚politisch verfolgt‘ in sich selbst variabel ist. Die angestrebte Errichtung eines Grenzzaunes zwischen Mexiko und der USA durch die Trump-Regierung in den Jahren 2018/2019 fällt in dieselbe Kategorie. Radikalere Formen der räumlichen Exklusion wären beispielweise die Errichtung von Lagern oder gar die Vertreibung von bestimmten sozialen oder ethnischen Gruppen. Die radikalste Form der räumlichen Exklusion ist die Errichtung von Vernichtungslagern, in die bestimmte soziale Gruppen mit dem einzigen Ziel gebracht werden, sie dort so schnell und umfassend wie möglich zu vernichten. Die Vernichtung der Juden und der Sinti und Roma durch die Nationalsozialisten sowie die Vernichtung der Kulaken als Klasse in den Arbeitslagern des sowjetischen GULAG sind die beunruhigensten Beispiele dieses Jahrhunderts und sind Ausdruck der Exklusion durch die Politik der Tötung (vgl. dazu unten Kap. 7).
5.9. Das Ende der (sozial)politischen Gestaltbarkeit von Gesellschaft?
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5.9. Das Ende der (sozial)politischen Gestaltbarkeit von Gesellschaft? Das dominierende (sozial)politische Narrativ der modernen Gesellschaften des 20. Jahrhunderts war das der Inklusion, untrennbar verbunden mit der Idee der Gestaltbarkeit von Gesellschaft. Vor allem letzteres Prinzip wurde sowohl in den demokratischen wie diktatorischen Gesellschaften – wenn auch in unterschiedlicher Intensität und mit unterschiedlichen Mitteln – realisiert. Die Politik des Sozialen nahm hier eine Sonderrolle ein, die sie zwar nicht grundlegend, aber doch systematisch von anderen Politiken absetzte. Sie wandelte sich von der Gestaltung und Bearbeitung der Armen und später der Arbeiterfrage zur Gesellschaftspolitik. Aber nicht nur das: In den 70er Jahren sollte ‚Sozialpolitik als Gesellschaftspolitik‘ (H. Achinger) nicht nur das gesamte Spektrum der Gestaltung von modernen Gesellschaften umfassen, sondern zugleich rational und zielgerichtet sein. An die Stelle der Gesellschaftspolitik trat folgerichtig die Idee der aktiven Gesellschaftssteuerung, die durch die neuen Computertechnologien und den damit verbundenen Simulationsmöglichkeiten begünstigt wurde. Man konnte nun die Gesellschaft auf den damals noch grünlich flimmernden Monitoren sichtbar machen und die Auswirkungen verschiedenster, nun integrierter Politiken durchspielen, die Wirkungen am Computer simulieren und die effektivste Variante realisieren. Nicht nur die Wirkungen von einzelnen Maßnahmen wurden nun sichtbar, sondern die Zukunft der modernen Wohlfahrtsstaaten insgesamt. Die Verfügbarkeit der Welt für die politischen Planer schien sich realisiert zu haben – der Traum eines jeden Planers. Die Finanzkrisen der 70er und 80er Jahre sowie die Eigendynamiken der politischen Prozesse ließen diese Träume platzen. Zudem wurde die Widerborstigkeit der Welt gegenüber den Intentionen der politischen Planer und Gestalter unübersehbar und die Politik musste sich ihre Begrenztheit eingestehen – ein bitterer und verschlungener Prozess, der auch heute noch nicht abgeschlossen ist. Sozialpolitiker und Sozialwissenschaftler reden immer noch davon, dass Politik Probleme löst, so als ob es sich bei politischen Entscheidungen um die Lösung von Kreuzworträtseln handeln würde. Die Globalisierung tat ein Übriges. Nun wurde immer deutlicher, dass bestimmte ‚Probleme‘ nicht durch die nationalstaatlichen Politiken des Sozialen ‚gelöst‘ werden konnten, weil man nicht auf faktische oder eingebildete Ursachen kausal zugreifen konnte. Sozialpolitik wurde unvermeidlich reaktiv und Vorstellungen einer ziel- und zukunftsorientierten, auf Ursachen zugreifenden (Sozial)Politik wurden verabschiedet. Die sich am Ende des Jahrhunderts abzeichnende Sozialpolitik zweiter Ordnung musste sich dies eingestehen und neue Politikformen traten an die Stelle der bisherigen. Sie lösten sich vom ‚Sozialen‘ und seiner (demokratischen) Gestaltbarkeit und an ihre Stelle trat die Selbststeuerung der Systeme der sozialen Sicherung. Der Kern dieser Politik ist die Entpolitisierung des
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5. Die Politik des Sozialen
Sozialen und – gerade in den Sozialversicherungsstaaten – die Konzentration auf die Stabilisierung der in Umlage finanzierten Systeme der sozialen Sicherung und nicht mehr die zielgerichtete Gestaltung von Lebenslagen von sozialen Gruppen. Die liberalen, konservativen und universalistischen Typen sind durch normativ angeleitete und programmatische Politik entstandenen. Diese Typen befinden sich heute längst in Auflösung und durch situative Anpassungspolitiken entstehen rekombinante Wohlfahrtsstaaten, die liberale, konservative und universalistische Ideen und Bausteine problemlos zusammensetzen. Dies waren die ersten sichtbaren Schritte einer reaktiven Anpassungspolitik. Der Wandel von Wohlfahrtstaaten zu Wettbewerbsstaaten war der nächste Schritt, der die Sozialpolitik erster in die zweiter Ordnung vorantrieb. Die Abschwächung bzw. Umkehrung der Inklusionsdynamiken, die den Kern der modernen Wohlfahrtsstaaten ausmachten, trieb den Wohlfahrtsstaat erneut in eine neue Konstellation, in der neben den Inklusions- nun auch Exklusionsdynamiken relevant werden. Exklusion eröffnet eine neue Perspektive auf die Dynamiken der modernen Gesellschaften am Ende des 20. Jahrhunderts und auf den modernen Wohlfahrtsstaat. Er ist zwar nicht die exklusive Ursache für Exklusion, aber seine konkrete Ausprägung kann die Dynamiken von Inklusion/Exklusion massiv beeinflussen. Die möglichen neuen Politikformen sind noch nicht erschöpft und die Transformationen der Wohlfahrtsstaaten noch längst nicht abgeschlossen. Sie werden die sozialpolitischen Entscheidungsprozesse des 21. Jahrhunderts wie ein Schatten begleiten. Der Wohlfahrtsstaat ist ein Prozess mit ungewissem Ausgang. Man kann allerdings mit Gewissheit sagen, dass der gentleman, von dem der britische Soziologe A. Marshall im Jahr 1873 gesprochen hatte, sich als generelle Gestalt des 20. Jahrhunderts noch nicht realisiert hat. Nach wie vor haben wir es mit dem working man zu tun, dem heute der Exkludierte zur Seite getreten ist und einen neuen sozialen Typus konstituiert. Er ist aus den Funktionssystemen der modernen Gesellschaften weitgehend ausgeschlossen und sein Status ist womöglich noch niedriger und unsicherer als der des working man im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Anmerkungen 1 Zit. nach Marshall, T. H. 1992a: 45. 2 Luhmann 1981: 195. 3 Vgl. etwa Franz-Xaver Kaufmann, der die Geschichte des sozialpolitischen Denkens, vor allem in Deutschland, meisterhaft nachgezeichnet hat; vgl. Kaufmann 2003a. 4 Kaufmann 2003a. 5 Kaufmann 2003a: 28-30. 6 Pankoke 1995: Sp.1227. 7 Zit. nach Kaufmann 2003a: 47; Herv. i. O.
8 Diese begriffliche Differenzierung geht zurück auf Zacher 1987: bes. 575ff. 9 Kaufmann 2003a: 269. 10 Zur Geschichte der (nicht nur deutschen) Sozialpolitik vgl. statt vieler Schmidt 1998; Frerich 1993; Althammer/Lampert 2014; Ashford 1986. 11 So der einprägsame Titel des kleinen, aber einflussreichen und paradigmatischen Buches von Hans Achinger; Achinger 1958. 12 Esping-Andersen 1990.
5.9. Das Ende der (sozial)politischen Gestaltbarkeit von Gesellschaft? 13 Vgl. dazu Lamping/Rüb 2004. 14 Der Begriff wurde von F.-X. Kaufmann geprägt und hat in der sozialpolitische Diskussion bisher wenig Verbreitung gefunden; vgl. Kaufmann 2014b. 15 So Alfred Marshall; siehe FN 1. 16 „In den Ansichten über die Armen reflektierten sich in zunehmendem Maße Ansichten über das Sein schlechthin.“ Polanyi 1978: 147. 17 Ewald 1993: 79; Herv. i. O. 18 Als im Jahr 1842 das Allgemeine Preußische Landrecht reformiert werden sollte und keine ausdrückliche Ablehnung eines Klagerechts der Armen auf staatliche Unterstützung vorsah, intervenierten die Provinziallandtage massiv. Den Armen wurde danach ein Recht auf Unterstützung ausdrücklich nicht anerkannt. Zu den Motiven der Verweigerung des Rechts auf Unterstützung ließ der Gesetzentwurf keinen Zweifel: „(...) daß falsches Mitleid und mißverstandene Humanität in diesem Zweige der öffentlichen Ordnung leicht zu viel thun, daß jedes Zuviel hierbei sehr nachteilige Folgen habe und als Aufmunterung wirke, sich in den Stand der Armen zu begeben, und daß mithin als eine Kardinalmaxime der Armenverwaltung festgehalten werden müsse, nicht mehr als das äußerste Bedürfnis zu gewähren und nichts weiter als das wirkliche Umkommen im Elende verhüten zu wollen, überhaupt aber gar kein Recht, keinen im Rechtswege verfolgbaren Anspruch des Armen auf Unterstützung anzuerkennen, sondern nur über die eventuelle Verpflichtung der Kommunen und Provinzen dahin, daß jenes Äußerste vermieden werde, als über eine Verpflichtung, die ihnen nur gegen das Ganze, dem Staate gegenüber, nicht aber gegen die einzelnen Armen obliegt, zu statuieren.“ Zit. nach Brentano 1888: 10; Herv. i. O. 19 Vgl. Vogel, W. 1951: 152ff. 20 Evers/Nowotny 1987: 128; Herv. i. O. 21 Bernstein 1997: 202-208; Ewald 1993: bes. 174-206. 22 Zit. nach Bernstein 1997: 205. 23 Vgl. dazu Müller, W. 1988. 24 Ewald 1993: 216. 25 Vgl. dazu Bernstein 1997; Bonß 1995; Luhmann 1990; ders. 1991. 26 Nell-Breuning 1990 (1968). 27 Mater et magistra, Zi. 281, zit. nach http:// w2.vatican.va/content/john-xxiii/de/encyclicals/documents/hf_j-xxiii_enc_15051961_mater.html. 28 So in der Enzyklika „Quadragesimo anno“ aus dem Jahr 1931, Zi. 19 bzw. 20. 29 Rerum novarum, Zi. 1 und 2. 30 Rerum novarum, Zi. 29. 31 Rerum novarum, Zi. 36.
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Rerum novarum, Zi. 42. Quadragesimo anno, Zi 1. Nell-Breuning 1990 (1968). Quadragesimo anno, Zi. 78. Quadragesimo anno, Zi. 79. Nell-Breuning 1990 (1968): 36. Quadragesimo anno, Zi. 127. Rerum novarum, Zi. 29. Quadragesimo anno, Zi. 129. Quadragesimo anno, Zi. 135. Vgl. zu den unterschiedlichen Typen von Wohlfahrtsstaaten und deren definitorischen Merkmalen, eben auch des christlich-konservativen, Esping-Anderson 1990; zu den christlichen Wohlfahrtsstaaten aber insbesondere die Arbeiten von Kersbergen 1995; Kersbergen/Manow 2009. Luxemburg 1899: 8; Herv. von mir. Luxemburg 1899: 27. Eduard Bernstein, zit. nach Luxemburg 1899. Evers/Nowotny 1987: 132. Zit. nach Evers/Nowotny 1987: 138. Dazu gibt es eine fast schon unüberschaubare Literatur; lesenswert aber immer noch Ritter 1991; Alber 1982; Ashford 1986; Baldwin 1990; Köhler/Zacher (Hg.) 1981. Manches in den folgenden Ausführungen greift auf Ideen zurück, die Frank Nullmeier und ich an anderer Stelle und vor längerer Zeit formuliert haben; vgl. Nullmeier/Rüb 1993: bes. 71-115. Zu den problematischen Details dieses Gesetzes vgl. insbesondere Reidegeld 1996: bes. 150-251; Ritter 1991. Vgl. zu diesem Krankheitsbegriff Parsons 2002. Zit. nach Gitter 1969: 33. Zit. nach Nullmeier/Rüb 1993: 80. Laband 1907: 297; Herv. i. O. Harris 1977. Beveridge 1943: Zi. 7-9. Beveridge 1943: Zi. 9. Beveridge 1943: Zi. 10. Beveridge 1943: Zi. 20. Beveridge 1943: Zi. 21. Beveridge 1943: Zi. 25. Beveridge 1943: Zi. 26. Beveridge 1943: Zi. 130. Beveridge 1943: Zi. 131; 440. So Beveridge in einer früheren Stellungnahme zur Bedeutung von Beiträgen zur sozialen Sicherung; zit. nach Beveridge, J. 1954: 57. Statt vieler sei hier nur das Vorwort von B. Badura in der Neuausgabe von Eduard Heimanns Buch erwähnt; vgl. Badura 1980. Heimann 1975 (1927). Zu den biographischen Hintergründen und seinem Leben insgesamt vgl. etwa Ortlieb 1968; Rathmann 1988; Rieter 2011. Heimann 1980 (1927): 184.
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5. Die Politik des Sozialen Heimann 1980 (1927): 14. Heimann 1980 (1927): 17. Heimann 1980 (1927): 14. Heimann 1980 (1927): 20. Heimann 1975: 24. Heimann 1975: 24f. Heimann 1975: 25. Ebd. Ebd. Heimann 1975: 27. Heimann 1975: 28f. Heimann 1980 (1927): 140. Heimann 1980 (1927): 143. Heimann 1980 (1927): 152. Heimann 1980 (1927): 168. Heimann 1980 (1927): 176. Wie weit die ökonomischen und sozialen Wandlungen gehen, hängt - so Eduard Heimann -, „gerade von der Empfänglichkeit und Aufgeschlossenheit ab, der sie (die soziale Bewegung, F.W.R.) begegnet; davon also, ob die politische oder produktionspolitische Notwendigkeit früher oder später, freudiger oder mürrischer anerkannt wird.“ Heimann 1980 (1927): 182. Heimann 1980 (1927): 184. Heimann 1980 (1927): 175. Heimann 1980 (1927): 192. Heimann 1980 (1927): 204-215. Heimann 1980 (1927): 242f. Heimann 1980 (1927): 247. Heimann 1980 (1927): 293. Heimann 1980 (1927): 292. Heimann 1975: 29. Sinzheimer 1992: 7. Sinzheimer 1922: 7; Herv. i. O. Sinzheimer 1922: 8. Ebd. Ebd. Sinzheimer 1922: 11. Ebd. Sinzheimer 1922: 12. Winschuh 1929: 10; zit nach Kaufmann 2003a: 121; Herv. i. O. Ich zitiere die Rede nach: Materialien aus dem Bundesarchiv, Heft 5: „Gemeinschaftsfremde“. Quellen zur Verfolgung von „Asozialen“ 1933-1945, bearbeitet von Wolfgang Ayaß, Berlin 1998, Dok. Nr. 5. Siehe FN 104. Siehe FN 104. Vgl. dazu die Überlegungen bei Ostheim/ Schmidt 2007. Für die Diskussion um Kontinuität oder Bruch ist allerdings nicht allein die institutionell-organisatorische, sondern vor allem die normative Dimension wichtig, die alle institutionellen Regelungen und organisatorischen Ausprägungen überformt und deren Praktiken anleitet. Dann haben wir es ohne Frage nicht nur mit einem Bruch, son-
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dern einem fundamentalen Bruch zu tun. Dies schließt ein, dass man – wie etwa Sachße/ Tennstedt (1992) überzeugend fordern – zwischen dem Arbeitsrecht, der Sozialversicherung und der Fürsorge unterscheidet, die jeweils eigenständigen Logiken und Entwicklungsdynamiken im Nationalsozialismus unterlagen. Aber auch die Sozialversicherungen wurden „faschisiert“ und der nazistischen Ideologie in aller Radikalität unterworfen, auch wenn ihre institutionell-organisatorische Struktur im Wesentlichen beibehalten wurde. Sachße/Tennstedt 1992: 140ff. Ritter 1991: 134f. Bei dieser zeitlichen Phaseneinteilung orientiere ich mich an Mason 1978. Sachße/Tennstedt 1992: 58. Gladen 1974: 106. Aly 2005: 36. Aly 2005: 350. Aly 2005: 36. Zit. nach Aly 2005: 87. Alle diese Zahlen stammen von Aly 2005: 89. Aly 2005: 90. Die Begrifflichkeiten von Exit, Widerspruch und Loyalität gehen natürlich zurück auf Hirschman 1970. Schmidt, M. G. 2004: 67. Schmidt, M. G. 2004: 68. Zit. nach Institut für Soziologie und Sozialpolitik 1979: 11. Alle vorangegangenen Zitate sind aus Institut für Soziologie und Sozialpolitik 1979: 13, entnommen; Herv. von mir. Institut für Soziologie und Sozialpolitik 1979: 14; Herv. von mir. Institut für Soziologie und Sozialpolitik 1979: 15. Zit. nach Schmidt, M. G. 2004: 70. Institut für Soziologie und Sozialpolitik 1979: 20. Vgl. dazu Institut für Soziologie und Sozialpolitik 1979: 20-26. Institut für Soziologie und Sozialpolitik 1979: 24. Ebd. Institut für Soziologie und Sozialpolitik 1979: 27. Ebd. Vgl. dazu oben die Kap. 5.7.2. und 5.7.4. Institut für Soziologie und Sozialpolitik 1979: 102. Die Statustheorie von G. Jellinek ist sicherlich die am besten ausgearbeitete Theorie, während T. H. Marshall den Begriff zwar einführt, damit aber keine weitreichende Theorie verbindet, sondern eher als deskriptive Kategorie verwendet. Dennoch sind Parallelen zu G. Jellinek nicht zu übersehen. Der Jellineksche „status negativus“ entspricht bei T. H.
5.9. Das Ende der (sozial)politischen Gestaltbarkeit von Gesellschaft?
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Marshall dem des liberalen bzw. dem des Schutzrechte gewährenden Staates 18. Jh., der „status activus“ dem der politischen Beteiligungsrechte des 19. Jh., während der soziale Status bei G. Jellinek noch nicht als eigenständiger Status auftaucht; vgl. Jellinek 1905. Marshall 1992b: 159. Marshall 1992b: 38. Ebd. Marshall 1992b: 40. Marshall 1992b: 52. Marshall 1992b: 54. Marshall 1992b: 61. Marshall 1992b: 64; Herv. von mir. Ebd. Marshall 1992b: 73. Marshall 1992b: 82. Zusammenfassend zu diesen Tendenzen das lesenswerte ‚Nachwort‘ von T. Bottomore zu einer Neuauflage von „Citizenship and Social Class“, das aber im Kern eine Relativierung von Marshalls Thesen für die 90er Jahre ist, in der sich die Kontexte für die Staatsbürgerschaft erheblich verändert haben; vgl. Bottomore 1992. Achinger 1958: 13. Achinger 1958: 12f. Meine Zählung ist sicher nicht vollständig, aber auf den Seiten 30, 32, 37, 38, 44, 49, 68 und 73 wird der Begriff der Unsicherheit definitiv erwähnt. Achinger 1958: 14f. Achinger 1958: 42. Der Keynesianismus löst diese Sichtweise auf und macht die Sozialpolitik zu einer spezifischen, zu einer Art Wirtschaftspolitik, die den ökonomischen Kreislauf wieder in Gang setzen kann, indem sie auf die Nachfrageseite des Marktes durch staatliche Investitionen und v. a. durch die ‚Quasi-Einkommen‘ der Sozialleistungen stabilisiert und antizyklisch wirkt; vgl. dazu unten Kap. 5.7.4. Achinger 1958: 54. Achinger 1958: 55. Achinger 1958: 63. Achinger 1958: 70. Achinger 1958: 102. Achinger 1958: 104. Achinger 1958: 135. Achinger 1958: 158. Achinger 1958: 14. Vgl. dazu ausführlich Vobruba 1983, bes. 127ff.; Rüb 1987: 121-140; Spahn 1981. Die wichtigsten Schriften im deutschsprachigen Raum kamen von Sozialwissenschaftlern, die sich im Umkreis der SPD befanden oder direkt mit sozialdemokratischen Regierungen zusammen gearbeitet haben; prototypisch etwa Pfaff/Voigtländer 1978; Krupp/Zapf 1977. Am Beispiel einer großen Rentenreform
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in den 80er Jahren vgl. Krupp u.a. (Hg.) 1981. Pfaff/Voigtländer 1978: 33. Pfaff 1978: 152ff. Pfaff 1978: 147. Pfaff 1978; vgl. auch Krupp 1978: 194. Pfaff 1978: 166-169. Baldwin 1996: 29. So der englischsprachige Titel seines Buches; Esping-Anderson 1990. Esping-Anderson 1990: 46. Esping-Anderson 1998: 39. Siehe dazu im Detail auch Kap. 4.2. Esping-Anderson 1990; (deutsch 1998); eine kritische Diskussion und teilweise Revision dieser drei Typen auf der Basis neuerer Daten findet man bei Goodin u. a. 1999. Esping-Anderson 1998: 41. Zu den wichtigsten Kritiken gehören ohne Frage Siegel, N. 2007; Lessenich/Ostner (Hg.) 1998; Kohl 1993; Offe 1993; Goodin u.a. 1999. Zudem hat Esping-Anderson sein im Jahr 1990 formuliertes Konzept später an verschiedenen Punkten präzisiert, ergänzt und z. T. revidiert; vgl. etwa Esping-Anderson 1999. Offe 1993. Borchert 1998. Vgl. zu diesen rekombinanten Typen ausführlich Lamping/Rüb 2010a; dies. 2010b. Vgl. etwa Lessenich/Ostner 1998. Vgl. zu dieser Diskussion Kornai 1998b. Vgl. statt vieler Ostner 1998. Dieser Begriff geht zurück auf Kaufmann 2014. Ich übernehme allerdings nicht alle Prämissen, die er mit diesem Begriff verbindet. Dazu und zum folgenden auch mit weiteren Literaturhinweisen Nullmeier/Rüb 1993: bes. Kap. 3.2. BT-Drs. 10/2608: 66. BT-Drs. 11/4124: 139. Wie bereits erwähnt geht der Begriff zurück auf Kaufmann 2014. Zu möglichen Zielsystemen von Alterssicherungen und deren Operationalisierung über Indikatorensysteme vgl. die Diskussionen der 80er Jahre, die u. a. bei Helberger 1982 und Zöllner 1982 aufgearbeitet wurden. Vgl. dazu Angelaki 2016: bes. 268. Myles 1996: 136. Pierson 1994. Zuerst entwickelt in Esping-Andersen 1990 und später modifiziert in ders. 1999. Vgl. dazu Lamping/Rüb 2001a; dies. 2010b. Vgl. dazu die ausgezeichneten Studien von Götting 1998; Götting/Lessenich 1998; Müller/Ryll/Wagener (Hg.) 1999; Müller, K. 1999b; Standing 1996. Es handelt sich hierbei konkret um Polen, Ungarn, Tschechien, Slowakei, Estland, Lett-
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5. Die Politik des Sozialen land, Slowenien, Bulgarien und Rumänien; vgl. Baum-Ceisig u.a. (Hg.) 2008. Baum-Ceisig u.a. (Hg.) 2008: 436. Ebd. Szikra/Tomka 2009: 34; vgl. auch insgesamt den Sammelband von Cerami/Vanhuysse (Hg.) 2009. Vgl. dazu Busch/Plümper (Hg.) 1999; Busch 1999c. Windfuhr 1997: 229. Busch 1999c: 21. Heinze 1999; Nullmeier 1996. Garret 1998: 2. Vgl. zu dieser Diskussion Seeleib-Kaiser 1999; ZENS 1997. Vgl. zu dieser Diskussion statt vieler Stichweh 2005; Farzin 2006; Kronauer 2002; Bude/ Willisch (Hg.) 2008.
208 209 210 211 212 213 214 215 216 217 218 219 220 221 222 223
Luhmann 1981: 25. Vgl. dazu umfassend Parsons 1976. Luhmann 1995b: 144. Luhmann 1981: 27; Herv. von mir. Luhmann 1995b: 147. Luhmann 2006: 390 bzw. 392. Luhmann 2000b: 242. Luhmann 2005: 80f. Luhmann 2000: 427. Luhmann 1997: 630ff. Luhmann 1995: 244. Luhmann 2000b: 303. Luhmann 1995. Offe 1996: bes. 274. Merkel (Hg.) 2015. Vgl. dazu Weiß 2008.
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6. Die Politik der Paranoia: Zur Psychopathologie des (Selbstmord)Attentäters und des wahnhaften Machthabers Das ‚kurze‘ 20. Jahrhundert begann 1914 mit einem politisch motivierten Attentat in Sarajewo auf den Kronprinzen Prinz Ferdinand, das den ersten Weltkrieg auslöste. Das ‚verlängerte‘ 20. Jahrhundert endete am 11. September 2001. An diesem Tag flogen islamistische Selbstmordattentäter mit zwei entführten Flugzeugen in die Türme des World Trade Center in New York und töteten über 3000 Menschen. Dieser barbarische Akt veränderte die Weltlage und die Wahrnehmung des Terrorismus grundlegend. Unter anderem hatte dies den ‚Krieg gegen den Terror‘ zur Folge, den der damalige Präsident der Vereinigten Staaten, George W. Bush, wegen dieses Anschlages ausrief und die militärische Intervention der US-Amerikaner in Afghanistan auslöste. Diese führte zwar zu keinem neuen Weltkrieg, aber beide Attentate rahmen das Jahrhundert ein und sind wie zwei Marksteine, die ihm das Gepräge geben. Zugleich verdeutlichen sie einen massiven Wandel des politischen Attentats: Am Ende des Jahrhunderts dominieren statt der bisher ‚normalen‘ Attentate nun Selbstmordattentate, die zur vorherrschenden Ausdrucksform der politischen Paranoia geworden sind. Zwischen dem 28. Juni 1914 und dem 11. September 2001 liegen unzählige weitere Attentate, die dem Jahrhundert ihren Stempel aufdrückten und es wie eine Blutspur durchziehen. Haben diese (und andere) Attentate etwas Gemeinsames, außer dass sie von Menschen begangen und dass Menschen getötet werden? Haben die Täter eine gemeinsame Psychostruktur oder gibt es eine „Psychologie des neuen Terrorismus“1, die sich erst am Ende des Jahrhunderts bei Selbstmordattentätern ausgebildet hat und sich von den Motiven der Attentäter zu Beginn des Jahrhunderts grundlegend unterscheidet? Wie kommt es, dass Selbstmordattentate am Ende des Jahrhunderts zur vorherrschenden Form des Terrorismus werden, zum Alptraum der Menschheit, weil keine andere Bedrohung so unheimlich, so unkalkulierbar und so allgegenwärtig geworden ist? Die Selbstmordattentate richten sich gegen eine umfassende, verschwörerische und dämonische Macht, die die ganze Welt versklaven will, und sind – herrschaftstopographisch formuliert – Anschläge von ‚unten‘, die von außerhalb der politischen Macht kommen. In einer zugespitzten Formulierung ist es der auf einen „Augenblick gerechnete Einzelgängerkrieg der Ohnmacht.“2 Aber es gibt auch eine politische Paranoia, die von ‚oben‘ kommt, die sich bei den Mächtigen einnistet und sie nicht mehr ruhig schlafen lässt. Sie ist der auf Dauer gestellte Einzelgängerkrieg der Macht. Die Machthaber fühlen sich von Mächten außerhalb ihrer unmittelbaren Macht bedroht, die überall lauern, die sich verstecken, die sich verschworen haben, die über unvorstellbare Mittel und Wege verfügen und die man ausschalten oder gar vernichten muss. Diese feindli-
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6. Die Politik der Paranoia
chen Mächte sind im Prinzip beliebig austauschbar, es können soziale Gruppen, (ethnische) Minderheiten, ein ganzes Volk sein, aber auch Personen im unmittelbaren Umkreis der Macht, die man dann verhaftet, in Prozesse verwickelt oder einfach tötet. Die Protokolle der Weisen von Zion waren beispielsweise ein (fiktives und gefälschtes) Dokument, das unübersehbar paranoiden Charakter hatte und eine religiöse Gruppe als zu bekämpfenden und im Zweifelsfall zu tötenden Feind betrachtete. Der paranoide Machthaber muss töten oder töten lassen, er kann sich nicht mittels eines Selbstmordattentates wehren, wie der Ohnmächtige. Auf den Selbstmordattentäter kommt es nicht an, er opfert sich. Auf den Machthaber aber kommt es an, er opfert andere. Politische Paranoia ist eine spezifisch politische Haltung, die Richard Hofstadter in einem bahnbrechenden Aufsatz Mitte der 60er Jahre tiefschürfend analysiert hat.3 Paranoia ist ein medizinischer Begriff, der eine (heilbare) Krankheit bezeichnet, aber R. Hofstadter verwendet ihn in einem nicht-klinischen Sinne. Er will eine politische Alltagsmentalität bezeichnen, die eine graduelle Abweichung von der ‚normalen‘ Politik signalisiert und in verschiedenen Intensitätsstufen auftreten kann.4 Das analytische Problem besteht aber darin, den paranoiden Stil von der ‚normalen‘ Politik abzugrenzen und zugleich verschiedene Intensitätsgrade innerhalb des paranoiden Stils zu identifizieren. Der paranoide Stil verändert die politischen Dynamiken stark, politisiert die politischen Konflikte, erhöht die Intensität des politischen Kampfes und treibt ihn in eine fundamentale Dimension, die Kompromisse schwieriger oder gar unmöglich macht. Immer ist damit die Gefahr der Transformation der Politik in das Politische verbunden: in FreundFeind-Konstellationen, die keine Kompromisse, sondern nur noch den tödlichen Kampf zulassen (vgl. dazu Kap. 1. 2.). Nimmt jedoch der Intensitätsgrad des paranoiden Stils zu und gibt es nur noch wenig politische Gegenkräfte, kann die Grenzüberschreitung zum Politischen nicht mehr verhindert werden. Wird aber diese Grenze von der Politik zum Politischen – aus welchen Gründen und auf Grund welcher Konstellationen auch immer – überschritten, dann haben wir es mit einem gewaltsamen Kampf zu tun, der bis zur völligen Vernichtung des Feindes geht. Das Politische bezeichnet eben nicht ein bestimmtes Sachgebiet, sondern den „Intensitätsgrad einer Assoziation oder Dissoziation von Menschen“, der Todesbereitschaft und Tötungsbereitschaft kreiert und die Menschen nach Freund und Feind unüberbrückbar gruppiert.5 Das folgende Kapitel beschäftigt sich mit dem Wandel der politischen Paranoia in diesem Jahrhundert und fragt zugleich nach Mustern und Dynamiken des paranoiden Politikstils. Ob die Paranoia eine für das späte 20. Jahrhundert charakteristische Mentalität6 oder untrennbarer Bestandteil der menschlichen Geschichte ist, muss hier nicht geklärt werden. Zentral ist vielmehr, dass dieses Phänomen im 20. Jahrhundert häufig auftaucht und seinen Gang in zentralen Situationen dramatisch (mit)bestimmt hat. Ohne die verschiedensten Ausprägungen
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der politischen Paranoia hätte das Jahrhundert einen völlig anderen Verlauf genommen. Sie ist ubiquitär, man findet sie in allen Schichten eines Volkes; der Massenwahn ist ebenso ihr Ausdruck wie die scharfe und destruktive Ausprägung bei manchen Staatsmännern und politischen Irrläufern des 20. Jahrhunderts, wie etwa Idi Amin oder Pol Pot. Vor allem an seinem Ende dominieren intensivere Erscheinungsformen dieses Politikstils und deshalb muss nach möglichen Gründen und Folgen dieser Intensitätssteigerung für die Politik gefragt werden. Ich diskutiere zunächst den Begriff des Politischen von Carl Schmitt und unterstelle hierbei, dass seine Konzeption in den Bereich der politischen Paranoia gehört – sicherlich eine bestreitbare Prämisse, die mir jedoch plausibel erscheint und die ich plausibel zu begründen hoffe (Kap. 6.1.). Danach kläre ich kurz die begrifflichen Differenzen zwischen politischem Mord, Attentat und Selbstmordattentat und das damit verbundene Ausmaß der politischen Paranoia (Kap. 6.2.). Dann versuche ich, die Merkmale der politischen Paranoia zu skizzieren, um sie von einem ‚normalen‘ Politikstil abzugrenzen (Kap. 6.3.). Ein Attentat, das in seiner Entstehung hochgradig kontingent war, hat zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges geführt und darf als Beispiel für die Zufälligkeit und die Folgen eines paranoid motivierten Attentats ebenso wenig fehlen (Kap. 6.4.) wie eine detaillierte Analyse des ersten Selbstmordattentates, das 1983 in Beirut stattfand und vielen weiteren als Vorbild diente (Kap. 6.5.). Alle diese (Selbstmord)Attentate sind Ausdruck einer politischen Paranoia ‚von unten‘, die meist ohne große ideologische Rechtfertigung auskommt. Ein zentrales Schlüsseldokument des Jahrhunderts, das in einer Politik der Paranoia ‚von ‚oben‘ wirkmächtig wurde und erhebliche mörderische Folgen hatte, sind die Protokolle der Weisen von Zion. Sie spielten vor allem im Antisemitismus der Weimarer Republik, dann in der Nazi-Propaganda gegen die Juden und schließlich auch im Genozid an ihnen eine Schlüsselrolle (Kap. 6.6.). Der paraniode politische Stil findet sich aber auch bei anderen politischen Machthabern, die ebenfalls eine blutige Spur durch das 20. Jahrhundert gezogen haben und die zuvor unvorstellbar schien. Hitler, Stalin, Idi Amin, Pol Pot und Bokassa sind die zentralen Figuren, die auch – allerdings nicht ausschließlich – aufgrund politischer Paranoia unzählige Menschen auf unvorstellbar grausame Weise töten ließen. Sie sind die paranoiden Schlächter des 20. Jahrhunderts (Kap. 6.7.). Abschließend versuche ich, die bisherigen Analysen zusammenzufassen, um eine Bewertung zu formulieren, welchen Wandel und welche Rolle die politische Paranoia in der Politik des 20. und des beginnenden 21. Jahrhunderts gespielt hat (Kap. 6.8.). Ich komme zu dem Ergebnis, dass die politische Paranoia ein unausrottbarer Begleiter der Politik im 20. Jahrhundert war und sie auch im beginnenden 21. Jahrhundert wie ein desaströser Schatten begleiten wird.
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6. Die Politik der Paranoia
6.1. Carl Schmitt als Theoretiker der politischen Paranoia? Der „Begriff des Politischen“ Die Politik der Paranoia hat im 20. Jahrhundert viele faktische Ausprägungen erfahren, aber es gab nur wenig politische Denker oder denkende Politiker, die dies zum Gegenstand einer Theorie oder einer begrifflichen Präzisierung gemacht hätten. Doch zu Beginn des Jahrhunderts, wenn auch mit etwas Verzögerung, gab es einen politischen Denker, der nicht nur ein fundamentales Gegenkonzept gegen die Politik und ihre verschiedenen konzeptionellen wie faktischen Ausprägungen formuliert hat. Er hat zudem dem tradierten Begriff der Politik eine Politikvorstellung entgegengeschleudert, die in ihrem Kern eine Politik der Paranoia formulierte und diese als ‚das Politische‘ im Gegensatz zur Politik bezeichnet hat. Keine andere Schrift hat das Denken über die Politik und das Politische im 20. Jahrhundert so herausgefordert wie C. Schmitts kleine Schrift „Zum Begriff des Politischen“. Sie ist in mehreren, sich erheblich unterscheidenden Auflagen erschienen. Die erste Veröffentlichung, erschienenen im Jahr 1927 im „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“7, ist im Vergleich zu der 1933 unter dem Nationalsozialismus erschienenen Version eine ‚harmlose‘ Version. Diese Schrift, in den Sozialwissenschaften meist nach der 1932er Version und 1963 erneut aufgelegten und mit einem aktuellen Vorwort versehenen Auflage zitiert, machte ihn berühmt und berüchtigt. Berühmt, weil er wie kein anderer die Diskussion um die Politik und das Politische mit bisher nicht formulierten Ideen und Begriffen befeuerte; berüchtigt, weil er mit seiner Unterscheidung von Freund und Feind als das Wesen des Politischen die Notwendigkeit der Tötung des Feindes und damit den Krieg bzw. den Bürgerkrieg ins Zentrum des Politischen rückte. Über die Politik als Politik sagt die Schrift jedoch wenig. Sie beschäftigt sich kaum mit Politik – aber sie wird abgehandelt durch ihre Diskreditierung bzw. durch ihr Verschweigen. Schärfer formuliert: Wer sich auf den Politikbegriff konzentriert und sich damit intensiv beschäftigt, ist bereits ein Feind, der bekämpft und im Extremfall getötet werden muss. Er erkennt nicht das Wesen, das das Politische ausmacht. Dies aber zu erkennen ist die Voraussetzung, um den Kern der gegenwärtigen Krise und den damit verbundenen Kampf um politische Begriffe zu verstehen. In allen drei Varianten des „Begriff des Politischen“ variiert der Feindbegriff. In der 1927er Ausgabe ist der Feind weniger der Andere, sondern mehr der Fremde, während in der 1933er Ausgabe der Andere der gefährlichere ‚Feind‘ ist: Der sich unkenntlich machende und sich nicht wesentlich vom ‚Freund‘ unterscheidende, weil assimilierte Jude. Raphael Gross hat diese Differenz scharf herausgearbeitet und den durchgehend antisemitischen Zug des C. Schmittschen Denkens wie kein Anderer analysiert und in den Mittelpunkt seiner Theoriebildung gerückt.8
6.1. Carl Schmitt als Theoretiker der politischen Paranoia?
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C. Schmitts kleine Schrift ist zugleich ein großes Rätsel. Eine einheitliche oder gar definitive Interpretation oder Auslegung gibt es nicht und die politischen Theoretiker und politischen Schriftsteller, die sich mit ihr auseinandergesetzt haben, können kein einheitliches Bild abgeben. Dies hängt mit der jeweils eigenen Positionierung zusammen, der damit verbundenen Distanz zu C. Schmitt und natürlich auch der Einschätzung seiner Rolle im Nationalsozialismus. Was am meisten erstaunt ist die Unkenntnis oder das Nicht-Wahrnehmen-Wollen des durchgehenden Antisemitismus in C. Schmitts Schriften. Nicolaus Sombart hat dies als erster betont und Raphael Gross hat es als zentralen Kern seines Denkens erneut und schärfer herausgearbeitet.9 Und in der Tat, die Differenz ist zentral für das politische Denken und die politische Theorie. Die häufig anzutreffende Gleichsetzung der beiden Begriffe verdunkelt zentrale Sachverhalte der politischen Theorie, die allein durch die Konturierung einer Differenz sichtbar werden. Das Politische – um es als These der folgenden Überlegungen vorweg zu nehmen – ist das gewalttätige Vagabundieren einer tödlichen Differenz, die von keiner institutionell vorgesehenen Instanz entschieden wird, sondern sich im existentiellen politischen Kampf selbst herauskristallisiert. Sie wird von der entscheidenden Gruppe selbst bestimmt und konstruiert eine fundamentale Differenz zwischen „uns“ und „den Anderen“, die keiner faktischen oder ernst zu nehmenden Bedrohung entspringen muss. Sie wird konstruiert und entschieden und kann paranoide Züge annehmen, vor allem wenn sie der Entlarvung eines sich tarnenden Feindes dient, der erst durch die Feinbestimmung zum zu tötenden Feind wird, dessen Bekämpfung existentiell ist. Denn dadurch, dass ein bestimmtes Volk „nicht mehr die Kraft oder den Willen hat, sich in der Sphäre des Politischen zu halten, verschwindet das Politische nicht aus der Welt. Es verschwindet nur ein schwaches Volk.“10 Ob C. Schmitt auch der wichtigste Theoretiker einer politischen Paranoia war, soll hier nur angedeutet, aber nicht entscheiden werden. Man darf allerdings behaupten, dass viele seiner Theorien paranoide Züge tragen. N. Sombart hat in seinem sicherlich sehr umstrittenen Buch über C. Schmitt diese Vermutung nicht nur nahe gelegt, sondern auch explizit formuliert: „Carl Schmitts wissenschaftliche Theoriebildung gehört mit zur ‚Geschichte des deutschen Unglücks‘. Sie ist das Symptom einer Krankheit. In ihrem manifesten Gehalt ist sie für uns historisches Quellenmaterial wie anderes auch.“ Und an andere Stelle, an der er über die Geistesverwandten von C. Schmitt schreibt, sagt er: „Dann stellt sich heraus, dass sie gleich gedacht haben, weil sie dieselbe psychische Struktur hatten. Nicht nur die Organisation ihres intellektuellen Apparats, auch die ihres Triebhaushaltes war identisch. Ihr ‚Denken‘ ist symptomatisch für eine psycho-pathologische Deformation, eine ‚Krankheit‘. Es handelt sich um eine ‚symptomatologische‘ Gruppe (...).“11
Es gibt noch einen weiteren Autor, der eine solche Interpretation nahelegt. Waldemar Gurian, einer der Schüler C. Schmitts, der sehr engen persönlichen Kon-
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takt zu ihm hatte, schrieb bereits 1934, dass C. Schmitt stets nach einer „höchsten Entscheidungsinstanz“ sucht, die seiner „Verzweiflung an der von ihm hinter allen Fassaden erkannten Anarchie ein Ende bereiten könnte.“12 Überall lauert der Feind – hinter allen Fassaden – das ist der Geist der Paranoia, der hier sein Unwesen treibt. Und die Idee, dass nur er selbst der Katechon, der Aufhalter der aus dem Ruder laufenden Weltgeschichte sei – auch das ist wissenschaftlicher oder theoretischer Größenwahn, der als Kostüm aus dem Kleiderschrank der Paranoia entliehen ist. Auch Reinhard Mehring schreibt in seiner kleinen Einführung zu C. Schmitt, dass sein Denken immer im Gegensatz zum „‚jüdischen Geist‘ formuliert sei, wobei er zu einer hermeneutischen Verflüchtigung aller nachweislichen Bezüge ins Willkürliche und geradezu Paranoische neigt. (...) Die Feindidentifikationen geraten zu einem Maskentanz hermeneutischer Enthüllungen, bei der die Identifikation des ‚Juden‘ vorab feststeht.“13
Friedrich Balke hat C. Schmitts Denken explizit als „Politische Paranoia“ bezeichnet und dies an Hand vieler seiner Schriften nachzuweisen versucht. Hinsichtlich eines totalitären Politikbegriffs, der seiner Ansicht nach immer paranoide Bausteine enthalten muss, schreibt er: „Politik wird totalitär in dem Augenblick, indem sie der prinzipiellen Überlegenheit der im Verborgenen wirksamen, subrepräsentativen Mächte dadurch Rechnung trägt, dass sie ihrerseits konsequent aus dem Verborgenen herausoperiert und jede Bezugnahme auf die Ansprüche juristischer und medialer Form zurückweist.“14
Es sind die im Verborgenen wirkenden Kräfte, die den Feind ausmachen und der immer aus der „Überlegenheit des Unsichtbaren“15 operiert. Er zeigt sich nicht offen, er gibt sich nicht zu erkennen, er versteckt sich hinter Masken. Daraus ergibt sich die welthistorisch unvermeidliche Aufgabe des Aufhalters: Den Feind nicht nur zu identifizieren, sondern ihm auch die Maske vom Gesicht zu reißen. Demaskierung, Entlarvung und Durchschauen des Feindes wird dann zur zentralen Aufgabe des selbsternannten Aufhalters. Was sind aber die weiteren Bausteine des paranoiden politischen Denkens bei C. Schmitt? Zentral ist sicherlich seine Freund-Feind-Konstruktion des Politischen und die damit verbundene Feindbestimmung. Wer ist der Feind? Welche Eigenschaften sind für ihn prägend? Wie kann man den sich tarnenden und im Verborgenen agierenden Feind erkennen? C. Schmitt hat in seinem Glossarium geschrieben, das Wesen der Angst besteht darin, „einen unbestimmten Feind zu wittern“, die Sache der Vernunft sei es indes, den „Feind zu bestimmen“.16 Das ist der Singsang der Hyperrationalität des paranoischen Denkens. Und auch in C. Schmitts Lehre vom Katechon, dem Aufhalter, ist ebenfalls eine paranoische Denkfigur enthalten, die dem „Bösen“, dem Sieg der Lüge, den Verwirrungen des Geistes, den falschen Deutungen und dem Spiel verborgener Mächte endlich und grundlegend Einhalt gebietet.
6.1. Carl Schmitt als Theoretiker der politischen Paranoia?
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Wer aber ist nun der Feind, der aus allen Spalten und Fassaden schaut, der überall lauert, den die Angst (vor was eigentlich?) wittern muss und der sich überall verbirgt, maskiert und unerkannt bleiben will, um sein zerstörerisches Werk zu vollenden? Die Antwort bei C. Schmitt ist klar: Es ist der Jude, konkreter der assimilierte Jude. Er ist das Böse, er spielt das Spiel der verborgenen Mächte, er ist der schlimmste aller Betrüger. Der durchgehende Antisemitismus C. Schmitts ist auch – aber nicht ausschließlich – die Frucht seines paranoischen Denkens. In seiner Schrift über den Leviathan fabuliert er, dass neben den Geheimbünden, Logen, Freimaurern, Sektierern etc. es „vor allem auch hier wieder der rastlose Geist des Juden (ist), der die Situation am bestimmtesten auszuwerten wusste, bis das Verhältnis von Öffentlich und Privat, Haltung und Gesinnung, auf den Kopf gestellt war.“17 Die Juden haben als „Doppelwesen einer Maskenexistenz“18 daran mitgewirkt, einen „lebenskräftigen Leviathan zu verschneiden.“19 Und der Leviathan ist die mythologische Figur für den autoritären Staat, der dauerhaft gegen den Anarchismus der Individuen ankämpft – und gegen die Juden als ‚Maskenwesen‘, die den Leviathan notorisch und dauerhaft zerstören wollen. Insofern muss man C. Schmitts Theorie des Politischen immer auch – aber nicht ausschließlich – als eine (antisemitische) Theorie der politischen Paranoia lesen.
6.1.1. Die Anwesenheit der Politik durch ihre Abwesenheit: Was ist C. Schmitts Verständnis von Politik? In seiner kleinen Schrift taucht der Begriff der Politik kaum auf, aber er schreibt über Politik, indem er nicht über sie schreibt. Die weitgehende Abwesenheit dieses Begriffs wird dadurch ersetzt, dass ein anderer Begriff ins Zentrum rückt und dies ist der Begriff des Politischen. Die zentrale Frage, die sich daraus ergibt, lautet: Wie markiert er die Differenz zwischen beiden Begriffen und welche Folgen ergeben sich aus den jeweils unterschiedlichen Begriffen? Wenn C. Schmitt über Politik spricht, sind damit bestimmte Konnotationen verbunden und diese liegen darin, dass der Begriff des Politischen immer als Gegensatz zur Politik verstanden wird. „(...) hört also die Unterscheidung von Freund und Feind auch der bloßen Eventualität nach auf, so gibt es nur noch politikreine Weltanschauung, Kultur, Zivilisation, Wirtschaft, Moral, Recht, Kunst, Unterhaltung usw., aber weder Politik noch Staat. (…) Eine Welt, in der die Möglichkeit eines solchen Kampfes (zwischen Freund und Feind, F.W. R.) restlos beseitigt und verschwunden ist, ein endgültig pazifizierter Erdball, wäre eine Welt ohne die Unterscheidung von Freund und Feind und infolgedessen eine Welt ohne Politik. Es könnte in ihr auch mancherlei sehr interessante Gegensätze und Kontraste geben, Konkurrenzen und Intrigen aller Art, aber sinnvollerweise keinen Gegensatz, aufgrund
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6. Die Politik der Paranoia dessen von Menschen das Opfer ihres Lebens verlangt werden könnte und Menschen ermächtigt werden, Blut zu vergießen und andere Menschen zu töten.“ 20
Hier ist die zentrale Differenz zwischen der Politik und dem Politischen deutlich markiert. In der Politik kann es ‚interessante Gegensätze‘ geben, ja auch faszinierende Intrigen und ähnliche ‚Unterhaltungen‘, aber das alles sind liberale Vorstellungen, die ihm verdächtig sind und die er verächtlich macht. Es kann keine liberale Politik an sich geben, sondern nur eine „liberale Kritik der Politik“21 – und darüber kann man dann die Personen identifizieren, die diese Kritik formulieren und eine Welt ohne Politik wollen, eben den pazifizierten Erdball. Hier setzt C. Schmitt Politik und das Politische begrifflich noch gleich, meint aber gleichwohl Letzteres und die Intention der liberalen Kritiker des Politischen ist deutlich: „Der politische Begriff des Kampfes wird im liberalen Denken auf der wirtschaftlichen Seite zur Konkurrenz, auf der anderen, „geistigen“ Seite zur Diskussion; an die Stelle der klaren Unterscheidung der beiden verschiedenen Status „Krieg“ und „Frieden“ tritt die Dynamik ewiger Konkurrenz und ewiger Diskussion. Der Staat wird zur Gesellschaft, und zwar auf der einen, der geistig-ethischen Seite zu einer ideologisch-humanitären Vorstellung von der „Menschheit“; auf der anderen zur ökonomisch-technischen Einheit eines einheitlichen Produktions- und Verkehrssystems.“22
Selten finden sich in seiner Schrift so viele Kursivsetzungen und man kann davon ausgehen, dass diese Passagen und die dort aufgeführten Begriffe von größter Bedeutung für ihn sind. Hier wird bereits der Kampf zwischen Freunden und Feinden geführt und wer nicht den Primat des Kampfes, die Tötung des oder der Anderen eingeschlossen, akzeptiert, ist bereits ein Feind, der bekämpft werden muss – wie auch immer. Denn es ist nur die Feindposition, die die „spezifisch politische Spannung“23 hervorbringen kann und die Freund-Feind-Konstellationen ermöglicht. Nur im Ernstfall, nur im spezifisch intensivierten Konflikt tritt das Politische hervor, während alles andere, das diese Intensität nicht erreicht, zu Unterhaltung wird. Politik als Unterhaltung – das ist das Programm des Liberalismus, der Pazifisten, der Diskutanten und anderer verweichlichter Theoretiker oder politischer Denker. Politik ist nur dann ‚richtige‘ Politik, wenn sie durch das Politische ersetzt wird, aber dann gibt es keine Politik mehr. An ihre Stelle ist dann etwas anderes getreten, das durch einen anderen Intensitätsgrad der ‚politischen Spannung‘ gekennzeichnet ist und nun eine tödliche Dimension erhält. Töten oder getötet werden – das ist die Grundkonstellation dieser Vorstellung von ‚Politik‘, die dann keine Politik mehr ist, sondern etwas Neues und grundlegend Existentielles. Das liberale Denken hat Träger und diese Träger zu markieren, zu benennen und zu identifizieren ist keine leichte Aufgabe. Dies muss der Aufhalter erledigen, nur er verfügt über die grundlegende Wahrheit, nur er kann hinter der Maske die Existenz des Feindes ausmachen und ihn identifizieren. Er hat eine besondere
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Verantwortung und eine besondere Machtposition, aus der heraus er seine Aufgabe erfüllen kann. Nur aus dieser Position heraus kann der Paranoiker seine „exaltierte Stellung“24 ableiten und sie ist immer mit der Vorstellung verknüpft, mit einem höheren und imaginären Wesen verbunden zu sein, das über ein gesondertes Wissen verfügt und zu dem der Aufhalter Zugang hat. Der Feind muss erkannt und benannt werden und der Konflikt zwischen dem Feind und einem selbst bzw. der eigenen Gruppe ist so fundamental, dass es nur eine Option gibt: töten oder getötet werden – das ist die Ursituation des Politischen und das Ende der ‚tradierten‘ Politik. Wer Feind ist und wer nicht, ist nicht ein für allemal festgelegt. Über den Feind muss in einer konkreten historischen Situation entschieden werden und die „Entscheidung ist, normativ betrachtet, aus einem Nichts geboren.“25 Aber sie muss getroffen werden, denn der Feind muss benannt sein, um gegen ihn nicht nur kämpfen, sondern um ihn vernichten zu können. Solange er existiert, ist man selbst immer bedroht und der eigenen Vernichtung ausgesetzt. Man ist vom Feind umstellt, er ist ubiquitär und sein Blick fällt selbst durch kleinste Ritzen und durchschaut einen.
6.1.2. Die Frage nach der Natur des Menschen: Gut oder Böse? Die Frage nach der Natur des Menschen, die immer auch eine theologische ist, hängt eng mit der Frage nach dem Wesen des Politischen zusammen. C. Schmitt selbst sagt nicht nur, dass alle Begriffe des modernen Staatsrechts und der politischen Theorie säkularisierte theologische Begriffe sind, sondern dass es einen notwendigen Zusammenhang zwischen der politischen Theorie und den religiösen Dogmen gebe: „Das theologische Grunddogma von der Sündhaftigkeit der Welt und des Menschen führt (...) ebenso wie die Unterscheidung in Freund und Feind zu einer Einteilung des Menschen, zu einer ‚Abstandnahme‘26, und macht den unterschiedslosen Optimismus eines durchgängigen Menschenbegriffes unmöglich. In einer guten Welt unter guten Menschen herrscht natürlich nur Friede, Sicherheit und Harmonie Aller mit Allen; die Priester und Theologen sind hier ebenso überflüssig wie die Politiker und Staatsmänner.“27
Priester und Politiker haben also eine gemeinsame Aufgabe, in der sich ihre Bestimmung überschneidet: Die Bekämpfung des Bösen und des Sündhaften. Und die Möglichkeit des Krieges Aller gegen Alle – so die Hobbes‘sche Denkfigur – ist die elementare Voraussetzung eines spezifisch politischen Denkens. Hier fließen Theologie und politische Theorie unmittelbar zusammen und so kommt auch seine zentrale Prämisse zustande, die nicht am Anfang seiner kleinen Schrift steht, sondern eher in der Mitte:
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6. Die Politik der Paranoia „Man könnte alle Staatstheorien und politischen Ideen auf ihre Anthropologie prüfen und danach einteilen, ob sie, bewusst oder unbewusst, einen ‚von Natur bösen‘ oder einen ‚von Natur guten‘ Menschen voraussetzen. Die Unterscheidung ist ganz summarisch und nicht in einem speziell moralischen oder ethischen Sinne zu nehmen. Entscheidend ist die problematische oder unproblematische Auffassung des Menschen als Voraussetzung jeder weiteren politischen Erwägung, die Antwort auf die Frage, ob der Mensch ein ‚gefährliches‘ oder ungefährliches, ein riskantes oder ein harmlos nicht-riskantes Wesen ist.“28
Dass diese Auffassung „ganz summarisch“ sei, ist natürlich eine Irreführung. Vielmehr ist sie elementar und für C. Schmitt nicht in Frage zu stellen. Im Gegenteil: Alle, die diese Prämisse hinterfragen oder gar verneinen, sind Feinde. Diese Auffassung ermöglicht eine ‚Abstandnahme‘, sie macht eine Differenzierung möglich zwischen denen, die gut, und denen, die böse sind. Präziser: zwischen denen, die Freunde sind und denen, die keine Freunde sind, sondern die Anderen, Fremdartigen und „Artfremden“, wie es dann in der 1933er Ausgabe heißt, und die – sofern sich der Intensitätsgrad steigert – zu Feinden werden.
6.1.3. Der Dezisionismus C. Schmitts Die Entscheidung über Freund und Feind wird nicht von einem Souverän und normativ aus dem Nichts gefällt, wie C. Schmitt in seinem Dezisionismus immer wieder betont. Wird sie aber in der faktischen Welt einmal getroffen, so muss sie in einem Prozess mit zunächst offenem Ausgang und innerhalb eines normativ akzeptierten Rahmens gefunden werden, in dem es verschiedene Optionen gab und die schließlich auf eine verdichtet wurden. Alle bisher angeführten Typen von dezisionistischen Entscheidungen, auch die im totalitären Staat nationalsozialistischer oder stalinistischer Prägung, unterscheiden sich grundlegend von Dezisionen als unrealistische und existentialistische Fiktion, wie sie von C. Schmitt begründet und in der Politikwissenschaft häufig und fälschlicherweise als einzig mögliche Form des Dezisionismus betrachtet wird. Grundsätzlich kann man zwei Ebenen des Dezisionismus unterscheiden. Zunächst die von einfachen bzw. regulativen Policy-Entscheidungen, wie ich sie oben skizziert habe und die man in zwei Untertypen, in demokratische und nicht-demokratische, unterteilen kann. Dann zweitens in substantielle Entscheidungen, die die fundamentale Grundordnung einer Gesellschaft betreffen, was eine Freund-Feind-Unterscheidung in der Regel einschließt. Hier nun stellt sich bei C. Schmitt die Frage, wie man bei substantiellen Grundentscheidungen entscheiden soll, wenn man von allen normativen Orientierungen und von allen Pfadabhängigkeiten abgeschnitten ist? Unter Berufung auf vorgegebene Normen und anschlussfähige Traditionen kann es keine wirkliche Entscheidung im exis-
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tentiellen Sinne mehr geben. Sie muss daher völlig frei sein von allen Bindungen und die „Entscheidung ist, normativ betrachtet, aus einem Nichts geboren.“29 Und er sagt weiter: „Dass es die zuständige Stelle war, die eine Entscheidung fällt, macht die Entscheidung relativ, unter Umständen auch absolut, unabhängig von der Richtigkeit ihres Inhaltes und schneidet die weitere Diskussion darüber, ob noch Zweifel bestehen können, ab.“30
Wer die ‚zuständige Stelle‘ ist, insbesondere bei existentiellen Freund-Feind-Entscheidungen, lässt C. Schmitt mehrdeutig offen. An anderer Stelle spricht er von der politischen Gruppe, „die sich am Ernstfall orientiert. Sie ist deshalb die maßgebende menschliche Gruppierung.“31 Es ist die Gruppe oder Person, die sich willkürlich und jenseits aller verfassungsrechtlichen Verfahren zur entscheidenden Stelle erklärt. Sie trifft dann folgerichtig die Entscheidung über den „maßgebenden Fall, auch wenn das der Ausnahmefall ist.“32 Die rechtliche Kraft der Dezision ergibt sich nicht aus ihrer Begründung, sondern aus der Entscheidung selbst, die nun gilt. Sie wird „im Augenblick (ihrer Entscheidung, F.W.R.) unabhängig von der argumentierenden Begründung und erhält einen selbständigen Wert.“33 Die Konzeption C. Schmitts ist eine unrealistische Fiktion und erscheint als reine Willkür, als heroischer Willensakt eines Einzelnen oder einer homogenen Gruppe, die in einer Freund-Feind-Entscheidung die Pluralität demokratischer Gesellschaften und die Kontingenzen der Moderne vernichten will. Diese Form des Dezisionismus ist „philosophischer Extremismus, der, von antiparlamentarischen, antidemokratischen, antiintellektuellen und antibürgerlichen Affekten und Motiven getrieben, sich als diktatorischer Gegenentwurf zur politischen Ordnung der vernunftbegründeten und revolutionsgeborenen Menschenrechte artikuliert, ist theoretischer Ausdruck einer politisch-existentiellen Haltung, einer normalitäts- und kompromissverachtenden Ästhetik der Ernstfalleigentlichkeit.“34
C. Schmitts Konzept der Entscheidung ist als unrealistischer und deshalb fiktionaler Willenskraftakt konzipiert. Dies deshalb, weil alle Entscheidungen immer auf vorangegangene Entscheidungen rekurrieren, sie entstehen in einem im Prinzip einerseits offenen, gleichwohl beschränkten Korridor von faktisch möglichen Entscheidungen, der zwar Dezisionen ermöglicht, aber vollkommener Willkür wirkungsvolle Riegel vorschiebt. Nie entsteht eine Entscheidung normativ betrachtet aus dem Nichts, sie ist nicht nur normativ, sondern auch politisch, institutionell und kulturell immer pfadabhängig.
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6. Die Politik der Paranoia
6.1.4. Die Politik und „das Politische“: Zur Notwendigkeit und den Folgen einer Differenz Die Politikwissenschaft hat es bisher versäumt, beide Begriffe systematisch zu rekonstruieren und ihnen eine klare Kontur zu geben. Natürlich findet man systematische Abhandlungen zu beiden Begriffen und auch zu ihrer Differenz, aber oft trennen sie nicht rigoros genug zwischen den beiden oder sie sie haben meist eine klare Präferenz für den Begriff des Politischen. Vor allem die französische politikwissenschaftliche und sozialphilosophische Diskussion, die meist von Heidegger inspiriert ist, zieht diesen Begriff vor und hat hierbei eine ganze Bandbreite unterschiedlicher begrifflicher Fassungen vorgelegt.35 Das Politische ist der fundamentalere Begriff in dieser Diskussion, geht es doch beim Politischen ums Ganze: Um die Neufundierung der Gesellschaft als Gesellschaft insgesamt und das ist natürlich eher Gegenstand (sozial)philosophischer Diskussion als die Politik als Alltagsgeschäft, die wir in der laufenden Berichterstattung der Presse und des Fernsehens beobachten können. Es mag auch daran liegen, dass die Politik eine fast nicht überschaubare und typologisierbare Bandbreite an politischen Aktivitäten hervorbringt, die man begrifflich nur schlecht fassen kann und die sich einer Kategorisierung sperren. Was haben zum Beispiel ein politisch motivierter Terrorist, der bei einem Anschlag unzählige Menschen tötet, und ein Hinterbänkler in einem Parlament, der langweilige und ermüdende Reden hält, gemeinsam? Worin mag die gemeinsame Schnittstelle zwischen Drohnenangriffen auf vermeintliche oder tatsächliche Drahtzieher von Attentaten liegen im Vergleich zur Änderung eines Parameters in der Rentenformel zur Variation des Rentenniveaus nach – sagen wir – 45 Versicherungsjahren? Beim Politischen dagegen geht es ums Ganze. Hier stehen sich fundamentale und sich gegenseitig ausschließende Konzeptionen von der Gesellschaft und ihren grundlegenden Prinzipien gegenüber, die sich so gravierend unterschieden, dass dieser Grundkonflikt nur gewaltsam gelöst werden kann. „Lösung“ ist ein schwieriger Begriff, denn eigentlich kann dieser Grundkonflikt nur entschieden werden – so oder auch anders und diejenige politische Kraft setzt sich durch, die ihre Position allen Anderen mit Gewalt aufzwingen kann. Wenn man diese Grundfrage von den philosophischen Höhen in die wirkliche Welt, in die der politischen Aktion, zurückholt, dann ist es im Kern eine revolutionäre Situation, in der antagonistische Kräfte um die Souveränität kämpfen: Wer ist in der Lage, der Gesellschaft sein Modell, seine Grundvorstellung des gesellschaftlichen Zusammenlebens, im Zweifelsfall mit Gewalt, zu oktroyieren? Es ist eine Situation, in der etwas neu gegründet, begründet, von Grund auf neu geschaffen werden soll. Eine Gesellschaft soll konstituiert werden, die sich nicht nur gegen widerstrebende Kräfte, sondern gegen antagonistische widerstrebende Kräfte durchsetzen
6.1. Carl Schmitt als Theoretiker der politischen Paranoia?
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muss. Eine fundamentalere und existentiellere Situation kann man sich kaum vorstellen. Die (Neu)Gründung erfolgt ohne universellen oder letzten Grund, was nicht heißt, dass die neue Gesellschaft keine Begründungen für sich in Anspruch nehmen oder ins Feld führen kann. Das Problem stellt sich dann nicht dramatisch als Problem völliger Grundlosigkeit, sondern als das kontingenter Gründe, die so oder auch anders sein könnten. Der Boden der Begründungen beginnt zu schwanken, aber endet nicht in völliger Beliebigkeit. Gleichwohl ist eine revolutionäre geschichtliche Situation immer damit konfrontiert, dass virtuell alles möglich sein könnte, was aber faktisch nur im Extremfall der Fall wäre. Aber es geht nach wie vor um das grundlegende Ganze: Welche Verfassung soll ein Gemeinwesen haben? Wie werden die Rechte und Pflichten von Einzelnen oder von sozialen Gruppen geregelt? Wer hat wie Zugang zu den zentralen Entscheidungsinstanzen der Gesellschaft? Kann man die Entscheider politisch verantwortlich machen, entweder durch (Ab)Wahlen oder auch durch Gerichte? Welche Formen des Wirtschaftens und des Verteilens sollen begründet werden? Welche kulturellen, ethnischen, geschichtlichen oder religiösen Identitäten wollen wir haben? Wie kann man uns beitreten und wie nicht? Das sind – neben vielen möglichen anderen – zentrale Grundfragen, die beantwortet werden müssen und sich im antagonistischen Konflikt gegen andere Positionen – oft und vielleicht als Regel – mit Gewalt durchsetzen müssen. Fast im Gegensatz dazu steht die Politik. Sie wird – betrachtet man die französische Diskussion – eher als Übel, als Regierungstechnik zur Unterdrückung, als Polizei, als letztlich unbedeutsam betrachtet. Der französische Philosoph Paul Ricoeur hat beispielsweise formuliert, dass „die Politik (la politique) spezifische Übel hervor(bringt), politische Übel eben, Übel der politischen Macht.“36 Mit dieser Position steht er nicht allein; sie wird von fast allen französischen Theoretikern des Politischen geteilt, auch wenn die Terminologie unterschiedlich ist. Und dem gegenüber steht dann das Politische: Statt des „Übels der politischen Macht“ stellt sie ein „menschliches Verhältnis“37 dar, das sich nicht auf Klassenkämpfe oder auf andere sozio-ökonomische Spannungen (also auf Politik!) reduzieren lässt. ‚Menschliches Verhältnis‘ versus ‚Übel‘ stehen sich nicht nur begrifflich gegenüber, sondern auch in ihrer Werthaltigkeit. Die Differenz zwischen der Politik und dem Politischen wird bei ihm zudem als eine Spaltung beschrieben, die sich aus den unterschiedlichen Logiken der beiden Sphären ergibt, wobei für die Politik die strategischen, taktischen und konfliktorischen Machtkämpfe zentral sind. Spaltung bedeutet nicht unüberbrückbare Trennung, sondern untrennbare Bezogenheit. Die Logik des Politischen ergibt sich aus ihrer antagonistischen Grundlegung, die eine Grundstruktur der Gesellschaft instituiert. Dadurch wird das Politische in Politik überführt, die sich nun in den Regeln und Verfahren vollzieht, die durch das Politische vorgegeben wer-
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6. Die Politik der Paranoia
den. Aber die Politik kann sich – und das ist zentral für die Argumentation – jederzeit als das Politische konstituieren und sich dadurch der Verrechtlichung entziehen. Politische Konflikte werden dann in grundlegende und im Kern nicht lösbare Konflikte rücktransformiert und wandeln sich dadurch von ‚normalen‘ Konflikten in antagonistische. Dann wird aus Politik das Politische und die daran beteiligten Akteure sehen sich mit den fundamentalsten Entscheidungen über die Ausprägung des „menschlichen Verhältnisses“ konfrontiert. Wie ein Vulkan bricht sich dann das Politische Bahn, während im Normalbetrieb der Politik der Vulkan ‚schläft‛ und nur ab und zu kleine Rauchwolken oder kleine Mengen an Lava ausstößt. Politik ist die Normalität, bei der das Abwesende Politische aber immer als Anwesendes präsent ist: Der Vulkan kann – als abstrakte Möglichkeit – jederzeit und ohne Vorwarnung ausbrechen, obwohl das eher die Ausnahme sein dürfte. Aber jederzeit kann das Politische unter unbestimmten Bedingungen zum Ausbruch kommen. Die Spannung zwischen dem Politischen und der Politik als untrennbare Aufeinanderbezogenheit lässt sich in einer zeitlichen, sachlichen und sozialen Dimension beobachten. (i) Auf der zeitlichen Ebene ist die Differenz klar: Politik findet kontinuierlich statt, in einer etwas übertriebenen Formulierung könnte man sagen, sie findet Tag und Nacht statt. Während der oder die Machthaber schlafen, überlegen die der Macht unterworfenen, wie sie diese loswerden könnten und welche Strategien und Taktiken sie dabei anwenden müssten; und Analoges gilt für Verteilungsund andere Fragen der Gesellschaft. Im Gegensatz dazu ist das Politische sporadisch, selten und nur in bestimmten Augenblicken präsent. Die (Neu-)Gründung eines Gemeinwesens hat dagegen einen identifizierbaren Anfang. Aber irgendwann ist die Revolution zu Ende, die neuen Institutionen sind gegründet und die neuen Akteure in Amt und Würde – und die Revolutionäre können dann endlich schlafen gehen. (ii) Auf der sachlichen Ebene ist die Differenz ebenso deutlich. Während die normalen Machtkämpfe der Politik sich etwa darum drehen, wer welche Ressourcen bekommen soll, wer welche Rechte in Anspruch nehmen kann oder wer welche Autobahnmaut bezahlen soll, geht es beim Politischen ums Ganze: Wie eine neue Gesellschaft aussehen soll, kann nur gegen andere, widerstrebende Kräfte mit Gewalt durchgesetzt werden, weil es um fundamentale und antagonistische Konflikte geht. Dies verweist auf die letzte Dimension. (iii) Auf der sozialen Ebene tritt eine Akteurkonstellation auf, in der sich zwei Gruppierungen unversöhnlich gegenüberstehen, die Bewahrer und Verteidiger des Alten und die Kräfte des Neuen. Ihr Konflikt kann nur durch Gewalt ausgetragen und entschieden werden und hat dann eine Intensität erreicht, die ihn in einen antagonistischen Konflikt transformiert, den zwischen Freund und Feind. Dann ist Politik in das Politische umgeschlagen.
6.2. Vom politischen Mord zum Selbstmordattentat
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„Die Unterscheidung von Freund und Feind hat den Sinn, den äußersten Intensitätsgrad eine Verbindung oder Trennung, einer Assoziation oder Dissoziation zu bezeichnen.“38
Diese Bestimmung ist eine rein formale Bestimmung, denn alle sachlichen Bestimmungen, wie schön/hässlich, gut/böse, moralisch/unmoralisch lassen sich zu einem bestimmten, dem ‚äußersten‘ Intensitätsgrad steigern, ab dem sie dann zu einem politischen Gegensatz im Sinne des Politischen werden. Er ist dann erreicht, wenn die fundamentale Negation des Anderen nicht nur denkbar, sondern auch faktisch machbar erscheint; denn das Freund-Feind-Schema hält „seinen realen Sinn dadurch, dass insbesondere auf die reale Möglichkeit der physischen Tötung Bezug“ genommen werden kann.39 „Seinsmäßige Negierung“40 ist der Kern der sozialen Dimension, während in der Politik der Andere ein Gegner ist, den man zwar bekämpft, manchmal mit fairen oder weniger fairen Mittel, aber seinsmäßig nicht negiert bzw. nicht tötet. Der Kampf – wenn der Begriff selbst nicht bereits überzogen ist und durch den des Konflikts ersetzt werden sollte – vollzieht sich in erwartbaren und legitimen Formen und schließt die seinsmäßige Negation des politischen Gegners systematisch aus. Nach einer Niederlage bleibt der Gegner präsent in Form der (politischen) Opposition und kann umgehend und erneut um Anteile an politischer Macht kämpfen. Zudem sind die Konflikte hier dem Kompromiss zugänglich und statt durch Tötung durch Verhandlungen oder andere friedlichen Mechanismen der Konfliktbearbeitung entscheidbar. Über die Formen der Gewaltausübung in den kriegerischen Freund-Feind-Konstellationen schweigt sich C. Schmitt weitgehend aus, aber immer kämpfen bei ihm soziale, besser durch das Politische konstituierte Gruppen gegeneinander. Dies können eigentlich nur größere Gruppen Gleichgesinnter sein, die dann kriegerisch zusammenprallen und sich auf Leben und Tod bekämpfen. Aber es gibt noch viele andere Formen der Gewaltausübung, die in der Politik eine zentrale Rolle spielen und im Folgenden diskutiert werden.
6.2. Vom politischen Mord zum Selbstmordattentat Der politische Mord begleitet die Politik wie ein Schatten und ist ein Phänomen, das wir seit der Antike kennen. Er ist die vorsätzliche und geplante, gleichwohl ungesetzliche Tötung einer Person, die ein Regime, eine Machtstruktur oder eine Ideologie repräsentiert und die vom Mörder angegriffen – besser – bekämpft wird.41 Der Mörder ist meist eine Einzelperson, es kann sich aber auch um eine kleine, verschworene Gruppe von Personen handeln, die entweder selbst oder im Auftrag von Dritten handelt. Der politische Mord gehört zum Spiel der Macht und findet meist innerhalb der Gruppe der politischen Machtträger statt. Ihm liegt eine rationale Kalkulation zu Grunde, deren Ausgangsprämissen dennoch falsch sein können. Mit dem politischen Mord ist eine erwartbare Folge verbun-
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6. Die Politik der Paranoia
den: Der Mörder hat die Absicht, die dann leere Stelle der Macht unmittelbar selbst zu besetzen oder ein Machtvakuum zu generieren, in das andere politische Kräfte eindringen und eine neue Machtstruktur aufbauen. Die Ermordung Gaius Iulius Caesars, an der auch Caesars Sohn Brutus beteiligt war – und sie somit zugleich zu einer Familienaffäre machte –, ist eine Art Urszene des politischen Mordes, die in Literatur, Geschichte und Philosophie des 20. Jahrhunderts eine große Rolle spielte und paradigmatisch für einen tödlichen Machtkonflikt innerhalb der politisch Herrschenden stand. Politische Mörder wollen – wie Attentäter auch – einen Eintrag in die Geschichtsbücher der Menschheit erreichen. Doch bereits nach Caesars Ermordung wurde das schwere Verbrechen der Ermordung eines Machtträgers, das crimen majestatis, mit dem Tode bestraft. Zusätzlich aber durfte der Name des Mörders nicht auf dem Grabstein stehen und auch sonst nicht erwähnt werden. Dem Namen und damit der Person sollte durch die verordnete Anonymität der Eintrag in die Geschichtsbücher der Menschheit und damit in ihr Gedächtnis verwehrt bleiben. Oft werden politische Morde von Dritten in Auftrag gegeben, wie etwa der (gescheiterte) Mordanschlag auf den kubanischen Staatschef Fidel Castro durch den amerikanischen Geheimdienst CIA. In der Regel wird der Begriff des politischen Mordes für die Tötung eines Einzelnen verwendet, aber oft wird der Mord – in fahrlässiger Weise – mit einem Attentat gleichgesetzt, wenn man beispielsweise vom Attentat auf John F. Kennedy oder Martin Luther King spricht. Beides waren politische Morde. Das politische Attentat dagegen ist „der auf einen Augenblick gerechnete Einzelgängerkrieg der Ohnmacht.“42 Es trägt bereits die Züge der Paranoia im Gesicht und ist eine Gewalttat, die absichtsvoll Einen oder eine kleine Gruppe von Menschen tötet. Es ist der individuell (oder als kleine Gruppe) vollzogene Aufstand gegen die Macht der Macht. Ihm mag ein politisches Kalkül zugrunde liegen, aber meist ist es die von einem Grenzgänger verübte Gewalttat, für den sich ein lange gehegter Verdacht in einem zufälligen Zeitpunkt zu einer fatalen Gewissheit verdichtet, jetzt töten zu müssen. Der Attentäter teilt blitzartig seine Erleuchtung, seine Erkenntnis, seine Sicht der Welt allen anderen mit und rechnet mit der medialen Wirkung seiner Tat. Er will in den Seiten der Geschichtsbücher seinen Niederschlag finden und mit seiner Tat – hier dem Attentat43 – eine Botschaft hinterlassen. Das Finalattentat steht für sich selbst, findet seinen Wert in der Tat allein und will nichts anderes erreichen als die Tötung des Machthabers an sich. Das Initialattentat dagegen will zum Auslöser von etwas werden: einer Revolution, einem Staatstreich, einem Machtwechsel oder einer Rebellion, obwohl es meist nicht die erhofften politischen Wirkungen zeigt. Dies liegt unter anderem daran, dass sich seine Motivation meist nicht aus vernünftigen, sondern aus paranoiden Motiven speist. Wie irrational die Motive auch scheinen mögen,
6.2. Vom politischen Mord zum Selbstmordattentat
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der Attentäter will überleben, er will nach seiner Tat über sich und seine Motive öffentlich Rechenschaft ablegen und für sie mit seinem Namen einstehen. Das Selbstmordattentat unterscheidet sich grundlegend vom Attentat und ebenso von den Kamikaze-Aktionen der Japanischen Piloten im Zweiten Weltkrieg.44 Man kann es als absichtsvolle Selbsttötung bezeichnen, die die absichtsvolle Tötung von Anderen als primäres Ziel beinhaltet, um vorrangige politische oder ideologische Ziele zu erreichen. Hierin liegt der Unterschied zum (einfachen) Selbstmord. Die meisten Selbstmordattentate richten sich nicht gegen bestimmte Machthaber, wie beim politischen Mord, sondern gegen völlig zufällig anwesende Menschen, die sich gerade in einem Bus oder einer U-Bahn befinden. Wer und wie viele Menschen getötet werden, hängt davon ab, ob sich der Attentäter um 11.18 Uhr und nicht um 11.22 Uhr in die Luft sprengt. Liegen Selbstmordattentaten (vermeintliche) politische Motive zu Grunde, so muss man fragen, ob es rationale Erwägungen sind, ob sie von einem grenzenlosen Hass diktiert werden oder ob sie aus religiösen Motiven verübt wurden. Bei letzterem wird unterstellt, dass der Islam als Religion eine besondere Rolle spielt, weil am Ende des Jahrhunderts der überwiegende Teil der (Selbstmord)Attentäter entweder aus muslimischen Staaten kommt oder – wie die Attentäter des 9/11 – sich auf den Islam berufen. Der Selbstmord ist in den meisten Religionen, insbesondere aber im Islam, verpönt, weil er geistige, moralische oder anderweitige Verzweiflung signalisiert und man sich aus egoistischen Gründen selbst tötet. Er untergräbt zudem das Vertrauen in Gott, weil man ein Leben beendet, das er geschenkt hat. Der Märtyrertod dagegen wird völlig anders gesehen und vom Selbstmord scharf abgegrenzt. Man begeht ihn zu Ehren eines Gottes – also als ein Opfer. Dies ist dann am größten, wenn man sein eigenes Leben hingibt. Und es muss eine Gruppe von Menschen geben, die weiter leben und dieses Opfer würdigen und/oder bewundern können. Das Selbstmordattentat „(...) stellt alle Regeln des Krieges und der Macht auf den Kopf, weshalb konventionelle Mittel zu seiner Bekämpfung wirkungslos bleiben, ja sogar kontraproduktiv werden können. Denn wer das Märtyrertum als Ausweg aus einer als wertlos erachteten irdischen Existenz betrachtet, für den hat der Tod seinen Schrecken verloren – und damit die Ultima Ratio jeder Macht ihre Bedeutung, denn mit mehr als dem Tod kann sie eben nicht drohen.“45
Die Terroristen der RAF, die in den 70er Jahren eine große Rolle in Deutschland spielten, durch Entführungen und Morde auftrumpften und zum Teil in Trainingscamps im Nahen Osten ausgebildet wurden, wollten keine Selbstmordattentate ausführen. Das ehemalige RAF-Mitglied Peter-Jürgen Boock sagte in einem Interview: „Nein, niemand der dort ausgebildet wurde, wollte Selbstmord begehen, auch die Palästinenser nicht. Wir wollten Ziele erreichen: Flugzeuge entführen, Gefangene befreien, Geld
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6. Die Politik der Paranoia beschaffen, Geiseln nehmen. Dass wir dabei unser Leben verlieren konnten, wusste jeder. Aber es war nicht unsere Absicht.“46
Die Selbsterhaltung war hier ebenso dominant wie die Erreichung von politischen Zielen. Die zentrale Frage, die beantwortet werden muss, ist die nach der Plausibilität oder gar Rationalität dieser politischen Ziele. Denn die Einbildungskraft kann eine „falsch dichtende Einbildungskraft“47 sein, die den Boden der ‚richtig‘ dichtenden Einbildungsraft verlassen und paranoide Züge angenommen hat. Die entfaltete Paranoia – nicht der paranoide politische Stil im Sinne von R. Hofstadter48 – ist die politischste aller Geisteskrankheiten, weil sie sich immer um Machtbeziehungen dreht und hierbei die politische Macht ebenso im Zentrum steht wie potentielle fundamentale Gegner, ja politische Feinde, die die Dynamik der Politik grundlegend ändern wollten.49
6.3. Zur Psychodynamik der politischen Paranoia Politische Paranoia ist ein schwer zu erfassendes Phänomen, das aber zugleich unhintergehbarer Bestandteil jedes Versuches sein muss, den Politikbegriff umfassender zu erfassen. Paranoia und Politik schließen sich nicht aus, sondern gehen unter besonderen Bedingungen eine Einheit ein, in der beide untrennbar miteinander verwoben sind. Erschwert wird ihre analytische Erschließung dadurch, dass ihre wesentlichen Merkmale sowohl an einer pathologischen als auch an einer nicht-pathologischen Ausprägung entwickelt wurden. Für ersteren Versuch steht das nach wie vor lesenswerte und interessante Buch von Elias Canetti „Masse und Macht“, der sein Konzept am Beispiel eines klinischen Falles, des Geheimrates Daniel Paul Schreber, entwickelt hat.50 Ein anderer Versuch, Richard Hofstadters „The paranoid style in American politics“, betont ausdrücklich, dass sein Konzept bei „more or less normal people“ entwickelt wurde, diese voraussetzt und Paranoia „not in a clinical sense“ begriffen wird, sondern „a clinical term for other purposes“ ausleiht.51 Beide gehen von entgegengesetzten Polen aus, einem klinischen und einem nicht-klinischen, und kommen erstaunlicher Weise dennoch zu ähnlich gelagerten Merkmalen. Politische Paranoia ist nicht nur die politischste, sondern auch die „intellektuellste unter den Geistesstörungen“, die sich leicht mit verschiedenen politischen Ideen und Ideologen verbinden kann.52 Sie ist in der Politik häufig anzutreffen, weil sie sich oft nur wenig vom normalen politischen Handeln unterscheidet. „Im weitesten, nicht pathologischen Sinne des Wortes unterscheidet sich die paranoide Reaktion qualitativ nicht von anderen Reaktionen, denen man im menschlichen Verhalten begegnet. Die Paranoia ist lediglich die Übertreibung eines an sich bewährten Verhaltens in der Politik, das durch Wachsamkeit, scharfe Beobachtung und kluge Prävention gekennzeichnet ist. (...) Die politische Paranoia verzerrt konventionelle und nützliche Re-
6.3. Zur Psychodynamik der politischen Paranoia
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aktionen auf eine Gefahr. Sie verdankt ihre einzigartig zerstörerische Kraft also nicht nur ihrem krankhaften Argwohn und Wahn, sie verdankt sie ironischerweise auch der (Über-)Aktivierung eines gesunden psychologischen Verhaltens und klugem politischen Handeln.“53
Demnach wäre die Paranoia allein eine graduelle Abweichung vom normalen politischen Verhalten, das ‚lediglich‘ durch Übertreibung, durch Überaktivierung entsteht und eine besondere Intensität annimmt, die über das ‚normale‘ Maß hinausschießt. Insofern muss man von einer erheblichen Spannbreite verschiedenster Intensitätsstufen von Paranoia ausgehen, die von paranoiden Einzelgedanken bis hin zu robusten Wahnsystemen reichen. Doch gibt es eine Grenze, ab der die Zunahme in eine neue Qualität umschlägt, in einen Zustand, der jenseits der graduellen Abstufungen liegt? Manche bezeichnen einen solchen Zustand als „persecutory delusion“, also als einen krankhaften Wahnzustand, der medizinisch-psychologischer Behandlung bedarf und sich grundlegend von den graduellen Intensitätsstufen unterscheidet.54 Dieser krankhafte Zustand ist in der Politik eher selten, aber er kann nicht ausgeschlossen werden. R. Hofstadter spricht deshalb von einem „paranoiden Stil“ der Politik, 55 der normale Konflikte überinterpretiert und in eine Dimension treibt, in der die Konflikte paranoid und der Tendenz nach unüberbrückbar werden. Der Paranoiker hat sich nicht ganz und gar von der Welt verabschiedet, er steht – mindestens noch – mit einem Bein in ihr, aber er überzieht und überdehnt viele der ‚normalen‘ Phänomene und interpretiert sie überzogen, aber noch nicht völlig krankhaft oder irrational. Bei Letzterem wäre die graduelle Abweichung in eine neue Qualität umgeschlagen und der Paranoiker würde in einer von der wirklichen Welt abgeschlossenen Sphäre leben. Das Wahnsystem ist dann geschlossen, alle relevanten Brücken zur wirklichen Welt sind abgebrochen und es ist der Kritik, der empirischen Evidenz und der vernünftigen Argumentation prinzipiell nicht mehr zugänglich. Dann hat die Paranoia den Status eines krankhaften Wahnzustandes erreicht. Die politische Paranoia ist zunächst also nur eine graduelle Abweichung von einer klugen und vernünftigen Politik, die sich in Abstufungen vollzieht. Es geht „weniger um unverhohlene Wahnvorstellungen. Sie sind eher die Ausnahme und für andere klar zu erkennen. Die größte Gefahr geht von Wahngedanken aus, die im Grenzbereich bleiben und daher von anderen nicht so einfach als Produkte des Irrsinns identifiziert werden. Bei den meisten Paranoikern in der Politik ist es wahrscheinlich, dass ihr Wahn die Übertreibung und Störung wirklicher Ereignisse und vernünftiger Überzeugungen enthält und nicht rein psychologischer Erfindung entspringt.“56
Die milderen Ausprägungen der Paranoia beruhen auf einer realistischen und vernünftigen Deutung der Welt, klammern sich an nur einen, damit selektiven Ausschnitt und übersteigern, überdeuten und intensivieren diesen. Zwar sind für Politik die intensive Auseinandersetzung und der intensive Konflikt mit Rivalen
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6. Die Politik der Paranoia
und Gegnern konstitutiv, aber erst wenn daraus „Feinde werden, betreten wir das Reich des Wahns.“57 Entscheidend für meinen Kontext ist die prinzipielle Machbarkeit – ja, politische Herstellbarkeit – der Paranoia durch bestimmte Aktivitäten von Einzelnen oder Parteien. Einer der Pioniere der modernen Psychologie, Eugen Bleuler, hat sie am Anfang des Jahrhunderts so definiert: Paranoia ist „die Ausbildung eines aus gewissen falschen Prämissen entwickelten und in seinen Teilen logisch verbundenen unerschütterlichen Wahnsystems, ohne nachweisbare Störung aller anderen Funktionen, also auch Mangel aller ‚Verblödungssymptome‘, wenn man nicht die Kritiklosigkeit gegenüber den Wahnideen dazu rechnen will.“58
Hier werden alle zentralen Elemente der (politischen) Paranoia präzise beschrieben. Zu erwähnen sind zuerst die ‚falschen Prämissen‘, mit denen der Paranoiker arbeitet. Er nimmt die Welt nicht plausibel oder realistisch wahr, sondern deutet viele Sachverhalte fehl. Intern aber sind seine Gedanken logisch schlüssig und sein Wahnsystem ist unerschütterlich. Es ist die Gewissheit, nicht der Zweifel, die den Kern des Wahns ausmacht. Politische Paranoia müsste dann einen Politikstil hervorbringen, der die moderne Politik als rational, vorhersehbar und planbar betrachtet, sofern man den kognitiven Schlüssel hierfür in der Hand – besser: im Kopf – hat und alle Phänomene, alle Erscheinungsformen der Politik und des Politischen auf letzte und eindeutig erkennbare Gründe zurückführt. Es versteht sich von selbst, dass der Paranoiker – womöglich als Einziger – diese letzten Gründe zu erkennen und somit das politische Geschehen vollständig zu durchschauen glaubt. Was sind nun die zentralen Merkmale der (politischen) Paranoia? Zunächst ist festzuhalten, dass alles zum Auslöser einer Paranoia werden kann: Die eigene Homosexualität, die Religion, die verdrängte Kindheit, die soziale Lage, die Machtlosigkeit in einer politischen Konstellation, die (eigene) Abwahl etc. Wesentlich ist – gerade weil die Anlässe beliebig sind – die formale Struktur und das formale Muster, mit dem der Paranoiker die Welt wahrnimmt und hierbei spielen Machtverhältnisse eine zentrale Rolle. Die Grundstruktur der politischen Paranoia lässt sich durch sieben zentrale Merkmale beschreiben.59 (i) Der Paranoiker glaubt, der grundlegenden Wahrheit der Welt näher gekommen zu sein als alle Anderen. Nur er allein oder ein erlauchter Kreis von Mitwissern durchschaut die tiefen Triebkräfte des Weltgeschehens. Daraus leitet er ein „Positionsgefühl“, eine „exaltierte Stellung“60, eine besondere Machtposition in einem wie auch immer gearteten sozialen Gefüge ab, die häufig mit einer vermeintlichen Verbundenheit mit höheren, imaginären, übersinnlichen, meist religiösen Mächten einhergeht. Er weiß etwas, was andere nicht wissen bzw. nicht wissen können (und sollen) und leitet daraus seine spezifische Machtstellung ab. Massive Selbstüberschätzung – ja: Größenwahn – ist die unvermeidliche Folge dieser Psychostruktur. Der ‚normale‘ Machthaber teilt mit dem Paranoiker das
6.3. Zur Psychodynamik der politischen Paranoia
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Gefühl, dass Machthaben eine ‚existentielle Situation‘ ist, die man unbedingt verteidigen und sichern muss. Das subjektive Gefühl eines ‚normalen‘ Machthabers und das eines Paranoikers unterscheiden sich oft nur graduell, denn beide teilen das Gefühl des Bedrohtseins oder des Komplotts gegen sich und ihre exklusive Position. (ii) Der politische Paranoiker fühlt sich permanent bedroht und interpretiert diese permanente Bedrohung als systematische Konspiration von „bösen Mächten“, die überall lauern, überall anwesend sind, überall ihre Finger im Spiel haben und denen man nicht entkommen kann. Insofern ist politische Paranoia immer eng mit weltlichen Verschwörungstheorien61 oder religiösen Wahnvorstellungen verknüpft. Beide können als ein Denkschema betrachtet werden, das die als bedrohlich wahrgenommene Wirklichkeit als direkten Ausfluss einer verschwörerischen Kraft betrachtet, die im Geheimen operiert und ihre böswillige Tätigkeit bis zum Ende führen will. Jedes Ereignis wird kausal auf das Wirken dieser verschwörerischen und im Geheimen teleologisch operierenden Kraft zurückgeführt. Das Gefühl der permanenten Bedrohung ist ubiquitär, es kann jeden einzelnen Sachverhalt erfassen. Es können politische Gegner, fremde Mächte, aufrührerische Massen, Strahlen, Giftstoffe oder was auch immer sein, die einen selbst oder eine gegebene gesellschaftliche Ordnung bedrohen. Diese fundamentale Bedrohung kommt vom politischen Gegner oder anderen Gegenkräften, die die eigene Machtposition bekämpfen. (iii) Der Paranoiker unterliegt einem Kausalitätszwang, er ist der strengen Überzeugung, dass auf der Welt nichts ohne (tiefen) Grund geschieht. Jedes Unbekannte kann so systematisch auf ein bereits Bekanntes zurückgeführt werden. Dies führt zu einem ununterbrochenen Begründungszwang, der demaskiert, entlarvt, zurückführt, Kausalitäten innerhalb paradigmatischer Wahnsysteme konstruiert etc. Hinter jedem Unbekannten, hinter jeder Person, hinter jedem Gesicht, hinter jedem Ereignis ist das Eigentliche verborgen: Der ubiquitäre Feind, der sich hinter einer Maske versteckt. Kontingenzen und Zufälligkeiten können von der paranoiden Vernunft nicht akzeptiert werden, alles muss einen tiefen Sinn haben, alles geschieht nach Plan und kann deshalb auf einen letzten Grund zurückgeführt werden. Das Begründen wird zum (paranoiden) Zwang und E. Canetti hat hierfür verschiedenste Begriffe geprägt: Es kommt zum „Denkzwang“, zur „Begründungssucht“, zur „Kausalitätssucht“ u. Ä. Alle Begriffe signalisieren, dass man zwanghaft etwas demaskieren, etwas entlarven und dazu die verborgenen Gründe, Fakten, Sachverhalte etc. aufdecken und aus dem Dunkel ans Licht bringen muss. Hinter allem steckt eine umfassende Verschwörung. Ein weiterer Faktor tritt hinzu. Moderne Politik ist nie eindeutig, immer gibt es – zumindest in pluralistischen und offenen Gesellschaften – gewollte Mehrdeutigkeit, verschiedene Meinungen, konfliktäre (parteipolitische) Akteure. Das Gebiet der Politik
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6. Die Politik der Paranoia „ist keinesfalls das Vernünftige, Regelhafte, Berechenbare, Gesetzmäßige, sondern der feindlichste Gegensatz: das Zufällige, Kontingente, Unvorhersehbare. Nicht die Algorithmen der Verwaltung, der stumme Gleichlauf der bürokratischen Akte, machen das Politische aus, sondern das Unerwartete.“62
Die Paranoia arbeitet ununterbrochen an der Beseitigung dieses Grundmerkmals der Politik und die erfundenen ‚letzten‘ Gründe sind in der Regel fiktive Unterstellungen oder Erklärungen, die für Handlungen oder Entscheidungen nachträglich konstruiert werden oder Ausdruck einer schon immer wirkenden verschwörerischen Kraft sind. (iv) Damit ist die „Ursituation der Paranoia“63 erreicht. Der Paranoiker hat das Gefühl, von einer Meute, Masse oder von Feinden umstellt zu sein, die gegensätzlich eingestellt sind. Überall lauert die feindliche Meute, ihre Augen sind von überall auf einen gerichtet und man fühlt den unhintergehbaren Zwang, sie zu jagen, zur Strecke zu bringen und endgültig zu vernichten. Jedoch ist die feindliche Meute oder der Feind als „Gestalt“ eine Hydra, die immer neu ihren Kopf erhebt und das Böse immer neu nachwachsen lässt. Es gibt kein Entrinnen, es gibt keine Ruhe, sondern allein den Zwang zum Kampf. Grundlegend für den Paranoiker ist seine „feindselige Haltung zur Welt“64, denn überall lauern nicht nur Gegner, Konkurrenten oder Kombattanten, sondern böswillige Feinde. Daher auch die Nähe zu Bestimmungen der Politik, die durch Freund-Feind-Konstruktionen geprägt sind und dann zum Politischen werden.65 (v) Konstitutiv ist die Fehlwahrnehmung der Welt. Soziale, ökonomische und politische Ereignisse oder Umstände werden nicht realitätsgerecht in den Wahrnehmungshorizont eingebaut, sondern auf der Grundlage paranoider Wahrnehmung. Es kommt zum Phänomen der ‚falsch dichtenden Einbildungskraft‘ (Kant). Was immer geschieht oder was immer ein Anderer tut, sei es ein faktischer oder vermeintlicher politischer Gegner oder Feind, es wird im paranoiden Wahnsystem immer als Bestätigung der eigenen (wahnhaften) Weltsicht interpretiert. Es gibt keine Instanz oder gedankliches Verfahren, die die „falsche“ Wahrnehmung falsifizieren könnte. Paranoide Wahnsysteme sind – in ihrer Extremform – geschlossene Systeme, die innerhalb ihrer eigenen Welt einer strengen Logik unterliegen, die alles und jedes systematisch in das Wahnsystem einbauen. Deshalb ist auch der krampfhafte Versuch vergeblich, bei den in den Flugzeugen sitzenden Terroristen etwas Auffälliges, Abnormales oder gar Abartiges zu suchen. Die von einem der Terroristen an der Technischen Universität in Hamburg verfasste Diplomarbeit ist eine gute Diplomarbeit, die sich durch nichts von anderen unterscheidet. Warum sollte sie auch? Denn hier wird doch die gleiche systematische Logik angewendet wie innerhalb des Wahnsystems. Wahnsysteme ergreifen nicht den ganzen Menschen, sondern möglicherweise nur einen Teil von ihm, weil Menschen in sich nie völlig konsistent sind. Eine vom Wahn befallene
6.3. Zur Psychodynamik der politischen Paranoia
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Person kann durchaus „normale“ Tätigkeiten verrichten, sofern diese nicht von der Paranoia erfasst werden. (vi) Der politische Paranoiker ist zudem ein „Neurotiker des Bildes und handelt als Ikonoklast.“66 Seine Kritik und vor allem seine Anschläge gelten Bildern – auch im übertragenen Sinne –, sofern diese als Repräsentationen oder Symbole einer bestimmten Macht interpretiert werden können, seien sie personeller Art – vom Präsidenten bis zum Popstar – oder baulicher – wie etwa die Twin Towers in New York 2001. Der Bildersturm ist eine typische Ausdrucksform für intensive politische Konstellationen und tritt meist in revolutionären Situationen auf. Die Französische Revolution begann mit dem Sturm auf die Bastille, die Russische Revolution 1917 mit dem Sturm auf das Winterpalais in St. Petersburg. Die Bilder vom Sturz der Saddam Hussein-Statue auf dem Bagdader Firdosplatz am 9. April 2003 durch die Truppen der USA waren ein ebenso spektakulärer Akt des Ikonoklasmus wie die Sprengung der Buddha-Statuen in Afghanistan durch die Taliban oder die Einschläge der an 9/11 entführten Flugzeuge in die Twin Towers in New York und das Pentagon in Washington. (vii) Der Paranoiker folgt in der Interpretation der äußeren Zeichen und den Schlussfolgerungen, die er zieht, strikt den Gesetzen der formalen Logik. Das Problematische ist die falsche oder überinterpretierte Wahrnehmung der äußeren Welt. Zudem schiebt er alle Tatsachen und Sachverhalte, die der paranoiden Wahrnehmung widersprechen, als Täuschung, als Blendwerk, als Irreführung finsterer Mächte ab. Für den Paranoiker beweisen scheinbar widersprechende Fakten allein die Gerissenheit und Schlauheit des Feindes, sie stehen für seine immer präsente Täuschungsabsicht. Jeder vom Verfolgungswahn Befallene interpretiert Erscheinungen und Begebenheiten der Welt in seinem inneren, von anderen nicht beeinflussbaren Rahmen. Während der normale Durchschnittsmensch das Geräusch aus der Nebenwohnung nicht als das Bohren eines Abhörlochs interpretiert, sondern als unvermeidliches Geräusch beim Bohren von Löchern, sieht sich der vom Wahn Befallene in seinem Wahn bestätigt. Alle Erscheinungsformen, alle Ereignisse werden als Bestätigung des Wahngebildes gelesen. Aber die formale Logik des Paranoikers ist eine primitive Logik, die auch paläologische Logik67 genannt wird. Dabei können zwei Dinge, die ein gemeinsames Merkmal haben, identisch werden. Wenn ein Moslem vor 50 Jahren jemanden ermordet hat, dann sind gemäß dieser Logik alle Moslems für immer Mörder. Zudem wird die räumliche und inhaltliche Gleichzeitigkeit zweier getrennter Ereignisse unterstellt. Ein Paranoiker lebt in einer teilweise, weitgehend oder völlig geschlossenen Vorstellungswelt, einer ignorantia invincibilis. Er hat sich gegen jedwede Einwände, die seiner Theorie widersprechen, immunisiert. Es ist das beunruhigende „Bekenntnis zur Logik ohne Vernunft“68, das die (fundamentalistischen) Paranoiker kennzeichnet und sie so immun gegenüber der evidenzbasierten Vernunft macht.
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6. Die Politik der Paranoia
Paranoide oder fanatische Taten bedürfen keiner großen Ideen oder religiöser Überzeugungen. In der Regel genügen weit profanere Motive wie Mordlust, Habgier, das Streben nach Macht oder schlichte Dummheit, auch wenn manche Verbrechen mit einer Kaskade von Begründungen und Erklärungen gerechtfertigt werden. W. Sofsky hat zu Recht festgehalten: „Utopische Visionen, religiöse Travestien, mythische Erzählungen oder totalitäre Entwürfe der Weltordnung, solche Erfindungen der Intellektuellen haben die Exekutoren des Terrors selten beflügelt. Intellektuelle neigen dazu, die Wirkung von Ideen oder Ideologien maßlos zu überschätzen. Daher rührt auch der weithin verbreitete Irrglaube, Gewalttäter seien stets von Verblendungen geschlagen und bedürften nur gründlicher Aufklärung, damit sie von ihrem Tun ablassen. Aber die Untaten benötigen neben ein paar Parolen nichts mehr als pure Gedankenlosigkeit.“69
Die flottierende Aggression richtet sich im Kern gegen beliebige Objekte und die Selbstrechtfertigungen der Tat sind ebenso beliebig. Als Timothy McVeigh ein staatliches Gebäude in Oklahoma sprengte und 168 Menschen in den Tod riss, sagte er, es richte sich „gegen Washington“ – eine völlige Leerformel. In seinem Prozess, in dem er zum Tode verurteilt wurde, machte er keine Aussage zur Begründung seiner Tat. Das war konsequent, es gab keine Begründung. Wenn die Beliebigkeit auch die Begründungen erfasst, dann werden sie leer und das Beschweigen ist folgerichtig, weil es nichts Sinnvolles zu sagen gibt. Ob ein Terroranschlag gegen den „Imperialismus der USA“, gegen die „westliche Zivilisation“, ob als Beitrag zum „revolutionären Befreiungskampf“ des Volkes X oder Y, ob aus Langeweile oder aus Ausländerhass begangen wird – die Formeln sind beliebig austauschbar, das pseudo-politische Gestammel ergibt keinen ernsthaften Sinn. Das Problem sind die wissenschaftlichen oder politischen Interpreten. Jedem noch so substanzlosen Satz wird eine Bedeutung zugemessen, die er nicht hat und man fragt sich laufend, warum dem Satz eines Irren mehr geglaubt wird und ihm mehr an Wahrheitsgehalt und Plausibilität unterstellt wird als ihm gebührt. Dabei gibt es eine gültige Frage für solche fragwürdigen Fälle: Stimmt das wirklich? Welche Evidenzen gibt es dafür oder dagegen? Was sagt unsere politische Urteilskraft hierzu?
6.4. Das Attentat von Sarajewo und der Ausbruch des Ersten Weltkrieges Attentate können gut geplant sein und ihre Durchführung mag den Attentätern leicht vorkommen, auch wenn sie sich für Eventualfälle des Misslingens vorbereiten mögen. Das Attentat auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand und seine Frau, die damals 46-jährige Herzogin Sophie von Hohenberg, wurde von serbischen Anarchisten ausgeführt. Das Attentat war geplant, die beteiligten Personen hatten zum Teil (politische) Motive und die organisatorischen Vorberei-
6.4. Das Attentat von Sarajewo und der Ausbruch des Ersten Weltkrieges
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tungen genügten gewissen Ansprüchen. Im Nachhinein muss man sich jedoch über den erstaunlichen Dilettantismus ebenso wundern wie über die Motivlage70, die eher jugendlichem Abenteurertum als politisch motivierten Gründen entsprach.71 Auch die Durchführung selbst war äußerst ungeschickt und machte schon im Vorfeld den Erfolg fraglich. Die Zufälligkeit des ganzen Unternehmens wurde jedoch durch den konkreten Gang der Dinge auf die Spitze getrieben. Der gesamte Ablauf des Attentates war so merkwürdig und absurd, dass man es als eine „Serie von grotesken Zufällen“72 beschreiben muss. Auch hat es nicht den Ersten Weltkrieg in einem ursächlichen Sinne ausgelöst, sondern bestimmte Akteure haben es sich zu Nutze gemacht, es für ihre Macht- und Kriegsinteressen ausgenützt und so war der Krieg das Ergebnis einer Kettenreaktion, die auch anders hätte ausgehen können. Aber der deutsch-österreichische Kriegsdurst war so groß, dass der Ausgang, den die Geschichte dann genommen hat, wahrscheinlich war und ‚in der Luft‘ lag.73 Die Attentäter waren eine lose verbundene Gruppe, allesamt noch sehr jung, zum großen Teil Schulabbrecher und von einem diffusen serbischen Nationalismus angetrieben. Drei von ihnen waren enger mit einer serbisch-nationalistischen Organisation, dem Geheimbund Schwarze Hand, verbunden, von dem die Attentäter auch ihre Waffen und Bomben bekamen. Die Fahrtroute des herzoglichen Paares wurde erst vier Tage zuvor bekannt gegeben, so dass die konkreten Planungen erst am 24. Juni 1914 beginnen konnten. Danilo Ivic, ein Mitglied der Schwarzen Hand, war am Tag des Attentates in Sarajewo und machte den Jugendlichen Mut, die ihm etwas ängstlich und unentschlossen erschienen. Andere Mitglieder der Schwarzen Hand wollten sie gar nicht erst in die Rolle der Attentäter schlüpfen lassen, aber sie konnten sich nicht durchsetzen. Ob die jugendlichen Attentäter von dieser Organisation rekrutiert wurden oder ob sie sich an diese wandten, ist umstritten. Jedenfalls hatten drei von ihnen Kontakte zu ihr und die Führung, insbesondere Oberst Dragutin Dimitrijević, auch Apis genannt, wusste von den Plänen. Er war offiziell Chef des Militärischen Geheimdienstes und zugleich Führungsfigur der Schwarzen Hand. Auch in Sarajewo hatte man einen Verbindungsoffizier, der die Jugendlichen anleitete und ihnen zur Seite stand. Dass Herzog Franz Ferdinand schließlich zum Ziel des Anschlages wurde, ist dem Zufall zu verdanken. Einer der späteren Attentäter, Nedeljko Ĉabrinović, bekam Ende März 1914 in einem anonymen Brief einen Zeitungsausschnitt zugeschickt, in dem der Besuch des Thronfolgers und seiner Frau in Sarajewo angekündigt wurde. Er zeigte den Ausschnitt am selben Tag seinem Freund Gavrilo Princip und am selben Abend trafen sie sich in einem Park und sprachen über ein mögliches Attentat.74 Am Ende beschlossen sie, zusammen mit den Anderen, diesen umzubringen. Die Verschwörer hatten durchaus noch verschiedene andere Personen in Erwägung gezogen, aber die Wahl fiel – eher zufällig – auf ihn. Was fehlte, waren die entsprechenden Waffen
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6. Die Politik der Paranoia
und so wandten sie sich an einen gewissen Major Tankosić, der Kontakte zur Schwarzen Hand hatte, dort vorstellig wurde und von „Jungs aus Bosnien“ berichtete, die „ihn schon richtig mit ihrem Durst nach ‚großen Taten‘ (nerven)“ würden.75 Im Prozess gegen drei der am Attentat Beteiligten sagte der Todesschütze G. Princip, dass er ein „jugoslawischer Nationalist“ sei, dessen „Tendenz die Vereinigung aller Jugoslawen (sei), in welcher Staatsform auch immer und befreit von Österreich.“ Er wollte dies „durch Terror“ erreichen und das heißt „dass man diejenigen tötet, beseitigt, die der Vereinigung im Weg stehen und Böses tun. Das Hauptmotiv, das mein Handeln bestimmt hat, war die Rache für all das Leiden, welches mein Volk unter Österreich erdulden musste. Er (der Großherzog, F.W.R) hat im Allgemeinen der ganzen Welt Böses angetan.“76 ‚Der ganzen Welt im Allgemeinen Böses angetan‘ – das also ist das Motiv gewesen und allgemeiner, unpräziser und unkonkreter hätte man es nicht formulieren können. Leerformeln für einen Mord, der womöglich ganz andere Hintergründe und Motive hatte, die man aber vor einem öffentlichen Gericht nicht sagt. Nach eigenen Aussagen, die G. Princip im Gefängnis gegenüber dem Psychiater Martin Pappenheim gemacht hat, war er bereits als 11-jähriger Junge tief beeindruckt von einem Attentat, das ein gewisser Bogdan Žerajić ausgeübt hatte, um den österreichischen Statthalter in Bosnien-Herzegowina, General Marijan Vareśanin, zu töten. Seine fünf Schüsse verfehlten ihr Ziel und mit der sechsten Kugel tötete er sich selbst. Angeblich nannte ihn der überlebende General „dreckigen Hund“ und trat den toten Attentäter mit den Füßen in die Seite. In Sarajewo hatte G. Princip ganze Nächte an dem anonymen Grab vor dem Friedhof verbracht, indem man Selbstmörder und Attentäter verscharrte.77 Zudem hatte er in der Nacht vor dem Attentat versucht, mit einer gewissen Jelena in einem Park Geschlechtsverkehr zu haben, die dies aber strikt abgelehnt hatte. G. Princip sei – so die Aussage eines Freundes – darüber so wütend gewesen, dass er „sogar Gott erschossen hätte.“ Und schließlich wurde dem 17-jährigen wegen körperlichen Schwächen der Eintritt in das Militär bzw. halb-militärische Verbände verwehrt, was er als tiefe Demütigung empfand und durch eine „Großtat“ kompensieren wollte.78 Der bereits erwähnte Psychiater M. Pappenheim notierte in seinen Unterlagen während der Gespräche mit G. Princip im Gefängnis, dass dieser ein Idealist sei und „(die) Motive (für das Attentat, F.W.R): Rache und Liebe. Ganze Jugend in solcher revolutionärer Stimmung. Sprachen von anarchistischen Flugschriften, die zu Attentaten angereizt haben.“79 Und „Attentate auf Herrscher und Politiker waren damals an der Tagesordnung“ – stellt der Politikwissenschaftler Herfried Münkler lakonisch in seinem Buch über den Ersten Weltkrieg fest.80 Ob es ein oder mehrere, klare oder diffuse, oder gar keine politische Motive gab, sondern es jugendliches Abenteurertum war – all das braucht hier nicht abschließend geklärt zu werden. Überdeutlich wird aber die unglaubliche Kontingenz und Zufäl-
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ligkeit der Motive, die letztendlich zum Attentat führten. Und der Ablauf selbst war erneut so absurd und zufällig, dass man ratlos und irritiert vor den Tatsachen steht. Warum kam der Großherzog nach Sarajewo? Er wollte in der Nähe von Sarajewo die Manöver bosnischer und dalmatinischer Verbände beobachten und dann – entgegen manchen Warnungen – in einen Autokorso durch Sarajewo fahren. Die Bevölkerung sollte dem Kronprinzen und seiner Frau zujubeln und deshalb war die Route vorher öffentlich bekannt gegeben worden. Die sieben Attentäter kannten sie genau und hatten sich an verschiedenen Stellen, mit Bomben und Pistolen ausgerüstet, positioniert und warteten auf den Wagen. Als der Korso an dem ersten Attentäter, dem Tischler Muhamed Mehmedbašić, vorbei fuhr, verließ ihn der Mut und er zündete seine Bombe nicht. Auch der nächste Attentäter, ein siebzehnjähriger Schüler Namens Ćabrinović, schoss aus Mitleid mit der Herzogin nicht. Der dritte Attentäter jedoch zündete seine Bombe und warf sie auf den vorbeifahrenden Wagen. Es war der erst neunzehnjährige Drucker Nedeljko Ćabrinović, der den Wagen jedoch nicht exakt traf. Die Bombe rollte von dem zurückgeschlagenen Dach des Wagens auf die Straße, explodierte erst unter dem nachfolgenden Wagen und verletzte zwei Insassen und mehrere Zuschauer leicht. Der Konvoi setzte nach einem kurzen Aufenthalt seinen geplanten Weg fort und fuhr bis zum vorgesehenen Halt weiter. Er kam am fünften Attentäter vorbei, den ebenfalls der Mut verließ. Er war der Organisator des ganzen Anschlages, der Lehrer Danilo Ilić, der aber unbewaffnet war und verschwand. Der sechste Attentäter, G. Princip, war durch die dicht gedrängten Zuschauer nicht in der Lage, bis zu dem Wagen vorzudringen und konnte seine Tat nicht ausführen. Der letzte Verschwörer, der Student Trifko Grabež, schritt ebenfalls nicht zur Aktion. Am Rathaus angekommen begannen die geplanten Reden und man beschloss danach, die Route für die Rückfahrt zu ändern. Aber man vergaß, dies den Fahrern der Wagen verlässlich mitzuteilen. Der erste Wagen der Kolonne fuhr an einer Kreuzung nicht wie verabredet gerade aus, sondern bog nach rechts ab. Der zweite Wagen, der den neuen Weg wusste, folgte gleichwohl dem ersten, falsch fahrenden Wagen ebenso nach wie der gesamte Rest der Kolonne. G. Princip, der sich schon auf dem Heimweg befand, bemerkte die Kolonne, die gerade gestoppt wurde, um die Route doch noch zu ändern. Er konnte zu dem Wagen des Großherzogs vordringen, schoss dann mehrmals auf das großherzogliche Paar und traf den Herzog in den Kopf und seine Frau in den Magen; beide Verwundungen waren so schwer, dass sie nach kurzer Zeit zum Tode führten. „Princip hätte keine Chance zum Angriff gehabt, wenn man sich an die vorgesehene Änderung der Route gehalten hätte. So fanden die Schüsse ihr Ziel (…). Das Ereignis von Sarajewo wurde aber zum Lehrbeispiel für die Zufallslaune der Geschichte, weil die Sache an einem Haar hing. Hätte man die Fahrer der beiden ersten Wagen korrekt darüber
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6. Die Politik der Paranoia instruiert, dass die Rückfahrt über eine andere Route gehen sollte, wären die Attentäter unverrichteter Ding nach Hause gegangen. Es hätte also nicht sein müssen. Es hätte auch anders kommen können.“81
So kommentiert der Literaturwissenschaftler Manfred Schneider den Sachverhalt und beschreibt damit die groteske Zufälligkeit dieses Mordes treffend. Ja, es hätte auch anders kommen können und der Erste Weltkrieg ist aus einer Laune der Kontingenz entstanden und war keine unvermeidliche Folge welcher politischen Konstellationen auch immer. Die Analyse des Attentats und seiner Hintermänner durch die österreichische Regierung war in dem Maße falsch, dass man von „einem der größten welthistorischen Irrtümer sprechen kann.“82 Eine Frage bleibt jedoch offen: War dieses Attentat der Ausdruck der politischen Paranoia oder hat Manfred Schneider recht, dass „diesmal die paranoische Vernunft nicht beteiligt (war)“?83 War dieses Attentat die kontingente, ja absurde Erschütterung, die – von der paranoischen Vernunft angetrieben – das Beben des Ersten Weltkrieges auslöste? Oder war es jugendliches Abenteurertum, das vage motiviert und diffus politisch gerechtfertigt, zu diesem Mord und in der Folge zum Weltkrieg führte? Die Forschung ist sich darüber nicht einig, aber man kann davon ausgehen, dass die politische Paranoia ihre Finger mit im Spiel hatte. Wie anders kann man eine Aussage interpretieren, dass „das Hauptmotiv, das mein Handeln bestimmt, hat, die Rache (war) für all das Leiden, welches mein Volk unter Österreich erdulden musste“? Was sagt der Satz, dass durch die Ermordung von Franz Ferdinand der Attentäter, hier G. Princip, „ein Übel beseitigt habe, und dass ich gut bin. Er (der Thronfolger, F.W.R) hat im Allgemeinen der ganzen Welt Böses angetan.“ Im ‚Allgemeinen der Welt Böses angetan‘ und dies wird durch einen zufälligen Mord an einer zufälligen Person gerächt und beseitigt – legt das eine strategisch kalkulierende Vernunft nahe oder sind das die Einflüsterungen der politischen Paranoia?
6.5. Vom Attentat zum Selbstmordattentat, oder: Das Lächeln der Attentäter Was ist nun das Neue am Selbstmordattentat im Vergleich zum ,normalen‘ politischen Attentat? Woher kam diese Idee und wer hat sie in die politische Auseinandersetzung eingeführt? Diese Fragen werden in der einschlägigen Forschung nicht eindeutig beantwortet, aber es zeichnet sich eine herrschende Meinung ab. Sie sieht den Ursprung der Selbstmordattentate im Libanon-Krieg, in dem sie von der Hisbollah zum ersten Mal ausgeführt wurden und iranische Kämpfer als Vorbilder eine zentrale Rolle spielten.84 An einen sonnigen Sonntagmorgen, es war der 23. Oktober 1983, fährt ein gelber Lastwagen vor dem Hauptquartier der US-Marines in Beirut auf und ab
6.5. Vom Attentat zum Selbstmordattentat, oder: Das Lächeln der Attentäter
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und biegt dann plötzlich in die Einfahrt ein. Der Fahrer beschleunigt, gibt Vollgas, durchbricht den Zaun, rast auf den Haupteingang zu, kracht in das Hauptgebäude, in dem rd. 300 Angehörige der Marines noch schlafen, und detoniert dort mit einer gewaltigen Explosion, die das gesamte Gebäude zum Einsturz bringt. 241 amerikanische Soldaten sterben bei dieser gewaltigsten nicht-nuklearen Explosion nach dem Zweiten Weltkrieg. Angeblich sind fünfeinhalb Tonnen TNT, angereichert mit verschiedensten Chemikalien, explodiert. Den Fahrer konnte man nie identifizieren, er hatte sich – ebenso wie die meisten amerikanischen Soldaten – in Staub aufgelöst. Auch der wachhabende Soldat konnte keine Beschreibung des Mannes geben: „Er schaute direkt zu mir her und lächelte. Kaum hatte ich den Lastwagen rüberkommen sehen, da wusste ich, was passieren würde.“ Weder an die Hautfarbe, noch an die Kleidung, noch an die Statur konnte er sich erinnern. Einzig das Lächeln des Selbstmordattentäters hatte sich ihm eingeprägt.85 Es gab noch mehr Männer, die dieses Lächeln im Gesicht hatten. Einer von ihnen fuhr, nur Sekunden später, in die sechsgeschossige Unterkunft der französischen Fallschirmjäger und tötet bei diesem Selbstmordattentat 58 Soldaten – der größte Verlust an Soldaten für Frankreich seit dem Ende des Algerienkrieges. Ein anderer war zuvor am 18. April 1983 in die amerikanische Botschaft gefahren und hatte dort die gesamte CIA-Spitze für die Nahostaufklärung durch sein Selbstmordattentat mit in den Tod gerissen. Vom Fahrer verblieb keine verwertbare Spur, einzig sein Lächeln blieb in Erinnerung. Alle drei Attentate – und viele andere – führten zum Abzug der amerikanischen, französischen und auch der israelischen Streitkräfte aus Beirut bzw. dem Libanon. Doch zuvor erfolgten einige Vergeltungsbombardements auf mutmaßliche Hisbollah-Camps, bevor die amerikanischen und israelischen Politiker ihre Kapitulation vor dieser neuen Form der Gewalt bekannt gaben. Vor einem Kongressausschuss bemerkte US-Staatssekretär Lawrence Eagleburger damals resignierend: „Es ist nahezu unmöglich, sich dagegen zu verteidigen, wenn der Fahrer bereit ist, sich selbst umzubringen.“86 Auch wenn die Amerikaner und andere Akteure in der Region immer unterstellten, solche Pläne könnten nur von einem kalt berechnenden, kühlen und strategischen Kopf kommen, ist es nicht gelungen, diesen ‚Kopf‘ zu finden. Es gab ihn womöglich gar nicht und das neue und beunruhigende war nicht nur die alle Regeln brechende Form dieses Terrorismus, sondern auch seine dezentrale, ja sich fast selbst organisierende Struktur. Unübersehbar hatte sich eine neue Form des Terrorismus herausgebildet, die in der Treibhausatmosphäre des libanesischen Bürgerkrieges entstand und zum Vorbild für viele weitere und wichtige Selbstmordattentate wurde. Der 11. September 2001 in New York war allein die zugespitzteste Form hierfür. In allen Selbstmordattentaten realisiert sich eine paranoide Grundlogik, die ihnen allen – auch wenn sie in unterschiedlichen Kontexten stattfanden – gemein-
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6. Die Politik der Paranoia
sam ist. Die Attentäter und die sie unterstützenden Gruppierungen sehen sich in einen permanenten und existentiellen Krieg verstrickt, in dem man sich gegen einen übermächtigen Gegner verteidigen muss, um sein eigenes Überleben zu retten. Der Kampf gegen diesen Gegner wird dann zur Pflicht, im Zweifelsfall zur heiligen Pflicht jedes Mitglieds der Gruppe und rechtfertigt alle Mittel. Das bevorzugte Mittel der Ohnmächtigen ist das Selbstmordattentat, das von den Ungläubigen, den feindlichen Mächtigen, so schwer zu bekämpfen ist und eigentlich nur hingenommen werden kann. Die Medialisierung dieser Attentate tritt in den 90er Jahren hinzu. 1995 nimmt ein TV-Team der Hisbollah ein Selbstmordattentat im Libanon auf, bei dem ein Vater von drei Kindern mit seinem mit 450 kg Sprengstoff beladenen Wagen in einen israelischen Konvoi fährt. Die Bilder liefen dann in fast allen libanesischen Sendern in den Abendnachrichten.87 Die Attentate werden seither durch ein geschicktes politisches Marketing begleitet und Selbstmordattentate und ihre politische Vermarktung gehören nun untrennbar zusammen. Attentate haben immer Folgen88, wie unberechenbar sie im Einzelnen auch sein mögen. Sie sind nie folgenlos und steigern die Kontingenz der politischen Gewaltkonflikte und machen ihre Dynamiken unberechenbarer.
6.6. „Die Protokolle der Weisen von Zion“: Über die blutige Wirksamkeit einer paranoiden Fiktion Die „Protokolle der Weisen von Zion“ sollen neben der Bibel das meist gelesene Buch der Welt sein – und sie sind erst in diesem Jahrhundert ‚erschienen‘.89 Man kann diese Aussage sicherlich bezweifeln, aber ohne Frage sind die Protokolle in diesem Jahrhundert außerordentlich wirkmächtig geworden. Der ‚eliminatorische Antisemitismus‘90 der Nationalsozialisten ist ohne diese Protokolle eben so wenig denkbar wie der Antisemitismus generell. In keinem anderen ‚Text‘ dieses Jahrhunderts sind die Vorurteile gegen eine bestimmte soziale Gruppe, manche sagen ‚Rasse‘, so konzentriert zusammengetragen wie in diesem fiktiven Dokument. Es hat keinen Autor im tradierten Sinn, der zu einem bestimmten Zeitpunkt in einem bestimmten gesellschaftlichen Kontext sozialisiert wurde, sondern eher einen fiktiven. Bis heute ist es nicht schlüssig gelungen, den oder die Verfasser der Protokolle ausfindig zu machen; es gibt gleichwohl Vermutungen über mögliche Autoren, vom Leiter der zaristischen Geheimpolizei Ochrana, Pjotr Ivanovich Ratschkowsky, bis hin zu dem russischen Schriftsteller Sergej Nilus, der eine Fassung in seinem 1905 erschienen Buch „Das Große im Kleinen“ veröffentlichte.91 Ob diese russischen Versionen auf eine französische (Ur-)Fassung zurückgehen, ist bis heute unklar. All das verweist auf einen irritierenden Sachverhalt: Die Protokolle sind aus einem bestimmten Zeitgeist, einem gesellschaftlich-ideologischen Kontext heraus
6.6. „Die Protokolle der Weisen von Zion“
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entstanden, spiegeln diesen wider und bedurften keines individuellen Autors, um die dort enthaltenen paranoiden Wahnvorstellungen zu formulieren, die dann im 20. Jahrhundert blutige Weltgeschichte schreiben sollten. Aus dem Kontext entstand der Text sozusagen von selbst, indem sich der Kontext in den Protokollen zu einem wüsten antisemitischen Text verdichtete. Er gerinnt zu einem Dokument der Paranoia, das sich als Collage aus verschiedenen Texten von verschiedenen Autoren präsentiert und keine Fälschung eines wie auch immer gearteten Ursprungsdokuments, sondern eine paranoide Fiktion ist. Alle wesentlichen Merkmale der politischen Paranoia sind in diesem Dokument besonders stark, sozusagen in Reinform, ausgeprägt. Seit ihrem Erscheinen sind die Protokolle die „Referenz für den Antisemitismus schlechthin.“92 Nicht nur haben führende Größen des Nationalsozialismus sie gelesen und in ihren eigenen Schriften verarbeitet, sie wurden auch durch Erlass des zuständigen Reichsministeriums vom 13. Oktober 1934 offizieller Lesestoff an deutschen Schulen.93 Einer der führenden Ideologen des Dritten Reiches, Alfred Rosenberg, hat eine kommentierte Ausgabe herausgegeben und dort festgehalten: „Die Politik der Gegenwart entspricht bis heute ins einzelne genau den Absichten und Plänen, wie sie vor über 35 Jahren besprochen und niedergelegt wurden.“94 Dies ist der Inbegriff der politischen Paranoia, denn es wird unterstellt, dass alle Ereignisse in der Geschichte, wirklich alle, auf diesen einen Plan kausal zurückgeführt werden können und sich Geschichte nur als eine Art bewusstlose Realisation dieses Planes, ohne Zwischentreten menschlicher Handlungen, verwirklicht. Zudem hat es diesen Plan nie gegeben, er ist – wie bereits erwähnt – eine paranoide Fiktion. Aber die bereits vorherrschende anti-jüdische Paranoia wurde durch die Berufung der Nazis auf die Protokolle bis zum Äußersten gesteigert. Der fiktive Verfasser der Protokolle beansprucht eine herausgehobene Machtposition, nur er weiß um die Pläne der Weltverschwörung. Alle politischen und gesellschaftlichen Phänomene werden von ihm kausal auf den Willen dieses Einzelnen bzw. der kleinen Gruppe zurückgeführt. Er sieht sich einer permanenten Bedrohung ausgesetzt, die einer Freund-Feind-Konstellation gleichkommt und in der es ums Ganze geht. Die Wahrnehmung der Welt wird von der ‚falsch dichtende Einbildungskraft‘ diktiert und aus diesen ‚falschen Prämissen‘ werden formallogisch die ‚richtigen‘ Schlüsse gezogen. Und diese Schlüsse sind absolut tödlich, denn sie müssen eliminatorisch sein, will man sein eigenes (Über-)Leben sichern. Die Grundfiktion ist deshalb klar: Die Protokolle geben die Existenz einer jüdischen Weltverschwörung wieder, die sich in Form einer Untergrundorganisation zusammen gefunden hat. Sie handelt im Auftrag aller Juden und jeder Jude ist somit an dieser Verschwörung beteiligt und für sie mit verantwortlich. Mittels verschiedener Mechanismen und Techniken, wobei Liberalismus, Demokratie, die Presse und – im Grunde unvermeidlich – das Finanzkapital eine bedeutende Rolle spielen, soll die bestehende Gesellschaftsordnung zunächst zerstört und
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6. Die Politik der Paranoia
dann auf ihren Trümmern eine neue Weltherrschaft errichtet werden, die völlig von den Juden dominiert wird. Es geht – wie bereits angedeutet – ums Ganze, um die Weltherrschaft der Juden. Dies wird an vielen Stellen der Protokolle immer wieder neu bekräftigt und an einer Stelle heißt es unmissverständlich: „Die Anerkennung unseres Weltherrschers kann schon vor der endgültigen Beseitigung aller Verfassungen erfolgen. Der günstigste Augenblick dafür wird dann gekommen sein, wenn die von langen Unruhen geplagten Völker angesichts der – von uns herbeigeführten – Ohnmacht ihrer Herrscher alles Vertrauen zu denselben verloren haben und den Ruf ausstoßen werden: ‚Beseitigt sie und gebt uns einen einzigen Weltherrscher, der uns alle vereint und die Ursachen des ewigen Haders – die völkischen Gegensätze, die Verschiedenartigkeit des Glaubens, die Grenzen der Staaten und ihre Ausdehnungsbestrebungen – beseitigt, der uns endlich Frieden und Ruhe bringt, den wir vergeblich von unseren Herrschern und Volksvertretungen erhofft hatten‘.“95
Der Gewaltcharakter und der nicht zu bändigende Wille zu dieser Weltherrschaft beruht auf Terror, darüber lassen die Protokolle keinen Zweifel. „Tatsächlich gibt es für uns keine Hindernisse. Unsere Oberherrschaft steht außerhalb aller gesetzlichen Schranken; ihre Grundlagen sind so fest, dass sie nur mit dem Kraftworte Gewaltherrschaft bezeichnet werden kann. (…) Von uns geht das Schreckgespenst aus, der allumfassende Terror.“96
Es gibt ‚keine Hindernisse‘ – diese Formulierung ist typisch für den Geist der Protokolle, in der die unbedingte Machbarkeit alles Weltgeschehens vorausgesetzt und propagiert wird. Diese Machbarkeit setzt ungebändigte Macht voraus. Sie wird durch einen Staatsstreich erobert, der die einzigartige Möglichkeit bietet, die freie Presse, die Parteien, die Rede- und Gewissensfreiheit, das Wählen und vieles Andere sofort und endgültig abzuschaffen. Neben dieser politischen Dimension spielt das Geld eine ebenso zentrale Rolle. Die Macht über das Geld, insbesondere das Gold, die „größte Macht der Gegenwart“97, ist von allergrößter Bedeutung und eine richtige Geld- und Steuerwirtschaft bildet „den Kern unseres ganzen Planes“.98 Insofern werden sehr detaillierte Ausführungen zur Steuer, dem Staatshaushalt, der Staatsverschuldung u. a. gemacht, die hier im Detail nicht wiedergegeben werden müssen. Aber die Spekulationen an den Börsen müssten zunehmen, weil so „alle Schätze der Welt“99 ihnen ausgeliefert seien. Indem sie diese dem Finanzkreislauf entziehen, kann man „umfangreiche (…) Krisen im Wirtschaftsleben herbeiführen“ und nicht-jüdische Staaten könnten zu hohen Zinsen gezwungen werden, die sie schließlich in die „völlige Abhängigkeit“100 von ihren jüdischen Kreditgebern bringt und sie in der „Schuldknechtschaft (…) unrettbar verloren“ gehen.101 Die Kontrolle der Presse ist ein weiteres wichtiges Moment zur Eroberung der Weltherrschaft. Sie ist die „letzte Großmacht“, die nun unter Kontrolle gebracht werden muss, aber abgesehen von „ganz wenigen Ausnahmen (….) liegt die ganze Presse in unseren Händen.“102 Die Manipulation der Öffentlichkeit ist ein
6.6. „Die Protokolle der Weisen von Zion“
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wichtiges Instrument, weil darüber die Masse gelähmt und durch „geistloses, schmutziges und widerwärtiges Schrifttum“ die öffentliche Meinung verwirrt und den Menschen das eigene Denken abgewöhnt werden kann. Die Weltereignisse würden durch die „bunten Gläser der Brillen“, die den „Nichtjuden“ aufgesetzt werden, gesehen. Das „gedruckte Wort“ soll ein „Werkzeug in der Hand unserer Regierung sein“103 sein, die jedes Wort der Vorprüfung unterwirft. Unschwer ist zu erkennen, dass hier eine umfassende Kontrolle des Pressewesens und der öffentlichen Meinung propagiert wird, die die Masse verdummen und einlullen soll. Analoges wird im Bildungssystem angestrebt. „Wir haben die nichtjüdische Jugend verdummt, verführt und verdorben. Dieses Ziel wurde von uns dadurch erreicht, dass wir ihre Erziehung auf falschen Grundsätzen und Lehren aufbauten, deren Lügenhaftigkeit uns sehr wohl bekannt war, die wir aber trotzdem oder gerade deswegen anwenden ließen.“104
Auch geht es den Protokollen um die „Unschädlichmachung der Hochschulen.“ Hierzu soll die Lehrfreiheit aufgehoben, die Verwaltungen einem strengen und geheimen Diktat unterworfen, die Ernennung der Hochschullehrer selbst vorgenommen und alle staatsrechtlichen Fragen aus den Lehrplänen entfernt und alles, was „irgendwie zersetzend wirken kann“, aus den Hochschulen verbannt werden. Immer wieder wird die Bedeutung des Staatsrechts betont, das auf keinen Fall Verbreitung finden darf, weil es nur „freisinnige Schwärmer“ und „schlechte Staatsbürger“ erzeugt.105 Parallel dazu muss in der Politik die Lüge bzw. der politische Opportunismus dominieren: „Der oberste Grundsatz jeder erfolgreichen Staatskunst ist die strenge Geheimhaltung aller Unternehmungen. Was der Staatsmann sagt, braucht keineswegs mit dem übereinstimmen, was er tut.“106
Und an anderer Stelle heißt es: „Staatskunst hat mit dem Sittengesetz nicht das Geringste zu tun. Ein Herrscher, der an Hand der Sittengesetze regieren will, versteht überhaupt nichts von der Staatskunst und ist daher keinen Augenblick sicher auf seinem Throne. Wer regieren will, muss mit Verschlagenheit, List, Bosheit, Verstellung arbeiten. Hohe sittliche Eigenschaften – Offenheit, Ehrbarkeit, Ehrlichkeit – sind Klippen für die Staatskunst, denn sie stürzen die Besten vom Throne, wenn sich der Feind anderer und wahrhaft wirksamer Mittel bedient.“107
Hier werden alle Vorurteile gegenüber der Politik konzentriert zusammengefasst und als positiv im Sinne der effektiven Ausübung der gewaltsamen und terrorgestützten Herrschaft bezeichnet: politischer Opportunismus, Verlogenheit, Nichtöffentlichkeit – und dies alles wird zur ‚Staatskunst‘. Zudem muss man die Schwächen der Anderen ohne zu zögern nutzen, denn dadurch kann man die Unterwerfung und die Schreckensherrschaft stabilisieren. Die Anleihen bei Machiavellis „Il pricipe“ sind unübersehbar und gewollt, da etliche Passagen der Protokolle wörtlich aus dem Buch von Maurice Joly „Dialogue aux Enfers entre Machiavel et Montesquieu“, übernommen wurden, das 1886 in Brüssel erschien und
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6. Die Politik der Paranoia
einen fiktiven Dialog zwischen Machiavelli und Montesquieu enthält und als Kritik an Napoleon III. gedacht war.108 Eine Passage aus dem Buch verdient noch Erwähnung. Es handelt sich um einen Abschnitt, der sich mit den damals noch in Planung befindlichen Untergrundbahnen in den großen europäischen Hauptstädten beschäftigt. Falls die Nichtjuden wider Erwarten gegenüber der jüdischen Gewaltherrschaft nicht widerstandsfähig sein sollten, so bliebe „ein letztes, furchtbares Mittel (...), vor dem selbst die tapfersten Herzen erzittern sollten. Bald werden alle Hauptstädte der Welt von Stollen der Untergrundbahnen durchzogen sein. Von diesen Stollen aus werden wir im Falle der Gefahr für uns die ganzen Städte mit den Staatsleitungen, Ämtern, Urkundensammlungen und den Nichtjuden mit ihrem Hab und Gut in die Luft sprengen.“109
Hier wird ein Mythos des aus dem Untergrund-Kommens formuliert und propagiert, der später in der Theorie des Partisanen, vor allem bei C. Schmitt, erneut auftaucht.110 Der tellurische Charakter des Partisanen signalisiert seine Verbundenheit mit der Erde; er unterliegt noch nicht der Motorisierung und Entortung der modernen terroristischen Kämpfer. Die verblüffendsten und zugleich unübersehbaren Parallelen sind dagegen bei den heutigen islamistischen Terroranschlägen zu beobachten. Die Bombenanschläge am 7. Juli 2005 in der Londoner UBahn kosteten 76 Menschen das Leben und verletzten über 700 Personen. Über zehn Jahre später, am 22. März 2016, ereigneten sich in Brüssel zwei Explosionen, ebenfalls in Metro-Stationen, die 31 Menschen das Leben kosteten und viele weitere verletzten. Die Terroranschläge in Paris am 13. November 2017 mit insgesamt über 130 Toten und sehr vielen Verletzten wurden dagegen ‚oberirdisch‘ ausgeführt. Aber die Idee des ‚In-die-Luft-Sprengens‘ von U-Bahnschächten taucht bereits in den Protokollen auf und ist als ein ‚letztes, furchtbares Mittel‘ des Freund-Feind-Kampfes in dieser Zeit vorgedacht. Welche Rolle dieses Buch bei der Vernichtung der Juden durch die Nationalsozialisten gespielt hat, ist umstritten. Nicht umstritten dagegen sind die Parallelen zwischen der in den Protokollen beschriebenen Terrorherrschaft und dem totalen Staat der Nationalsozialisten und der Stalinisten. Hannah Arendt betonte diese Parallelen in ihrer 1951 erschienenen Studie „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“. Sie hatte die Vermutung, dass die Protokolle nicht nur ein, vielleicht sogar das wesentliche Motiv, sondern zugleich auch das Modell für Hitlers Praxis der Machteroberung und Herrschaftsausübung gewesen sein könnte. „Die Nazis begannen mit ihrer ideologischen Fiktion einer Weltverschwörung und organisierten sich mehr oder weniger bewusst nach dem Modell der fiktiven Geheimgesellschaft der Weisen von Zion.“111
Manche sagen, die Folgen der Protokolle seien „hunderte von lokalen Judenmassakern“ gewesen.112 Wieder andere behaupten, sie seien der Vorwand für die blutigen Progrome im zaristischen Russland gewesen, um von den politischen und
6.6. „Die Protokolle der Weisen von Zion“
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agrarischen Reformbewegungen abzulenken113 und wieder andere sehen in ihnen die Anleitung für die totalitären Herrschaftsformen des 20. Jahrhunderts. Wie dem auch sei, ihr Einfluss war und ist vor allem ideologischer Art und spielt auch noch heute eine große Rolle. Vor allem die islamistische Propaganda bedient sich der Protokolle, um den Kampf gegen den Staat Israel zu legitimieren, seit den militärischen Aktionen der USA gegen Afghanistan und den Irak spielen sie im Nahen und Mittleren Osten erneut eine große Rolle. Auf der Buchmesse in Frankfurt im Jahr 2005 wurde auf dem Stand des Iran eine englische Übersetzung der Protokolle angeboten – herausgegeben von der „Islamic Propagation Organization“ der „Islamic Republic of Iran“. Unbestreitbar dagegen ist, dass in den Protokollen ein paranoider Imperativ formuliert wurde, wie er bisher in dieser Schärfe noch nicht formuliert wurde. Die Politik wird hier in einem apokalyptischen Narrativ präsentiert, in dem es ums Ganze geht: beherrscht werden oder nicht beherrscht werden. Der Begriff des Feindes taucht mehrfach auf und wird auf die Juden projiziert. Sie sind es, die das Nicht-Judentum völlig vernichten wollen und deshalb muss das Judentum präventiv und strategisch vernichtet werden. Der Feind, das Böse, der teuflische Andere – all das sind Konstruktionen der paranoiden Vernunft, die aber gleichwohl als ‚objektive‘ Wahrheit, als unhintergehbare Wirklichkeit den Paranoiden zutiefst beunruhigen. Die paranoide Furcht wird nicht nur bestätigt, sondern im Extremfall verstärkt. Nur sie kennt den Feind ‚wirklich‘, weil es seine eigene Konstruktion – oder besser: Projektion – ist. Alle Anderen verharmlosen, beschwichtigen, entschärfen – was den Paranoiden umgekehrt in seiner Position bestärkt. Der paranoide Imperativ kann in eine als existentiell interpretierte Situation umschlagen: Will der Andere mich vernichten – und nicht nur beherrschen –, so muss ich ihm zuvorkommen. Der paraniode Imperativ wird dann apokalyptisch. Es geht dann nicht mehr um beherrschen oder beherrscht werden, sondern um vernichten oder vernichtet werden.114 Dieser Imperativ des Textes legt denselben Imperativ im politischen Handeln nahe, sofern es sich – wenn auch nur locker – an den Grundprämissen dieses Textes orientiert. Der Text wirkt dann auf seinen Kontext zurück, in diesem Fall blutig, vernichtend, genozidär. Nicht nur in den völkischen und nationalistischen Kreisen haben die Protokolle zu Beginn der Weimarer Republik eine bedeutende Rolle gespielt; sie erreichten bis 1923 acht Auflagen, die neunte erschien dann konsequenterweise im Parteiverlag der NSDAP, der inzwischen die Rechte daran erworben hatte.115 Im Vorwort hieß es dann, dass das „kommende nationalsozialistische Großdeutschland dem Judentum die Rechnung präsentieren (wird), die dann nicht mehr mit Gold zu bezahlen ist.“ In einer anderen Ausgabe, die im antisemitischen Hammer-Verlag erschien, schrieb der Herausgeber in seinem Vorwort:
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6. Die Politik der Paranoia „Wenn es eine Tatsache ist, dass – wie die Protokolle rühmend verkünden – die jüdische Internationale heute die Völker beherrscht, – seit Jahrzehnten beherrscht – , wenn sie mit allen Mitteln der List, des Truges, der Massenbetörung und der Finanz-Machenschaften die Schicksale der Völker lenkt, (…) so ist es eine unabweisbare Tatsache, dass alle großen politischen Geschehnisse der letzten Jahrzehnte ein Werk der Juden sind und nur mit deren Willen und Einverständnis sich vollzogen haben – auch das furchtbare Verbrechen des Weltkrieges! Sie allein sind die Verantwortlichen für die furchtbare Notlage der Völker. Und für alles (…) Elend müssen wir die wirklichen Machthaber als die allein Schuldigen zur Verantwortung ziehen: den geschworenen Feind der ehrenhaften Menschheit – das verbrecherische, international verbündete Judentum.“116
Auch A. Hitler hat sich in „Mein Kampf“ auf die Protokolle bezogen und festgehalten: „Wie sehr das ganze Dasein dieses Volkes auf einer fortlaufenden Lüge beruht, wird in unvergleichlicher Art in den von den Juden so unendlich gehassten ‚Protokollen der Weisen von Zion‘ gezeigt. Sie sollen auf einer Fälschung beruhen, stöhnt immer wieder die ‚Frankfurter Zeitung‘ in die Welt hinaus: der beste Beweis dafür, dass sie echt sind. (…) Es ist ganz gleich, aus wessen Judenkopf diese Enthüllungen stammen, maßgebend aber ist, dass sie mit geradezu grauenerregender Sicherheit das Wesen und die Tätigkeit des Judenvolkes aufdecken und in ihren inneren Zusammenhängen sowie den letzten Schlussfolgerungen darlegen. Wer die geschichtliche Entwicklung der letzten hundert Jahre von den Gesichtspunkten dieses Buches aus überprüft, dem wird auch das Geschrei der jüdischen Presse sofort verständlich werden. Denn wenn dieses Buch erst einmal Gemeingut eines Volkes geworden sein wird, darf die jüdische Gefahr auch schon als gebrochen gelten.“117
Die Paranoia wird in beiden – etwas längeren – Zitaten überdeutlich: Der Verlauf der Geschichte in allen ihren Verästelungen wird völlig und ausschließlich auf das faktische Wirken der Juden zurückgeführt, sie ist monokausal von ihnen bewirkt und zu verantworten. Die nachgewiesene Fälschung ist das wirksamste Indiz für ihre wahrhaftige Existenz. Um die Geschichte in die eigenen Hände zu nehmen, muss man die Juden und ihre Handlanger und Verbündeten ausschalten und töten. Der eliminatorische Antisemitismus findet hier seinen zugespitztesten Ausdruck. Wird diese individuelle Paranoia mittels Propaganda in eine kollektive ‚übersetzt‘, dann werden ganze Gruppen, ja Völker davon befallen und die von ihnen ausgeübte Gewalt nimmt Ausmaße an, die ein einzelner (Selbstmord-)Attentäter niemals realisieren kann. Ergreift die politische Paranoia die Massen, nimmt sie leicht genozidäre Formen an. Auch der Völkermord in Ruanda an den Tutsi und an oppositionellen bzw. moderaten Hutu durch die Hutu-Mehrheit kann durch den Ausbruch einer politischen Gruppen- oder Massenparanoia erklärt werden. Sie wurde durch den Abschuss der Präsidentenmaschine ausgelöst und kostete nach internationalen Schätzungen zwischen 0,8 und 1 Million Menschen das Leben.118
6.7. Der paranoide politische Stil bei den politischen Machtträgern
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6.7. Der paranoide politische Stil bei den politischen Machtträgern und seine blutigen Folgen Die Paranoia an der Macht: Das hatte in allen Fällen verheerende Konsequenzen. Es gibt nur wenige Fälle, in denen sie unkontrolliert und weitgehend ohne Gegenkräfte agieren konnte. Aber genau diese Fälle sind instruktiv und auf grausame Weise lehrreich. Welche Beispiele gibt es im 20. Jahrhundert neben den beiden bekannten des Stalinismus und des Hitlerismus? Zu erwähnen sind sicherlich die Extremfälle von Idi Amin in Uganda, von Pol Pot in Kambodscha und von Jean-Bédel Bokassa aus der Zentralafrikanischen Republik, der nicht nur als Massenmörder bekannt wurde, sondern auch 17 Ehefrauen hatte und eine unbekannte Anzahl an Kindern hinterließ. Gelangt ein Paranoiker an die Spitze eines Staates, kann er die ganze Gesellschaft mit seiner Paranoia anstecken bzw. seiner Paranoia unterwerfen. „Durch seinen außergewöhnlichen Argwohn, seine Feindseligkeit und seine Ich-Bezogenheit schafft der paraniode Politiker nicht nur graduell, sondern prinzipiell eine völlig andere Gesellschaft. Insbesondere in einem totalitären Regime, in dem ihm alle Mittel zur Verfügung stehen und in dem er durch keine demokratische Verfassung eingeschränkt ist, kann er die Gesellschaft nach dem Bild seiner eigenen Seele schaffen.“119
Der amerikanische Präsident Richard Nixon war nach übereinstimmenden Berichten eine paranoide Persönlichkeit, die man auch als „kriegerische Persönlichkeit“ bezeichnen kann.120 Sein politischer Stil trug wahnhafte Züge, die eine Ursache in seiner überzogenen Reaktion auf seine zunehmende Isolation durch sein Amt und die ihm kritisch gegenüberstehenden Presse hatte. Sein Biograph hielt fest, dass es zu seinen Haupteigenschaften gehörte, niemanden zu vertrauen und es im Präsidentenamt ein gefährlicher Luxus wäre, sich intime Freundschaften zu leisten.121 Seine paranoide Disposition kam auch darin zum Ausdruck, dass er keine Konflikte aushalten konnte und notorisch überreagierte, v. a. gegenüber der Kritik der Presse an ihm und seiner Politik. Durch seine Überreaktionen steigerte er umgekehrt die Kritik der Presse, was wiederum zu gesteigerter Empfindlichkeit bei ihm führte. Letztlich betrachtete er die Presse als Feind, die ihn umstellte und der nichts entging. Schließlich ließ er Listen von Journalisten anfertigen, die als seine ‚Feinde‘ keinen Zugang zum Weißem Haus mehr bekamen. „Nixons politischer Wahn war mithin so vielschichtig wie Nixon selbst, er war eine Mischung aus aktiver und reaktiver Vorsicht, die, aus bitterer Erfahrung geboren, in provokativen Handlungen gegen angebliche Feinde abglitt, die so zu wirklichen Feinden wurden. Sein Wahn spielte eine entscheidende Rolle bei seinem Aufstieg zur Macht, und ohne ihn wäre es wahrscheinlich nicht zu seiner Amtsenthebung gekommen.“122
In R. Nixons Fall wurde seine politische Paranoia durch die Umgebung und die verfassungsrechtlichen und politischen Schranken des Präsidentenamtes in Schach gehalten. Die ‚paranoide Vernunft‘ kann dann vollständig zur Entfaltung
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6. Die Politik der Paranoia
kommen, wenn sie durch keine rechtlichen oder konstitutionellen Schranken eingegrenzt werden kann. Sie schafft sich dann in der Tat eine Gesellschaft nach ihrem Bild – und die ‚Kosten‘ für die Gesellschaft sind dann insbesondere in der Zahl der Getöteten hoch. In Kambodscha hat das totalitäre Regime unter Pol Pot von der Machtergreifung im April 1975 bis zur Intervention der vietnamesischen Armee im Januar 1979 rd. 15 % der Gesamtbevölkerung getötet.123 Die Pol-PotRegierung verkündete nach ihrer gewaltsamen Machtübernahme, dass das Elend Kambodschas einzig und allein auf den Einfluss fremder Mächte zurückzuführen sei. Sind erst alle diese Einflüsse beseitigt, würde ein idealer Staat entstehen, der das Kambodschanische zur vollen Entfaltung bringen und eine ideale Gesellschaft formen würde. Das gespenstische Paradox besteht gerade darin, dass die Roten Khmer bei dem Versuch, diese Einflüsse zu negieren, mehr Unheil und Tote produziert haben als alle Mächte zusammen, die Kambodscha über Jahre besetzt hielten.124 Die Pol-Pot-Regierung wollte in ihrem fremdenfeindlichen Wahn die ursprüngliche bäuerliche Lebensweise erneut einführen und siedelte die gesamte Stadtbevölkerung von rund 2,5 Millionen Menschen in einer konzentrierten Aktion auf das Land um. Dort starben diese Menschen an Hunger, Malaria und anderen Krankheiten massenweise. Wer sich dagegen auflehnte oder diese Politik kritisierte, wurde sofort liquidiert. Die Lebens- und Verhaltensweisen, die Verbindungen zum Ausland signalisierten, also Brillen, Uhren, Schmuck, die Verwendung von Fremdwörtern, zarte Hände oder lange Haare – dies alles wurde als Indiz für einen Kontakt mit ausländischen und damit fremden Mächten interpretiert. Die sofortige Tötung war die unmittelbare Folge. Der 1976 nach chinesischem Vorbild eingeführte Vierjahresplan war ein Fehlschlag, dessen Scheitern allein und ausschließlich auf Sabotage zurückgeführt wurde und zur massenhaften Tötung von den am Plan Beteiligten führte. Als Pol Pot und seine Genossen das Zentrum der Sabotage in den nördlichen Provinzen vermuteten, wurden unter den früheren Guerillaführen und der dortigen Bevölkerung Säuberungen durchgeführt, die die gegen die früheren Anhänger des alten Regimes an Grausamkeit weit übertrafen. Seine Paranoia hat Pol Pot in einem Interview mit dem Journalisten Jan Myrdal auf den Punkt gebracht. Den Roten Khmer sei es gelungen, „(…) alle Einmischungspläne und -aktivitäten, alle Subversionen und Umsturzversuche seitens unserer vielfältigen Feinde“ zu vereiteln.125 Alles wird nicht nur auf die (fiktiven) Einflüsse fremder Mächte zurückgeführt, sondern zugleich eine Vielfalt von Feinden unterstellt, die die Machthaber bedrohen. All das sind konstitutive Merkmale eines weit fortgeschrittenen und intensiven paranoiden Wahnsystems, von dem nicht nur Pol Pot, sondern die gesamte kambodschanische Führungsclique befallen war. Ihre politische Paranoia hat in der Tat eine prinzipiell völlig neue Gesellschaft kreiert, die selbst paranoid
6.7. Der paranoide politische Stil bei den politischen Machtträgern
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wurde, weil niemand wusste, wer zu wem gehört und sich wie verhalten würde. Die Leichenberge und Massengräber waren die grausigen Folgen. Die politische Paranoia kann auch ohne Ideologie oder politisches Programm zu einer Tötungsmaschinerie werden. Ein ehemaliger Boxweltmeister eines afrikanischen Landes, der kaum lesen oder schreiben konnte und auch sonst ungebildet war, reicht dafür allemal aus. Der selbstverliehene Titel dieses bizarren Herrschers lautete vollständig: „Seine Exzellenz, Präsident auf Lebenszeit, Feldmarschall Al Hadschi Doktor Idi Amin Dada, Viktoria-Kreuz, Distinguished Service Order, Military Cross, Herr aller Tiere der Erde und aller Fische der Meere und Bezwinger des Britischen Empires in Afrika im Allgemeinen und Uganda im Speziellen“. Völlig unideologisch verfolgte Idi Amin in Uganda nur ein Ziel: sich ungehemmt zu bereichern und dabei seinen Größenwahn und seine Brutalität auszuleben. Seine Herrschaft war durch alle wesentlichen Merkmale der politischen Paranoia gekennzeichnet: wahnhafte Furcht vor Verschwörungen, übergroßes Misstrauen, maßlose Ichbezogenheit, Feindseligkeit gegen alles Fremde und Andere, Projektionen und Wahnideen und Furcht vor dem Verlust seiner Autonomie. Während seiner Herrschaft von 1971 bis 1979, die durch eine militärische Intervention Tansanias beendet wurde, tötete er rund 375 000 Menschen bei einer Gesamtbevölkerung von 11 Millionen. Bereits zu Beginn seiner autoritären Herrschaft ergriff er eine Maßnahme, die wir heute als ethnische oder rassistische Vertreibung bezeichnen würden: Er wies die gesamte asiatische Bevölkerung – die rd. 80 000 Personen umfasste – aus Uganda aus. Wer nicht freiwillig ging, wurde liquidiert. Zudem wurde ihm seine eigene Unzulänglichkeit immer wieder deutlich und die zu seinem Amt gehörenden Verpflichtungen drohten ihm über den Kopf zu wachsen, was seine paranoiden Tendenzen verschärfte und Verschwörungstheorien den Weg bereiteten. Sein Hass auf Intellektuelle der ugandischen Oberschicht, die er wegen ihrer Überlegenheit verachtete, äußerte sich auch darin, dass er diese Schicht fast vollständig umbringen ließ und sich so von dieser psychischen Bedrohung ‚befreite‘. Oft steigern sich paranoide Veranlagungen zu intensivsten Ausprägungen: Die Furcht vor Verschwörungen ruft unterdrückerische Reaktionen des Machthabers hervor, die dann in der Tat Verschwörungen hervorrufen können, diese wiederum steigern die Furcht und Angst des Herrschers, der mit mehr Repressionen und Gewalttätigkeiten reagiert usw. So entstehen sich selbst verstärkende Eigendynamiken.126
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6. Die Politik der Paranoia
6.8. Politische Paranoia und die Zukunft der Politik in (post)modernen Gesellschaften Die politische Paranoia ist ein Begleiter der (modernen) Politik, der nicht mehr weg zu denken ist. Wie ein dunkler Schatten begleitet sie diese und kommt in den unterschiedlichsten Intensitätsstufen zum Ausdruck. Von ihr können politische Führer, politische Parteien, politische (Massen-)Bewegungen und auch herrschaftskritische Bewegungen befallen sein. Auch kann die Politik der Paranoia von rational agierenden politischen Kräften instrumentell benutzt werden, um in einer bestimmten politischen Konstellation daraus Nutzen zu ziehen. In Gesellschaften mit polarisierter statt moderater Parteienkonkurrenz steigt die Wahrscheinlichkeit, dass die an den Rändern des Parteienspektrums agierenden Parteien diese Politik verfolgen; dies gilt erst recht für Antisystemparteien, die ein bestehendes demokratisches Regime oder eine ganze Gesellschaftsordnung bekämpfen. Insbesondere bei politisch inspirierten Identitätsbildungen sind Feinbilder wichtig, weil auf diese Weise die Widersprüchlichkeiten und Konflikte im Inneren verwischt oder überspielt werden können. Sie ist in der Tat die „politische Krankheit schlechthin“, weil sie sich um „Machtbeziehungen dreht. Der Paranoiker kann ohne Feinde nicht leben, und wo sonst könnte man sie so zahlreich finden wie auf der politischen Bühne?“127 Hinzu kommt dass „(…) im weitesten nicht-pathologischen Sinn des Wortes sich die paranoide Reaktion nicht qualitativ von anderen Reaktionen (unterscheidet), denen man im menschlichen Verhalten begegnet. Die Paranoia ist lediglich die Übertreibung eines an sich bewährten Verhaltens in der Politik, das durch Wachsamkeit, scharfer Beobachtung und kluger Prävention gekennzeichnet ist. Ihre politische Brisanz entspringt ihrer bemerkenswerten Fähigkeit, sowohl ein heftig aggressives Verhalten gegenüber eingebildeten Objekten als auch energische und erfolgreiche Reaktion auf echte Gefahren zu stimulieren.“128
Das Problem einer Politik der Paranoia ist darin zu sehen, dass deren jeweilige Intensitätsstufen nur schwer zu unterscheiden und eher fließend sind. Sind Übertreibungen und Verschärfungen in der Politik bereits Ausdruck einer Politik der Paranoia oder bewegen sie sich noch im Rahmen der ‚normalen‘ Politik? Die Grenz- und Graubereiche lassen sich nur schwer identifizieren; dasselbe gilt für Verhaltensweisen, die dominierend oder ausschließlich dem paranoiden Wahn entspringen. Aber die Entwicklungen dieses Jahrhunderts machen deutlich, dass beispielsweise ethnische Konflikte wie im ehemaligen Jugoslawien durch politische Führer soweit eskaliert werden können, dass sie nicht nur paranoische Dimensionen annehmen, sondern – sobald diese die Massen ergreift – auch in genozidäre Politiken umschlagen. Wann und wie werden aus ‚normalen‘ politischen Gegnern intensive Gegner und wann werden sie zu politischen Feinden, für die andere Verhaltensregeln und Gesetze gelten? Dann wäre die Politik der Paranoia in das Politische umgeschlagen, in eine Konstellation, in der es ums Ganze geht –
6.8. Politische Paranoia und die Zukunft der Politik
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massenhafte Vertreibung, Tötung und Vernichtung des Feindes eingeschlossen.129 Politik schlägt dann um in eine Politik der systematischen Tötung. Und was ist mit der Politik der Paranoia von unten, den Selbstmordattentätern? Schlägt hier die Form der paranoiden Politik ebenfalls um in eine der systematischen Tötung? Hier sind die Diagnosen durchaus verschieden, aber die Mehrheit der Analysten geht vor allen seit Beginn des 21. Jahrhunderts von einer neuen Form des Terrorismus aus, einem Dschihad 2.0. Zunächst kann man eine Entwicklung zu einem führerlosen Dschihad beobachten, der sich in einem globalen Netzwerk realisiert und nur noch lose von den ehemals wichtigen Führern wie Osama Bin Laden, nach dessen Tod im Mai 2011 durch Aiman az-Zawahari und anderen Mitgliedern der Gründergeneration von al-Qaida, geführt wird. Zwar boten bzw. bieten diese Köpfe noch Inspiration und Ideologien an, aber ihr konkreter Einfluss auf das terroristische Geschehen der global agierenden Selbstmordattentäter nimmt ab und verschiedene lokale Gruppen oder individuelle Täter werden in ihren Aktionen immer autonomer.130 Vor allem durch den Militäreinsatz in Afghanistan wurde die Dominanz dieser Führungsgruppe zerschlagen, die zwar nie eine exklusive Führungsrolle etablieren konnte, aber durch Ausbildung, Finanzierung, logistische Unterstützung und Planung immer eine Art hierarchisches Zentrum des internationalen Terrorismus gewesen war. Parallel dazu vollzieht sich vor allem in Europa eine Radikalisierung der zweiten und dritten Generation von Migranten, aus denen sich die neue Generation von Selbstmordattentätern rekrutiert. Diese sind zwar von den ‚alten‘ Ideologien beeinflusst, aber die Anschläge werden meist unabhängig von al-Qaida organisiert.131 Schließlich ist al-Qaida sowohl ideologisch als auch organisatorisch weniger einheitlich als je zuvor. Die Anschläge am 19. Dezember 2016 in Berlin und am 22. März 2017 in London zeigen deutlich den fundamentalen Wandel dieser Selbstmordattentate. Sie wurden von sogenannten ‚homegrown terrorists‘ ausgeführt, sie wurden von sich selbst radikalisierenden Einzeltätern vollzogen und brauchten außer einem geraubten Lastwagen bzw. einem gemieteten PKW und einem Messer keine weiteren logistischen Feinheiten. Das Ziel und die gerade anwesenden Menschen waren ebenso beliebig wie der Ort des Anschlages. Dass sich der Islamische Staat dieser Anschläge rühmt und die Verantwortung dafür reklamiert, kennen wir von unzähligen anderen Anschlägen auch. Die Empirie belegt das Gegenteil und Trittbrettfahrertum ist nun auch in der internationalen terroristischen Szene zum beliebten Spiel geworden. Anmerkungen 1 Schmidtbauer 2003; Herv. von mir. 2 Schneider, M. 2010: 5; alle Herv. von mir. 3 Hofstadter 1964.
4 „In using the expression ‚paranoid style‘, I am not speaking in a clinical sense, but borrowing a clinical term for other purposes.“ Hofstadter 1969: 3.
316 5 Diese Formulierungen gehen unübersehbar auf Carl Schmitts „Begriff des Politischen“ zurück; vgl. Schmitt 1963 (1932): 38f.; Herv. i.O. 6 So vermuten Robins/Post 2002: 66. 7 Bd. 58, Heft 1, S. 1-33. 8 Gross 2005; vgl. aber auch Sombart 1991. 9 Sombart 1991; Gross 2005. 10 Schmitt 1963 (1932): 54. 11 Sombart 1991: 12 und 17. 12 Zit. nach Gross 2005: 331. 13 Mehring 2009: 95. 14 Balke 1996: 153. 15 Balke 1996: 144. 16 Zit. nach Schneider, M. 2010: 604. 17 Schmitt 1982 (1938): 92. 18 Schmitt 1982 (1938): 109. 19 Schmitt 1982 (1938): 100. 20 Schmitt 1963 (1932): 54 bzw. 36. 21 Schmitt 1963 (1932): 69. 22 Schmitt 1963 (1932): 71; Herv. i.O. 23 Schmitt 1963 (1932): 35. 24 Canetti 1980: 489. 25 Schmitt 1966 (1922): 37f. 26 Die Abstandnahme wird an anderer Stelle definiert als Intensitäts- und Dissoziationsgrad, als durch Leidenschaft geprägte Differenz zwischen Freund und Feind. Ludwig Feuerbach machte eine ähnliche Beobachtung: „Der Glaube ist also wesentlich parteiisch. Wer nicht für Christus ist, der ist wider Christus. Für mich oder wider mich. Der Glaube kennt nur Feinde oder Freunde, keine Unparteilichkeit; er ist nur für sich eingenommen. Der Glaube ist wesentlich intolerant – wesentlich, weil mit dem Glauben immer notwendig der Wahn verbunden ist, dass seine Sache die Sache Gottes sei (...).“ Feuerbach 1969: 380. 27 Schmitt 1963 (1932): 64. 28 Schmitt 1963 (1932): 59. 29 Schmitt 1996 (1922): 37f. 30 Schmitt 1996 (1922): 37. 31 Schmitt 1963 (1932): 39. 32 Ebd. 33 Schmitt 1996 (1922): 37. 34 Kersting 1992: 28. 35 Vgl. als Überblick etwa Marchart 2010. 36 Zit. nach Marchart 2010: 32. 37 Ebd. 38 Schmitt 1963 (1932): 27. 39 Schmitt 1963 (1932): 33. 40 Ebd. 41 Der Mord an Caesar und viele weitere im Verlauf der Geschichte sind hierfür typisch. 42 So Schneider, M. 2010: 5. 43 Von seinem etymologischen Ursprung her kommt das Wort aus dem Lateinischen (attentatum) und meint „das Versuchte“ und hat
6. Die Politik der Paranoia
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mit dem Wort „Tat“ in diesem Sinne nur wenig zu tun. Die Kamikaze-Aktionen der Japanischen Armee im Zweiten Weltkrieg waren zwar auch unvermeidlich mit der Selbsttötung der Piloten verbunden; aber die zentrale Differenz zu den Selbstmordattentaten liegt in ihren systematischen Einbindung in die Aktionen der (japanischen) Armee und ihren damit verbundenen Befehlsstrukturen. Zudem wurde die Ausbildung zum Kamikaze-Piloten von der japanischen Armee vollzogen und von eigens dafür ausgebildeten Militärs vorgenommen. Vgl. dazu Axell/Hadeaki 2002; Tanaka 2005; Arct 1998. Reuter 2002: 13. Reuter 2002: 14. Kant Werke Bd. 10, S. 530; § 49: Anthropologie in pragmatischer Absicht; zit. nach Schneider 2010: 7. Vgl. dazu FN 3. Dies betonen übereinstimmend Canetti 1980; Robins/Post 2002; Schneider 2010. Canetti 1980: bes. 487-521. Hofstadter 1996: 3 Robins/Post 2002: 25. Robins/Post 2002: 37f.; alle Herv. von mir.. Zwei amerikanische Psychologen gehen davon aus, dass 15 bis 20 % aller Amerikaner „have frequent paranoid thoughts. (…) But a further 3 to 5 per cent have severe paranioa – what psychologists call persecutory delusions. For this smaller group of people, their paranoia is serious enough to need medical treatment.“ Freeman/Freeman 2008: 10f. Hofstadter 1996. Robins/Post 2010: 39. Robins/Post 2002: 44. So ein Pionier der frühen Psychologie, Eugen Bleuler, im Jahr 1911; vgl. Bleuler 1911: 8; zit. nach Robins/Post 2002: 19. Freeman/ Freeman definieren ähnlich, bei ihnen ist Paranoia „the unrealistic belief that other people want to harm us.“ (2008: 23; vgl. auch 8; 27). Vgl. dazu grundlegend Canetti 1980; Hofstadter 1964; ders. 1996; Robins/Post 2002; Freeman/Freeman 2008; Schneider 2010, die alle etwas anders akzentuierte Definitionen bzw. Merkmalslisten vorstellen, die aber große Überschneidungen aufweisen. Die folgenden Merkmale sind eine Synthese aus dieser Literatur. Canetti 1960: 489. Unter einer Verschwörungstheorie verstehe ich nicht eine Theorie im wissenschaftlichanalytischen Sinne, sondern allein ein konsistentes Denkgebäude, das geschlossen und in sich logisch und systematisch ist, allerdings von falschen Annahmen über die Wirklichkeit
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bzw. die Welt ausgeht. Insofern kommt der Begriff denen des Verschwörungsdenkens oder der Verschwörungshypothese nahe. Vgl. dazu und zu Verschwörungstheorien erhellend Ramsey 2006; Wippermann 2007; Kelman 2012; Seidler 2016. Schneider 2010: 12. Canetti 1960: 514. Robins/Post 2002: 27. Vgl. dazu oben Kap. 1.2. zur Differenz zwischen dem Politischen und der Politik. Dort wird die Grundstruktur des Politischen und die damit verbundene Freund-Feind-Konstruktion ausführlich diskutiert. Schneider 2010: 15; Herv. von mir. Diesen Begriff verwenden Robert S. Robins und Jerrold M. Post, um das intellektuelle Niveau der formalen Logik der Paranoia zu beschreiben; vgl. Robins/Post 2002: 25. Robins/Post 2002: 236. Sofsky 2001: 35. Die folgende Darstellung beruht vor allem auf Ponting 2002; Sösemann 1996; Schneider 2010. Einer der später festgenommenen Attentäter, der Gymnasiast Vaso Ĉubrilović, sagte in seiner Vernehmung, dass er sich wegen seines Zorns über das Durchfallen an der Schule zum Attentat bereit erklärt hatte; aber „als ich den Erzherzog sah, tat es mit leid, ihn zu töten. Anfangs hatte ich diese Absicht, weil ich in den Zeitungen gelesen hatte, dass er gegen die Slaven ungerecht sei (…); auch weiß ich nicht, aus welchem Motiv ich das Attentat begehen wollte.“ Zit. nach Sösemann 1996: 301. So Schneider 2010: 369. Vgl. dazu die ausgezeichnete Darstellung bei Münkler 2013: bes. 34ff. Mayer 2014: 92ff. Zit. nach Mayer 2014: 95. Zit. nach Mayer 2014: 139f. Mayer 2014: 16f. Alles nach Mayer 2014: 15, 18, 21, 125. Zit. nach Mayer 2014: 22f. Münkler 2013: 32. Schneider 2010: 371. Ebd. Schneider 2010: 374. Zum Folgenden vgl. ausführlich Reuter 2002: bes. 88-134. Seiner Vermutung nach waren die Selbstmordbataillone von Kindern, die von der iranischen Militärführung im Krieg gegen den Irak eingesetzt wurden, der Ausgangspunkt für die später folgenden Selbstmordattentate. In diesem Krieg schickten die Iraner Zigtausende von 12- bis 15-jährigen Kindern in den Tod, die als „menschliche Angriffswellen“ in das Maschinengewehrfeuer der irakischen Soldaten liefen. Sie trugen klei-
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317 ne Schlüssel um den Hals, die nach ihrem Märtyrertod die Pforte zum Paradies öffnen sollten. Diese Schlüssel waren zuerst aus Eisen, später wurden sie durch Plastikschlüssel ersetzt, die einfach billiger waren. Vgl. dazu Reuter 2010: bes. Kap. 3. Diese und alle folgenden Details sind dem sehr lesenswerten und reflektierten Buch des damaligen STERN-Journalisten Christoph Reuter entnommen. Am Beispiel dieses Buches kann man den dramatischen Unterschied zwischen den Erkenntnissen der Wissenschaft und des aufgeklärten und reflektierten Journalismus studieren. Ich habe aus diesem Buch mehr über politische Paranoia gelernt als durch alle akademischen Bücher zu diesem Thema; vgl. Reuter 2002. Zit. nach Reuter 2002: 95. Reuter 2002: 116. Folgen müssen begrifflich und materiell von Wirkungen unterschieden werden: „‚Folge‘ meint primär Ereigniskette, ‚Abfolge‘, Prozess und damit auch indirekt ‚Dauer‘. Wirkung betont dagegen Kausalität, in auch absehbarer Zeit(spanne) erkennbares Ergebnis.“ Böhret 1990: 36. Dies hat seinen tiefen Grund darin dass „(d)ie Welt viel zu komplex (ist), als dass wir sie mit unseren Beobachtungen und Analysen einfangen können. In dieser sozialen und natürlichen Welt sind die Interaktionen und Interdependenzen so vielfältig und unüberschaubar, dass wir allenfalls die offensichtlichsten und durchschlagensten Folgen erfassen und auch analysieren können. Es geschieht noch viel mehr, es werden überall – für uns nicht fassbar und erkennbar – Folgen produziert, deren ‚Ursprung‘ verdeckt bleibt.“ Böhret 1990: 28. So Michael Hagemeister; vgl. Hagemeister 2001: 89. Der Begriff stammt aus Daniel Goldhagens umstrittenen Buch „Hitlers willige Vollstrecker“. Die entsprechende Stelle lautet: „Bereits lange vor dem Machtantritt der Nationalsozialisten in Deutschland (hatte sich) eine bösartige und gewalttätige ‚eliminatorische‘, also auf Ausgrenzung, Ausschaltung und Beseitigung gerichtete Variante des Antisemitismus durchgesetzt (...), die den Ausschluss des jüdischen Einflusses, ja der Juden selbst aus der deutschen Gesellschaft forderte. Als die Nationalsozialisten schließlich die Macht übernommen hatten, fanden sie sich an der Spitze einer Gesellschaft wieder, in der Auffassungen über die Juden vorherrschten, die sich leicht für die extremste Form der ‚Beseitigung‘ mobilisieren ließen.“ Goldhagen 1996: 39.
318 91 Siehe dazu umfassend Sammons 2001; Cohn 1969; aber auch knapp Wippermann 2007: 68. 92 Benz, W. 2007: 64. 93 Ebd. 94 Rosenberg 1923: 132. 95 Alle Zitate aus den Protokollen stammen aus dem von Jeffrey L. Sammons herausgegebenen Buch „Die Protokolle der Weisen von Zion. Die Grundlagen des modernen Antisemitismus“, Göttingen 2001, in dem die Protokolle in Gänze abgedruckt sind; Zitat S. 64. 96 Protokolle: 56. 97 Protokolle: 108. 98 Protokolle: 96. 99 Protokolle: 51. 100 Protokolle: 99. 101 Protokolle: 106. 102 Protokolle: 53. 103 Protokolle: 68. 104 Protokolle: 58. 105 Protokolle: 87. 106 Protokolle: 53. 107 Protokolle: 31. 108 Eine sehr schöne deutsche Übersetzung ist „Ein Streit in der Hölle. Gespräche zwischen Machiavelli und Montesquieu über Macht und Recht“; vgl. Joly 1990. 109 Protokolle: 58. 110 Vgl. Schmitt 1963 (1932). 111 Arendt 2017 (1958): 795. 112 Cohn 1969: 111.
6. Die Politik der Paranoia 113 Bracher 1969: 65. 114 Diese Argumente sind unübersehbar von Richard A. Landes und Charles B. Strozier übernommen, die die Idee des „paranoiden Imperativs“ anhand der Protokolle entwickelt haben: vgl. insbesondere Landes 2012; Strozier 2012. 115 Wippermann 2007: 139. 116 Zit. nach Wippermann 2007: 138f. 117 Hitler 1937: 337. 118 Zum Genozid in Ruanda vgl. statt vieler Harding 1998; Kuperman 2001; Des Forges 2002; Uvin 2001; Straus 2006. 119 Robins/Post 2002: 327 120 Zu Nixons ‚kriegerischen Persönlichkeit‘ vgl. erhellend Robins/Post 2002: 45ff. 121 Zit. nach Robins/Post 2002: 47. 122 Robins/Post 2002: 52. 123 Robins/Post 2002: 329. 124 Diese und die folgenden Sachverhalte sind im Wesentlichen Robins/Post 2002: bes. 331-342 entnommen. 125 Zit. nach Robins/Post 2002: 338. 126 Robins/Post 2002: 350. 127 Robins/Post 2002: 37. 128 Ebd. 129 Vgl. dazu im Detail die Ausführungen zum Begriff des Politischen und seiner paranoiden Grundstruktur in Kap. 1. 130 Dies ist die zentrale These von Marc Sageman; vgl. Sageman 2004. 131 Post 2007: bes. Kap. 15.
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7. Die Politik des Tötens: ‚Du sollst töten‘ als Imperativ totalitärer Herrschaft „Du sollst töten“ – für das Handeln der nationalsozialistischen und stalinistischen Verbrecher hat Hannah Arendt dieses Prinzip detailliert herausgearbeitet und als Kern des totalitären Politikverständnisses gekennzeichnet. In der Tat: Diese Regime haben in das 20. Jahrhundert eine Spur des Blutes gegraben, die in keinem Jahrhundert zuvor gegraben wurde. Sie wurde durch eine Politik des Tötens realisiert, die die Vernichtung spezifischer sozialer bzw. religiöser Gruppen zum Ziel hatte, entweder durch unmenschliche Arbeits- und Lebensbedingungen in den Konzentrationslagern, die unvermeidlich zum Tode führen mussten, oder durch die direkte und industriell anmutende Vernichtung, insbesondere der Juden. Die totalitären Regime haben das Unvorstellbare vorstellbar gemacht und durch Politik realisiert. Erstaunlicherweise gibt es über die Politikbegriffe der totalitären Regime des 20. Jahrhunderts kaum sozial- oder politikwissenschaftliche Literatur. Immerhin hinterließen diese Regime eine derartig mörderische Spur, dass sie dem Jahrhundert seinen politischen Stempel aufdrückten. Wie in keinem anderen Politikverständnis liegen die Ausübung von politischer Macht und die politisch gewollte, umfassende Tötung von bestimmten sozialen Gruppen so dicht nebeneinander wie im Totalitarismus. Töten scheint der Inbegriff dieser Form der Politik zu sein, das Töten steht über allem und es wird von der totalitär herrschenden Clique propagiert und organisiert. Umgekehrt schließt dies die Möglichkeit ein, dass die Machthabenden und ihre Gefolgsleute, manchmal die aufgehetzten Massen, selbst getötet werden, auch wenn die Machtasymmetrien in den totalitären Regimen unübersehbar einseitig zugunsten der Totalitären ausgeprägt sind. Aber die Politik musste Täter wie Opfer so indoktrinieren, dass sich eine völlige Gleichgültigkeit gegenüber dem eigenen oder dem fremden Tod einstellte. Das Verständnis der Politik des Totalitarismus wird in den Selbstbeschreibungen der totalitären Machthaber – wenn überhaupt – nur am Rande gestreift. Das erstaunt, denn nach dem eigenen Selbstverständnis sind sowohl die nationalsozialistischen als auch die kommunistischen Totalitarismen politische Projekte, die von entsprechenden politischen Akteuren in Gang gesetzt werden. Deren Politikverständnis ist von der Vorstellung geprägt, dass diese Projekte nicht nur wegen erwarteter Widerstände, sondern unabhängig davon nur als Gewaltprojekte realisiert werden können und deren oberstes Gesetz lautet: Du sollst töten, ja du musst töten – und kannst selbst getötet werden. Diese Politikvorstellung ist mit dem Paradox konfrontiert, dass sich der Spielraum der Politik einerseits dramatisch reduziert und sich andererseits dramatisch erweitert. Der Spielraum der Politik wird reduziert, indem sich die politischen
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Projekte auf die Realisation vorgegebener ‚Gesetze‘ konzentrieren. Die politische Führung oder der Führer muss – wie es ein führender Ideologe des Nationalsozialismus formulierte – den „ehernen Gesetzen der Geschichte“1 gehorchen, wobei diese Gesetze selbst gesetzt sind. Es sind von den politischen Akteuren formulierte Gesetze, die einer perversen Logik unterliegen und die J. Goebbels unnachahmlich auf den Punkt gebracht hat: „Es gibt nur eine Wahrheit. Entweder lügen wir, dann haben die anderen Recht. Oder wir sagen die Wahrheit, dann lügen alle anderen. Dass die Wahrheit aber bei uns liegt, das glauben wir mit der Unverbrüchlichkeit des Blutes.“2
Die Logik der Selbstimmunisierung gegenüber anderen ‚Wahrheiten‘ ist in diesem verqueren Denken unvermeidlich angelegt. Denn der ‚Glaube‘ und nicht die argumentativ begründete oder durch empirische Evidenz belegte ‚Wahrheit‘ steht hier für die Wahrheit. Sie wird zudem durch die ‚Unverbrüchlichkeit des Blutes‘ garantiert und ist infolgedessen nur einer bestimmten Rasse, insbesondere deren Führung, zugänglich. Aber diese vermeintlich selbstevidenten ‚Wahrheiten‘ sind nicht einmal in den jeweiligen totalitären Parteien bzw. Bewegungen unumstritten, wie die Säuberungen oder die Vernichtung von abweichenden ‚Wahrheiten‘ in den Parteien bzw. Bewegungen der beiden Regime überdeutlich gemacht haben. Die so begründeten Gesetze und deren Wahrheitsprämissen sind für totalitäre Politik handlungsleitend. Während bei den Nationalsozialisten die Rassengesetze dominant sind, sind es bei den kommunistischen Regimen die ‚ehernen Gesetze‘ der Geschichte. Konkret: Die gesetzmäßige Abfolge unterschiedlicher Gesellschafts-, besser Klassenformationen, die unvermeidlich in der weltweit gedachten, klassenlosen Gesellschaft enden. Auch die Selbstimmunisierung gegenüber Kritik ist dieser Ausprägung totalitärer Politik immanent, denn nur die kommunistische Partei und ihre Führung kennt die Gesetze der geschichtlichen Entwicklung und führt die revolutionäre Klasse zum Sieg über die Gegner, besser Feinde oder Konterrevolutionäre. Die Konflikte und Kontingenzen der Politik werden hier unübersehbar auf genau diese eine Aufgabe bzw. dieses eine Ziel reduziert: Den ‚ehernen Gesetzen‘ der Rasse oder der Geschichte mit Gewalt zum Durchbruch zu verhelfen und hierbei die Prämisse zu realisieren: Du sollst, ja du musst töten! Dadurch wird der Spielraum der Politik zugleich ins grenzenlose erweitert und ist unvermeidlich mit direkter und brutaler Gewaltanwendung verbunden. Gewalt ist für diese Form der Politik nicht nur konstitutiv, sondern wird mit Tötung identisch, wobei ein Spezifikum unübersehbar ist. Die Gewalt richtet sich weniger gegen faktische Gegner, also gegen wirkliche Opponenten. Das zwar manchmal auch, aber sie richtet sich vorwiegend gegen politisch definierte und politisch konstruierte ‚objektive Feinde‘, die als soziale Gruppen aufgefasst werden und
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deren Vernichtung oder Umerziehung in Lagern als notwendig erachtet wird. Nur so kann den ‚ehernen Gesetzen‘ zum Durchbruch verholfen werden. Der Höhepunkt der Entgrenzung der Politik ist die Vernichtung ganzer sozialer und religiöser Gruppen, wobei die systematische Vernichtung der Juden durch die Nationalsozialisten in der stalinistischen Politik des Tötens keine Entsprechung fand. Zwar waren auch andere Gruppen von der Vernichtung betroffen, wie etwa die Sinti und Roma, die Homosexuellen oder Kommunisten und Sozialisten, aber die Vernichtung der Juden war in ihrer Radikalität und Intensität einmalig. Diese fand an einem bestimmten Ort statt: Den Vernichtungs- oder Tötungslagern der Nationalsozialisten. Die Politik der Tötung und die Errichtung von Lagern hängen unmittelbar zusammen. Das Lager ist zweifach grenzenlos. Die dorthin zu verbringenden Personengruppen sind grenzenlos in dem Sinne, als die Politik beliebig und je nach Lage der Dinge entschieden kann, wer in die Lager zu verbringen ist. Zum anderen gibt es für die Wärter keine moralischen, ethischen oder (menschen)rechtlichen Grenzen, ihnen ist alles, wirklich alles erlaubt und möglich gemacht, von der Folter bis hin zur langsamen und qualvollen Tötung. Ihre Macht ist grenzenlos. In der Sowjetunion traf der Terror ebenfalls verschiedene soziale Gruppen, die auf dem Weg zur klassenlosen Gesellschaft als ‚objektive Feinde‘ definiert wurden. Dies waren ab 1917 zunächst die Kosaken und dann später – insbesondere unter der Herrschaft Stalins – weitere soziale Gruppen. Hier waren es vor allem die Kulaken, aber auch ethnisch-nationale Minderheiten in den Grenzregionen und deren Führungseliten, die später zu Opfern wurden. Die Tötungen erreichten zwischen 1938 und 1941 ihren absoluten Höhepunkt. Im Zweiten Weltkrieg wurden v. a. die ethnisch-nationalistisch motivierten Tötungen angeheizt, wie beispielsweise in der Ukraine, den baltischen Staaten und in Polen. Aber auch die Deportationen der Tschetschenen und Inguschen gehören in diese Phase. Beide Politiken des Tötens weisen unübersehbar bestimmte Parallelen auf, aber beide sind in jeweils unterschiedlichen historischen und gesellschaftlichen Kontexten entstanden, deren Differenzen nicht zu negieren sind. Zudem unterscheiden sie sich hinsichtlich der konkreten Formen der Politik des Tötens. Die systematische Vernichtung einer ganzen religiös-ethnischen Gruppe, der Juden, findet in der Sowjetunion unter Stalin keine Entsprechung. Ein zentrales Instrument dieser Politiken des Tötens waren die Lager, in denen die politisch bestimmten Gruppen konzentriert und manche schließlich industriell getötet wurden. Dies schlägt sich auch in den jeweils angewandten Gewaltmitteln nieder. Zwar waren Lager, insbesondere Konzentrationslager, für beide totalitären Politiken typisch, aber die reinen Vernichtungs- und Tötungslager gab es nur unter dem Nationalsozialismus. Die Lager des GULag hatten andere Funktionen, auch wenn sie faktisch ebensolche Totenberge aufhäuften wie die Vernichtungslager der Nationalsozialisten.3 Noch viel mehr gilt dies für die chinesischen Arbeitslager, die
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Laogai, die aber in der tradierten Totalitarismusdiskussion kaum erwähnt werden.4 Aber sie alle verkörpern – trotz fundamentaler substantieller Differenzen – eine Politik des Tötens, die in der bisherigen Geschichte der Menschheit keine Entsprechung fand – und hoffentlich nie wieder finden wird. Welche Differenzen und Übereinstimmungen gibt es aber nun in den Politikbegriffen des Nationalsozialismus und des Leninismus bzw. Stalinismus als den zwei wichtigsten Totalitarismen des 20. Jahrhunderts? Welche Rolle spielte hierbei die Ideologie, die glaubte, die Gesetze der Natur bzw. die der geschichtlichen Entwicklung zu kennen und diesen Gesetzen zum Durchbruch verhelfen wollte? Warum waren bestimmte Lager, konkret Arbeits-, Konzentrations- und Vernichtungslager, in allen totalitären (aber zum Teil auch in anderen politischen) Regimen zentral und welche Bedeutung hatten sie in den jeweiligen Politikverständnissen? Der Zusammenhang von politischer Macht und Konzentrationslager (KZ) ist von Hannah Arendt vermutlich am deutlichsten formuliert worden. Sie sind die „konsequenteste Institution totaler Herrschaft“5 und ein, wenn nicht das wichtigste ‚Element‘ dieser Herrschaft. Sie eröffnen einen „uns bisher gänzlich unbekannten Spielraum des ‚alles ist möglich‘. Und dieser Spielraum ist gerade dadurch charakterisiert, daß weder Nutzen noch wie auch immer verstandenes Interesse ihm Grenzen ziehen.“6
Das Prinzip des ‚Alles ist möglich‘ ist der Kern der totalitären Herrschaftsausübung und das Konzentrationslager ist nicht ‚nur‘ der Ort der Erniedrigung, Demütigung, Ausrottung und Vernichtung. Es ist auch der Ort, der „dem ungeheuerlichen Experiment (dient), unter wissenschaftlich exakten Bedingungen Spontaneität als menschliche Verhaltensweise abzuschaffen und Menschen in ein Ding zu verwandeln, das unter gleichen Bedingungen sich immer gleich verhalten wird (…). Nur in den Konzentrationslagern ist dieses Experiment möglich, und sie sind daher nicht nur ‚la société la plus totalitaire encore réalisée‘ (David Rousset), sondern darüber hinaus das richtungsgebende Gesellschaftsideal für die totale Herrschaft überhaupt.“7
Das KZ dichtet sich von seiner Umgebung ab, ist also umgeben mit Grenzzäunen und setzt sich so von der Welt der Lebenden überhaupt ab. Der Stacheldraht, ursprünglich in den USA zur Einzäunung großer Viehherden benutzt, wird zum Symbol für Konzentrationslager schlechthin, in denen nun ‚menschliches Vieh‘ eingezäunt und überwacht wird.8 Im Gegensatz zu Gefängnissen sitzen in Lagern nicht individuell verurteilte Personen ein, sondern soziale Gruppen, also Massen, die präventiv von Polizei oder (Sonder)Militärs in die Welt der Lager verfrachtet und dort – abgegrenzt von der restlichen Welt – in deren künstlich geschaffener Welt mit Gewalt und Terror festgehalten und getötet werden. Die Willkürherrschaft des Totalitarismus zielt statt auf strafrechtlich verurteilte Individuen auf spezifische Massen, die von den totalitären Machthabern durch politische Entscheidungen als gefährlich oder als zu vernichtend definiert werden. Sie werden
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nicht festgehalten für etwas, was sie getan haben, sondern dafür, dass sie durch die Politik als jemand definiert wurden, der etwas ist: etwas Gefährliches, Zerstörerisches, Ansteckendes, Feindliches, Böses – wie auch immer die Bezeichnung im Einzelnen lauten mag. In der Politik des Tötens nehmen die Lager – seien es Arbeits-, Konzentrations- oder Vernichtungslager – eine zentrale Bedeutung ein. Sie sind der konzentrierte Ort, an dem, durch Stacheldraht abgegrenzt von der ‚normalen‘ Welt, eine eigene Welt errichtet wird. In ihr wird – wie Hannah Ahrendt formuliert – das ‚richtungsgebende Gesellschaftsideal der totalitären Herrschaft überhaupt‘ realisiert. Mit ihm ist, auch wenn es in den jeweiligen Totalitarismen durchaus unterschiedlich begründet bzw. abgeleitet wird, untrennbar die Politik des Tötens verbunden. Ich stelle zunächst den Politikbegriff des Nationalsozialismus dar (Kap. 7.1.) und diskutiere anschließend den des Leninismus bzw. Stalinismus, wobei Leo Trotzkis Theorie der „permanenten Revolution“ eine besondere Rolle spielen wird. Knappe Anmerkungen zu den Politikbegriffen und der Politik des Tötens bei Pol Pot in Kambodscha und Mao Tse-tung in China ergänzen dieses Kapitel (Kap. 7.2.). Daran schließt sich die Darstellung der Konzentrations- und Vernichtungslager an und ich frage, welchen spezifischen Stellenwert sie in der Politik des Tötens hatten und warum sie – der GULag als System der Lager in der Sowjetunion und die Konzentrations- und Vernichtungslager der Nationalsozialisten – in den beiden großen Totalitarismen des 20. Jahrhundert eine so überragende Rolle eingenommen haben. Eine kurze Darstellung des Lagersystems in Kambodscha schließt sich an, wobei hier der ganze Staat zum Lager geworden ist, während in China eine fast unübersehbare Anzahl von Arbeits- und Umerziehungslagern zu beobachten ist. Eine knappe Skizze auf das von der amerikanischen Regierung als Reaktion auf die terroristischen Anschläge in New York und Washington unter Georg W. Bush eingerichtete Lager in Guantánamo Bay schließt das Kapitel über die Politik der Lager ab, wobei es eine herausragende Sonderstellung einnimmt, weil es weder ein Konzentrations- noch ein Tötungs- oder Vernichtungslager ist (Kap. 7.3.). Danach befrage ich Analysen und Interpretationen des Totalitarismus, was diese zum Verständnis der Politik der Tötung beitragen können, insbesondere die Totalitarismustheorie von Hannah Arendt (Kap. 7.4.). Die Totenberge, die die totalitären Ideologien und die ihnen entsprechenden Tötungsmaschinerien dem 20. Jahrhundert hinterlassen haben, erfordern eine ausführliche Beschäftigung. In keinem anderen Jahrhundert in der bisherigen Menschheitsgeschichte sind so viele Menschen in Lagern und damit mittels der Ausübung politischer Macht getötet worden als im 20. Jahrhundert. Es ist – vielleicht und vor allem – das Jahrhundert der Lager.
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7. Die Politik des Tötens: ‚Du sollst töten‘ als Imperativ totalitärer Herrschaft
7.1. Der Politikbegriff der Ideologen des Nationalsozialismus und die Politik des Tötens Die nationalsozialistischen Ideologen waren sich zu Beginn der Machtergreifung nicht einig und suchten nach Theorien der Politik und deren Bedeutung für die Bewegung. Unumstritten war die Vorstellung des Primats der Politik gegenüber der Wirtschaft, insbesondere gegenüber der Großindustrie, dem Mittelstand und dem Bauerntum.9 Stand in den Jahren 1933 bis 1936 die kurzfristige Überwindung der ökonomischen Krise im Mittelpunkt, so zielten die dann folgenden Maßnahmen bereits massiv auf eine wirtschaftliche „Wehrhaftmachung“ Deutschlands. Die Ausrichtung vor allem von Teilen der Großindustrie auf die Aufrüstung begann schon sehr früh, der sogenannte Neue Plan vom September 1934 stellte die ersten Weichen in Richtung militärische Aufrüstung, die von den Spitzen der Wirtschaft willig unterstützt wurde. Neben der Wirtschaftslenkung gehört zur totalen Politik ebenso die Gleichschaltung der Erziehung, der Wissenschaft und Bildung sowie der Medien, die im Kontext der Propaganda eine zentrale Rolle spielten. Für den nationalsozialistischen Totalitarismus war der Primat der Politik gegenüber allen anderen gesellschaftlichen Bereichen selbstverständlich. Aber was durch Politik über konkrete Entscheidungen realisiert werden sollte, ist damit noch nicht geklärt. Welche Bedeutung misst die nationalsozialistische Ideologie der Politik zu? Was soll durch Politik konkret erreicht werden? Ist Politik ‚Kunst‘ oder ist sie rein instrumentelles Mittel zur Durchsetzung der totalitären Ideologien? Zu Beginn der nationalsozialistischen Machtergreifung suchten viele Ideologen und Propagandisten, das neue Regime auf fundierte theoretische Grundlagen zu stellen. Dennoch erstaunt, dass es zum nationalsozialistischen Politikverständnis nur wenig grundsätzliche Schriften gibt. Eine davon hat Dr. Otto Dietrich verfasst, damals Reichspressechef der NSDAP und SS-Obergruppenführer, später dann als Pressechef der Reichsregierung einer der höchsten Vertreter im Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda.10 Bereits vor der Machtergreifung arbeitete er eng mit A. Hitler zusammen und organisierte unter anderem auch seine Wahlkämpfe. Im Nationalsozialismus war er sein ständiger Begleiter, den er sowohl auf Reisen als auch im Führerhauptquartier über die wichtigsten Nachrichten aus der deutschen und internationalen Presse unterrichtete. 1938 wurde er Staatssekretär im Reichspropagandaministerium und hatte damit die gesamte Kontrolle über das Pressewesen inne. Zwischen ihm und Joseph Goebbels gab es immer Spannungen. Zwar war J. Goebbels als Minister seinem Staatssekretär in der Ämterhierarchie übergeordnet, aber auf der Parteiebene waren sie ranggleich, beide waren Reichsleiter in der NSDAP. Insofern agierte O. Dietrich auch in seinem staatlichen Amt weitge-
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hend unabhängig und selbstständig von J. Goebbels. Sein Einfluss auf die Politik, insbesondere die Presse und ihre nationalsozialistische Propaganda, war außerordentlich groß. Durch seine Reden und Schriften wollte er dazu beitragen, die ideologischen Prämissen der ‚neuen‘ Weltanschauung zu verbreiten. Sein Wort hatte Gewicht, auch und gerade in den Kompetenzstreitigkeiten mit J. Goebbels und anderen Nazi-Größen. Erst im März 1945, also kurz vor Kriegsende und dem Zusammenbruch des Nazi-Regimes, konnte J. Goebbels seine Entlassung bei A. Hitler durchsetzen. Nach dem Zusammenbruch des totalitären Regimes wurde er in den Nürnberger Prozessen zu sieben Jahren Haft verurteilt, aber vorzeitig entlassen. Danach war er als Werbefachmann bei der „Deutschen Verkehrsgesellschaft“ beschäftigt, bis er im Jahr 1952 verstarb. Im Februar 1934 hielt O. Dietrich an der Deutschen Hochschule für Politik in Berlin einen Vortrag, der die Gleichschaltung der Hochschule begleitete, ja in gewisser Weise schon abschloss und „Die neue Sinngebung der Politik“11 zum Inhalt hatte. Ein Jahr später veröffentlichte er eine weitere grundlegende Schrift, die sich mit den „philosophischen Grundlagen des Nationalsozialismus“12 beschäftigte, eine Schrift, die J. Goebbels als „greulichen Unfug“ und „dilettantisch“ und ein Jahr später in seinem Tagebuch als „philosophischen Edelquatsch“13 abkanzelte. Gleiches mag für die Schrift über das Politikverständnis nicht gelten, denn J. Goebbels übernimmt später eine Formulierung von O. Dietrich, die im Nationalsozialismus immer wiederkehrt und C. Schmitt in einem Artikel unter dem Stichwort „Politik“ im „Handbuch der neuzeitlichen Wehrwissenschaften“ aus dem Jahr 1936 ebenfalls zitiert, aber nun J. Goebbels zuschreibt (vgl. dazu Kap. 6). O. Dietrich formuliert hier zum ersten Mal und in aller Schärfe eine, vielleicht sogar die Position des nationalsozialistischen Politikverständnisses und es ist kein Zufall, dass dies der Reichspressechef der NSDAP selbst vornimmt. In seinem Vortrag erfolgt zunächst eine knappe, aber dennoch Auseinandersetzung mit der Vorstellung, dass Politik lehrbar sei. In der Tat, so O. Dietrich, muss der Politiker die „Grundgesetze alles organischen Lebens beherrschen,“14 d. h. die Gesetze der Geschichte, der Individual- und Massenpsychologie, der Naturwissenschaften und – für die Rassentheorien der Nationalsozialisten unvermeidlich – der Biologie. Im Gegensatz zu seinen Ausführungen über die „philosophischen Grundlagen des Nationalsozialismus“, in der Liberalismus und Individualismus die Hauptfeinde sind, ist es in der „Sinngebung“ der Marxismus. Die bürgerlichen Wissenschaftler hätten ihn in der Weimarer Republik zwar kritisiert, aber das reiche nicht aus. Vielmehr müsse man „von den Lehrstühlen herunter mit den Fäusten draufschlagen und mit den Füßen dieser Schlange den Kopf zertreten“, weil er die „gefährlichste aller Lügen“ sei.15 Die neue Politik des Nationalsozialismus unterliege Gesetzen und diesen Gesetzen folgt die nationalsozialistische Politikvorstellung. Es gibt das „Gesetz der Homogenität von Volk,
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Staat und Führung“ und der „Totalitätsanspruch der nationalsozialistischen Partei ist in diesem Gedanken ursächlich begründet.“16 Zudem gibt es weitere Gesetze, die die neue Politik erkennt und anwendet: Das „Gesetz der Kraftgewinnung durch Konzentration“ der Politik auf die wesentlichen Aufgaben, dann die „Gesetze des Lebens“17, also die rassisch-biologisch begründeten Prämissen des deutschen Volkes, und dann das „Gesetz des Willens“.18 Alle diese Gesetze vollzieht die neue Politik und das Gesetz des Willens wird im Verlauf der Ausführungen zum wichtigsten Gesetz; es macht den Kern des Politikbegriffes aus. Im Mittelpunkt steht deshalb die Absetzung von Bismarcks Diktum der „Politik als Kunst des Möglichen“. Diese verhängnisvolle Definition lasse in jeder Situation Tür und Tor offen für politische Entschlusslosigkeit, für „faule Kompromisse“ und für „volksschädigende Politik“ und rechtfertige das „Nichtkönnen“ der bisherigen Politiker und den „bösen Geist der deutschen Nachkriegspolitik.“19 Stattdessen – so heißt es apodiktisch – ist „Politik im neuen Deutschland nicht die Kunst des Möglichen. Sie ist für den Nationalsozialismus umgekehrt die Kunst, das unmöglich Erscheinende möglich zu machen. (…) Das Gesetz des Willens ist eine der fundamentalsten Erkenntnisse, welche die nationalsozialistische Weltanschauung dem deutschen Volke gegeben hat.“20
Politik hat die Aufgabe, nach „höheren Zielen zu streben“, die jedoch allein einem Genie, konkret dem Führer des deutschen Volkes, A. Hitler, zugänglich sind. Der Wille, das ‚unmöglich Erscheinende möglich zu machen‘ realisiert sich in der Führungskraft eines Einzelnen, in der Führerpersönlichkeit. Sie versteht es, die „gleiche Kraft des Willens im deutschen Volke zu erwecken“21, dem durch die nationalsozialistische Bewegung Inhalt und Form gegeben wird. Der Wille des Führers „(durchglüht) die Bewegung wie ein Strom“22 und die Realisation dieses Willens ist „ein Krieg, indem nicht Soldaten aufmarschieren, sondern seelische Energien.“23 Die Kunst der Politik besteht dann darin, diese Energien zu mobilisieren, was eine „meisterhafte Beherrschung der Psychologie“ voraussetzt. Das Führerprinzip ist die eine Seite einer politischen Gleichung, die auf der anderen Seite durch die „Politisierung der Geführten“24 ergänzt wird, um dem jedem Volk immanenten und blutsmäßig bedingten „Willen zur Selbstbehauptung“ zur Geltung zu bringen. In ihm muss die nationalsozialistische Weltanschauung durch Propaganda verankert werden. In einer Umkehrung einer später von Mao Tsetung formulierten Prämisse25 verkündet O. Dietrich, dass die Macht des nationalsozialistischen Staates „nicht auf den Bajonetten, sondern auf den völkischen Energien und Kraftreserven (beruht).“26 Aber Politik bleibt Kunst, was immer das auch hier heißen mag, und sie wird mit der fanatischen Vorstellung eines Willens verbunden, der im Prinzip alles kann und deshalb in Gewalt, konkreter: in der tötenden Gewalt, ihren Niederschlag finden muss. Diese extrem elitistische Vorstellung wird mit der Idee verkoppelt, dass der Führer „alle verfügbaren Willenskräfte zu organisieren“ in der
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Lage ist und so die Geschichte in seine Hände nimmt. Das „Gesetz des Willens“27, das keine Grenzen und keine Unmöglichkeiten anerkennt, ist wesentlich für das neue Politikverständnis und macht so die Bahn frei für einen radikalen Voluntarismus, dem alles möglich sein soll. Dass hierfür Gewaltanwendung konstitutiv ist, versteht sich von selbst, aber die Rolle der Gewalt, insbesondere der tötenden Gewalt, wird in dieser Schrift fast nie explizit erwähnt. Eine ähnliche Position – auch wenn Akzentverschiebungen unübersehbar sind – wird von Eugen Hadamovsky formuliert, ebenfalls eine wichtige Größe im nationalsozialistischen Propagandawesen. Er wurde von J. Goebbels zum Sendeleiter des Deutschlandsenders ernannt, später zum Reichssendeleiter und zugleich zum Direktor der Reichs-Rundfunk-Gesellschaft, die an der Gleichschaltung des Rundfunks ebenso beteiligt war wie an der nationalsozialistischen Propaganda. Während des Zweiten Weltkriegs übernahm er die Frontberichterstattung im Rundfunk. J. Goebbels belohnte ihn mit der Ernennung zum Leiter der Rundfunkabteilung im Reichspropagandaministerium. Nach Differenzen mit ihm wurde er aus dieser Position entlassen und fiel im März 1945 im Krieg, nachdem er sich als Freiwilliger bei der Wehrmacht gemeldet hatte. Die nationalsozialistische Politik muss – so E. Hadamovsky – „allein den ehernen Gesetzen der Geschichte gehorchen und mit hartem Schritt über alle sogenannten liberalen Errungenschaften des öffentlichen Lebens hinweggehen.“28 Politik wird erneut auf den Vollzug von Gesetzen reduziert, sie hat nur noch ein einziges und unumstrittenes Ziel: Den ‚ehernen‘ Gesetzen der Geschichte, besser der Rassentheorie, zum Durchbruch zu verhelfen. Damit untrennbar verbunden ist die „Ausschaltung aller ernsthaften Widerstände in den Massen, um ihnen, gestützt auf den einsatzbereiten nationalen Massenwillen, durch eine machtvolle Nationalpolitik das Brot zu sichern.“29 Eine solche Aufgabe kann nur durch Politiker bewältigt werden, die „soldatisches oder allgemein gesprochen kämpferisches Blut haben und die Politik nicht mit der amtlichen Karriere verwechseln. Der eine wie der andere, Soldat und Politiker, müssen gleicherweise zum Äußersten entschlossen sein.“30
Der Politiker wird hier in Analogie zum Soldaten gedacht, der kämpft und nicht nur andere tötet, sondern auch seinen eigenen Tod in Kauf nimmt, ihm auch ins Auge sieht und bereit ist, bis zum ‚Äußersten‘ zu gehen. Gewaltanwendung wird hier als systematische Tötung gedacht, als unhintergehbare Notwendigkeit, und ist konstitutiv für dieses Politikverständnis. Sie ist im Kern schrankenlos und nicht wie in (demokratischen) Rechtsstaaten durch einen rechtlichen Rahmen begrenzt. Neben dem Führer als alles überragender Person muss parallel ein „politischen Typus“ gezüchtet werden, der sich einerseits scharf von den Massen abgrenzt, aber andererseits ein Teil von ihnen bleibt. Auch die Massen müssen das
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gewaltorientierte Politikverständnis internalisieren, was durch Propaganda erreicht werden soll. Der politische Typus ist eine am „Führervorbild geschulte Persönlichkeit, nach einem leitenden Prinzip bewusst und rassemäßig gestaltet.“31 Er setzt sich von den einfachen Massen mit „terroristischen Wirkungen“ ab und bildet eine „höhere Gemeinschaft“.32 Das nationalsozialistische Verständnis von Politik musste sich von zwei konkurrierenden Ideen gravierend unterscheiden. Die eine war die des (sowjetischen) Kollektivismus, der die höheren Kreise erniedrigt, auf das Niveau der Niedrigsten und Gemeinsten hinab zieht und so ein Massenkollektiv des Schlechten produziert. Zum anderen vom Liberalismus, der die hemmungslose Erhöhung des Individuums auf Kosten der Gemeinschaft und des Volkes predigt. Davon abgegrenzt soll ein politischer Typus entstehen, dessen Vorbild der Soldat und der preußische Verwaltungsmensch sein soll. Beide dienen bzw. führen Befehle aus, der eine, indem er den Befehlen der Vorgesetzten, der andere, in dem er den bürokratischen, unpersönlichen Regeln gehorcht. Aber beide Typen sind zunächst unpolitisch und müssen in dem Sinne politisiert werden, dass sie zu Führern und Unterführern des Volkes werden und die Ideen des Führers instinktiv erspüren und ausführen. „Unser Leben heißt Politik. Unsere Aufgabe ist es heute, den neuen politischen Typus zu züchten, der, Soldat oder Verwaltungsfachmann, mit unbeirrbarem politischen Instinkt den Aufgaben der Gegenwart und Zukunft gewachsen ist.“33
Die nationalsozialistische Propaganda hat unter anderem genau die Aufgabe, bei der Züchtung dieses politischen Typus mitzuwirken. Darüber hinaus trägt sie zu der Gestaltung des nationalen Willens bei, die mittels des zensierten Rundfunks und der Presse erfolgen soll. Noch ein letzter und dritter Autor soll kurz erwähnt werden, der einen kleinen, aber wichtigen Handbuchartikel unter dem Stichwort „Politik“ verfasst hat. Dieser spielt in der Rezeption der Schriften dieser Person nur eine marginale Rolle, obwohl die sozial- und politikwissenschaftliche Auseinandersetzung mit ihm fast unüberschaubare Ausmaße angenommen hat. Es war C. Schmitt, der sich – in tiefer Anbiederung an den Nationalsozialismus – ebenfalls Gedanken über deren Politikbegriff gemacht hat. Nicht nur hat er seinen „Begriff des Politischen“ im Jahr 1933 an die Sprachregelungen und politischen Vorgaben des Nationalsozialismus in vorauseilendem Gehorsam angepasst.34 In einem Handbuchartikel, pikanterweise im „Handbuch der neuzeitlichen Wehrwissenschaften“, hat er – zum Teil in Abgrenzung zum „Politischen“ – ebenfalls einen Politikbegriff in einer nationalsozialistischen Variante formuliert. Zunächst kritisiert C. Schmitt die enge Bindung des Politikbegriffs an den Staat und die staatliche Macht, die die vielen Varianten der Politik, wie Außen-, Innen-, Finanz-, Kultur-, Sozial-, Kommunal- etc. Politik, ermöglicht. Heute da-
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gegen ist das „Volk der Normalbegriff der politischen Einheit“ und deshalb „bestimmen sich alle politischen Begriffe vom Volk her. Politisch ist alles, was die Lebensfragen eines Volkes als einheitliches Ganzes betrifft.“35 In einer Kritik an den bisherigen Politikbegriffen, vor allem denen der Weimarer Republik, entwickelt er dann einen neuen: Unter dem „Eindruck der Erfolge Adolf Hitlers (konnte) die Politik als ‚die Kunst, das unmöglich Scheinende möglich zu machen‘ (J. Goebbels) bestimmt werden.“36 Diese angeblich auf J. Goebbels zurückgehende Formulierung wird weder bei C. Schmitt noch bei anderen Autoren mit einem Nachweis belegt und konnte von mir auch nicht nachgewiesen werden.37 Aber die Nähe bzw. Übernahme des Politikbegriffs von O. Dietrich ist unübersehbar und Politik – so C. Schmitt weiter – muss deshalb mit Widerständen rechnen und kann „nicht auf den Kampf verzichten und sich auf die Taktik des bloßen Ausgleichens und Ausweichens beschränken.“38 Politik bedeutet vor allem Tötung, Freund und Feind muss man klar unterscheiden können und der tiefste Gegensatz besteht heute darin zu bestimmen, „worin Krieg und Kampf ihren Sinn finden.“39 Der Krieg ist – er beruft sich hier auf Clausewitz – die Fortsetzung des politischen Verkehrs unter Beimischung anderer Mittel und dies ist auch „die Auffassung vom Wesen der Politik, die der (…) Politik des Führers und Reichskanzlers Adolf Hitler zugrunde liegt.“40 Nur er und die nationalsozialistische NSDAP können darüber entscheiden, was politisch und unpolitisch ist und wie man politisch agiert. Sie verfügen über das Monopol dieser fundamentalen Entscheidung. In der Politik des Nationalsozialismus ist prinzipiell alles politisierbar, selbst die kleinste Gegebenheit, sobald sie „in die Kampfzone der streitenden Gegensätze hineingerät.“41 Aber was politisch werden soll, muss zuvor politisch entschieden werden. „Infolgedessen ist die Entscheidung, darüber, ob etwas unpolitisch ist, im Streitfalle ebenfalls eine politische Entscheidung. Das beweist, wie sehr heute eine einheitliche, entscheidungsfähige politische Führung für jedes Volk notwendig geworden ist, um den Vorrang der politischen Entscheidung (Primat der Politik) gegenüber der Aufspaltung in verschiedene Sachgebiete (Wirtschaft, Technik, Kultur, Religion) zu gewährleisten.“42
Diese Position unterscheidet sich nicht wesentlich von den Positionen, die von den Mitgliedern der nationalsozialistischen Partei formuliert wurden. Politik im nationalsozialistischen Verständnis ist also die menschliche Tätigkeit, die einen faktischen oder fiktiven Willen des rassisch-biologistisch bestimmten Volkes organisiert, diesen Willen exzessiv deutet, indem ihm alles zugetraut wird und die Organisation dieses Willens nach dem Führerprinzip und der Einheit bzw. Homogenität von Volk, Staat und Führer zur Voraussetzung hat. Politik ist dann die Kunst, alles, wirklich alles zu realisieren und alle Gegenkräfte, welcher Art auch immer, zu überwinden, zu unterdrücken, zu beseitigen und zu vernichten. Während zu Beginn der nationalsozialistischen Diktatur der Kampf gegen die großen ideologischen Strömungen des Liberalismus und des Marxismus im Mit-
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telpunkt stand, so wandelte sich diese Position später. Der zentrale und elementare Feind wurde nun der Jude. Zwar wurden mit der Machtübernahme die Übergriffe gegen Juden häufiger und brutaler, aber die nationalsozialistische Propaganda hielt sich bei der Berichterstattung erstaunlich zurück. Das Attentat des in Deutschland aufgewachsenen polnischen Juden, Herschel Grynszpan, auf den Ligasekretär an der deutschen Botschaft in Paris am 7. November 1938 änderte die Lage dramatisch. Ernst vom Rath wurde bei diesem Attentat erheblich verletzt, die Propaganda nutzte dies und setzte eine anhaltende Welle in Gang, die in den sogenannten Novemberprogromen gegen die Juden ihren blutigen Ausdruck fand.43 Immer noch spielte die Propaganda diese Ereignisse herunter. Der Zeitpunkt der Wendung zur systematischen Vernichtung der Juden ist umstritten, aber nach Beginn des Zweiten Weltkrieges wurden die Sprache und die Zeichen deutlicher und die Propaganda während des Russlandfeldzuges intensiviert. Bolschewismus und Judentum wurden nun als identische ideologische Gegenkräfte gekennzeichnet. Auf einer Pressekonferenz am 5. Juli 1941 forderte J. Goebbels, dass die Presse die Aufgabe hätte, das „verbrecherische, jüdische, bolschewistische Regime anzuprangern“44 und setzt Judentum und Bolschewismus gleich. Anlass dieser erneuten und massiven Pressekampagne waren Massaker der sowjetischen Geheimpolizei NKWD, die sie beim Abzug aus Lemberg an ukrainischen Aufständischen und politischen Gefangenen vollzog. Mitte 1941 intensivierte sich die antijüdische Propaganda erneut, weil die Kennzeichnung der Juden durch die gelben Sterne unmittelbar bevorstand. Mitte Oktober begannen dann die rund einen Monat zuvor von A. Hitler angekündigten Deportationen der Berliner und später dann der anderen Juden. Zeitgleich verschlechterte sich die Position Deutschlands im Krieg wegen der immensen Kriegskosten (im weitesten Sinne) und die militärischen Erfolge an der Ostfront blieben aus. Die nationalsozialitische Propaganda verknüpfte nun die Frage der Kriegsentscheidung direkt mit der ‚Judenfrage‘. An den ausbleibenden Kriegserfolgen seien vor allem die Juden Schuld und durch ihre beschleunigte Vernichtung sei der Sieg im Krieg garantiert.45 Am 16. November 1941 erschien im Reich ein Artikel von J. Goebbels, in dem zum ersten Mal in dieser radikalen Form formuliert wurde, dass „das Weltjudentum nun einen allmählichen Vernichtungsprozess (erleide).“46 Ab 1942 verschärfte sich der Ton abermals und der Terminus „vernichten“ wurde nun von den Spitzen des Regimes, vor allem von A. Hitler und J. Goebbels, durch „ausrotten“ ersetzt. In einer vom Rundfunk übertragenen Rede formulierte J. Goebbels dann am 5. Oktober 1942: „Was würde denn das Los des deutschen Volkes sein, wenn wir diesen Kampf nicht gewinnen würden? (…) Sie haben ja gelesen, was man mit unseren Kindern vorhätte, was mit unseren Männern gemacht würde. Unsere Frauen würden dann eine Beute der wollüstigen hasserfüllten Juden werden. Deutsches Volk, du musst wissen: Wird der Krieg verloren, dann bist du vernichtet. Der Jude steht mit seinem nie versiegenden Hass hinter
7.1. Der Politikbegriff der Ideologen des Nationalsozialismus
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diesem Vernichtungsgedanken (…). Dieser Krieg ist nicht der zweite Weltkrieg, dieser Krieg ist der große Rassenkrieg. (…) Der Jude ist hinter allem, und er ist es, der uns den Kampf auf Tod und Verderben angesagt hat. (…) (S)eine Rachsucht gilt dem ganzen deutschen Volke. Was reinrassig, was germanisch ist, was deutsch ist, will er vernichten. (…) Und darüber mache sich nur keiner eine falsche Vorstellung: Dieser Krieg wird gewonnen werden, weil er gewonnen werden muss.“47
Hier sind alle zentralen Punkte der totalitären Propaganda versammelt: Der Jude als Abstraktum, der ‚hinter allem steckt‘. Er hat zudem einen invariablen Charakter, der in seinem ‚nie versiegenden Hass‘ zum Ausdruck kommt und nur in der Vernichtung seines Gegners sein Ende findet. Die Vernichtung ist eine zentrale Gedankenfigur, der man zuvorkommen muss und eine Logik der präventiven Gewalt in Gang setzt: Wenn man nicht vernichtet werden will, so muss man den Gegner, besser: Den Feind zuvor vernichten. Und der Feind tut in seinem Hass alles Böse, er ist unmoralisch, verachtenswert, hat selbst keine Werte: Er tötet die unschuldigen Kinder, vergewaltigt die Frauen und bringt die Männer um. So wird dieser Krieg kein normaler Krieg sein, sondern ein ‚Rassenkrieg‘, der ums Ganze geht. Während hier noch von Vernichtung gesprochen wird, wird später der Ton verschärft. Sollte Deutschland den Krieg gegen die Juden verlieren, so „würden wir nicht nur derohalben, sondern überhaupt absolut vernichtet.“48 J. Goebbels beginnt im Jahr 1943 – so als müsse er sich noch einmal des Charakters des Juden vergewissern – erneut die Protokolle der Weisen von Zion zu lesen. In einem Tagebucheintrag vom 13. Mai 1943 kann man die beunruhigenden Überlegungen dazu nachlesen. Die Juden sind – entgegen der Meinung vieler in der NSDAP – sehr wohl für Propaganda geeignet und er stellt fest: „Wenn die zionistischen Protokolle nicht echt sind, so sind sie von einem genialen Zeitkritiker erfunden worden.“49 In einem Gespräch mit A. Hitler wird dessen Haltung überdeutlich, aber für A. Hitler sind die Protokolle ohne jeden Zweifel echt und tiefer Ausdruck des Jüdischen. J. Goebbels hält über dieses Gespräch erneut in seinem Tagebuch fest: „Der Führer vertritt die Ansicht, dass die Zionistischen Protokolle absolute Echtheit beanspruchen können. So genial könne kein Mensch das jüdische Weltherrschaftsstreben nachzeichnen, wie die Juden es selbst empfinden. (…) Der intellektuelle Mensch hat der jüdischen Gefahr gegenüber nicht die natürlichen Abwehrmittel, weil er wesentlich in seinem Instinkt gebrochen ist. Infolgedessen sind Völker mit einem hohen Zivilisationsgrad am ehesten und am stärksten der Gefahr ausgesetzt. (…) Daraus resultiert die eigentlich jüdische Gefahr. Es bleibt den modernen Völkern nichts anderes übrig, als die Juden auszurotten. (…) Es ist fast unverständlich, dass die Juden durch Schaden nicht klug werden. (…) Das liegt nicht in ihren Absichten, sondern in ihrer rassischen Veranlagung. Es besteht deshalb auch nicht die Hoffnung, die Juden durch eine außerordentliche Strafe wieder in den Kreis der gesitteten Menschheit zurückzuführen. (…) Der Jude hat auch als erster die Lüge als Waffe in der Politik eingeführt. (…) Er kann deshalb nicht nur als Träger, sondern auch als Erfinder der Lüge unter den Menschen angesehen werden. (…) Un-
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7. Die Politik des Tötens: ‚Du sollst töten‘ als Imperativ totalitärer Herrschaft sere und insbesondere meine Aufgabe besteht also jetzt darin, genauso wie die Frage des Antibolschewismus nunmehr die Frage des Antisemitismus zu produzieren.“50
Was immer auch die Formulierung des ‚Produzierens‘ konkret heißen mag, in allen diesen Äußerungen ist die Politik der Tötung als selbstverständlich und nicht weiter beunruhigend unterstellt und mitgedacht. Ebenso unhinterfragt ist die Prämisse der Machbarkeit: Man kann nicht nur, sondern muss die Vernichtung und völlige Ausrottung der Juden betreiben, weil einem sonst dasselbe Schicksal durch die Juden widerfährt. Deren Widerstände, welcher Art auch immer, sind allein durch den radikalen Einsatz von Gewalt und deren unmittelbare Tötung überwindbar. Für das Machbare gibt es keine objektiven, sondern nur noch subjektive und deshalb überwindbare Grenzen. Widerstände sind kein Kennzeichen faktischer oder ernsthafter Probleme, anderer legitimer Interessen oder eines anderen Wissens, sondern Ausdruck von Verschwörungen, feindlicher Gegenkräfte, Sabotage oder böswilligen Absichten Anderer. Und diese sind durch Willen und Wissen überwindbar. Wissen über die Gesetzmäßigkeiten der geschichtlichen Entwicklung (wenn auch in Form von Ideologien) tritt neben die Absolutheit des Willens und verschmilzt zu jener barbarischen und grausamen Vorstellung, dass nicht nur alles möglich ist, sondern auch durch ein ideologisch fundiertes ‚Wissen‘ gerechtfertigt. Politik ist dann nicht mehr das Ergebnis des Suchens, des Austestens, des Austricksens, des Kompromisse-Schmiedens oder gar des Überzeugens, also Ausdruck eines ungewissen Abenteuers, sondern der erbarmungslose Ausdruck des Willens, des Wissens und des Machenkönnens von Geschichte durch die Anwendung von Gewalt. Diese ist tötende Gewalt, die die vollständige Vernichtung von politisch definierten sozialen, ethnischen oder religiösen Gruppen einschließt. Totalitäre Politikvorstellungen, nationalsozialistisch oder stalinistisch, sind ohne Gewalt, ohne Gewaltpropaganda und ohne die Präparierung der Täter wie der Opfer für den Tod nicht denkbar. Das Töten wird zum Alltag des politischen Handelns, nicht das Wählen, Stimmen-Maximieren oder Chancen-im-Machtkampf-eröffnen etc. Politik und Tötung werden synonym und bei der Tötung wird das Lager zentral. Der totalitäre Politikbegriff setzt auf ununterbrochene Bewegung, auf die „permanente Revolution“ (Leo Trotzki), auf den immer neue Aufgaben setzenden Führer, auf die immer neue Mobilisierung der Massen und, um der Ideologie zum weltweiten Durchbruch zu verhelfen, auf Gewalt und Töten. Um die Gesetze der Natur bzw. der Geschichte zu realisieren, müssen alle anderen Gesetze, v. a. das positive Recht und die Bürger- und Freiheitsrechte, gebrochen werden und die Menschen durch Terror zu einem eisernen Band zusammengeschmiedet werden, um diesen Gesetzen zum Durchbruch zu verhelfen und zu den bekannten Massenmorden der beiden Totalitarismen führten.51 Wie sah nun – im Gegensatz zum nationalsozialistischen Totalitarismus – das Politikver-
7.2. Lenin, Stalin und Trotzki: Die „permanente Revolution“
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ständnis in der totalitären kommunistischen Diktatur, insbesondere unter Josef Stalin, aus?
7.2. Lenin, Stalin und Trotzki: Die „permanente Revolution“ und die permanente Tötung als kommunistisches Ideal Butowo war ein Vorort von Moskau, eine eher dörfliche Datschengegend mit einem Gestüt.52 Es hatte zudem einen Schießplatz, wie viele solcher dörflichen Gegenden um Moskau, und dieser Schießplatz wurde zum Sinnbild der Entfesselung des ‚Großen Terrors‘ in den Jahren 1937/1938. An manchen Tagen wurden dort bis zu über 500 Personen erschossen, die dem Schießstand aus Moskau zugeführt wurden. Sie wurden zuvor an von Baggern ausgehobene Gruben geführt, durch einen Pistolenschuss in der Hinterkopf aus nächster Nähe erschossen und in die ausgehobenen Gruben gestürzt, die dann von den Baggern wieder zugeschüttet wurden. Dieser eher unbedeutende Schießstand stand „für das, was im ganzen Land zwischen Juli 1937 und November 1938 vor sich ging: die Entfesselung des Großen Terrors, dem in den 15 Monaten zwischen der Ingangsetzung der Massenoperationen im Juli 1937 und der Absetzung Jeshows im November 1938 rund 1,5 Millionen Menschen zum Opfer fielen, von denen ungefähr 700.000 ermordet worden sind. Der Schießplatz von Butowo (…) wurde zum Schauplatz des Großen Terrors im Moskauer Maßstab.“53
Die bestehenden Friedhöfe Moskaus reichten für die Bestattungen der auf diese Weise Ermordeten nicht mehr aus. Sie konnten mit einem „solchen Strom von Bestattungen“54 nicht mehr fertig werden und neue Plätze und anderen Möglichkeiten der ‚Bestattung‘ mussten gefunden werden. Selbst Hunde mit menschlichen Gliedmaßen im Gebiss wurden zu dieser Zeit immer häufiger beobachtet.55 Die Mehrzahl der Todesurteile wurde von Gremien bzw. Organen außergerichtlicher Gewalt verhängt, von verschiedenen Kommissionen, die eigens für die Aburteilungen während des Großen Terrors gegründet wurden. Die allermeisten kamen nicht wegen irgendwelcher konkreter Vorfälle oder wegen abstrakter Zugehörigkeit zu einer der ethnischen oder sozial gefährlichen Gruppen zu Tode, sondern weil Quoten noch nicht erfüllt waren. Töten nach vorgegebenen Quoten – das war der groteske und absurde Höhepunkt des Großen Terrors. Wie konnte es dazu kommen? Zuvor jedoch, am 2. Juli 1937, hatte das Politbüro der Kommunistischen Partei eine Resolution „Über antisowjetische Elemente“ beschlossen, dem ein Telegramm Stalins folgte, das einen Tag später an alle Sekretäre der republikanischen und regionalen Parteiorganisationen ging. Darin hieß es unter anderem: „Es wurde festgestellt, dass eine groß Zahl ehemaliger Kulaken und Krimineller, die zu einem bestimmten Zeitpunkt aus verschiedenen Regionen in den Norden und nach Sibiri-
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7. Die Politik des Tötens: ‚Du sollst töten‘ als Imperativ totalitärer Herrschaft en deportiert wurden und nach Ablauf ihrer Verbannungszeit in ihre Heimatregionen zurückgekehrt sind, die Hauptunruhestifter aller Arten von antisowjetischen Verbrechen einschließlich Sabotage in Kolchosen und Sowchosen wie auch im Verkehrswesen und in bestimmten Industriezweigen sind. Das ZK der WKP (B) empfiehlt allen Sekretären der regionalen und territorialen Organisationen und allen Vertretern des NKWD in den Regionen, Gebieten und Republiken, alle Kulaken und Kriminelle, die nach Hause zurückgekehrt sind, zu registrieren, um mittels einer Dreierkommission (troika) die gefährlichsten unter ihnen unverzüglich zu verhaften und zu exekutieren und die übrigen, weniger aktiven, aber nichtsdestotrotz feindlichen Elemente zu erfassen und in vom NKWD bestimmte Rayons zu verbannen.“56
Dieses Telegramm ist ein Dokument der Verselbstständigung des Terrors, denn Exekutionen und Verbannungen werden von einer Kommission vorgenommen, die Personen, die ihre Strafen bereits abgesessen haben, erneut selektiert und diese Menschen unmittelbar erschießen oder in die erneute Verbannung schicken kann. Die von den Regionen aufgestellten Listen wurden vom NKWD zu einer Liste zusammengefasst, in der nach zwei Kategorien – Erschießen und Verbannen – nun Tötungsquoten für die jeweiligen Regionen festgelegt wurden. Nachdem diese vom Politbüro verabschiedet wurde, ging diese Liste ‚streng geheim‘ an die Parteisekretäre aller Landesteile, die diese Quoten umzusetzen hatten. Diese Liste war der Befehl „Über die Operationen zur Repressierung ehemaliger Kulaken, Krimineller und anderer antisowjetischer Elemente“ und ging als Befehl Nr. 00447 in die Geschichte des Großen Terrors ein. In dem Befehl selbst hieß es, dass spezifische Gerichte, sogenannte Troikas, zu bilden seien und ehemalige Kulaken, Mitglieder antisowjetischer Parteien, Gendarmen, Priester, Kriminelle, Rückkehrer etc., zu registrieren und ein Strafmaß für ihre Bestrafung festzulegen sei, wobei nur Erschießen oder Verbannung in Frage kam. „Aus den Untersuchungsmaterialien in den Strafsachen gegen antisowjetische Gruppierungen wird klar, dass sich im Dorf eine große Anzahl ehemaliger Kulaken niedergelassen hat. (...) Niedergelassen haben sich auch viele in der Vergangenheit repressierte Vertreter der Kirche und von Sekten, ehemaliger aktiver Teilnehmer antisowjetischer bewaffneter Aktionen. Fast unberührt blieben auf dem Dorf bedeutende Gruppen antisowjetischer politischer Parteien (...) sowie Gruppen ehemaliger aktiver Teilnehmer von Banditenaufständen, Weißen, Strafexpeditionen, Repatriierten u. a. Außerdem nisten sich bis heute auf dem Land und in der Stadt noch bedeutende Gruppen von Schwerverbrechern ein, Vieh- und Pferdediebe, Wiederholungstäter, Räuber u. a., die ihre Strafe abgesessen haben, aus den Gefängnissen entlassen sind und sich der Repression entzogen haben. (...) Wie festgestellt wurde, bilden alle diese antisowjetischen Elemente die Hauptstütze jeder Art von antisowjetischen und Divisionsverbrechen sowohl in Kolchosen und Sowchosen als auch im Verkehrswesen und einigen anderen Industriezweigen.“57
Diese Aufzählung entwirft ein Bild, als ob das Land nur noch von schwerstkriminellen antisowjetischen Gruppierungen und Agenten bevölkert ist, die das beste-
7.2. Lenin, Stalin und Trotzki: Die „permanente Revolution“
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hende System bedrohen und zerstören wollen. Dann folgert der Befehl unmissverständlich: „Den Organen der Staatsicherheit stellt sich die Aufgabe, auf die erbarmungsloseste Weise diese Bande antisowjetischer Elemente zu zerschlagen (...) und schließlich ein für alle Mal mit ihrer niederträchtigen zerstörerischen Arbeit gegen die Grundlagen des sowjetischen Staates Schluss zu machen. In Übereinstimmung damit ORDNE ICH AN – VOM 5. AUGUST 1937 IN ALLEN REPUBLIKEN, KREISEN UND GEBIETEN EINE OPERATION ZUR REPRESSIERUNG EHEMALIGER KULAKEN, AKTIVER ANTISOWJETISCHER ELEMENTE UND KRIMINELLER ZU BEGINNEN.“58
Der Beginn derselben Aktionen wird in anderen Gebieten wie Usbekistan, Turkmenistan, Tadschikistan und Kirgisien und für die sibirischen und Fernostgebiete jeweils fünf Tage später stattfinden. Aber der Befehl geht noch weiter: Er legt – wie bereits angedeutet – die jeweiligen Kategorien und Kontingente der zu tötenden und zu verbannenden Gruppen fest. Die „Kontingente, die der Repression unterliegen“, werden in neun Gruppen unterteilt, zu denen u. a. die ehemaligen Kulaken, „sozial gefährliche Elemente“, Mitglieder antisowjetischer Parteien, Kirchenleute, sich in Lagern befindliche Menschen etc. gehören. Dann legt der Befehl zwei Kategorien von Strafen fest und definiert zugleich die Quoten: „1. Alle zu repressierenden Kulaken, Kriminelle und andere antisowjetische Elemente zerfallen in zwei Kategorien: Zur ersten Kategorie gehören die aktivsten unter den oben erwähnten Elementen. Sie unterliegen der unmittelbaren Verhaftung und nach Behandlung ihrer Fälle durch die Dreierkommission der ERSCHIESSUNG. Zur zweiten Kategorie gehören alle übrigen, weniger aktiven und dennoch feindlich gesonnenen Elemente. Sie unterliegen der Verhaftung und Inhaftierung in Lagern für eine Frist von 8 bis 10 Jahren, während die böswilligsten und sozial gefährlichsten unter ihnen zu gleichen Fristen in Gefängnissen inhaftiert werden, wie von der Dreierkommission festgelegt. 2. In Übereinstimmung mit den Volkskommissaren des NKWD der Republiken und den Leitern der Gebiets- und Regionalverwaltungen des NKWD gelieferten Daten wird folgende Zahl von Strafmaßnahmen unterworfenen Personen festgelegt:“59
Dann folgt in dem Dokument eine lange Tabelle, in der diese Quoten festgelegt waren.60 Für die Aserbaidschanische SSR 1.500 Erschießungen und 3.750 Verbannungen; für die Weißrussische SSR 2.000 Erschießungen und 10.000 Verbannungen; für Westsibirien 5.000 Erschießungen und 12.000 Verbannungen und im Gebiet Moskau 5.000 Erschießungen und 30.000 Verbannungen, um nur einige Gebiete bzw. Regionen zu nennen. Insgesamt wurden per Quote 75.950 Erschießungen und 195.000 Verbannungen festgelegt. Später sind diese Quoten massiv erhöht worden. Bis November 1938 wurden 767.397 Menschen verhaftet und verurteilt, davon wurden 386.798 erschossen.61 Zudem wurden alle Familien, aus denen Personen in die erste oder zweite Kategorie fallen, registriert und unter systematische Beobachtung gestellt. Die ganze Aktion hat am 5. August 1938 zu
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7. Die Politik des Tötens: ‚Du sollst töten‘ als Imperativ totalitärer Herrschaft
beginnen und ist nach vier Monaten abzuschließen, wobei die Verhaftung der zu Erschießenden Vorrang hat. Allein zwischen dem 5. und dem 31. August 1938 wurden im Zuge der Anti-Kulaken-Aktion 150.000 Urteile gefällt und 30.000 Menschen im Gebiet Moskau erschossen. Der Befehl Nr. 00447 war gleichwohl nicht der einzige, wenn auch der zugespitzteste und typischste dieser Art. Weitere Befehle und Massenoperationen folgten im gleichen und den folgenden Jahren. Sie betrafen die Rumänen in der Ukraine, Finnen in Karelien, Iraner, Afghanen, Griechen, Esten, Letten, Litauer, Bulgaren, Mazedonier und andere meist in den Grenzregionen siedelnde Minderheiten. Parallel dazu wurden aber auch spezielle politische Gruppierungen verfolgt, wie etwa die ehemalige Partei der Sozialrevolutionäre.62 Aus den Regionen und Gebieten kamen laufend Anfragen von Parteifunktionären, die Quoten zum Teil massiv zu erhöhen und die Fristen der Repression zu verlängern. Konnten die Quoten nicht erfüllt werden, so suchte man Personen nach soziologischen oder beruflichen Merkmalen oder aus einem bestimmten Wirtschaftssektor zum Verhaften und Töten aus. Die Verhöre der Verhafteten wurden schablonenartig vollzogen, die Angeklagten zum Teil geschlagen und gefoltert, um die entsprechenden Geständnisse zu bekommen, die dann der Troika vorgelegt wurden. Diese konnte fließbandartig ‚urteilen‘, meist Dutzende von Urteilen in einer Sitzung. Den Rekord stellte eine Omsker Troika am 10. Oktober 1937 mit 1301 Urteilen in einer Sitzung auf. Die obersten Behörden, denen die Urteile zur Bestätigung vorgelegt werden mussten, arbeiteten pro Abend oft 1000 bis 2000 Urteilsbestätigungen ab.63 Die Opferzahlen des stalinistischen Terrors dieser Jahre sind zwar noch umstritten, aber man geht davon aus, dass in den Jahren 1937/1938 von den Sicherheitsorganen über 1,5 Millionen Menschen verhaftet wurden, davon über 80 % aus politischen Gründen, und rd. 1,34 Millionen wurden ‚verurteilt‘, sofern man diese Verfahren als Urteilsverfahren bezeichnen will. Insgesamt kann man von einer Zahl von rund zwei Millionen Todesfällen ausgehen, die unmittelbar mit den Verfolgungen in dieser Zeit zusammen hängen. So überraschend diese Maßnahmen durch einen Beschluss des Politbüros begonnen hatten, so überraschend wurden sie beendet. Ein Beschluss vom 17. November 1938 forderte den Abschluss der Massenaktionen des Tötens. Zwar wurde weiter zum Kampf gegen ‚antisowjetische Elemente‘ und die Feinde des Sozialismus aufgerufen, auch die Politik des Tötens wurde bestätigt, aber in diesem Ausmaß kritisiert. Es wäre zu ungerechtfertigten Massenverhaftungen gekommen, die Protokolle seien unkorrekt geführt bzw. gefälscht worden etc. Aber alles sei das Werk der Feinde gewesen, die bis in die Spitzen der Sicherheitsbehörden vorgedrungen seien. Nun kamen die Spitze und die Mitarbeiter des NKWD ins Visier der Politik und auf das „Ende der Massenoperationen folgte nun die Verhaftung und Erschießung des Führungspersonals des NKWD.“64 Der Terror wendete sich nun
7.2. Lenin, Stalin und Trotzki: Die „permanente Revolution“
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gegen die, die zuvor den Terror selbst organisiert und ausgeführt hatten und nichts kennzeichnet den Sachverhalt besser, dass der stalinistische Terror unberechenbar war und sich – je nach Lage der Dinge – immer gegen jemand anderen bzw. neuen richten konnte. Alle bisher erwähnten Gewaltexzesse waren eine Form des Krieges gegen einen im Einzelfall variablen, aber immer fiktiven, gleichwohl inneren und politisch definierten Feind, der sich angeblich mit den äußeren Feinden, die es faktisch gab, verbündet hatte. Der Terror war von Beginn der Machtergreifung an ein ständiger Begleiter des sowjetischen Regimes, dessen Intensität und Brutalität jedoch variierten. Nicolas Werth hat im „Schwarzbuch des Kommunismus“ einen fundierten und zugleich erschütternden Überblick über die „Abfolge der Gewaltzyklen“ bis zum Ende der Stalinzeit geschrieben.65 Parallel zu den Gewaltzyklen erfuhren die Konzentrationslager des GULag eine ununterbrochene und beträchtliche Ausweitung. Die Politik des Tötens hat sich zwar in bestimmten Phasen des Sozialismus bzw. Kommunismus verselbstständigt, aber ihr lagen dennoch bestimmte ideologische Prämissen zu Grunde. Die russischen Revolutionäre wollten ihre Gesellschaft nicht ordnen, strukturieren, entwickeln oder ihr eine spezifische Gestalt geben. Vielmehr „ordneten sie ihr Projekt in ein Heilsgeschehen ein, in eine Teleologie der Erlösung. Der Sozialismus war demnach nicht einfach eine Ordnung, in der Untertanen gehorchten. Er war ein Gesellschaftsentwurf, der ohne Feinde auskommen wollte und sie dennoch permanent erzeugte. In dieser Zeit gab es keinen Platz für Widerspruch und Widerstand.“ Wo dieser auftrat, „musste er im Auftrag des bolschewistischen Ordnungsprojekts vernichtet werden.“66
Versteht man unter dem ‚bolschewistischen Ordnungsprojekt‘ nicht eine stabile, sondern eine bewegliche und sich laufend verändernde Struktur, dann kommt man dem Sachverhalt näher. Die sozialistische Heilserwartung war untrennbar mit der Idee einer „permanenten Revolution“ verbunden, die von Leo Trotzki67 im Jahr 1929 systematisch entwickelt wurde, aber explizit und implizit bereits bei K. Marx, später bei R. Luxemburg und vielen anderen Marxisten auftauchte und zum sozialistischen Gemeingut wurde. K. Marx verwendete den Begriff zuerst in seiner Ansprache der Zentralbehörde an den Bund der Kommunisten im März 1850. K. Marx fordert hier „die Revolution in Permanenz“68, um die kapitalistische Klassenherrschaft zu beseitigen und um zugleich auf die nationale Entgrenzung der kommunistischen Bewegung abzuzielen. Bei L. Trotzki umfasste sie die Verbindung von mehreren Dynamiken, die sich entweder zeitgleich oder in zeitlichen Stufen vollziehen sollten. Die permanente Revolution bedeutet, „dass die volle und wirkliche Lösung ihrer demokratischen Aufgabe und des Problems ihrer nationalen Befreiung nur denkbar ist mittels der Diktatur des Proletariats als des Führers der unterdrückten Nationen und vor allem ihrer Bauernmassen. (…) Die demokratische Revolution wächst unmittelbar in die sozialistische hinein und wird dadurch al-
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7. Die Politik des Tötens: ‚Du sollst töten‘ als Imperativ totalitärer Herrschaft lein schon zur permanenten Revolution. Die Machteroberung durch das Proletariat schließt die Revolution nicht ab, sondern eröffnet sie nur. Der sozialistische Aufbau ist nur auf der Basis des Klassenkampfes im nationalen und internationalen Maßstab denkbar. Unter den Bedingungen des entscheidenden Übergewichts kapitalistischer Beziehungen in der Weltarena wird dieser Kampf unvermeidlich zur Explosion führen, d. h. im Inneren zum Bürgerkrieg und außerhalb der nationalen Grenzen zum revolutionären Krieg.“69
Dieses etwas längere Zitat verdeutlicht die Grundprämissen der permanenten Revolution: In jeder historischen Situation stellen sich neue Aufgaben, die die revolutionäre Bewegung bewältigen und bei der sie entsprechend tötende Gewalt anwenden muss, um Widerstände zu überwinden und zugehörige Personen oder Gruppen zu liquidieren. Die permanente Revolution findet ihren „Abschluss nicht vor dem endgültigen Sieg der neuen Gesellschaft auf dem ganzen Planeten.“70 Mit anderen Worten: Sie ist nie zu Ende und damit sind auch die extremen Formen der Gewaltanwendung gegen die inneren und äußeren Feinde nie zu Ende. Die permanente Revolution ist zugleich die Permanenz des Ausnahmezustandes, in dem nicht nur alles, wirklich alles möglich, sondern auch historisch notwendig ist. Die Politik des Tötens ist konstitutiv für den Sozialismus/Kommunismus und seiner Idee der permanenten Revolution. Allein die Intensität der Politik des Tötens ändert sich in Abhängigkeit von der Intensität der Widrigkeiten, mit denen die totalitären Regime in ihrer ‚Permanenz der Revolution‘ konfrontiert waren.
7.3. Die Konzentrations- und Vernichtungslager als spezifische Orte der Politik des Tötens Gleis 17 – dieses Schild hängt in der Unterführung des S-Bahnhofes Grunewald in Berlin. Eine Treppe führt zu dem Gleis hinauf. Bäume und Büsche wachsen auf dem verrosteten Gleis und man muss über Schotter laufen, um an das Gleis zu kommen. An den Bahnsteigkanten liegen schwere Metallplatten mit einer knappen, aber deutlichen Aufschrift: einem Datum, einer Mengenangabe und einem Ort, jeweils getrennt durch einen senkrechten Strich. Auf der ersten Tafel liest man: „18.10.1941 / 1251 Juden / Berlin-Litzmannstadt“. An diesem Tag fand der erste Abtransport von diesem Bahnhof statt, bezeichnender Weise von dem damaligen Güterbahnhof und Gleis 17 war das Gleis für Güter – und nun für Menschen. Der letzte Zug fuhr am 05.01.1945 nach Sachsenhausen und hatte 30 Juden ‚geladen‘. Insgesamt wurden von Gleis 17 fast 50.000 Juden an bestimmte Orte transportiert, die am häufigsten angefahrenen Orte waren Auschwitz und Theresienstadt, also Konzentrations- und Vernichtungslager der Nationalsozialisten.
7.3. Die Konzentrations- und Vernichtungslager als Orte der Politik des Tötens
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Lager gehören zu den traurigsten und beschämendsten Charakteristika des 20. Jahrhunderts. Die Politik des Tötens war oft ortlos, sie verlor sich in den Weiten des vor allem osteuropäischen Kontinents. Aber sie hatte dann einen Ort gefunden, besser erfunden, an dem diese Politik ihren konzentriertesten Niederschlag in Form von Millionen von Toten fand: in den Internierungs-. Konzentrations- und Vernichtungslagern, wobei allein letztere dem massenhaften und sofortigen Töten dienten. Die Geschichte der Lager begann – wenn man dem Buch „Das Jahrhundert der Lager“ von Joël Kotek und Pierre Rigoulot glauben darf71 – 1896 in Kuba mit der Konzentrierung der aufständischen Landbevölkerung durch die spanischen Kolonialisten. Entgegen der landläufigen Vorstellung war es kein Deutscher, der den Begriff des Konzentrationslagers prägte, sondern der spanische General Arsenio Martȋnez Campos als Kommandeur der spanischen Kolonialtruppen. Um den Unabhängigkeitskampf der Kubaner zu beenden, schlug er in einem Brief an seine Regierung eine Politik der reconcentratión vor, bei der die Aufständischen in Lagern zu „konzentrieren“ seien, auch wenn dies mit der Gefahr des Verhungerns oder dem Ausbruch tödlicher Krankheiten verbunden sei. Erst der Nachfolger von Martȋnez Campos, General Valeriano Weyler y Nicolau, realisierte in den Jahren 1896 bis 1898 diese Vorstellung und zwang Tausende Kubaner in Lager, deren Ausstattung ebenso desaströs und menschenunwürdig war wie die Behandlung der dort ‚Konzentrierten‘. An die 200.000 reconcentrados starben in diesen Lagern an Hunger und Krankheiten. Bereits zwei Jahre später, nachdem die Spanier aus Kuba abgezogen waren und die dortigen Konzentrationslager geschlossen hatten, übernahmen die Briten diese Idee. Im Burenkrieg in Südafrika wurden die zivilen Unterstützer der feindlichen Guerilla in Lagern ‚concentrated‘, um sie zu isolieren und ihnen die Unterstützung zu entziehen. Auch hier waren es – wie im spanischen Fall – genuin politische Gründe, um bestimmte Teile der Bevölkerung in Lagern zu ‚konzentrieren‘. Erst 1904 übernahmen die Deutschen in Süd-Westafrika, dem heutigen Namibia, diese Praxis. Um einen reinrassigen deutschen Staat zu kreieren, sollten die dort stämmigen Herero alle getötet werden. Als sich dies als unrealisierbar und ineffizient erwies, wurden die Herero in Konzentrationslager verbracht und in diesem Kontext tauchte das Wort zum ersten Mal im Deutschen auf. Die Herero starben nicht nur an Unterernährung und Krankheiten, sondern auch wegen der Zwangsarbeit für die deutschen Kolonialisten. Zum Jahresanfang 1905 waren etwa 14.000 Herero in Konzentrationslagern untergebracht und die Hälfte von ihnen starb dort. Analytisch exakter: Sie wurden dort willentlich getötet, nicht indem man sie direkt umbrachte, sondern sie unter Bedingungen konzentrierte, die den sicheren Tod mit sich brachten. Zufall oder nicht: Der erste Befehlshabende in Deutsch Süd-Westafrika war Dr. Heinrich Göring – der Vater von Hermann Göring, der dann ab 1933 die ersten Konzentrationslager der Nazis schuf. In diesen Lagern, v. a. in den deutschen
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7. Die Politik des Tötens: ‚Du sollst töten‘ als Imperativ totalitärer Herrschaft
in Süd-Westafrika, fanden auch die ersten medizinischen Experimente statt. Zwei der Universitätslehrer von Joseph Mengele, Theodor Mollison und Eugen Fischer, waren an diesen Experimenten beteiligt, mit denen sie die Überlegenheit der weißen, insbesondere der deutschen Rasse belegen wollten. Der Kolonialismus hat Vorläuferideen für den Totalitarismus in der Mitte des 20. Jahrhunderts geliefert. Viele seiner zentralen Elemente, der Mythos der Überlegenheit der weißen, später der deutschen Rasse und – davon abgeleitet – der gerechtfertigte Gebrauch von grenzenloser Gewalt gegenüber anderen Rassen bis zu deren Auslöschung, waren hier bereits vorgezeichnet. Ist es Zufall, dass das russische Wort für Konzentrationslager, kontslager, aus der Übersetzung des Wortes aus dem Englischen stammt und dass L. Trotzki diese Lager aus seiner guten Kenntnis des Burenkrieges bekannt waren? Das alles ‚erklärt‘ die Entstehung von Lagern eben so wenig wie ihre alleinige Ableitung aus dem Antisemitismus der Deutschen, oder aus der preußischen Tradition, oder gar der Geschichte der deutschen Intellektuellen. Eben so wenig wie sich der GULag allein aus der bolschewistischen Revolutionstheorie, aus der Person Stalins oder gar der zaristischen Tradition ‚erklären‘ lässt. Sie entstehen aus jeweils sehr unterschiedlichen politischen Motiven in jeweils sehr unterschiedlichen historischen Kontexten in jeweils sehr unterschiedlichen Ländern.72
7.3.1. Die Politik des Tötens und Typen von Lagern Man kann die Kontextabhängigkeit der Lager von der Politik unschwer auch daran erkennen, dass Konzentrations- und Vernichtungslager nicht mit dem Ende der beiden ‚großen‘ Totalitarismen und deren Politik des Tötens aus dem 20. Jahrhundert verschwanden. Sie tauchten vielmehr aus anderen politischen Motiven, in anderen politischen Kontexten und in den verschiedensten Ländern erneut auf und blieben dessen ständige Begleiter. Zunächst und am Ende des Jahrhunderts in den Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawien, insbesondere in den von serbischen Militärs und Milizen in Bosnien-Herzegowina errichteten Lagern, aber auch in verschiedenen Ländern Afrikas. Auch das 21. Jahrhundert wird von der Politik des Lagers begleitet. Als Internierungslager entstand im Jahr 2001 Guantánamo Bay, eingerichtet von der amerikanischen Regierung unter George W. Bush. Es wurde nach den Anschlägen auf die beiden Türme des World Trade Centers in New York und auf das Pentagon in Arlington im Jahr 2001 errichtet. Dieses Lager ist heute noch in Betrieb und dort sind – ohne juristische Verfahren – weiterhin Personen inhaftiert, die der Beihilfe und Mittäterschaft dieser Anschläge verdächtigt werden. Auch in anderen Ländern sind Lager heute nach wie vor vorhanden. Nordkorea ist als Staat nach wie vor als Lager organisiert, hier sind – neben Kambodscha unter Pol Pot – der Staat und das Konzen-
7.3. Die Konzentrations- und Vernichtungslager als Orte der Politik des Tötens
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trationslager untrennbar verschmolzen. Das Lager ist hier kein besonderer Ort mehr, sondern mit dem hermetisch abgeriegelten Staatsgebiet identisch geworden. Aber die massivste und grausamste Ausprägung von Lagern waren die Konzentrations- und Vernichtungslager im Nationalsozialismus unter A. Hitler und in der Sowjetunion unter J. Stalin. Was unterscheidet ein Lager von einem Gefängnis? Wodurch unterscheidet sich ein Konzentrationslager von anderen Typen von Lagern, wie etwa Flüchtlings-, Kriegsgefangenen- oder gar Pfadfinderlagern? Kann man eine allgemeine Definition von Lager geben, die so abstrakt ist, dass sie die wesentlichen typologischen Eigenschaften umfasst, die ein Lager von anderen Orten der Massenansammlungen unterscheidet, etwa einer Massendemonstration oder einem ausverkauften Fußballstadion mit mehreren zehntausend Zuschauern? In Gefängnissen befinden sich in der Regel – auch in den meisten Diktaturen – Menschen, denen von der Justiz in einem Verfahren eine individuelle Schuld nachgewiesen wurde. Diese Verfahren können mehr oder weniger rechtsstaatlich sein und in Diktaturen kommen selbstverständlich auch willkürliche Verhaftungen und Verfahren vor, die für die Betroffenen in Gefängnissen, oft mit Folter verbunden, enden. Zudem gelten in Gefängnissen bestimmte Regeln, an denen sich der Strafvollzug orientiert. Lager dagegen sind von Menschen bevölkert, die als Verdächtige, als Schädlinge, als Volksfeinde, als Verräter oder als ethnisch Minderwertige bezeichnet werden und ohne Prozess hierhin transportiert werden. Diese werden auch nicht von bestimmten Behörden der Justiz bzw. des Staates geleitet, sondern von Sonderpolizeien, sei es wie im sowjetischen Fall durch die Tescheka und später durch die GPU und den NKWD, sei es wie in Nazideutschland durch die Gestapo. Das Lager ist ein ‚Niemandsland‘, in dem weder Gesetze noch klare Regeln gelten, sondern allein die „Regeln des sich etablierenden tödlichen Spiels.“73 Lager, so könnte man in einer ersten Annäherung definieren, sind besondere, meist kurzfristig, aber auch langfristig eingerichtete Orte, die von dem sie umgebenen Raum durch Grenzzäune abgetrennt sind, in denen gewaltbestimmte Organisationsformen herrschen, denen die dort massenhaft Inhaftierten völlig unterworfen sind, deren herrschende Ordnung weitgehend beliebig und willkürlich ist, von einem besonderen Verwaltungsstab, meist mit massiver Gewaltanwendung, durchgesetzt wird und in dem Insassen massenhaft und gegen ihren Willen festgehalten werden. Flüchtlings-, Kriegsgefangen-, Militär-, Gefangenen-, Konzentrations- und andere Lagerformen würde man unter diese abstrakte und generelle ‚Formel‘ fassen können. Es sind räumlich abgegrenzte Orte des gewaltförmigen Ausnahmezustandes. Doch Lager ist nicht gleich Lager74 und man kann in Anlehnung an Joël Kotek und Pierre Rigoulot drei Subtypen unterscheiden, die
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sich nach der Intensität des politischen Zugriffs auf die Insassen unterscheiden lassen.75 Internierungslager haben die Aufgabe der zeitweisen Isolierung von bestimmten Personengruppen, wie etwa von Flüchtlingen oder Kriegsgefangenen. In Kriegszeiten sind das meist Angehörige der gegnerischen oder feindlichen Staaten. In Kolonialkriegen wurden dort die Verdächtigen oder gefangen genommenen Soldaten der Feinde inhaftiert. Ihren Ursprung hatten sie in der Französischen Revolution und unter dem Nationalkonvent konnten Angehörige von feindlichen Staaten interniert werden. Sie waren zudem nicht auf Dauer angelegt, sondern hatten in einer bestimmten historischen Situation, meist in Kriegen, eine zeitlich begrenzte Aufgabe. Im 20. Jahrhundert, insbesondere im Kontext der russischen Revolution, änderten diese ihren Charakter. Per Dekret, das im konkreten Fall von Leo Trotzki unterzeichnet war, konnten nun „Parasiten“, „Spekulanten“, „Spione“, „Volksfeinde“ etc. interniert werden, wobei alle diese und viele andere Begriffe als Synonyme für politische Gegner im Inneren standen. Zudem wurden sie mehr und mehr als dauerhafte Einrichtung betrachtet. Aber zentral ist nun die Umschreibung der Feinde bzw. Gegner: Während die Insassen bisher meist Mitglieder von externen Staaten bzw. deren Armeen waren, werden nun Mitglieder des eigenen Staates zu Insassen dieser Lager. Innere Feinde sind weit mehr als politische Feinde, die man anders behandeln muss als externe Feinde. Konzentrationslager sind die wichtigste Institution der Totalitarismen, sie bilden ihre „zentrale Kategorie, den Kern des Phänomens totalitärer Lager, seien es die NS-Lager, der GULag oder die kommunistischen Konzentrationslager Asiens (u. a. Laogai). Sie zeichnen sich durch Erniedrigung, Umerziehung, Zwangsarbeit und Vernichtung aus. Und sie spielen für das jeweilige Regime, das sie hervorgebracht hat, eine substantielle Rolle. Als Instrument des Terrors und der Umgestaltung der Gesellschaft sind sie auf Dauer angelegt. ‚Vorübergehend‘ sind an ihnen nur die Insassen. Nur diese Lager prosperieren auch außerhalb von Krisen- und Kriegszeiten: Sie sind Bestandteil des politischen Projekts, das sie trägt.“76
Die Konzentrationslager sind keine zeitlich beschränkten Provisorien, sondern – wie der Text betont – ‚auf Dauer‘ angelegt. Der Anspruch totalitärer Regime, einen neuen Menschen zu erschaffen, ist ein fundamentaler, ja charakteristischer Anspruch, der institutionell auf Dauer gestellt werden muss. Das sehen die Autoren des Buches über die Lager deutlich: „Das Ziel, die menschliche Natur zu verändern und einen neuen Homo sapiens zu schaffen, unterscheidet den Totalitarismus von klassischen autoritären Systemen. Dazu werden alle verfügbaren politischen und wirtschaftlichen Zwangsmittel eingesetzt. Um dieses Ziel zu erreichen, fungiert als einziges Instrument eine aus einer Minderheit bestehende Partei, eine Elite, die sich dank eines angeblich überlegenen Bewusstseins zur Führung der Massen berufen fühlt.“77
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Die Lager, so pervers sie auch im Einzelnen ausgeformt waren, waren offiziell als Umerziehungslager konzipiert, in denen die Abweichler, Gegner, Volksfeinde oder wer auch immer durch Arbeit zu neuen Menschen umerzogen werden sollten. Arbeit war der zentrale Begriff, in dem diese Umerziehung kumulierte und die durch von außen erzwungene, zum Teil maßlose und groteske Disziplin erfolgen sollte. Dass diese Arbeitslager zugleich Todeslager waren, in denen die Menschen an Unterernährung, Krankheiten und erbarmungsloser Auspressung der Arbeitsfähigkeit zu Grunde gingen, änderte nichts an der grundsätzlichen Intention. Die Parole über dem Eingang zum Konzentrationslager Dachau „Arbeit macht frei“ ist die fast gleiche Vorstellung, die auch den chinesischen Laogai zu Grunde lag. Mao Tse-tung hatte in seiner kleinen Schrift „Von der richtigen Behandlung der Widersprüche im Volk“ gesagt: „Wir werden sie zwingen, sich den Gesetzen der Volksregierung zu unterwerfen, wir werden sie zur Arbeit zwingen, damit sie sich durch Arbeit in neue Menschen verwandeln.“78 Dass bei den Millionen, die in diesen Arbeitslagern saßen und beim Bau von Wasserstraßen, Staudämmen und anderen Infrastrukturmaßnahmen eingesetzt wurden, Unzählige ums Leben kamen, gehörte zu der Idee der ‚Umerziehung‘. Menschenleben zählen hierbei nicht. Das war beim dritten Typus, den reinen Vernichtungs- oder Tötungslagern erst recht der Fall. Es waren Todesfabriken, die nicht der Umerziehung dienten, sondern der sofortigen Tötung. Töten war hier reiner Selbstzweck, es ging um die möglichst effektive und sofortige Vernichtung von politisch bestimmten sozialen oder ethnischen Gruppen. Ob man diesen Typus noch als Lager bezeichnen kann, ist umstritten. Er ist zumindest für den Nationalsozialismus einmalig.
7.3.2. Vernichtungslager als Orte des maschinellen Tötens Der faktischen Vernichtung geht immer die verbale, deutlich angedrohte Vernichtung voraus. Dies war auch bei der von den Nationalsozialisten organisierten Vernichtung der Juden der Fall. War der Antisemitismus untrennbarer Bestandteil der nationalsozialistischen Propaganda bereits vor und vor allem nach der Machtergreifung, so verschärfte sich die Redeart ab den 40er Jahren deutlich. A. Hitlers und H. Görings wiederholte Äußerungen, Juden zu vernichten bzw. „auszurotten“, stand oft im Gegensatz zur Propaganda Anfang der 40er Jahre.79 In einer vom Rundfunk übertragenen Rede vom 5. Oktober 1942 wird H. Göring jedoch deutlich:80 „Was würde denn das Los des deutschen Volkes sein, wenn wir diesen Kampf (den Krieg, F.W.R.) nicht gewinnen würden? (…) Sie haben ja gelesen, was man mit unseren Kindern vorhätte, was mit unseren Männern gemacht würde. Unsere Frauen würden dann eine Beute der wollüstigen hasserfüllten Juden werden. Deutsches Volk, du musst wissen:
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7. Die Politik des Tötens: ‚Du sollst töten‘ als Imperativ totalitärer Herrschaft Wird der Krieg verloren, dann bist Du vernichtet, der Jude steht mit seinem nie versiegenden Hass hinter diesem Vernichtungsgedanken, und wenn das deutsche Volk diesen Krieg verliert, dann wird dein nächster Regent Jude. (…) Dieser Krieg ist nicht der zweite Weltkrieg, dieser Krieg ist der große Rassenkrieg. Ob hier der Germane und Arier steht oder ob der Jude die Welt beherrscht, darum geht es letzen Endes und darum kämpfen wir draußen. Wir kennen die Juden. (…) Mag der Jude auch verschiedene Visagen aufsetzen, seine Gurke kommt doch durch. Der Jude ist hinter allem, und er ist es, der uns den Kampf auf Tod und Verderben angesagt hat. (…) Denn seine Rachsucht gilt dem deutschen Volke. Was reinrassig, was germanisch ist, was deutsch ist, will er vernichten. (…) Und darüber mache sich nur keiner jemals eine falsche Vorstellung: dieser Krieg wird gewonnen, weil er gewonnen werden muss.“81
Hier wird alles gesagt und auf einen existentiellen Vernichtungs- und Ausrottungskampf zugespitzt. Da die Führer der NSDAP per definitionem die Wahrheit sagen und alle anderen dagegen Lügen verbreiten, sind die Lügen der Nazi-Führer, die hier verbreitet werden, wahr und müssen mittels der manipulativen Propaganda zur Wahrheit gemacht werden. Die Zeitschrift Der Angriff verschärfte in den Folgejahren den Ton gegen die Juden: Robert Ley schrieb in einem Artikel vom 6. Juni 1943: „Der Jude bedeutet den Tod. Und umgekehrt bedeutet Kampf gegen den Juden: Jungsein, Stärke, Selbstbewusstsein, Lebenswille und Lebensbehauptung. Wer sich des Juden entledigt, wird gesund und geht einem Zeitalter unvorstellbarer Blüte, Größe und Herrlichkeit entgegen.“ Und im Mai sagte er bei einer Rede vor Metallarbeiten, dass der „Kampf gegen Juda ein Kampf um Leben und Tod ist. (…) Wir schwören, wir werden nicht eher den Kampf aufgeben, bis der letzte Jude in Europa vernichtet ist und gestorben ist.“82
Man könnte viele solcher Zitate zusammentragen, sie sind in ihrem Grundton immer gleich konstruiert: es gibt eine faktische und tödliche Bedrohung durch ‚den Juden‘, dessen Hass auf das Germanische end- und grenzenlos ist und der die Deutschen ausrotten will. Um dem zuvor zu kommen, müssen die Deutschen den Juden ausrotten – bis auf den ‚letzten Juden‘. Die Sprache ist selbst schon mörderisch, in ihr ist die Politik der Tötung in Reinform enthalten. Um dieses tödliche Projekt realisieren zu können, mussten bestimmte Orte geschaffen werden, an denen ‚der Jude‘ schnell, effektiv, geräuschlos und in gewisser Weise unsichtbar bis auf den ‚letzen Juden‘ vernichtet werden konnte. Diese Orte waren die bereits oben erwähnten Tötungs- oder Vernichtungslager, auch als SS-Sonderkommandos bezeichnet, die ausschließlich zur Tötung der Juden errichtet wurden. Die nationalsozialistische Führungsclique entschied, welche Gruppe wann und auf welche Weise zu vernichten sei und die systematische Vernichtung der Juden begann Anfang der 40er Jahre. Die „Wannsee-Konferenz“, die am 20. Januar 1942 in Berlin stattfand, ist hierfür typisch: Auf ihr wurden die Zuständigkeiten für die bereits begonnenen Deportations- und Vernichtungsaktionen klarer bestimmt, die Maßnahmen zur Vernichtung festgelegt und deren Umsetzung beschleunigt. Sie legte nun offiziell fest, was vorher bereits inoffiziell klar war: Die
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Endlösung, mit anderen Worten die endgültige und vollständige Vernichtung der Juden organisatorisch in die Wege zu leiten. Keine Tötung hatte im 20. Jahrhundert einen solch politischen Charakter wie die Tötung der Juden in den Vernichtungszentren bzw. den Sonderkommandos der Nazis.83 Nach J. Kotek und P. Rigoulot zählen zu diesem Typus von Lager Belzec, Chelmno, Sobibor, Treblinka, aber auch Ausschwitz-Birkenau und Majdanek als Mischung aus Konzentrations- und Vernichtungslager. Sie sind in der Geschichte der Menschheit einzigartig geblieben und eine Erfindung des 20. Jahrhunderts. „Als Endstationen der Eisenbahnen dienten diese Stätten, die wir als Vernichtungszentren oder mit Raul Hilberg als Zentren zur sofortigen Tötung bezeichnen werden, nicht zur Aufnahme von Internierten, sondern zur Vernichtung durch Gas nach der Ankunft. In Treblinka, wo nicht selten täglich 9000 Juden ankamen, gab es keine Infrastruktur, die ihre Unterbringung oder Ernährung über 24 Stunden hinaus ermöglicht hätte. Treblinka diente einer einzigen Aufgabe: der Vernichtung der Juden Europas.“84
In diesen Vernichtungslagern findet die Politik des Tötens ihren konzentriertesten Ausdruck. Es waren fabrikartige Gebilde, in denen es allein um die möglichst schnelle, effektive und massenhafte Tötung einer bestimmten ethnischen Gruppe ging, der Juden. Die Vernichtungslager hatten nicht, wie die Umerziehungs- bzw. Internierungslager, ein Pendant in den anderen Totalitarismen, sei es dem stalinistischen, den Pol Potschen in Kambodscha während der Jahre 1975 bis 1978 oder während der chinesischen Kulturrevolution. Die Politik der unmittelbaren und direkten Tötung war nur in diesen Lagern institutionalisiert und fabrikmäßig organisiert. Die Vernichtungslager waren Lager, die im strikten Sinne außerhalb des tradierten Systems der Konzentrationslager lagen. Die Vernichtung der Juden, die Shoa, wurde im Wesentlichen außerhalb der nationalsozialistischen KZ und stattdessen in den Vernichtungszentren vollzogen. Im GULag-System gab es keine Entsprechung für diesen Typus von Vernichtungslager. Nach den Zahlen von J. Kotek und R. Rigoulot wurden allein in diesen Vernichtungslagern 2,7 Millionen Juden vernichtet, in Chelmno 150.000, in Belzec 550.000, in Sobibor 200.000, in Treblinka 750.000, in Majdanek 50.000 und in Auschwitz 1.000.000. Zählt man die unmittelbar durch die SS getöteten, die in den Ghettos und die in anderen Konzentrationslagern direkt umgebrachten Juden hinzu, so kommt man auf die (umstrittene) Zahl von insgesamt 5,1 Millionen Getöteten.85 Diese ‚Lager‘ waren im strikten Sinne des Wortes keine Lager, in denen Menschen oder soziale Gruppen abgesondert, eingesperrt und grausamen Gewaltmethoden unterworfen wurden. Es waren Vernichtungszentren bzw. Sonderkommandos (SK), in denen „alle Juden unverzüglich nach ihrer Ankunft methodisch und systematisch ermordet (wurden). Die SK waren keine Durchgangsstationen. Sie führten ohne Umwege und Zeitverlust direkt aus dem Ghetto in den Tod. (…) Paradoxerweise fand der Holocaust au-
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7. Die Politik des Tötens: ‚Du sollst töten‘ als Imperativ totalitärer Herrschaft ßerhalb des nationalsozialistischen Systems der Konzentrationslager statt. Dem Massenmord entsprach eine Organisation ohnegleichen: das Vernichtungszentrum als Todesfabrik.“86
Damit sollen und können die Greueltaten und Gewaltexzesse in den Konzentrationslagern nicht bagatellisiert werden. Aber die Konzentrationslager waren eben keine ausschließlichen Vernichtungszentren. Die genaue Zahl ihrer Häftlinge ist schwer zu bestimmen, aber man geht von rd. 1,65 Millionen Häftlingen aus, die dort zwischen 1939 und 1945 inhaftiert worden waren; rd. 550.000, also etwa ein Drittel, kam in diesen Lagern um. Während die Tötungsquote in den Vernichtungszentren bei fast 100 % lag, schwankte sie in den Konzentrationslagern massiv, sie lag zwischen 25 % (Buchenwald) und über 60 % (Auschwitz I und III und Ravensbrück). In allen Konzentrationslagern waren die Todesquoten bei den Juden erheblich höher als im Vergleich zu Sinti und Roma, Polen und Russen.87
7.3.3. Der Staat als Lager: Kambodscha unter Pol Pot Am 17. April 1975 begann einer der grausamsten Alpträume des 20. Jahrhunderts. Soldaten der Roten Khmer, unter ihnen viele Kindersoldaten im Alter von nur 15 Jahren, marschierten in Pnom Pen, der Hauptstadt Kambodschas, ein und begannen unmittelbar damit, die Stadtbevölkerung zu vertreiben. Damit setzten sie ein politisches Experiment in Gang, das in der Geschichte des 20. Jahrhunderts seinesgleichen sucht. Es ging mit einer Entfesselung der Politik des Tötens einher, die in dieser Dimension unvorstellbar war und die bisherigen beiden ‚großen‘ Totalitarismen womöglich noch in den Schatten stellte. Es handelte sich um die Realisation eines politischen Projekts, einer politischen Utopie oder auch einer paranoiden Zwangsidee zur Herstellung einer ‚künstlichen Gesellschaft‘ wie bei den beiden anderen ‚großen‘ Totalitarismen auch: „Dieser vollkommene Kommunismus, der zu einer glücklichen und wohlhabenden Gesellschaft führen sollte, würde von ‚neuen Menschen‘ begründet, befreit von Besitz- und Beherrschungsinstinkten. Zur Schaffung dieser idealen Gesellschaft bauten die Roten Khmer auf die ‚vielversprechende Generation‘ der Kinder und Jugendlichen, die aus ihrer Gußform hervorgehen sollte. So erklärt sich die Hysterie rassischer und sozialer Säuberungen, die so absurd und obsessiv war wie jene der Nationalsozialisten. Paradoxerweise zerstörte dieser extreme Nationalismus die Identität der Khmer, die wiederherzustellen er behauptete. Die Einführung künstlicher Kategorien zwischen alten und neuem Volk, zwischen Jungen und Alten, die soziale Nivellierung durch das Verschwinden der Klassen, des Unterrichts, des Geldes, der Feste, der Feiertage, der Sitten und Bräuche, der Gesetze, die strenge Regelung der Eheschließung, zerrissen das Sozialgewebe. Diese künstliche Gesellschaft, die alle Khmercharakteristika verloren hatte, war einer Selbstzerstörung geweiht, die umso schneller voranging als es an jeder wirtschaftlichen Grundlage fehlte, selbst wenn nach der Katastrophe von 1975 ein Vierjahresplan eingeführt wurde. Das
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System stützte sich auf die Zwangsvorstellung von Verschwörung und Verrat, ohne Spione und Feinde konnte es nicht überleben.“88
In diesem längeren Zitat sind alle wesentlichen Merkmale dieses Regimes zusammengefasst und auf den Punkt gebracht. Im Zentrum aber steht die Vorstellung einer durch politische Gewalt und politisch forcierte Tötung zu konstruierende Gesellschaft, die so zu einer ‚künstlichen Gesellschaft‘ wird und sich selbst zerstört. Die Politik des Tötens beginnt mit dem Einmarsch der Kindersoldaten der Roten Khmer und endete am 1. Januar 1979 mit dem Einmarsch der vietnamesischen Armee. Sie befreite das Land nicht, sondern führte allein eine andere Art des Kommunismus ein, die von Überläufern des Pol Pot-Regimes installiert wurde und weder die materielle noch die politische Situation grundlegend veränderte. Das kambodschanische Experiment der Realisation einer neuen Gesellschaft und eines neuen Menschen hat die Politik des Tötens zur Voraussetzung. Am Anfang steht die gewaltsame Vertreibung der Menschen aus den Städten auf das Land, weil das städtische Leben mit Dekadenz und Verderben gleichgesetzt wurde, gefolgt von der Säuberung der bereits auf dem Land lebenden oder gerade neu hinzugekommenen Bevölkerung. Zunächst wurden die Angehörigen von Armee und Verwaltung des vorangegangenen Lon Nol-Regimes liquidiert, die – meist zusammen mit ihren Familien – massenhaft erschossen wurden. Hinzu kamen die Mitglieder religiöser Gruppen, vor allem der buddhistischen Religion und der islamischen Cham. Deren Führer wurden getötet, deren Schulen geschlossen, deren Gebetsstätten und Moscheen zerstört, deren Dörfer ‚geschleift‘. Die Hälfte der Mitglieder dieser religiösen Gruppen, rund 100.000 Personen, wurde sofort getötet. Chinesen und Vietnamesen wurden des Landes verweisen und nicht getötet, weil die Khmer mögliche Rache und damit verbundene Militäraktionen der jeweiligen Länder befürchteten. Intellektuelle, Künstler, Schriftsteller, Lehrer, Angehörige freier Berufe und die ‚Bourgeoisie‘, was immer das in einem agrarischen Land auch bedeuten mag, wurden systematisch vernichtet. Zugleich richtete sich der Terror und die Politik des Tötens umfassend auf die ‚normale‘ und eigene Bevölkerung. Wie immer in totalitären Regimen wendete sich der Terror dann auch gegen die eigenen Kader, die Henker von gestern wurden zu Opfern von heute. Lager waren in Kambodscha überflüssig, weil das „gesamte Land ein Lager geworden war. Überall, nicht nur in den geheim gehaltenen Einrichtungen, wütete zügellos die brutale Gewalt.“89 Politische Willkür und die Vernichtung von Menschen realisierte sich auf dem gesamten Staatsgebiet, ein Sachverhalt, der bisher dem Lager, konkret den Konzentrations- und Vernichtungslagern, vorbehalten war. Die totalitäre Politik des Tötens kann ein ganzes Land, ein ganzes Staatsgebiet in ein riesiges Lager umwandeln – ein nur diesem Politiktypus zurechenbares Privileg. Innerhalb des ‚großen‘ (Staats)Lagers gab es bestimmte Un-
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tereinheiten, die sogenannten Volkskommunen, die aber wie Konzentrationslager geführt wurden. Konsequenterweise war die Freizügigkeit verboten, ohne Erlaubnis von Partei und/oder Arbeitseinheit konnte man den Wohnort nicht wechseln, eine Regelung, die auch unter J. Stalin in der Sowjetunion und in Nordkorea galt bzw. gilt. Das Alltagsleben in den Volkskommunen war wie in einem (Arbeits- oder Konzentrations)Lager organisiert, wie ein Überlebender schildert: „Wecken vor dem Morgengrauen durch Gong, dann der Marsch in Reih und Glied zur Zwangsarbeit. Diese dauerte bis Mittag, dann die erste Mahlzeit, gefolgt von einer kurzen Ruhepause, zwei unzulängliche gemeinsame Mahlzeiten pro Tag, Versammlungen mit Kritik und Selbstkritik am Abend, auf denen vor allem über die Arbeit und die Erträge geredet wird, manchmal Nachtarbeit, sehr kurze Nächte, bevölkert von Spionen, die Unterhaltungen belauschen.“90
Man kennt diese Beschreibungen aus den Konzentrations- und Arbeitslagern der Nationalsozialisten und aus dem GULag. Brutalisierend kommt die Erziehung der Kinder hinzu. Sie wurden von ihren Eltern im Alter von sieben Jahren getrennt und in Kindereinheiten politisch indoktriniert. Sie erhielten ausschließlich ‚politischen Unterricht‘, alle anderen Fächer, wie Mathematik, Fremdsprachen. Musik, Kunst etc. wurden nicht unterrichtet, stattdessen neben der Indoktrination noch militärische Ausbildung. Insgesamt wurden in Kambodscha in nur 45 Monaten zwischen 1 und 2 Millionen Menschen getötet, das war knapp ein Viertel der gesamten Bevölkerung. Dies ist – auch wegen des extrem kurzen Zeitraumes – eine unvorstellbar hohe Zahl. Die Intensität des Tötens erlangt hier in der Geschichte der Menschheit und des 20. Jahrhunderts womöglich eine traurige Einmaligkeit. Ob dieses Ausmaß totalitärer Politik die Ausgeburt einer Politik der Paranoia war, ist umstritten. Drei amerikanische Journalisten, die Ende 1978 in Pnom Pen waren und mit Pol Pot sprechen konnten, waren dieser Ansicht.91 Den medizinisch begründeten Wahrheitsbeweis kann man nicht mehr erbringen. Man kann aber erkennen, dass die Politik der Paranoia und die Politik der Tötung nicht nur dicht beisammen liegen, sondern prinzipiell auch deckungsgleich werden können.
7.3.4. Die kommunistische Revolution in China: Die Politik der Tötung auf dem Höhepunkt China hat im gesamten 20. Jahrhundert eine Geschichte der Gewalt hinter sich wie vielleicht kein anderes Land auf der Welt. Bereits vor der Kommunistischen Revolution durch Mao Tse-tungs „Langen Marsch“ war die Zivilbevölkerung massiver und extremer Gewalt durch die jeweils herrschenden Cliquen ausgesetzt. Bereits während des Boxeraufstandes im Jahr 1900 wurde von den vereinigten acht Staaten, bestehend aus dem Deutschen Reich, Frankreich, Großbri-
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tannien, Italien, Japan, Österreich-Ungarn, Russland und den USA, extreme Gewalt angewendet. Der Aufstand der chinesischen Regierung und der Bevölkerung wurde mit exzessiver Gewalt niedergeschlagen. Nach dem Zusammenbruch der Zentralregierung am Anfang des Jahrhunderts und als Folge dieses Aufstandes versank das Land in Chaos und Anarchie. Als Chiang Kai-shek Ende der 20er Jahre die Macht übernahm, kam es im Vorfeld und auch während seiner Macht zu verschiedenen Massakern unter der Bevölkerung. An diesem Krieg waren auch Warlords beteiligt und die Schätzungen gehen von insgesamt um die 3 Millionen Getöteten aus. An die 10 Millionen Chinesen sind während und als Folge dieses Krieges verhungert. Auch der chinesische Bürgerkrieg zu Beginn der 40er Jahre zwischen Chiang Kai-shek und der revolutionär-kommunistischen Volksbefreiungsarmee unter Mao Tse-tung war außerordentlich verlustreich. Man schätzt, dass um die 5 Millionen Chinesen in diesem Bürgerkrieg getötet wurden92 und er endete mit dem endgültigen Sieg der Kommunisten im Jahr 1949. War schon dieser Bürgerkrieg von massiver Gewalt begleitet, so wurde der Terror in den von den Maoisten eroberten Gebieten nun zum ständigen Begleiter ihrer Machtausübung. Er richtete sich insbesondere gegen die Großgrundbesitzer und Kapitalisten sowie gegen die geistlichen Führer aller Religionsgemeinschaften, aber auch gegen ehemalige Sympathisanten und Mitglieder der Kuomintang und anderer politischer Parteien. Die mit der Einführung des Kommunismus verbundene Kollektivierung der Landwirtschaft stieß teilweise auf den erbitterten Widerstand der Betroffenen. Immerhin betrafen diese Maßnahmen rund 500 Millionen Bauern samt ihrer Familien und der ökonomische Misserfolg dieser Maßnahme kostete Millionen Menschen das Leben. Eine weitere ‚tötende‘ Maßnahme der Kommunistischen Partei unter der Führung Mao Tse-tungs war der „Große Sprung nach Vorn“, der die ökonomische Entwicklung zum Kommunismus beschleunigen sollte, aber das Gegenteil erreichte: Nach seinem offensichtlichen Scheitern wurde er 1961 abgebrochen. Der ‚Große Sprung‘ sollte drei große Unterschiede beseitigen: Den zwischen Stadt und Land, den zwischen Kopf- und Handarbeit und schließlich den zwischen Industrie- und Landarbeit. Durch diese Initiativen sollte zudem nicht nur der wirtschaftliche Rückstand zu den westlichen Industrieländern aufgeholt, sondern diese ökonomisch überholt werden, um die Vorteile der kommunistischen Produktionsweise und der damit verbundenen Planwirtschaft den Proletariern aller Länder zu verdeutlichen. Die mit dem ‚Großen Sprung‘ verbundene Zwangskollektivierung und der massive Abzug von Arbeitskräften vom Land in die Stadt führte zu einem dramatischen Einbruch der Produktion, die zur größten Hungersnot aller Zeiten führte. Die Zahlen der Verhungerten sind relativ einheitlich, sie liegen bei zwischen 15 und 30 Millionen Menschen – eine unvorstellbar hohe Anzahl. Diese Toten wa-
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ren politisch nicht unmittelbar gewollt, es gab keine Quoten oder ähnliche Verfahren zur systematischen Liquidierung von bestimmten Personengruppen oder sozialen Gruppen. Aber sie waren das Ergebnis von politischen Entscheidungen, die durch die Ideologie und die politische Programmatik der KP Chinas hervorgerufen und von ihr mittels ihres Gewaltapparates realisiert wurden. Andere Autoren sehen dies anders. Rudolph J. Rummel revidierte nach dem Erscheinen der Mao-Biographie von Jung Chang und Jon Halliday93 seine bisherige Position: „I believed that Mao’s policies were responsible for the famine, but he was misled about it, and finally when he found out, he stopped it and changed his policies. Therefore, I argued, this was not democide. (…) I can now say that yes, Mao’s policies caused the famine. He knew about it from the beginning. He didn’t care! Literally. And he tried to take more food from the people to pay for his lust of international power, but was overruled by a meeting of 7,000 Communist Party members. So, the famine was intentional.“94
Neben dem Demozid, der vorsätzlichen und intendierten Massentötung der eigenen Bevölkerung durch eine (meist autokratische oder totalitäre) Regierung, betrieb die KP Chinas parallel dazu einen Genozid an der tibetischen Bevölkerung. Neben der vorsätzlichen Zerstörung von Kultur, Tradition und Religion tötete die chinesische Armee in den Jahren 1955 bis 1959 bis zu 65.000 Menschen, darunter 40.000 durch Luftangriffe, und deportierte über 10.000 Kinder und richtete 87.000 Tibetaner hin. Die Provinz Kham wurde durch Mord und Deportation teilweise entvölkert.95 Die Vernichtung der religiösen Gruppe der Buddhisten wurde mit dem Ziel begangen, diese Gruppe auszurotten. Zu diesem Urteil kam eine unabhängige Juristengruppe, die den Fall untersuchte und ein 1989 gebildetes Juristentribunal sprach in Bezug auf Tibet von dem „schlimmsten Genozid“ seit dem Zweiten Weltkrieg und beschuldigte die chinesische Regierung, eine Million Tibetaner gefoltert oder getötet zu haben.96
7.3.5. Der GULag in der Sowjetunion Die Entstehung des Lagersystems in der Sowjetunion durchlief verschiedene Phasen. Die als GULag bekannte und GULag genannte Phase begann erst Ende der 30er Jahre. Aber Lager als politisch entschiedene Einrichtungen entstanden bereits unter der kommunistischen Herrschaft von Lenin ab 1917. Es waren Orte, in denen spezifische soziale Gruppen leben mussten, die ohne Gerichtsverhandlung und individuellen Schuldspruch dorthin verbracht wurden.97 Von Beginn an waren die Lager als Orte der Umerziehung durch Arbeit angelegt, sie sollten eine „Schule der Arbeit“ sein, später wurden sie in „Besserungsarbeitslager“ umbenannt.98 In einem Dekret vom 18. August 1918 liest man, dass „die Kulaken, Priester, Weißgardisten und andere zwielichtige Personen in Konzentrationsla-
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gern außerhalb der Stadt einzusperren“99 seien. Bereits Anfang Juli 1918 hatte L. Trotzki die Einrichtung von Konzentrationslagern für die Personen vorgeschlagen, die sich der Abgabe von Waffen widersetzten. ‚Zwielichtige Personen‘ – ein solcher Begriff spricht Bände, er kann alles und jedes meinen und öffnet der staatlichen Willkür Tür und Tor. Im Jahr 1921 bestanden 84 Lager, in denen rund 100.000 Personen inhaftiert waren. Die Lebensbedingungen waren katastrophal, die Versorgung mit Nahrungsmitteln nicht ausreichend und die Willkür und Gewalt des Wachpersonals, zum Teil aus den Gefangenen rekrutiert, war immens. Die Konflikte zwischen politischen und ‚normalen‘ kriminellen Häftlingen waren massiv und schlugen oft in tödliche Gewalt um. Mitte der 20er Jahre veränderten sich auch die Sprachregelungen, es war nun immer öfter von ‚Staub‘, ‚schädlichen Insekten‘ u. Ä. die Rede, die Zahl der Inhaftierten stieg weiter an und man schätzte ihre Zahl Ende der 20er Jahre auf rd. 200.000.100 Ihren Höhepunkt erreichten die Konzentrationslager in den Jahren zwischen 1930 und 1953 und der Um- und Ausbau des KZ-Systems verlief parallel zu den großen wirtschaftspolitischen Entscheidungen dieser Zeit. Erst ab dem 10. Juli 1934 wurde die offizielle Bezeichnung GULag eingeführt, das Akronym für glawnoje uprawlenije legerei und der Hauptverwaltung der Lager unterstand nun das gesamte Lagersystem der damaligen Sowjetunion. Anfang 1934 waren dort ‚nur‘ rund 1 Million Insassen inhaftiert, im April 1938 waren es dann zwischen 2 und 2,5 Millionen. Es ging jetzt weniger um Umerziehung durch Arbeit, sondern weit mehr um die massenhafte Inhaftierung von Personengruppen, die für die politische und wirtschaftliche Entwicklung ein Hindernis darstellten. Im Juli 1934, als die GPU in den NKWD umgewandelt wurde, übernahm die GULag 780 kleinere Strafkolonien, die bisher dem Volkskommissariat für Justiz unterstanden und überführte sie in das GULag-System, indem sie sie in ein riesiges Lager mit über 200.000 Gefangenen umwandelte.101 In der zweiten Hälfte der 30er Jahre verdoppelte sich die Zahl der GULag-Häftlinge von knapp einer Million im Jahr 1935 auf knapp zwei Millionen im Jahr 1941. Allein im Jahr des Großen Terrors 1937 kamen 0,7 Millionen dazu. Der Anteil der politischen Gefangenen schwankte zwischen einem Drittel und einem Viertel; auch bei den anderen Gefangenen handelte es sich nicht um tradiert Gefangene. Sie kamen ins Lager, „weil sie gegen eines der unzähligen Gesetze verstoßen hatten, durch die fast jeder Bereich mit Repression belegt war: ‚Vergeudung sozialistischen Eigentums‘, ‚Verstoß gegen das Gesetz über die Inlandspässe‘, ‚Rowdytum‘, ‚Spekulation‘, ‚Verlassen des Arbeitsplatzes‘, ‚Sabotage‘ oder die ‚Nichterfüllung der Mindestzahl an Arbeitstagen‘ in den Kolchosen. Die meisten Lagerinsassen des Gulag waren weder politische noch gewöhnliche Strafgefangene, sondern ‚gewöhnliche‘ Bürger, Opfer der allgemeinen Sanktionierungen der Arbeitswelt und in zunehmenden Masse auch – im gesellschaftlichen Bereich. Dies war das Ergebnis der ein Jahrzehnt währenden Repression, mit welcher die Staatspartei immer weiteren Kreisen der Gesellschaft begegnete.“102
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Die sowjetischen Lager waren in erster Linie Arbeitslager, die in der geplanten Ökonomie eine große Rolle spielten. Sie waren meist an „pharaonische Großbaustellen“103 angegliedert, wie etwa an Baustellen für Eisenbahnlinien, an „fliegende Lager“ für die Holzversorgung ganzer Regionen, den Bau von Kanalsystemen, der Bewirtschaftung der Steppen, dem Goldabbau, dem Bau von Wasserkraftwerken etc. Das Ausmaß der Lager des GULag ist erschütternd: 300.000 belegte Todesfälle in den Lagern allein zwischen 1934 bis 1940; rechnet man den Anfang der 1930er Jahre hinzu, dann komm man auf rd. 400.000. Bezieht man die anderen Repressionsmaßnahmen mit ein, so kommen 720.00 Hinrichtungen nach der Quotenregelung hinzu, rd. 600.000 belegte Todesfälle bei den Deportationen, Umsiedlungen oder Sondersiedlungen, ungefähr 2,2 Millionen Deportierte und etwa 7 Millionen Inhaftierte in den Lagern und Kolonien des GULag für die Jahre 1933 bis 1942; für die Jahre zuvor fehlen genaue Zahlen. Die Hungersnot von 1932/1933 als Folge der Zwangskollektivierung und die unbotmäßigen Steuern für die Kolchosen hatte 6 Millionen Tote zur Folge.104 Der Zweite Weltkrieg verschlechterte die Lage in den Lagern erneut dramatisch und die Sterblichkeit stieg massiv an. Zu Beginn waren es rund 2,35 Millionen Häftlinge, drei Jahre später nur noch die Hälfte, weil der größte Teil entweder in den Lagern gestorben war oder – zwangsverschickt – an der Front getötet wurde.105 Insgesamt pendelte sich nach dem Krieg die Anzahl der Inhaftierten auf rd. 2,5 Millionen ein. Diese Zahlen sind hochgradig umstritten, andere AutorInnen gehen von Zahlen aus, die weit höher liegen. Sie veranschlagen die Anzahl der Opfer zwischen 1935 und 1941 auf knapp 20 Millionen.106 Nach J. Stalins Tod, also in der posttotalitären Phase der Sowjetunion, kam es wegen der Krise des bisherigen Systems des GULag zu einer grundlegenden Neuorientierung. Der Begriff „Lager“ wurde ab 1956 nicht mehr verwendet und durch „Kolonie“ oder „Anstalt“ ersetzt. Aber nach wie vor wurde an der Idee und am Begriff der „Besserungsarbeit“ festgehalten. Trotz der Neuorientierung wurden die Lager auch noch unter Leonid Breschnew beibehalten, sie erfüllten aber nicht mehr die „zweifache zusammenhängende und organische Aufgabe des ursprünglichen GULag: als System der allgemeinen politischen Repression und der Zwangsarbeit der Massen. Sie haben jetzt eine im Wesentlichen strafende Funktion, begleitet von einer repressiven politischen Rolle, die nicht mehr auf die Masse der Bevölkerung zielt, sondern auf eine beschränkte Schicht von Dissidenten und ‚Nationalismus‘-Verdächtigen.“107
Welche Funktion hatte der GULag im gesamten Herrschafts- und Selbstverständnis der kommunistischen Phase in der Sowjetunion, insbesondere in der stalinistischen? Ihre ökonomische Bedeutung wird von allen wichtigen Autoren anerkannt und es gab sogar einen Beschluss des Rats der Volkskommissare vom März 1928, Repressionen gegen bestimmte Personengruppen zu verschärfen, um so neue und billige Arbeitskräfte für die Produktion bereit zu stellen. Die Lager
7.3. Die Konzentrations- und Vernichtungslager als Orte der Politik des Tötens
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mutierten zu wichtigen ökonomischen Faktoren, die auch die Besiedelung unwirtlicher Gegenden und deren ökonomische Erschließung einschlossen. 1948 realisierte allein das NKWD rd. 13 % aller Großprojekte in der sowjetischen Wirtschaft.108 Der Staat und die herrschende Clique konnten auf ein Menschenmaterial zurückgreifen, das ihnen exklusiv zur Verfügung stand – man musste nur die entsprechenden politischen Beschlüsse treffen und konnte so neue Menschenmassen erschließen. Sie wurden zwangsweise in das GULag-System eingeschleust oder ersetzten die dort Umgekommenen. Die Sterblichkeit in diesen Lagern war ebenso erschreckend hoch wie in denen der Nationalsozialisten. Menschenleben zählten nicht, man konnte Menschen massenweise umbringen oder durch die menschenunwürdigen Verhältnisse umbringen lassen. Dennoch gab es einen zentralen Unterschied zwischen beiden Lagertypen: „(I)n den Lagern der Sowjets war der Tod nicht das automatische und vorprogrammierte Schicksal der Gefangenen. Gleichwohl waren menschliche Tragödien der Freiheitsentzug, die Unterwerfung unter eine stupide Lagerordnung, die Schikanen, Schläge, die Krankheiten und katastrophalen hygienischen Verhältnisse nicht zu leugnende Tatsachen. (…) In den Lagern der UdSSR ging es um Isolation, Strafe und Produktion, wobei Verluste an Menschenleben billigend in Kauf genommen wurden. Dagegen ging es bei den Deportierten des NS-Staates um eine Vernichtung, selbst wenn die Arbeitskraft mancher vor dem Gang in die Gaskammer noch ausgebeutet wurde. Aus den Augen von Opfern mag der Unterschied spitzfindig erscheinen. Aber er ist dennoch entscheidend.“109
In der Tat: Aus der Sicht der Opfer ist der Unterschied unbedeutend, aber analytisch macht er Sinn, weil er die Einmaligkeit der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik, die Besonderheit der nationalsozialistischen Politik der Tötung betont: Die politisch entschiedene und politisch organisierte, vollständige Ausrottung und schnellstmögliche Tötung der Juden (und anderer Gruppen). Die Politik der Tötung war ungeheuer ‚effektiv‘. Die Analysen des „Schwarzbuch des Kommunismus“ beziffern die von allen kommunistischen Regimen direkt oder indirekt Getöteten auf insgesamt über hundert Millionen Tote im 20. Jahrhundert. China nimmt mit 65 Millionen den ‚Spitzenplatz‘ ein, gefolgt von der Sowjetunion mit rd. 20 Millionen. Der Rest verteilt sich auf Länder wie Vietnam, Nordkorea, Kambodscha, Osteuropa, Lateinamerika, Afrika und Afghanistan. Hinzu kommen noch die den Säuberungen in den kommunistischen Parteien zum Opfer gefallenen Personen von rd. 10.00 Toten.110 Am intensivsten war die Politik des Tötens sicherlich in Kambodscha unter Pol Pot, wo in dreieinhalb Jahren rund ein Viertel der Bevölkerung auf grausamste Art und Weise getötet wurde. Die Politik der Tötung hat in den kommunistischen Regimen Dimensionen angenommen, die bisher unvorstellbar waren und alle bisherigen Taten der Menschheit in den Schatten stellten.
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7. Die Politik des Tötens: ‚Du sollst töten‘ als Imperativ totalitärer Herrschaft
7.3.6. Das System Guantánamo Bay: Die Einführung der Käfighaltung von Menschen im Lager Um es vorweg klar zu sagen und möglichen Missverständnissen vorzubeugen: Guantánamo Bay war kein Lager wie die bisher erwähnten, es war kein Lager der Tötung, sondern erfüllte eine bisher nicht gekannte Bedeutung. Diese Bedeutung muss betont werden und sie ist – wie erwähnt – von der der Tötung fundamental unterschieden. Aber es war (und ist) ein Lager, das eine bisher nicht dagewesene Funktion erfüllte und deshalb in diesem Kapitel abgehandelt werden kann. Aber erneut: Systematisch gehört es nicht in die Kategorie der Tötungslager und die der Politik der Tötung. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts wurde durch Guantánamo Bay ein neuer Typus von Lager generiert, dessen Charakter und Bedeutung hochgradig umstritten sind und sich von den bisherigen Lagern grundlegend unterscheiden. Es wurde von einem demokratischen Staat eingerichtet und nicht – wie in den zuvor diskutierten Fällen – von totalitären Regimen. Auch befand sich dieser Staat nicht in einem tradierten Krieg mit einem anderen Staat und konnte so kein Kriegsgefangenenlager einrichten, das den rechtlichen Prämissen der Behandlungen von Kriegsgefangenen unterworfen ist. Stattdessen hat die entsprechende Regierung neue Kategorien bzw. Begrifflichkeiten eingeführt, um sich bestimmten nationalen und internationalen rechtlichen Regelungen zu entziehen und spezifische Gewalt- und Machtverhältnisse einzuführen, die ansonsten nicht möglich gewesen wären. Schließlich hat dieses Lager eine neue funktionale Bedeutung: Es dient weder der reinen Vernichtung, noch der Umerziehung durch Arbeit, noch der Steigerung der ökonomischen Effizienz eines Staates, sondern der Informationsgewinnung durch besondere Methoden der Gewaltanwendung. Insofern kann es paradigmatischen Charakter gewinnen und für das 21. Jahrhundert richtungsweisend werden. Das Lager Guantánamo Bay wurde von der US-amerikanischen Regierung unter George W. Bush eingerichtet. Es war eine Reaktion auf die Anschläge vom 11. September 2001 in New York und Washington, bei denen islamistische Attentäter zuvor entführte Flugzeuge in die beiden Türme des World Trade Centers bzw. in das Pentagon steuerten und insgesamt fast 3000 Menschen töteten. Diese Entführungen waren selbstverständlich auch eine spezifische Form der Politik des Tötens, die jedoch nicht von einem Staat bzw. einer herrschenden Gruppe ausging, sondern von einer netzwerkartig organisierten Gruppe von Terroristen. Aber wie gehen Demokratie und (Internierungs)Lager zusammen? Die Diskussion um den Charakter von Guantánamo hat Juristen, Politikwissenschaftler und Politiker massiv beschäftigt.111 Wie ist Guantánamo als Lager einzuschätzen, das zum überragenden Signum für unrechtmäßige Gefangennahme zu Beginn des 21. Jahrhunderts geworden ist? Ist es „the Gulag of our ti-
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mes“, wie es die Vorsitzende von Amnesty International, Irene Khan, auf einer Pressekonferenz im Jahr 2005 formulierte?112 Ist es ein Ort, in dem das „legal regime applied to these detainers seriously undermines the rule of law and a number of fundamentally recognized human rights, which are the essence of democratic societies?”113 Ist es – wie Giorgio Agamben in Anlehnung an C. Schmitt formuliert – ein Raum, indem nur das „nackte Leben“ existiert, vollständig rechtlos, der souveränen Gewalt völlig ausgeliefert?114 Oder ist es doch ein normales Gefängnis, indem normale Gefangene untergebracht sind? Unumstritten ist sein Charakter als Lager: Es ist ein von der Umwelt abgegrenzter Raum, indem spezifische Organisations-, Herrschafts- und Gewaltmuster institutionalisiert sind und in das Menschen ohne Gerichtsurteile gewaltsam und gegen ihren Willen aus der ganzen Welt verschleppt wurden. Man kann es somit als Internierungslager beschreiben, in dem eine spezifische, von der Politik definierte Gruppe von Menschen interniert ist, die – das ist zentral – nicht dem amerikanischen Rechtssystem unterliegen. Gleichwohl war und ist deren Status rechtlich umstritten und der US-Supreme Court hat im Jahr 2004 ein Urteil gefällt, indem die dort Gefangenen nicht völlig rechtlos behandelt werden dürfen, sondern bestimmten Standards des amerikanischen Rechts unterliegen müssen. Ein großer Teil der Insassen, insbesondere die als gewalt- und selbstmordbereit eingeschätzten Insassen, wird in käfigartigen Boxen untergebracht. Diese sind knapp vier Quadratmeter groß, sie messen 2,40 auf 1,80 Meter, haben einen Betonboden und die Dächer sind aus Wellblech. Die ‚Wände‘ bestehen aus massivem Maschendraht, der mit vier Stahlpfeilern verschweißt ist. Jeder Käfig ist mit einer 2,5 cm dicken Schaumstoffmatratze ausgelegt, mit einem Eimer, einer Dusche und zwei Handtüchern ausgestattet, wobei eines der Tücher als Gebetsteppich fungieren soll, und die Häftlinge müssen orangefarbige Overalls tragen. Anfang 2002 wurde das Lager auf dem amerikanischen Marinestützpunkt Guantanámo Bay auf Kuba eingerichtet. Anfänglich waren dort 779 Gefangene inhaftiert, nach Abgaben verschiedenster Organisationen befinden sich dort heute noch rd. 40 Gefangene.115 Die meisten Gefangenen wurden inzwischen in andere Länder verbracht. In Jahr 2004 entschied der amerikanische Supreme Court, dass entgegen der bisherigen Praxis alle Gefangenen das Recht haben, bei US-amerikanischen Gerichten gegen ihre Inhaftierung zu klagen.116 Manche Autoren sprechen von einem „System Guantánamo“, das nicht allein das Lager, sondern eine ganze Reihe weiterer Maßnahmen einschließt, die erst zusammen das „System“ ausmachen. Die Bush-Regierung hat – so die Diagnose des UNO-Sonderberichterstatters über Folter, Manfred Nowak, – ein „ganzes System von Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus entwickelt, das außerhalb des Rechtsstaats angesiedelt ist und mögliche demokratische und rechtsstaatliche Kontrollen durch amerikanische oder internationale Instanzen bewusst einschränkt oder gar auszuschalten versucht. Diese (…) Strategie zielt darauf, ausländische Staatsbürger,
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7. Die Politik des Tötens: ‚Du sollst töten‘ als Imperativ totalitärer Herrschaft die des Terrorismus verdächtigt werden, außerhalb der Rechtsordnung zu stellen, also quasi für vogelfrei zu erklären.“117
Zu diesen Maßnahmen zählt selbstverständlich und zunächst das Lager Guantánamo selbst, das bewusst außerhalb des Territoriums der USA eingerichtet wurde, um sich der Reichweite der US-amerikanischen (Verfassungs)Rechte und internationalen Menschenrechtsstandards zu entziehen. Dazu gehören aber auch die sogenannten „Rendition“-Flüge, die in von der CIA gecharterten Privatflugzeugen vollzogen wurden.118 In ihnen werden die irgendwo auf der Welt gekidnappten und des Terrorismus verdächtigen Personen zwischen verschiedenen Staaten und Lagern hin- und hergeflogen, wobei alle relevanten menschenrechtlichen Standards zum Schutz der persönlichen Freiheit außer Kraft gesetzt wurden. Eine weitere Maßnahme war die Einsetzung privater Firmen bei Verhören der Gefangenen, wobei diese ‚Verhöre‘ Folter einschlossen, wie dies im inzwischen berüchtigt gewordenen US-Lager Abu Ghraib im Irak der Fall war; dass an Folterungen auch US-amerikanisches Personal beteiligt war, wissen wir inzwischen ebenfalls. Schließlich gehört dazu noch die Einrichtung von geheim gehaltenen Gefangenenlagern in den USA selbst, in denen hochrangige al-Qaida-Funktionäre festgehalten und deren Orte aus Sicherheitsgründen nicht öffentlich gemacht werden. Auch in Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, insbesondere in Polen und Rumänien, soll es solche Lager gegeben haben. Ein Bericht der UNO zu Guantánamo stellte schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen fest. Die Kommission konnte wegen verschiedenster Blockaden der US-Regierung in Guantánamo nicht mit dort aktuell inhaftierten, aber mit ehemals inhaftierten Gefangenen sprechen. Zudem beruhte der Bericht auf den damals zugänglichen Quellen und auf einem Fragenkatalog an die US-Regierung, die ihn allerdings nicht vollständig beantwortete. Ein ursprünglich für den 6. Dezember 2005 festgelegter Besuch in Guantánamo wurde von der UN-Kommission abgesagt, weil sich die USA nicht an die von UN-Missionen geforderten Maßstäbe halten wollte, die die USA allerdings gegenüber anderen Ländern, wie etwa China, immer vehement eingefordert hatten. Vor allem das Recht, mit allen Häftlingen unbeobachtete Gespräche zu führen, wurde von den USA für Guantánamo nicht garantiert. Ein Bericht von fünf Experten der UN kam zu folgenden Ergebnissen, die kurz zusammengefasst so lauten:119 • •
Die Inhaftierung der Verdächtigen ohne Zugang zu einem Gericht ist willkürlich und verletzt das Recht auf persönliche Freiheit; die durch die amerikanische Regierung eingesetzten Militärtribunale in Guantánamo erfüllen keineswegs die Mindestgarantien für ein faires und rechtsstaatliches Gerichtsverfahren;
7.3. Die Konzentrations- und Vernichtungslager als Orte der Politik des Tötens
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die Versuche der US-Regierung, Folter neu zu definieren und die in Guantánamo angewendeten Verhörmethoden, sind alarmierend; die von Verteidigungsminister D. Rumsfeld angeordneten Verhörmethoden (Verharren in Stresspositionen, lange Isolationshaft, Ausnutzung individueller Phobien wie Angst vor Hunden, Desorientierung durch das Überstülpen von Kapuzen sowie Entzug von Licht, Schlaf, Kleidung und anderen Gegenständen, Anhalten von Häftlingen auch unter extremen Temperaturen, insbesondere von Kälte bei gleichzeitigem Entzug von Kleidung und Decken etc.) stellen eine zumindest erniedrigende Behandlung dar, in vielen Fällen auch Folter; Anwendung exzessiver Gewalt während der sog. „Rendition“-Flüge sowie bei der Bestrafung nichtkooperativer Häftlinge, einschließlich der Zwangsernährung bei Hungerstreiks, kann als Folter qualifiziert werden; „Rendition“-Flüge in (autoritäre) Staaten, in denen systematisch gefoltert wird, stellen eine Verletzung des Refoulement-Verbots nach Art. 3 der UNAnti-Folterkonvention dar; 120 bestimmte Praktiken bei den Verhören stellen eine Verletzung des Rechts auf Religionsfreiheit dar und sind eine Diskriminierung der Häftlinge aufgrund ihres muslimischen Glaubens; die Haftbedingen insgesamt und die völlige Unsicherheit über die Dauer der Haft und ihr weiteres Schicksal führen zu ernsthaften psychischen Störungen, Hungerstreiks und Selbstmordversuchen und verletzen das Recht auf Gesundheit.
Der ausführliche Bericht wurde am 27. Februar 2006 vom UNO-Hochkommissariat für Menschenrechte veröffentlicht und mit der Aufforderung zur Schließung des Lagers verbunden. Selbstredend bestritt die amerikanische Regierung alle Vorwürfe und begründete ihre Maßnahmen mit einem internationalen bewaffneten Konflikt mit al-Qaida, auf den lediglich das humanitäre Völkerrecht anwendbar sei und dies nur in eingeschränkter Weise, weil es sich bei den Häftlingen um sogenannte „illegal enemy combatants“ handele. Insofern könnten die internationalen Menschenrechtsverträge, die die USA unterzeichnet hat, hier keine Anwendung finden. Bis heute ist der Rechtsstatus der dort gefangen Gehaltenen umstritten. Ob es ein völlig rechtsfreier Raum ist, in dem nur das „nackte Leben“ zählt121, oder ob es durch Recht, wenn auch durch ein situatives und auf diesen Raum beschränktes Recht, strukturiert ist122, muss hier nicht abschließend geklärt werden.
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7. Die Politik des Tötens: ‚Du sollst töten‘ als Imperativ totalitärer Herrschaft
7.4. Hannah Arendts Totalitarismus-Theorie und die Politik des Tötens Hannah Arendt hat sich in ihrem Buch über „Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft“123 fast an keiner Stelle explizit mit dem Politikbegriff des Totalitarismus auseinandergesetzt. Diese Abwesenheit irritiert, weil der Totalitarismus und die totalitären Regime ja umfassende politische Projekte waren, die von der jeweils herrschenden Clique mit Hilfe der politischen und Gewaltapparate realisiert werden sollen. Hannah Arendt spricht im Kontext des Totalitarismus öfter von „herstellen“ und bezeichnet mit diesem guten Begriff das zentrale Moment: Die Herstellung von etwas, was sich nicht spontan, evolutionär, kooperativ etc. entwickelt, sondern von jemandem qua Herrschaft und Terror hergestellt werden muss. Zugleich kreist das letzte Kapitel des Buches um das Phänomen der „totalen Herrschaft“. Gerade weil Herrschaft die Welt, in der wir leben, bis zu einem gewissen „Grad verändern kann und dauernd verändert, ist sie auch auf die Wirklichkeit in ihrer Faktizität angewiesen und von ihr abhängig, und diese Abhängigkeit muss die totale Herrschaft aufzuheben wissen. Hierzu reichen Organisation und Propaganda, wie wir sie in der totalitären Bewegung kennenlernten, nicht aus (…).“124
Hinzutreten muss der Terror, der diese Herrschaft so weit verstärkt, dass sie sich gegen die Faktizität, gegen die Widerstände der Wirklichkeit, durchsetzen kann. Diese Herrschaft – so kann man vermuten – kann nur politische Herrschaft sein, weil diese untrennbar mit der Fähigkeit zur gewaltsamen Realisation ihrer Programmatik verbunden ist. Totalitäre Politik muss sich gegen die Wirklichkeit behaupten und deren Widerständigkeit durch Terror oder Gewalt überwinden (vgl. dazu ausführlich Kap. 7.1. und 7.2.). An einer Stelle nur – wenn ich das Buch aufmerksam gelesen habe – kommt sie unvermittelt auf Politik zu sprechen. In der „modernen Politik (scheint) es um etwas zu gehen, worum es in der Politik, so wie wir sie gewöhnlich verstehen, nie gehen dürfte, nämlich um alles oder nichts – um alles, und das ist eine unbestimmte Unendlichkeit von Formen menschlichen Zusammenlebens, oder um nichts, und das ist im Falle der Konzentrationslager ebenso exakt der Untergang des Menschen wie im Falle der Wasserstoffbombe der Untergang des Menschengeschlechts.“125
Totalitäre Politik – so können wir diese Passage interpretieren – will dann, wenn sie alles will, mit ihrer Macht ‚unbestimmte Unendlichkeiten‘ des Zusammenlebens von Menschen realisieren und das bedeutet nicht nur eine radikale Kontingenz des Realisierbaren, sondern auch den massiven Einsatz von Terror und Gewalt, um diese potentiell unendlichen Zustände zu realisieren. Politik wäre dann nicht die Kunst des Möglichen, wie dies Bismarck einmal formuliert hat, sondern die Kunst, das „eigentlich Unmögliche möglich zu machen“, wie einer der NaziIdeologen das Wesen der totalitären Politik formuliert hatte.126 Denn nur so
7.4. Hannah Arendts Totalitarismus-Theorie und die Politik des Tötens
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könnten die ‚unbestimmten Unendlichkeiten‘ der Formen des menschlichen Zusammenlebens durch politische Entscheidungen in eine einzige zusammengeschmolzen werden. Wenn es in der totalitären Politik um nichts geht, dann ist damit gemeint, dass Menschen keine Rolle spielen, dass sie überflüssig sind bzw. überflüssig gemacht werden. Die Insassen eines Konzentrationslagers können jederzeit ersetzt werden, sie gehören niemandem (im Gegensatz zu Sklaven, die Besitzer hatten), sie haben keinen Wert, weder einen ökonomischen noch einen moralischen, sie sind, „was das Leben der normalen Gesellschaft angeht, vollkommen überflüssig.“127 Politik wird auch dadurch erschwert, weil nicht der allmächtige und willkürliche Wille des Machthabers den politischen Prozess dominiert bzw. beherrscht, sondern ein anderer Wille, das „Gesetz der Geschichte“ oder das „Gesetz der Natur.“128 Diese Form der Gesetzestreue reduziert Politik auf die Exekution dieser Gesetze, engt den Handlungsspielraum der totalitären Politik ein und weitet ihn zugleich aus. Dies liegt daran, dass sich die Gesetze der Geschichte bzw. der Natur nicht wie positive Gesetze umsetzen lassen. Positive Gesetze ermöglichen zwar auch einen gewissen Spielraum, weil das allgemeine Gesetz immer auf einen konkreten Fall angewendet werden muss und es sich dadurch verändert und präzisiert. Weil sich aber totalitäre Politik an „höhere“ Gesetze bindet, ist das einzelne positive Gesetz wertlos und man kann mit ihm nach Belieben umgehen, weil es den „höheren“ im Wege steht. Aber die totalitäre Herrschaft behauptet eine Welt herstellen zu können, die „von sich aus, unabhängig vom Handeln der Menschen in ihr, gesetzmäßig ist, in Übereinstimmung mit den die Welt eigentlich durchwaltenden Gesetzen funktioniert.“129 Totalitäre Politik handelt gemäß dieser Gesetze und wendet hierbei den Terror ausgiebig an. Gleichwohl sind die totalitären Gesetze „Bewegungsgesetze“130, die der Bewegung immanent sind und die in andauernde Veränderungen verstrickt ist: Was gestern Recht war, ist es heute nicht, und was heute Recht ist, ist es morgen nicht mehr. Daher die radikale Ausweitung des Handlungsspielraumes der Politik. Die Ideologien, die diese Gesetze formulieren, sind geschlossene Systeme, in die keine Kritik eindringen kann und die in ihrem Kern nicht veränderbar, aber als Bewegungsgesetze jederzeit an Zeit und Umstände anpassbar sind. Sie ergreifen die Menschen in einem doppelten Sinne: entweder, indem sie Menschen mobilisieren, indem sie von der Ideologie ergriffen werden, sich an sie binden und ihre Gesetze exekutieren. Oder indem Widerstrebende ergriffen und überflüssig gemacht werden, indem man sie im wahrsten Sinne des Wortes ‚ergreift‘, in Lagern interniert oder in Vernichtungslagern durch beliebige Tötung überflüssig macht. Das Bewegungsgesetz „läuft in jedem Falle auf ein Gesetz der Ausscheidung von ‚Schädlichem‘ oder Überflüssigem zugunsten des reibungslosen Ablauf einer Bewegung hinaus, aus der schließlich gleich dem Phönix aus der Asche eine Art Menschheit entstehen soll. Würde das positive
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7. Die Politik des Tötens: ‚Du sollst töten‘ als Imperativ totalitärer Herrschaft Bewegungsgesetz in positives Recht übersetzt, so könnte sein Gebot nur lauten: Du sollst töten.“131
Die Politik des Totalitarismus ist eine Politik des Tötensollens oder gar des Tötenmüssens, in der sich der blutige Wille niederschlägt, dass alles möglich ist. In Anlehnung an Montesquieu unterscheidet sie zwischen dem Wesen einer Herrschafts- oder Regierungsform und ihrem Prinzip. Das Wesen einer Regierung macht, dass der Staat so und nicht anders ist: er ist entweder eine Monarchie, eine Tyrannis oder eine Republik und macht sie zu dem, was sie ist. Das Prinzip dagegen bezeichnet die Handlungsmuster oder -motive, die der Regierungsform das Leben einhaucht und sie am Leben erhält. In der Monarchie ist es die Ehre, die auf dem Wunsch nach Auszeichnung besteht; in der Republik ist es die Tugend, die eine Liebe zur Gleichheit ist und die gegenseitige Anerkennung auf der Basis der gleichen Rechte ermöglicht; in der Tyrannis ist es die Furcht, die die Untertanen zur Befolgung oder Unterwerfung unter die Willkür anleitet. Das Wesen der totalitären Herrschaft ist der Terror, der nicht wie in der Tyrannis willkürlich vom Herrscher eingesetzt wird, sondern um die Übereinstimmung mit den natürlichen oder geschichtlichen Gesetzen herzustellen. Es entsteht so ein „eisernes Band“132, das die Menschen aller Individualität, Pluralität und Freiheit beraubt, so dass alle unvorhergesehenen Handlungen oder auch Widerständigkeiten durch Terror ausradiert werden können. Terror ist nicht ein Mittel zu einem bestimmten Zweck, sondern die „ständig benötigte Exekution der Gesetze natürlicher und geschichtlicher Prozesse.“133 Da totalitäre Regime keine handelnden Menschen mehr brauchen, sie auch nicht wollen und sie durch das eiserne Bande des Terrors auch vernichten, kann es auch kein Prinzip im Montesquieuschen Sinne mehr geben. An die Stelle eines auf Handeln basierenden Prinzips tritt nun etwas gänzlich anderes: Um die ‚Einsicht‘ in die Gesetze der Natur oder der Geschichte zu verstärken, tritt eine neue und völlig andere Form des ‚Handelns‘ auf, die in ihrem Kern aber keine mehr ist: „Das Verlangen nach Einsicht in diesen Prozess mobilisiert die totalitäre Herrschaft, um beide, Vollstrecker wie Opfer, auf diesen Prozess vorzubereiten. An die Stelle des Prinzips des Handelns tritt nun die Präparierung der Opfer, die Natur- oder Geschichtsprozess fordern werden, eine Präparierung, die den Einzelnen gleich gut für die Rolle des Vollstreckers wie für die des Opfers vorbereiten kann.“134
‚Präparierung‘ ̶ dieser Begriff mutet seltsam an und ist eigentlich das Gegenteil von Handeln als aktiver Tätigkeit. Es ist ‚passives‘ Handeln, wenn man dies paradox formulieren will: ja, man wird gehandelt und der aktive Wille wird durch das Unterworfensein unter einen fremden Willen ersetzt. Präparierung meint zudem die propagandistische Vorbereitung der Täter wie der Opfer, dass alles möglich ist und auch möglich gemacht wird. Aber zentral ist, dass für freies Handeln kein Spielraum mehr existiert und dass alles durch die Politik des Totalitären vorbestimmt ist. Die Ideologie, sei es die der Rassisten oder der Kommunisten, gibt
7.5. Das Jahrhundert der Politik des Tötens?
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alle Prämissen objektivistisch vor, die Politik reduziert sich auf den gewaltsamen, durch Terror durchgesetzten Vollzug dieser objektiven Gesetze: objektive Feinde, objektive Schritte oder zeitliche Stufen im Prozessvollzug, oder was auch immer. Die Ideologie weiß bereits alles und bereitet alle auf den Vollzug vor. Zwar können die jeweiligen Feinde wechseln, je nach Lage der Dinge, aber dies wird dann aus ‚objektiven Gesetzen‘ systematisch und logisch abgeleitet. In den Moskauer Prozessen konnte man beobachten, wie sich die Verurteilten in geradezu grotesker Weise schuldig bekannten, sich gegen den Geschichtsprozess und damit auch gegen die Kommunistische Partei gestellt zu haben. Und die Präparierung leistet die Ideologie, weil sie – wie bei Montesquieu – öffentlich popagiert wird und sie für Vollstrecker wie Opfer durch ihre Propaganda zwingend macht. Die Ideologie bindet die politisch Handelnden, sie macht sie zu Gläubigen, die an sie glauben und unter allem Einsatz, vor allem des Terrors und der Tötung, für ihre Realisation kämpfen.
7.5. Das Jahrhundert der Politik des Tötens? Die unterschiedlichen Ausprägungen der totalitären Herrschaft waren nicht nur ein neues politisches Phänomen des 20. Jahrhundert, sondern zugleich eine bisher nicht dagewesene Form des Politiktreibens. Politik hat sich in einer bisher nicht gekannten Form entgrenzt und Maßnahmen ergriffen, die in dieser Form und Intensität bisher nicht realisiert worden waren. Politik wurde mit Tötung identisch, wobei die Tötung nicht nur einzelne Menschen oder kleinere Gruppen betraf, sondern ungeheure Menschenmassen. Diese wurden nicht in tradierten Kriegen getötet, wie etwa in den beiden Weltkriegen oder in anderen Kriegen, sondern in einem ‚Normalzustand‘ von Gesellschaften, die sich zwar auch im Krieg gegen äußere Feinde befinden konnten, aber über die Prämissen und Praxen tradierter Kriege weit hinausgingen. Die totalitären Regime des 20. Jahrhunderts, vor allem das nationalsozialistische Deutschland und die Diktatur des Proletariats in der Sowjetunion, fanden in anderen politischen Regimen eine Fortsetzung, von denen Kambodscha unter Pol Pot besonders hervor stach. Der Kern aller dieser Politiken der systematischen Tötung war die Durchsetzung einer neuen Gesellschaft, die nicht nur auf den Trümmern der alten Gesellschaft aufgebaut werden sollte, sondern deren Realisation die Tötung bestimmter, von der Politik definierter sozialer, ethnischer, religiöser und/oder politischer Gruppierungen zur Voraussetzung hatte. Politische Ideologien waren in der Lage, ‚objektive Feinde‘ zu identifizieren, die der Realisation dieser Gesetze im Weg standen und folgerichtig aus dem Weg geräumt werden mussten. Dies war untrennbar mit der systematischen Tötung der durch die Politik definierten Gruppen bzw. Klassen verbunden.
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7. Die Politik des Tötens: ‚Du sollst töten‘ als Imperativ totalitärer Herrschaft
Zugleich hat sich die Politik begrenzt, indem sie sich der Realisation nur einer einzigen Politik verschrieben hat, die durch objektivistische Gesetzmäßigkeiten von der Ideologie vorgegeben war. Diese Ideologien waren erneut das Produkt der Politik. Sie fielen nicht vom Himmel oder wurden von politikexternen Agenten hervorgebracht, sondern von den politischen Kräften, die sie dann – sofern sie die politische Macht mit Gewalt erobert hatten – in soziale Wirklichkeit umsetzten. Oft wurden diese Programmatiken der Tötung als ‚objektive Gesetze‘ gefasst, deren Realisation sich die jeweiligen politischen Kräfte dann zur Aufgabe machten. Der Vollzug objektiver Gesetze lässt keinen Spielraum zu – weder bei den ‚Gesetzesvollziehern‘ noch bei denen durch den Vollzug notwendigerweise Getöteten. Die entsprechenden Akteure schufen auch neue Orte der Tötung. Zwar gab es Lager schon vor den großen Totalitarismen des 20. Jahrhundert, aber als Konzentrations- und Vernichtungslager in diesem Ausmaß und in dieser Intensität waren sie neu. Die Einrichtung von reinen Tötungslagern, wie die nationalsozialistischen Konzentrations- und vor allem Vernichtungslager, war in der Geschichte der Menschheit bisher nicht bekannt und wurde zum Signum des 20. Jahrhundert. Es waren im eigentlichen Sinne keine Lager mehr, in denen Menschen bzw. soziale Gruppen abgesondert, abgetrennt und mehr oder weniger zeitlich begrenzt inhaftiert und mehr oder weniger grausam behandelt wurden. Stattdessen waren es Orte der Vernichtung, in die Menschen nur zur ausschließlichen und schnellen Tötung gewaltsam verbracht wurden. Die Lager wurden zu Tötungsfabriken, in denen die Vernichtung der Juden ‚maschinell‘ stattfand. Die Tötungsquote lag in diesen ‚Lagern‘ bei fast 100 Prozent, einen anderen Zweck hatten sie nicht. Die Konzentrationslager, die im sowjetischen GULag ein gewisses Pendant fanden, waren zwar auch Orte der massenhaften Tötung, aber sie wurde hier nicht ausschließlich maschinell vollzogen, sondern durch die Unterbringungsund Arbeitsbedingungen bewusst in Kauf genommen und auch bewusst angestrebt. Unter der Herrschaft der Roten Khmer wurde in Kambodscha der gesamte Staat zu einem Lager, in dem die Politik der Tötung zudem ein bisher nicht gekanntes Ausmaß annahm und die die beiden anderen Totalitarismen trotz ihrer Intensität womöglich noch in den Schatten stellte. China unter der Diktatur der Kommunistischen Partei war zeitweilig ebenso ein totalitärer Staat wie seine Vorgänger und die dort produzierten Leichenberge waren von der reinen Anzahl der Getöteten die größten in der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Sie stellten den Nationalsozialismus und den Stalinismus noch in den Schatten. Die Analysen des „Schwarzbuch des Kommunismus“135 beziffern die von den kommunistischen Regimen direkt und indirekt Getöteten auf über 100 Millionen, die vom Nationalsozialismus getöteten Juden, Sinti, Roma und andere Gruppierungen müssen hier noch hinzugezählt werden, um auf die endgültige
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7.5. Das Jahrhundert der Politik des Tötens?
Summe der Toten zu kommen. Die Politik des Tötens hat das 20. Jahrhundert wie keine andere Politik geprägt, es ist zum Jahrhundert des Tötens geworden. Anmerkungen 1 Hadamovsky 1933: 5. 2 Zit. nach Hadamovsky 1933: 19. 3 Anson Rabinbach hat eine interessamte Unterscheidung angeführt: „Die Sowjetunion beging Völkermord; Regierung und Staat des national-sozialistischen Deutschlands waren dagegen Institutionen des Völkermords.“ Rabinbach 2009: 10f.; Herv. i. O. 4 Ich denke hier vor allem an H. Arendt (2017) selbst, aber auch an Carl J. Friedrichs und Zbigniew K. Brzezinskis (Friedrich/Brzezinski 1956, deutsch 1957) und Juan J. Linz (Linz 2003) Analysen des Totalitarismus, bei denen China ebensowenig eine Rolle spielt wie Nordkorea, Kambodscha oder andere Staaten, die später selbst zu ‚Lagern‘ geworden sind. Vgl. dazu meine Ausführungen weiter unten. 5 Arendt 2017 (1958): 912. 6 Arendt 2017 (1958): 911. 7 Arendt 2017 (1958): 908. 8 Siehe dazu Kotek/Rigoult 2001: 26. 9 Dazu und zum Folgenden vgl. zusammenfassend Bührer 1998. 10 Diese und die folgenden Ausführungen beruhen auf der ausgezeichneten und lesenswerten Biografie von Stefan Krings (Krings 2010), in der die Schrift von Otto Dietrich über die „Neue Sinngebung der Politik“ allerdings keine Rolle spielt; sie wird nur nebenbei und nur an zwei Stellen in den Fußnoten erwähnt. Es werden nur Zitatfetzen verwendet, aber der Text als solcher wird nicht diskutiert und eingeordnet. Das erstaunt dann doch! 11 Dietrich 1934. 12 Dietrich 1935. 13 Zit. nach Krings 2010: 288. 14 Dietrich 1934: 3. 15 Dietrich 1934: 5. 16 Dietrich 1934: 12f. 17 Dietrich 1934: 13. 18 Dietrich 1934: 8. 19 Dietrich 1934: 7. 20 Dietrich 1934: 8; Herv. von mir. 21 Ebd. 22 Dietrich 1934: 10. 23 Ebd. 24 Ebd. 25 „Die politische Macht kommt aus den Gewehrläufen“ – dies war die Prämisse Mao Tse-tungs; vgl. Tse-tung 1967: 74. 26 Dietrich 1934: 16.
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Dietrich 1934: 8. Hadamovsky 1933: 37. Ebd. Hadamovsky 1933: 35. Hadamovsky 1933: 52. Ebd. Hadamovsky 1933: 53. Schmitt 1933; vgl. dazu ausführlicher oben Kap. 1.2. Schmitt 1936: 547. Schmitt 1936: 548. Diese Stelle wird z. B. von Giorgio Agamben in „Was von Auschwitz bleibt“ zitiert (Agamben 1998: 67), aber er bleibt den bibliographischen Nachweis ebenso schuldig wie etwa Karlheinz Barck in seiner „Ästhetik des Politischen – Politik des Ästhetischen“ (Barck 1999: 109). Beide haben es einfach von Carl Schmitt ohne Prüfung übernommen. Wenn aber jemand einen Nachweis bei J. Goebbels findet, wäre ich über eine Information dankbar! Schmitt 1936: 549 Ebd. Ebd. Ebd. Ebd; Herv. i. O. Dazu ausführlicher Longerich 2006: 123-146. Zit. nach Longerich 2006: 159. Longerich 2006: bes. 190 und ff. Zit. nach Longerich 2006: 191. Zit. nach Longerich 2006: 203f. Longerich 2006: 215. Zit. nach Longerich 2006: 273f. Zit. nach Longerich 2006: 273-276. Das ist der Kern der H. Arendtschen Totalitarismusanalysen; vgl. Arendt 2017 (1958). Die Zahlen und viele weitere Details stammen aus dem Buch des Osteuropahistorikers Karl Schlögel, der diesen Schießplatz als stellvertretenden Ort für die Welle des Großen Terrors betrachtet und eine sehr lesenswerte, zugleich bestürzende „Topographie“ des Terrors in Moskau geschrieben hat; vgl. Schlögel 2008: bes. 603-649. Schlögel 2008: 605, auf den sich die folgenden Abschnitte stark stützen. Schlögel 2008: 612. Ebd. Zit. nach Schlögel 2008: 627. Zit. nach Schlögel 2008: 628.
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7. Die Politik des Tötens: ‚Du sollst töten‘ als Imperativ totalitärer Herrschaft
58 Zit. nach Schlögel 2008: 629; die Großschreibung entspricht dem Originalbefehl. 59 Zit. nach Schlögel 2008: 631. 60 Diese Liste ist in dem Buch von Karl Schlögel vollständig angedruckt; siehe Schlögel 2008: 631-633. 61 Schlögel 2008: 637. 62 Ebd. 63 Schlögel 2008: 639. 64 Schlögel 2008: 640. 65 Werth, N. 1998; das Zitat ist von S. 288. 66 Baberowski 2012: 25. 67 Trotzki 1965. 68 Marx 1960 (1850): 254. 69 Trotzki 1965: Ziffern 2 und 9. 70 Trotzki 1965: Ziffer 10. 71 Kotek/Rigoulot 2001; die folgenden Anmerkungen zur Begriffsgeschichte des Konzentrationslagers beruht sehr stark auf den Ausführungen dieser beiden Autoren. 72 Dies ist jedenfalls die zentrale Botschaft des Buches von Joël Kotek und Pierre Rigoulot in ihrem Buch über das „Jahrhundert der Lager“; Kotek/Rigoulot 2001. 73 Olger Wormsa-Migot: L’Ere des Camps, Paris 1973, S. 21, zit. nach Kotek/Rigoulot 2001: 13. 74 In den vielen Diskussionen über Lager wird dies kaum berücksichtigt und Lager wird meist mit den Konzentrations- oder Vernichtungslagern identisch gesetzt, die jedoch allein besonders gewalttätige und vernichtende Typen darstellen; vgl. etwa Inhetveen 2010: bes. 13-24; Klepp 2011: bes. 106; Pieper 2008; des. 2011. 75 Kotek/Rigoulot 2001: 20ff. 76 Kotek/Rigoulot 2001: 21. 77 Kotek/Rigoulot 2001: 34. 78 Zit. nach Kotek/Rigoulot 2001: 36. 79 Dazu und zum Folgenden ausführlich Longerich 2001; ders. 2006: insbesondere 201-311. 80 Ich hatte oben (S. 329f.) bereits große Teile dieses Zitats zitiert, mache es aber wegen seiner großen Bedeuung an dieser Stelle erneut und etwas erweitert. 81 Zit. nach Longerich 2006: 203f. 82 Zit. nach Longerich 2006: 269. 83 Dies sehen Kotelek/Rigoulot sehr anders. Sie gehen von einem Primat der Ideologie über die Politik aus und stellen fest, dass der „Holocaust als die Vollendung eines aberwitzigen ideologischen, aus politischer Sicht als vollkommen überflüssiges Projekts angesehen werden (muss), das ein Mann – Adolf Hitler – einem ganzen Volk aufzwang.“ (2001: 397). Aber ganz eindeutig wurde die Ideologie von den entsprechenden Politikern produziert und die sie dann auch folgerichtig realisierten. Insofern ist die Politik bzw. die Gruppe der entsprechenden Politiker dominant, sie hatte sich
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ein Programm gegeben, das sie dann konsequent umsetzte: das unmöglich Erscheinende möglich zu machen – im konkreten Fall eine ganze soziale Gruppe, konkret die Juden, bis auf ‚den letzten Juden‘, auszurotten. Und ob ein Mann, hier Adolf Hitler, diese Politik einem ganzen Volk „aufzwang“, kann mit Fug und Recht bezweifelt werden. Kotek/Rigoulot 2001: 21. Vgl. die Tabelle bei Kotek/Rigoulot 2000: 413 und die entsprechenden Beschreibungen der Tötungsmaschinerien in den erwähnten Lagern auf den Seiten 406-420. Kotek/Rigoulet 2001: 395; Herv. i. O. Vgl. dazu die Tabellen bei Kotek/Rigoulot 2001: 423f. Ternon 1996: 171. Kotek/Rigoulot 2001: 612. Zit. nach Kotek/Rigoulot 2001: 613. Nachzulesen bei Ternon 1996: 174. Ternon 1996: 238. Chang/Halliday 2005. Rummel (2005) revidierte seine bisherigen Schätzungen und kommt auf knapp 77 Millionen ermordete Chinesen während der kommunistischen Herrschaft. Damit kommt er nahe an die Zahlen, die das „Schwarzbuch des Kommunismus“ mit 65 Millionen angibt. Vgl. Courtois 1999. Ternon 1996: 240. Ternon 1996: 240f. Kotek/Rigoulot 2001: 128-136. Kotek/Rigoulot 2001: 141. Kotek/Rigoulot 2001: 129. Kotek/Rigoulot 2001: 138; 140. Dazu und zum folgenden insbesondere Werth 1999: bes. 226-239. Werth 1999: 229. Werth 1999: 227. Werth 1999: 229f. Werth 1999: 145. Kotek/Rigoulot 2001: 152-156. Jean-Jack Marie, Le Goulag, Que sais-je? Paris, 1988, S. 33f.; zit. nach Kotek/Rigoulot 2001: 148. Kotek/Rigoulot 2001: 202f. Kotek/Rigoulot 2001: 212f. Courtois 1999: bes.: 16. Statt vieler vgl. Wolf 2005; Rose 2004; Berichte von dort Inhaftierten sind zu finden u. a. in Begg 2007; Kurnaz 2007; Willemsen 2006. So Irene Khan in einer Stellungnahme vor der internationalen Presse im Jahr 2005; zit. nach Amnesty International Report. Speech by Irene Khan at Foreign Press Association: http://web.amnesty.org/library/Index/ENGPOL100142005 (Zugriff am 13.05. 2018). Zit. nach Aradau 2007: 490. Agamben 2007.
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7.5. Das Jahrhundert der Politik des Tötens? 115 Die Zahlen beziehen sich auf Ende 2019. 116 Vgl. Entscheidung des US Supreme Court im Fall Rasul u. a. versus Bush, President of the United States (03-334), Nr. 542 US 466 (2004) vom 28.6.2004. 117 Nowak 2006: 24. 118 Vgl. dazu und zum Folgenden Nowak 2006: 2 mit den entsprechenden Angaben von Quellen. 119 Zum Teil wörtlich übernommen von Nowak 2006: 28f. 120 Das Refoulement-Verbot ist ein völkerrechtlicher Grundsatz, der die Rückführung von Personen in Staaten untersagt, in denen ihnen Folter oder andere schwere Menschenrechtsverletzungen drohen.
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Agamben 2007. So Aradau 2007. Arendt 2017 (1958). Arendt 2017 (1958): 820. Arendt 2017 (1958): 916. Dietrich 1934: 8. Arendt 2017 (1958): 917; Herv. von mir. Arendt 2017 (1958): 947. Arendt 2017 (1958): 948. Arendt 2017 (1958): 950. Arendt 2017 (1958): 951. Arendt 2017 (1958): 958; 975. Arendt 2017 (1958): 955. Arendt 2017 (1958): 961. Kotek/Rigoulot 2001.
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8. Die Politik des Krieges
8. Die Politik des Krieges: Von den totalen Kriegen über die ‚neuen‘ Kriege bis zu den Drohnenkriegen Am 18. April 1906 hielt eine Frau vor dem Nobel-Comité des Storthing zu Christiania, dem heutigen Oslo, eine Rede, in der sie unter anderem folgende Beschreibung einer Situation gab: „Sehen wir uns doch ein wenig in der Welt um (…). Ein furchtbarer Krieg, wie ihn die Weltgeschichte noch nicht gesehen, hat eben im fernen Osten gewütet; eine noch furchtbarere Revolution knüpft sich daran, die das riesige russische Reich durchschüttert und deren Ende gar nicht abzusehen ist. Nichts als Brände, Raube, Bomben, Hinrichtungen, überfüllte Gefängnisse, Peitschungen und Massakres, kurz eine Orgie des Dämons Gewalt; im mittleren und westlichen Westeuropa indessen kaum bestandene Kriegsgefahr, Misstrauen, Drohungen, Säbelgerassel, Pressehetzen, fieberhaftes Flottenbauen und Rüsten überall; in England, Deutschland und Frankreich erscheinen Romane, in welchen der Zukunftsüberfall des Nachbars als ganz selbstverständlich Bevorstehendes geschildert wird mit der Absicht, dadurch zu noch heftigerem Rüsten anzuspornen; Festungen werden gebaut, Unterseeboote fabriziert, ganze Strecken unterminiert, kriegstüchtige Luftschiffe probiert, mit einem Eifer, als wäre das demnächstige Losschlagen die sicherste und wichtigste Angelegenheit der Staaten (…).“1
Die Frau, die diese Beschreibung in ihrer Dankesrede für den bereits im Dezember 1905 erhaltenen Friedensnobelpreis formulierte, hieß Bertha von Suttner. Sie gab ihrer Hoffnung Ausdruck, dass sich diese Anschauungen nicht durchsetzen würden. Zwei Weltanschauungen, zwei Zivilisationsprozesse kämpfen an einem Zeitpunkt miteinander, zu dem noch nicht klar war, welche die Oberhand gewinnen würde, der militaristische oder der pazifistische. Letztere sieht in einem durch Verträge und Verhandlungen rechtlich gesicherten Weltfrieden eine Situation, in der sich die Zivilisation zu „ungeahnter Blüte entfalten wird“2 und deren Prinzipien bereits „in alle Schichten, auch schon in Machtsphären“ eingedrungen sind. Zudem sind die „Staatsoberhäupter schon zahlreich, die sich zum Ideal der Friedensbewegung bekennen.“3 Zugleich hegt sie die Hoffnung, dass sich in einem evolutionären Prozess die friedliebenden Kräfte gegen die militaristischen und kriegerischen durchsetzen. Dass sich diese Hoffnung bereits einige Jahre später mit Beginn des Ersten Weltkrieges nicht erfüllte, konnte Bertha von Suttner vielleicht ahnen, zu diesem Zeitpunkt jedoch noch nicht wissen. Ihre Vorstellungen von einer Pazifizierung der europäischen Lage zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren sehr klar: Sie sollte, ja musste durch Verhandlungen zwischen den Staaten und durch konfliktschlichtende Institutionen realisiert werden, in denen auch neutrale Kräfte vertreten sind. Der Frieden ist ein Projekt, das durch bewusste politische Handlungen in Gang gesetzt werden muss und sich nicht von alleine herstellt. Im Gegenteil: Der ‚unpolitische‘ Lauf der Dinge würde angesichts der auf dem Kontinent wirkenden Kräfte und Konflikte eher zum
8. Die Politik des Krieges
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Krieg führen. Eine Politik des Friedens erfordert völlig andere Handlungsmotive und -muster als eine Politik des Krieges, da es sich um zwei unvereinbare innerstaatliche und zwischenstaatliche Zustände handelt, welche durch entsprechende Politiken ‚gemacht‘ sind. Doch wann ist Krieg und wann handelt es sich ‚nur‘ um eine begrenzte und lokale gewaltsame Auseinandersetzung? Wann ist ein Krieg zu Ende und wann beginnt Frieden? Was ist der Friede für ein politischer Zustand, im Gegensatz zum Krieg? Krieg und Frieden sind in der Regel binäre Konstruktionen. Die neuere Kriegs- und Friedensforschung hat jedoch darauf hingewiesen, dass wir es heute mit hybriden Kriegen oder auch mit hybriden Frieden zu tun haben und es eine klare Trennlinie nicht mehr gibt.4 Befindet sich Pakistan oder Afghanistan mit den USA im Krieg, wenn mit aus den USA ferngesteuerten Drohnen Talibanoder al-Qaida-Kämpfer getötet werden? Zu welchem Schluss man auch gelangen mag, zunächst braucht man ein Bild des Krieges und schließlich auch des Friedens. Auch deshalb, weil erst zum Ende des 20. Jahrhunderts sich die Grenzen zwischen beiden Zuständen zu verwischen beginnen und ihre einst so klaren Konturen verschwinden. Ich will mit dem Begriff des Krieges beginnen. Zunächst lässt er sich intern wiederum durch binäre Konstruktionen differenzieren: Angriffs- versus Verteidigungskriege, gerechte versus ungerechte Kriege, Staaten- versus Bürgerkriege, symmetrische versus asymmetrisch Kriege, ‚große‘ versus ‚kleine‘ Kriege, alte versus neue Kriege, konventionelle versus atomare Kriege etc. Begrifflich stellen diese Kategorien Subtypen des Kriegsbegriffes dar und es müsste möglich sein, einen Oberbegriff zu finden, der auf einer abstrakten Ebene das Wesen all dieser Untertypen erfassen kann. Eine Möglichkeit, den Krieg zu definieren, ist ihn als „organized violence carried out by political units against one another“ zu kennzeichnen.5 Doch bereits hier stellen sich Fragen: Gehören terroristische Netzwerke, deren Bausteine weitgehend autonom operieren, zur ‚organized violence‘? Sind ‚political units‘ nur Staaten oder gehören auch Bürgerkriegsparteien, Guerillaverbände, terroristische Gruppierungen oder gar vereinzelt operierende Terroristen dazu? In einer ersten Näherung sind Kriege all die gewaltsam ausgetragenen Konflikte, an denen mindestens zwei bewaffnete Streitkräfte beteiligt sind, bei denen zweitens eine davon eine reguläre Streitkraft eines Staates sein muss. Zudem muss auf beiden Seiten ein Mindestmaß an zentral gelenkter Organisation der bewaffneten Kräfte vorfindbar sein. Durch eine planmäßige Strategie ist viertens eine gewisse Kontinuität und Dauer des gewaltsam ausgetragenen Konflikts gegeben, der zur Durchsetzung ideologischer, wirtschaftlicher, machtpolitischer oder militärischer Interessen ausgetragen wird.6 Nur wenn alle vier genannten Merkmale gleichzeitig präsent sind, kann von einem Krieg gesprochen werden. Ist nur ein Merkmal
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8. Die Politik des Krieges
nicht vorhanden, hat man es mit einem bewaffneten Konflikt statt mit einem Krieg zu tun. Wie hängen nun aber Krieg und Politik zusammen? Dies soll nun geklärt werden (Kap. 8.1.), wobei ich mich auf zwei Kriege konzentriere, den Ersten und den Zweiten Weltkrieg. Hierbei gehe ich der Frage nach, wie sich das Verhältnis zwischen Krieg und Politik darstellt (Kap. 8.1.1. und 8.1.2.). Ist das Clausewitzsche Paradigma antiquiert, dass der Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln ist? Im totalen Krieg jedenfalls lässt sich eine klare Dominanz des Militärischen gegenüber der Politik beobachten, die sie zu einer Unterfunktion des Militärs degradiert und ihr jegliche Selbständigkeit raubt (Kap. 8.2.). Eine bereits im Zweiten Weltkrieg zum Ausdruck kommende neue Form des Krieges ist der Partisanenkrieg. Er leistete einen wesentlichen Beitrag zu den sozialistischen Revolutionen sowohl in Mittel- und Osteuropa, aber später vor allem in China, Vietnam, Kambodscha, aber auch in Kuba und anderen Staaten Lateinamerikas. In anderen Regionen und Staaten der Welt dagegen scheiterte er kläglich. Die Konzepte der beiden wichtigsten Theoretiker und Praktiker des Partisanenkrieges, Mao Tse-tung und Ernesto Che Guevara, werden ausführlich rezipiert (Kap. 8.3.). Gegenläufig zur Mikroorientierung in den Partisanenkriegen fand im 20. Jahrhundert eine bisher nicht gekannte ‚Makroorientierung‘ statt, die im Abwurf der Atombomben am Ende des Zweiten Weltkrieges in Hiroshima und Nagasaki ihren Höhepunkt fand. Durch diese Abwürfe hat sich in der Politik des Krieges eine Dimension eröffnet, die es in der Geschichte der Menschheit noch nie gab: Die Fähigkeit zur mehrfachen Auslöschung der Menschheit durch sich selbst (Kap. 8.4.). Am Ende des alten und zu Beginn des neuen Jahrhunderts kann man einen erneuten Wandel des Krieges beobachten. Der Partisanen- und der ‚alte‘ Krieg wird von einem ‚neuen‘ Krieg abgelöst, dessen Merkmale in den Politikund Sozialwissenschaften allerdings umstritten sind. Was ist also das Neue an den ‚neuen‘ Kriegen (Kap. 8.5.)? Ein Ausblick auf eine bisher nicht dagewesene Form des Krieges schließt dieses Kapitel ab. Kann man an der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert von einem neuen Kriegstypus, dem ‚elektronischen‘ Krieg, sprechen? Der vermehrte Einsatz von Drohnen als Kampfmittel ‚entortet‘ und transformiert ihn in einen virtuellen Krieg. Von einem Land aus lassen sich über Satellitensysteme Drohnen fernsteuern, die tief in ein ‚feindliches‘ Feld bzw. einen Staat eindringen, mit dem man sich nicht in einem wie auch immer gearteten Kriegszustand befinden muss, aber in dem man bestimmte Gegner zielgerichtet und ‚klinisch sauber‘ tötet. Der Charakter eines solchen Krieges ist umstritten, ist es ein ‚elektronischer‘ Krieg, ein hybrider Krieg oder ist es möglicherweise etwas ganz anderes (Kap. 8.6.)? In allen Unterkapiteln schwingt die Frage mit, ob sich im 20. Jahrhundert unterscheidbare Kriegstypen beobachten lassen und durch welche Merkmale diese ausgezeichnet sind. Kann man – das ist die abschließende und zentrale Frage – von einem Gestaltwandel des Krieges im 20. Jahrhundert
8.1. Die Politik zum Krieg und die Politik im Krieg
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sprechen und wenn ja, kann man hierbei eine Gesetzmäßigkeit erkennen oder wenigstens eine klare Differenzierung der unterschiedlichen Kriegsformen beobachten? Damit beschäftigt sich das abschließende Kapitel (Kap. 8.7.).
8.1. Die Politik zum Krieg und die Politik im Krieg: Der „Schlieffenplan“ und die „Torheit der Regierenden“ im Ersten Weltkrieg Der Erste Weltkrieg ist von dem US-amerikanischen Historiker und Diplomaten George F. Kennan als „the great seminal catastrophe of this century“7 bezeichnet worden, also als die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts. Ob die totalitären Regime, die in der Mitte des Jahrhunderts entstanden sind, nicht die Urkatastrophe waren, kann zunächst ungeklärt bleiben. In den Berichten der damals Beteiligten und in den aufgeklärten, nicht den Krieg legitimierenden und rechtfertigenden Schriften der Romanciers, Historiker und politischen Schriftsteller wurde der Erste Weltkrieg mit seinen unermesslichen Opfern jedoch als Urkatastrophe empfunden. Schon immer hatte es in der Geschichte Kriege gegeben, im 19. und v. a. auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Aber keiner dieser Kriege war ein Weltkrieg und keiner dieser Kriege hatte eine so ungeheure Intensität und so dramatische Ausmaße. Wie bei allen nachträglichen Erhebungen sind die Zahlen umstritten, aber man kann davon ausgehen, dass rund 10 Millionen Soldaten gefallen sind, rund 20 Millionen verwundet und 7 Millionen Zivilisten getötet wurden. Die Zahlen der getöteten Menschen durch den am armenischen Volk verübten Völkermord schwanken zwischen 0,4 und 1,8 Millionen.8 Über die Kriegsursachen streiten sich Historiker und Gelehrte bis heute, die sogenannte Fischer-Kontroverse war nur der zugespitzte Ausdruck: Der Historiker Fritz Fischer hatte in seinem Buch „Der Griff nach der Weltmacht“9 nicht nur eine Kontinuität der militaristisch und kriegerisch denkenden politischen Eliten, insbesondere in Deutschland, unterstellt, sondern sie wegen ihres unverantwortlichen Handelns für den Ausbruch beider Weltkriege verantwortlich gemacht. Dieses Buch hat massive und harsche Kritik hervorgerufen, wobei der Historiker Gerhard Ritter einer der heftigsten Kritiker war.10 Weltkriege kommen durch eine ganze Reihe verschiedener Faktoren zum Ausbruch und können nie auf eine einzige Ursache zurückgeführt werden. Auch gibt es im Vorfeld eines Krieges vielfältige Personen und Positionen, die ihn leidenschaftlich befürworten oder mit guten Gründen ablehnen. Äußerst selten gibt es einen Text, der sowohl bei der Politik zum Krieg als auch bei der Politik im Krieg eine zentrale Rolle spielt. Im Kontext des Ersten Weltkrieges gab es einen solchen Text. Er wurde bereits Ende des 19. Jahrhunderts angedacht, aber erst zu Beginn des folgenden ausformuliert, im Jahr 1905 abgeschlossen und dann politisch bedeutsam. Dieser Text ist ein eigentümlicher Text, der lange Zeit nicht der Öffent-
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8. Die Politik des Krieges
lichkeit und der Geschichts- und Politikwissenschaft, sondern nur ausgewählten militärischen und politischen Kreisen im Vorfeld des Krieges zugänglich war. Erst 1956 wurden die verschiedenen Versionen von dem Historiker Gerhard Ritter zugänglich gemacht und in seinem bahnbrechenden Buch „Der Schlieffen-Plan. Kritik eines Mythos“ veröffentlicht.11 Dieser Plan hatte nicht nur in der Diskussion um die Schuldfrage für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges eine große Bedeutung, sondern war auch im Kontext des faktischen Ausbruches und des konkreten Verlaufs ein Plan, der eine überragende Rolle spielte. Von Schlieffens Nachfolger als Generalstabschef des Deutschen Heeres, Helmuth von Moltke d.J., hat diesen Plan zwar variiert und an Veränderungen der innen- und außenpolitischen Lage angepasst, aber in seinem Kern übernommen und ausgeführt. Ein erheblicher und vor allem wichtiger Teil der militärischen Kriegführung im Ersten Weltkrieg wurde nach den Prämissen des Schlieffenplans vollzogen.12 Später haben viele Historiker und politische Denker für die Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg die Abweichungen von diesem Plan durch von Moltke ins Feld geführt, während bei einer getreuen Umsetzung der militärische Erfolg Deutschlands gewiss gewesen wäre. Solche ex post Erklärungen sind immer problematisch, aber sie machen deutlich, welche zentrale Rolle dieser Plan auch nach dem Krieg in der Diskussion um die Schuldfrage und den Misserfolg des Ersten Weltkrieges hatte. Bei den damals verantwortlichen Politikern hat er ebenfalls eine große Rolle gespielt, weil sie ihn nicht nur in seinen Grundzügen kannten, sondern ihn vor allem auch für realisierbar hielten. Mit seiner Hilfe sollte der Erste Weltkrieg gewonnen werden. Der Schlieffenplan ist also der Schlüsseltext für das Verständnis des Ersten Weltkrieges und der Politik zum und der Politik im Krieg. Von Schlieffen hatte sich nicht darauf beschränkt, nur „den ersten Aufmarsch der deutschen Heere festzulegen und das weitere Vorgehen, je nach dem Wechsel der Situationen und dem Verhalten des Gegners, der Genialität des Heeresführers, seinem Einfallsreichtum und seiner Willensenergie zu überlassen. Vielmehr versuchte er den Verlauf des gesamten Feldzuges bis in Einzelheiten im Voraus zu bestimmen: als eine streng geschlossene, zentral gesteuerte Gesamtaktion des Millionenheeres, und zwar auf Grund eines einzigen operativen Prinzips.“13
Das zentrale operative Prinzip war, den Sieg über Frankreich möglichst schnell und als Umgehungsmanöver durch Flankenangriffe zu erzielen. Hinzu kommt, dass dieses Dokument von der politischen Führung mehr oder weniger vollständig akzeptiert wurde, ohne die politischen Konsequenzen dieses Planes zu bedenken. Wie in keinem anderen zeitgenössischen Dokument kommt in ihm die ‚Torheit der Regierenden‘ zum Ausdruck.14 Die politische Torheit – dies sei hier vorweggenommen – ist ein Verhalten der militärischen wie politischen Akteure, das grundlegende Prämissen einer verantwortungsbewussten Politik vermissen und
8.1. Die Politik zum Krieg und die Politik im Krieg
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die ‚Staatskunst‘ hinter dem ‚Kriegshandwerk‘ verschwinden lässt.15 Sie hält entgegen fundierter und begründeter öffentlicher Kritik und gangbarerer Alternativen an einmal formulierten Prämissen fest, die jedoch das angestrebte politische Handeln als kontraproduktiv und im übergeordneten Interesse als nicht sinnvoll erscheinen lässt. Der Schlieffenplan war genau solch ein Plan, der die Politik bzw. die ‚Staatskunst‘ durch das reine ‚Kriegshandwerk‘ ersetzte und die ‚Torheit der Regierenden‘ überdeutlich werden ließ, als sie diesen Plan akzeptierten.
8.1.1. Der Schlieffenplan als Politik zum und als Politik im Krieg Was sind nun die zentralen Grundprämissen des Schlieffenplanes? Wie sieht er die politische und die militärische Lage um die Jahrhundertwende? Welche Variationen hatte er bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges erfahren und welche Rolle dann im Krieg selbst gespielt? Alfred Graf von Schlieffen war bereits am Ende des 19. Jahrhunderts ein radikaler Verfechter eines Präventivkrieges gegen potentiell feindliche Mächte, v. a. gegen Frankreich und Russland. In dem zentralen und in gewisser Weise seine Überlegungen abschließenden Dokument von 1905 wird an einem Krieg mit Frankreich nicht mehr gezweifelt, er ist als Prämisse gesetzt. Er muss geführt werden – aus welchen Gründen auch immer. Diese Position wurde von der hohen Generalität der damaligen Zeit vollständig geteilt und man fragte sich nicht, ob ein Krieg sinnvoll sei, sondern nur wie er gewonnen werden kann. Wie bei allen militärischen Plänen wird auch das mögliche Verhalten der Gegner in die Überlegungen mit einbezogen und in die eigenen Strategien und Taktiken eingebaut. Alle späteren Kriegsbeteiligten hatten selbstverständlich detaillierte Pläne über die möglichen Aufmärsche und Kriegsstrategien der jeweiligen Gegner, aber bei keinem war der Verlauf des Krieges so detailliert durchgeplant wie bei den Deutschen im Schlieffenplan.16 Zudem fällt bei der Lektüre die überbordende Gewissheit der Militärs auf, diesen Krieg unter allen Umständen zu gewinnen. Unerwartetes oder gar ein Scheitern des Planes war nicht vorgesehen und legt eine strategische Inflexibilität fest, die erstaunlich ist und im Zweifelsfall im negativen Sinne kriegsentscheidend sein kann. Schon der erste Satz des Planes irritiert: „In einem Krieg gegen Deutschland wird sich Frankreich, besonders solange es auf wirksame Unterstützung Rußlands nicht rechnen kann, voraussichtlich zunächst auf die Verteidigung beschränken. Für diesen Zweck hat es sich schon seit langer Zeit eine zum großen Teil dauernd ausgebaute Stellung vorbereitet, in welcher die großen Festungen Belfort, Epinal, Toul und Verdun die Hauptstützpunkte ausmachen.“17
Diese Stellungen – so der Text weiter – können von den französischen Truppen gehalten werden und bieten „dem Angriff große Schwierigkeiten.“ Während im ersten Satz von einem Krieg Frankreichs ‚gegen Deutschland‘ gesprochen wird,
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8. Die Politik des Krieges
folgt dann schnell die Umkehrung: Ein ‚Angriff‘ der Deutschen Truppen würde an diesen Festungen in große Schwierigkeiten kommen und deshalb muss der Angriff gegen Frankreich anders erfolgen. Nun und im Folgenden ist klar, dass Deutschland angreifen wird, ja muss – eine Prämisse, die von Schlieffen bereits 1901 formulierte. Ausgangspunkt aller militärischer Planung müsste die Vernichtung18 des Feindes sein: „Nicht der Wunsch, nicht geschlagen zu werden, sondern das brennende Verlangen, den Feind zu schlagen, muss die Entschließung bestimmen (…).“19 Und entsprechend heißt es dann 1905: „Die meiste Aussicht auf einen Erfolg bietet ein Angriff auf dem rechten Flügel der Moselforts (Fort Ballon de Servance). Die Überwindung der hier vorhandenen Geländeschwierigkeiten ist jedoch noch nicht genug vorbereitet.“
Und so geht es dann weiter, es werden diese oder jene Hindernisse und Gefahren aufgezählt, die dann summiert werden. Daraus schlussfolgert der Bericht: „Wenig vertrauensvoll wird man an einen Angriff auf diese vielen starken Stellungen gehen. Mehr versprechend als der Frontalangriff mit Umfassung des linken Flügels scheint ein von Nordwesten gegen die Flanken bei Mèzières, Rethel, La Fère und über die Oise gegen den Rücken der Stellung gerichteter Angriff zu sein. Um zu diesem zu gelangen, muß die belgisch-französische Grenze auf dem linken Maasufer mit den befestigten Plätzen Mèziéres, Hirson, Maubeuge, 3 kleinen Sperrforts, Lile, Dünkirchen bewältigt und, um so weit zu kommen, die Neutralität von Luxemburg, Belgien und den Niederlanden verletzt werden.“
Es sind zum großen Teil hoch technisch-militärische Überlegungen, die immer wieder angestellt werden, aber die politische Dimension ist deutlich: Es geht um die Militarisierung der Politik. In dem gesamten Plan dominieren die militärischen Überlegungen. Die in obigem Zitat postulierte Verletzung der Neutralität gleich dreier Staaten wird in dem Plan hinsichtlich möglicher Folgen kurz diskutiert, aber als Marginalie abgetan. Die damit verbundenen politischen Folgen werden ebenfalls nicht umfassend erwähnt, sondern als unvermeidlich für die erfolgreiche Führung des Krieges dargestellt. „Wenn die Deutschen unter Sicherung gegen Antwerpen, Lüttich und Namur vorrücken, so finden sie eine befestigte, aber nicht ín so ausgedehnter und gründlicher Weise befestigte Grenze vor sich, wie es die gegen Deutschland gerichtete ist. Wollen die Franzosen sie verteidigen, so müssen sie Armeekorps und Armeen aus der ursprünglichen Front nach der bedrohten Front schieben und zurückgehaltene Reserven, z.B. die Korps an der Alpengrenze dorthin vorführen. (…) Sie werden daher wahrscheinlich auf den Versuch, eine so übermäßige lange Linie zu besetzen, verzichten und mit allen Truppen, die sie zusammenraffen können, die Offensive gegen die drohende Invasion ergreifen. Mögen sie angreifen oder verteidigen, so ist es nicht unwahrscheinlich, daß es in der Nähe der Grenze Mèziéres-Dünkirchen zum Zusammenstoß und Kampf kommt, und für diesen Kampf sich möglichst stark zu machen, ist die Aufgabe der Deutschen. Wenn auch dieser Kampf nicht erfolgen und die Franzosen hinter der Aisne bleiben sollten, so wird doch ein starker deutscher rechter Flügel auch für die ferneren Operationen von größtem Wert sein.“
8.1. Die Politik zum Krieg und die Politik im Krieg
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Auch über die logistischen Rahmenbedingungen macht der Plan Ausführungen, wie etwa bei den Kapazitäten der Eisenbahn für den Aufmarsch des deutschen Heeres. Es sollten „23 Armeekorps, 12 ½ Reservekorps und 8 Kavallerie-Divisionen versammelt werden, um demnächst mit einer Linksschwenkung gegen die Linie Verdun-Dünkirchen vorzurücken.“ An vielen weiteren Stellen wird in immer neuen Anläufen formuliert, wie viele Armeen, Armeekorps, Reservekorps, Reservedivisionen, Jägerbataillone oder Landwehrbrigaden u. ä. eingesetzt werden und wann sie nach rechts oder links abschwenken sollen, um die Franzosen zu schlagen. Aber es geht nicht nur um einen Sieg über die Franzosen, es geht um mehr: „Das französische Heer muss vernichtet werden.“ Der Begriff der Vernichtung bezieht sich hier auf das Heer, also die militärische Dimension, während er im Kontext des Zweiten Weltkrieges ausgedehnt wurde und nun die Vernichtung von Völkern bzw. Rassen umfasste. Nicht nur der Plan, sondern auch von Schlieffen selbst und später von Moltke befürworteten einen Präventivkrieg gegen Frankreich, weil es selbst einen Krieg gegen Deutschland vorbereite.20 Aber von Schlieffen (und manche der Militärs der Obersten Heeresleitung) standen mit dieser Einschätzung allein da, denn das Außenministerium kam zu einer gegenteiligen Ansicht: Frankreich bereite momentan keinen Krieg gegen Deutschland vor.21 Obwohl in dem Plan selbst nichts über die Rolle Russlands in einem möglichen Krieg gegen Frankreich als dessen Verbündeter zu lesen war, hatte sich von Schlieffen intensiv mit Russland beschäftigt. In einem Brief an Reichkanzler Bernhard von Bülow aus dem Jahr 1905 betont er, dass Russland zwar ein möglicher Gegner bei einem Krieg gegen Frankreich werden könnte, aber dass sich das russische Heer im Krieg gegen Japan aufgerieben hätte und ein schneller Wiederaufbau nicht zu erwarten sei. Zudem sei es moralisch und disziplinär unterentwickelt und kein ernst zu nehmender Gegner. Dies mag einer der Gründe gewesen sein, warum Russland in dem Plan von 1905 nicht erwähnt wird.22 Von Moltke d.J. besaß ein Originalexemplar dieses Planes, das ihm von Schlieffen ausgehändigt hatte und er dann mit verschiedenen Randbemerkungen versah, aber machte es seinen Mitarbeitern nie zugänglich. Gleichwohl waren die Grundideen des Planes, v. a. wegen von Schlieffens Führungsstil und wegen gründlicher Weiterbildung, bei der Führungselite des Militärs in „Fleisch und Blut übergegangen.“23 Auch wollte von Moltke die Differenzen zu von Schlieffen und seine Anpassungen an die neue Ausgangslage nicht öffentlich machen. Aber Reichsregierung und Kriegsministerium wussten sehr wohl darüber Bescheid, unter anderem deshalb, weil von Moltke (wie auch vor ihm von Schlieffen) seine Pläne für eine massive Truppenverstärkung so leichter durchzusetzen glaubte. Reichskanzler Bethmann Hollweg und der Staatssekretär des Äußeren, Gottlieb von Jagow, kannten den Schlieffen-Moltke-Plan in allen Details.24
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8. Die Politik des Krieges
In seiner Gänze verfolgt der Schlieffenplan die Idee, dass Deutschland keine defensive oder gar nur reagierende, sondern eine offensive und vor allem präventive Kriegsführung vollziehen soll. Zentral war die Idee, einen zeitgleichen Zweifrontenkrieg gegen Frankreich und Russland zu vermeiden und stattdessen einen zeitlich abgestuften ‚Einfrontenkrieg‘ zu verfolgen. Die erste Front sollte schnell und initiativ gegen Frankreich eröffnet werden, hierzu hatte der Plan alle wesentlichen Details minutiös entwickelt. Eine Vernichtungsschlacht mit Hilfe eines starken rechten Flügels und eines schnellstmöglichen Durchmarsches durch die neutralen Länder Belgien, Luxemburg und die Niederlande sollte innerhalb von rund sieben Wochen den Sieg erbringen. Danach sollten die Deutschen Truppen unverzüglich mit der Eisenbahn an die Ostfront transportiert werden und diese verstärken, bevor Russland seine weit langsamere Mobilisierung abgeschlossen hätte. Der Schlieffen-Moltke-Plan unterschied sich vom ursprünglichen Plan dadurch, dass Moltke den linken Flügel des Deutschen Heeres stärker machte, den Durchmarsch durch das neutrale Holland nicht anging und auf eine schnelle Eroberung von Lüttich setzte.25 Der Deutsche Generalstab und die Deutschen Truppen folgten dem Plan mit einer „in der Kriegsgeschichte wohl einmaligen Präzision.“26 Aber der Nachschub verlief unorganisiert, man hatte die öffentlichen Reaktionen auf die Verletzung der Neutralität Belgiens und Luxemburgs unterschätzt. Aber weit wichtiger: Die Deutschen Truppen waren völlig erschöpft, zu diesem Zeitpunkt nicht mehr voll kampffähig und der Transport an die Ostgrenze verlief nicht in der Reibungslosigkeit wie geplant. Am Beispiel dieses Planes kann man beobachten, wie die Militärs und die hohe Generalität die Politik im Krieg in ihrem Sinne zu beeinflussen versuchten. Die destruktive Dynamik des Schlieffenplans wurde bei der einsetzenden Mobilisierung der jeweiligen Truppen überdeutlich. Die deutsche Mobilisierung unterschied sich qualitativ von der aller anderen europäischen Mächte, v. a. von Russland, England und Frankreich als den wichtigsten der Entente. Im Unterschied zu Russland und Frankreich, die ihre Mobilmachungen in letzter Sekunde an den Grenzen hätten stoppen, sich gegen einen Krieg entscheiden und eine Remobilisierung in den Weg hätten leiten können, war dieser Weg den Deutschen versperrt. War die Mobilmachung entlang der Prämissen des Schlieffenplans erst einmal in Gang gesetzt, „war ein Krieg besiegelte Sache, denn mit ihr einher ging – noch ehe eine Kriegserklärung erfolgt war –, dass deutsche Truppen sofort Richtung Luxemburg und Belgien marschieren und deren Neutralität verletzen würden. Bei diesem Vorgehen waren diplomatische Lösungen in letzter Minute ausgeschlossen (…). Die deutsche Entscheidung (war) unwiderruflich und unumkehrbar.“27
Eine weitere, nicht weniger weitreichende Entscheidung war ebenfalls mit dem Plan verbunden. Die Unterstützung Österreich-Ungarns im Krieg gegen Serbien
8.1. Die Politik zum Krieg und die Politik im Krieg
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wurde faktisch unbedeutend. Stattdessen sollte Österreich-Ungarn seine Hauptkräfte gegen Russland einsetzen und sich nicht durch ein Vorgehen gegen Serbien selbst schwächen. Dies sei – so Kaiser Wilhelm II. in einer Botschaft an den österreichisch-ungarischen Kaiser Franz-Joseph – „umso wichtiger, als ein großer Teil meines Heeres durch Frankreich gebunden sein wird.“ In der Tat, der Schlieffenplan sah genau dies vor und die deutsche Reichsregierung handelte und schrieb entsprechend: „Serbien spielt in diesem Riesenkampfe, in den wir Schulter an Schulter eintreten, eine ganz nebensächliche Rolle, die nur die allerwichtigsten Defensivmaßnahmen erfordert.“28 In Wien war man angesichts solch deutlich formulierter Erwartungen entsetzt und wusste nicht, wie man mit dieser neuen Situation umgehen sollte. Während Kaiser Franz-Joseph eher den deutschen Forderungen entsprechen wollte, waren andere politische und v. a. militärische Kräfte strikt dagegen. Sie wollten wegen des Attentats von Sarajewo weiterhin militärisch gegen Serbien vorgehen. Unübersehbar aber war wenige Tage nach dem Attentat, dass dies nur ein kontingenter Anlass war, einen ganz anderen und seit langem geplanten Krieg zu führen, der mit dem Attentat im Kern nichts zu tun hatte (vgl. dazu oben Kap. 6.4.). Nun sollte sich Österreich-Ungarn den Deutschen unterwerfen und den Krieg nach ihren Vorstellungen führen. Nachdem die Weichen so gestellt waren, wurden die Militärs gegenüber der Politik dominant. In allen wichtigen Ländern bestanden sie darauf, dass ihre Pläne und Mobilisierungsstrategien zum Einsatz kamen. „Allerdings ließen sich in Deutschland und Österreich die Politiker und Diplomaten schneller von dem neuen Primat des Militärischen überzeugen als bei den Entente-Mächten, wo politische und diplomatische Argumente noch etwas länger im Vordergrund standen.“29
In Russland verzögerte der Zar die Mobilmachung, in Großbritannien unternahm die Regierung einen letzten Versuch, zwischen Deutschland und Frankreich zu vermitteln und auf Einhaltung der belgischen Neutralität zu pochen. Hier verweigerte sich Deutschland konsequent, denn der Schlieffenplan sah genau das als unhintergehbare militärische Strategie vor. Und Frankreichs Regierung stoppte seine Truppen zum Entsetzen seiner Militärs zehn Kilometer vor der Grenze zu Deutschland. Aber alle Versuche waren – aus den verschiedensten Gründen – nicht erfolgreich. Und die Dinge, besser: Der Krieg nahm seinen Lauf. Die Militarisierung der Politik und die Dominanz der Militärs samt ihren Aufmarschund Mobilisierungsplänen hatten nun endgültig die Politik in einen niedrigeren Rang versetzt. In Deutschland war die Militarisierung der Politik am dramatischsten ausgeprägt und hatte die weitreichendsten Folgen. Am 2. August 1914 stellte Deutschland Belgien ein zwölfstündiges Ultimatum. Es sollte entweder die deutschen Truppen durch sein Gebiet marschieren lassen
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8. Die Politik des Krieges
oder es würde sich auf die Seite der Feinde Deutschlands stellen und hätte die entsprechenden Folgen zu tragen. Dieses Ultimatum war bereits am 26. Juli vom „Generalstabschef aufgesetzt worden – ein erstaunlicher Übergriff des Militärs gegenüber der Politik und befand sich seit dem 29. Juli in einem verschlossenen Umschlag im Besitz des deutschen Gesandten Below in Brüssel (…).“30
Die Dominanz des militärisch-strategischen Denkens gegenüber der Politik war in den zwei, drei Jahren vor Kriegsbeginn noch nicht voll ausgeprägt. Aber der Schlieffenplan formulierte bereits früh eine Option, die einen kurzen und siegreichen Krieg versprach und zugleich an zwei Fronten geführt werden sollte. Allerdings nur dann, wenn das deutsche Heer seine Hauptkräfte zunächst gegen Frankreich ins Feld führt und es in einem schnellen Krieg besiegt. Der Zeitfaktor war zentral, denn nur wenn Frankreich schnell niedergeworfen werden konnte, konnten die Militärs wichtige Truppenteile von dieser Front abziehen und dann gegen Russland ins Feld führen. Die russische Mobilmachung – so das Kalkül der Militärs – würde erheblich länger dauern und währenddessen konnte der Krieg gegen Frankreich siegreich sein. Und vergleicht man die fast militärische Detailversessenheit, mit der der Schlieffen- und später Moltke-Plan den Krieg gegen Frankreich plante, so erstaunt das strategische Schweigen gegenüber dem Krieg gegen Russland. Offensichtlich vertraute von Schlieffen auf die hohe Operationsfähigkeit der Führungskräfte des deutschen Heeres.31 Aber erneut gilt: Der deutsche Generalstab dachte und plante vorwiegend militärisch und nicht politisch. Allerdings wäre es wichtiger gewesen, „wenn der Generalstab unter Kontrolle der politischen Führung gestanden und diese seine Planungen als unverantwortlich verworfen hätte. (…) Der immer wieder kritisierte Fatalismus, den Reichskanzler Theobald von Bethmann-Hollweg in den Tagen vor Kriegsausbruch an den Tag legte, war auch eine Folge dessen, dass ihm aufgrund dieser Planungen des Militärs keine politischen Alternativen zur Verfügung standen.“32
Unverkennbar war sowohl bei von Schlieffen als auch bei dem melancholischen, ja teilweise depressiven von Moltke die Idee eines auf Vernichtung des Feindes zielenden Präventivkrieges, um so die Chance auf einen Sieg zu erhöhen. Aber der Krieg selbst stand bei beiden nicht mehr zur Disposition. Er wurde nicht nur als unvermeidlich betrachtet, so wie am Abend die Sonne untergeht, sondern als erwünscht, ja herbeigesehnt und schließlich herbeigeplant. Vielleicht kann man die Grundideen des Planes in folgenden vier Kernelementen zusammenfassen. Das Deutsche Reich wird einen Krieg gegen eine Koalition führen, der als präventiver Angriffskrieg angelegt sein muss. Dieser wird die völkerrechtlichen und politischen Rahmenbedingungen ignorieren und die Handlungsspielräume der Politik durch militärstrategische ‚Notwendigkeiten‘ so weit wie möglich einschränken, um drittens die militärische Vernichtung der feindlichen Streitkräfte zu realisieren, was schließlich und viertens durch die militärische Strategie der ‚rechten Flanke‘ erreicht werden soll.
8.1. Die Politik zum Krieg und die Politik im Krieg
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Der bereits erwähnte Historiker Gerhard Ritter hat das Verhältnis der Politik zum Militär bzw. der Heeresführung so zusammengefasst, dass der Schlieffenbzw. Moltke-Plan für die deutsche Politik äußerst verhängnisvoll war, weil die politische Spitze des Deutschen Reiches diesen Plan „ohne Widerspruch, ja ohne die politischen Konsequenzen auch nur gründlich zu durchdenken und durchzuberaten, hingenommen hat.“33 Aber man kann das Verhältnis zwischen Politik und Militär noch radikaler formulieren: „Im Vergleich zu Moltke (dem Älteren, F.W.R.) verliert bei Schlieffen die Politik noch mehr an Einfluss gegenüber der Strategie und Kriegführung. Hat einmal die politische Führung den Krieg erklärt, dann bestimmt der Operationsplan nicht nur die Kriegführung, sondern auch die weiteren politischen Schritte. Die Politik hat abzudanken.“34
Es gab selbstverständlich bei allen großen Mächten, insbesondere Frankreich, Russland und England, strategische Pläne für einen möglichen Krieg, deren Qualität und Realitätssinn durchaus unterschiedlich waren.35 Aber bei keinem war die Dominanz des Militärs gegenüber der Politik so radikal gefordert wie beim Schlieffen-Moltke-Plan. Dies zeichnete sich bereits vor dem Krieg ab, im Krieg selbst spielte die Politik keine Rolle mehr, die Reichsregierung wurde zum verlängerten Arm des Militärs. Erst als die Niederlage unvermeidlich und auch von den Militärs nicht länger zu verdrängen war, eroberte sich die Politik ihre Stellung zurück und übernahm die Führung bei der Beendigung des Krieges durch einen Waffenstillstand und schließlich bei den Friedensbemühungen. Die ‚Torheit der Regierenden‘36, die sich in der Anerkennung des Militärs als im Kern einzigen und dominanten politischen Akteur niedergeschlagen hatte, fand nun ein vorläufiges Ende. Die Beendigung des Krieges wurde erneut zum Gegenstand der Politik, die ihr Primat gegenüber dem Militär zurück erkämpfte. Nur so konnte ein Friedensprozess ohne eine totale Niederlage möglich werden.
8.1.2. Die Beendigung des Krieges: Die Rückeroberung des Primats der Politik gegenüber dem Militär Wie nach den meisten Kriegen erfolgt die Friedensschaffung in mehreren Schritten. Ein Waffenstillstandsabkommen beendet die gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen den Kriegsparteien. Es ist ein hochpolitisches Mittel (im Gegensatz etwa zur Waffenruhe, die dem Austausch von Gefallenen, der Bergung Verletzter, der Evakuierung der Zivilbevölkerung u. ä. dienen kann), das bereits auf den Abschluss eines Friedensvertrages gerichtet ist. Erst ein Friedensvertrag führt definitiv zur Beendigung des Kriegszustandes und formuliert den Willen aller Beteiligten, die Beziehungen auf Dauer friedlich und nicht länger kriegerisch zu gestalten. Oft sind solche Verträge mit der Besetzung des Gebietes der unterlegenen politischen Kräfte oder Staaten verbunden, um den Frieden gegenüber den Be-
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8. Die Politik des Krieges
siegten auch faktisch und auf Dauer durchzusetzen.37 Und so war es auch bei der Beendigung des Ersten Weltkrieges. Am 11. November 1918 wurde im Wald von Compiègne der Waffenstillstand unterzeichnet. Rund ein halbes Jahr später, am 28. Juni 1919, unterzeichnete die deutsche Delegation der ersten demokratisch gewählten Regierung den Friedensvertrag im Spiegelsaal von Versailles. Ausgehandelt wurde er ohne Beteiligung der Verlierermächte Deutschland und Österreich – und auch Russland war nicht an den Verhandlungen beteiligt. Russland war tief in seinen Bürgerkrieg zwischen den Roten und den Weißen verwickelt und kaum regierbar. Die Westmächte hatten bei diesem Krieg ihre Finger im Spiel und unterstützten – jeder auf seine Weise – die Weißen und andere antisozialistische Kräfte gegen die sozialistische Regierung unter Lenin. Nur am Rande einbezogen waren Italien und Japan, die ebenfalls am Ersten Weltkrieg beteiligt waren und sich davon weit mehr versprochen hatten als dann in diesem Vertrag geregelt wurde. Dass Deutschland und Österreich nicht an den Verhandlungen teilnehmen und ihre Vorstellungen und Interessen einbringen konnten, hatte nicht nur auf den Inhalt des Vertrages erhebliche Auswirkungen. Es stellte zugleich einen Bruch mit vielen bisherigen Friedensverhandlungen dar, an denen immer auch die Verlierer als gleichwertige Partner beteiligt wurden. Der Kontrast zu vielen vorangegangenen Friedensverhandlungen der europäischen Mächte konnte kaum größer sein. Der Versailler Vertrag war das Ergebnis eines Kompromisses zwischen den drei westlichen Siegermächten Frankreich, Großbritannien und den Vereinigten Staaten. Frankreich hatte am meisten unter dem Krieg gelitten, er wurde im Westen fast ausschließlich auf französischem Territorium ausgetragen und die Front der Kriegsgegner verlief zum größten Teil mitten durch Frankreich. Frankreich war Deutschland auch nach dem siegreichen Krieg, an dem auch Großbritannien und die Vereinigten Staaten wesentlichen Anteil hatten, wirtschaftlich wie von der Bevölkerungszahl her unterlegen. Insofern war das Interesse groß, Deutschland kleinzuhalten und nachhaltig zu schwächen. Vieles konnte die französische Regierung durchsetzen, aber die beiden weiteren Mächte hatten andere Interessen. Die britische Position war von völlig anderen Überlegungen geprägt, konkret von einem Ausgleich oder gar Gleichgewicht der europäischen Großmächte. Obwohl Russland durch den Bürgerkrieg militärisch bereits erheblich geschwächt war, sollte durch eine zu starke Schwächung Deutschlands ein Machtvakuum gegenüber Russland verhindert werden. Deutschland musste deshalb eine gewisse ökonomische wie auch militärische Stärke behalten, ohne jedoch den Siegermächten gefährlich werden zu können. Zudem wollten die Briten die Vorherrschaft auf den Weltmeeren behalten und traten deshalb für eine dramatische Schwächung der deutschen Flotte ein, was ebenfalls seinen Niederschlag im Vertrag von Versailles fand. Die Reparationsforderungen waren bei Weitem nicht so
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hoch wie die von Frankreich, aber mussten gleichwohl aufgrund des erheblichen innenpolitischen Drucks aufrechterhalten werden. Doch die britische Regierung sah sehr wohl, dass überzogene oder nicht erfüllbare Forderungen einen neuen Krieg provozieren könnten – und das wollte man auf jeden Fall vermeiden. Die amerikanische Regierung unter Woodrow Wilson hatte bereits im Januar 1918 mit ihrem sogenannten 14-Punkte-Plan einen Vorschlag unterbreitet, aufgrund dessen die Reichsregierung und das Militär einen Waffenstillstand für vertretbar hielten. Diese 14 Punkte waren sehr vage gehalten und ließen viele Optionen für die beteiligten Mächte offen. Sie sahen Rüstungsbeschränkungen und eine Umwandlung der Armee in eine Polizei-Miliz vor, die Wiederherstellung Belgiens in den alten Grenzen, eine neue Grenzziehung gegenüber Frankreich, die finanzielle Wiedergutmachung der Kriegsschäden durch Deutschland, das Verbot von Geheimdiplomatie und vor allem den Aufbau eines Völkerbundes als internationale Schiedsstelle bei Auftreten politischer oder anderer Konflikte.38 Aber Deutschland hätte auf jeden Fall einen erheblichen Teil seines bisherigen Staatsgebietes abtreten müssen. Wie kam es zum Eingeständnis der Niederlage Deutschlands und zur Beendigung des Krieges? Es war ein komplizierter Prozess, in dem Teile des Militärs den wahren Zustand auf dem Feld ignorierten bzw. den Politikern vorenthielten und an der Fortsetzung des Krieges festhielten. Entscheidend war schließlich die Rückeroberung des Primats der Politik gegenüber der Obersten Heeresleitung unter Ludendorff. Erst als sich die Politik ihrer Eigenständigkeit erinnerte und diese durch neues Personal, v. a. in der Person des Reichskanzlers Max von Baden, massiv durchsetzte, wurden Waffenstillstands- und Friedensverhandlungen politische Optionen zur Beendigung des Krieges. Die Oberste Heeresleitung unter der Führung von Erich Ludendorff lehnte zunächst alle Waffenstillstands- und Friedensverhandlungen entschieden ab. Sie wollte – solange ihrer Einschätzung nach noch eine minimale Chance auf einen Sieg bestand – den Krieg weiter führen. Diplomatische Gespräche waren für sie identisch mit „Unterwerfungsgesten und Verzichtserklärungen.“39 Ludendorff schrieb an den Kaiser, dass man siegen müsse um die Weltstellung zu halten. Admiral von Müller nahm die gegensätzliche Position ein, was eine Notiz über ein am 24. August 1919 geführtes Gespräch im Großen Hauptquartier in Kreuznach überdeutlich macht: „Sehr verständig sprach er (Michaelis) über die Kriegsziele und stellte sich dabei im Gegensatz zu Ludendorff, der erklärt hatte, es wäre besser, das Deutsche Rech ginge unter, als dass es einen Verzichtsfrieden mache, während er – Kanzler – sagte, ein Friede, in welchem wir uns gegen die ungeheure Übermacht unserer Feinde behaupten, ließe uns groß und zukunftsreich dastehen in der Welt.“40
Sieht man einmal vom Realitätsverlust ab, der in diesen Aussagen deutlich wird, so werden hier die Alternativen sichtbar, vor denen das Deutsche Reich stand.
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8. Die Politik des Krieges
Ludendorff hielt an der Weiterführung des Krieges fest – im Zweifelsfall bis zur völligen Niederlage. Hätten die Politik bzw. die führenden Politiker die Kraft besessen, ihre Vorstellungen zu realisieren, so hätten sie Ludendorff entlassen und durch einen moderaten Militär ersetzen müssen, der nicht nur die Lage realistisch betrachtet, sondern auch den Primat der Politik als Selbstverständlichkeit akzeptiert hätte. Kaiser Wilhelm II. hatte das Monopol des Handelns bereits an das Militär verloren und eine Ablösung des Kaisers war faktisch unmöglich; auch musste sein Nachfolger nach der Thronfolge bestimmt werden und so konnte es nur der Kronprinz sein. Neben anderen Faktoren wurde hier die Schwäche der Monarchie besonders deutlich, weil sie einen Wechsel des Personals an der Spitze des Staates fast unmöglich machte, während dieser in den Demokratien, konkret Frankreich, England und in den USA, weit einfacher gewesen wäre. So blieben Ludendorff und der militärische Optimismus der Obersten Heeresleitung dominant und bestimmten die Leitlinien der Politik. Ludendorff war stark und durchsetzungsfähig und „seine operativen Planungen (wurden) zum Politikersatz in Deutschland und die Friedensinitiativen (blieben) im Ansatz stecken.“41 Alle militärischen Offensiven, die Ludendorff zur Wendung der bereits fatalen Ausgangslage an der Westfront unternahm, scheiterten nach anfänglichen Erfolgen. Einen Rückzug verweigerte er strikt, während anderen Militärs immer klarer wurde, dass ihm die Einsicht fehlte und er nicht in der Lage war, entsprechende Schlussfolgerungen zu ziehen. Sein „irrationaler Starrsinn“42 wurde erkannt und auch kritisiert. Dennoch konnte er in den letzten Monaten des Krieges noch einen großen Erfolg gegenüber der Politik erzielen. So hatte er maßgeblich am Sturz des wichtigen Staatsministers im Auswärtigen Amt, Richard von Kühlmanns, mitgewirkt, der den anderen Mächten nach dem Scheitern aller Frühjahrsoffensiven Waffenstillstands- und Friedensgespräche anbieten wollte. Die politischen Parteien verteidigten von Kühlmann nicht, auch nicht die SPDReichstagsfraktion, die den Frieden wollte. Stattdessen opferte die Reichstagsmehrheit den in ihrem Sinne politisch agierenden von Kühlmann, der am 8. Juli von Kaiser Wilhelm II. in den Ruhestand geschickt wurde. „Abermals hatte die Politik gegenüber den Militärs klein beigegeben: Statt den Konflikt mit der Obersten Heeresleitung zu suchen, hatten sich die Abgeordneten in die bequeme und vertraute Rolle von Beobachtern und Kommentatoren des politischen Geschehens zurückgezogen. Als sie die Gelegenheit beim Schopfe hätten packen und Politik hätten machen müssen, zögerten sie, zweifelten, besprachen sich – handelten aber nicht.“43
Waffenstillstands- und Friedensverhandlungen waren offensichtlich nur gegen den massiven und erbitterten Widerstand von Teilen des Militärs durchsetzbar. Erst wenn sich die Politik ihren Primat zurückerobert hätte, wären solche Verhandlungen eine realistische Perspektive gewesen. Zunächst aber hatte der Einbruch der militärischen Wirklichkeit bei Ludendorff einen Nervenzusammen-
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bruch ausgelöst, als ihm die aussichtslose Lage endlich klar wurde. Sodann informierte er gemeinsam mit Hindenburg den Kaiser und erklärte, die Armee „wäre am Ende ihrer Kräfte angelangt und wir müssten Frieden schließen.“44 Der Kaiser hat das ziemlich gelassen aufgenommen und kommentierte nur, dass ihm ein früheres Friedensangebot lieber gewesen wäre. Das Militär dominierte die Politik jedoch weiterhin. Erst beim völligen militärischen Zusammenbruch gestand das Militär der Politik widerwillig eine größere Rolle zu. Selbst noch in der Niederlage schlugen manche von ihnen für die Nachkriegszeit eine Regierungsform vor, in der das Militär weiterhin eine zentrale Rolle spielen sollte. Gegenüber Kaiser Wilhelm II. setzten sie auf einen „Mann mit diktatorischer Gewalt nach außen und innen“ und erwarteten, dass dieser einer der hohen Militärs mit Generalsrang sein würde. Dass sich nach der Monarchie nun endlich auch in Deutschland die Idee einer parlamentarischen Demokratie durchsetzen würde, war für einen Teil der hohen Generalität jenseits aller Vorstellungskraft. Anfang Oktober 1918, als Prinz Max von Baden den bisherigen Reichskanzler Georg Graf von Hertling ablöste, veränderte sich das Verhältnis zwischen Militär und Politik grundlegend. Der neue Kanzler setzte Ende Oktober nach langwierigen Kämpfen die Entlassung Ludendorffs durch, indem er Wilhelm II. vor die Wahl stellte, entweder ihn als Reichskanzler zu behalten und Ludendorff von der Spitze der Generalität abzusetzen oder Ludendorff zu behalten und ihn als Kanzler zu verlieren. Der Kaiser entschied sich für Ersteres. Zuvor hatte Ludendorff einen letzten Aufstand gegen die Politik versucht, indem er in einem Erlass an das Heer noch am 24. Oktober formulierte, dass der Widerstand mit allen zur Verfügung stehenden Kräften weiter gehen sollte. Aber nach Ludendorffs erzwungenem Rücktritt war nun der Weg frei für Friedensverhandlungen mit den Siegermächten. Am 11. November wurde der Waffenstillstand im Wald von Compiègne und am 28. Juni 1919 der Versailler Vertrag unterzeichnet. Der amerikanische Kongress verweigerte 1920 die Ratifikation des Vertrages und trat dem Völkerbund nicht bei. Deutschland und die USA mussten einen separaten Friedensvertrag, den Berliner Vertrag, abschließen, der 1921 unterzeichnet wurde. Später folgten noch weitere Friedensverträge. Dabei handelte es sich um die Verträge mit Deutsch-Österreich am 10. September in Saint-German-en-Laye, mit Ungarn am 4. Juni 1920 in Trianon und mit dem Osmanischen Reich am 10. August 1920 in Sèvres. Der Sonderfrieden von Brest-Litowsk mit Russland war bereits Anfang 1918 ausgehandelt und am 3. März unterschrieben worden. Damit war der Erste Weltkrieg beendet.
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8. Die Politik des Krieges
8.2. Der Zweite Weltkrieg als „totaler Krieg“ und die Steigerung der Gewalt ins Unermessliche Der Begriff des totalen Krieges hat sich in das historische Gedächtnis vor allem durch eine Rede im Berliner Sportpalast eingeschrieben. Reichspropagandaminister Joseph Goebbels rief dort am 18. Februar 1943 seinen fanatisierten Zuhörern die Frage zu: „Wollt ihr den totalen Krieg?“ und die Menge grölte jubelnd zurück: „Ja!“. Goebbels wiederholte seine Frage noch zweimal und erhielt immer wieder die gleiche grölende und emphatische Antwort. Da die Rede im Rundfunk übertragen wurde und durch die nationalsozialistische Propaganda breit angekündigt worden war, hatte sie eine immense Wirkung. Die deutsche Bevölkerung war überzeugt, dass der Krieg nach der dramatischen Niederlage der Deutschen Wehrmacht bei Stalingrad intensiviert werden musste – und stimmte Goebbels jubelnd zu. Aber war der Krieg nicht bereits zuvor total? Die zentrale Frage und analytische Herausforderung ist: Wodurch unterscheidet sich der ‚totale‘ Krieg vom normalen Krieg? Was sind seine konstitutiven Merkmale und was ist das Neue an diesem Typus von Krieg? Wie ist hier das Verhältnis zwischen Politik und Militär konzipiert? Diese Fragen sollen hier diskutiert und geklärt werden, auch wenn manches unerwähnt bleiben muss. Ich stelle zunächst exemplarisch die grundlegenden Ideen des totalen Krieges an Hand einer Schrift von 1935 dar, die sowohl eine Interpretation des Konzepts ist als auch eine Intervention in eine konkrete historische Situation (Kap. 8.2.1.). Danach werde ich kurz einige Aspekte der Wirklichkeit des totalen Krieges am Beispiel des Zweiten Weltkrieges beschreiben (Kap. 8.2.2.).
8.2.1. General Erich Ludendorff und das Konzept des totalen Krieges Der Erste Weltkrieg war zwar durch den Vertrag von Versailles beendet, die Diskussion über den Krieg jedoch noch lange nicht. Im Gegenteil, sie nahm gerade erst ihren Anfang und versuchte, Lehren aus dem verlorenen Krieg zu ziehen. Eine der Lehren war, den Krieg zu radikalisieren und alle zukünftigen Kriege als totale Kriege zu führen. Einer der Beteiligten am Ersten Weltkrieg hat eben dies geschlussfolgert.45 Es war General Erich Ludendorff, der im Jahr 1935 ein kleines Buch veröffentlichte, in dem er diese Lehren zieht und im Konzept des totalen Krieges verdichtet.46 Der wegen Friedensunwilligkeit am Ende des Ersten Weltkrieges entlassene General hat nichts umwerfend Neues, geschweige denn eine Theorie des totalen Krieges geschrieben, sondern im Wesentlichen die damaligen Diskussionen gebündelt und zugespitzt. Der Autor ist in seiner Selbstbezeichnung nicht Erich Ludendorff, sondern General Ludendorff, um so seinen Überlegungen als hohe militärische Autorität des
8.2. Der Zweite Weltkrieg als „totaler Krieg“
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Ersten Weltkrieges Nachdruck zu verleihen, vor allem in den Kreisen des Militärs. Besondere Aufmerksamkeit erlangte seine Schrift auch durch die gleichzeitige Einführung der allgemeinen Wehrpflicht durch die Nationalsozialisten. Sie war an die nationalsozialistische Führungselite gerichtet, der Ludendorff nicht nur nahe stand, sondern zu der er gute Kontakte pflegte, auch wenn die Widersprüche gegen Ende seines Lebens zunahmen.47 Immerhin war er in den HitlerPutsch in München involviert, war von 1924 bis 1928 Abgeordneter der Nationalsozialistischen Freiheitspartei und kandidierte bei den Reichspräsidentenwahlen im Jahr 1925 für die NSDAP. Zwei Jahre nach der Veröffentlichung von „Der totale Krieg“ verstarb er 1937 in München. Die Schrift gibt zu den Fragen nach dem totalen Krieg klare und zugleich beunruhigende Antworten. Da der totale Krieg auch die Friedenszeiten bestimmt, also die Zeiten, in denen keine direkten militärischen Auseinandersetzungen stattfinden, ist das Konzept des totalen Krieges im Kern das Konzept einer dauerhaften und totalen Kriegsdiktatur, an deren Spitze ein Führer, bei Ludendorff der Feldherr, steht. Ihm allein unterliegt nicht nur die Befehlsgewalt gegenüber dem Militär, sondern auch gegenüber der Politik, der Wirtschaft und den Finanzen. Der Feldherr steht – in Friedens- wie in Kriegszeiten – an der Spitze des politischen Gemeinwesens, denn auf „allen Gebieten des Lebens muss der Feldherr der Entscheidende und sein Wille maßgeblich sein. (…) Sein Wirken ist umfassend, wie der totale Krieg lebensumfassend ist.“48 „Über die Notwendigkeit seiner Überordnung über den Kriegsminister als Chef der Wehrmachtsverwaltung und des Leiters der Politik kann schon nach den Erfahrungen des Weltkrieges ein Zweifel nicht bestehen.“49
Ludendorff entwirft einen gesellschaftlichen Zustand, der sich immer nur als totale Diktatur des Feldherren und als permanenter Kriegszustand realisieren kann. Der Überlebenskampf des Volkes muss geführt werden, die Feinde sind immer präsent und wollen das (deutsche) Volk vernichten, so wie der Feldherr und sein Volk die anderen vernichten will. Der totale Krieg ist bei ihm ein rassenbiologisch begründeter Überlebens- und Selbsterhaltungsakt des deutschen Volkes gegen seine Feinde und kein rein militärischer Krieg oder gar politischer Akt. Da in diesem Überlebenskampf die völlige Vernichtung droht, ist jeder verpflichtet, alles, in der Tat alles, für diesen Kampf einzusetzen. Indifferenz ist nicht vorgesehen, sondern muss bekämpft und ausgerottet werden. Dieser Krieg beginnt nicht mit einer Kriegserklärung, sondern reicht weit in die Friedenszeit hinein. Insofern ist es schlüssig, dass der Feldherr schon in ‚Friedenszeiten‘ für sein verantwortungsvolles Amt ernannt wird, denn in Friedenzeiten muss die seelische Geschlossenheit des Volkes durch ihn hergestellt werden. Wirtschaft, Finanzen und Politik werden nach seinen Vorstellungen gestaltet und er legt hierfür „in der Politik die Richtlinien fest, die sie im Dienst der Kriegführung zu erfüllen hat.“50
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8. Die Politik des Krieges
Man muss die Passage fast mehrmals lesen, um die Reichweite dieses Satzes zu verstehen: Der Feldherr hat die Richtlinienkompetenz gegenüber der ‚zivilen‘ Politik, die aber dadurch ihren zivilen Charakter verliert – und das selbst in ‚Friedenszeiten‘. Dass dieser Feldherr übermenschliche Eigenschaften haben muss, versteht sich fast von selbst. Ludendorff schreibt darüber ausführlich und zeichnet zugleich ein Bild seiner Selbst, besser: seiner verqueren Selbstwahrnehmung. Der Feldherr muss „einsam“ sein, „auf sich gestellt“, „instinktmäßig und blitzartig, verantwortungsbewusst die schwersten Entschlüsse“ fassen, sein Weitblick „das Heeres- und Volksleben umfassen“, er braucht die „Kraft, unbeschreibbare Verantwortung zu tragen“, zudem „Wille und Charakter“ und dann noch „jenes unwägbare Mitreißende, das von großen Menschen ausgeht“, er muss in Friedenszeiten „die Geschlossenheit des Volkes auf gegebenen völkischen Grundlagen“51 herbeiführen etc. Clausewitz spielt selbstverständlich als zu kritisierender Ausgangspunkt für das Konzept des totalen Krieges eine zentrale Rolle. Kritikwürdig ist seine Beschränkung auf die (feindlichen) Streitkräfte, die vernichtet werden müssten. Diese Beschränkung rechtfertigt seine Einordnung in eine „vergangene weltgeschichtliche Entwicklung“52, die heute nicht mehr gegeben ist. Denn der totale Krieg richtet sich nicht allein gegen eine gegnerische Streitkraft, „sondern auch unmittelbar gegen die Völker. Das ist die unerbittliche und eindeutige Wirklichkeit und alle nur erdenklichen Kriegsmittel werden in den Dienst dieser Wirklichkeit gestellt und sind in ihren Dienst zu stellen. ‚Wie Du mir, so ich Dir‘ heißt es auch erst recht im totalen Krieg. Das erzeugt die gewaltigen Spannungen des totalen Krieges bei allen beteiligten Völkern.“53
Die Formulierung der ‚gewaltigen Spannungen‘ erinnert unvermeidlich an Carl Schmitts Begriff des Politischen, der genau diese Spannung, die unüberwindbare und unvermeidlich zum Krieg führende Freund-Feind-Konstellation als den Kern des Politischen bezeichnet.54 Aber Ludendorff spricht nicht ‚vom Politischen‘, sondern von der Politik und geht davon aus, dass sich „der Aufgabenkreis der Politik erweitern und die Politik (sich) selbst ändern müsse.“55 Er spitzt dann zu und fordert, die Politik muss „wie der totale Krieg, totalen Charakter annehmen. Sie muss, im Hinblick auf die Höchstleistung eines Volkes im totalen Kriege, ausgesprochen die Lehre von der auf sie zugeschnittenen Lebenserhaltung des Volkes sein und genau beobachten, was das Volk auf allen Gebieten des Lebens, nicht zuletzt auf dem seelischen Gebiete, zu seiner Lebenserhaltung bedarf und beansprucht. Da der Krieg die höchste Anspannung eines Volkes für seine Lebenserhaltung ist, muss sich eben die totale Politik auch schon im Frieden auf die Vorbereitung dieses Lebenskampfes eines Volkes im Kriege einstellen und die Grundlage für diesen Lebenskampf in einer Stärke festigen, dass sie nicht in dem Ernst des Krieges verschoben, brüchig oder durch Maßnahmen des Feindes völlig zerstört werden kann. (…) Krieg und Politik dienen der Lebenserhaltung des Volkes, der Krieg aber ist die
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höchste Äußerung völkischen Lebenswillens. Darum hat die Politik der Kriegführung zu dienen.“56
Hier stellt Ludendorff Clausewitz auf den Kopf: Nicht der Krieg ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, sondern die Politik ist die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln. Die totale Politik wird völkische Politik sein und sich „willig in den Dienst der Kriegführung stellen.“57 Die (erfolgreiche) Führung eines Krieges kann nur durch die militärische Elite vollzogen werden, der sich die Politik bzw. die politische Elite zu unterwerfen hat. Eine zentrale Aufgabe der Politik ist die Aufhebung der „seelischen Zerklüftung“ des deutschen Volkes, die durch zwei politisch zerstörerische Kräfte in Gang gesetzt wurde: „Die Juden und die römische Kirche“, wobei erstere die „Beherrscher der Weltfinanz durch rein kapitalistische Wirtschaftsordnung“ sind und Rom bzw. die katholische Kirche für die „sozialistisch-kommunistisch kollektivierende Lehre“ steht. Beide streben die „völlige Zerstörung der physischen, wirtschaftlichen und seelischen Kräfte des Volkes“ an, deren Treiben die Politik vor dem Krieg tatenlos zugeschaut hat.58 Die Führer des totalen Krieges müssen von der Politik verlangen, die richtigen Maßnahmen zu ergreifen, um die seelische Geschlossenheit des Volkes zu erreichen. Dies gelingt nur auf dem „Weg der Einheit von Rasseerbgut und Glaube und sorgsamer Beobachtung der biologischen und seelischen Gesetze und Eigenschaften des Rasseerbgutes.“59 Hierbei spielt das Christentum eine große Rolle und Ludendorffs Frau, Mathilde Ludendorff, hat hierzu und zum Teil mit ihrem Mann in verschiedenen Büchern das Wesentliche formuliert.60 In einer „Deutschen Gotteserkenntnis“ haben beide die große Bedeutung des Rasseerbgutes und des artgemäßen Gotteserlebens für die Volkserhaltung und seine Wehrfähigkeit betont. Der Politik kommt hierbei die Aufgabe zu, gegen die „erbitterten Widersacher seiner Geschlossenheit“ vorzugehen und gegen sie die „richtigen Maßnahmen zu ergreifen.“61 Richtige Maßnahmen meint in diesem Kontext nicht nur die Unterdrückung dieser angeblichen ‚Widersacher‘, sondern deren systematische Vernichtung. Das müssen die Führer des totalen Krieges von den Führern der totalen Politik verlangen können, wobei hier erneut die Unterwerfung der Politik unter das Militär deutlich wird. Der totale Krieg erfordert auch eine grundlegende Umgestaltung der Wirtschaft und ihrer Dynamiken. Die Aufgabe der Politik ist es, bereits im Frieden Vorbereitungen für die Kriegswirtschaft zu treffen, die sich an den Erfordernissen der militärischen Führung zu orientieren hat. Staatsfinanzen, Verschuldungspolitik der Staatsbank, die Produktion der erforderlichen Kriegsgüter und -geräte, die Ausrüstung des Heeres und seine Verpflegung, all das und vieles mehr muss von der totalen Politik organisiert werden. Im Mobilisierungsfall muss eine weitere Zentralisierung stattfinden, um all diese Prozesse abzustimmen und zu planen.
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Auch an die Wehrmacht, insbesondere an das Heer, stellt der totale Krieg gänzlich neue Anforderungen. Er erfordert zuallererst die allgemeine Wehrpflicht, weil allein die Zahl der zur Verfügung stehenden Soldaten eine große Bedeutung hat. „Die Bereitstellung der gesamten Wehrkraft des Volkes in Friedenszeiten für den totalen Krieg und ihr Einsatz zu seinem Beginn sind nun einmal unabweisbare Forderungen für den Kampf um die Lebenserhaltung des Volkes. Das liegt tief im Wesen des totalen Krieges.“62
Das ganze Denken Ludendorffs ist im Übrigen stark auf das Heer konzentriert. Zwar nehmen die See- und Luftstreitkräfte in seinen Überlegungen auch eine wichtige Rolle ein, aber die zentrale Streitkraft, die über Sieg oder Niederlage, präziser über Vernichten oder Vernichtetwerden, entscheidet, sieht er im Heer. Der Kampf Mann gegen Mann ist hier noch als Kriegsmythos übriggeblieben und drückt sich in der Heldenhaftigkeit des Heereskrieges aus, weniger im Seeoder Luftkrieg. Der Einbezug des gesamten wehrfähigen Volkes in die Wehrmacht, insbesondere in das Heer, macht aus ihr ein Massenheer und aus dem (totalen) Krieg einen Massenkrieg. Die Opferzahlen sind entsprechend massenhaft und haben im Zweiten Weltkrieg alles bisher Dagewesene übertrumpft. Neben der reinen Zahl von Soldaten spielt deren militärische Ausbildung eine zentrale Rolle. Wegen neuer Waffen und anderer technischer Hilfsmittel ist der Krieg nicht einfacher geworden, sondern erfordert verstärkte Ausbildungsmaßnahmen, die nicht erst bei Kriegsbeginn erfolgen können. Die „Vertiefung der Manneszucht durch seelische Festigung“63 ist ebenso eine Aufgabe der totalen Politik wie eine „wehrfähige Mannschaft der Kriegführung zur Verfügung zu stellen (….) und die Kriegsrüstung der Truppe auf dem höchsten Stand zu halten (….) und dies schon im Frieden.“64 Im Konzept des totalen Krieges kommt der Kriegspropaganda eine herausragende Bedeutung zu. Es sei die „ernsteste Aufgabe der totalen Politik“ zu verhindern, dass durch „mangelhafte Volksaufklärung“ der Kriegführung gleich zu Beginn Schaden zugefügt werde.65 Dazu gehört auch die Art und Weise, wie der Krieg begonnen werden soll. Kriegserklärungen, wie sie bisher üblich waren und auch im Ersten Weltkrieg erfolgten, seien ungünstig, weil der Krieg so als Angriffskrieg verstanden und von der feindlichen Propaganda dementsprechend gekennzeichnet würde. Stattdessen müsste er als „Kampf für ihre (der Völker, F.W.R) Lebenserhaltung“ ausgegeben werden. Nur wenn sich das Deutsche Volk bedroht fühlt, wird es einen Krieg akzeptieren, auch wenn dann ein solcher ‚Verteidigungskrieg‘ „angriffsweise geführt werden müsste.“66 Dass zur manipulativen und propagandistischen Verhetzung der Begriff der „Volksaufklärung“ verwendet wird, spricht für sich. Aber auch nach innen muss Propaganda und Manipulation eingesetzt werden. Es gibt innere Feinde, die bereits im (kriegerischen) Frieden wirken und erst recht im Krieg und vor allem dann, wenn dieser lange
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anhält und erhebliche Opfer erfordert. Die „Schalmeien eines Friedens“ werden von den Feinden gespielt, ihre Propaganda zersetzt die seelische Geschlossenheit des Volkes und hier sind es vor allem die „römischen, jüdischen und freimaurerischen Blätter“67, die die Zersetzungstätigkeit ausführen. Die totale Politik hat in Friedens- wie in unmittelbaren Kriegszeiten die seelische Geschlossenheit des Volkes zu gewährleisten und dafür besondere Maßnahmen zu treffen: „schärfste Zensur der Presse, verschärfte Gesetze gegen Verrat militärischer Geheimnisse, Sperrung des Grenzverkehrs gegen neutrale Staaten, Versammlungsverbote, Festnahme wenigstens der Häuptlinge der ‚Unzufriedenen‘, Überwachung des Eisenbahnverkehrs und des Rundfunkwesens, weil ‚Unzufriedene‘ oder böswillige Saboteure, sei es aus sich selbst heraus, sei es auf Veranlassung kriegführender Feinde oder Vertreter der überstaatlichen Mächte, des Juden und Roms, oder unmittelbar feindliche Propaganda die Geschlossenheit des Volkes nicht aufkommen oder gefährden sollten. Ebenso notwendig ist es auch, dass gegen sie in höchstem Ernst und größter Schärfe durchgegriffen wird, es geht um Volkes Erhaltung.“68
Umgekehrt muss die totale Politik über Rundfunk, Zeitungen etc. die Geschlossenheit des Volkes durch Propaganda sicherstellen. Zur Wehr- und Kriegsfähigkeit des Volkes hat auch die Frau beizutragen. Der totale Krieg ist „unerbittlich“69 und deshalb verlangt er von der Frau viel, ja sehr viel. Der Krieg richtet sich auch gegen die Frau, die „ihre Kinder bedroht, den Mann gefährdet sieht. Sie ist es, die die unermesslich seelische Stärke für die Geschlossenheit des Volkes zu betätigen hat. Sie ist allein auf sich gestellt, wenn die wehrfähigen Männer an der Front kämpfen oder sonstigen Heerdienst tun. (…) Und diese Frau, auf der im totalen Kriege so schwere Verantwortung liegt, die für die so wichtige Volksvermehrung bei der Geburt eines Kindes ihr Leben in die Schanze schlägt, wie der Mann im Waffendienst zur Volkserhaltung, ist in jüdisch-christlicher und okkulter Anschauung entrechtet (…).“70
Alles in allem kann man erkennen, dass hier die Grundlagen des totalen Staates systematisch entwickelt wurden, der mit der faktischen Ausprägung des nationalsozialistischen Totalitarismus weitgehend identisch ist. Das Buch ist eine konzeptionelle Folie, auf der der deutsche Totalitarismus entworfen wurde, ohne dass später unmittelbar darauf Bezug genommen wurde. Aber hier haben wir es mit der Version eines Staates zu tun, in der Krieg und Frieden nicht mehr getrennt sind, in der sich der Staat im permanenten Kriegszustand befindet und in der alle zivilen und militärischen Bewegungen von einem Zentrum aus, vom Feldherrn oder auch vom Führer diktiert werden. Und dieser Krieg ist äußerst intensiv, weil er zugleich ein Wirtschafts-, Finanz-, Propaganda- und Volkskrieg ist. Denn nicht Heere oder andere Streitkräfte kämpfen gegeneinander, sondern die Völker selbst – mit dem einzigen Ziel, die Feinde zu vernichten und die Weltherrschaft auf den Trümmern dieses totalen Krieges zu erklimmen. Begann schon der Erste Weltkrieg, vorausgedacht und geplant im Schlieffen-Plan, mit dem Bruch völkerrecht-
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licher Normen und einer bisher nicht dagewesenen Brutalität in der Kriegführung (auch gegen Zivilisten), so sprengte der Zweite Weltkrieg die bisherigen Vorstellungen erneut. Während aber von Schlieffen von der „Vernichtung“ der feindlichen Heere sprach, so hat sich die Sprachregelung des totalen Krieges radikalisiert: es geht nicht um die Vernichtung von Heeren, sondern von Völkern. Ludendorff war selbstverständlich nicht der einzige Autor, der diese Position vertrat. Sie war in der nationalsozialistischen Diktatur weit verbreitet und seit den Nürnberger Rassegesetzen vom 15. September 1935, die auf dem dortigen Parteitag der NSDAP verabschiedet wurden, offizielle Parteipolitik. Auf der Berliner Wannsee-Konferenz am 20. Januar 1942 wurde diese Politik verschärft und die „Endlösung der Judenfrage“ nun systematisch und organisatorisch in Angriff genommen. Krieg und Judenvernichtung verschmolzen zu einer einzigen Aktion, die – wenn auch mit unterschiedlichen organisatorischen Aufgabenbereichen für Wehrmacht und SS – zur elementaren Kriegspolitik gehörten. Der Zweite Weltkrieg wurde in der Tat als totaler Krieg geführt. Es gab in der Weimarer Republik und unter dem Nationalsozialismus auch Positionen, die die Idee der Massenheere und des damit verbundenen totalen Volkskrieges ablehnten. Sie setzten stattdessen auf hochtechnisierte und hochqualifizierte Soldaten und sprachen von einem „Qualitätsheer der Techniker“71, aber deren Positionen konnten sich nicht durchsetzen. Das Zeitalter der Massen bzw. der Massenheere war noch nicht zu Ende und die Grundidee des totalen Krieges verlangte geradezu danach, als Massenphänomen betrachtet und als solches in die Wege geleitet zu werden. Der totale Krieg – um zusammenzufassen – umfasst vier Dimensionen, in denen sich seine Totalität realisieren muss.72 Zunächst die Totalität der Kriegsziele, von denen eines zumindest die Vernichtung von (angeblich) feindlichen Völkern darstellt. Der „Generalplan Ost“73 war sicherlich der zugespitzte Ausdruck einer solchen Totalität und sah vor, die Sowjetunion zu vernichten und die russische Bevölkerung völlig zu vertreiben, zu versklaven oder unmittelbar zu töten. Dann die Totalität der Kriegsmethoden, die sich vor allem auf die ‚Techniken‘ der Kriegführung bezieht. Hierzu zählt die Behandlung der Kriegsgefangenen, der Umgang mit der Zivilbevölkerung, die (Nicht)Einhaltung internationaler Verträge und Konventionen (Haager Landkriegsordnung u. ä.). Die Aufstellung von Massenheeren und die Massenbeteiligung in den Kriegen haben zur Radikalisierung der Kriegsführung ebenso beigetragen wie die diesen Kriegen zugrunde liegenden ideologischen Prämissen. Um den Widerstand von ganzen Völkern – und nicht ‚nur‘ von deren Heeren – zu brechen, bedarf es sicherlich anderer und v. a. radikalerer Kriegstechniken, die zur Totalisierung solcher Kriege beitragen. Auch hier ist der Zweite Weltkrieg ein unübersehbares Beispiel. Sofern Völker gegeneinander Krieg führen, ist die Totalität der Mobilisierung unhintergehbar. Sie umfasst nicht nur die Bevölkerung, sondern auch die wirtschaftlichen Prozesse, die
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staatliche und gesellschaftliche Infrastruktur und die politische Propaganda. Eine staatlich gelenkte Kriegswirtschaft ist ebenso zentral wie die Inanspruchnahme der Transport-, Fernmelde- und anderer Infrastrukturen durch das Militär. Wirtschaft, Gesellschaft und Medien wurden in den totalen Kriegen des 20. Jahrhunderts in einem Ausmaß für den Krieg mobilisiert, wie es in der Geschichte der Menschheit noch nie der Fall war. Schließlich die Totalität der Kontrolle der Gesellschaft, die nicht nur alle Widerstandsformen brechen, sondern auch ein Netz verschiedenster Kontrolltechniken über die Gesellschaft werfen muss, um – im wahrsten Sinne des Wortes – alle Dynamiken und Prozesse im Sinne des totalitärdiktatorischen Zentrums der Kontrolle zu unterwerfen. Die Unterdrückung von politischen Parteien und anderen Gruppierungen ist hier ebenso unvermeidlich wie die totale Kontrolle des Presse- und Medienwesens. Die oben bereits diskutierte Schrift von Erich Ludendorff erfasst alle diese Bereiche und kann, ja muss, als ein Schlüsseltext zum totalen Krieg des 20. Jahrhunderts gelesen werden. Das Konzept des totalen Krieges kann und sollte nicht als „Beschreibung der historischen Realität missverstanden werden.“74 Aber die militärischen und politischen Akteure dieses Jahrhunderts haben versucht, dem Konzept so nah wie möglich zu kommen. Die faktischen Folgen ihrer gleichwohl unvollständigen Umsetzung waren grauenhaft und grausam genug.
8.2.2. Jenseits des Konzepts: Der totale Krieg in der Wirklichkeit des Zweiten Weltkrieges Ob der Zweite Weltkrieg ein im Kern totaler Vernichtungskrieg war oder ‚nur‘ ein Krieg, in dem nicht nur von der SS, sondern auch von der Wehrmacht Kriegsverbrechen begangen wurden, ist in den Geschichts- und Sozialwissenschaften hochgradig umstritten. Die oben angeführten vier Kriterien müssten alle zumindest annäherungsweise erfüllt sein, um von der Realität eines totalen Krieges sprechen zu können: Die Totalität der Kriegsziele, der Kriegsmethoden, der Mobilisierung und der Kontrolle. Im Folgenden konzentriere ich mich vor allem, aber nicht ausschließlich, auf die Totalität der Kriegsmethoden. Hierbei werde ich zwei Sachverhalte in den Mittelpunkt rücken: Zum einen die heftige und leidenschaftlich geführte Diskussion um die vom Hamburger Institut für Sozialforschung durchgeführte Ausstellung „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944.“75 Hier wurde zu dokumentieren versucht, nicht nur dass, sondern auch in welchem Umfang sich die Wehrmacht als eigentlich reguläre Armee totaler Kriegsmethoden bedient hat, um die Kriegsziele zu realisieren: Die Vernichtung von als feindlich proklamierten Völkern und nicht ‚nur‘ von feindlichen Armeen. Zum anderen will ich mit Hilfe von empirisch robusten Daten belegen, dass in der Tat die Vernichtung von Völkern nicht allein Ziel war, sondern
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auch weitgehend, grausam, brutal und menschenverachtend umgesetzt wurde und dass alle Kräfte des Volkes daran beteiligt waren und nicht nur die dafür spezialisierten Verbände und Institutionen der Judenvernichtung. Erneut wird die Rolle der Wehrmacht wichtig, aber ebenso das mörderische Geschehen an der ‚Heimatfront‘. Zu fragen ist außerdem, ob die Luftangriffe der Alliierten, die zum Ende des Zweiten Weltkrieges geführt haben, auch in die Kategorie der totalen Kriegsmethoden einzuordnen sind. In der Bundesrepublik wurde eine leidenschaftliche Diskussion über die Rolle der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg durch eine Wanderausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung ausgelöst. Die wissenschaftlichen und politischen Kräfte in der Bundesrepublik haben sich in einer Intensität positioniert, die bisher nicht vorstellbar war. Die Wanderausstellung wurde von 1995 bis 1999 in vielen Städten Deutschlands, aber auch Österreichs, gezeigt. Nach massiver Kritik wurde sie im Jahr 1999 geschlossen, weil sachliche Mängel, Fehler und Ungenauigkeiten – manche sprachen von Manipulationen – von einer Historikerkommission festgestellt wurden. Aber sie bestätigte die Kernaussagen der Ausstellung, kritisierte gleichwohl manche sachlichen Mängel und fehlerhafte Bildunterschriften. Auf über 1400 Fotos wurden Opfer der Wehrmacht gezeigt, die kriegsund völkerrechtswidrige Verbrechen an der Zivilbevölkerung und an den gefangengenommenen feindlichen Soldaten begangen hatten. Die zweite, neu konzipierte Ausstellung nannte sich „Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941-1949“ und wurde von Ende 2001 bis 2004 in vielen Städten der Bundesrepublik, Luxemburgs und Österreichs gezeigt.76 Man kann diese äußerst kontroverse Diskussion als einen ‚Text‘ begreifen, der sich in zwei Kontexten bewegt. Zum einen in dem politisch-sozialen Kontext der sogenannten Vergangenheitsbewältigung, die zu dieser Zeit noch mit intensiven leidenschaftlichen Positionierungen verbunden war. Sie brach in dieser Diskussion in bisher nicht dagewesener Weise auf. Selbst im Deutschen Bundestag gab es am 13. März und am 24. April 1997 heftige Debatten, die von manchen Beobachtern und Teilnehmern aber als „Sternstunde“ des Parlaments bezeichnet wurden.77 Zum anderen war diese Diskussion in Kon-Texte eingebettet, in denen Historiker und andere politische Autoren mit Gegentexten massiv eingegriffen haben, die die grundsätzliche Legitimation und wissenschaftliche Qualifikation der Ausstellung in Frage stellten.78 Hierbei spielten der polnische Historiker Bogdan Musial79 und der ungarische Historiker Krisztián Ungváry80 die größte Rolle. Die von der Leitung des Hamburger Instituts eingesetzte internationale Expertenkommission hatte die vorgebrachten Vorwürfe untersucht, manche Fehler entdeckt und richtiggestellt, aber die Kernaussagen der Ausstellung ausdrücklich und mehrfach bestätigt.81
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In der Diskussion um die Ausstellung ging es vor allem um die Rolle der Wehrmacht. Konkret: Ob sie an den Verbrechen gegenüber den Juden, der Bevölkerung und den feindlichen Kriegsgefangenen beteiligt war oder ob das vorwiegend die Praxis der SS und anderer, nicht zur Wehrmacht gehörenden Verbände (wie etwa der Polizeibataillone) war. Aber nur selten wurde eine, vielleicht sogar die zentrale Frage thematisiert: Kann man von einer Totalität der Kriegsmethoden sprechen und dies auch empirisch belegen, so dass ein Element des Konzepts des totalen Krieges erfüllt ist? Oder war der Zweite Weltkrieg zwar ein brutaler und gegenüber den Juden eliminatorischer, aber dennoch kein totaler Krieg? Die erste und zweite Ausstellung des Hamburger Instituts gibt – trotz der Mängel der ersten Konzeption – eine klare Antwort. Aber auch einschlägige Untersuchungen von angesehenen Historikern bestätigen dies.82 Man kann – in Anlehnung an den Historiker Christian Hartmann – vier Bereiche unterscheiden, in denen sich totale Kriegstechniken realisieren und von ihm am Beispiel der Wehrmacht durchbuchstabiert werden: Der Umgang mit Kriegsgefangenen, die Art der Partisanenbekämpfung, die rassistische und antisemitische Mordpolitik und die Intensität der Ausbeutung in den eroberten Gebieten.83 Für die Verwahrung der Kriegsgefangenen war fast ausschließlich die Wehrmacht verantwortlich, sie ließ um die drei Millionen sowjetischer Kriegsgefangener verhungern, erfrieren, durch Seuchen sterben oder ermorden. Die Vernichtung widersprach dem damals geltenden Völker- und Kriegsrecht fundamental. Auch wenn es sich hier um einen vergleichsweise kleinen Teil des Wehrmachtsapparates handelte, so war er eben doch deren Bestandteil. Zudem wurde oft die Linie verfolgt, erst gar keine Gefangenen zu halten, sondern sie „unmittelbar nach ihrer Gefangennahme oder – vermutlich häufiger – während den nicht enden wollenden Elendsmärschen in die rückwärtigen Gebiete (zu) ermorde(n). Hierfür verantwortlich waren in erster Linie die Fronttruppen. Besonders schlimm schienen hier die ersten Wochen des Krieges gewesen zu sein.“84
Dies war gängige Praxis sowohl bei den deutschen als auch den sowjetischen Truppen, die sich auf diese Weise gegenseitig radikalisierten. Sie wurde vor allem in Russland und Weißrussland angewandt, die Ausstellung des Hamburger Instituts dokumentierte diese Verbrechen der Wehrmacht vor allem in Serbien. Im sogenannten Partisanenkrieg war die „irreguläre Kriegführung“85 am intensivsten und er gehörte zu den „größten Verbrechen ‚der‘ Wehrmacht“86. Die Bekämpfung von Partisanen ist militärtechnisch sicherlich eine der schwierigsten Aufgaben, aber die rassenideologisch mitgeführten Motive waren unübersehbar. Der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW), Wilhelm Keitel, hielt es für angemessen, „als Sühne für ein deutsches Soldatenleben (….) die Todesstrafe für 50-100 Kommunisten“ zu vollziehen.87 Adolf Hitler verkündete 1941, dass der Partisanenkrieg „uns die Möglichkeit (gibt) auszurotten, was sich gegen uns stellt.“88 Seit Beginn des Jahres 1942 wurde die Vergeltung der deutschen Okku-
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panten noch verheerender. Man ging nun dazu über, „systematisch menschenleere Gebiete zu schaffen, mit Hilfe von Zwangsumsiedlungen, Massenerschießungen und später auch Verschleppungen. Die berüchtigten ‚toten Zonen‘ entstanden.“89 Die Zahlen der durch Teile der Wehrmacht vorgenommenen willkürlichen Tötungen schwanken. Man geht davon aus, dass allein in Weißrussland rund 350.000 Zivilisten von ihr erschossen wurden. Teile von ihr wurden so zu Mittätern und selbständigen Akteuren im Kontext der rassistisch und ideologisch motivierten Tötung und Vertreibung der Zivilbevölkerung in den besetzten Gebieten. Beim Völkermord an den Juden waren Teile der Wehrmacht erneut massiv beteiligt, „ohne die logistische und administrative Zuarbeit der Wehrmacht wäre ein Genozid dieses Ausmaßes niemals möglich gewesen. (…) Alle Oberbefehlshaber des Ostheeres haben die Mordaktionen des SS und Polizeiapparates entweder offen unterstützt (…) oder zumindest doch resigniert hingenommen (…), nachdem das OHK noch vor Feldzugsbeginn den SS- und Polizeieinheiten die Möglichkeit für ‚Sonderaufgaben im Auftrag des Führers‘ eingeräumt hatten.“90
Umstritten bei den Historikern ist nicht die Beteiligung, sondern allenfalls inwieweit nur bestimmte, zum Teil untergeordnete Teile der Wehrmacht oder sie als Ganzes systematisch an der Vernichtung der Juden beteiligt war. Aber ohne die Beteiligung der Wehrmacht bzw. erheblicher Teile von ihr wäre der Völkermord an den Juden in Osteuropa in diesem Ausmaß nicht möglich gewesen. Zwar war in den ersten Wochen und Monaten des Russlandfeldzuges in den unmittelbaren Kampfhandlungen die Beteiligung der Wehrmacht am Holocaust am intensivsten. Aber auch in den hinter den weiterziehenden Truppe zurückliegenden zivilen und militärischen Verwaltungsgebieten war das Ausmaß der Judenvernichtung außerordentlich stark ausgeprägt. Hier spielte die Wehrmacht, v. a. in den militärischen Verwaltungsgebieten, weiter eine wichtige Rolle. In den Zivilverwaltungseinheiten wurden schätzungsweise 1,7 Millionen Juden ermordet, in den militärischen 0,5 Millionen, wobei die antijüdischen Erlasse unübersehbar waren.91 Die Ausbeutung der besetzten Gebiete ist der letzte große Bereich, in dem sich die totale Kriegstechnik entfaltete. Zunächst war es ein erklärtes Ziel der militärischen Führung, die Truppen restlos aus den besetzten Gebieten zu versorgen. Die Haager Landkriegsordnung schließt dies – wird es in angemessenen Maßen vollzogen – nicht völlig aus, aber die deutsche Besatzungspolitik überschritt diese Grenzen maßlos. Das kriminelle Versorgungsverhalten realisierte sich in drei Bereichen: Zunächst in oft wilden und gewalttätigen Plünderungen, dann in der von der lokalen Wehrmachtsführung angeordneten „organisierten Ausbeutung“, die erhebliche Teile der besetzten Gebiete in „Kahlfraßzohnen“92 verwandelte. Und schließlich durch die Kooperation mit der „Wirtschaftsorganisation Ost“,
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die für die gesamte Wirtschaftsentwicklung in den okkupierten Gebieten zuständig war und hierbei gnadenlos rassistische und antisemitische Motive umsetzte. Eine letzte militärtechnische Dimension des totalen Krieges soll hier noch kurz erwähnt werden. Der sogenannte Kommissarbefehl – er war einer der verbrecherischsten Befehle der Wehrmacht – enthielt die ausdrückliche Anweisung, Politkommissare der Roten Armee nicht als Kriegsgefangene zu behandeln, sondern sofort und ohne Verhandlung zu erschießen. Den Bedenken einiger hoher Befehlshaber im Heer wurde entgegengehalten, dass es hier um die „Vernichtung einer Weltanschauung“ gehe und deshalb die Maßnahmen von der Obersten Heeresleitung ausdrücklich gebilligt und gedeckt seien.93 Totale Kriege zeichnen sich dadurch aus, dass sie nicht nur die oben erwähnten vier abstrakten Merkmale erfüllen müssen (siehe Kap. 8.2.1.), sondern sie auch in den entsprechenden Kriegen real umsetzen. Der Zweite Weltkrieg war – das ist in der Forschung unumstritten – ein totaler Krieg. Er forderte insgesamt zwischen 60 bis 65 Millionen Tote, von denen über die Hälfte Zivilisten waren.94 Bezogen auf Europa sind die Zahlen besonders erschütternd. In Russland wurden insgesamt 27 Millionen Menschen getötet, darunter mehr Zivilisten (14 Millionen Menschen) als Soldaten (13 Millionen). In Polen ist die Zahl der getöteten Zivilisten im Verhältnis zu den Soldaten weit dramatischer. 0,3 Millionen Soldaten stehen 5,7 Millionen Zivilisten gegenüber, in Ungarn 0,36 Millionen gegenüber 0,6 Millionen, in Jugoslawien 0.74 Millionen gegenüber 1 Million, in den Niederlanden 22.000 gegenüber 200.000 und in Griechenland 20.000 Soldaten gegenüber 160.00 Zivilisten. In Deutschland, dem Land, das den Krieg auslöste, ist es umgekehrt. Den rund 5,2 Millionen im Krieg umgekommene Soldaten entsprachen ‚nur‘ 1,17 Millionen getöteter Zivilisten. Betrachtet man die einzelnen Opfergruppen, die vom deutschen Faschismus in diesem Zeitraum getötet wurden, so ist die Übereinstimmung zwischen den proklamierten Zielen dieses totalen Krieges und den faktisch Getöteten eindeutig und dramatisch. Die Zahl der getöteten und vergasten Juden schwankt zwischen 5,7 und 6 Millionen, die der sowjetischen Kriegsgefangenen zwischen 3 und 3,3 Millionen, der nicht-jüdischen Zivilisten, Zwangsarbeitern, Deportierten und nicht-jüdischen KZ-Häftlingen zwischen 3,4 und 4,3 Millionen und bei den Sinti und Roma zwischen 0,1 und 0,25 Millionen.95 Dies verdeutlicht, dass es in diesem Krieg um die Vernichtung von Völkern oder bestimmten (rassistisch oder religiös bestimmten) sozialen Gruppen ging und nicht um Sieg oder Niederlage in einem tradierten Krieg, der zwischen den Armeen der beteiligten Staaten ausgefochten wird. Es geht auch nicht um die Vernichtung der feindlichen Armee, wie dies im Vorfeld des Ersten und auch des Zweiten Weltkrieges von hohen Militärs gefordert wurde.
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8.3. Die Politik des Partisanenkrieges: Partisanen als ‚Kippfigur‘ In der politischen Theorie des 20. Jahrhunderts spielt der Begriff des Partisanen bzw. des Guerilla eine herausgehobene Rolle. Hierbei ist der Partisan eine „Kippfigur“96, die verschiedene Bedeutungen umfasst. In der konservativen politischen Philosophie ist der Partisan eine eher rückwärtsgewandte Gegenfigur zum Soldaten ebenso wie zum verbürgerlichten Individuum in der vollautomatisierten kapitalistischen Welt, wie etwa bei Carl Schmitt und ausgeprägter bei Rolf Schroers. In der revolutionären Philosophie bei Mao Tse-tung und Ernesto Che Guevara ist er eine zentrale Figur im Kampf um die sozialistische Machtergreifung und zukunftsorientiert. Aber in beiden Denkrichtungen ist er eine kriegerische Figur. Man kann also zwischen den Partisanen der Tradition, die untergegangene Normen und Verhaltensmuster realisieren wollen, und den Partisanen der Revolution unterscheiden, die eine neue soziale und politische Ordnung für die Zukunft erkämpfen wollen.97 Genau diese zwei Charakteristika begründen sein Wesen als Kippfigur. Die Politik des Krieges nimmt je nach historischer Situation und politischer Ausrichtung verschiedene Formen an. Im 20. Jahrhundert dominierte der traditionelle zwischenstaatliche Krieg die Dynamik die Weltgeschichte, was vor allem durch die beiden großen Weltkriege bewirkt wurde. Der Erste und der Zweite Weltkrieg waren symmetrische Kriege in dem Sinne, dass auf Seiten der kriegführenden Staaten reguläre Armeen gegeneinander kämpften. Selbstverständlich waren in beiden Kriegen, vor allem aber im Zweiten Weltkrieg in den osteuropäischen Staaten, auch Partisanenverbände beteiligt, die eine nicht unbedeutende Rolle gespielt haben. Dennoch waren sie dominierend tradierte Kriege, in denen reguläre Armeen gegeneinander kämpften. An ihren Rändern sind sie jedoch – je unterschiedlich ausgeprägt – ausgefranst und zeigten unübersehbare Auflösungserscheinungen des regulären Staatenkrieges. Nach dem Zweiten Weltkrieg, aber auch schon an seinem sich abzeichnenden Ende, verstärkte sich die Bedeutung von Partisanenkriegen. Der jugoslawische Befreiungskrieg gegen die internen und externen faschistischen Kräfte ist das vielleicht wichtigste Beispiel, während in den 60er und 70er Jahren der Vietnamkrieg sicherlich das prominenteste war. Hier kämpfte die amerikanische Armee gegen (nord)vietnamesische Partisanen, die letztlich den militärisch überlegenen Gegner aus dem Land vertrieben und ihm eine spektakuläre Niederlage beibrachten. Anfang des Jahres 1975 wurden die letzten US-Soldaten und Unterstützer des südvietnamesischen Regimes aus Saigon ausgeflogen und am 1. Mai 1975 war der Sieg vietnamesischer Partisanentruppen perfekt. Die größte Supermacht der Welt war geschlagen und musste ihre Niederlage mitsamt ihrer überstürzten Flucht aus Saigon eingestehen. Der Partisanenkrieg der Vietkong hatte den USA eine
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spektakuläre Niederlage beigebracht und wurde schnell zum theoretischen wie praktischen Vorbild ähnlich gelagerter Konflikte. Am Ende des 20. Jahrhunderts wurde der tradierte bilaterale Krieg zwischen Staaten oder Staatenbündnissen zu einem politischen Randphänomen. Zwischen 1990 und 1996 ereigneten sich 89 militärisch-gewaltsame Konflikte mit insgesamt rd. 5,5 Millionen Toten. Aber lediglich sieben dieser kriegerischen Konflikte waren tradierte zwischenstaatliche Kriege, alle anderen waren Kriege zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Gegnern. Der Staatenkrieg scheint die Ausnahme von der Regel geworden zu sein.98 Aber zentrale Theorien und Konzepte dieser neuen Kriegsform wurden erst ab Anfang bis Mitte des Jahrhunderts entwickelt und fanden ihre Anwendungen ebenfalls erst in diesem Zeitraum. Hierbei waren sicherlich die revolutionären Partisanen- und Guerillakriege in China und Lateinamerika, insbesondere in Kuba, die wichtigsten, denen dann der Vietnamkrieg folgte. Seine theoretische Ausformulierung als revolutionär-kriegerisches Konzept wurde zuerst und sporadisch durch Lenin99 und später am prägnantesten durch Mao Tse-tung vorgenommen, der es als neue Widerstandsform im Krieg gegen die japanischen Besatzer Ende der 30er Jahre und dann später gegen Tschiang Kai-schek konzipierte. Fast parallel dazu hat Che Guevara das Konzept modifiziert und auf den lateinamerikanischen Kontext zugeschnitten. Er hat es zugleich mit dem Anspruch verbunden, dass sein Konzept auch auf die afrikanischen und andere antikoloniale Befreiungskriege übertragbar sei. Fast gegenläufig dazu haben sich konservative Politik- und Gesellschaftstheoretiker mit der Figur des Partisanen beschäftigt und ihm eine entgegengesetzte Bedeutung beigemessen. In einer (europäischen) Welt, die durch Industrialisierung, technologische Modernisierung und verwaltende Beherrschung des Menschen gekennzeichnet ist, gehen eigenverantwortliches Handeln, Selbstentfaltung und Selbstbestimmung ebenso verloren wie die individuelle Persönlichkeit. Die „Vollautomation der Welt“100 löscht die Person aus, sie ist im „technischen Automatismus“101 der modernen Welt nur noch ein Schatten ihrer selbst. Der Partisan wird dann zur ‚Gegenfigur‘ dieser technischen Welt, der sich auf seine Heimat, seine Art und auf sein Gewissen beruft. Er ist dann zwar der stets Unterlegene, aber er kann als Partisan sein Eigengewicht zurückerlangen und als „Gewissenstäter“102 im Kampf gegen die vollautomatisierte Welt sich seine Persönlichkeit zurückerobern. Ich gehe wie folgt vor. Ich kläre zunächst einige begriffliche Differenzierungen zwischen Partisan, (Sozial)Rebell, Terrorist und Guerilla als nicht-staatliche kriegerische Akteure (Kap. 8.3.1.) Daran schließt sich eine Darstellung der Konzepte des Partisanenkrieges bei Mao Tse-tung und Che Guevara an, um die Übereinstimmungen und Differenzen zwischen den beiden wichtigsten Theoretikern wie Praktikern des 20. Jahrhunderts zu klären (Kap. 8.3.2. und Kap. 8.3.3.). Eine kurze Rekonstruktion der eher kulturkritischen und konservativen Partisanen-
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konzepte von Rolf Schroers und Carl Schmitt schließt sich an, um den gegensätzlichen Pol der Theorie des Partisanen aufzuzeigen (Kap. 8.3.4.). Eine Zusammenfassung beendet das Kapitel, in der ich versuche, die zentralen Merkmale des Partisanen festzuhalten und nach seiner Zukunft am Ende des Jahrhunderts und zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu fragen (Kap. 8.3.5.). Er scheint inzwischen vom Terroristen abgelöst worden zu sein, der die asymmetrische Gewaltanwendung seit der Jahrhundertwende dominiert.
8.3.1. Partisanen, (Sozial)Rebellen, Terroristen und Guerillas – Versuch einer Differenzierung der nicht-staatlichen Kriegsgewalt Der Partisan verkörpert eine politische Figur, deren definitorische Fassung sich als schwierig erweist. Er konkurriert mit ähnlich gelagerten Begriffen – erwähnt seien hier nur der (Sozial)Rebell, der Terrorist und der Guerilla. Dazu kommt, dass der Partisan einen chamäleonhaften Charakter besitzt, der eine präzise definitorische Markierung erschwert.103 Hat man ihn „irgendwo positiv erwischt, wechselt er Namen und Art“ – so hat ihn einer der großen Theoretiker des Partisanen, der Publizist und Schriftsteller R. Schroers, beschrieben.104 Kann man dieses „Chamäleon“105 dennoch einigermaßen präzise von den anders gelagerten Begriffen absetzen und zugleich sein ‚Wesen‘ wenigstens ansatzweise bestimmen? Man kann – aber die folgenden Bemerkungen sind allein ein vorläufiger und kein endgültiger Versuch.106 Der Partisan will einen Sieg in einem bestimmten und langandauernden politisch-militärischen Konflikt erringen und den Gegner, besser den politischen Feind, nicht nur besiegen, sondern meist auch völlig vernichten. Der Terrorist legt in erster Linie eine Spur der Zerstörung, auch wenn sein angebliches Ziel der Umsturz oder die völlige Zerstörung einer gesamten Gesellschaftsordnung ist. Die Partisanenkriege während des Zweiten Weltkrieges in der Sowjetunion, aber auch in anderen Ländern Mittel- und Osteuropas, waren alle mit einem weiteren Ziel verbunden. Es ging nicht nur um den militärischen, sondern zugleich um einen politischen Sieg: Den revolutionären Umsturz der bisherigen Gesellschaft und den Aufbau einer neuen, meist sozialistischen Gesellschaftsordnung. Nicht nur die Partisanenkriege während des Zweiten Weltkrieges waren hierfür typisch, sondern auch die in China, Vietnam und Kuba. Der Partisanenkrieg, oft begleitet von einem ‚normalen‘ Krieg mit tradierten militärischen Mitteln, war immer integraler Bestandteil einer sozial-revolutionären Umgestaltung der bestehenden Gesellschaften. Die revolutionären Parteien, insbesondere die kommunistischen Parteien, waren hierbei zentral, denn für sie war der Partisanenkrieg untrennbarer Bestandteil des revolutionären Krieges. Bereits bei Lenin, später aber vor allem bei Mao Tse-tung und Che Guevara, hat dies seinen theoretischen wie prakti-
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schen Ausdruck gefunden. In diesem Kampf setzten die Partisanen zwar auch ihr Leben aufs Spiel, aber ihre primäre Strategie schreibt das Überleben vor und terroristische Selbstmordattentate gehören deshalb nicht zu ihrem tradierten Repertoire. Der (Sozial)Rebell ist eine weniger politische Figur als der Partisan. Das Hauptziel des Rebellen war und ist der Kampf gegen Ungerechtigkeiten verschiedenster Art, seien sie wirklich oder nur vermeintlich. Die Überwindung oder gar revolutionäre und grundlegende Umgestaltung der ungerechten ökonomischen, sozialen und politischen Verhältnisse liegt jedoch nicht innerhalb seines Handlungshorizontes. Vielmehr entwenden sie den Wohlhabenden und Herrschenden bestimmte Reichtümer, um sie dann an die Armen zu verteilen. Als mythische Helden werden ihre Taten über Generationen tradiert und dienen anderen als Vorbild. Robin Hood stellt nur eine herausgehobene Figur von vielen anderen Rebellen dar.107 Beim Terroristen steht nicht der Sieg in einem Krieg gegen eine bestimmte Macht bzw. deren Armee im Mittelpunkt, sondern die vollständige Beseitigung oder Zerstörung einer bestimmten Gesellschaftsordnung. Terroristische Aktionen sind häufig spektakulär, sie rechnen vor allem zum Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts mit der medial inszenierten und immer wiederkehrenden Ausstrahlung im Leitmedium des 20. Jahrhunderts, dem Fernsehen. Der Anschlag vom 11. September 2001 auf die Zwillingstürme des World Trade Centers ist nur der spektakulärste und medial wirksamste Terroranschlag. Das gesamte 20. und vor allem das 21. Jahrhundert waren von zunehmenden Terroranschlägen begleitet, die immer mehr Todesopfer zur Folge hatten. Im Terrorismus selbst ist die Eskalation der Gewalt bereits angelegt, denn er lebt vom Spektakulären seiner Anschläge und muss sich in seinen Aktionen in immer neuen Anläufen selbst zu übertrumpfen versuchen. „Unmittelbarkeit, Exklusivität und Dramatik – je gewalttätiger und lebensbedrohlicher, desto besser“ so hat es einer der führenden Terrorismusexperten auf den Punkt gebracht.108 Meist erreichen die Terroristen nicht ihre vorgegebenen Ziele und auch das führt in der Regel zur Eskalation der Anschläge oder sie verlagern sich in Räume, in denen sie noch weitgehend ungehindert operieren können. Im Gegensatz zum Partisanen agiert der Terrorist transnational, indem er seine internationalen Gegner vorwiegend auf deren Territorium angreift, während der Partisan auf seinem ‚eigenen‘ Territorium Krieg führt und dort seinen Gegner in einem langen Krieg zu zermürben versucht. Der Partisan dehnt den Krieg in Raum und Zeit aus und versucht hierbei, unerkannt zu bleiben. Die Unterscheidung zum Guerilla ist schwimmend, in der Literatur werden verschiedenste Merkmale zur Kennzeichnung der beiden Gewalttypen bzw. -formen diskutiert.109 Im Folgenden verwende ich beide Begriffe synonym, weil sie doch weitgehend dasselbe bezeichnen.110 Eine wichtige Differenzierung kann man
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darin sehen, dass der Begriff des Partisanen eher für Kämpfer im ländlichen Raum verwendet wird, während der städtische Kämpfer eher als Guerilla bezeichnet wird. Aber Strategie und Taktik sind – selbstverständlich mit gewissen Abweichungen und Schwerpunktsetzungen – beim Partisan und beim Guerilla weitgehend ähnlich.
8.3.2. Mao Tse-tung als Theoretiker und Praktiker des Partisanenkrieges Der Partisanenkrieg ist ein zentrales Phänomen des asymmetrischen Krieges, der ab den 30er Jahren, dann und vor allem in der Mitte des 20. Jahrhunderts und insbesondere während des Zweiten Weltkrieges, die weltpolitische Landkarte samt den damit verbundenen Kräfteverhältnissen radikal umgestülpt hat. Am bedeutsamsten waren sicherlich die Partisanenbewegungen in Indochina, vor allem in China unter Mao Tse-tung, aber auch im Zweiten Weltkrieg gegen den deutschen Faschismus und im Kampf in Kuba gegen die herrschende Clique unter Fulgencio Batista. Die Kriegstheoretiker, die selbst im Partisanenkrieg aktiv gekämpft haben, wie etwa Mao Tse-tung oder Ernesto Che Guevara, waren wichtiger und prägender für die Theorie und Praxis des Partisanenkrieges im 20. Jahrhunderts als verschiedene Vorläufer im 18. und 19. Jahrhundert. Einer der ersten, wenn nicht der erste systematische Denker, war Mao Tse-tung, der seine Theorie zugleich als praktische Anleitung für den Kampf des chinesischen Volkes gegen den japanischen Imperialismus formulierte. Im Jahr 1937 kam es zu einem Zusammenstoß chinesischer und japanischer Truppen an der Marco-Polo-Brücke nördlich von Peking. Zunächst versuchte man über Verhandlungen den Konflikt beizulegen und ihn nicht eskalieren zu lassen. Aber die damalige japanische Regierung nahm diese nicht ernst, sondern versuchte den Konflikt zu verschärfen. Schnell flammten überall Feindseligkeiten auf und die Japaner ergriffen diese Gelegenheit und besetzten vor allem im Osten erhebliche Teile Chinas. Die chinesische Armee unter der damaligen Führung Chiang Kai-sheks war den Japanern in allen Bereichen unterlegen und leistete keinen ernsthaften Widerstand. Shanghai und Nanking, die damalige Hauptstadt, wurden schnell erobert und besetzt. 1940 setzten die Japaner eine Marionettenregierung ein und hatten so die Kontrolle über den gesamten östlichen Teil Chinas und vor allem über die Häfen. Gegen diese massive militärische Übermacht entwickelte Mao Tse-tung im Frühjahr 1937 sein Konzept des Partisanenkrieges.111 Für Mao Tse-tung stellte sich die Frage, wie eine schwache Armee gegenüber der stärkeren und besser ausgerüsteten japanischen siegreich sein könnte. Neben dem normalen Krieg, den die regulären Streitkräfte austragen, sollte der Partisa-
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nenkrieg intensiv geführt, ihm zunächst vorausgehen, ihn dann später ergänzen und schließlich durch den normalen Krieg ersetzt werden. Im Widerstandskrieg gegen die japanische Aggression „spielt die reguläre Kriegführung die Hauptrolle, der Partisanenkrieg eine Hilfsrolle“ – so Mao Tse-tung apodiktisch.112 Aber die Relativierung der Aussage folgt unmittelbar: Der Partisanenkrieg spielt eine eigenständige strategische Rolle im Krieg gegen Japan und nicht allein eine rein taktische im Rahmen der regulären Kriegführung. Die Gründe sind vielschichtig, aber am wichtigsten ist die Schwäche des chinesischen Heeres und der tradierten Streitkräfte. Ein großes Land mit schwachen Streitkräften steht der Armee eines kleinen Landes mit starken Streitkräften gegenüber. Aus dieser grundlegenden Asymmetrie entwickelt Mao Tse-tung dann die Strategie und Taktik des Partisanenkrieges. Bei ihm werden sechs Sachverhalte wichtig, die auch in vielen anderen seiner Schriften immer wieder erwähnt und variiert werden.113 Zunächst die „initiativreiche, flexible und planmäßige Durchführung von offensiven Aktionen im Rahmen der Defensive.“114 Diese für sein Denken typische Dialektik kommt darin zum Ausdruck, dass es im Partisanenkrieg „möglich und notwendig (ist), offensive Aktionen in operativer und taktischer Hinsicht im Rahmen der strategischen Defensive durchzuführen, Schlachten oder Gefechte mit rascher Entscheidung im Rahmen eines strategisch langwierigen Krieges und operative oder taktische Aktionen auf den inneren Linien auszutragen.“115
Der Partisanenkrieg ist nach dieser Sichtweise ein Krieg der Defensive, in dem die Partisanen dem Gegner militärisch unterlegen sind, aber diese Unterlegenheit in einen Vorteil umwandeln wollen. Die Offensiven nehmen deshalb die „Form von Überraschungsangriffen“ an und sollen, ja müssen, die militärischen Operationen zu einer „raschen Entscheidung“ bringen.116 Dies erfordert eine Konzentration der Kräfte, ein rasches und geheimes Handeln, viele Überraschungsaktionen, eine große Anzahl von nur kleinen Angriffen und eine maximale Vernichtung des Feindes. Auch wenn sich die Kämpfe über einige Tage hinziehen können, so ist die Schnelligkeit der Operationen zentral und sie sollten eher am gleichen Tag abgeschlossen werden. Daneben tritt ein weiteres Prinzip: Man muss eine große Kraft konzentrieren, um eine kleine Einheit (des Feindes) zu schlagen und nie die großen Einheiten angreifen. Eine große Anzahl von solchen Angriffen, die man auch als militärische Nadelstiche bezeichnen könnte, muss mit Erfolg abgeschlossen werden, um so den Feind zu zermürben. Hierbei sind Initiative, Flexibilität und Planmäßigkeit zentral. Die Partisanen führen einen „Bewegungskrieg“, der von Tag zu Tag und von Ort zu Ort erweitert werden soll. Weil der Gegner in einem großen Gebiet operiert, soll der Krieg räumlich ausgedehnt und der Feind dadurch geschwächt werden. Er kann seine Kräfte dann nicht mehr konzentrieren und wird verlustanfälliger. Damit untrennbar verbunden ist Flexibilität.
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8. Die Politik des Krieges “Der Charakter des Partisanenkrieges macht es notwendig, dass die Kräfte jeweils entsprechend der vorliegenden Aufgaben sowie der Feindlage, dem Gelände, der örtlichen Bevölkerung und anderen Umständen flexibel eingesetzt werden.“117
Das alles soll und muss planmäßig vollzogen werden. Jeder Aktion muss ein sorgfältig ausgearbeiteter Plan vorausgehen, indem die „Klärung der Lage, die Festlegung der Aufgaben, die Aufstellung der Kräfte, die Durchführung der militärischen Ausbildung und der politischen Erziehung, die Sicherung der Versorgung, das Instandsetzen der Ausrüstung, die Unterstützung durch die Bevölkerung usw. (...)“ erfolgt sind. 118
Diese akribische Aufzählung verdeutlicht die Wichtigkeit der Planung, die – da ist Mao Tse-tung eindeutig – nur ein Führer vollziehen kann. Insofern schließt die Planmäßigkeit die Ausbildung von entsprechenden politischen Kadern ebenso ein wie die politische Erziehung der Bevölkerung. Insgesamt wird hier eine Form der radikalen Kriegführung angestrebt, die die Tötung des Feindes und weniger seine Gefangennahme zum Ziel hat. An anderer Stelle spricht Mao Tse-tung dann auch von einem „totalen Widerstandskrieg der ganzen Nation“, der allein den endgültigen Sieg garantiert und in dem alle Kräfte des Volkes mobilisiert werden müssen.119 Diese Formulierung ist durchaus ernst zu nehmen, sie erfordert die völlige Unterordnung des gesamten gesellschaftlichen Lebens unter die Ziele des Krieges, die bereits Ludendorff so umfassend und radikal postuliert hatte (vgl. oben Kap. 8.2.). Zum Zweiten ist die Koordination mit der regulären Kriegführung elementar, um auf strategischer, taktischer und operativer Ebene eine optimale Kraft gegen den Feind zu entwickeln. Hier betont Mao Tse-tung die Rolle des Partisanenkrieges bei der Schwächung des Feindes, die sich hinter dem „Rücken des Feindes“ abspielt und „moralische Begeisterung (...) bei den regulären Truppen überall im Lande und beim gesamten Volk“ hervorrufen soll.120 Drittens ist die Errichtung von Stützpunktgebieten zentral. Weil der Krieg langandauernd und hart sein wird, müssen die Partisanen im Hinterland des Feindes Stützpunktgebiete aufbauen, in denen sie ihre Kräfte sammeln, aber auch strategische Angriffe planen und die Versorgungslinien des Feindes stören oder gar zerstören können. „Die Langwierigkeit und Härte des Krieges machen es also unmöglich, den Partisanenkrieg im Hinterland des Feindes ohne Stützpunktgebiete fortzusetzen. (...) Ohne Stützpunktgebiete jedoch kann ein Partisanenkrieg nicht von Dauer sein und sich auch nicht entwickeln.“121
Diese können im Gebirge, in der Ebene, aber auch in Fluss-, Seen- und Mündungsgebieten errichtet werden und erfüllen jeweils unterschiedliche Funktionen. Aber immer haben sie die Aufgabe, die Verbindung mit den Massen zu verbessern und dadurch eine strategische oder taktische Ausgangsposition auszubauen, die die laufende Bekämpfung des Feindes verbessert. Stützpunktgebiete sind im-
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mer auch Orte, an denen der „Aufbau einer Streitmacht“122 erfolgen soll. Die politischen Führer des Partisanenkrieges haben die Aufgabe, die Massen im Kampf gegen die japanischen Invasoren zu mobilisieren. Dazu muss man „die Arbeiter, die Bauern, die Jugend, die Frauen, die Kinder, die Kaufleute und die Angehörigen der freien Berufe – je nach dem Grad ihres politischen Bewusstseins und ihres Kampfgeistes – in die verschiedenen zum Kampf gegen Japan erforderlichen Organisationen eingliedern und diese Organisationen Schritt um Schritt erweitern.“123
Diese etwas dogmatische und kleinliche Aufzählung ist typisch für den Stil des gesamten Textes und die Art des Denkens von Mao Tse-tung und der gesamten Kommunistischen Partei. Offensichtlich kann es nur so gelingen, die jeweiligen Beteiligten zu motivieren und zu mobilisieren. Wer das nicht mit sich machen lässt, wird entsprechend definiert und mit entsprechenden Handlungsanweisungen versehen. Im Verlauf des gesamten Kampfes „müssen wir die offenen und versteckten Landesverräter ausmerzen.“124 Wer immer auch die ‚versteckten‘ Landesverräter sein mögen, ihr Schicksal ist vorgegeben: Ausmerzung durch Tötung ist die Prämisse, die hier vorgegeben wird. Dies alles soll – viertens – im Kontext einer strategischen Defensive ebenso wie einer taktischen Offensive erfolgen, wobei bei ersterer der Feind in der Offensive ist und bei letzterer die Partisanen selbst. In der strategischen Defensive soll eine kleine Anzahl von Kämpfern oder Partisaneneinheiten eine maximale Zahl der Feinde binden und in dauernde kleine Gefechte verwickeln, die den Feind zermürben und seine Kampfmoral mindern. Dazu gehört es auch, den Feind von seinen Waffen- und Lebensmittelverbindungen abzuschneiden und seine Verbindungslinien durch kleine Angriffe zu unterbrechen. Die Offensive im Partisanenkrieg kommt erst dann zum Tragen, wenn sich der Feind in der Defensive befindet. Bis dahin sollen sich die eigenen Truppen ausruhen, restrukturieren, weiter ausbilden und so auf die endgültige Offensive vorbereiten. Fünftens muss der Partisanen- zum Bewegungskrieg entwickelt werden. Dies bedeutet die langsame Umwandlung der Partisaneneinheiten in reguläre Truppen, die dann den Bewegungskrieg führen. Dazu bedarf es der „Erhöhung der Zahl und Qualität der Truppen.“125 Ersteres schließt die Überzeugung und Mobilisierung der Massen ein, die für den unmittelbaren Krieg gewonnen werden sollen. Die Qualität wird zweitens erhöht durch eine bessere militärische Ausbildung, durch die „Stählung im Verlauf des Krieges“126 und durch eine verbesserte Bewaffnung. Abschließend und sechstens geht es um die richtige Beziehung zwischen den Kommandostellen. Da es ein wesentliches Merkmal der Partisaneneinheiten ist, vor allem dekonzentrierte Aktionen zu verwirklichen, ist eine Zentralisierung der Aktivitäten nicht zielführend und „mit der hochgradigen Beweglichkeit des Partisanenkrieges unvereinbar.“127 Gleichwohl müssen die Beziehungen zwischen den Kommandostellen verbessert werden, um die strategische und taktische Abstim-
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mung zwischen Partisanen und regulären Kriegstruppen zu optimieren. Nur so kann eine „zentralisierte strategische Truppenführung“ hergestellt werden, die die Planung des Partisanenkrieges mit der regulären Kriegführung des Staates verbindet und eine einheitliche Leitung der antijapanischen bewaffneten Kräfte ermöglicht.128 Aber zentral bleibt ein „selbständiger und unabhängiger Partisanenkrieg bei einheitlicher Strategie.“129 Unschwer ist zu erkennen, dass bei Mao Tse-tung die Politik des Krieges eine komplexe und variable Verbindung zwischen verschiedenen kriegerischen Kräften ist, die je nach Lage der Dinge variiert und in unterschiedlichen Kombinationen zum Einsatz kommt. Das strategisch Neue an seinem Konzept ist darin zu sehen, dass es die zunächst asymmetrische militärische Ausgangslage zur Kenntnis nimmt, dann nach Wegen fragt, wie man in dieser Defensive dennoch zu militärischen Erfolgen kommen kann, die dann in ihrer Summe zu einem Gleichgewicht der militärischen Kräfte und schließlich zum Sieg über den Gegner führen.
8.3.3. Che Guevara und die lateinamerikanische Variante des Partisanenkrieges Ernesto Che Guevara hat nach dem erfolgreichen Kampf der Partisanenbewegung in Kuba gegen die diktatorische und von den USA unterstützte Regierung von Fulgencio Batista eine Verallgemeinerung dieser Erfahrung formuliert. Er wollte sowohl die Lehren dieses Krieges zusammenfassen als auch eine Strategie und Taktik für neue Partisanenkriege entwickeln, die in anderen Regionen der Welt und unter anderen strategischen und taktischen Bedingungen stattfinden. Die hier entstandene Schrift ist eigentümlich, weil sie hoch abstrakte theoretische Überlegungen ebenso enthält wie sehr konkrete Hinweise darauf, was im Rucksack des Partisanen Platz finden muss: Seife, Kamm und Zahnbürste, aber auch Teller und Schüssel bis zum Waffenöl und dazugehörigem Lappen.130 Seine Schrift beeinflusste revolutionäre Bewegungen nicht nur in Lateinamerika, sondern auch in den hochindustrialisierten Ländern Europas. Seine Schriften waren weit mehr verbreitet als die von Mao Tse-tung und seine Ideen wurden auch weit mehr in praktischen Kämpfen nachgeahmt. Che Guevara hat nach seiner Verabschiedung aus der kubanischen Regierung in Afrika und dann später in Lateinamerika selbst nach diesen Prinzipen gekämpft, war aber dort nie erfolgreich. Er fand schließlich in Bolivien im Oktober 1967 bei dem missglückten Versuch, dort eine Partisanenarmee aufzubauen, den Tod. Er wurde, im Jahr 1928 in Rosaria in Argentinien geboren, nicht einmal 40 Jahre alt. Entgegen seiner eigenen Prämisse, dass der Partisanenkampf immer erfolgreich ist und der Klassenfeind geschlagen wird, hat Che Guevara in Bolivien diesen Kampf nicht gewonnen, er konnte ihn nicht einmal beginnen. Zu schnell wurde er getötet.
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Was sind nun die zentralen Prämissen, die er in seinen Schriften formuliert hat und wo unterscheidet sich sein Konzept von dem von Mao Tse-tung formulierten? Zunächst wird von Che Guevara immer wieder betont, dass es sich beim Partisanenkrieg um eine Methode, eine spezifische Form des Kampfes handelt, um ein politisches Ziel zu erreichen: Das für jede Revolution „unerlässliche, unumgängliche Ziel“ der „Eroberung der politischen Macht.“131 In diesem Kampf sind die Partisanen die „kämpferische Avantgarde des Volkes, an einem bestimmten Ort irgendeines Territoriums postiert, bewaffnet, bereit eine Reihe militärischer Aktionen zu entfalten, die auf das einzig mögliche strategische Ziel hin gerichtet sind: die Eroberung der Macht. Sie werden unterstützt durch die Bauern- und Arbeitermassen des Gebietes und des ganzen betreffenden Territoriums. Ohne diese Voraussetzungen lässt sich nicht von Partisanenkrieg sprechen.“132
Daraus ergibt sich schlüssig, dass in den unterentwickelten Staaten der Schauplatz des Kampfes grundsätzlich die ländlichen Gebiete und nicht die Städte sind. Die Ideen eines städtischen Partisanen- und Guerillakrieges wurden erst später entwickelt und v. a. in Uruguay realisiert133, wobei diesen Konzepten wenig Erfolg beschieden war. Das Operieren in den ländlichen Gebieten ist in seinem Konzept zentral, denn der Partisan muss das „Gelände, in dem er kämpft, seine Zugänge und Rückzugswege bis in alle Einzelheiten kennen. Er muss schnell handeln und selbstverständlich der Unterstützung der Bevölkerung sicher sein, ebenso wie er alle Stellen kennen muss, an denen er sich verbergen kann. Daraus folgt, dass der Partisan in ländlichen und wenig besiedelten Gebieten kämpfen muss. Da aber in den ländlichen Gebieten der Kampf des Volkes um seine Rechte vor allem um die Veränderung der bestehenden Verhältnisse in der Bodennutzung geführt wird, tritt der Partisan vor allen Dingen als Kämpfer für die Agrarreform auf.“134
Che Guevara verweist hier auf China, Vietnam und Puerto Rico, in denen dieser Kampf immer auf dem Land und mit den Bauern geführt wurde. Dieser Kampf ist zudem ein defensiver Kampf. Man darf und soll eine Kampfhandlung auf keinen Fall beginnen, wenn „der Erfolg nicht von Anfang an gewährleistet ist.“135 Fast wortgleich mit Mao Tse-tung betont er, dass der Partisanenkrieg nur eine, und zwar die erste Etappe in einem Bürgerkrieg ist, der ab einem bestimmten Punkt in einen ‚normalen‘ Krieg zwischen den jeweiligen Armeen umschlägt. Der Partisanenkrieg kann nie allein eine Entscheidung herbeiführen, er ist nur die erste, aber unvermeidliche Etappe. Der Sieg kann nur durch eine reguläre Armee erzielt werden, die sich aus der sich vergrößernden Partisanenarmee entwickelt. Aber in der ersten Etappe des Krieges ist es die wichtigste Aufgabe der Partisanen, der Vernichtung durch den Gegner unter allen Umständen zu entgehen. Umgekehrt müssen die Anschläge gegen den Gegner „pausenlos erfolgen“136, ihm darf keine Atempause, keine Ruhe gegönnt werden. Zudem müssen sie schnell und mit großer Wirkung erfolgen, sie „dürfen nur wenige Minuten dauern.“137
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Nur durch solch schnelle Nadelstiche kann man die Kampfmoral des Feindes untergraben. Zu ihnen gehören auch Sabotageakte und dadurch kann man „das industrielle Leben einer ganzen Stadt lahmlegen, sie ohne elektrischen Strom, ohne Wasser und Verbindungsmittel lassen und bewirken, dass sich die Bewohner dieser Stadt nur noch zu bestimmten Zeiten auf die Straße wagen.“138 Parallel dazu muss die Bevölkerung politisiert werden, es muss mit ihr eine „intensive politische Arbeit“ durchgeführt werden und „alle Formen der Aufklärung“ müssen Anwendung finden.139 Der wichtigste Punkt in der Partisanentaktik ist jedoch die „Beweglichkeit“140, d. h. anzugreifen, im Zweifelsfall mehrmals, und sich dann in unerreichbare Gebiete zurückzuziehen. So kann man den zahlenmäßig überlegenen Gegner stichpunktartig angreifen, sich zugleich seinen Angriffen entziehen und an anderen Punkten erneut und überraschend den Kampf eröffnen. Dazu gehören auch bewegliche Angriffe auf die Transporte des Feindes. Da er sich in feindlichem Gebiet bewegt, müssen seine Truppen ununterbrochen mit Nachschub versorgt werden, was ihn zusätzlich verletzlich macht. Punktuelle, schnelle und nächtliche Angriffe sind besonders wirkungsvoll, ohne dass man sich dem Gegner vorschnell aussetzt. Dies wird dadurch begünstigt, dass der Partisan „ständig unterwegs zu sein und sich nirgends längere Zeit aufzuhalten“141 hat. Alle Bequemlichund Annehmlichkeiten des normalen Alltagslebens, die man besonders in den Städten vorfindet, sind dem Partisanenleben abträglich. Der Kampf bei Nacht wird immer wieder herausgehoben und bedeutet u. a., dass die Partisanen das Gelände und die Gegend gut kennen müssen, um sich im Dunkeln sicher bewegen und den Gegner überraschend angreifen wie sich danach ebenso schnell zurückziehen zu können. Während er gegenüber den Verwundeten nachsichtig zu sein hat, muss er gegenüber dem kämpfenden Soldaten umso gnadenloser sein. Er muss „Entsetzen hervorrufen“ und ihn in „vernichtende harte Kämpfe verwickeln.“142 Der Kampf ist im Leben der Partisanen das allerwichtigste, obwohl er nur einen geringen Zeitraum des Partisanenlebens einnimmt. Aber er entscheidet über Sieg oder Niederlage und hat daher eine Schlüsselstellung. Hier formuliert Che Guevara eine Menge von Richtlinien, die nicht im Detail wiedergegeben werden müssen. Während die Ausführungen darüber relativ allgemein ausfallen, wird an anderen Stellen erstaunlich konkret argumentiert. Partisaneneinheiten sollen 25 Mann nicht übertreffen, idealerweise nur 10 bis 15 Mann umfassen, sie sollen mit 15-20 gewöhnlichen Gewehren und etwa 10 automatischen Waffen ausgerüstet sein, vor allem vom Typ ‚M1 Garand Browning‘ oder dem verbesserten belgischen FAL und dem M/14.143 Und – man glaubt es kaum – der Partisan soll „immer gutes und festes Schuhwerk“ tragen und in den befreiten Gebieten Schuhwerkstätten und später Schuhfabriken errichten.144
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Che Guevara betont immer wieder die politische Ausrichtung des Partisanenlebens. Er soll den „Willen des Volkes nach Befreiung von seinen Unterdrückern (...) vollstrecken."145 Hier und an vielen anderen Stellen wird die Stellvertreterfunktion des Partisanen hervorgehoben. Er ist ein „Umgestalter der Gesellschaft“ und ein „Vollstrecker des zornigen Protestes seines Volkes.“146 Er handelt stellvertretend für das Volk und nicht gleichlaufend mit ihm. Er nimmt eine herausragende Stellung ein, die weitreichende Folgen für sein Benehmen hat und extreme Selbstdisziplin verlangt. Er muss nicht nur ein Asket sein und sich durch einen außerordentlichen Willen zur Selbstbeschränkung auszeichnen: er muss zudem Quittungen unterschreiben, wenn er seine Waren nicht bezahlen kann und dies zu einem späteren Zeitpunkt nachholen. Auch Bodenreformen müssen vollzogen und den Bauern neues Eigentum zugeführt werden. Gerade diese Umverteilung kann nur mit Gewalt gegen die Großgrundbesitzer erfolgen, die folgerichtig zu Feinden werden und militant bekämpft werden müssen. In dieser Schrift wird Che Guevara vor allem als ein Theoretiker des Partisanenkrieges sichtbar, aber allein darauf aufbauend konnte nicht der Mythos entstehen, der ihn in den späten 60er und den frühen 70er Jahren vor allem in Europa, aber auch in Lateinamerika und auf anderen Kontinenten, umgab. Sein Konterfei schmückte unzählige Wohngemeinschaften, war auf unzählige Hauswände aufgesprüht und Plakate mit seinem Bildnis wurden auf unzähligen Demonstrationen getragen. Was waren die Gründe bzw. Motive, die diesen Mythos entstehen ließen und relativ dauerhaft stabilisierten? Was an ihm wurde von der Jugend der industrialisierten Staaten in Amerika und Europa, aber auch anderswo, so sehr bewundert? Ich sehe einen der Hauptgründe darin, dass er wie kein anderer die Idee einer permanenten Rebellion (und nicht einer permanenten Revolution) verkörperte. Rebellion ist der Auf- und Widerstand gegen eine bestehende Ordnungsmacht, die gewaltsame und nicht-gewaltsame Formen annehmen und individuell wie kollektiv ausgeübt werden kann. Während bei einer Revolution die bestehenden Macht- und Gewaltstrukturen überwunden und durch neue Macht- und Gewaltstrukturen ersetzt werden sollen, zielt die Rebellion vor allem auf Widerstand, aber nicht primär auf den (gewaltsamen) Umsturz. Das kann zwar auch der Fall sein, ist aber eher die Ausnahme.147 Wie kaum ein anderer verkörperte Che Guevara die Rebellion als Lebensprinzip. Er blieb nicht auf Kuba und in seinen Regierungsämtern, die er mehr schlecht als recht ausübte, sondern ging nach Afrika, dann zurück nach Lateinamerika und kämpfte dort erneut als Partisan unter einfachsten und gefährlichsten Lebensbedingungen. Er sprach dadurch vor allem die Jugend an, die für die Zukunft eines Landes wichtig ist und die er per se als rebellisch betrachtete. Rebellion in ihren verschiedenen Formen gerann so zum wichtigsten politischen Handlungsprinzip, zur politischen Daueraufgabe und zugleich zum indivi-
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duellen Lebensprinzip. Im Gegensatz zur Revolution und der damit verbundenen disziplinierten Ein-, ja Unterordnung unter ein revolutionäres Konzept und eine ausführende Gruppe, meist eine kommunistische Kaderpartei, hat Rebellion immer einen anarchischen Einschlag. Nicht zuletzt dieser Aspekt machte Che Guevaras Konzept für die jüngeren Generationen in den hochindustrialisierten Ländern so attraktiv. Im Gegensatz zum meist Uniform tragenden Mao Tse-tung und seiner glatt gekämmten Frisur verkörperte Che Guevara mit seinen langen Haaren, dem Bart und seiner Zigarre das anarchische Rebellionsprinzip.
8.3.4. Der Partisan in der konservativ-kriegerischen Diskussion des 20. Jahrhunderts bei Rolf Schroers Während bei den oben erwähnten Theoretikern (und Praktikern) des Partisanenkrieges der Partisan immer als Bestandteil eines Kollektivs bzw. einer kollektiv kämpfenden Einheit betrachtet wurde, wird der Partisan vor allem in modernisierungskritischen Konzepten radikal individualisiert. Bei Rolf Schroers beispielsweise taucht er als prototypische Figur immer nur im Singular auf. Der Partisan handelt bei ihm nicht im Kollektiv, sondern als einzelne und eigenverantwortliche Figur. Als solche ist er eine reaktive Figur, die auf Unterdrückung, auf ungerechtfertigte persönliche oder strukturelle Herrschaft reagiert und gegen die herrschende Ordnung kämpft. Diese Ordnung akzeptiert er nicht, er „findet sich mit seiner Ohnmacht nicht ab“148, sondern stellt sich ihr entgegen. Weil er wegen der asymmetrischen Machtkonstellation den direkten Kampf nicht riskieren kann, kämpft er aus dem Verborgenen, aus dem Untergrund. Aber immer kämpft er individuell, er agiert als „entschlossener Einzelkämpfer“ und hierbei hat er die Chance in einer konkreten Aktion erfolgreich zu sein, kann aber keinen „allgemeinen Erfolg“149 erringen. Er kann nur sich selbst opfern, ein anderes Potential kann er in diesen ungleichen Kampf nicht einbringen. Allein durch (s)eine gewaltsame Tat bringt er zum Ausdruck, dass er die herrschende Ordnung nicht akzeptiert, sondern sich gegen sie stellt und es gibt nichts Zwingenderes für ihn, als sich gegen diese Herrschaft zu stellen und hierbei sein Leben einzusetzen. Seine Macht besteht in seiner Ohnmacht, aber er setzt sie als Machtinstrument durch „die Bereitschaft zum Selbstopfer“ ein. Der Partisan selbst wird definiert als eine politische Figur, besser: als eine Gegenfigur zur bestehenden Herrschaftsordnung mit eigenem Profil: „Wer sich auf Art und Heimat, auf heilige Gewissheit beruft, auf persönliches Gewissen überhaupt, muss zur Gegenfigur der nach dem technischen Prinzip organisierten Welt werden. Er müsste innerhalb dieser Welt der stets Unterlegene sein und dennoch sein Eigengewicht nicht verlieren. Er müsste eine, seine menschliche Qualität als eine Wirklichkeit bezeugen, die der Niederlage überlegen ist.“150
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Art, Heimat und heilige Gewissheit, das sind die zentralen Begriffe, die das Wesen des Partisanen ausmachen und ihn zu einer politisch rückwärtsgewandten Figur machen. Denn er verteidigt die Lebens- und Charakterart einer bestimmten Gruppe ebenso wie deren Heimat, die durch die herrschende Ordnung entortet wird. Zudem ist der Partisan allein seinem Gewissen, ja seinem heiligen Gewissen unterworfen ˗ allein es ist sein herrischer Gebieter. Aber er ist kein Soldat. In der industrialisierten und verwalteten Welt wird selbst der Soldat als Kämpfer soweit zivilisiert, dass er seinen soldatischen Charakter verliert und zum „Maschinisten“151 mutiert. „Soldaten gibt es nicht mehr. Dass der Soldat verschwand, heißt nur, dass der Krieg unmenschlich geworden ist.“152 Allein der Partisan eröffnet für sich einen politischen und militärischen Handlungsspielraum, der ihn zum kämpfenden Subjekt machen kann. Der Partisan ist ein Verteidiger der alten Ordnung, er „macht im Namen des Untergegangenen mobil.“153 Er will nicht – wie die Partisanen in den Theorien von Mao Tsetung und Che Guevara – die Zukunft revolutionär gestalten, sondern das Untergegangene zurückholen und verteidigen. Der Diktator entortet die Legitimatität der alten und tradierten Ordnung als Person, der Fremdherr entortet sie territorial – Entortung ist hier der zentrale Begriff und umschreibt einen Prozess, in dem die alte Ordnung „tödlich bedroht ist.“154 Zentral ist das technische Prinzip, das in allen gesellschaftlichen Bereichen Anwendung findet und Handeln als Ausloten des Raums der Freiheit verunmöglicht. Das technische Prinzip wird immer mehr entortet, es wird von Kräften durchgesetzt, die keinem Ort mehr zurechenbar sind und keiner Verantwortung unterworfen werden können. Dagegen rebelliert der Partisan, er will die alte Ordnung verteidigen und zurückerkämpfen. „Sein moralisches Widerstandsrecht wird so aus seiner Ansässigkeit, seiner Bodenständigkeit, aus seiner Volkszugehörigkeit gefolgert. Heimat hat in diesem Sinne eine unabdingbare oder unveräußerliche Verbindlichkeit, und fasst mehr als ein bestimmtes, umgrenztes und gegliedertes Territorium.“155
Doch wer sichert und stabilisiert die gegenwärtige Ordnung mit welchen Mitteln? R. Schroers unterscheidet hierbei insgesamt sechs Haltungen. Zunächst die naive Haltung, die den Mitläufer charakterisiert und ihn immun gegen jegliche sich widersetzende Handlung macht. Für ihn ist die bestehende Ordnung die zentrale Stütze seines Bewusstseins und stabilisiert es. Die loyale Haltung fühlt sich der bestehenden Ordnung stärker verpflichtet als dem eigenen Nutzen. Man tut, was von einem erwartet wird und man identifiziert sich nicht mit diesen Handlungen noch mit der Absicht des Auftraggebers.156 Zentral ist die Erwartung, dass die Ordnung herrscht und erhalten bleibt. Die rentnerhafte Haltung strebt nach dem „möglichst großen Feierabend“157, dem ununterbrochenen Konsum. In die Arbeit fließt kein eigenes Interesse ein, keine eigene Motivation, sondern wird ausschließlich „gegen Stundenlohn geliefert.“158 Eine analoge Figur der Desinter-
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essiertheit findet man auch in der Produktionssphäre und sie wird als ingenieurhafte Haltung bezeichnet. Ein „Funktionär des technischen Prinzips“159 ist der „verfluchte wie gefeierte Nihilist, der illusionslos das Fragment der Welt montiert, das er gerade auf der Werkbank hat, als Forscher, als Ingenieur, als Techniker der Macht. Für ihn scheidet das Privatleben aus; auch bedarf er keiner Ideologie, wenn die Nüchternheit und Strenge des technischen Prinzips nicht als solche missverstanden wird.“160
Schließlich wird noch eine letzte Haltung erwähnt, die agentenhafte. Sie realisiert sich im Verborgenen, im Untergrund, in der Illegalität. Sie wird von einer Antiideologie aktiviert, die sich grundlegend gegen die herrschende Ordnung richtet. Dem ‚Agenten‘ wird die Legalität zum Instrument für seine Tätigkeit; die Revolution wird pragmatisch und in der Legalität vorbereitet, aber sie ist gleichwohl eine ‚illegale‘ Operation, weil sie die bestehende Ordnung beseitigen will. „So kam auch Hitler an die Macht“, kommentiert R. Schroers ungerührt.161 Arbeitet der Agent im Auftrag fremder Mächte, den ‚interessierten Dritten‘, so versucht er von Außen kommend in die Abläufe des für ihn zu bekämpfenden und feindlichen Systems einzudringen und es von Innen zu zerstören. Die partisanische Haltung dagegen, die im Mittelpunkt seiner Überlegungen steht, setzt darauf, dass ein Täter illegal handelt, aber „die Selbstverantwortung nach dem Maß seiner Einsicht zu tragen gewillt ist (…): Der Einzelne fühlt sich an Ort und Stelle und unmittelbar für das Ganze verantwortlich und gibt diese Verantwortung weder an die herrschende noch an die feindliche Ideologie, nimmt sie vielmehr ganz in sich auf.“162
Bevor der Partisan aus dem Verborgenen als Kämpfer auftaucht und sichtbar ins Tageslicht tritt, durchläuft er eine „Inkubationszeit“, in der sich sein Unbehagen verstärkt und die Erkenntnis gewiss wird, dass die bestehende Ordnung feindlich ist, dass sie Rechte einschränkt und nicht akzeptable Anforderungen stellt. „So wird ihm – anarchisch – Ordnung als Ordnung zweifelhaft.“163 An diese Periode schließt sich eine weitere an, eine Art verschärfte Inkubationszeit. Es ist die „konspirative Periode“164 und in ihr tritt nun das Profil des Partisanen deutlich zu Tage. Zentral bei R. Schroers ist die Vorstellung der radikalen Individualität des Partisanen. Er entscheidet immer alleine und einsam über den zu bekämpfenden Gegner, den Ort und den Zeitpunkt des Widerstandes, die einzusetzenden Techniken und Mittel und die Formen seiner Unsichtbarkeit. Bei alledem tritt der Partisan „in die völlige Einsamkeit zurück“ und er will „kein Rädchen, sondern Sprengstoff sein, mit der Person als Zünder.“165 Der Inkubationszeit schließt sich die aktive Phase an. Mit der Aktion tritt der Partisan aus der Verborgenheit, aus der Illegalität heraus, wird sichtbar und zieht dadurch die Aufmerksamkeit des Feindes auf sich – und seine mögliche Vernichtung durch ihn, sofern er nicht zuvor den Feind vernichtet. Die potentiellen Aktionen des Partisanen reichen vom Tyrannenmord über die Anwendung von Terror bis zu den verschiedensten Formen von Sabotageakten. Die militärisch und
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gewalttätig zugespitzteste Form der Gewaltanwendung ist dann der „offene Krieg“ gegen einen souveränen Gegner, bei dem die Partisanen – nun im Plural – als „irreguläre Truppen“ eingesetzt werden.166 Die zentrale Phase ist jedoch die „absurde Periode“167, in der der Partisan einen zweifachen Tod sterben kann. Einmal den politischen Tod und dieser tritt nach dem Sieg über den Feind ein. Der Partisan muss die Ordnung der Ordnung übernehmen, sie stabilisieren, Gesetze erlassen, Herrschaft ausüben und die Verwaltung tätigen. Dazu bedarf es einer Ideologie, die nicht allein den Partisanenkrieg legitimiert, sondern zugleich auch die neuen Herrschafts- und Machtstrukturen. Dies alles zerstört den Charakter, besser das Wesen des Partisanen, der seinem „tiefsten Wesen nach anarchisch“ sein muss.168 Mutiert er zum Funktionär, dann stirbt er seinen politischen Tod. Ist der Partisan mit (s)einer Niederlage konfrontiert, so ist er nicht nur militärisch, sondern auch politisch gescheitert. Er kann dann sein Opfer mit sich in den Tod reißen, indem er sich „mit dem Unterdrücker gemeinsam in die Luft (sprengt).“169 Er stirbt dann nicht einen moralischen, sondern einen faktischen Tod. In absurder Weise ist damit ein Sieg verbunden: Der Partisan ist in seinem Kampf gestorben, er hat sein Leben gegeben und sich im Kampf verwirklicht – auch durch seinen selbst gewählten Tod. Seine Niederlage wird zum Sieg.
8.3.5. Zusammenfassung: Die zentralen Merkmale des Partisanenkrieges und seine Zukunft im 21. Jahrhundert Der Partisanenkrieg war – wie bereits erwähnt – eine typische Erscheinungsform des asymmetrischen Kriegs des 20. Jahrhunderts, wobei die zentralen programmatischen Prämissen vor allem von seinen Praktikern entwickelt wurden. Er war im 20. Jahrhundert ein weit verbreitetes Phänomen, das sich sowohl in Europa während des Zweiten Weltkrieges beobachten ließ als auch in vielen anderen Regionen der Welt eine große Bedeutung entwickelte. Das gilt sowohl für Asien, als auch für Afrika und Lateinamerika. In allen Regionen wurden seine Besonderheiten sichtbar, wobei ich hier allein die Konzeptionen von Mao Tse-tung und Ernesto Che Guevara ausführlicher diskutiert habe. Würde man alle anderen Partisanenkriege und deren theoretische Verarbeitung in die Analyse miteinbeziehen, so würden die Differenzen noch deutlicher ausfallen. Ich will hier den umgekehrten Weg gehen und fragen, ob man von den vielen konkreten Ausprägungen abstrahieren und so einen allgemeinen Typus des Partisanen markieren kann, der allein seine übergreifenden Merkmale formuliert. Ist ein solcher Versuch angesichts des chamäleonhaften Charakters des Partisanen überhaupt sinnvoll und kann dies zu plausiblen Ergebnissen führen? Er scheint mir sinnvoll und in einer
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abstrahierenden Zusammenfassung kann man sechs generelle Merkmale herausarbeiten.170 Zunächst: Der chamäleonhafte Charakter des Partisanen wird bereits bei der Ambivalenz seiner Zielsetzung deutlich. Sie kann sowohl konservativ als auch revolutionär sein, er will im einen Fall die Rechte und Traditionen (s)eines Volkes verteidigen und im anderen Fall durch eine Revolution eine bessere Zukunft erkämpfen. Im Partisanenkrieg in Afghanistan gegen die sowjetischen Besatzer dominierten bei den Clanchefs und der sie unterstützenden Landbevölkerung die konservativen Aspekte, während im chinesischen Befreiungskrieg ebenso wie in Vietnam und Kuba die sozialrevolutionären Zielsetzungen vorherrschend waren. Partisanenkriege sind zweitens immer eine Mischung aus Volkskrieg und militärischer Professionalität. Zwar ist diese Kombination je nach Zeit und Ort unterschiedlich ausgeprägt und meist in einer zeitlichen Stufenabfolge gedacht, aber immer sind diese Kriege eine eigentümliche Mischung aus Partisanen- bzw. Volkskrieg und professionell geführtem Krieg. Letztere werden von den Berufsrevolutionären bzw. von der „regulären Kriegführung“171 geprägt, die die militärische Professionalität verkörpern. Für erfolgreiche Partisanenkriege sind sodann „Anlehnungsmächte“172 von großer Bedeutung, die als externe Akteure die internen und national operierenden Kräfte politisch und vor allem militärisch unterstützen. Im Zweiten Weltkrieg war dies die Rote Armee der Sowjetunion, die in vielen Ländern den Partisanenkrieg förderte. Im Vietnamkrieg wurden die Partisanen sowohl von der Sowjetunion als auch zum Teil von China unterstützt, die Partisanen unter Tito in Jugoslawien von der Sowjetunion, aber auch zum Teil von den USA. Nur der Befreiungskrieg in China war weitgehend ohne die Unterstützung von ‚Anlehnungsmächten‘ erfolgreich und dies mag auch für den algerischen Befreiungskrieg gegen die französischen Kolonialisten gelten. Alle Partisanenkriege tragen viertens ländlich-agrarischen Charakter, sie fanden in sogenannten Schwellenländern oder der Dritten Welt statt. Die Ausnahmen sind hier sicherlich die Widerstandsbewegungen während des Zweiten Weltkrieges gegen den deutschen Faschismus, aber auch viele dieser Länder hinkten den anderen europäischen Ländern ökonomisch, sozial und politisch hinterher. Dies gilt insbesondere für die Partisanenkriege in den mittel- und vor allem den osteuropäischen Ländern. Immer war die Verschmelzung der Partisanen mit der einheimischen Bevölkerung von großer Bedeutung, und diese Bevölkerung war fast immer agrarisch. Zwar gab es auch Versuche, den Partisanenkrieg in die Städte zu übertragen und dort zu konzentrieren, aber diese Versuche blieben immer Stückwerk und wenig erfolgreich. In Lateinamerika waren solche Versuche sehr ausgeprägt. Die Tupamaros in Uruguay versuchten, die sich industrialisierenden Gesellschaften in den Städten zu bekämpfen, weil deren komplexe und vernetzte Infrastrukturen sie für Angriffe besonders verletzlich machen würden.
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Aber ein Rückhalt in der Bevölkerung konnte nie aufgebaut werden und die Legitimität von gewaltsamen Aktionen sank drastisch. Was übrig blieb waren dann isolierte terroristische Anschläge, die weitgehend wirkungslos blieben. Überspitzt formuliert kann man sagen, dass „urbaner Partisanenkampf einen Widerspruch in sich selbst (darstellt) und nur dann möglich (war), wenn die öffentliche Ordnung vollständig zusammenbrach.“173 Auch die Zeit spielt – fünftens – eine zentrale Rolle. Partisanenkriege sind entschleunigende Kriege in dem Sinne, als sie immer auf die zeitliche Ausdehnung des Krieges setzen. Partisanen versuchen immer lange Kriege zu führen, weil sie auf einem niedrigen waffentechnischen Niveau operieren und von der einheimischen Bevölkerung unterstützt wurden. Mao Tse-tungs Devise, dass die Partisanen in den Massen wie ein Fisch im Wasser schwimmen sollen, ist nur der metaphorisch zugespitze Ausdruck dieser Prämisse. Elementarer Bestandteil dieses ‚langsamen‘ Krieges ist auch die Errichtung einer „positiven Gegenordnung“174 in den befreiten Gebieten, die im Verlauf des Krieges nicht nur ausgedehnt werden, sondern auch an Legitimität gewinnen sollen. All das bedarf Zeit, während umgekehrt der politische Gegner bzw. der Feind immer unter Zeitdruck steht. Seine Legitimität sinkt mehr oder weniger proportional zur Dauer des Krieges und die Unterstützung durch die eigene Bevölkerung nimmt entsprechend ab. Zeit wird dadurch zur strategischen Ressource der Partisanen. Schließlich sind mit Partisanenkriegen fast immer Staatsbildungsprozesse verbunden. Viele sind eine „typische Mischung von Widerstand gegen die Fremdherrschaft und von Staats- und Nationenbildung mit sozialreformerischen Zielen.“175 Die Partisanenorganisationen übernehmen in den befreiten Gebieten fast alle Staatsfunktionen und tragen so zum Aufbau neuer Strukturen bei. Entscheidend ist hierbei allerdings, ob diese Funktionen dann auch von Staaten bzw. den entsprechenden staatlichen Verwaltungen und Behörden übernommen werden und so von den Partisanen als militärisch-politischer Organisation abgelöst werden. Gelingt dies nicht, so schlägt die Staatsbildung fehl und endet oft in ausbeuterischen Warlord-Strukturen oder in kriminell-diktatorischen politischen Regimen. Am Ende des 20. Jahrhunderts wird überdeutlich, dass der Partisan ein politischer und militärischer Typus ist, dessen Zeit abgelaufen zu sein scheint. Dies gilt erst Recht für den Beginn des 21. Jahrhunderts. Der Partisanenkrieg wirkt seltsam antiquiert und nicht mehr in die moderne Welt zu passen. Seine Antiquiertheit mag auch damit zusammenhängen, dass sich die moderne Welt – auch die Dritte Welt – immer weiter modernisiert und damit urbaner wird. Der agrarische bzw. tellurische Charakter kann in einer sich modernisierenden und industrialisierenden globalen Weltordnung nicht reanimiert werden. Auch haben die nationalen Befreiungskriege an politischer und numerischer Bedeutung verloren. Die Bildungsprozesse von Nationalstaaten sind weitgehend abgeschlossen, auch
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wenn sich hier immer wieder neu kriegerische Konflikte entzünden, wie man vor allem in Afrika beobachten kann. Aber das Ende des Kolonialismus und die neue globale Weltordnung machen es unwahrscheinlicher, dass Partisanenkriege erneut entstehen und ausgetragen werden. Auch das Konzept der Stadtguerilla, dessen grundlegende Ideen ebenfalls in Lateinamerika entworfen wurden, verlor schnell an Bedeutung und scheiterte vor allem militärisch außerordentlich schnell an den harten Gegebenheiten.176 Der Einfluss der kubanischen Revolution war zwar groß und diente vielen politischen Bewegungen in Lateinamerika als Vorbild. Gleiches gilt auch für Guerilla-Bewegungen, die sich vor allem in die Städte verlagerten, aber letztlich alle erfolglos blieben. In Uruguay war sie ein Mittelschichtsphänomen, die meisten Mitglieder der Tupamaros kamen aus den besser gestellten Mittelklassen. Nachdem die Tupamaros von den Militärs weitgehend geschlagen waren, beteiligten sie sich dann 1994 und erneut 1999 – weitgehend erfolglos – an Wahlen, bis dann im November 2004 ein Linksbündnis an die Macht kam, in dem viele frühere Tupamaros, die unter der Militärdiktatur im Gefängnis saßen, eine große Rolle spielten und nun wichtige Regierungsämter übernahmen.177 Während der Partisanenkrieg vor allem am Ende des Zweiten Weltkrieges als waffentechnisch niederschwellige Kriegsführung eine Rolle gespielt hat, entsteht parallel dazu waffentechnisch eine hochschwellige Kriegsführung. Mit dem Abwurf der beiden Atombomben am Endes Zweiten Weltkrieges wurde dies überdeutlich. Zeitgleich wurde eine Rüstungsdynamik in Gang gesetzt, die heute die vielfache Vernichtung der gesamten Menschheit und damit die Selbstauslöschung des menschlichen Lebens auf der Erde bewirken kann.
8.4. Die Politik der Atombombe Am 6. August 1945 überflog gegen 8.15 Uhr eine amerikanische Militärmaschine, die Enola Gay, die japanische Stadt Tokio. Es war ein typischer Sommertag, die Sonne schien bereits und die Temperatur war auf fast 30 Grad Celcius geklettert. Um acht Uhr hatten viele den Arbeitstag bereits begonnen oder waren auf dem Weg zu ihrem Arbeitsplatz, als der amerikanische B-29-Bomber seinen Bombenschacht öffnete und eine Bombe mit dem zynischen Spitznamen Little Boy abwarf. Es war die allererste Atombombe, die in einem Krieg gezündet wurde und wenige Sekunden später in etwa 400 m Höhe über Hiroshima explodierte. Die Schätzungen über die durch die Bombe verursachten Toten liegen weit auseinander, aber man geht davon aus, dass etwa 50 bis 70 Tausend Menschen unmittelbar am Tag des Abwurfs getötet wurden und ebenso viele an den Folgewirkungen in den kommenden Tagen und Jahren starben. Bis Dezember 1945 erlagen rd. 130 bis 150 Tausend Menschen ihren Verletzungen, bis Ende 1950
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schätzte man die Toten mit Spätfolgen auf 200 Tausend.178 Am 9. August 1945 fiel über Nagasaki die zweite Atombombe, die den Spitznamen Fat Man trug und noch einmal unmittelbar 60 bis 70 Tausend Menschen tötet. Die Anzahl der durch diese zweite Bombe insgesamt Getöteten schätzt man auf über 100 Tausend. Die folgenden Überlegungen beschäftigen sich mit zwei Fragestellungen. Zum einen, welche Bedeutung dieser Abwurf für die Kriege danach haben würde und welche Verantwortung damit für die jeweils Beteiligten verbunden war, insbesondere für die beteiligten Militärs und die Piloten der Atombomber. Zwischen einem von ihnen, Claude R. Eatherly, und dem Schriftsteller und Philosophen Günther Anders entspann sich ein fast zweijähriger Briefwechsel, der einmalig geblieben ist. Er konstituiert einen Text, der in seinem historisch-gesellschaftlichen Kontext betrachtet und zudem knapp mit einem anderen Text konfrontiert wird, der ihn grundlegend in Frage stellt (Kap. 8.4.1.). Zum anderen wird die eher kriegs- und waffentechnische Frage erörtert, warum die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki abgeworfen wurden und ob sie den Krieg schneller und mit minderen personellen Verlusten zu einem für die Amerikaner siegreichen Ende führten (Kap. 8.4.2.).
8.4.1. Die Politik der Atombombe und die (Un)Schuld der Beteiligten Über den Abwurf der ersten Atombombe über Hiroshima hat sich Ende der 50er Jahre ein hochinteressanter Briefwechsel entsponnen. Die Initiative hierfür ging von G. Anders aus, der im Juli und August 1958 anlässlich eines Jahrestags des Abwurfs der Bomben in Hiroshima und Nagasaki war und über diesen Besuch ein ausführliches Tagebuch führte.179 Am 3. Juni 1959 schrieb er einen Brief an C. Eatherly, der der Pilot des Flugzeuges war, das Hiroshima am 6. August am frühen Morgen überflogen hatte, um die Wetterlage abzuklären und dann dem Atombomber Enola Gay grünes Licht für den Abwurf der Bombe gab. C. Eatherly war also – entgegen manch falscher Behauptung – nicht einer der am direkten Abwurf beteiligten amerikanischen Bomber-Piloten. Aber zwischen ihm und G. Anders entwickelte sich ein Briefwechsel, der am 11. Juli 1961 mit einem Brief von G. Anders endete, der von C. Eatherly nicht mehr beantwortet wurde. Er war aus dem Militärhospital, indem er in der geschlossenen Abteilung untergebracht war, ausgebrochen und untergetaucht. Der Briefwechsel kam zufällig zustande. G. Anders‘ damalige Frau, die Pianistin Charlotte Zelka, war in der amerikanischen Zeitschrift Newsweek auf eine kurze, nur fünfzeilige Notiz gestoßen, dass der Hiroshimapilot C. Eatherly, der verschiedene klein-kriminelle Taten begangen hatte, wegen dieser und eines angeblich damit zusammenhängenden Ödipuskomplexes in eine geschlossene An-
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stalt für Veteranen eingeliefert worden sei. Angeblich hatte sie auf die Notiz, die G. Anders mehrmals in den Papierkorb geworfen hatte, nachdrücklich mit den Worten „Da musst Du was tun“ hingewiesen. Daraufhin schrieb er den ersten Brief, der – entgegen seiner Erwartung – tatsächlich von C. Eatherly, wenn auch erst über 14 Tage später, beantwortet wurde. In der Folge entspannte sich ein Briefwechsel, der immerhin fast zwei Jahre andauerte und den G. Anders später öffentlich machte. G. Anders leitete seinen ersten Brief nur knapp mit Höflichkeiten ein und kam relativ schnell zur Sache. Wir leben angeblich in einer Zeit, in der wir alle „schuldlos schuldig“180 werden und diese prinzipielle Möglichkeit unterscheidet die heutige Zeit von allen früheren. Dies liegt vor allem an den neuen Techniken, die heute in der Welt sind und mit der wir alle – aber jeweils unterschiedlich – konfrontiert sind. Aber C. Eatherly hatte die Rolle eines „Vorläufers“181 gespielt, in die er gleichwohl durch Zufall hineingeraten sei. Denn prinzipiell hätte auch ein anderer Pilot in dem Bomber sitzen können, in dem er saß. Um aber zu verstehen, was nicht nur mit ihm, sondern potentiell mit allen Anderen hätte passieren können, müsse man seine Situation und seine daraus entspringenden Erfahrungen verstehen und nachvollziehen können. „Sie haben es also getan. Aber da Sie es getan haben, können wir durch Sie erfahren, und eben nur durch Sie, wie es uns ergehen würde, wenn wir an Ihrer Stelle gestanden hätten. Sie sehen: Sie sind ungeheuer wichtig, für uns, geradezu unentbehrlich. Gewissermaßen unser Lehrer.“182
Zwar scheitert der Versuch, mit dem Vergangenen fertig zu werden, aber das liegt an der Sache selbst, an ihrer bisher nicht dagewesenen Dimension. Das ist für den Briefeschreiber G. Anders tröstlich, weil es beweist „dass Sie den Versuch machen, dem (damals nicht vorgestellten) Effekt Ihrer Tat nun nachträglich doch noch nachzukommen; weil dieser Versuch, auch wenn er scheitert, ein Zeugnis dafür ist, dass Sie Ihr Gewissen haben wach halten können, obwohl sie einmal als Maschinenstück in einen technischen Apparat eingeschaltet gewesen und in diesem erfolgreich verwendet worden waren.“183
Denn wie soll man den Schmerz aufbringen können, der den Tod von ungefähr 200.000 Menschen umfasst? Wie soll man dies bereuen können? Es geht nicht, weil es das Menschenmögliche übersteigt und deshalb muss C. Eatherly daran scheitern. Die „Vergeblichkeit Ihrer Bemühungen“184 ist also nicht die individuelle Unzulänglichkeit des Piloten, sondern liegt in der ungeheuren Dimension der Sache selbst begründet. G. Anders schlussfolgert daraus: „Sie ist die Folge dessen, was ich vorhin als das entscheidend Neue unsrer Situation bezeichnet hatte: Dass wir nämlich mehr herstellen können, als wir vorstellen können; dass die Effekte, die wir mit Hilfe unserer von uns selbst hergestellten Geräte anrichten, so groß sind, dass wir für deren Auffassung nicht mehr eingerichtet sind. Größer also als das, was wir innerlich meistern, womit wir fertig werden können.“185
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Weil die anderen am Abwurf der Bombe beteiligten Piloten sich keine Schuld auferlegen, machen sie auch keinen Versuch, mit dieser Sache fertig zu werden. Sie ignorieren sie, sie verdrängen sie und tun sie als etwas ab, das keine neue Bedeutung hat und sich durch nichts von anderen Bombeneinsätzen unterscheidet. G. Anders fragt den Piloten, ob solche Personen nicht „lächerliche Figuren“186 sind? Er aber sei keine solche lächerliche Figur, weil er nicht vor sich selbst „Reißaus“187 nimmt, sondern als der weiterzuleben versucht, der es getan hat. Die kriminellen Taten, die er danach begangen hat, sind keine traditionellen kriminellen Taten, sondern „Verzweiflungsschritte.“188 Denn so schuldig geworden wie er ist kaum jemand auf der Welt zuvor. Dass er aber von der amerikanischen Öffentlichkeit als schuldlos charakterisiert wird, ja als Held, muss für einen anständigen Menschen wie ihn ein „unerträglicher Zustand sein, für dessen Beendigung man auch etwas Unanständiges unternimmt.“189 Dieses ‚Unanständige‘ sind für G. Anders die kriminellen Taten, die er unternommen hat und die ihn schließlich in das geschlossene Militärhospital gebracht haben. G. Anders geht nun noch einen Schritt weiter und heroisiert seine ‚kriminellen‘ Taten: „Also haben Sie versucht, Ihre Schuld durch Akte zu beweisen, die als Vergehen dort immerhin anerkannt werden. Aber auch das ist Ihnen nicht gelungen. Weiter bleiben Sie dazu verurteilt, als krank zu gelten, statt schuldig. Und deshalb, weil man Ihnen gewissermaßen die Schuld nicht gönnt, bleiben Sie weiter ein unglücklicher Mensch.“190
Aus dieser Situation gibt es kein Entrinnen und G. Anders macht ihm am Ende dieses Briefes einen konkreten Vorschlag. In Japan gäbe es fast niemanden, der ihn wegen seiner Tat hasst. Vielmehr habe er bewiesen, dass obwohl er einmal als Schraube in einem militärischen Getriebe verwendet worden sei, er eben keine solche Schraube, sondern ein Mensch geblieben oder geworden sei. Im August würde die japanische Bevölkerung wie jedes Jahr dem Bombenabwurf gedenken und er könnte den Menschen eine Botschaft zukommen lassen, in der er gesteht, dass er damals nicht wusste, was er tat, aber es heute wisse und niemand mehr eine solche Tat erneut ausüben dürfe. Eine solche Botschaft würde den Überlebenden von Hiroshima eine „ungeheure Freude bereiten“ und er könnte von ihnen sogar als „Freund betrachtet werden, als einer von ihnen“ und wegen seiner Krankheit auch als ein „Hiroshima-Opfer.“191 Entgegen der Erwartung von G. Anders trifft knapp vierzehn Tage später ein Brief ein, indem ihm der Pilot antwortet. C. Eatherly antwortet grundlegend, aber man kann sowohl im Stil als auch der intellektuellen Qualität eine klare Differenz zwischen dem Brief von G. Anders und dem seinem feststellen, eine Differenz, die in dem gesamten Briefwechsel sichtbar bleibt und durch die Krankheiten von C. Eatherly zeitweise noch vertieft werden. In seinem ersten Antwortbrief schreibt er, dass er zwar viele Briefe bekomme, aber die meisten „kann ich einfach nicht beantworten. Bei Ihrem Brief dagegen fühle ich mich genötigt, zu antworten und Sie wissen zu lassen, wie ich den Dingen der heutigen
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Welt gegenüberstehe.“192 Er fühlt sich ‚genötigt‘ zu antworten, aber warum das der Fall ist, wird nicht ausgeführt. Aber er betont, dass wir in einer „Krise“ leben, die eine „gründliche Neuprüfung unseres Schemas der Werte und unserer Treueverpflichtungen erfordert.“193 Man lebe heute angeblich in einem neuen Zeitalter, das neue Verpflichtungen und Handlungsmuster erfordere und in dem wir „gezwungen sein werden, neu zu prüfen, wie es mit unserer Bereitschaft steht, die Verantwortung für unsere Gedanken und unsere Taten sozialen Einrichtungen (wie politischen Parteien, Gewerkschaften, der Kirche oder dem Staat) auszuliefern (…). Keine dieser Institutionen ist ausreichend in der Lage, unfehlbaren moralischen Rat zu geben und deshalb ist es notwendig, deren Anspruch, solchen Rat zu erteilen, anzufechten.“194
Die Erfahrung mit dem Abwurf der Bombe – so betont er ausdrücklich – muss unter diesen Gesichtspunkten betrachtet und öffentlich gemacht werden. Falls G. Anders diesen Gedanken wichtig fände, sei er an einem Briefwechsel interessiert. Zudem fragt er nach einer Kopie der ‚Gebote des Atomzeitalters‘, die G. Anders in seinem Brief erwähnt und die er selbst formuliert hatte. Auch hatte C. Eatherly der Veröffentlichung seines Briefes zugestimmt, die G. Anders bei ihm erbeten hatte. Nun entspannte sich ein intensiver Briefwechsel, der verschiedene Aspekte umfasste und in dem es auch um den angeblichen Krankheitszustand des Piloten ging, der in der Anstalt immer wieder neu untersucht und bewertet wurde. Vor allem versuchte die Militärführung ihn in ein geschlossenes Militärhospital zu überführen, was zum Teil er und zum Teil sein Arzt verweigerten, weil das Militär „nichts anderes im Sinn hatte, als weitere publicity über mich und mein Problem zu verhindern.“195 Denn er hatte in den vergangenen Jahren vor vielen pazifistischen Gruppen gesprochen und Vorträge gehalten, an Schulen und Universitäten dagegen sei er unerwünscht.196 G. Anders diskutiert mit ihm verschiedenste Fragen, aber er fordert immer wieder politische Stellungnahmen. Der Text eines Telegrams an die Bürger von Hiroshima sollte zum Beispiel lauten: „Ihr No more Hiroshima ist mein No more Hiroshima – Claude Eatherly, einer der Hiroshimapiloten.“197 C. Eatherly stimmt dem zu und schreibt nicht ohne Stolz in seinem nächsten Brief, dass eine amerikanische Produktionsfirma einen Film mit und über ihn drehen und ihn dann auf Welttour schicken will. Es wäre ihm lieb, wenn G. Anders ihn dabei begleiten würde, weil sie dann wirklich etwas zustande bringen könnten. Der Antwortbrief wird lang, unter anderem, weil in ihm ausführliche Ratschläge enthalten sind, wie C. Eatherly mit diesem Angebot umgehen soll, denn ihm ist dabei „nicht ganz wohl zu Mute.“198 Er solle sich zum Beispiel nicht selbst spielen, sondern durch einen Schauspieler spielen lassen; er solle sich ‚saubere‘ Produzenten und Regisseure aussuchen, die ihn nicht ausbeuten, sondern seine Sache unterstützen wollen; er solle darauf achten, dass aus seinem Skript
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nicht das der Produzenten würde etc. In der Rückantwort entschuldigt sich dann C. Eatherly, dass er ihn mit solchen trivialen Sachen belastet, aber er hätte niemanden sonst, dem er so tief vertrauen könne. Aber der Film und alles andere, das er tue, ist von dem Wunsch geprägt, „einen Beitrag zum Frieden zu leisten, für das Ende des Atomzeitalters zu arbeiten, und die Rechte aller Menschen, gleich welcher Hautfarbe oder welchem Glauben diese zugehören, zu sichern.“199 Aber für längere Zeit sind der Film, seine möglichen Produzenten und seine Rolle hierbei ein gewichtiges Thema. G. Anders selbst fing sogar an, sich um entsprechend seriöse und verlässliche Produzenten und Filmfirmen zu kümmern. Auch wenn dieses Thema vor allem in den Sommer- und Herbstmonaten des Jahres 1959 eine große Rolle spielte, der Film wurde aus den verschiedensten Gründen nie gedreht. C. Eatherly sah die kommerziellen Interessen durchaus klar und er hat in einem Brief festgehalten, dass dieses Projekt nicht ohne Probleme sei, weil „die Wahrheit ist, dass die Gesellschaft die Tatsache meiner Schuld einfach nicht annehmen kann, ohne damit gleichzeitig ihre eigene viel tiefere Schuld anzuerkennen. Aber natürlich ist es höchst wünschenswert, wenn die Gesellschaft dies anerkenne – und aus diesem Grund ist meine und unsere Story von so fundamentaler Wichtigkeit.“200
Aber dann beginnt ein anderes Thema den Briefwechsel zu bestimmen: Eine von den Behörden verweigerte Freilassung von C. Eatherly. Am 11. August 1959 beklagt er sich, dass sein Antrag auf Entlassung bzw. versuchsweise Entlassung von Washington abgelehnt worden sei und man daran erkennen könne, unter welch „strenger Kontrolle“ er stehe. 201 Zudem sieht er mit Besorgnis, dass die Air Force seine Überstellung von seinem jetzigen in ein von ihr betriebenes Hospital betreibe.202 Auch erwähnt er immer wieder, dass er viel Post aus Japan bekäme und diese Briefe ihn ermutigen sollen, nach Japan zu kommen und sich am dortigen Kampf gegen die Atomwaffen zu beteiligen. Aber G. Anders rät ihm ab, dorthin zu fahren und die Anti-Atombewegung zu unterstützen. Das sei „einfach Unsinn“203, weil es schwer genug werden wird, nach dem Gefängnisaufenthalt ein neues und eigenes Leben jenseits dieser entmündigenden Institution aufzubauen. Außerdem sei die Gefahr groß, dass er in Japan zu „einer Schachfigur und zu einem Ausstellungsobjekt“ werden würde.204 Einen großen Stellenwert in dem gesamten Briefwechsel nimmt die Diskussion über ein von C. Eatherly zu schreibendes Buch ein. G. Anders bestärkt ihn darin, dass seine „Geschichte geschrieben werden muss.“205 Er solle, weil ihm das Schreiben schwer fällt, sich laufend Notizen machen und – weil er nicht ans Schreiben gewöhnt sei – sich seine bisherige Art zu schreiben nicht abgewöhnen. „Diese Art Deines Schreibens sollte nicht verfälscht werden, weder sollte Deine Sprache durch Routine lau werden noch durch hübsche Stilisierungen eines Berufsschreibers auffrisiert werden. (…) denn schließlich handelt es sich um Dein Leben, um Deinen Schmerz, um Deine Hoffnungen, um Deinen Mut; diese sollten den Inhalt des Buches ausmachen.“206
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Auch erwartet G. Anders von der Niederschrift einer Autobiographie einen „Akt der Selbstheilung“, der durch die Selbstdarstellung und die damit verbundene Selbstreflektion ausgelöst werden könnte. Die Arbeit an seinem Buch sei deshalb prioritär. Parallel dazu scheiterten verschiedene Versuche, aus der Haft entlassen zu werden. Zunächst nahmen sein Bruder und seine Frau ihre Zusagen zurück, sich nach seiner Entlassung um ihn zu kümmern und Verantwortung für ihn zu übernehmen. Dies auch deshalb, weil beide seine Ansichten über den Krieg nicht teilten. Auch hatte sein Bruder das Hospital davon abgehalten, ihm bestimmte Freiheiten und Besucher-Privilegien zuzugestehen.207 In seinem Antwortbrief fragt sich G. Anders, warum die Gefängnisleitung den Worten seines Bruders so viel Gewicht beimisst, da dieser weder Psychologe noch Psychiater ist, also völlig unsachverständig, und dennoch von der Hospitalleitung ernst genommen wird und bei ihren Entscheidungen den Ausschlag gibt.208 Zugleich wünscht er sich bestimmte Klarstellungen über den Status von C. Eatherly, um dessen Position im Gefängnis besser verstehen und bei eventuellen Schritten zu seinen Gunsten die entsprechenden Zuständigkeiten ansprechen zu können. In der Folge schreibt G. Anders im Januar 1960 – ohne Absprache mit C. Eatherly – einen längeren Brief an den zuständigen Arzt, der ebenfalls ohne Antwort bleibt. Auch ein Brief an den zuständigen Richter, der über Urlaub aus der Haft entscheidet, bleibt ohne Antwort bzw. ohne die erbetene Empfangsbestätigung. Gleiches gilt für mehrere Briefe an die beiden Geschwister von C. Eatherly.209 Später schreibt er, dass sich diese nun doch für seine Freilassung einsetzen würden, aber der behandelnde Arzt hätte sie umgestimmt, sich nicht für seine Entlassung, sondern für eine Verschärfung der Haftbedingungen einzusetzen; sie beantragten deshalb eine Internierung auf unbestimmte Zeit.210 Gleichwohl will er seine Position gerichtlich durchsetzen und dazu die Hilfe eines Anwaltes in Anspruch nehmen. Aber alle diese Versuche scheitern, die amerikanischen Behörden versperren ihm jeden möglichen Weg nach draußen. Auch die Pläne für einen Film, die inzwischen konkrete Gestalt angenommen hatten, scheitern ebenso wie sein Versuch, ein Buch über sich zu schreiben; und der vom Verlag vorgesehene Zuschuss wird ihn nie erreichen. Aber immer noch gehen beide davon aus, dass er für kurze Zeit auf Bewährung aus der Haft entlassen werden könnte und besprechen im Detail konkrete Tagesabläufe, die einen Rückfall so weit wie möglich verhindern sollen. Aber einer der Briefe, indem G. Anders hierfür wichtige Details entwickelt, wurde C. Eatherly nie zugestellt.211 Im Oktober 1960 entflieht C. Eatherly erneut aus der Anstalt und schreibt nun von einem unbekannten Aufenthaltsort aus. Sein Versuch, gesetzmäßig aus der Haftanstalt herauszukommen, sei gescheitert, weil die Air Force eine Inhaftierung auf unbestimmte Zeit beantragt und das Hospital angewiesen hatte, ihn nicht vor Gericht erscheinen zu lassen. Der ihn behandelnde Arzt teilte ihm unmissverständlich mit, dass er ihn auf Anweisung der Air Force nicht entlassen
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könne, sondern diese die Absicht hätte, ihn dauerhaft hier zu behalten. Daraufhin bereitet er mit Hilfe von Freunden seine Flucht vor. In seinem Antwortbrief an die geheime Adresse gibt G. Anders ihm erneut viele Ratschläge, wie er sich verhalten soll, um einer schnellen und erneuten Verhaftung zu entgehen. Am 21. Oktober schreibt C. Eatherly dann wieder aus der Haft. Er war inzwischen festgenommen worden, als er von einer Reise aus Mexico zurückkam. Er hatte zu klären versucht, ob er dort dauerhaft bleiben könnte. Auf dem Weg zu seinem Vater, den er vor seiner Auslandsflucht noch einmal sehen wollte, wurde er von der Polizei gestoppt, verhaftet und in das Militärgefängnis zurück gebracht. Damit war klar, dass eine Entlassung außerordentlich unwahrscheinlich war. G. Anders griff nun zu neuen Maßnahmen, indem er Mitte Januar 1961 einen langen Brief an Präsident John F. Kennedy schrieb. Ihm schildert er den Sachverhalt, kommt ausführlich auf Hiroshima zu sprechen und hebt die große Bedeutung dieses sowohl weltgeschichtlichen als auch für den Bomberpiloten C. Eatherly persönlichen Ereignisses hervor. Er betont, dass C. Eatherly durch ein gerichtsmedizinisches Gutachten nun für geisteskrank erklärt worden sei und dies allen Tatsachen und Handlungen widerspreche. Aus den beigelegten Briefen und Schreiben von ihm könne der Präsident sich selbst einen Eindruck verschaffen und den angeblichen Tatbestand der Geisteskrankheit selbst prüfen. „Auch seine höchst sonderbaren Aktionen (seine wiederholten Scheinüberfälle und dgl.)“ sprechen nicht für eine Geisteskrankheit, sondern für etwas ganz anderes, weil sie „nämlich Sinn“ ergeben würden.212 Er hätte abnorm reagiert, weil nach einer abnormen Situation, wie dem Bombenabwurf, normal weiter zu leben, abnorm sei, aber nicht das ‚abnorme‘ Verhalten des Piloten. „Wenn er ‚abnorm‘ reagiert hat, dann hat er angemessen regiert“ – dies betont er ausdrücklich und unter Hervorhebung dieser Textstelle.213 Dann kommt er auf die Verbrechen der Nationalsozialisten und auf die Verteidigung Eichmanns im Jerusalemer Prozess zu sprechen. Der hatte dort zu seiner Verteidigung gesagt, dass er „‘in Wahrheit ja nichts als ein kleines Schräubchen in der Maschinerie (war), die die Weisungen und Befehle des Reiches durchführte. Weder bin ich ein Mörder noch ein Massenmörder.‘“214 Demgegenüber formuliert G. Anders einen Satz, der später eine gewisse Berühmtheit erlangen sollte. „Nein, Eatherly ist eben nicht der Zwilling von Eichmann, sondern dessen großer und für uns tröstlicher Antipode. Nicht der Mann, der die Maschinerie als Vorwand für Gewissenlosigkeit ausgibt, sondern umgekehrt der Mann, der die Maschinerie als die furchtbare Bedrohung des Gewissens durchschaut.“215
Die Freiheit der moralischen Entscheidung und die Freiheit des Gewissens werden erst durch eine solche Position wieder in ihr Recht eingesetzt, aber nicht durch die Mitmachparolen von Eichmann. C. Eatherly setzt dagegen auf eine von ihm zu übernehmende Verantwortung, denn auch was er nur am Rande mitgetan hat, ist von ihm mitgetan und unterliegt somit auch seiner Verantwortung.
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Für seine politischen Taten fühlt er sich sogar verantwortlicher als für seine privaten Handlungen, die eben nicht jene katastrophalen Folgen für die Welt haben und hatten. Am Schluss des Briefes bittet er um zwei Schritte, die John F. Kennedy unternehmen sollte: Zunächst sollte er sich dafür einsetzen, dass C. Eatherly durch eine unabhängige Kommission von Psychiatern untersucht und sein Schicksal von dieser Untersuchung abhängig gemacht wird. Zweitens fordert er ihn auf, C. Eatherly im Gefängnis zu besuchen und mit ihm über die „entsetzliche Lage der Verantwortung“ zu sprechen, „die nun mal auf ihnen liegt und die ja, durch die atomare Entwicklung, zur beinahe omnipotenten Verantwortung über das ‚to be or not be‘ der Menschheit geworden ist (…).“216 Zeitgleich wurde dieser Brief auch in mehreren deutschen Tageszeitungen veröffentlicht. Aber der Brief blieb unbeantwortet, allein eine von einem Sekretär unterschriebene Empfangsbestätigung erreichte ihn später. Am 10. Februar 1961 schreibt G. Anders einen Brief, den er nach „wochenlangem Warten“217 auf eine Nachricht verfasst hatte und der dann erneut lange unbeantwortet blieb. Dies lag unter anderem daran, dass C. Eatherly inzwischen als unzurechnungsfähig erklärt und in die geschlossene Abteilung des Gefängnisses eingewiesen wurde. In diesem Brief schreibt G. Anders, dass diejenigen, die ihn erneut in die geschlossene Abteilung verlegt haben und ihn dadurch von anderen Insassen und Menschen isolierten, „darauf hoffen, Dich zur Strafe dafür, dass Du kein Verrückter bist, zu einem Verrückten werden zu lassen; dass sie ihre Lüge also wahrzumachen wünschen, um nachher triumphieren zu können: ‚Nun, hatten wir das nicht die ganze Zeit über gesagt?‘“218
Außerdem berichtet er von seinem Brief an John F. Kennedy, den er zum Teil wiedergibt und den er führenden Zeitschriften und Persönlichkeiten in der ganzen Welt zugänglich gemacht hatte. Auch unterrichtet er ihn darüber, dass er nun, nachdem C. Eatherly für ‚geisteskrank‘ erklärt wurde, seinen Briefwechsel mit ihm schnellstmöglich veröffentlichen wolle. Jetzt scheint es ihm ein Gebot zu sein, „Dich durch Dokumente vorzustellen, die Deine geistige Gesundheit, Deine Integrität, Deinen Mut, Deinen Altruismus und Deinen Versuch, Deiner ungewöhnlichen Situation gewachsen zu bleiben, bezeugen.“219
Erst am 30. Mai 1961 erhielt G. Anders wieder einen Brief, dem dann ein letzter am 7. Juli folgen sollte. Danach kam kein Briefwechsel mehr zustande. In diesem letzten Brief klang C. Eatherly sehr optimistisch und spricht von einem Arzt, der ihm helfen wolle. Auf einen weiteren Prozess wolle er verzichten, weil das seine Ausgangslage verschlechtern könnte und er hofft, „das Hospital in ein paar Monaten zu verlassen.“220 Trotz der vorangegangenen Isolation sei er „nicht entmutigt“ und will in seinem Kampf „nicht aufgeben.“221 In seinem letzten Antwortbrief vom 11. Juli 1961 gibt ihm G. Anders dann Ratschläge, wie er sich nach
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seiner Freilassung gegenüber Presse und Öffentlichkeit verhalten soll. Mitte 1961 bricht C. Eatherly erneut aus dem Gefängnis aus und der Briefwechsel kommt völlig zum erliegen. Die biographischen Details für sein Leben in dieser Zeit sind rar und zum Teil sehr widersprüchlich. Jedenfalls wurde er angeblich auf Bewährung aus dem Veterans Administration Hospital in Waco, Texas, in dem er auch zuvor untergebracht worden war, entlassen und lebte in Galveston, Texas bis zu seinem durch Krebs verursachten Tod im Jahr 1978. Dieser aus dem Briefwechsel hervorgegangene Text war im Kontext der AntiAtombewegung Ende der 50er Jahre entstanden und durch diesen Kontext massiv beeinflusst. Erst dadurch und durch seine relativ schnelle nationale und internationale Veröffentlichung erlangte der Briefwechsel seinen herausgehobenen Status. Aber dieser Text ist natürlich nicht ohne Widerspruch geblieben. Im Jahr 1963 erschien ein Buch des amerikanischen Publizisten und Journalisten William B. Huie, der die Sichtweise von G. Anders und C. Eatherly grundlegend in Frage stellte.222 Die dem Buch zugrunde liegende These lautet, dass C. Eatherly seine kleinkriminellen Taten nicht wegen seiner Schuldgefühle aufgrund seiner (indirekten) Beteiligung an dem Bombenabwurf begangen hatte. Vielmehr seien sie das Resultat seiner Nichtberücksichtigung beim direkten Bombenabwurf. Angeblich war er enttäuscht, dass er ‚nur‘ den Wetterflug machen, aber nicht selbst den Bomber steuern durfte, der den Abwurf tätigte und die damit verbundene militärische und sonstige Anerkennung erfuhr. Weil er nicht zum Helden werden konnte, hat er sich zum Antihelden stilisiert, der durch seine Reue zur international anerkannten Figur in der Anti-Atombewegung werden konnte. Seiner Aufnahme in das Veteranen Hospital lag eine allgemeine Angstdiagnose zugrunde, die mit Hiroshima und dem Bombenabwurf angeblich nichts zu tun hatte.
8.4.2. War der Abwurf der Atombomben ‚notwendig‘? Es versteht sich fast von selbst, dass die Gründe für den Abwurf der beiden Atombomben heftig umstritten sind und in der Literatur kontrovers diskutiert werden.223 Jedenfalls ist die offizielle Begründung des damaligen US-Präsidenten Harry S. Truman, dass erst dadurch Japans Kapitulation herbeigeführt und vielen US-Soldaten (und natürlich auch vielen Japanern) das Leben gerettet wurde, wegen der seither erfolgten historischen Forschungen nicht haltbar. Die ‚wahren‘ Gründe sind bis heute unklar und deshalb umstritten, aber die Politik der Atombombe kann zumindest in groben Umrissen skizziert werden, auch wenn einzelne Details ungeklärt bleiben. Selbstverständlich war die Entscheidung zum Abwurf der Bombe eine politische Entscheidung, die im Wesentlichen von Präsident Truman und seinem engen Beraterkreis, zum Teil gegen den Rat der beteiligten Militärs, getroffen wurde.
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Aber sie wurde im Kontext des Zeiten Weltkrieges getroffen, konkreter: Am absehbaren Ende dieses Krieges, weil Deutschland bereits kapituliert hatte und Japan kurz vor der endgültigen Niederlage stand. Aber offensichtlich konnte man mit der Bombe etwas in der Politik bewirken, das man ohne sie nicht bewirken konnte und das ist die Politik der Bombe. Was ist das Neue, das durch sie in die Politik eingeführt wurde? Die Literatur über die mit dem Atombombenabwurf verbundenen Motive ist nicht einheitlich und legt unterschiedliche Schwerpunkte zu Grunde. Eines der ersten Bücher, das sich damit beschäftigte und die offizielle amerikanische Regierungslinie fundamental in Frage stellte, war das Buch von Gar Alperovitz, das bereits 1965 erschien und den etwas seltsamen Titel „Atomic Diplomacy: Hiroshima and Potsdam“224 trug und 1995 in einer erheblich erweiterten und revidierten Fassung unter anderem Titel erschien.225 G. Alperovitz ging davon aus, dass Japan den Krieg bereits verloren hatte und alle weiteren Kampfhandlungen nur darauf abzielen sollten, es so schnell wie möglich zur Kapitulation zu bewegen. Dies umso mehr, als Russland zu diesem Zeitpunkt bereit war, ebenfalls in den Krieg gegen Japan einzutreten und so seine Anforderungen aus dem Potsdamer Vertrag erfüllen wollte. G. Alperovitz vertritt die These, dass der Abwurf der Bombe nicht mehr notwendig war, weil die Niederlage Japans bereits absehbar war bzw. fest stand und die militärische Führung nicht genügend an der Entscheidung über den Abwurf beteiligt war. Angeblich war der Oberkommandierende der Alliierten Truppen im Pazifik, General Douglass MacArthur, in die Entscheidung nicht einbezogen; vielmehr wurde er nur 48 Stunden vor den Abwürfen informiert. G. Alperovitz hält fest, dass „no record exists of the kind of careful staff work and policy development which routinely goes into serious military decision-making. There is no sophisticated paper trail.”226 Die Entscheidung zum Bombenabwurf erfolgte nicht nur ohne den ausreichenden militärischen Rat, sondern auch jenseits militärisch-taktischer Erwägungen. Es war vielmehr eine Entscheidung, die darauf abzielte, die Sowjetunion als den mächtigsten politischen und militärischen Gegner am Ende des Zweiten Weltkrieges einzuschüchtern und ihr die technologische Überlegenheit der USA deutlich vor Augen zu führen. Zwar wurde in Russland ebenfalls fieberhaft am Bau einer Atombombe gearbeitet, aber die Amerikaner hatten den technologischen Vorsprung, konnten ihn praktisch umsetzen und durch den Abwurf der Bombe auch demonstrieren. Eine weitgehend ähnliche These vertritt Ronald Takaki, der ebenfalls nach den Gründen des Atombombenabwurfs fragt.227 Auch er kommt zu dem Ergebnis, dass die USA durch den Bombenabwurf nicht den Sieg über Japan herbeiführen wollte, denn dieser stand kurz bevor. Vielmehr war das Hauptziel, Russland gegenüber die Stärke der USA und seines technologisch weit fortgeschrittenen
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Waffenarsenals zu demonstrieren. So sollte die Sowjetunion von möglichen expansiven Ambitionen abgehalten werden. R. Takaki betont zudem, dass der Bau der Bombe vorangetrieben wurde, um sie schnellst möglich im Krieg gegen Nazi-Deutschland einzusetzen. Aber der Bau verzögerte sich und als die Bombe fertig wurde, hatte Deutschland bereits seine absolute Niederlage eingestanden und kapituliert. So wurde Japan dann zum nächsten Ziel, weil dort der Krieg offiziell noch nicht beendet war. R. Takaki betont noch einen weiteren, allerdings sehr umstrittenen Punkt. Ein zusätzliches Motiv für den Einsatz sei der Rassismus der amerikanischen Regierung (und der Medien und der Bevölkerung) gegenüber den Japanern gewesen. „Rooted in the nineteenth century, anti-Asian prejudice, contributed to the way America quickly radicalized the Pacific war.”228 Andere Autoren unterstreichen diese Sichtweise nicht nur, sondern radikalisieren sie und erklären sie zum fast einzigen Grund des Bombenabwurfs.229 In der Tat sind viele der von diesen Autoren angeführten Dokumente irritierend und das Ausmaß der rassistischen Vorurteile gegenüber den Japanern ist erschütternd. Sie waren im Krieg gegen die Deutschen im Übrigen kaum sichtbar und wurden fast nur gegenüber den Japanern formuliert. Wie auch immer man die verschiedenen Autoren und deren Ursachenanalyse im Einzelnen bewerten mag, sie ist hochkomplex und in sie fließen verschiedenste Aspekte ein, die die Bombenabwürfe begünstigten bzw. ihnen zu Grunde lagen. Aber die Politik der Bombe war so dramatisch und tiefgreifend, dass bis heute keine weiteren Abwürfe erfolgt sind. Davon bleibt unbenommen, dass die Atomwaffenarsenale (zu) gut gefüllt sind – trotzt der verschiedensten Abrüstungsverhandlungen zwischen der USA und der Sowjetunion. Aber auch viele andere Staaten zählen inzwischen zu Atommächten, wie etwa China, Indien, Pakistan, eventuell Israel und Nordkorea; noch umstrittener sind Iran und Saudi-Arabien. Von einer ‚Politik der Atombombe‘ zu sprechen ist insofern gerechtfertigt, als durch sie eine neue Dimension in die Politik eingeführt wurde, die durch die Technik der Bombe selbst bedingt ist. Selbstverständlich ist die Bombe von Menschen und vor allem im Auftrag und mit erheblicher finanzieller Unterstützung der Politik entwickelt worden. Aber als einsetzbare Waffe hat sie eine neue Dimension des Krieges eröffnet, die die der bisherigen Kriege in den Schatten stellt. Die Atombomben (nun im Plural) haben heute das Potential, die gesamte Menschheit (mehrfach!) zu vernichten. Damit ist die ‚Politik der Bombe‘ und ihr geschichtsphilosophisches Denken vor eine neue Herausforderung gestellt. Während bisher die Zukunft als offen, als gestaltbar und durch politische Entscheidungen als zielgerichtet steuerbar galt, auch im Zeitalter des Ersten und Zweiten Weltkrieges, wird diese Offenheit durch die Bombe geschlossen. Die Selbstauslöschung der Menschheit ist nun prinzipiell möglich, die Zukunft unwiderruflich vernichtbar. Dies war für G. Anders identisch mit dem Ende der Geschichte, weil
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die Geschichte bisher durch eine zeitliche Abfolge von verschiedenen Epochen gekennzeichnet war, die nun an ihr Ende gekommen ist. Die Menschheit steht vor einer Situation, in der es zu keiner neuen Epoche, sondern zum Ende der Menschheit kommen könnte. Geschichte wird dann reduziert auf eine Frist, die prinzipiell ablaufen kann und gerinnt zum Zustand des ‚Noch-nicht-explodiertSeins‘. Das ist dann das „Dasein unter dem Zeichen der Bombe.“230 Während die Vernichtungslager das neue Wissen in die Welt gesetzt hatten, dass „alle Menschen tötbar (sind)“, geht die Bombe einen Schritt weiter und macht deutlich, dass „die Menschheit als ganze“ tötbar geworden ist.231 Die Politik der Bombe wäre dann ein Krieg der Politik gegen sich selbst, denn durch den atomaren Krieg würde sie sich – neben der gesamten Menschheit – selbst auslöschen.
8.5. Die Politik der „neuen“ Kriege Mit der Niederlage Hitler-Deutschlands im Zweiten Weltkrieg und dem Potsdamer Abkommen wurde der mörderischste und verbrecherischste Krieg des 20. Jahrhunderts beendet. Wie kein anderer Krieg zuvor hat er eine Spur der Verwüstung und Zerstörung hinterlassen, wie kein anderer Krieg zuvor hat er so viele Menschenleben – besonders unter der Zivilbevölkerung – gekostet und wie kein anderer Krieg zuvor wurde er so hochgradig ideologisiert. „Nie wieder Krieg“ – diese schlüssige Formel bringt diese Erfahrungen auf den Punkt und es heißt absichtlich nicht „nie wieder einen solchen Krieg“, denn es handelt sich um Kriege im Allgemeinen. Nie wieder Krieg – welcher Art auch immer. Eine Phase des (ununterbrochenen) Friedens sollte an seine Stelle treten. Während neue Welt- und Atomkriege seither ausblieben, gewannen lokale Kriege immer mehr an Bedeutung. Der Vietnamkrieg, der nach acht Jahren mit der Niederlage der Supermacht USA im Mai 1975 endete, ist ein prägnantes, aber dennoch nur eines von vielen Beispielen. Nach dem Zweiten Weltkrieg bildete sich schnell eine Lage heraus, die bis 1989/1990 weitgehend stabil geblieben ist. Die Weltlage wurde durch die beiden Supermächte USA und UdSSR geprägt, die sich durch die Politik der Abschreckung gegenseitig in Schach hielten.232 Viele lokale Kriege, die sowohl in Afrika als auch in Asien stattfanden, wurden von den Supermächten unterstützt und am Laufen gehalten, um ihre Einflusssphären in der Welt auszudehnen oder zu stabilisieren. Prototypisch hierfür steht Afghanistan. Nach der militärischen Intervention der UdSSR im Dezember 1979 kämpften islamistische Rebellen mit Unterstützung der USA gegen die Invasoren. Sie und ihre afghanischen Verbündeten zwangen die Sowjetunion Anfang 1989 nach einem fast zehn Jahre andauernden Krieg zum Rückzug. 1992 erfolgte der Sturz des kommunistischen Regimes unter Regierungschef Najibullah durch die Mudschaheddin. Nach deren Machtübernah-
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me wendeten sich diese jedoch gegen ihre vormaligen Unterstützer, die USA, und bauten eine religiös begründete, autoritäre und gewaltsame Herrschaft auf. Danach brachen unter den Mudschaheddin massive Konflikte auf, die Regierungsgewalt in Kabul wechselte mehrfach, ehe 1996 die radikal islamistischen Taliban schließlich die Macht an sich rissen. Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 wurden die Taliban durch die Intervention der internationalen Staatengemeinschaft unter Führung der USA von der Macht vertrieben, wobei erneut verschiedene Mudschaheddin-Truppen gegen die Talibanherrschaft kämpften. Seither regierte in Kabul Hamid Karsai, der politisch und militärisch von der internationalen Staatengemeinschaft unterstützt wird.233 Im Jahr 2014 trat er überraschend zurück und machte Platz für seinen Nachfolger Aschraf Ghani. Während des Ost-West-Konflikts trug dieser Krieg alle Merkmale eines tradierten Bürgerkrieges: Die Gewaltakteure waren klar strukturiert, wobei auf der einen Seite das sowjetische Militär zusammen mit den regulären afghanischen Streitkräften gegen die verschiedenen, aber geeint operierenden Kampfverbände der Mudschaheddin auf der anderen Seite kämpfte. Das politische Motiv der Letztgenannten war die religiös und auch ethnisch motivierte Ablehnung einer säkularen Fremdherrschaft, die durch eine ‚einheimische‘ und religiös begründete abgelöst werden sollte. Die angewendete Gewaltstrategie war unübersehbar an die Idee des Partisanenkampfes (vgl. unten Kap. 8.3.) angelehnt und wurde von großen Teilen der Bevölkerung unterstützt. Umgekehrt gingen die sowjetischen und einheimischen Regierungstruppen auch massiv gegen die Zivilbevölkerung vor und versuchten, einen Keil zwischen die aufständischen Mudschaheddin und die Bevölkerung zu treiben. Wir wissen, dass dieser Versuch völlig fehlschlug, die aufständischen Kräfte letztlich siegreich waren und die Sowjets aus dem Land und die sie unterstützenden einheimischen Kräfte aus den Machtpositionen vertrieben wurden. Aber nach dem Ende des Ost-West-Konflikts und der Vertreibung der Sowjets samt ihrer Unterstützer entstanden ‚neue‘ Kriege, die sich von den tradierten Bürgerkriegen fundamental unterscheiden.234 Was sind deren definitorische Merkmale und worin unterscheiden sie sich von den ‚alten‘ (Bürger-)Kriegen? Da sie ein vergleichsweise neues politisches und militärisches Phänomen sind und erst zum Ende des 20. Jahrhunderts auftauchten, sind nicht nur ihre Merkmale umstritten. Ebenso umstritten ist die Frage, ob es diese ‚neuen‘ Kriege überhaupt gibt oder ob sie nicht eine Fortsetzung der bisherigen Kriege oder eine nur geringfügig modifizierte Form der ‚alten‘ Kriege sind. Gibt es folglich einen „Gestaltwandel kriegerischer Gewalt?“235 Die neuen Kriege werden nicht – wie oft betont – vorwiegend durch ethnische oder religiöse Konflikte ausgelöst; diese Konflikte verstärken eher die Gewaltausbrüche als dass sie sie auslösen. Stattdessen werden sie „(…) von einer schwer durchschaubaren Gemengelage aus persönlichem Machtstreben, ideologischen Überzeugungen, ethnisch-kulturellen Gegensätzen sowie Habgier und Kor-
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8. Die Politik des Krieges ruption am Schwelen gehalten und häufig nicht um erkennbare Zwecke und Ziele geführt. Besonders dieses Gemisch unterschiedlicher Motive und Ursachen macht es so schwer, diese Kriege zu beenden und einen stabilen Friedenszustand herzustellen.“236
Solche Kriege entstehen eher an der Peripherie, während in den ökonomisch und politisch erfolgreichen Zentren in Europa und in Nordamerika nach dem Zweiten Weltkrieg Zonen und Perioden des stabilen Friedens entstanden sind. Ein – vielleicht sogar der wichtigste – Grund hierfür ist stabile Staatsbildung. Zudem betrachten die meisten Demokratien es als selbstverständlich, gegenseitig keine Kriege (mehr) zu führen, wie es die Theorie des ‚demokratischen Friedens‘ unterstellt.237 Umgekehrt können die neuen Kriege als „Staatszerfallskriege“ beschrieben werden, die meist von und in nicht-demokratischen Staaten geführt werden.238 Während des Ost-West-Konflikts waren diese Staaten ebenfalls von staatlicher Schwäche geprägt, aber die beiden Weltmächte hielten sie in ihrem jeweiligen Einflussgebiet doch immer irgendwie am Leben und verhinderten in den meisten Fällen die völlige Auflösung von Staatlichkeit. Nach dem Ende des Kalten Krieges waren diese Staaten in oft dramatischer Weise von intern konkurrierenden und tief verfeindeten Kräften geprägt, die sich in gewaltsamen Dynamiken niederschlugen. Der Kampf um politische Macht und ökonomische Ressourcen hat die bestehenden Konflikte verstärkt und eine stabile Wirtschaftsentwicklung systematisch verhindert. Da diese Länder „noch nicht über das Stadium patrimonialer Macht und Loyalitätssicherung hinausgelangt waren, ist die Art ihrer Herrschaftsausübung zumeist in offene Korruption und Ausplünderung der nationalen Ressourcen umgeschlagen.“239
Diese Ausgangslage verschärft sich unter den Bedingungen der Globalisierung. Sie führt dazu, dass viele Ressourcen und Potentiale in die westlichen Länder abgezweigt werden und für eine selbsttragende Entwicklung nicht mehr zur Verfügung stehen. Zudem führt die Einbindung in die Weltwirtschaft dazu, dass diese Staaten über die Kanäle der „Schattenglobalisierung“240 vielfältig mit der globalen Welt verkoppelt sind und darüber einen erheblichen Anteil der Ressourcen beziehen, die sie zur Kriegführung und Kriegsverlängerung brauchen. Der ‚Gestaltwandel kriegerischer Gewalt‘ müsste sich auf zwei Ebenen niederschlagen. Zum einen in einer Abkehr von tradierten zwischenstaatlichen und zum anderen in einem Gestaltwandel innerstaatlicher (Bürger-)Kriege. Letztere können im Prinzip zwei Formen annehmen. Sie können sich als Bürgerkriege ausdrücken, in denen mindestens noch ein staatlicher Akteur beteiligt ist; oder als substaatliche Kriege, die überwiegend oder ausschließlich von nicht-staatlichen Akteuren geführt werden.241 Mittels vier Kategorien kann man versuchen, das Neue an den neuen Kriegen herauszuarbeiten.242 Zunächst unterschieden sich die neuen Kriege deutlich hinsichtlich der Gewaltakteure, konkret durch eine Privatisierung der Gewalt sowohl auf Seiten des Staates als auch auf Seiten der Aufständischen. Auf Seiten des Staates, indem sich
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zum Beispiel staatliche Verbände verselbständigen und außerhalb der Kontrolle des staatlichen Gewaltmonopols agieren. Auch kann es dazu kommen, dass sich der Staat privater Gewaltapparate bzw. Gewaltunternehmen in seinem Kampf gegen Aufständische bedient, wie dies beispielsweise in Sierra Leone der Fall war. Schließlich können private Verbände staatliche Aufgaben übernehmen, wie etwa den Schutz bestimmter sozialer Gruppierungen vor Angriffen anderer privater Verbände in innerstaatlichen Kriegen. Dies war beispielsweise in den ehemaligen jugoslawischen Republiken, vor allem in Bosnien-Herzegovina, der Fall. Auf Seiten der nicht-staatlichen Akteure operierten in Bosnien angeblich 83 verschiedene Kampfverbände, wie etwa reguläre Streitkräfte, Paramilitärs, ausländische Söldner, lokale Selbstverteidigungseinheiten und kriminelle Gruppierungen, die alle weitgehend selbständig an den gewaltsamen Auseinandersetzungen beteiligt waren.243 Diese „Entstaatlichung“244 wird unter anderem dadurch erleichtert bzw. ermöglicht, dass die Kriegführung vergleichsweise billig ist. Leichte Waffen dominieren, die auf den internationalen und meist illegalen Waffenmärkten leicht zu beschaffen sind.245 Zudem findet man Gewaltmotive unterschiedlichster Art; an Stelle der ideologischen und machtpolitischen Motive in den tradierten Staatenkriegen treten nun ökonomische der schnellen Selbstbereicherung. Die Ökonomisierung der Gewaltziele ist zwar unterschiedlich ausgeprägt und nach wie vor sind ideologische und v. a. auch ethnische Motive relevant, wie etwa in den Sezessions- und ethnisch geprägten Kriegen im ehemaligen Jugoslawien. Aber oft sind es Pseudobegründungen, die allein der Codierung der Selbstbereicherungsmotive der jeweiligen privaten Kampfverbände und ihrer selbsternannten Führer dienen.246 Die Ökonomisierung der Kriegsziele hängt auch damit zusammen, dass die meisten paramilitärischen Verbände nicht vom Sold eines funktionierenden Staates getragen werden, den er über Steuern von der gesellschaftlichen Produktion abschöpft. Stattdessen müssen sie sich selbst finanzieren, was zur massiven Plünderung der Zivilbevölkerung und der nationalen Ökonomien führt. So entsteht eine sich selbsttragende Gewalt, die ausgeübt wird, um weitere Gewalt ausüben zu können. Dies alles hat weitreichende Konsequenzen und führt zu neuen Formen der Gewaltökonomie. Während staatliche Gewaltakteure durch das Steuermonopol des Staates finanziert werden, das nur im Kontext eines stabilen Staates und einer funktionierenden Ökonomie besteht, kriminalisiert sich die Finanzierung der neuen Kriege. Die verschiedensten Gewaltorganisationen finanzieren sich auf sehr unterschiedliche Weise, aber das kriminelle Handeln spielt hierbei eine überragende Rolle. Es entsteht eine „Kriegswirtschaft“247, die eigenen Gesetzen unterliegt und sich grundlegend von einer ‚normalen‘ Wirtschaft unterscheidet. Elementar ist der Gewaltcharakter dieser Wirtschaft, in der Gewaltunternehmer ihre kriminellen Verbände benutzen, um kriminelle Geschäfte zu tätigen, mit deren Erlösen sie dann die kriminellen Verbände finanzieren. Diese sich selbst antrei-
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bende Dynamik macht die Beendigung der neuen Kriege besonders schwierig. In Afghanistan war beispielsweise eine „offene Kriegsökonomie“248 zu beobachten, die auf eine wachsende Produktion von Rohopium setzte und dies auf den entsprechenden Weltmärkten verkaufte. Da es sich um illegale Ware handelte, musste auch ein erheblicher Teil der Transportwege durch bewaffnete Gruppierungen geschützt oder durch Verträge mit international operierenden kriminellen Banden organisiert werden, die selbst wieder gewalttätig operierten. Gerade in Afghanistan „entwickelte sich eine Verbindung von informeller und krimineller Ökonomie, aus der die Warlords und ihre bewaffneten Gefolgschaften ihre Einkommen bezogen. Informelle Ökonomien sind gekennzeichnet durch asymmetrische Machtstrukturen, in denen die Androhung und Anwendung von Gewalt jederzeit unsanktioniert möglich ist, aber durch die Ansätze kommunitärer Selbstorganisationen (hier der Warlordkonfigurationen) begrenzt und daran gehindert wird, in den Kampf eines jeden gegen jeden umzuschlagen.“249
Diese ‚offenen Kriegsökonomien’ sind von externen Akteuren nicht mehr zu kontrollieren, was zu deren Verselbständigung und den damit zusammenhängenden kriegerischen Konflikten führt. Nicht unterschätzt werden sollte auch die Finanzierung dieser Kriege durch die sexuelle Ausbeutung von meist jungen Frauen, die in „großem Stil“ geraubt und in den Bordellen der OECD-Staaten zur Prostitution gezwungen werden.250 Überhaupt bekommt in diesen Kriegen die sexuelle Gewalt eine neue Bedeutung. Im Genfer Abkommen über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten aus dem Jahr 1946 heißt es in Artikel 27 ausdrücklich, dass „Frauen besonders vor jedem Zugriff auf ihre Ehre und namentlich vor Vergewaltigung, Nötigung zur Prostitution und jeder unzüchtigen Handlung geschützt werden (sollen).“251 Zusätzlich wird der Schutz der Zivilpersonen, insbesondere der Frauen, Kinder und Alten, ausdrücklich den kriegführenden Parteien zugeschrieben (Art. 29).252 Gleichwohl kommt es in den ‚neuen‘ – weit mehr als in den ‚alten‘ – Kriegen zu einer „umfassenden Sexualisierung der Gewalt“, wobei Vergewaltigungen eine „Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln (sind).“253 Schließlich ist zu klären, welche Gewaltstrategien diese neuen Akteure im Vergleich zu den tradierten Gewaltapparaten verfolgen. Zwar blieb auch in den ‚alten‘ Kriegen die Bevölkerung von den Kampfhandlungen nie völlig unberührt. In den neuen Kriegen aber wird sie zielgerichtet zum Objekt der Kampfhandlungen und mit einer bisher nicht gekannten Brutalität behandelt. Die Kämpfe richten sich nicht nur vermehrt gegen sie, sondern sie wird in den neuen Kriegen prioritär zum Gegenstand der Gewalt und unterliegt vielfältigsten Gewaltformen. Sie reichen vom gezielten Mord, über Verstümmelung, Folter, systematischer Vergewaltigungen bis hin zur Unterbringung in Lagern und der systematischen Vertreibung aus bestimmten Gebieten. In den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien, ins-
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besondere in Bosnien-Herzegowina, konnte man das wie in einem Brennglas beobachten.254 Die tradierten Kriege waren vorwiegend „Staatenduelle“ um begrenzte politische Ziele, bei denen es Sieger und Besiegte gab. Diese Kriege waren erstaunlich reglementiert, auch wenn sie an ihren Rändern immer ausfransten und die Zivilbevölkerung nicht nur unter ihnen litt, sondern auch zum Ziel der kriegerischen Kampfhandlungen wurde. Nicht nur der Erste, sondern auch der Zweite Weltkrieg machte dies überdeutlich. Aber es gab meist formelle Kriegserklärungen und Friedenschlüsse, die den Krieg beendeten und Rechtsakte des internationalen Rechts waren. Die Unterscheidung zwischen den kriegführenden Verbänden bzw. den Armeen und der Zivilbevölkerung war klar erkennbar, unter anderem durch Uniformen, die weitgehend exklusive Bewaffnung dieser Kräfte und andere Merkmale. Auch waren die Kriegsverläufe klarer markiert, es gab Fronten, an denen die Armeen kämpften und das Hinterland, das von diesen Kämpfen zwar nicht völlig, aber dennoch oft unberührt blieb.255 Die Verrechtlichung und ‚Verregelung‘ der Kriege des 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts war erstaunlich. Doch parallel dazu fand eine Entregelung statt, v. a. in den Kriegen in Asien (Vietnam, Kambodscha etc.) und in Afrika (Burundi, Ruanda, Uganda, Kongo u. a.). Erst ab den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts, in denen die bipolare Welt auseinanderbrach, setzte eine Dynamik ein, die diesen Prozess unwiderruflich in Richtung der neuen Kriege trieb. Begleitet wurde diese Entwicklung durch den Zerfall staatlicher Strukturen und dem damit verbundenen Verlust des staatlichen Gewaltmonopols. All das hat die Struktur der bewaffneten Konflikte grundlegend verändert. Die Theorie, vielleicht besser das Konzept, der neuen Kriege ist von verschiedenen Seiten angegriffen worden.256 Kritisiert wird zunächst die mit dem „neu“ unterstellte klare zeitliche Abfolge, bei der man zudem einen genauen Zeitpunkt der Ablösung der einen Form des Krieges durch die andere, eben den ‚neuen‘ Krieg, angeben können müsste. Auch sei eine klare Unterscheidung in beide Typen angesichts der komplexen und indifferenten Erscheinungsformen nicht zu machen. Zudem seien die definitorischen Merkmale der Typenbildung willkürlich gewählt und meist aus Einzelfällen gewonnen und nicht durch Verallgemeinerung aus einer Vielzahl von Fällen. Schließlich sei bereits seit dem Zweiten Weltkrieg und nicht erst seit den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts zu beobachten, dass die seither stattgefundenen Kriege meist durch Paramilitärs, Guerillaverbände, Milizen oder andere nichtstaatliche Verbände begleitet worden sind. Auch in den Staatenkriegen der Neuzeit, vor allem aber in den vormodernen Kriegen, könne der Staat nicht als Monopolist der Gewaltaktionen betrachtet werden, sondern sei immer von nichtstaatlichen Akteuren herausgefordert gewesen. Zudem sind Probleme der zeitlichen Beobachtung und der konkreten Messung von Staatlichkeit bis heute nicht eindeutig geklärt. Auch wenn manche der
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hier erwähnten Kritiken plausibel sind, kann man dennoch eine evolutionäre Dynamik beobachten, die die bisherigen Staatenkriege zu einem Randphänomen der heutigen kriegerischen Konflikte degradiert.257
8.6. Die Konturen des virtuellen Krieges: Die Politik der Drohne und der hybride Frieden bzw. der hybride Krieg Sie sind kaum zu hören, sie kreisen Tag und Nacht über einem bestimmten Gebiet, sie verfolgen eine Person ununterbrochen, sie feuern lenkbare Raketen ab (und manchmal auch nicht), töten schuldige und unschuldige Menschen und sie verschwinden danach ebenso geräuschlos wie sie gekommen sind. Sie sehen und hören alles – aber man kann sie weder sehen noch hören. Die Gehörten und Gesehenen können sie nicht verschwinden lassen oder beseitigen, sie sind ihnen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Gemeint sind Drohnen, also unbemannte und ferngesteuerte Flugkörper, die in der Fachsprache umständlich Unmanned Aerial Vehicles genannt werden, kurz UAVs. Wird der Kürzel um einen Buchstaben ergänzt, konkret um ein C, dann sind es Unmanned Combat Aerial Vehicles (UCAVs), also Kampfdrohnen, die ihre tödliche Fracht in sich tragen und im Zweifelsfall abfeuern. Die erste bekannte Tötung eines Menschen durch eine Drohne fand im Jahr 2001 in Afghanistan statt, als Mohammed Atef, ein ranghohes Mitglied von alQaida, von einer ferngesteuerten Drohne bzw. ihrer Bombe getötet wurde. Schnell wurde der Einsatzbereich erweitert und im November 2002 wurden auf dem Staatsgebiet des Jemen ebenfalls gezielte Tötungen von faktischen oder fiktiven al-Qaida-Kämpfern vorgenommen. Der Jemen befand sich damals in keinem bewaffneten Konflikt oder gar Krieg mit den USA, aber nun fanden auch Drohnenangriffe in Staaten statt, die in keinem kriegerischen Konflikt mit ihr standen. Im Kontext des sogenannten ‚Krieges gegen den Terror‘ nahmen diese Einsätze seit der Jahrhundertwende enorm zu. Sie fanden (und finden) in Afghanistan, im Jemen, in Libyen, in Pakistan und inzwischen auch in Somalia statt und werden meist von den USA ausgeführt. Aber auch Großbritannien setzte bereits Drohnen ebenso ein wie Israel im Konflikt mit den Palästinensern. Allein in den ersten zehn Monaten im Jahr 2012 fanden im Jemen 37 Angriffe statt.258 Das konkrete Ausmaß ist umstritten, die Daten unabhängiger Organisationen und die der USRegierung weichen erheblich sowohl hinsichtlich der erfolgten Angriffe als auch hinsichtlich der sogenannten ‚Kollatoralschäden‘, also der Anzahl der getöteten Nichtkombattanten, voneinander ab. Nach offiziellen Angaben erfolgten zwischen 2009 und 2015 insgesamt 473 Angriffe, bei denen 2 581 Kämpfer und nur 116 Nichtkombattanten getötet wurden. Zahlen von unabhängigen Organisationen ergeben ein anderes Bild. Nach
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Recherchen des Bureau of Investigative Journalism fanden in Pakistan, im Jemen und in Somalia insgesamt 706 Angriffe statt, bei denen zwischen 3668 und 5643 Menschen getötet wurden, wobei 1191 zivile Opfer waren, darunter zwischen 218 und 258 Kinder. Wieder andere unabhängige Zählungen in derselben Ländergruppe ergaben 645 Drohnenangriffe, bei denen zwischen 3216 und 4662 Personen getötet wurden, darunter 465 Zivilisten.259 Diese Zahlen sind nicht unbedeutend und sie erfassen nicht die gesamte Anzahl dieser Angriffe. Doch wie verändert sich dadurch der (moderne) Krieg? Wird die Asymmetrie auf die Spitze getrieben oder tritt eine qualitativ neue Einseitigkeit ein? Die bewaffnete Drohne – so der französische Philosoph Grégoire Chamayou – vollzieht eine „Grenzüberschreitung“ und der „Krieg ist nicht länger bloß asymmetrisch, sondern absolut einseitig. Was vorher noch wie ein Kampf erschien, verwandelt sich nun in eine bloße Tötungskampagne.“260
Die Drohne würde dem asymmetrischen Krieg ein Ende setzen und einen neuen Typus von Krieg um die Jahrhundertwende hervorbringen, den absolut einseitigen und unvermeidlich tödlichen Drohnenkrieg, in dem dem Feind jede Möglichkeit genommen ist, irgendwie zurückzukämpfen. G. Chamayou hat die möglichen Konturen und definitorischen Merkmale am präzisesten beschrieben: „In dieser auf der präventiven Ausschaltung gefährlicher Individuen basierenden Logik der Absicherung nimmt der ‚Krieg‘ die Gestalt groß angelegter außergerichtlicher Hinrichtungskampagnen an. ‚Predator‘ oder ‚Reaper‘ – Greifvogel und Schnitter Tod – die Namen der Drohnen sind gut gewählt.“261
Ein wichtiges Merkmal dieser neuen Form des Krieges, dieser ‚bloßen Tötungsoder Hinrichtungskampagnen‘, wäre dann die präventive Ausschaltung von potentiell gefährlichen Individuen. Diese Individualisierung des Krieges ist in der Tat neu, weil ansonsten Kriege immer Kämpfe kollektiver Einheiten sind, seien es Heere, Verbände, Truppen, Partisanengruppen, terroristische Organisationen oder auch deren ausgewählte Einzelkämpfer. In den ‚neuen‘ Kriegen handeln Terroristen zwar meist als Einzelne, aber (fast) immer im Auftrag von Organisationen, sei es der Islamische Staat, al-Qaida oder anderer Organisationen. Aber die präventive Ausschaltung erfolgt nicht nur rein individuell, sondern auch „unidirektional“, weil die technologische Überlegenheit der einen Seite so groß ist, dass die andere keine Bedrohung mehr sein kann. Sie ist dem bewaffneten Blick der Drohne völlig hilflos ausgeliefert, eine Gegenwehr ist unmöglich geworden. In der räumlichen Dimension ist die Entfernung zwischen den Kriegführenden maximal geworden: Der eine zieht seinen ‚Körper‘ soweit aus dem Kriegsgebiet zurück, dass er für den anderen Kriegführenden unerreichbar geworden ist. Umgekehrt ist der Gegner jederzeit sicht- und mittels Drohnen zum Töten erreichbar.
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Mit der Unerreichbarkeit ist zugleich die Unverwundbarkeit verbunden, weil der feindliche Gegner ihn nicht mehr erreichen kann. Er sitzt – in der Wüste von Nevada oder anderswo – tief in einem Bunker an seinem Bildschirm und beobachtet seinen Gegner, der ihn umgekehrt weder sehen noch waffentechnisch erreichen kann. Er ist ihm völlig entzogen und der kriegerische Raum ist zweigeteilt: In den feindlichen Raum, über dem die Drohnen kreisen und ihre tödliche Fracht abschießen, und in einen unerreichbaren, absolut sicheren, aus dem heraus die Drohnen ferngesteuert werden. Es kommt zu einer „Politik der prophylaktischen Eliminierung, (…) deren bevorzugte Instrumente die Hunter-Killer-Drohnen sind. Denn die Strategie der militarisierten Menschenjagd ist im Wesentlichen präventiv. Es geht weniger darum, spezifische Angriffe zu erwidern, als vielmehr die Entstehung neuer Bedrohungen durch die frühzeitige Ausschaltung ihrer potentiellen Agenten zu verhindern. (…) Und dies unabhängig von jeder direkten oder unmittelbare Bedrohung.“262
Diese Zweiteilung des Raumes wird durch einen weiteren Aspekt ergänzt. Bei Staaten- und auch noch in asymmetrischen Kriegen ist der Krieg auf ein Gebiet begrenzt und nur in diesem dürfen bestimmte Kriegshandlungen ausgeführt werden. Sie unterliegen zudem dem Kriegsrecht, das dem Kampf gewisse Regeln auferlegt. Beim Einsatz von Drohnen, wie etwa in Pakistan, Somalia und dem Jemen, den bevorzugten Einsatzgebieten der USA, werden Tötungen in Gebieten bzw. Staaten vorgenommen, mit denen man sich nicht im Kriegszustand befindet. Das durch das Kriegsrecht definierte Kampfgebiet wird entgrenzt und in ein „multi-scalar, multi-dimensional ‚battelspace‘ with no front or back“263 transformiert – eine von der US-Regierung explizit formulierte Absicht. Der Kampf gegen den al-Qaida-Terrorismus sollte über Afghanistan hinaus internationalisiert und überall dort geführt werden, wo sich faktische oder fiktive Kämpfer befänden. Im Krieg der Drohnen kann man ein weiteres Phänomen wahrnehmen: Beobachten und Töten werden zeitlich synchronisiert. Aus der Beobachtung heraus kann jederzeit eine Rakete abgefeuert werden, die eine verdächtige Person oder Gruppe tötet. Zudem wird der faktische Kampf durch die einseitige Tötung mittels einer für den ‚Gegner‘ unerreichbaren ‚Waffe’ ersetzt. Der Gegner wird nicht nur ständig im Auge behalten, sondern er ist synchron der laufenden Tötung ausgesetzt. Es gibt kein Versteck vor der Drohne: Sie sieht alles und behält alles im Auge, Tag und Nacht, sie sieht die potentiellen menschlichen Ziele immer, auch wenn diese sie umgekehrt nicht sehen, sondern nur ihr leises Summen hören. Das Schlachtfeld, das im asymmetrischen Krieg noch existiert, wird durch das Jagdrevier abgelöst. Die Drohne macht den einen Teil der kriegführenden Parteien unverletzlich, während sie dem anderen Teil seine extreme Verwundbarkeit signalisiert. Die Drohne wird zum hochauflösenden Auge, das zugleich mit ungeheurer Präzision tötet.
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Neben der Aerodynamisierung des Krieges tritt noch ein weiterer Aspekt hinzu. Während schon mit der Asymmetrierung des Krieges die territoriale Dimension an Bedeutung verliert – unter anderem, weil der überlegene Gegner aus der Luft mittels Flugzeugen und Bombern den Krieg durch seine überlegene Technik ungleich macht –, potenziert sich dies mit dem Drohnenkrieg. Es werden sogenannte „kill boxes“264 eingerichtet, die nicht mehr territorial gedacht werden, sondern vertikal angelegt sind: Bestimmte Räume werden nun nicht mehr mit Soldaten oder Truppen besetzt und dadurch der horizontalen Kontrolle unterwerfen. Stattdessen erfolgt die Kontrolle vertikal, sie wird aerodyamisiert und zu einer „Autorität ohne Bodenhaftung“265, die sich ausschließlich in der Luft bewegt und den Kontakt zum Boden verloren hat. Ihr Charakter als kill box wird darin deutlich, dass sie wie eine autonome Kampfzone betrachtet wird. „Der unmittelbare Zweck der Einrichtung einer kill box ist es, die Luftstreitkräfte zu autorisieren, Angriffe gegen Oberflächenziele ohne weitere Abstimmung mit der Kommandoebene durchzuführen (…). Die ‚mosaikartige‘ Natur der Aufstandsbekämpfung (macht) sie besonders geeignet für dezentrale Durchführung“ und jeder Würfel wird zur „autonomen Operationszone.“266
Man kann so das aerodynamische ‚Schlachtfeld‘ an sich wandelnde Situationen sehr schnell anpassen und die kill box in Raum und Zeit flexibel verschieben. Hinzu kommt, dass durch die Ausdehnung des Modells der kill box im Prinzip überall auf der Welt solche zeitlich und räumlich variablen Todeszonen eingerichtet werden können, in denen sich bestimmte Personen aufhalten, die man beobachten und potentiell töten will. Da kill boxes „temporäre autonome Tötungszonen“267 sind, sind sie – wie bereits erwähnt – in Raum und Zeit verschiebbar, dringen zeitlich und räumlich begrenzt in andere Staaten ein und verletzen deren Souveränität. Die angebliche Präzision und die damit verbundene punktuelle Ausübung der Gewalt der Drohnen lassen diese ‚chirurgischen Eingriffe‘ in anderen Staaten zudem als legitim erscheinen, weil sie sich allein auf kill boxes konzentrieren bzw. begrenzen und nach getaner Tötung der entsprechenden Zielperson(en) wieder verlassen werden. Die Grenzen des Krieges werden in einem solchen Konzept nicht von den Grenzen von Staaten bestimmt, sondern von den Bewegungen des Feindes im entgrenzten Raum, dem die Tötungszonen mit ihren tödlichen Waffen folgen. In diesem Sinne kann im Prinzip jeder Ort der Welt zum Kriegsschauplatz werden – besser: zur kill box erklärt werden, die nach getaner Arbeit, hier der getanen Tötung des feindlichen Kombattanten, wieder aufgelöst wird. Das alles kann man in Afghanistan ebenso beobachten wie in Pakistan, im Jemen oder in Somalia und es ist nicht unwahrscheinlich, dass noch andere Gebiete hinzu treten werden. Dann wäre die Politik der Drohne zu einem „Projekt der globalisierten Menschenjagd“268 geworden.
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Hinzu kommt, dass man dem Gegner seinen Gegner nimmt, gegen den er kämpfen kann: Der der Drohne ausgesetzte Feind hat keinen Feind mehr. Ein afghanischer Kämpfer sagte: „Wir beten zu Allah, dass er uns amerikanische Soldaten zu töten gebe. Gegen diese Bomben, die vom Himmel fallen, können wir nicht kämpfen.“269 Eine solche Ausgangslage ist in der Tat das Ende des Krieges, es gibt keinen Feind mehr, gegen den man kämpfen kann, aber man selbst kann von ihm jederzeit getötet werden. Dadurch ist eine neue Situation eingetreten, die man nicht mehr als Krieg bezeichnen kann. Der Krieg in Afghanistan, der unter George W. Bush von den USA (an)geführt wurde, war zu Beginn ein eher traditioneller, wenngleich asymmetrischer Krieg, weil die territoriale Dimension des Krieges überwog. Durch eine militärische Intervention in den Raum, also den afghanischen Staat, sollten die Ausbildungslager und auch andere Stellungen von al-Qaida getroffen und die räumliche Basis der Terrororganisationen vernichtet werden. Dem war on terror lag noch die Vorstellung zu Grunde, über die Beherrschung des Raumes den Terrorismus zu schlagen und ihm seine Basis zu entziehen. Unter Präsident Barack Obama vollzog sich dann der Übergang vom ‚Bodenkrieg‘, wie er noch unter George W. Bush geführt wurde, zum „Krieg der Späh- und Kampfdrohnen, der für einen Kampf gegen einen hochmobilen Gegner ohne festes Territorium erkennbar besser geeignet ist. Um im Drohnenkrieg erfolgreich zu sein, braucht man jedoch Informationen über die Bewegungen und zeitweiligen Aufenthaltsorte des Gegners; die Beschaffung zuverlässiger Informationen ist der Schlüssel für einen erfolgreichen Einsatz der mit bewaffneten Drohnen durchgeführten personal oder signature strikes.“270
Die (kriegs)rechtlichen Grundlagen für einen solchen Krieg seien durch das internationale Recht gegeben. United States Attorney General Eric Holder argumentierte, dass „our legal authority is not limited to the battlefields of Afghanistan.”271 Damit wird der ganze Planet zum Kampf- und Kriegsgebiet erklärt, indem die USA mit ihren Drohnen operieren können. Die Errichtung dieses globalen Schlachtfelds verdeutlicht ein „highly problematic blurring and expension of the boundaries of the applicable legal frameworks.“272 Der Krieg der Drohnen bewegt sich in einem rechtlichen Graufeld, zwischen dem tradierten Kriegsrecht und dem „law enforcement“, das man frei mit Polizeirecht übersetzen könnte. Das Recht zu töten unterscheidet sich beim Soldaten grundlegend von dem des Polizisten. Letzterer darf Gewalt nur bei einer unmittelbaren Bedrohung einsetzen, die für den Polizisten tödlich sein könnte und keinen anderen Ausweg mehr zulässt. Der Einsatz einer Drohne im Begründungskontext des ‚law enforcement‘ ist grundlegend problematisch, ja vielleicht sogar unmöglich, weil sich Drohnen nicht an die Einsatzregeln der Polizei halten können. Im ‚law enforcement‘ muss die Möglichkeit einer Warnung gegeben sein, bevor man die tödliche Gewalt anwendet. Einer Drohne ist diese Option jedoch per
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definitionem verschlossen. Entweder man schießt oder man lässt es – aus dieser binären Logik kann man nicht entkommen, während beim ‚law enforcement‘ immer noch eine prozessuale Logik eingebaut ist, bei der man einen Prozess, einen Ablauf variieren kann. Die Drohne jedoch „macht die tödliche Gewalt zur einzigen verfügbaren Handlungsmöglichkeit“273 und löst die Spannung zwischen Gefangennahme und Tötung einseitig gegenüber letzterem auf. Die amerikanische Regierung unter B. Obama „vermeidet die Komplikationen, die eine Festnahme mit sich bringt, durch die Entscheidung, de facto keine lebenden Gefangenen zu machen“ – so ein Kommentar in der New York Times.274 Werden die Drohnenangriffe über das Kriegsrecht gerechtfertigt, so müssen die in den Verträgen über das Kriegsrecht festgelegten Merkmale und Kriterien erfüllt sein, um die vorgesehenen Maßnahmen zur Geltung kommen zu lassen. Aber dies erfordert einen „nachhaltigen und andauernden Kampf“ sowie einen „Ort, auch wenn er nur lose definiert ist, aber nicht schlicht den ganzen Erdball.“275 Der Jemen und Somalia (aber auch im Zweifelsfall andere Länder) würden hier nicht unter das Kriegsrecht fallen, die Drohnenangriffe wären also illegal. Das generelle Dilemma ist deutlich: „Einerseits (ist) die gezielte Tötung außerhalb des Rechtsrahmens bewaffneter Konflikte gesetzlich verboten, und andererseits (sind) in der Praxis auch im Kontext eines sogenannten ‚Krieges‘ gegen al-Qaida gezielte Attentate nicht zulässig.“276
Ein weiteres Problem tritt hinzu: Die an den Bildschirmen in den USA sitzenden und die Drohnen steuernden Personen sind Mitglieder der CIA und damit Zivilpersonen, deren Teilnahme an Kriegshandlungen verboten ist und juristisch als Kriegsverbrechen gewertet werden müsste. Die Politik der Drohne führt zu einer gänzlich neuen Politik des Krieges, der nun verpolizeilicht wird. Seine Gegner sind nicht mehr politische Gegner, die Kampfverbände anderer Staaten oder terroristische Gruppierungen, sondern sich mehr oder weniger frei im Raum bewegende, verbrecherische Individuen. Diese sollen allerdings nicht festgenommen und in einem Prozess verurteilt, sondern prozesslos getötet werden. „Die polizeiliche Logik individualisiert das Problem und reduziert die Zielsetzung darauf, für jeden Fall eine maximale Zahl von Verdächtigen zu neutralisieren. (…) Es geht nicht darum, den Feind von der Bevölkerung abzuschneiden, sondern lediglich darum, ihn persönlich unschädlich zu machen.“277
An die Stelle des „Kriegsparadigmas“, also einer Politik des Krieges, ist dann ein „Kriminalitätsparadigma“ getreten278 oder die Verpolizeilichung des Krieges. Der individuell er- oder bekannte ‚Feind‘ oder der durch bestimmte Verhaltensmuster identifizierte potentielle ‚Feind‘ wird mit der Drohne verfolgt – mit anderen Worten gejagt –, bis der Befehl zur Tötung erfolgt. Das Ziel der Informatiker in den entsprechenden Behörden ist es inzwischen jedoch, diese Entscheidung zu automatisieren: Der Computer soll in Zukunft selbständig entscheiden, ob die von
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der Drohne und anderen Kontrolltechniken erhobenen Informationen und Daten ausreichen, diese Person zur Tötung freizugeben. Noch entscheiden dies die an der elektronischen Verfolgung beteiligten Personen bzw. in den USA der Präsident, aber das Ziel ist die Automatisierung dieser Form der Tötung. Sogenannte personal strikes setzen die Erkenntnis der individuellen Person voraus, während signature strikes auf der Basis von Bewegungs- und Verhaltensprofilen von potentiellen Terroristen identifiziert werden, ohne dass man den Namen oder andere Merkmale kennt. Bei signature strikes werden nicht Personen, sondern Profile getötet. Gelingt die Automatisierung des Tötens tatsächlich, dann wird Tötung vollautomatisch und ohne Zwischentreten von menschlichen Zweifeln vollzogen. Die perfekte Drohne würde Beobachten und Töten automatisieren und in einem Prozess miteinander verschmelzen. Die drohnengesteuerte und im Extrem vollautomatisierte Tötung, die sich im Prinzip an jedem Ort der Welt und zu jeder Zeit ereignen kann, hätte die Schranken zwischen Krieg und Frieden niedergerissen. Anders als die Aufklärungssatelliten des tradierten Krieges, die die Bewegungen des Feindes als kollektiven Feind samt seiner Truppen und Waffen beobachteten, sind die Drohnen durch ihren Doppelcharakter gekennzeichnet: individuell zu beobachten und individuell zu töten. Der Frieden im Krieg oder der Krieg im Frieden – beides markiert ein neues Drittes, je nachdem welches Momente in einem konkreten Fall dominiert. Eine Politik des Krieges oder des Friedens würde es dann nicht mehr geben können. Beide wären untrennbar zu etwas Drittem verschmolzen, für das bisher noch kein plausibler Begriff gefunden wurde.
8.7. Gestaltwandel des Krieges im 20. Jahrhundert? Versuch einer Bilanz Das Jahrhundert begann mit einem tradierten Staatenkrieg. Der Erste Weltkrieg kann ohne Frage als ein solcher bezeichnet werden. Der Zweite Weltkrieg war es ebenfalls, auch wenn er an seinen Rändern massiver ausfranste als sein Vorgänger. Die Zivilbevölkerung war von allen Seiten weit mehr in diesen Krieg einbezogen und sie hatte unter dem Krieg erheblich mehr zu leiden. Die zivilen Opferzahlen waren immens und überstiegen die der militärischen (vgl. oben Kap. 8.2.2.). Auch die Militarisierung der Ökonomie war weiter vorangeschritten und übertraf die des Ersten Weltkriegs in fast allen beteiligten Staaten, vor allem aber in Deutschland. Der Genozid war von staatlicher Seite aus organisiert und wurde von staatlichen Organisationen, wie etwa dem Militär, vollzogen. SA und SS, die die Hauptakteure beim Genozid durch die Nationalsozialisten waren, gehörten zum NS-Staat, auch wenn sie aus dem tradierten Militär ausgegliedert und militärische Sondereinheiten waren.
8.7. Gestaltwandel des Krieges im 20. Jahrhundert?
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In den Kriegen gegen den nationalsozialistischen Krieg kamen bereits neue Kriegsformen zum Vorschein. Viele der Widerstandkriege wurden nicht mehr nur als tradierten Staatenkriege geführt, sondern auch als Partisanenkriege. Der jugoslawische Fall ist sicherlich der typischste und prominenteste, aber sie waren gleichwohl ein weit verbreitetes Phänomen. Am Ende des Jahrhunderts beginnen die sogenannten ‚neuen‘ Kriege zu dominieren, sie prägen das weltweite Kriegsgeschehen. Die tradierten ‚Staatenduelle‘ sind zwar nicht zu einem Randphänomen herabgesunken, aber sie haben zahlenmäßig und auch militärisch erheblich an Bedeutung verloren. Gleichwohl gehen viele Militär- oder auch einfache Historiker davon aus, dass es in der Gegenwart, konkret am Ende des 20. Jahrhunderts, keine neuen Kriege gibt.279 Sie wären eher noch die alten Kriege, bei denen es sich – vor allem wie im Altertum und dem frühen Mittelalter – um eine eigentümliche Mischung aus staatlichen und nicht-staatlichen Elementen handelt und sich ein staatliches Gewalt- und Kriegsmonopol nicht durchsetzen konnte. Zudem sei die allein in der Neuzeit stattfindende Verstaatlichung des Krieges eine Überschätzung dieser Entwicklung, weil es sie bereits im Altertum und auch in der (frühen) Neuzeit gegeben hätte. Am wichtigsten aber ist die Behauptung, dass alle zentralen Merkmale der neuen Kriege, wie sie insbesondere von Mary Kaldor und Herfried Münkler herausgearbeitet wurden280, sich in den als Staatenkriegen bezeichneten Kriegen zwar ‚nur‘ mehr oder weniger, aber dennoch wieder finden lassen. Insofern wäre das Konzept der neuen Kriege nichts weiter als eine Aufwärmung und Überbetonung von Merkmalen, die bereits in vielen alten Kriegen sichtbar waren. Die neuen Kriege seien die alten und sie gleichen den Kriegen, die vor der Ausbildung des staatlichen Gewaltmonopols vorherrschend waren.281 Zentral für die Bewertung der neuen Kriege und der Markierung einer grundlegenden Differenz sind dagegen die Merkmale, mit denen man die Asymmetrie beobachtet und bewertet. „Der klassische Staatenkrieg war ein symmetrischer Krieg, nicht etwa weil er von gleichstarken, sondern weil er von gleichartigen Akteuren geführt wurde. Als Kriterien der Gleichartigkeit sind die Rekrutierung der Streitkräfte, die Art ihrer Bewaffnung und die Form ihrer Ausbildung zu nennen. Wo diese tendenziell symmetrisch waren, waren es auch die Kriege, die zwischen den Staaten ausgetragen wurden.“282
Die Asymmetrie der Organisationsstrukturen der Akteure wäre dann ein erstes Kriterium, an Hand dessen man eine Differenz zwischen den ‚ganz‘ alten, den alten und den neuen Kriegen formulieren könnte.283 Die tradierten Staatenkriege, die das Westfälische System wesentlich charakterisierten, beruhten nicht auf der Symmetrie der faktischen militärischen Stärke, sondern der Organisationsstrukturen der sich bekämpfenden Staaten. Daraus leitete sich auch die gegenseitige normative Anerkennung als kriegführende Parteien ab. Bei den neuen Kriegen findet man dagegen ungleiche, ja asymmetrische Organisationsformen vor, die
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die eingesetzten militärischen ‚Kräfte‘ kennzeichnen und sowohl die unterschiedlichen Kriegsstrategien und -taktiken hervorbringen wie die unterschiedlichen Umgangsformen mit Raum und Zeit.284 Der militärisch Überlegene versucht mittels seiner hochtechnologischen Waffensysteme den Krieg zu gewinnen, spielt seine dominanten Ressourcen voll aus und setzt auf seine asymmetrische Überlegenheit. Der unterlegene Kriegsgegner setzt dagegen auf seine „strategische ‚Asymmetrie der Schwäche‘“285, die sich u. a. in einer ausgeprägten Opfer- und Leidensbereitschaft und einem starken Heroismus ausdrückt. Zudem wird er versuchen, den Krieg in Raum und Zeit auszudehnen und sehr unterschiedliche Kriegstaktiken anzuwenden, die sich von denen seines Gegners radikal unterscheiden.286 Anschläge, Attentate, punktuelle Angriffe u. ä. werden seine Kriegstaktiken sein und im Gegensatz zu den Taktiken seines asymmetrischen Gegners stehen. Ein weiteres Unterscheidungsmerkmal ist die Asymmetrie der Kraft, die sich auf die Ausprägung des politischen Willens bezieht. Der Schwache kämpft in einer solchen Konstellation ‚total‘, weil er mit einer völligen Niederlage rechnen muss und er wird seine Anstrengungen und seinen Einsatz zu erhöhen versuchen. Eng verbunden ist damit die Asymmetrie der Strategie, die den Stärkeren vor extreme Herausforderungen stellt. Er muss die Strategien des Schwachen konterkarieren, d. h. er muss dem Terrorismus, dem potentiellen Einsatz chemischer oder biologischer ‚Waffen‘, den Angriffen auf seine informationellen und sonstigen Infrastrukturen etwas entgegensetzen. Drei Anforderungen bzw. Gegenstrategien werden hier favorisiert. Zum einen die Reduktion der eigenen Verletzlichkeit, der Ausbau der eigenen Stärken und schließlich die Verhinderung überproportionaler Auswirkungen bei Angriffen des (schwachen) Gegners. Zudem kann man versuchen, die Andersartigkeit des Gegners positiv auszunutzen und daraus neue Chancen und Möglichkeiten für den eigenen Kampf abzuleiten. Strategische Anpassungsfähigkeit, Flexibilität und die Entwicklung neuer Gegenstrategien stehen dann im Mittelpunkt einer solchen reaktiven Strategiebildung. Alle drei Dimensionen machen die Asymmetrie der neuen Kriege aus, manche Autoren, wie etwa Felix Wassermann, ergänzen sie um weitere wichtige Merkmale.287 Dass auch in den tradierten Staatenkriegen und in den Kriegen davor manche dieser Merkmale zu beobachten waren und sich in den jeweiligen Kriegführungen niederschlugen, ist unübersehbar. Aber dass diese als prägende und dominierende, also als strukturelle Merkmale den Charakter eines Krieges ausmachen und nicht als peripheres Moment auftreten, ist historisch nur in den neuen Kriegen der Gegenwart bzw. ab Mitte und vor allem am Ende des 20. Jahrhunderts beobachtbar. Solche Typenbildungen sind zudem immer Idealtypen im Sinne M. Webers. Sie entstehen durch einseitige Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte und bei seiner Konstruktion wird von den vielschichtigen empirischen Merkmalen abstrahiert und stark generalisiert. 288
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Mit den Drohnenkriegen hat sich erneut ein neuer Typus von Krieg entwickelt, dessen Merkmale umstritten sind. Jedoch kann man aus der einschlägigen Literatur die Konturen dieses neuen Krieges herausarbeiten und seine Differenzen zu anderen Kriegstypen, vor allem zum asymmetrischen Krieg, bestimmen. Er ist nämlich nicht allein die Fortsetzung des (a)symmetrischen Krieges mit anderen Mitteln, sondern eine neue Form der Kriegsführung, ein neuer Typus von Krieg, dessen Konturen bereits oben angedeutet wurden. Hinsichtlich der Organisationsstrukturen schlägt die Asymmetrie um in radikale Dominanz, in völlige Einseitigkeit. Der Drohne kann der feindliche Kämpfer nicht entkommen, sie verfolgt ihn Tag und Nacht, während er umgekehrt nichts gegen sie unternehmen kann. Sie hat sich seinem Aktionsradius und seinen Waffen vollständig entzogen, er kann sie nicht mehr bekämpfen. Die einsetzbare Kraft läuft ins Leere, sie findet keinen Gegenstand mehr, besser: keinen Gegner mehr, gegen den sie sich wenden kann. Todesbereitschaft, Heroismus u. a. versanden wirkungslos, weil der Gegner nicht erreich- und greifbar ist. Schließlich kann auch eine neue Strategie gegen den ‚unsichtbaren‘ Gegner nichts bewirken. Während der Starke auf die Strategie der Drohnen setzt, kann der Schwache dem nichts entgegensetzen. Anschläge, der Einsatz terroristischer Methoden, die Anwendung von chemischen oder biologischen Waffen (falls vorhanden), dies alles ändert nichts an dem völligen Ausgeliefertsein gegenüber der bewaffneten Drohne. Alle kriegerischen Vorbereitungen können von ihr beobachtet und durch präventive Tötung verhindert werden. Dieser Krieg aus der Ferne ist kein Krieg mehr, er ist die völlig einseitige, mit Gewalt verkoppelte Durchsetzung einer machtvollen Politik, die gegenwärtig niemand mehr aufhalten kann, wenn sie einmal in Gang gesetzt worden ist. Die beiden Weltkriege zu Beginn und in der Mitte des Jahrhunderts können eindeutig unter die Kategorie der tradierten Staatenkriege gefasst werden. Es waren klassische (Welt)Eroberungskriege, bei denen alle, vor allem aber die kriegsauslösenden Staaten, ihren Machtbereich ausdehnen wollten, auch wenn dies durch präventive Logiken begründet wurde. Man wollte der Bedrohung und einem angeblich kurz bevorstehenden Krieg zuvorkommen, um sich so rechtzeitig zu verteidigen. Es waren aber immer machtpolitisch inspirierte Kriege, die der Logik der zielorientierten Rationalität genügten oder wenigstens genügen wollten. Die Partisanenkriege, die vor allem am Ende des Zeiten Weltkrieges in Europa, aber auch in Asien, an Bedeutung gewannen, unterlagen ebenso dieser Rationalität. Während bei einigen Theoretikern die Abwehr und Vertreibung des Feindes vom eigenen Territorium das erklärte Ziel war, wurde es bei anderen mit einem weitergehenden Ziel verbunden: Nicht nur die nationale Befreiung von einer fremden Macht sollte mittels des Partisanenkrieges erfolgen, sondern zugleich die sozialistische Revolution. Damit war ebenfalls eine sichtbare und aus-
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formulierte zielorientierte Rationalität verbunden, die sich am idealtypischsten in China unter Mao Tse-tung realisierte. Bei den sogenannten ‚neuen‘ Kriegen ist diese Rationalität weitgehend verloren gegangen. Sie tragen weit eher reaktive Züge, weil sie wegen nur schwer zu dechiffrierender Motive geführt werden. Persönliches Prestige, individuelles Machtstreben, ideologische Überzeugungen oder auch ideologische Maskierungen, Korruption u. ä. halten diese Kriege am Laufen und sie werden „häufig nicht um erkennbare Zwecke und Ziele geführt“, wie einer der besten Analytiker dieser Kriege festhält.289 Auch die beteiligten Gewaltakteure verändern die Struktur dieser Kriege, weil es sich vorwiegend um nicht-staatliche Akteure handelt, die weniger machtpolitisch, sondern eher an privaten Interessen orientiert sind. Paramilitärs, lokale Selbstverteidigungsgruppen, kriminelle Gruppierungen, ausländische Söldner etc. sind an diesen Kriegen beteiligt und sie verfolgen ihre eigenen privaten Interessen und nicht die eines Staates, der in diesen Konflikten oft nicht mehr existiert oder keine zentrale Rolle mehr spielt. Beginn und Beendigung solcher Kriege durch politische Handlungen von Staaten bzw. deren Repräsentanten wie bei tradierten Staatenkriegen sind hier fast nicht mehr möglich. Sie fasern vor sich hin und werden manchmal intensiver und dann wieder schwächer. Bei den Drohnenkriegen findet eine Aerodynamisierung des Krieges statt, die Zeit und Raum entgrenzt. Drohnenkriege können permanent stattfinden, die Differenz zwischen Krieg und Frieden verliert an Bedeutung. Krieg und Frieden koexistieren in einem nicht mehr zu differenzierendem Zustand. Parallel zu dieser Entzeitlichung findet eine Enträumlichung statt, weil der Drohnenkrieg nicht mehr zwischen Staaten stattfindet, sondern zwischen feindlichen Gruppen in sogenannten „kill boxes“.290 Der Krieg wird aerodynamisiert, weil bestimmte Räume nicht mehr horizontal mittels militärischer Kräfte bekriegt, sondern durch Drohnen vertikal kontrolliert werden. Der ‚Blick von oben‘ ist universal. Der Befehl zum Einsatz einer vollautomatisch agierenden Rakete kann zu jeder Zeit und an jedem der Welt Ort erfolgen, sofern die Zentrale den Befehl dazu gibt oder im Extremfall von der Drohne selbst, also automatisiert, gegeben wird. Die Politik der Drohne wäre dann zu einem automatisierten Projekt der globalen Menschenjagd geworden, während sie dem zu jagenden Feind den Feind genommen hat. Die Drohne ist kein Gegner mehr, gegen den man – wie auch immer – kämpfen kann. Aber man kann sie umgekehrt präventiv oder reaktiv einsetzen, je nach Lage und Einschätzung der Dinge. Auch wenn der Drohnenkrieg als ‚Krieg‘ bezeichnet wird, hat er alle zentralen Merkmale eines Krieges abgelegt und sich als etwas nie Dagewesenes konstituiert. Am Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts haben wir es damit zu tun, dass alle hier erwähnten Kriegsformen sich parallel und zeitgleich vollziehen, wobei die Staatenkriege allerdings an Bedeutung verlieren, während die an-
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deren an Bedeutung gewinnen. Die zeitorientierte Reaktivität der ‚neuen‘ Kriege beginnt gegenüber der zielgerichteten Rationalität der ‚alten‘ Kriege zu dominieren. Anmerkungen 1 Suttner 1907: 4; die Rede ist auch zugänglich unter: https://www.nobelprize.org/prizes/ peace/1905/suttner/26131-bertha-von-suttner-nobelvorlesung; Zugriff am 01.06.2019. 2 Suttner 1907: 4. 3 Suttner 1907: 2. 4 So Münkler 2015b. 5 Bull 1977: 184; vgl. ähnlich auch Vasquez 1993: 23. 6 Diese Definition ist aus verschiedenen Definitionen extrahiert und umfasst die Merkmale, die am häufigsten und v. a. am energischsten vertreten werden: vgl. etwa die Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung (AKUF) https://www.wiso.uni-hamburg.de/fachbereich-sowi/professuren/jakobeit/forschung/ akuf/kriegsdefinition.html. Zugriff am 08.02.2018. 7 Kennan 1979: 3; Herv. i. O. 8 Diese Zahlen habe ich von Hinsch 2017: 16 übernommen. 9 Fischer 1961; die Kontroverse um seine Thesen ist gut dokumentiert und kommentiert bei Jarausch 2003; Geiss, I. 2003; Große Kracht 2005: bes. 47-67. 10 Vgl. Jarausch 2003; Geiss, I. 2003. 11 Ritter, G. 1956. Terence Zuber hat im Jahr 2002 eine Monographie vorgelegt, in der er – basierend auf neuen Dokumenten – die Existenz des Schlieffenplanes strikt bestreitet (Zuber 2002). Er sei eine Erfindung der Historiker. Der Streit über diese Behauptung wird unter den Historikern intensiv geführt und ist gut dokumentiert; vgl. etwa Ehlert/Epkenhans/Groß (Hg.) 2006. Vor allem die Artikel von Annika Mombauer (2006), Robert T. Foley (2006) und Gerhard P. Groß (2006) legen nahe, dass es den Schlieffenplan gab und vor allem dass er in der Politik zum und in der Politik des Krieges die zentrale Rolle gespielt hat, die ich ihm in meinen Überlegungen zugestehe. 12 Vgl. dazu ausführlich Münkler 2013; Kielmannsegg 1968; Mombauer 2001; dies. 2014. 13 Ritter, G. 1956: 248. 14 Zur politischen Torheit vgl. etwa Tuchman 2001; Schmitz 2011. 15 Diese Begrifflichkeit geht unübersehbar auf den Historiker Gerhard Ritter zurück, der im Kontext der Analysen über den Ersten Welt-
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krieg diese Dichotomie stark gemacht und in vielen seiner Schriften als Prämisse unterlegt hat; zunächst in Ritter 1956, dann dominierend in ders. 1960. Vgl. dazu Münkler 2013: 16f. Ich zitiere hier und im Folgenden aus der Abschrift des verloren gegangenen Originals im Nachlass Friedrich von Boetticher, Bundesarchiv-Militärarchiv N 323/19. http:// www.1000dokumente.de/index.html?c=dokument_de&dokument=0097spl&object= pdf&st=&l=de. Zugriff am 08.02. 2018. Von Schlieffen hat in einer Einführung zu Clausewitz‘ „Vom Kriege“ im Jahr 1917 formuliert, dass ihm (Clausewitz) „die Vernichtung der feindlichen Streitkräfte unter allen Zwecken, die im Kriege verfolgt werden können, immer als der über alles gebietende sei. Diese Lehre hat uns nach Königgrätz und Sedan geleitet.“ Zit. nach Stahel 1996: 241. Zit. nach Stahel 1966: 241. Dazu im Besonderen Mombauer 2006: 82. Foley 2006. Foley 2006: bes. 110. Foley 2006: 133. Groß 2006: bes. 159 und dort FN 195. Ob man deshalb bereits von einem Moltke-Plan sprechen sollte, wie dies die Historikerin Annika Mombauer mit bedenkenswerten Argumenten vorschlägt (Mombauer 2006), muss hier nicht geklärt werden. Entscheidend bleibt, dass von Moltke trotz seiner Variationen an den Grundprämissen des ursprünglichen Planes festgehalten hat. Vgl. zu den Details vor allem Mombauer 2006; aber auch Groß 2006. Münkler 2013: 17. Mombauer 2014: 104f. Zit. nach Mombauer 2014: 105. Mombauer 2014: 106. Mombauer 2014: 110f. Münkler 2013: 72. Münkler 2013: 78. Ritter, G. 1960: 241. Vgl. insbesondere das Verhältnis des Generalstabs zur Politik, das gerade am Beispiel des Schlieffenplans ausführlich diskutiert wird; besonders erhellend Ritter, G. 1956. Vgl. zu Frankreich etwa Schmidt 2006; zu England Strachan 2006 und zu Russland Kusber 2006. Keiner dieser Pläne aber hatte je-
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8. Die Politik des Krieges doch eine solche Detailliertheit wie der Deutsche. Zur politischen Torheit vgl. erneut Tuchman 2001; Schmitz 2011. Vgl. zur gesamten Thematik und Systematik von Friedensverträgen etwa Zimmer 1989. Vgl. das 14-Punkte-Programm etwa bei World War One Dovument Archive: zit. nach: https://wwi.lib.byu.edu/index.php/President_Wilson%27s_Fourteen_Points, Zugriff am 08.02. 2018. Münkler 2013: 677. Zit. nach Münkler 2013: 767. Münkler 2013: 680. Münkler 2013: 706. Münkler 2013: 714. Zit. nach Münkler 2013: 723. Idee und Konzept eines totalen Krieges wurde von verschiedenen Autoren diskutiert und systematisiert; vgl. etwa bereits in ersten Ansätzen durch von Ludendorff selbst in den 20er Jahren (Ludendorff 1921); dann aber auch ansatzweise etwa bei Bernhardi 1920; Ritter 1924; Buchfink 1930. Ludendorff 1935. Zur Bedeutung und Wirkungsgeschichte der Schrift Ludendorffs vgl. auch die Ausführungen von Pöhlmann 2002: 349-351. Die Nichtwahrnehmung der Schrift in den einschlägigen Militärzeitschriften führt er auf „als amtlicherseits nahegelegte Ignoranz von Seiten der Schriftleitungen“ zurück, die „primär durch die Furcht vor möglichen öffentlichen Auseinandersetzungen mit dem Autor motiviert war.“ Pöhlmann 2002: 351f. Ludendorff 1935: 107. Ludendorff 1935: 111. Ludendorff 1935: 115. Ludendorff 1935: 112f. Ludendorff 1935: 3. Ludendorff 1935: 4. Vgl. Schmitt 1963. Ludendorff 1935: 9. Ludendorff 1935: 9f. Ludendorff 1935: 10. Ludendorff 1935: 13. Ludendorff 1935: 20. Vgl. dazu ausführlich Spilker 2013. Ludendorff 1935: 50. Ebd. Ludendorff 1935: 56. Ludendorff 1935: 54. Ludendorff 1935: 87. Ebd. Ludendorff 1935: 104. Ludendorff 1935: 25. Ludendorff 1935: 24. Ebd. Zit. nach Förster 1967: 71.
72 Das Folgende beruht auf den Überlegungen von Förster 2002: bes. 18-27, wobei seine Differenzierungen zu anderen Kriegen (dem amerikanischen Bürgerkrieg, dem DeutschFranzösischen Krieg von 1870/71, dem ersten Weltkrieg, dem Luftkrieg der Alliierten am Ende des Zweiten Weltkrieges u.a.) nicht ganz klar werden. 73 Der Plan ist dokumentiert auf der Website „100(0) Schlüsseldokumente zur Deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert“ http:// www.1000dokumente.de/index.html?c=dokument_de&dokument=0138_gpo&object=pdf&st=GENERALPLAN %20OST&l=de; Zugriff am 08.02.2018. 74 Förster 2002: 26. 75 Zu dieser und der Nachfolgeausstellung gibt es die entsprechenden Kataloge. Zur ersten Ausstellung vgl. Hamburger Institut für Sozialforschung (Hrsg.) 1996. 76 Zur zweiten, überarbeitenden Ausstellung: Hamburger Institut für Sozialforschung (Hrsg.) 2002. Zu den Differenzen zur ersten Ausstellung vgl. den lesenswerten Artikel von Ulrike Jureit, die an der Konzeption der zweiten Ausstellung führend beteiligt war; vgl. Jureit 2004. 77 Vgl. etwa Rolf-Dieter Müller in einem Interview im Spiegel vom 7. Juni 1997 und Rita Süssmuth in einem Interview mit dem Deutschland Radio vom 7. Dez. 2009; zit. nach „Wehrmachtsausstellung“, FN 12 in Wikipedia; Zugriff am 20.06.2017. 78 Zur Darstellung dieser Debatte vgl. etwa Prantl 1997; Hartmann/Hürter/Jureit 2005; Thamer 2012. 79 Vgl. etwa SPIEGEL 32/2000: 40f. 80 Vgl. etwa Krisztián Ungváry: Reemtsmas Legenden. Nicht nur Bilder können lügen. In: FAZ, 5. November 1999; ders.: Verbrechen und Haftung. Die Pause der Wehrmachtsausstellung hilft nicht nur, die Bilder zu überprüfen: Auch der Begriff der Verantwortlichkeit ist zu klären. In: SZ, 16. November 1999; ders.: Mit zweierlei Maß. Die Kommission zur Überprüfung der Hamburger Wehrmachtsausstellung arbeitete parteiisch und ungenau. In: Berliner Zeitung, 23. November 2000. 81 Der Bericht ist verfügbar unter: http:// www.his-online.de//fileadmin/user_upload/ pdf/veranstaltungen/Ausstellungen/Kommissionsbericht.pdf; Zugriff am 20.06.2018. 82 Zum totalen Krieg vgl. Neitzel 2014; zur Totalität des Zweiten Weltkrieges vgl. statt vieler Mallmann/Rieß/Pyta (Hg.) 2002; Sandkühler 1996; Pöhlmann 2011. 83 Hartmann 2004; aber auch Pohl 2005. 84 Hartmann 2004: 22. 85 Hartmann 2004: 11.
8.7. Gestaltwandel des Krieges im 20. Jahrhundert? 86 87 88 89 90 91 92 93 94
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Hartmann 2004: 25. Zit. nach Hartmann 2004: 25. Ebd. Ebd. Hartmann 2004: 30f. Hartmann 2004: 12. Hartmann 2004: 14, 40. Zit. nach Streim 1982: 34. Als Tote oder Opfer des Zweiten Weltkrieges werden alle die Menschen gezählt, die die seit Kriegsbeginn im September 1939 bis zur Kapitulation Japans am 2. September 1945 durch unmittelbare Kriegshandlugen getötet wurden. Die Zahlen stammen von Auerbach 1992: 161ff. und Pohl 2003: 153f.; die im Text zuerst genannten Zahlen stammen von Hellmuth Auerbach, die anderen von Dieter Pohl. Dieser Begriff wird von Hans Grünberger in seiner Analyse des Partisanenbegriffs bei Rolf Schroers verwendet (vgl. Grünberger 1990). Ich übernehme den Begriff, weiche aber von der Verwendung des Begriffs bei ihm ab. Kippfigur meint bei mir eine begriffliche Verwendung, die sowohl eine revolutionär-militärische Bedeutung erfasst (wie bei Mao Tsetung (1968a) und Ernesto Che Guevara (1986)) als auch die einer eher konservativkriegerischen Bedeutung im Umkreis der deutschen politischen Philosophie (wie bei Carl Schmitt (1987)) bzw. der politischen Anthropologie (wie bei Rolf Schroers (1961)). Vgl. zu dieser Differenzierung Münkler 1985: bes. 302. Barth 2005: 69. Vgl. dazu W. I. Lenin, in: Schickel (Hg.) 1970: 128-139. Schroers 1961: 77. Schroers 1961: 93. Schroers 1961: 27. Hierzu ausführlich Barth 2005. Schroers 1961: 7. Ebd. Hier war die Lektüre von Barth 2005 ausgesprochen hilfreich, auf den die folgenden Überlegungen weitgehend zurückgehen. Vgl. aber auch die bereits erwähnte Studie von Schroers 1961 und ebenso Heilbrunn1963; Münkler (Hg.) 1990. Dazu immer noch lesenswert die ältere Studie von Eric J. Hobsbawn aus den 50er Jahren; vgl. Hobsbawn 1959. Hoffmann 2001: 185. Vgl. etwa Münkler 1980; aber auch Hoffman 2001: bes. 15-51. In Ernesto Che Guevaras deutschen Übersetzungen über den Partisanenkrieg wird durchgehend der Begriff des Partisanen verwendet, wie beispielsweise in der erstmals 1962 in Berlin (Ost) im Militärverlag der DDR und
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443 kurze Zeit später auch in der Bundesrepublik in der Rixdorfer Verlagsanstalt Berlin-Neukölln veröffentlichten Ausgabe. In den ausgewählten Werken (Bd.1 und herausgegeben von Horst-Eckart Gross) wird in der ansonsten gleichlautenden Übersetzung durchgehend der Begriff des Guerilla verwendet. Mao Tse-tung 1968a; ders. 1968b. Mao Tse-tung 1968a: 83. Vgl. etwa in Mao Tse-tung 1968b; 1968c. Mao Tse-tung 1968a: 88. Ebd. Mao Tse-tung 1968a: 89. Mao Tse-tung 1968a: 94. Mao Tse-tung 1968a: 96. Mao Tse-tung 1968b: 136. Mao Tse-tung 1968b: 38. Mao Tse-tung 1968a: 101. Mao Tse-tung 1968a: 107. Mao Tse-tung 1968a: 108. Ebd. Mao Tse-tung 1968a: 119. Ebd. Mao Tse-tung 1968a: 121. Mao Tse-tung 1968a: 122. Mao Tse-tung 1968a: 123. Mao Tse-tung 1968a: 109-111. Che Guevara 1986: 24. Che Gevara 1986: 25. Ich ‚übersetze‘ Guerillero immer mit Partisan, weil diese Veränderung eine des Übersetzers und Herausgebers ist. Vgl. dazu etwa Müller-Borchert 1963; Labrousse 1971; Alves/Detrez/Marighela 1971. Che Guevara 1986: 58f. Che Guevara 1986: 61. Che Guevara 1986: 65. Che Guevara 1986: 85. Che Guevara 1986: 66. Che Guevara 1986: 67. Che Guevara 1986: 69. Che Guevara 1986: 88f. Che Guevara 1986: 98. Che Guevara 1986: 80f. Che Guevara 1986: 82. Dies wird an anderer Stelle der Schrift erneut betont; vgl. S. 89. Che Guevara 1986: 94. Che Guevara 1986: 58. Zum Begriff der Rebellion und zu seiner Verwendung als wissenschaftlichem Konzept vgl. statt vieler Gurr 1970. Schroers 1961: 20. Ebd. Schroers 1961: 27. Grünberger 1990: 44. Rolf Schroers: Maschinist und Partisan, in: Frankfurter Hefte, Jg. 16, S. 156, zit. nach Grünberger 1990: 44. Schroers 1961: 51. Schroers 1961: 46.
444 155 156 157 158 159 160 161 162 163 164 165 166 167 168 169 170 171 172 173 174 175
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8. Die Politik des Krieges Schroers 1961: 48. Schroers 1961: 112. Schroers 1961: 113. Schroers 1961: 114. Schroers 1961: 116. Schroers 1961: 115f. Schroers 1961: 116. Schroers 1961: 119. Schroers 1961: 148; Herv. i. O. Schroers 1961: 166 und ff. Schroers 1961: 188. Schroers 1961: 211. Schroers 1961: 224. Schroers 1961: 237. Schroers 1961: 235. Sie sind v. a. entwickelt von Barth 2005; vgl. aber auch Münkler 1980; ders. (Hg.) 1990; ders. 1990. Mao Tse-tung 1968a: 98. Der Begriff stammt von W. Hohlweg und wird von B. Barth übernommen; vgl. Barth 2005: 86. Barth 2005: 90. Barth 2005: 91. Barth 2005: 93 unter Berufung auf Peer Schmidt (2003): Der Guerrillero. Die Entstehung des Partisanen in der Sattelzeit der Moderne. Eine atlantische Perspektive 1776-1848. In: Geschichte und Gesellschaft 29: 161-190, hier 162. Zu den verschiedenen Konzepten der Stadtguerilla, v. a. in Lateinamerika, vgl. etwa Labrousse 1971; Alves u. a 1971; zu den Tupamaros in Uruguay vgl. erhellend Fischer, T. 2006. Kritisch dagegen Müller-Borchert 1973. Vgl. dazu Fischer, T. 2006. UNO-Kernwaffenstudie, Beck: München 1982: 77, zit. nach Müller 2011. Anders 1982. Anders 1982: 207. Ebd. Anders 1982: 208; Herv. i. O. Anders 1982: 210. Ebd. Ebd. Anders 1982: 211. Ebd. Anders 1982: 212. Ebd. Ebd.; Herv. i. O. Anders 1982: 213. Ebd. Ebd. Anders 1982: 214. Anders 1982: 227. Ebd. Anders 1982: 230. Anders 1982: 233. Anders 1982: 238.
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Anders 1982: 244. Anders 1982: 246. Anders 1982: 251f. Anders 1982: 253. Ebd. Anders 1982: 249; Herv. i. O. Anders 1982: 250. Anders 1982: 258. Anders 1982: 259. Vgl. dazu 302-304. Anders 1982: 309. Anders 1982: 315, Anm. 1. Anders 1982: 324. Ebd. Anders 1982: 327. Ebd.; Herv. i. O. Anders 1982: 330. Anders 1982: 331. Anders 1982: 332; Herv. i. O. Anders 1982: 333. Anders 1982: 354. Anders 1982: 355. Huie 1964. Vgl. statt vieler Alperovitz 1965; ders. 1995; Takaki 1995; Bernstein, B. J. 1975; ders. 1995. Alperovitz 1965. Das Buch trug nun den geänderten Titel: „The Decision to Use the Bomb and the Architecture of an American Myth”; vgl. Alperovitz 1995. Alperovitz 1995: 322. Takaki 1995. Takaki 1995: 7. So etwa Boyer 1994. Anders 1956: 235. Anders 1956: 243. Zur Politik der Abschreckung vgl. etwa Senghaas 1995; ders. 1997b. Vgl. dazu Heupel/Zangl 2004: 360-363; Rashid 2001; Marsden 1998. Die erste, die diesen Begriff prägte und die Merkmale ausbuchstabierte, war sicherlich Mary Kaldor (Kaldor 1999; deutsch 2000). Im Folgenden stütze ich mich jedoch auf Herfried Münklers Analyse der „neuen Kriege“; vgl. Münkler 2002; ders. 2006. So der Untertitel eines sehr lesenswerten Aufsatzes zu genau diesem Thema; vgl. Heugel/ Zangl 2004. Münkler 2002: 16. Zum Theorem des demokratischen Friedens vgl. statt vieler Ray 1998; Geiss 2001; Hasenclever 2003; Daase 2004; Geiss/Müller/Schärnig 2009. Münkler 2002: 18. Münkler 2002: 20. Ebd.
8.7. Gestaltwandel des Krieges im 20. Jahrhundert? 241 Diese Differenzierung geht zurück auf Heugel/Zangl 2004: 349 und Chojnacki 2007: bes. 490-492. 242 Ich habe sie von M. Heupel und B. Zangl übernommen und meinen Überlegungen zu Grunde gelegt; vgl. Heupel/Zangl 2004: 350-355. Überhaupt profitieren meine Ausführungen und die Empirie zu den Gewaltstrukturen der neuen Kriege weit mehr von dieser Schrift als in den Anmerkungen sichtbar wird. 243 Den Zerfall des ehemaligen Jugoslawiens hat vor allem Marie-Janine Calic in ihren verschiedensten Schriften beobachtet und analysiert; vgl. etwa Calic 1996; dies. 2014. 244 Münkler 2002: 10. 245 Ebd. 246 Einer der prominentesten Vertreter der These der neuen Kriege, der Militärhistoriker Martin van Creveld, vertritt die gegenteilige These. Bei ihm ist das zentrale Motiv eine Männlichkeitsphantasie, die in den neuen Kriegen bisher nicht gekannte Verwirklichungsmöglichkeiten bietet; aber auch ideologische und ethnische Motive sind nicht unbedeutend geworden; vgl. van Creveld 1998: 233-280. 247 Münkler 2002: 163-167. 248 Münkler 2002: 165. 249 Münkler 2002: 167. 250 Münkler 2002: 172. 251 Zit. nach „Genfer Abkommen über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten“ vom 12. August 1949; http://www.ichr.de/ files/Genfer-Abkommen-Zivilpersonen-0.518.51.de.pdf. Zugriff am 08.02.2018. 252 Art. 27 lautet wörtlich: „Die am Konflikt beteiligte Partei, in deren Gewalt sich geschützte Personen befinden, ist verantwortlich für die Behandlung, die diese durch ihre Beauftragten erfahren, unbeschadet der gegebenenfalls entstehenden persönlichen Verantwortlichkeiten.“ 253 Münkler 2002: 151. 254 Vgl. dazu im Besonderen Calic 1996; Cohen 1993; Silber/Little 1995; Rieff 1995. 255 Ausführlicher dazu Münkler 1985: bes. 293-296. 256 Vgl. statt vieler Chojnacki 2007; Schlichte 2006. 257 Für einen aktuellen Überblick vgl. etwa: Heidelberg Institute for International Conflict Research (HIIK) (2018): Conflict Barometer 2017, Heidelberg: Heidelberg Institute for International Conflict Research. 258 Dazu und zum vorhergehenden vgl. Informationsstelle Militarisierung e.V. (Hg.) „Fact Sheet: Drohnenkriege“ vom Mai 2013: 1. 259 Diese und die folgenden Zahlen sind entnommen aus Gregory 2017: 215f.
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445 Chamayou 2014: 25. Chamayou 2014: 46. Ebd. Gregory 2017: 223. Der Begriff ist innerhalb des amerikanischen Militärs geprägt worden und bezeichnet ein dynamisches Modell der (asymmetrischen) Kriegführung. Es werden vor allem für die Luftwaffe nicht mehr statische Bereiche bzw. Felder als Operationsraum festgelegt, sondern variable und veränderbare Räume, die als Würfel betrachtet werden, aber unterschiedliche Größen haben, variabel im Raum und in der Zeit verschiebbar sind und auch in denen jeweils unterschiedliche Kampfformen und -techniken entsprechen können; vgl. dazu auch Chamayou 2014: bes. 63-70. Chamayou 2014: 65. Diese Feststellungen amerikanischer Militärs habe ich zitiert nach Chamayou 2014: 66, Endnoten 123 bis 125. Chamayou 2014: 66. Chamayou 2014: 70. Zit. nach Chamayou 2014: 73. Münkler 2015a: 320-321; Herv. i. O. Zit. nach Gregory 2017: 222. Ebd. Chamayou 2014: 179. Zit. nach Chamayou 2014: 180. Chamayou 2014: 180. Kenneth Anderson: Target Killing in the U.S. Counterterrorism Strategy and Law, Brookings Institutions, 11.05.2009; zit. nach Chamayou 2014: 181. Chamayou 2014: 80. Münkler 2015a: 329. Diese Position wird explizit formuliert von Beyrauch u. a. 2007a, aber auch in den meisten Beiträgen dieses Sammelbandes. Gleichwohl ist der Beitrag über den totalen Krieg ein Beitrag, genau diesen Krieg als einen eigenständigen Kriegstypus zu betrachten; vgl. Beyrauch 2007. Aber die Thesen von H. Münkler u. a. über die ‚neuen‘ Kriege werden explizit abgelehnt. Kaldor 1999; deutsch 2000; Münkler 2002; ders. 2012. Vgl. insbesondere Beyrau u. a. 2007a: bes. 13-15. Die Vertreter der These der ‚neuen‘ Kriege streiten diese Behauptungen auch nicht ab, wenn z. B. H. Münkler betont, dass manche Entstaatlichungsphänomene durchaus in vielen Kriegen vor der Verstaatlichungsdynamik zu beobachten gewesen seien; vgl. insbesondere Münkler 2006: bes. 220-230. Die Kritik an der Asymmetrisierung wird lesenswert zusammengefasst, diskutiert und kritisiert bei Wassermann 2015: bes. 128-160. Münkler 2004: 651.
446 283 Vgl. dazu und zu den folgenden zwei weiteren Merkmalen Wassermann 2015: 115-128. 284 Wassermann 2015: 123. 285 Wassermann 2015: 124. 286 Ebd. 287 Felix Wassermann ergänzt diese drei durch sechs weitere und macht dadurch das Argument der strukturellen Differenz zwischen symmetrischen und asymmetrischen Kriegen
8. Die Politik des Krieges noch stärker; konkret die Asymmetrien bei der Entschlossenheit, der Verwundbarkeit, der Selbstbindung, der Legitimität, des Raumes und schließlich der Zeit; vgl. Wassermann 2015: 160-208. 288 Vgl. dazu Weber 1904: 72-85. 289 Münkler 2002: 16. 290 Chamayou 2004: 66.
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9. Die Politik des Friedens: „Si vis pacem, para pacem“ Wie im vorangegangenen Kapitel bereits erwähnt, hielt Bertha von Suttner am 18. April 1906 vor dem Nobel-Comité des Storthing zu Christiania, dem heutigen Oslo, ihre Dankesrede zur Verleihung des Friedensnobelpreises. Im Mittelpunkt stand das Konzept einer Politik des Friedens, das sie damals allerdings nur in groben Zügen umreißen konnte. Es sei eine jener grundlegenden Wahrheiten, „dass Frieden die Grundlage und das Endziel des Glückes ist, und eines jener Rechte ist, das Recht auf das eigene Leben. Der stärkste aller Triebe, der Selbsterhaltungstrieb, ist gleichsam eine Legitimation dieses Rechtes, und seine Anerkennung ist durch ein uraltes Gebot geheiligt, welches heiß: ‚Du sollst nicht töten‘.“1
Sie sieht klar, dass Frieden ein politisches Projekt ist, dass der Frieden sich nicht von allein herstellt, sondern politisch gestaltet werden muss. Es gäbe, so ihre Hoffnung, bestimmte Staatsmänner und Politiker, „die vollkommen Zielbewussten, welche den ganzen Aktionsplan schon in deutlichen Umrissen vor sich sehen, welche die Methode kennen und anzuwenden beginnen, durch die das vorgesteckte Ziel sobald als möglich erreicht werden kann.“2
Es gibt also eine Politik des Friedens, die sich auf nationaler wie auf internationaler Ebene abspielt. Aber die Politik des Friedens ist ein komplizierter Sachverhalt, der verschiedenste Aspekte umfasst und den man nicht einfach beschreiben kann. Der erste Schritt in einer Politik des Friedens besteht darin, den Zustand des Krieges und der Gewalt zunächst zu beenden. Dies geschieht häufig durch Waffenstillstandsabkommen, die Kampfhandlungen zeitlich befristet unterbinden. Anschließend ist ein Zustand zu schaffen, indem dieser ‚Friede‘ bewahrt wird und zum selbstverständlichen Handlungsmuster auf allen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Ebenen werden soll. Der Frieden soll – das wäre der zweite Schritt – stabilisiert werden und dies erfordert weitreichende politische Maßnahmen und Eingriffe, wobei das Monopol der legitimen physischen Gewaltanwendung vollständig beim Staat liegen muss. Er muss seine Gewaltapparate kontrollieren können und sich selbst im Rahmen einer konstitutionellen Gewaltenteilung Recht und Gesetz unterwerfen. Gelingt dies, so ist der Friede stabilisiert und wird selbst zum zentralen Gegenstand der Politik. Die politische Gestaltung der Dauerhaftigkeit des Friedens ist dann das Ziel der Politik, verstanden als laufende Gewährung der friedlichen Koexistenz in den internationalen Beziehungen und der zivilisierten Konfliktbearbeitung im innerstaatlichen Bereich. Die Aufgabe, den Frieden laufend zu gestalten, gerinnt dann zum Kern des politischen Handelns. Frieden muss als laufender, in die Zukunft gerichteter Prozess gedacht werden und ist ein genuin politisches Projekt, ein historisch offener Prozess mit ungewissem Ausgang.
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9. Die Politik des Friedens: „Si vis pacem, para pacem“
Der Begriff des Friedens ist komplex und kann in zwei Kategorien aufgespalten werden.3 Negativer Frieden wird definiert als Abwesenheit von Krieg und unmittelbarer, direkter Gewalt. Angewendet wird das Konzept vor allem auf die zwischenstaatlichen Beziehungen, aber auch auf einzelne Nationalstaaten. Denn in Zeiten ohne Krieg geht es nicht automatisch friedlich zu, vielmehr können verschiedenste Formen der Gewalt vorfindbar sein, wie etwa polizeiliche oder militärische, massive politische Unterdrückung, Vertreibung oder auch die (gewaltsame) Diskriminierung bestimmter Minderheiten, seien diese ethnischer, religiöser oder kultureller Natur. Der Begriff des positiven Friedens versucht deshalb, die An- oder Abwesenheit von struktureller oder personeller Gewalt in einem umfassenderen Sinne zu thematisieren. Er beobachtet unter anderem die herrschenden sozialen Ungerechtigkeiten, die ungleiche Verteilung von Lebenschancen, das ungleiche Ausmaß der politischen Partizipation, politische Unterdrückung und die Intensität kultureller Diskriminierungen ebenso wie ökonomische Benachteiligungen. Ohne die Minderung oder Beseitigung dieser Ungleichheiten kann weder der negative noch der positive Friede erreicht werden. Nur bei Moderation oder gar Abwesenheit dieser strukturellen Faktoren lässt sich ein positiver Friede durch Politik dauerhaft realisieren. Aber was ist Frieden im Gegensatz etwa zum Krieg, zur Gewalt, zu FreundFeind-Konstellationen oder zum Waffenstillstand? Frieden ist ein komplexes politisches Programm und im Begriff des „Frieden schaffen“ wird das aktivistische Moment betont. Ein solches Programm beschäftigt sich vor allem mit den Ursachen von Krieg und Gewalt, seien sie inner- oder zwischenstaatlicher Art, und versucht, auf diese Ursachen einen positiven, friedensstiftenden Einfluss zu nehmen. Der Friede ist ein politisches Projekt, an dem manche Akteure interessiert sind und dem andere entgegen arbeiten. Eine Politik des Friedens ist heute mit dem unhintergehbaren Sachverhalt der Fundamentalpolitisierung konfrontiert. Fundamentalpolitisierung4 heißt zunächst nur, dass im Prinzip jeder Sachverhalt politisierbar ist und zum Gegenstand der Politik gemacht werden kann. Hierbei treten Akteure auf, die an einer wie auch immer gearteten politischen Regelung in Form einer verbindlichen Entscheidung interessiert sind. Sie mobilisieren bestimmte soziale Gruppen und wollen sich gegenüber anderen, konkurrierenden Interessen und Normen durchsetzen. Das kann in den Verfahren der Demokratie gelingen und somit innerhalb von institutionalisierten Prozessen, die kontingente Entscheidungen ermöglichen. Fundamentalpolitisierung ist aber oft mit Strategien der Intensivierung und Polarisierung verbunden, die Interessen- in fundamentalere, ideologische Konflikte transformieren und sie somit gewaltanfälliger machen. Dies ist die zweite Dimension der Fundamentalpolitisierung: Die Verschärfung umstrittener und umkämpfter Sachverhalte durch bestimmte Akteure und deren Transformation in ideologische und dadurch gewaltanfällige Konflikte. Moderne politische Gesellschaften „sind nicht nur konflikt-, sondern
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tendenziell auch gewaltträchtig, also bürgerkriegsanfällig. Dieser Anfälligkeit können nur entsprechende Vorkehrungen entgegenwirken.“5 Diese können normativer und kultureller Art sein, aber es sind vorwiegend institutionelle Vorkehrungen, die hier aufgebaut bzw. in moderne Gesellschaften eingebaut werden müssen. „Frieden machen (...) ist also eine Aufgabe, die verfassungspolitische, institutionelle, materielle und emotionale Voraussetzungen hat.“6 Eine Politik des Friedens ist also voraussetzungsvoll und nur schwer zu realisieren. Nicht nur die beiden Weltkriege, sondern auch die vielen ‚Nebenkriege‘, die das Jahrhundert ebenso prägten, sind der Beleg hierfür. Das Ende des Jahrhunderts war – was die rein numerische Anzahl der Kriege betrifft – weniger friedlich als sein Beginn. ‚Frieden machen‘ ist ein anspruchsvolles politisches Projekt und umfasst mehrere Dimensionen. Es gibt zunächst eine Politik zum Frieden, die den Weg von einem kriegerischen zu einem friedfertigen Zustand ebnet und hierfür die Voraussetzungen schaffen will. Es handelt sich meist um Waffenstillstandsabkommen, Friedensverträge oder ähnliches, die den Krieg vorläufig beenden und die ersten Schritte zum Frieden gestalten. Am Beispiel des Versailler Vertrages und dem Potsdamer Abkommen versuche, die Schwierigkeiten und Fallstricke einer Politik zum Frieden zu umreißen (Kap. 9.1.). Dann gibt es eine Politik des Friedens und Gegenstand und Ziel aller Politik soll der Friede sein. Dies ist eine normative Vorstellung von Politik, eine Sollensforderung, ja für manche sogar eine Provokation. Diese prominent von Dolf Sternberger eingeforderte Prämisse (Kap. 9.2.) ist zugleich gegen eine Politikvorstellung gerichtet, die in der Politik bzw. im Begriff des Politischen das genaue Gegenteil sieht: Die Verschärfung der politischen Gegensätze bis zu Freund-Feind-Konstellationen.7 Die Politik des Frieden-Schaffens ist ein komplexes und voraussetzungsvolles Projekt, das angesichts der Fundamentalpolitisierung der modernen Gesellschaften immer fragil bleiben muss. Es hat im Konzept des zivilisatorischen Hexagons von Dieter Senghaas seine zugespitzte Ausformulierung gefunden (Kap. 9.3.). Kann über seine Realisation ein dauerhafter Friede politisch gestaltet und bewahrt werden? Das ist und bleibt eine, ja vielleicht die zentrale Frage in den heutigen politischen Gesellschaften, die durch ihre prinzipielle Fundamentalpolitisierung gekennzeichnet sind. Eine abschließende Antwort kann ich hier nicht geben, aber zumindest eine hoffnungsvolle Perspektive am Ende des Kapitels knapp skizzieren, wobei der Friede gleichwohl als immer unvollendetes Projekt betrachtet wird (Kap. 9.4.).
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9. Die Politik des Friedens: „Si vis pacem, para pacem“
9.1. Die Politik zum Frieden: Waffenstillstandsabkommen, Friedensverträge und Friedensmissionen Die Politik zum Frieden kann verschiedene Formen annehmen. Kriegführende Parteien einigen sich – aus welchen Gründen auch immer – darauf, die Kampfhandlungen einzustellen und sich ohne Einsatz militärischer Gewalt zu verständigen. Solche Situationen treten meist dann ein, wenn eine der kriegführenden Parteien eine militärische Niederlage erlitten hat und deshalb zu einer Waffenruhe bzw. zu einem Waffenstillstandsabkommen gezwungen ist. Schreiten die beteiligten Staaten zum Frieden fort, so sind meist Friedensverträge die Folge. Sie regeln vieles und sind oft sehr umfassend. Der Versailler Friedensvertrag von 28. Juni 1919 enthielt zum Beispiel 440 Artikel und zudem 17 Annexe. Die Politik zum Frieden kann aber auch durch sogenannte Friedensmissionen in Gang gesetzt werden. Dann treten externe Akteure auf, am Ende des 20. Jahrhunderts vor allem die Friedensmissionen der Vereinten Nationen oder Bündnisse von bestimmten Staaten, die einen Krieg zwischen Staaten oder auch innerhalb eines Staates beenden. Die Friedensmission der sogenannten Operation Deliberate Force in Bosnien-Herzegowina war hierfür beispielhaft, bei der der Bürgerkrieg durch eine militärische Intervention beendet wurde.8 Aber auch nicht-bewaffnete Einsätze militärischer Kräfte im Namen der UNO fanden und finden an den verschiedensten Orten der Welt statt. Solche Friedensmissionen waren der Fall etwa in Somalia, der Zentralafrikanischen Republik, Mali, Sudan, aber auch im Kosovo oder im Libanon, um nur die wichtigsten zu nennen.9 Ein Waffenstillstand ist der erste, wenn auch noch sehr ungewisse Schritt zum Frieden. Er wird noch im Kriegszustand beschlossen und beendet diesen auch nicht, sondern sieht allein ein zeitlich begrenztes Schweigen der Waffen vor. Er verbietet den Kriegsparteien ihren Einsatz für einen vertraglich bestimmten Zeitraum. Danach (oder auch schon während solcher Abkommen) brechen die Kriegshandlungen erneut aus oder es ist ein erster und oft wichtiger Schritt zu einem Friedensabkommen. In der Haager Landkriegsordnung von 1907 wird er so definiert: „Der Waffenstillstand unterbricht die Kriegsunternehmungen Kraft eines wechselseitigen Übereinkommens der Kriegsparteien. Ist eine bestimmte Dauer nicht vereinbart worden, so können die Kriegsparteien jederzeit die Feindseligkeiten wieder aufnehmen.“ (Art. 36)
Der Waffenstillstand kann nicht allein zeitlich, sondern auch örtlich bzw. räumlich begrenzt sein (Art. 37). Ein allgemeines Waffenstillstandsabkommen unterbricht die Kriegshandlungen generell und auf dem gesamten Gebiet der beteiligten Staaten, ein örtlich begrenztes dagegen nur in bestimmten Teilen der Gebiete der Kriegsparteien oder nur für bestimmte Teile der kriegführenden Kräfte. Eine Waffenruhe ist dagegen eine nur kurzfristige Einstellung der Kampfhandlungen
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für einen bestimmten Zweck und vor allem begrenzten Zeitraum. Meist dient er der Bergung oder dem Austausch von Verwundeten oder Kriegsgefangenen. Waffenruhen und Waffenstillstandsabkommen sind erste Ergebnisse einer Politik zum Frieden, die jedoch noch im Kriegszustand ausgehandelt werden und diesen auch nicht formal beenden. Der Waffenstillstand von Compiègne vom 11. November 1918 hatte die Kriegshandlungen des Ersten Weltkrieges beendet, aber eben nicht den Kriegszustand, der weiterhin anhielt und erst im Versailler Vertrag sein definitives Ende fand. Das Ende des Zeiten Weltkrieges wurde nicht durch einen Waffenstillstand eingeleitet, sondern vollzog sich nach der militärischen Niederlage der Wehrmacht durch den Modus der bedingungslosen Kapitulation. Der Begriff wurde von den Alliierten am Ende des Zweiten Weltkrieges auf der Konferenz in Casablanca im Jahr 1943 zum ersten Mal verwendet und wurde zum grundlegenden Ziel ihrer Kriegspolitik. Sie sollte sowohl gegenüber Deutschland als auch Japan durchgesetzt werden, was einen vollen militärischen Sieg der alliierten Streitkräfte voraussetzte. Die Möglichkeit eines Waffenstillstandes wurde definitorisch ausgeschlossen und die Militärpolitik musste auf einen vollständigen Sieg gegenüber den beiden faschistischen Mächten setzen. Beide Gegner sollten militärisch besiegt, die Länder besetzt, völlig entwaffnet und dann durch eine Militärregierung der Alliierten regiert werden.
9.1.1. Die Politik der Friedensverträge: Der Versailler Vertrag am Ende des Ersten und das Potsdamer Abkommen am Ende des Zweiten Weltkrieges Der Krieg ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln – diese Trivialität, die gleichwohl einen wahren Kern beinhaltet, kann auch für den Frieden reformuliert werden: Der Frieden ist die Beendigung des Krieges mit politischen Mitteln. Der Krieg wird durch einen Friedensvertrag beendet, der meist im Anschluss an einen Waffenstillstand verhandelt wird. Sein zentrales Ziel ist die dauerhafte Beendigung eines Krieges. Die Aushandlung eines Friedensvertrages ist der Kern einer Politik zum Frieden und das Geschick und Ungeschick der Verhandlungspartner und auch das Ergebnis der Verhandlungen, der Vertrag selbst, ist hierbei von großer Bedeutung. Nicht zuletzt aus der Problematik des Versailler Vertrages wissen wir, welche große Bedeutung die Substanz eines solchen Vertrages auf die Politik des Friedens haben kann. Ich will die Politik des Friedens am Beispiel der Beendigung des Ersten und Zweiten Weltkrieges verdeutlichen, deren Enden nicht unterschiedlicher hätten sein können. Sie haben zudem die Geschichte des 20. Jahrhundert hinsichtlich Krieg und Frieden massiv geprägt. Ein Seitenblick auf andere Friedensschlüsse soll sowohl die Spezifika dieser beiden Kriegsbeendigungen betonen als auch auf
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übergreifende Gemeinsamkeiten von Friedenschlüssen hinweisen. Der Friedensvertrag von Brest-Litowsk von 1918 und der von San Francisco von 1952 werden hier kurz diskutiert, aber auch andere noch mit einbezogen. Der Vertrag von Versailles Der Friedensvertrag von Versailles beendete den Ersten Weltkrieg und wurde von einer großen Anzahl von Ländern unterzeichnet, von denen die USA, Frankreich, das Vereinigte Königreich, Italien und Belgien die wichtigsten europäischen Unterzeichner waren; aber auch Japan gehörte zu ihnen. Am 28. Juni 1919 unterzeichnete Deutschland unter Protest den Vertrag im Spiegelsaal von Versailles, nachdem die Nationalversammlung ihm am 22. Juni mit 237 gegen 138 Stimmen zugestimmt hatte. Zuvor war der amtierende Reichskanzler Philipp Scheidemann am 12. Mai 1919 zurückgetreten. Er begründete dies mit den oft zitierten Worten: „Welche Hand müsste nicht verdorren, die sich und uns solche Fesseln legte?“ Nachfolger wurde sein Parteifreund Gustav Bauer und dessen damaliger Außenminister Hermann Müller (SPD) und Verkehrsminister Johannes Bell (Zentrum) unterzeichneten den Vertrag am 28. Juni 1919 – aber unter Protest! Er trat nach dem Austausch der Urkunden und anderer Formalitäten am 10. Januar 1920 in Kraft. Es dauerte immerhin über ein Jahr, bis der Waffenstillstand vom 11. November 1918 von Compiègne in den Versailler Vertrag überführt wurde. Der Vertrag von Versailles wurde unter besonderen Bedingungen unterzeichnet, die sich stark auf seinen Inhalt auswirkten. Es war der erste Friedensvertrag, der ausschließlich zwischen demokratischen Staaten ausgehandelt und unterzeichnet wurde. Bei allen inhaltlichen Punkten waren die Rückwirkungen auf die jeweiligen Demokratien und die dortigen politischen Kräftekonstellationen von erheblicher Bedeutung. Alle beteiligten Regierungen, v. a. Frankreich und die USA, aber auch Deutschland, agierten in dem Sinne, dass sie nicht nur die Rückwirkungen auf die politischen Konstellationen im Auge hatten, sondern diese zur dominierenden Handlungsorientierung machten. Frankreichs Regierungschef Georges Clemenceau wurde erst im November 1917 in das Amt des Ministerpräsidenten gewählt und verfolgte seine politischen Ziele mit eisernem Willen und großem Tatendrang. Mit „unbeugsamer Energie (forcierte) er den Durchhaltewillen der Franzosen“ im Krieg.10 Sein zentrales Ziel: Nie wieder sollte Deutschland die militärische Macht aufbringen können, in Frankreich einzumarschieren. Im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/1871 und im Ersten Weltkrieg war Frankreich mit deutschen Invasionen konfrontiert. Die erste konnte es nicht siegreich aufhalten und musste dafür einen hohen Preis bezahlen; die zweite wurde zwar militärisch erfolgreich zurückschlagen, aber nur unter äußerst hohen menschlichen, finanziellen, militärischen und ökonomischen Kosten. Die Folgen des Ersten Weltkrieges übertrafen alles bisher Dagewesene und es war das erklärte Ziel Frankreichs, so etwas nie wieder möglich werden zu
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lassen. Deutschland musste ökonomisch, geographisch, militärisch und politisch entsprechend geschwächt werden. Das schloss zunächst die vollständige Entschädigung für die erlittenen Kriegsschäden und die Übernahme der Schulden ein, die Frankreich zur Kriegsführung vor allem bei den Vereinigten Staaten aufgenommen hatte. Geographisch sollte der Rhein nun die Grenze zwischen den beiden Ländern markieren und ElsassLothringen selbstverständlich an Frankreich zurückfallen. Vor allem die Übernahme der Kriegsausgaben bzw. der -schulden sollten Deutschland so schwächen, dass es seine ehemalige Machtposition nie mehr erreichen könnte. Konkret bedeutete dies: Die zwangsweise Abtretung umfangreicher Gebiete im Westen und Osten des Reiches; drastische Rüstungsbeschränkungen und – damit verbunden – immense Reparationszahlungen; den Aufbau eines Bündnissystems mit dem Osten, insbesondere mit Polen; und die Stärkung aller Verbündeten auf Kosten Deutschlands. Polen spielte überhaupt eine große Rolle, es sollte als Bollwerk zwischen Deutschland und der sozialistischen Sowjetunion fungieren. Großbritannien und die USA unterstützten diese Position ebenfalls, in Woodrow Wilsons Vierzehn-Punkte-Programm war dies bereits vorgesehen. Die Friedensverhandlungen, die in Paris bzw. Versailles stattfanden, wurden von Georges Clemenceau geleitet, weil er mit bereits 78 Jahren der älteste aller beteiligten Regierungschefs war. Er agierte mit großem Geschick und zugleich mit unnachgiebiger Härte, um Frankreichs Interessen maximal durchzusetzen. Gleichwohl konnte er von der amerikanischen und britischen Regierung von allzu drastischen Forderungen abgebracht werden. Großbritannien hatte im Vergleich zu Frankreich sehr viel moderatere Forderungen. Eigentlich wollte Premier David Lloyd George nur die Kriegskosten erstattet bekommen, was die Übernahme der Rückzahlung der von den USA gewährten Kredite einschloss. Deutschland sollte nicht völlig niedergehalten werden, weil die Briten ein Machtvakuum in Mitteleuropa vermeiden wollten. Es sollte ein Gegengewicht gegen die Entwicklung in Russland geschaffen werden, das sozialistisch inspirierte Expansionen unrealistisch machte. In den Kolonien in Übersee und bei der Schifffahrt sollte die deutsche Position allerdings massiv geschwächt werden, um die Vormachtstellung der Briten auf dem Meer wieder herzustellen. Doch bei den Wahlen zum Unterhaus am 14. Dezember 1918 verlor die Liberale Partei von Lloyd George massiv an Stimmen und fuhr ein Minus von 17,6 % ein, auch die Tories verloren 8,2 %, während Labour massiv hinzugewann und seinen Stimmenanteil um rd. 15 % erhöhte. Schon im Wahlkampf erzeugte Llyod George durch „zügellose Reden in der englischen Bevölkerung hochgespannte Erwartungen hinsichtlich der ‚Wiedergutmachung‘ (und einer Bestrafung der Kriegsschuldigen), und im Sinne dieser Erwartungen hat die englische Delegation auf der Friedenskonferenz zum Nachteil Deutschlands eine massive Ausweitung des Reparationsbegriffs durchgesetzt.“11
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Als Folge seiner Wahlniederlage änderte Llyod George seine Position. Zu den bisherigen Reparationszahlungen wurden nun zusätzlich die Kosten für Renten der Invaliden und Kriegshinterbliebenen eingefordert. Dies schlug sich in der britischen Position bei den Verhandlungen entsprechend nieder. Die Dynamiken der britischen Unterhauswahl hatten somit unübersehbare Auswirkungen auf die Verhandlungsposition der Regierung, weil die Demokratie die Verhandlungsoptionen und -positionen der jeweils beteiligten Akteure veränderte. Durch das Ergebnis der Wahlen herausgefordert erhöhte England die Summe der zu leistenden Reparationszahlungen massiv, was umgekehrt in Deutschland erhebliche und negative innenpolitische Auswirkungen auf die Positionen der politischen Parteien wie auf die Dynamiken der Parteienkonkurrenz hatte. Dabei hatte Großbritannien viele seiner Forderungen gegenüber Deutschland bereits in den Waffenstillstandsverhandlungen durchgesetzt. Erwähnenswert ist die Abgabe aller U-Boote, die Wegnahme der deutschen Handelsflotte und auch die massive Schwächung der Hochseeflotte. Auch ein Großteil der ehemaligen deutschen Kolonien war in britische Hände übergegangen. Frankreich konnte dagegen seine Vorstellungen und Interessen erst in die unmittelbaren Friedensverhandlungen einbringen und stieß hierbei oft auf den Widerstand der beiden anderen Siegermächte, die bereits im Waffenstillstand viele ihrer Forderungen realisiert hatten. Die Interessen der USA waren anders gelagert. Präsident W. Wilson wollte ein völlig neues internationales Rechtssystem erschaffen, den sogenannten Völkerbund. Er war deshalb auch persönlich nach Paris gekommen, um diese Vorstellung durchzusetzen und mit seinem Namen zu verbinden. Seine „Neigung zu Starrheit, Prinzipienstrenge und moralischer Überspannung erleichterte ihm seine Aufgabe nicht und befremdete allzu oft seine Verhandlungspartner.“12 Aber seine Fähigkeit zum Kompromiss gegenüber Englands und Frankreichs Interessen wurde dadurch kaum geschmälert. In vielen wichtigen Punkten gab er dem Drängen der beiden europäischen Staaten nach. Generell aber hatte für ihn die Idee des Völkerbundes absolute Priorität. Er sollte zu einem Gremium werden, in dem die zentralen Fragen der Weltpolitik behandelt werden und zu einem friedlichen Ausgleich zwischen den Völkern bzw. den Staaten führen sollten. Die „Großen Drei“, zu denen zu Beginn noch der italienische Ministerpräsident Vittorio E. Orlando gehörte und zum „Rat der Vier“ machte, wurden durch den Rat der Außenminister ergänzt. Zudem tagte eine Vielzahl von Unterausschüssen, am Ende waren es immerhin 58, in denen die Vertreter der Großmächte mit denen der vielen anderen Staaten gemeinsam verhandelten. Über 10.000 Personen, eine fast unvorstellbar große Anzahl, waren an den Beratungen beteiligt, allein die Delegation der USA umfasste an die 1.000 Personen.13 Für die Akzeptanz und den weiteren Verlauf der Geschichte war ein Sachverhalt zentral: Die Verhandlungen über den Friedensvertrag fanden ohne Deutsch-
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land und nur zwischen den Siegermächten statt. Deutschland musste das, was bei diesen Verhandlungen vereinbart wurde, mehr oder weniger unverändert akzeptieren. Aber Veränderungen waren prinzipiell denkbar und möglich. Um die Offenhaltung eines solchen Spielraumes hätte es der deutschen Politik gehen müssen. Aber die Ausarbeitung einer geschickten Strategie, die auf eine Unterstützung vor allem durch die USA abzielen hätte müssen, wurde nicht entwickelt. Das Gegenteil war der Fall. Der deutsche Außenminister, Graf Ulrich von Brockdorff-Rantzau, verfolgte eine Strategie, die die Siegermächte vor den Kopf stoßen musste. Am 7. Mai 1919 fand im großen Saal des Hotels „Trianon Palace“ die Übergabe der Friedensbedingungen statt. Die Vertreter von 27 Nationen waren eingeladen und saßen an einem hufeisenförmigen Tisch. Die Deutschen mussten an zwei Tischen Platz nehmen, die quer zum Hufeisen standen und an eine Anklagebank erinnerten. Der französische Präsident eröffnete die Prozedur mit einer kurzen Rede und sprach dabei von einer „Stunde der Abrechnung“, die nun gekommen sei. „Sie haben uns um Frieden gebeten. Wir sind geneigt, ihn Ihnen zu geben. (...) Dieser zweite Versailler Friede“ sei so teuer erkauft worden, „als dass wir nicht einmütig entschlossen sein sollten, sämtliche zu Gebote stehenden Mittel anzuwenden, um jede uns geschuldete berechtigte Genugtuung zu erlangen.“14 Der deutschen Delegation wurde ein Dokument übergeben, zu dem sie innerhalb von 14 Tagen Stellung nehmen konnte und ihr vorher nicht bekannt war. Außenminister Brockdorff-Rantzau entgegnete mit einer Rede, die – neben mehreren anderen – im Voraus erarbeitet worden war, weil man nicht wusste, was der französische Regierungschef sagen würde. Sie war auch nicht mit der deutschen Regierung abgestimmt, ein Sachverhalt, der gerade in einer solchen Situation naiv oder unverantwortlich war. Brockdorff-Rantzau wählte die längste der vorbereiteten Reden aus, die mit „trotzigen, markanten und den Widerspruch der Alliierten herausfordernden Sätzen“15 gespickt war. Auch blieb er beim Vorlesen seiner Rede absichtlich sitzen und drückte so seine Missachtung gegenüber den Vertretern der Alliierten aus. Dieses Verhalten rief bei allen große Empörung hervor, die deutsche Provokation konnte nicht akzeptiert werden. Angeblich lief G. Clemenceau vor Wut rot an, Lloyd George zerbrach zornig seinen Brieföffner aus Elfenbein und W. Wilson nannte die Rede „unaufrichtig, stupide und tyrannisch.“16 In völliger Verkennung der Lage hatte die deutsche Delegation nicht darauf gesetzt, mögliche Verbesserungen durch diplomatisches Verhalten zu erreichen. Stattdessen brachten sie durch ihr trotziges Festhalten an nicht akzeptablen Positionen die Alliierten gegen sich auf und verspielten alle Chancen und Aussichten auf – wenn auch nur kleine – Verbesserungen. Vor allem stieß man den amerikanischen Präsidenten vor den Kopf, der von allen Beteiligten am offensten für mögliche Veränderungen war.
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Brockdorff-Rantzau bestritt in seiner Antwortrede die deutsche Alleinschuld am Kriegsausbruch und an Kriegsverbrechen massiv. Zugleich war die Rede in manchen Passagen geradezu belehrend gegenüber den Alliierten, wenn er beispielsweise sagte: „Die Hundertausende von Nichtkämpfern, die seit dem 11. November an der Blockade zugrunde gingen, wurden mit kalter Überlegung getötet, nachdem für unsere Gegner der Sieg errungen und verbürgt war. Daran denken Sie, wenn Sie von Schuld und Sühne sprechen!“17
Zudem sprach er über die deutsche Ohnmacht gegenüber den Alliierten und „die Wucht des Hasses, die uns hier entgegentritt, und wir haben die leidenschaftliche Forderung gehört, dass die Sieger uns zugleich als Überwundene zahlen lassen und Schuldige bestrafen wollen. (...) Wir sind fern davon, jegliche Verantwortung dafür, dass es zu diesem Krieg kam und dass er so geführt wurde, abzuwälzen (....), aber wir bestreiten nachdrücklich, dass Deutschland, dessen Volk überzeugt war, einen Verteidigungskrieg zu führen, allein mit der Schuld belastet wird.“18
Er hob hervor, dass Deutschland nur einen Friedensvertrag unterschreiben würde, der dem Wilsonschen Friedensprogramm entspricht, aber nicht diesen Vertrag. Die Rede Brockdorff-Rantzaus war eine politische Rede in dem Sinne, als sie auf die „emotionale Einigung der Nation und die Aufrüttelung der öffentlichen Meinung“19 in Deutschland zielte, aber nicht auf für Deutschland mögliche und positive Veränderungen am Vertrag. Auch spätere Eingaben an die Alliierten waren mit überzogenen Forderungen gespickt und nach Lage der Dinge völlig unrealistisch, auch sie zielten weit mehr auf die Beeinflussung der innenpolitischen Meinung in Deutschland als auf reale Verbesserungen im Vertragswerk. Im Übrigen kannte sich die deutsche Regierung mit der Unterwerfung von Vertragspartnern bei Friedenschlüssen gut aus: Im Frieden von Brest-Litowsk hatte sie gegenüber der russischen Regierung Positionen durchgesetzt, die erheblich dramatischer für den Verlierer waren als die im Versailler Vertrag gegenüber Deutschland formulierten. Wie erwähnt war der Versailler Vertrag der erste Friedensvertrag, der ausschließlich zwischen Demokratien ausgehandelt wurde. Keine der beteiligten Regierungen und politischen Parteien ahnte oder wusste damals, „what the effects of parliaments and inflamed public opinion watching the peace-maker’s every move was to be.”20 Trotz dieser hohen Unsicherheit hinsichtlich der innenpolitischen Wirkungen des Vertragswerkes versuchten die beteiligten Regierungen, soviel wie möglich für die eigene Nation bzw. den eigenen Staat zu gewinnen. Diese hohe Unsicherheit und die radikale Realisation des nationalen Eigeninteresses bestimmten den Verlauf der Verhandlungen. Allein die amerikanische Regierung wollte auch übergreifende Interessen verfolgen und verhandelte entsprechend – manchmal bis an den Rand des Abbruchs der Gespräche. Im Großen und Ganzen fügte sie sich aber den nationalen Interessen Englands und Frankreichs.
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Erschwerend trat hinzu, dass die Alliierten, insbesondere die drei großen Mächte USA, England und Frankreich, sich nur ungenügend abgestimmt und auch keine übergreifende Position gegenüber Deutschland formuliert und entwickelt hatten. Vielmehr entstanden viele Positionen eher situativ und als Reaktionen der beteiligten Staaten gegenüber den Positionen der anderen. Das alles machte den Versailler Vertrag zu dem, was er dann wurde: Zu einem fragwürdigen Vertragswerk, über dessen Folgewirkungen sich die Beteiligten zum Zeitpunkt des Abschlusses im Unklaren sein mussten. Obwohl ein Friedensvertrag zwischen den beteiligten Mächten ausgehandelt worden war, war eine Politik zum Frieden nur ungenügend entwickelt. Frankreichs Positionen waren zwar nachvollziehbar, aber sie waren so radikal und umfassend, dass sie auf den Widerstand Englands und der USA treffen musste. Deutschland konnte sie im Prinzip nicht akzeptieren, aber verbaute sich durch den Verhandlungsstil und die damit verbundenen Forderungen jede Möglichkeit, Verbesserungen zu erreichen. Zentral für die Politik Deutschlands war die Weigerung der politischen Elite, sich der Wahrheit des Ersten Weltkriegs und der eigenen Verantwortung zu stellen. Eine Politik zum Frieden war in der deutschen Politik nicht erkennbar. Einzig die USA unter W. Wilson verfolgten sie in Ansätzen. Sein VierzehnPunkte-Programm und die Idee eines Völkerbundes sollten einen solchen Krieg für die Zukunft unmöglich machen und einen vertraglichen Rahmen bereitstellen, in dem die massiven Konflikte der europäischen Staaten durch Verhandlungen bearbeitet werden konnten. „Als noch immer wirtschaftlich stärkstes Land auf dem Kontinent und als bevölkerungsstärkste Macht westlich der russischen Sowjetrepublik sollte das vom Militärstaat zur westlich orientierten Zivilgesellschaft gewandelte Deutschland zukünftig an der Friedenswahrung mitwirken.“21
Parallel dazu sollte Deutschland politisch-praktisch ein Bollwerk gegen den sowjetischen Sozialismus bilden und durch eine prosperierende, in die Weltwirtschaft integrierte Ökonomie die Ressourcen erarbeiten, die die Reparationszahlungen auch ohne massive ökonomische Verwerfungen möglich machen sollten. Inwieweit diese Vorstellungen weltfremd und unrealistisch waren, ist umstritten. Zusammenfassend kann man festhalten: „Dieser Minimalkompromiss (des Versailler Vertrages F.W.R.) zwischen der idealistischen Vision einer auf demokratischen Prinzipien beruhenden Weltfriedensordnung und dem von Furcht und Hass diktierten Sicherheits- und Machtinteressen der französischen Siegermacht erreichte das Gegenteil des Beabsichtigten, indem er die Konfliktlinien des Krieges in der Nachkriegsordnung fortsetzte und vermehrte Unsicherheiten schuf.“22
Eine Politik zum Frieden war weitgehend gescheitert und der weitere Verlauf der Geschichte verdeutlichte, dass die entsprechenden politischen Akteure, vor allem die Deutschlands, den Versailler Vertrag für ihre Interessen und Ziele instrumentalisierten. Man hätte politisch durchaus auch anders handeln können. Im Nach-
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kriegsdeutschland wurde keine konsequente Politik zum Frieden realisiert, das Gegenteil war der Fall: Eine Politik des Krieges wurde weiter verfolgt, zunächst noch und vorwiegend mit friedlichen, später mit kriegerischen Mitteln. Der Erste Weltkrieg und sein Abschluss durch den Versailler Vertrag wurde von manchen als „Urkatastrophe“ des 20 Jahrhunderts bezeichnet, so etwa von dem amerikanischen Historiker und Diplomaten George F. Kennan.23 Nicht nur der Krieg selbst, sondern auch seine Beendigung durch den Friedensvertrag von 1919 legte den Grundstein für diese europäische Urkatastrophe. Der Eintritt Amerikas in den Ersten Weltkrieg und der Ausbruch der russischen Revolution und die damit verbundene Machtergreifung der Bolschewiki im Oktober 1917 schufen zudem eine weltpolitische Konstellation, die das ‚alte Europa‘ durch eine neue, stärker weltpolitisch geprägte Konstellation ablöste. Deren politische und militärische Bedeutung wurde dann während und nach dem Zweiten Weltkrieg besonders deutlich. In einem völlig anderen Kontext und noch vor dem Versailler Vertrag handelte man den Frieden von Brest-Litowsk aus.24 Der Vertrag wurde zwischen den europäischen Mittelmächten und Sowjetrussland am 3. März 1918 abgeschlossen und beendete den Ersten Weltkrieg auf Drängen der sowjetrussischen Regierung allein in Osteuropa. Die bolschewistische Regierung wollte dadurch den Erfolg der Oktoberrevolution in einer schweren innenpolitischen und ökonomischen Krise bewahren und Zeit gewinnen. Zugleich versuchten die Bolschewiki, die Verhandlungen als politische Bühne für ihre angestrebte Weltrevolution zu nutzen und andere Völker zur revolutionären Machtergreifung zu animieren. Dem diente auch die von ihnen durchgesetzte Öffentlichkeit der Friedensverhandlungen, die sie dann entsprechend als Bühne für die Darstellung ihrer Friedenswilligkeit und als Propagandamöglichkeit für die sozialistische Weltrevolution nutzten. Zudem erhofften sie sich eine schnelle Niederlage Deutschlands bzw. der Mittelmächte und damit verbunden eine schnelle Korrektur der Zugeständnisse, die sie am Verhandlungstisch machen mussten. Am 9. Dezember 1917 trafen sich die Delegationen zum ersten Mal, nachdem die Bolschewiki Ende November einen Vorschlag zu einem Waffenstillstandsabkommen vorgelegt hatten. Am 15. Dezember 1917 trat ein Waffenstillstand für die gesamte Ostfront in Kraft und unmittelbar danach wurden die Friedensverhandlungen zwischen den beteiligten Staaten aufgenommen. Unterbrochen wurden die Verhandlungen durch die Aufkündigung des Waffenstillstandes von Seiten der Deutschen Heeresleitung, die am 17. Februar 1918 die sogenannte Operation Faustschlag einleitete und innerhalb weniger Tage riesige Geländegewinne machte. Die Bolschewiki reagierten auf diese neue Lage schnell und baten bereits am 19. Februar die Deutschen erneut um einen Friedensschluss, den die Heeresleitung vier Tage später positiv beantwortete. Die Deutschen stellten wie erwartet neue Bedingungen, die für die russische Seite desaströs waren und auf die sie in-
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nerhalb von 48 Stunden reagieren musste. Für die Friedensverhandlungen sah man drei Tage vor – der Zeitdruck für die sowjetische Seite war also enorm und die Forderungen der Deutschen fast unannehmbar. Finnland, Livland, Estland und die Ukraine sollten vollständig von den russischen Truppen geräumt und das Heer vollständig demobilisiert werden. Zwar zogen sich die Verhandlungen dann doch in Länge, aber bereits am 3. März 1918 wurde der Friedensvertrag in Brest-Litowsk unterzeichnet und am 15. März von einem außerordentlichen Sowjetkongress ratifiziert. Das Ergebnis der Friedensverhandlungen war für die russische Seite ein Desaster. Es war ein von den Deutschen erzwungener und durch ihre schnellen militärischen Erfolge im Februar 1918 begünstigter Friedensvertrag. Es war kein Verständigungsfrieden, sondern einseitig erzwungener Gewaltfrieden, der mit entsprechenden Forderungen der Deutschen Seite verbunden war. Russland verlor dadurch 34% seiner Bevölkerung, über 50% seiner Industrie, vor allem die Schwerindustrie, fast 90% seiner Kohlevorkommen und die gesamte Erdöl- und Baumwollproduktion, die alle für die angestrebte sozialistische Industrialisierung elementar waren. Dies alles konnte weitgehend durch die Abtretung der Ukraine erreicht werden. Zudem sah der Vertrag keine zeitliche Befristung der Besatzung bestimmter Gebiete durch ausländische Truppen vor. Manche Historiker sehen die Anforderungen dieses Friedensvertrages gegenüber der Sowjetunion härter an als die im Versailler Vertag von den Alliierten den Deutschen auferlegten.25 Das Potsdamer Abkommen von 1945 Das Potsdamer Abkommen, das am Ende des Zweiten Weltkrieges zwischen den Siegermächten ausgehandelt wurde, unterschied sich vom Versailler Vertrag fundamental. Infolgedessen verlief die Politik zum Frieden am Ende des Zweiten Weltkrieges völlig unterschiedlich. Der totale Krieg des nationalsozialistischen Deutschlands (und auch des faschistischen Japans) endete in einer totalen Niederlage, die auch ihren Niederschlag in den entsprechenden Dokumenten fand. Formell ist das Abkommen kein Friedensvertrag, eher ein Abschlusskommuniqué einer Konferenz, an der allein drei der vier Siegermächte, die USA, Großbritannien und die Sowjetunion26, teilnahmen und ihre Vorstellungen über die Nachkriegsgestaltung in einem Dokument festhielten. Mit ihm wurde der Zweite Weltkrieg beendet und – so die Erwartungen der beteiligten Siegermächte – eine neue Phase des Weltfriedens eingeleitet. Bereits in der Erklärung von Jalta vom 12. Februar 1945 war von den Alliierten formuliert worden,
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9. Die Politik des Friedens: „Si vis pacem, para pacem“ „den deutschen Militarismus und Nazismus zu zerstören und sicherzustellen, dass Deutschland nie wieder in der Lage sein wird, den Weltfrieden zu stören“ und die „Maßnahmen in Deutschland zu ergreifen, die für den zukünftigen Frieden und die Sicherheit der Welt notwendig sein können.“27
In einer Direktive der amerikanischen Regierung vom April 1945 heißt es entsprechend, dass es das Hauptziel der Alliierten sein muss, „Deutschland daran zu hindern, je wieder eine Bedrohung des Weltfriedens zu werden.“28 Im Potsdamer Abkommen selbst ist diese Zielbestimmung erneut formuliert. Die Alliierten sollten „nach gegenseitiger Vereinbarung in der Gegenwart und in der Zukunft auch andere Maßnahmen (treffen), die notwendig sind, damit Deutschland niemals mehr seine Nachbarn oder die Erhaltung des Friedens in der ganzen Welt bedrohen kann.“29
Das Potsdamer Abkommen war der vorläufige Schlussstrich unter eine Reihe von Konferenzen, mit denen das Ende des Nationalsozialismus besiegelt wurde und der Aufbau einer friedlichen Weltordnung beginnen sollte. Es wurde vom 17. Juli bis zum 2. August 1945 in Potsdam, konkret im Schloss Cecilienhof am Heiligensee, zwischen der USA, Großbritannien und der Sowjetunion ausgehandelt. Es legte die Grundlagen für die Nachkriegsordnung in Deutschland fest, befasste sich aber auch mit weiteren weltpolitischen Fragen, v. a. auch der Zeit nach dem Ende des Krieges mit Japan. Die Konferenz fand zeitlich in einem Zwischenstadium zwischen Krieg und Frieden statt. Der Zweite Weltkrieg war zwar faktisch beendet, aber eine neue und stabile Nachkriegsordnung hatte sich noch längst nicht ausgebildet und die Konflikte zwischen den Siegermächten, vor allem zwischen den USA und der Sowjetunion, wurden immer deutlicher. Das Abkommen war das Ergebnis der Zusammenarbeit von nur drei der insgesamt vier Siegermächte und verdeutlichte den Versuch, eine stabile Nachkriegsordnung des Friedens in Europa und weltweit zu etablieren. Dies schloss die Friedensbemühungen in Japan und anderen Ländern Asiens mit ein. Das Abkommen selbst spricht sogar von einer „gleichgeschalteten Politik der Alliierten.“30 Davon konnte allerdings keine Rede sein, denn der Dissens der Siegermächte war überdeutlich und brach im Lauf der Zeit immer weiter auf. Die Grundlagen für die Spaltung Europas und vor allem Deutschlands in die zwei Machtblöcke wurden hier bereits gelegt, entwickelten sich in den nächsten Jahren schärfer und eskalierten in der radikalen politischen und schließlich auch territorialen Trennung in den demokratisch-kapitalistischen ‚Westen‘ und den diktatorisch-sozialistischen ‚Osten‘. Im Vertrag waren damals schon Sicherungen eingebaut, die den jeweiligen Siegermächten weitgehend freie Hand bei der politischen und wirtschaftlichen Ausgestaltung ihrer jeweiligen Zonen ließ. Dies wird im Abkommen insbesondere in den Teilen III und IV deutlich, die die wirtschaftlichen und politischen Grundfragen ebenso thematisierten wie die Reparationsleistungen. Auch
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die Teile IX und XIII, die sich mit den Grenzziehungen beschäftigten, machen dies überdeutlich. Die politischen Grundsätze waren vergleichsweise allgemein und können mit den sogenannten 5 D‘s zusammengefasst werden: •
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Denazifizierung bzw. Entnazifizierung sollte die Einflüsse des Nationalsozialismus aus allen Bereichen der Gesellschaft verbannen, also aus Kultur, Medien, Bildung, Rechtswesen und vor allem auch der Politik. Alle belasteten Personen sollten einem Gerichtsverfahren unterworfen und erst auf dieser rechtlichen Grundlage aus den entsprechenden Positionen entfernt werden. Demokratisierung war mit der Vorstellung verbunden, das politische Leben den Grundprämissen der modernen Demokratie zu unterwerfen. Dies bedeutet selbstverständlich die Zulassung verschiedenster politischer Parteien, wichtiger Interessengruppen, wie etwa Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden, und die Einführung von Meinungs-, Presse-, Rede- und Religionsfreiheit inklusive der zugehörigen Institutionen und Organisationen. Eine Umgestaltung des Erziehungs- und Bildungssystems war in diesen Komplex eingeschlossen. Insbesondere dieser Bereich sollte von den Alliierten kontrolliert und überwacht werden. Demilitarisierung sollte die vollständige Auflösung der militärischen Apparate, insbesondere von Heer, Luftwaffe und Marine, ebenso umfassen wie die Schließung der Betriebe der Rüstungsindustrie. Dezentralisierung war gleichbedeutend mit der Verlagerung wichtiger politischer Entscheidungen auf die Länder und Kommunen, um Zentralisierungstendenzen entgegen zu arbeiten, die als potentielle Vorstufe zur diktatorischen Entwicklung betrachtet wurden. Damit verbunden waren auch Ideen einer Dezentralisierung der Wirtschaft, insbesondere von Großindustrie und Banken, die – so die damit verbundene Erwartung – sich dann nur schwer zu einer starken und konkurrierenden Kraft entwickeln würde. Und schließlich die Demontage der wichtigsten Industrieanlagen, vor allem der Metall- und Schwerindustrie, zur Kompensation für die immensen materiellen und wirtschaftlichen Kosten, die den Allierten durch den Krieg entstanden waren. Zugleich war damit die Vorstellung verbunden, der deutschen Politik die industriellen Grundlagen für einen zukünftigen Krieg zu entziehen. Vor allem die Sowjetunion benutzte die Demontage zur Befriedung ihrer Reparationsforderung, während sich die westlichen Siegermächte hier eher zurückhielten.
Es versteht sich von selbst, dass jeder einzelne dieser Grundsätze in den jeweiligen Zonen sehr unterschiedlich interpretiert und entsprechend unterschiedlich exekutiert wurde.
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Die wirtschaftlichen Grundsätze waren ebenso umstritten, aber wurden dann in Kompromissformeln überführt, die die Unterzeichnung durch die drei Mächte schließlich ermöglichte. Eine der wichtigsten Festlegungen war, dass Deutschland als „eine wirtschaftliche Einheit zu betrachten sei“ (III 14), dafür Richtlinien festgelegt wurden, die für alle Siegermächte galten und eine entsprechende „alliierte Kontrolle über das deutsche Wirtschaftsleben zu errichten sei, jedoch nur in den Grenzen, die notwendig sind“ (III 15) – was immer auch ‚notwendig‘ in diesem Kontext bedeuten mag. Diese Richtlinien betrafen u. a. die landwirtschaftliche und industrielle Produktion, die Löhne, verschiedene Steuern und schließlich den gesamtdeutschen Import und Export. Sie sollten auch einer „gleichmäßigen Verteilung der wesentlichen Waren unter den verschiedenen Zonen“ dienen, „um ein ausgeglichenes Wirtschaftsleben in ganz Deutschland zu schaffen und die Einfuhrnotwendigkeit zu beschränken.“ (III 15 c) Umstritten waren auch die Reparationszahlungen, die ebenfalls mittels mehrdeutiger Regelungen festgelegt wurden. Hier setzte sich die Position der USA durch, die Reparationen jeweils zonenbezogen festzulegen, was den jeweiligen Besatzungsmächten erheblichen Spielraum ließ. Jede von ihnen konnte ihre Ansprüche aus der jeweiligen Zone und aus deutschen Auslandsguthaben befriedigen. Der Sowjetunion, die die Hauptlast der Kriegsführung mit den entsprechenden Kosten getragen hatte, wurden 10% aus den restlichen Zonen zugestanden. Zudem erlaubte eine weitere Sonderregelung, dass ihr 15% der für eine Friedenswirtschaft nicht notwendigen industriellen Ausstattungen aus den Westzonen gegen Waren- und Rohstofflieferungen zukommen sollten (IV). Über die Aufteilung der Handelsschiffe und der Flotte konnte keine Einigung erzielt werden (V). Wie man unschwer erkennen kann, sind im Abkommen keine fixen Größen festgelegt, sondern Spielräume, innerhalb derer die jeweiligen Siegermächte selbständig entscheiden konnten. Die Ansprüche der Sowjetunion, die die höchsten Kriegslasten zu tragen hatte, wurden so auf ihre ‚eigene‘ Zone reduziert, sieht man von der prozentualen, bereits erwähnten Sonderregelung ab. Sie konnte so keine Ansprüche auf die hochindustrialisierten Gebiete, etwa das Ruhrgebiet, anmelden oder gar durchsetzen. Die Reparationen wurden folgerichtig nicht in absoluten Geldwerten formuliert und der gesamte Umfang war, verglichen etwa mit den Reparationsleistungen Deutschlands im Versailler Vertrag, moderat und durchaus tragbar. Aber durch die zonenbezogenen Reparationszahlungen wurde die Idee der wirtschaftlichen Einheit Deutschland faktisch untergraben, weil vor allem die Sowjetunion weitaus höhere Ansprüche realisieren musste, um ihre ‚Kriegskosten‘ wenigstens ansatzweise kompensieren zu können. An problematischsten erwiesen sich die Grenzregelungen, insbesondere die Ostgrenze Deutschlands zu Polen. Hier konnte sich die Sowjetunion durchsetzen. Die Grenze zwischen Deutschland und Polen sollte zuungunsten Deutschlands und zugunsten einer polnischen Gebietserweiterung an der Oder und östlichen
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Neiße verlaufen. Zwar sollte diese Grenzziehung „vorläufig“ sein und die „endgültige Festlegung der Westgrenze Polens bis zu der Friedenskonferenz zurückgestellt werden“ (IX b), aber mit der bereits begonnen Umsiedlung der dortigen deutschen Bevölkerung war deutlich, dass dies ein Beschluss sein sollte, der nicht mehr rückgängig zu machen ist. Das Abkommen beschäftigte sich bereits mit der „ordnungsmäßen Überführung deutscher Bevölkerungsteile“ aus Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn, die „in ordnungsgemäßer und humaner Weise erfolgen soll.“ (XIII) Wegen der für Deutschland damit verbundenen Lasten sollte sich der Alliierte Kontrollrat mit einer gerechten Verteilung auf die einzelnen Besatzungszonen beschäftigen und entsprechende Regelungen mit den drei Regierungen besprechen; solange sollten diese auch die weitere Ausweisung der deutschen Bevölkerung einstellen. Die amerikanische Regierung bestand auf ein Junktim, das die Struktur der Reparationszahlungen mit der Anerkennung der Westgrenzen verband. Der amerikanische Außenmister James F. Byrnes hatte dies gegenüber der sowjetischen Regierung mehrmals verdeutlicht, indem er die amerikanische Zustimmung zur polnischen Westgrenze mit dem Entgegenkommen der Sowjets bei der Reparationsfrage verband.31 Der Kompromiss zwischen den USA und der Sowjetunion wurde zwischen Präsident Harry S. Truman und dem sowjetischen Außenminister Wjatscheslaw M. Molotow „ausgepokert“.32 Großbritannien wurde von den USA bei diesen Gesprächen nicht beteiligt, weil man davon ausging, dass es eine Großmacht zweiter Ordnung sei und es deshalb ein Machtgefälle zwischen Amerika und Russland auf der einen und Großbritannien auf der anderen Seite gab. Der Kompromiss, der dann zwischen den beiden wichtigsten Mächten ausgehandelt wurde, leitete die zukünftige Ost-West-Teilung Deutschlands und des europäischen Kontinents ein. „Die Teilung des Reparationsgebiets in eine östliche und eine westliche Hälfte und die gleichzeitig erteilte Vollmacht an die Zonenkommandanten, das Reparationsproblem auf zonaler Basis zu regeln, war der entscheidende Schritt zur Aufteilung Deutschlands auf die Interessensphären der beiden konkurrierenden Weltmächte.“33
Das Potsdamer Abkommen hatte nie den offiziellen Status eines Friedensschlusses bzw. eines Friedensvertrages, wie etwa der Versailler Vertrag am Ende des Ersten Weltkrieges. Das Potsdamer Abkommen war ein Dokument, das exklusiv zwischen den Siegermächten verhandelt wurde und nur die Unterschriften der Staatsoberhäupter der USA, Großbritanniens und der Sowjetunion trug. Es war ein Friedensvertrag, bei dessen Aushandlung der Verlierer weder beteiligt war noch seine Unterschrift dazugeben musste, wie es im Versailler Vertrag der Fall gewesen war. Formal war das Abkommen das Abschlusskommuniqué einer Konferenz von nur drei der eigentlich vier Siegermächte, aber es war ein Dokument, das die Nachkriegsordnung gestaltete und eine weitreichende Wirkung entfaltete.
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Im Lauf der Zeit und angesichts der faktischen Entwicklungen in Deutschland und Europa verlor es immer mehr an Bedeutung. Im Rahmen der Potsdamer Konferenz stellten die Siegermächte dem japanischen Kaiserreich ein Ultimatum, den Krieg zu beenden und formulierten zugleich bestimmte Prämissen für eine Nachkriegsordnung. Nach der bedingungslosen Kapitulation von Deutschland am 8. Mai 1945 war Japan nun der letzte Gegner der Alliierten. Die Atombombenabwürfe vom 6. und 9. August 1945 auf Hiroshima und Nagasaki sollten – so die offizielle Version – die Niederlage Japans beschleunigen und den Krieg schneller beenden (vgl. dazu Kap. 8.4.). Am 15. August verkündete der Kaiser die japanische Kapitulation über das Radio und erkannte die Bedingungen an, die die Alliierten im Potsdamer Abkommen formuliert hatten. Am 2. September 1945 unterzeichneten dann Japan und die Siegermächte auf dem Flugzeugträger USS Missouri in der Sagami-Bucht die bedingungslose Kapitulation. Aber erst am 8. September 1951 wurde der Friedensvertrag zwischen Japan und insgesamt 47 Ländern in San Francisco unterzeichnet. Wichtige Großmächte der damaligen Zeit, unter anderem China, Indien und die Sowjetunion, blieben dieser Zeremonie fern. Sie unterzeichneten – ebenso wie die Republik China – diesen Friedensvertrag nicht. Japan musste auf seine Ansprüche auf Korea, Taiwan, die Pescadores-Inseln, die Kurilen, Sachalin, die Spratly-Inseln und verschiedene Gebiete in der Antarktis zurücknehmen.
9.1.2. Die Friedensmissionen der UN nach dem Zweiten Weltkrieg Die Politik zum Frieden kann nicht nur durch Friedensabkommen bzw. -verträge der unmittelbar zuvor am Krieg Beteiligten, sondern auch durch Friedensmissionen nicht unmittelbar Beteiligter in Gang gesetzt werden. Dann treten externe Akteure auf, die am Ende des 20. Jahrhunderts vor allem als Friedensmissionen der Vereinten Nationen oder auch als Bündnisse von bestimmten Staaten agierten. Kriege innerhalb eines Staates oder zwischen Staaten werden dann durch militärische und/oder politische Interventionen beendet. Zugleich wird versucht, Rahmenbedingungen für eine friedliche Entwicklung in der Zukunft zu schaffen, die durch externe Akteure garantiert und stabilisiert werden. Die Pazifizierung Bosnien-Herzegowinas nach den jugoslawischen Zerfallskriegen ist ein prototypisches Beispiel. Seit dem Vertrag von Dayton im Jahr 1995 und bis heute werden zentrale Staatsfunktionen von externen Akteuren erfüllt. Die auf Initiative und Druck der USA zustande gekommenen Verhandlungen, an denen auch die EU beteiligt war, begannen am 1. November 1995 auf dem Luftwaffenstützpunkt in Dayton/Ohio und fanden unter strenger Abschottung von den (internationalen) Medien und der Öffentlichkeit statt. Die US-amerikanische Seite zwang die drei Präsidenten von Kroatien, Serbien und Bosnien-Herzegowina zu unun-
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terbrochenen, dreiwöchigen Verhandlungen, während der Kontakt zur Außenwelt so gut wie unterbunden war. Ende November wurde der Vertrag in Dayton paraphiert und am 14. Dezember 1995 in Paris feierlich unterzeichnet. Dieser Frieden ist ein von außen erzwungener Frieden, der bisher nicht selbsttragend geworden ist, aber die Gewalt und die militärischen Auseinandersetzungen zwar nicht völlig, aber dennoch weitgehend unterbinden konnte. Betrachtet man das Jahrhundert in Gänze, so erreichten Kriege und bewaffnete Konflikte ihren Höhepunkt am Ende des Jahrhunderts. Eine, wenn nicht die wichtigste Ursache war der Zusammenbruch der bipolaren Weltkonstellation als Folge der (nur zu Teilen demokratischen) Transformationen der kommunistischen Staaten in Mittel- und Osteuropa und der damit verbundene Machtverlust der ehemaligen Sowjetunion. Nach Daten des Uppsala Conflict Data Projects ist die Zahl der staatlichen militärischen Konflikte von knapp unter 50 im Jahr 1992 auf 33 im Jahr 2005 zurückgegangen. Danach stieg sie erneut an und erreichte 2016 die bisherige Höchstzahl von 50. Parallel dazu nahm die Anzahl der nicht-staatlichen gewaltsamen Konflikte von 22 im Jahr 1991 auf über 60 im Jahr 2016 zu.34 Die Anzahl der in den zwischenstaatlichen Konflikten Getöteten erreichte 2016 den bisherigen Höhepunkt von knapp 90.000, bei den nichtstaatlichen Konflikten ist ebenfalls ein konstanter Anstieg zu beobachten, der im selben Jahr mit fast 10.000 Toten ebenfalls einen Höhepunkt erreichte. Der Beginn des 21. Jahrhunderts ist somit von einem (erneuten) Anstieg der gewaltsamen Konflikte gekennzeichnet, die die am Ende des 20. Jahrhundert übersteigen. Davon bleibt unbenommen, dass der Erste und der Zweite Weltkrieg die grausamsten und gewaltvollsten Kriege des 20. Jahrhunderts waren. Die Anzahl der internationalen Kriege und bewaffneten Konflikte war jedoch seit den 70er Jahren konstant rückläufig, seit den 90er Jahren auch die innerstaatlichen Kriege.35 Parallel dazu nahm auch die Dauer dieser Konflikte ab. Aber wie oben erwähnt, stiegen die Zahlen in den letzten Jahren erneut unübersehbar an. Für den Zeitraum bis zur Jahrhundertwende kommen Untersuchungen zu dem Ergebnis, dass die wichtigste Ursache für die Abnahme bewaffneter Konflikte die zunehmende Anzahl von Friedensmissionen ist. Deren Interventionen führten zu einer zeitlichen Begrenzung von Konflikten, während solche ohne internationale Interventionen schwieriger zu befrieden waren und deshalb oft erheblich länger andauerten.36 Diese Zahlen verdeutlichen, dass eine aktive Politik des Frieden-Schaffens sinnvoll und zugleich erfolgreich sein kann, sofern sie bestimmte Rahmenbedingungen berücksichtigt. Die Schaffung, Aushandlung und Stabilisierung von Friedensabkommen setzt nicht nur die Intervention von externen Akteuren voraus, sondern zudem den Aufbau von Vertrauen bei den beteiligten (internen) Konfliktparteien. Gelingt dies nicht ausreichend, so steigt die Gefahr, dass eine Seite der beteiligten Konfliktparteien den Waffenstillstand einseitig bricht. Externes Militär kann dieses
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nach Kriegen nicht vorhandene gegenseitige Vertrauen zwar nicht ersetzen, aber doch zu gewissen Teilen kompensieren. Außerdem kann die Entwaffnung, die Demobilisierung und der Aufbau vertrauensbildender Maßnahmen und Institutionen durch externe Kräfte begünstigt und beschleunigt werden. Friedensmissionen der UN sind jedoch voraussetzungsvoll und beruhen auf drei Grundprinzipien: Der Einsatz ist nur mit Zustimmung des Gastlandes möglich, er muss unparteilich sein und beruht auf einem (oft stark) begrenzten Einsatz von Gewaltmitteln. Sie sind somit eine spezifische Form des Militäreinsatzes durch die UN und setzen eine Resolution des UN-Sicherheitsrates voraus, die Art, Umfang und Dauer eines solches Einsatzes festlegt. Vor allem die Art. 42 und ff. der UN-Charta regeln den Einsatz von Gewaltmitteln zur Befriedung von gewaltsamen Konflikten, sofern andere Mittel wie Wirtschaftssanktionen, Unterbrechung des Handels, Abbruch der diplomatischen Beziehungen u. ä. nicht wirksam sind. Würden solche „Maßnahmen unzulänglich sein oder sich als unzulänglich erwiesen haben, so kann er (der UN-Sicherheitsrat, F.W.R.) mit Luft-, See- oder Landstreitkräften die zur Wahrung oder Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen durchführen. Sie können Demonstrationen, Blockaden und sonstige Einsätze der Luft-, See- oder Landstreitkräfte von Mitgliedern der Vereinten Nationen einschließen.“ (Art. 42)
Immer aber setzen solche Maßnahmen die Einwilligung des jeweiligen Landes voraus, in dem die UN-Einheiten tätig werden sollen. Die eingesetzten Truppen haben keinen direkten Kampfauftrag, sind aber bewaffnet und können ihre Waffen unter bestimmten Bedingungen auch einsetzen. Die Friedenssicherungsmissionen37 der UN hatten bisher unterschiedliche Bedeutungen, aber dienten meist der Beendigung von bewaffneten Konflikten und der humanitären Hilfe, der Überwachung von Waffenstillständen (wie etwa auf Zypern), der Entwaffnung von Bürgerkriegsparteien (wie etwa in Mosambik) oder auch der Sicherung von Dekolonialisierungsprozessen (wie etwa in Neuguinea). Während diese Missionen der UN relativ erfolgreich waren (und sind), sind sie „bei der längerfristigen Sicherung des Friedens und der Unterstützung des Aufbaus von stabilen politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen (weniger erfolgreich).“38 Ein Grund hierfür, vielleicht sogar der wichtigste, ist die sogenannte „conflict trap.“39 Bewaffnete zwischen- und innerstaatliche Konflikte befördern genau die Faktoren, die solche Konflikte auch in der Zukunft begünstigen: sie zerstören die Grundlagen für eine nachhaltige ökonomische Entwicklung, sie machen die Ausbildung staatlicher Institutionen unwahrscheinlicher, sie forcieren die Spannungen zwischen ethnischen und sozialen Gruppierungen und sie machen die Bewältigung der gewaltsamen Vergangenheit problematisch. Eine Politik des Friedenschaffens und die Konsolidierung von Postkonfliktgesellschaften werden dadurch äußerst schwierig.
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Neben der Friedensschaffung ist eine erfolgreiche ökonomische Entwicklung für dauerhaften Frieden ausgesprochen wichtig, aber durch Friedensmissionen kaum zu realisieren. Sie können allein den ersten Schritt ermöglichen, die Beendigung bewaffneter Konflikte. Aber die ökonomische Dynamik ist durch die externen Akteure nur sehr schwer zu beeinflussen. Die ökonomischen und andere Verteilungskonflikte verschärfen sich oft weiter und können so zur Konfliktintensivierung mit erneuten bewaffneten Konflikten führen. Zudem sind wegen der hohen Kosten der militärisch ausgerichteten Friedensmissionen die finanziellen Ressourcen für wirtschaftliche und soziale Entwicklungspolitiken oft nur knapp und unzureichend. Wirtschaftliche Dynamiken können deshalb von außen nicht oder nur schwer angekurbelt werden. Eine Politik des Friedens ist deshalb schwierig zu realisieren. Aber es gibt einen lesenswerten und theoretisch anspruchsvollen Versuch, eine Politik des Friedens zu konzipieren.
9.2. Die Politik des Friedens: Dolf Sternbergers Politikbegriff „Wohl aber erhebt sich sogleich mit Macht die wahrhaft ungeheure Frage, was denn eigentlich der Friede sei.“40
Was ist Friede? Eine ‚wahrhaft ungeheure Frage‘ – und dies schreibt der Mann, dessen Denken den Friede dauerhaft umkreiste. Kann man zu dieser ‚ungeheuren Frage‘ etwas Dauerhaftes und Endgültiges sagen? Der Mann, der im Folgenden im Mittelpunkt steht, ist Dolf Sternberger. Eigentlich war sein Vorname Adolf, aber als Reaktion auf die nationalsozialistische Diktatur soll er sich entschieden haben, nicht den gleichen Vornamen wie Adolf Hitler zu tragen.41 Selbst in seinen späten Jahren hat er es verneint, sich mit Hitler als Person zu beschäftigen. Er verweigerte die Lektüre der Hitler-Biographie des FAZ-Herausgebers Joachim Fest42, mit dem er gut befreundet war. Aber seine Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus haben ihn dazu gebracht, sich mit Politik zu beschäftigen. In einem Interview sagte er: „Wenn ich diesen Krieg und dieses Regime überlebe, dann muss ich mich selbst, dann müssen wir uns um die Politik kümmern, dann dürfen wir nicht mehr so herumplätschern in den reinen Meditationen, Spekulationen und der Poesie.“43
Die Machtergreifung der Nationalsozialisten wurde für ihn zum Kristallisationspunkt. In seiner Kindheit gab es kaum Erlebnisse, die mit Politik zu tun hatten, einzig eine kaiserliche Parade ist ihm in Erinnerung geblieben. Auch während seiner Studienzeit und den gesamten 1920er Jahren war er trotz der heftigen Diskussionen um den Versailler Vertrag und die Weltwirtschaftskrise nicht an Politik interessiert. Stattdessen galt seine Neugier dem Theater, der Philosophie, der Kunstgeschichte und zum Teil der Soziologie und so studierte er dann – eher zu-
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fällig – Germanistik. Damals erschien ihm „nichts ferner und abstoßender als die Politik.“44 Durch die Machtergreifung des Nationalsozialismus war Dolf Sternberger jedoch zweifach bedroht: Kurz vor der Machtergreifung heiratete er – zum Entsetzen seiner Bekannten und Freunde – die Halbjüdin Ilse Rothschild,45 die dann später durch das totalitäre Regime bzw. dessen Nürnberger Gesetze massiv gefährdet war. Ihm selbst blieb deshalb eine akademische Laufbahn versagt. Zum anderen schrieb er in der Frankfurter Zeitung zu Hitlers 50. Geburtstag einen Leitartikel, ohne diesen Sachverhalt, geschweige denn den Namen des Führers, zu erwähnen. Stattdessen schrieb er über Gutenberg und die Öffentlichkeit.46 Das war riskant, denn bereits ein falsches Wort oder eine vermeintliche Antiposition konnte weitreichende Folgen haben. Lange konnte er deshalb seine Position nicht mehr halten und 1943 wurde ein Berufsverbot gegen ihn ausgesprochen.47 Zudem verboten die Nationalsozialisten die Frankfurter Zeitung kurze Zeit später. Seine Frau und er trugen während der gesamten Zeit der Nazi-Herrschaft Giftkapseln bei sich, um im Falle einer Verhaftung durch einen Suizid der Folter, der Lagerhaft oder der (Fremd)Tötung zu entgehen.48 Sternberger meinte es mit dem Frieden sehr ernst, auch wenn er sich der Beantwortung einer ‚ungeheuren Frage‘ aussetzen musste. Aber es gab – vor allem nach dem Zeiten Weltkrieg – noch einen weiteren Grund, sich intensiv mit dem Politikbegriff zu beschäftigen. Es war ein nicht ganz unsichtbarer Geist, gegen den er ankämpfte, denn die Person, von dem dieser Geist ausging, hielt sich des Öfteren in Heidelberg auf. Aber im Wesentlichen war es ein Geist, der in Heidelberg in Form von Gedanken und Schriften anwesend war und im Nachkriegsdeutschland eine wichtige Rolle spielte. Dieser ‚Geist‘ wohnte zurückgezogen in Plettenberg, weil er wegen seiner nationalsozialistischen Vergangenheit als einer der ganz Wenigen im Nachkriegsdeutschland keine Professur an einer deutschen Universität bekommen hatte. Viele andere professionale Ideologen und Mitläufer des Nationalsozialismus wurden ohne große Probleme an die Universitäten zurück geholt, während dies bei diesem ‚Geist‘ nicht der Fall war: Es war Carl Schmitt, der berühmte und berüchtigte Autor einer Schrift, die das politische Denken in der Weimarer Republik, dann im Nationalsozialismus und bis heute massiv beeinflusste. Es war die Schrift „Zum Begriff des Politischen“, die in insgesamt drei Auflagen erschien: In der Erstauflage im Jahr 1928, dann in einer neuen und veränderten Auflage im Jahr 1932 und dann erneut im Jahr 1933, in der der Feind dann expressis verbis klar benannt wurde: Die Juden. Man muss dies wissen, denn in der Regel wird die 1963 erneut herausgegebene Schrift aus dem Jahr 1932 zitiert, während die 1933er Ausgabe meist tot geschwiegen wird (vgl. dazu oben Kap. 5.3.). D. Sternbergers Politikverständnis war fundamental gegen C. Schmitt gerichtet, er betrachtete ihn als einen, wenn nicht den wichtigsten intellektuellen und politischen Gegner, gegen den er sich implizit und explizit positionierte.
9.2. Die Politik des Friedens: Dolf Sternbergers Politikbegriff
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Erst im Jahr 1960 bekam D. Sternberger von der Universität Heidelberg einen Ruf auf eine Professur für Politikwissenschaft, während viele ehemalige überzeugte Vertreter und Mitläufer des Nationalsozialismus längst ihre Professuren inne hatten, nicht nur in Heidelberg. In seiner Antrittsvorlesung beschäftigte er sich ausführlich mit dem Politikbegriff, auch wenn der Titel dieser Vorlesung die Überschrift „Begriff des Politischen“ trug.49 Vermutlich war diese Überschrift gewählt, um gegen C. Schmitt und seine vielen Anhänger (auch in Heidelberg) zu argumentieren und einen eigenständigen und gegen sie gerichteten Begriff des Politischen und der Politik zu entwickeln. Denn in zentralen Passagen, in denen er über den Begriff des Politischen räsoniert, wird unvermittelt und ohne eine Differenz zu markieren, plötzlich von der Politik gesprochen. Beide Begriffe verwendet er weitgehend synonym. Erst in späteren Ausführungen macht er die Differenz klarer und konzentriert sich auf die Ausarbeitung des Begriffs der Politik und den Bedeutungswandel dieses Wortes.50 D. Sternbergers Politikbegriff ist ohne Frage normativ fundiert und seine Norm ist gegen alle rein empiristischen, aber vor allem gegen die Politikbegriffe gerichtet, die Gewalt, die Feindschaft, den Krieg und andere Formen der nichtfriedlichen Konfliktbearbeitung favorisieren. Der C. Schmittsche Begriff des Politischen war hierfür nicht nur prototypisch, sondern auch außerordentlich einflussreich. Insofern formulierte er eine, wenn nicht die radikalste Gegenposition zu geläufigen Politikbegriffen, vor allem gegen den der beiden totalitären Herrschaftsformen. Er hat die Erfahrungen der Weimarer Republik, des Nationalsozialismus und des sowjetischen Kommunismus von allen Politikwissenschaftlern der Nachkriegszeit am radikalsten verarbeitet und aus seinen persönlichen Erlebnissen im NS-Regime die für ihn relevanten Schlussfolgerungen gezogen. Seine Politikwissenschaft konzentriert sich vor allem auf zwei Sachverhalte. Zum einen auf die Analyse von totalitären Regimen, von denen eines, der Nationalsozialismus, seine Frau und ihn massiv bedroht hatte. Zum anderen auf eine normative Orientierung der Politik und der Politikwissenschaft, die in seinem spezifischen Politikbegriff kumuliert. Auf letzteres konzentriere ich mich im Folgenden.
9.2.1. Dolf Sternbergers Begriff der Politik Einen ersten Versuch, einen neuen Politikbegriff zu entwickeln, unternahm er in seiner bereits oben erwähnten Heidelberger Antrittsvorlesung im Jahr 1960. Bevor er sich an definitorische Ausführungen macht, will er „aufsammeln“, was man „unter dem Namen der Politik alles vorfindet.“51 Und er sammelt dann in der Tat und erwähnt die vielfältigen Beziehungsformen zwischen den Staaten, den vorfindlichen Blöcken und den internationalen Organisationen; dann die vielfältigen Ausprägungen in den Staaten, also die Formen der Regierung, die
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man nach Art und Zahl der beteiligten Personen und Organisationen unterscheiden kann; er fragt auch nach den Gründen, aus denen die Regierenden ihre Legitimität ableiten ebenso wie nach der Regierungsweise, also wie die leitenden staatlichen Organe untereinander und mit ihrer Bevölkerung interagieren. Konkret: Ob sie in einem „Verhältnis der Verantwortlichkeit“52 stehen oder ob Herrschaft unverantwortlich ausgeübt wird. Schließlich fragt er, wie die Nachfolge in der Politik geregelt ist, wie das „Halbdunkel“53 der politischen Willensbildung organisiert ist und endlich nach den Beteiligungsformen, über die die Bevölkerung in die Politik eingebunden ist. Aber was ist das Übergreifende all dieser gut zu beobachtenden Phänomene? Es ist nicht der Staat, wie man bei den Klassikern der Politik immer wieder nachlesen kann und der bei ihnen „gleichsam (...) das Modell des Politischen“ ist.54 Aber was ist es dann? Zunächst zitiert er eine Passage von Thomas von Aquin, um dann – etwas überraschend und unvermittelt – zu seiner zentralen Aussage zu kommen: „Der Gegenstand und das Ziel der Politik ist der Friede. Das Politische müssen und wollen wir zu begreifen versuchen als den Bereich der Bestrebungen, Frieden herzustellen, Frieden zu bewahren, zu gewährleisten, zu schützen und freilich auch zu verteidigen. (...) Der Friede ist die politische Kategorie schlechthin. (....) Der Friede ist der Grund und das Merkmal und die Norm des Politischen, dies alles zugleich.“55
Zwar werden hier die Politik und das Politische – wie in dem gesamten Text – leichtfertig vermengt, aber in dieser zentralen Passage beginnt er mit dem Begriff ‚Politik‘, dem dann erst der ‚des Politischen‘ folgt. In seinen späteren Schriften und Vorträgen konzentriert er sich dann mehr auf die Rekonstruktion des Begriffs der Politik. „Die Geschichte des Wortes ‚Politik‘ ist eine abenteuerliche Geschichte, voller sonderbarer Zufälle und überraschenden Wendungen.“56 Die griechische Polis ist für ihn „der einzige Bezirk des Friedens, eine Insel im Meer der Geschichte (...), die zur Quelle der ‚politischen Wörter‘ geworden (ist)“ und zugleich das „geheime Urbild und Muster“ der Bedeutungen dieses Wortes bildet.57 In den vielen sprachlichen Rekonstruktionen, in denen er den „Gang der Wörter“ nachzeichnet,58 kristallisieren sich für ihn zwei zentrale Bedeutungen des Wortes Politik heraus: Zunächst bezieht es sich auf eine institutionelle Ebene, bei der der Kontext zwischen Politik und (freien) Bürgern elementar ist. Politik spielt sich in vorgegebenen institutionellen Rahmen mit wechselseitigen Beziehungen ab, die der Konzentration der Macht vorbeugen und die freie Beteiligung der Bürger ermöglichen sollen. In Despotien welcher Art auch immer ist keine Politik möglich, weil sie die elementaren Grundlagen hierfür nicht bereit hält, ja zerstört. Politik muss sich immer auf der öffentlichen Bühne abspielen, das Private hingegen ist und bleibt privat. Hier ist die Anlehnung an Aristoteles unübersehbar, der die Bedeutung des Begriffes noch klar gesehen hatte. Inzwischen aber ist der bürgerschaftliche Ursprung des Wortes „sprachlich außer Sicht“59 geraten.
9.2. Die Politik des Friedens: Dolf Sternbergers Politikbegriff
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Das durch den Begriff angedeutete „Band zwischen dem Staat, den Bürgern und den staatlich-bürgerlichen Angelegenheiten und Einrichtungen – ‚polis‘, ‚polites‘ und ‚ta politika‘ – (...) (war) zerschnitten.“60 Aber inzwischen – so seine resignative Feststellung – hat das Wort seine normative Bedeutung, also an „Umriss“ und „Rang“, noch weiter verloren. Seine heutige Bedeutung ist „vergleichsweise indifferent, unspezifisch und gleichsam anspruchsarm, wenn nicht anspruchsund maßstabslos.“61 Es unterscheidet nicht mehr zwischen ‚arche despotik‘ und ‚arche politike‘, sondern setzt Despotie und Politik gleich. In Ersterer findet keine Politik statt, sie ist auch kein politisches Regime, sondern eben Despotismus und Despotie. Daneben tritt die zweite, die intentionale Ebene. Das ist die Politik, die ein Subjekt, sei es ein individuelles oder kollektives, voraussetzt, also eine Politik, die man plant, betreibt, die man macht und die sich auf die politics ebenso bezieht wie auf die policies und damit die ganze Spannbreite dessen umfasst, wie Politik getrieben wird und was Politik entscheidet. Der Begriff der Politik wurde geschichtlich, insbesondere in der Nikomachischen Ethik, oft mit einem Adjektiv verbunden, das ihr eine spezifische Qualität zuschrieb: Politik war „‚politica scientia‘ (...), worin also die politische Wissenschaft oder das politische Wissen als eine Art von Klugheit bezeichnet wird.“62 Als Folge eines Bedeutungswandels des Wortes ist aus dieser Klugheit dann „Schlauheit“ geworden, die „tugendhafte Wissenschaft“ ist zur „Machttechnik jenseits von Gut und Böse“ verkommen.63 Hier wird von ihm Machiavelli als Autor erwähnt, der diese Dimensionen eingeführt hat, aber dies nicht als Politik, sondern als ‚arte dello stato‘, also als Kunstlehre der Herrschaft, bezeichnet hat. Aber für D. Sternberger ist Politik unhintergehbar an gemeinsamen Interessen bzw. am Gemeinwohl orientiert, die sie mit Klugheit und Weitsicht realisieren soll. Fraglich bleibt jedoch, ob sich auch der Krieg sprachlich im Bereich der Politik bewegt oder ob er jenseits des Begriffs anzusiedeln ist. Die Clausewitzsche Formel, dass der Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln ist, mag für eine bestimmte historische Periode gegolten haben. Aber im Zeitalter des totalen Krieges und der totalen Zerstörung befindet sich der Krieg nach D. Sternbergers Vorstellung außerhalb des Bedeutungsfeldes der Politik. Zwar kann man bestimmte Formen des Krieges unter den Begriff der Politik stellen, aber im Kern hat Politik immer etwas mit Friede – und nicht mit Krieg – zu tun.
9.2.2. Dolf Sternbergers Begriff des Friedens Was meint nun das Wort Friede, welche Bedeutung hat es im Sternbergerschen Kontext? Erneut ist sein Ausgangspunkt die NS‑Herrschaft und das Erschrecken über die ungeheuren Vernichtungskapazitäten, die die Menschheit in Gang ge-
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setzt hat und in Gang setzen kann, die atomaren Waffen eingeschlossen. Der Nicht-Krieg, die reine Negation des Krieges, ist noch kein Friede, sondern ‚nur‘ die Abwesenheit von Krieg. Wenn aber Friede mehr sein soll als die Abwesenheit von Krieg, so stellt sich die Frage: Was ist dieses ‚mehr als Abwesenheit des Krieges‘? In seinen verschiedenen Schriften kommt D. Sternberger immer wieder auf eine Formulierung von Thomas Hobbes aus dem Leviathan zurück, der Krieg bestehe nicht allein im unmittelbaren Kampf, sondern bereits in einer „erkennbaren Disposition zum Kämpfen.“64 Frieden ist erst dann erreicht, wenn es zu einer Vereinbarung zwischen den Menschen kommt, wobei die Ausgangslage unvermeidlich die „Pluralität der politischen ‚Menschheit‘ (ist).“ Diese Pluralität, die sich auf die einzelnen Subjekte ebenso erstreckt wie auf Kollektivinteressen, äußert sich in „Konkurrenten, Kontrasten und Konflikten, auch in Konfrontationen“, die mit- und gegeneinander um Anerkennung kämpfen.65 Jedoch können und sollen sich die Kontrahenten auf Verfahren und andere Prämissen einigen und dies „beruht auf Vereinbarung. Aller menschliche Friede kann nur ein Friede der Vereinbarung sein. Ich schlage diesen Begriff vor, der eine ganze Skala von möglichen Verfahren und Gestalten umfasst, vom stillschweigenden Einverständnis bis zum förmlichen Vertrage und von der Annahme gemeinsamer Kampfregeln bis zur Aufstellung einer dauerhaften Verfassung (denn auch die Verfassung lässt sich als eine friedliche Vereinbarung konkurrierender Gewalten verstehen).“66
Daneben gibt es eine weitere Form des Friedens, der in der Geschichte der Menschheit eine bedeutende Rolle gespielt hat und der „Friede durch Herrschaft und Unterwerfung“67 ist. Dieser ‚Friede‘ ist jedoch kein durch Vereinbarung entstandener und gesicherter, sondern drückt eine „entstellte Form“ aus, die auf eine dauerhafte Stabilisierung eines „unterdrückten Unfriedens“ hinausläuft.68 Schließlich unterscheidet D. Sternberger auch zwischen dem himmlischen und dem irdischen Frieden und nur um letzteren kann es im Bereich der Politik gehen. Der irdische Friede entsteht allein durch Politik: „(...) ich sage nur, dass die latenten und akuten Konflikte der Gruppen, Sippen, Klassen, Parteien, Völker und Systeme alle Tage nach einer Regelung verlangen, und das heißt – soweit sie nicht durch gültiges Recht besorgt wird – nach Politik. (...) (Die Menschheit) ist keine Einheit, sie ist Vielheit. Darin liegt, so simpel es erscheinen mag, die fundamentale Bedingung der Möglichkeit – nein, noch mehr: der Grund der Notwendigkeit von Politik.“69
Nur Vereinbarungen, „ausdrückliche oder unausdrückliche, geschriebene oder ungeschriebene“70, schaffen Frieden, der bei ihm im Kern drei Dimensionen umfasst: Zunächst eine Vereinbarung, die nicht identisch ist mit Herrschaft. In scharfer Kritik und Abgrenzung zu M. Webers drei Typen legitimer Herrschaft (legale, traditionale und charismatische) arbeitet er einen vierten Typus heraus, der gleichwohl nicht mehr Herrschaft ist, sondern etwas anderes, eine Art Frie-
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densstiftung. Er nennt dies „Staatsbildung aus menschlicher, bürgerlicher Vereinbarung“.71 Ähnlich wie T. Hobbes am Ende seines berühmten 13. Kapitels im Leviathan spricht er von einer Vereinbarung72, die den Krieg aller gegen alle beendet und nur unter freien Bürgern entstehen kann. Diese regelt den institutionellen Rahmen, unter dem sich eine Pluralität von Bürgern selbst regieren kann. Das Verfassungsleben selbst besteht in der fortdauernden Wiederholung und Erneuerung dieser Vereinbarung.73 Nicht die souveräne, verfassungsgebende Gewalt des Volkes gibt einem Gemeinwesen eine Verfassung, sondern sie entsteht durch die freie Vereinbarung zwischen freien Bürgern. Der Friede soll und muss zweitens bei der Austragung der politischen Konflikte herrschen. Da Pluralität, Leidenschaften, unterschiedliche Interessen, also Konflikte das politische Leben kennzeichnen, sind die Formen der Konfliktaustragung zentral. Auch in vereinbarten Regeln können politische Konflikte eskalieren, zur Spaltung der Gesellschaft führen und im Extremfall gewalttätig werden. Politik wird hier – erneut unter Rückbezug auf Aristoteles – als Prozess betrachtet, in dem das Vernünftige gegenüber dem Interessierten, Einseitigen oder Partikularen dominiert. Politik hat es nicht „mit dem Einzelnen in seiner Einzigartigkeit, nicht mit der Menschheit als einer Einheit, gar mit dem Menschen als Typus zu tun, auch nicht mit der Einigkeit einer religiösen Gemeinde, sondern immer und wesenhaft mit der Mehrzahl der Kräfte und Mächte in ihren Spannungen und Lösungen.“74
Schließlich sollen die einzelnen Politiken, also die Policies, gerecht und dem Gesamten, also allen Bürgern, dienlich sein. Die Frage, ob es ein allgemeines Bestes geben könne, beantwortet D. Sternberger mit einem klaren Ja, das aber zugleich von einer tiefen Skepsis durchzogen ist. Die Gewissensfreiheit der Abgeordneten, das Spiel von Mehrheit und Opposition, das Kabinett mit seinem Korpsgeist und – ganz wichtig – die bürgerlichen Tugenden sind prinzipiell in der Lage, Policies so zu entscheiden, dass sich das Gemeinwohl realisiert und Gerechtigkeit entsteht. Aber dies ist eine Norm, eine Sollensforderung, eine innere Haltung der Politiktreibenden, die aber durch die institutionellen Rahmenbedingungen, den Konstitutionalismus, befördert werden kann.75 Damit kann die bereits erwähnte Formel der Politik, „der Friede ist der Grund, das Merkmal und die Norm der Politik, und dies alles zugleich“, genauer beschrieben werden. Der Grund für Politik ist darin zu sehen, dass die unhintergehbare Pluralität der Menschen und ihrer Interessen in Verfahren zum Ausdruck gebracht werden soll, in denen diese Pluralität (verfassungs)rechtlich garantiert wird, aber zugleich in verbindlichen, gleichwohl kontingenten Entscheidungen zum Ausdruck kommen soll. So soll eine produktive Form der Selbstregierung institutionalisiert werden, die mittels einer Vereinbarung über die entsprechenden Verfahren, hier im Sinne der Polity, auf Dauer gestellt und immer wieder erneuert werden soll. Ohne eine solche Vereinbarung tritt an die Stelle der Politik die
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Herrschaft, die immer unpolitisch ist. Das Merkmal der Politik als Tätigkeit, als Aktivität, ist ihre Bereitschaft und prinzipielle Fähigkeit zum Kompromiss, der trotz unterschiedlicher Ideologien, Ideen und Interessen durch Verhandlungen oder mittels kontingenter Mehrheitsentscheidungen zustande kommen soll. Und die Norm ist die Tugend, die den politischen Kräften die Orientierung am Frieden und dem allgemeinen Besten ermöglichen soll. Hier steht Montesquieu Pate, bei dem die Tugend das Prinzip der Demokratie ist. Man kann den Begriff der Tugend problemlos durch den des Gemeinwohls ersetzen und in diesem Sinne hat D. Sternberger einmal behauptet: „Das Gemeinwohl kommt nicht von selbst, sondern man muss es wollen. Nur eine moralische Gesinnung kann die Institutionen selber so modeln und tauglich machen, dass sie eben die Eignung beweisen, das allgemeine Beste zu befördern. Mit einem Wort: bürgerliche Tugend kann nicht entbehrt werden.“76
Wie kaum ein anderer Politologe hat D. Sternberger an zentralen Begriffen der Disziplin gearbeitet, weil er der festen Überzeugung war, dass Begriffe immer auch Eingriffe sind, die die Wirklichkeit verändern – zum Guten wie zum Bösen. Seine Versuche der begrifflichen Arbeit waren immer als Interventionen in das politische Leben der damaligen Zeit gedacht. Und das Wesen der Politik, so seine tiefe Einsicht, kann nicht die Einheit, sondern nur die Einigung, also der Friede sein.77 Er geht sogar so weit, dass er davon spricht, dass „Politik ihrer Natur nach auf nichts anderes als auf Frieden, auf irdischen Frieden allerdings“ gerichtet ist.78 Hier scheut er sich nicht, der Politik eine ‚Natur‘ zu unterstellen, die sie natürlich nicht hat, sondern die von den verschiedensten politischen Akteure und deren Tätigkeiten in diesem normativen Sinne erst hervorgebracht werden muss.
9.2.3. Die „Drei Wurzeln der Politik“ D. Sternberger hat zwar von einer Natur der Politik gesprochen, aber bei der Rekonstruktion seiner Politikbegriffe hat er sich auf deren historische Wurzeln konzentriert. In einer seiner späteren Schriften, den „Drei Wurzeln der Politik“79, wird dies überdeutlich. Auch in diesem Buch spielt der Begriff der Vereinbarung eine zentrale Rolle und wird im Gegensatz zur Herrschaft rekonstruiert. Herrschaft und Vereinbarung – diese Dichotomie ist nicht nur der Titel eines Buches mit verschiedensten Aufsätzen aus verschiedensten Zeiten80, sondern auch der zentrale Ausgangspunkt bei der Entwicklung seines normativ orientierten Politikbegriffs. Er steht im Gegensatz zur Herrschaft, die sich in zwei Untertypen unterteilen lässt: Die Unpolitik und die Antipolitik, wobei beide im Gegensatz zur Politik stehen. Alle drei Begriffe haben historische Wurzeln, die er sorgfältig rekonstruiert und mit jeweils einem Autor identifiziert. Aber sowohl in der Un- als auch der Antipolitik ist der Begriff der Politik noch enthalten. D. Sternberger ge-
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steht ihnen eine bestimmte politische Qualität zu, die sich jedoch von seinem normativen Politikbegriff grundlegend unterscheidet. Man sollte aber den „Widerspruch und Widersinn“ hinnehmen, dass sich auch „in der Verkehrung“, im Gegenbegriff, noch ein Kern des eigentlichen, normativ positiv besetzten Begriffes erkennen lässt.81 Die Un-Politik findet ihre begriffliche Fassung als Dämonologik und die AntiPolitik als Eschatologik. D. Sternbergers eigenes Politikverständnis orientiert sich begrifflich an der Politologik, die in Aristoteles‘ Schriften begründet liegt. Nur in ihnen findet er seine zentrale Vorstellung von Politik als Vereinbarung ausgedrückt. Der Begriff wird von ihm doppelt gefasst, er soll sowohl das Ergebnis kennzeichnen, in der Regel eine bürgerlich-freiheitliche Verfassung, als auch den Prozess des Vereinbarens selbst. Insofern kann man den Prozess der (demokratischen) Verfassunggebung als den wichtigsten Prozess des Vereinbarens verstehen, als Vereinbaren der Vereinbarung. Hier bezieht sich der Prozess auf die PolityEbene und das Ergebnis ist eine demokratische Verfassung, die die Rechte der BürgerInnen festhält und ihnen beim Vereinbaren von einzelnen Politiken, also den Policies, die entsprechenden Rechte und Verfahren zur Verfügung stellt. Das Vereinbaren ist dann der Prozess, in dem Konflikte und widerstreitende Interessen um Anerkennung kämpfen und schließlich in einer verbindlichen Entscheidung kulminieren. Diese Dimension der Politik wird mit dem Begriff der Politics gekennzeichnet. Die Polity wird von D. Sternberger durch acht Punkte definiert und die zusammen eine ‚politische‘ Regierung ausmachen. Das sind zunächst die Bürger, die die unhintergehbare Pluralität einer (modernen) Gesellschaft ausmachen und die für seine Politikvorstellung konstitutiv sind. Sie gewinnen Einfluss auf die Regierung (und die Opposition!) durch die freie Wahl, die auf der Basis der politischen Gleichheit erfolgt. Die gewählten Regierenden unterwerfen sich der Bindung an gegebenes Recht und realisieren dadurch die „Gesetzlichkeit“ der Regierung, die D. Sternberger selbst mit Rechtsstaatlichkeit gleichsetzt.82 Zudem sind alle politischen Ämter zeitlich befristet, sie können nur innerhalb einer bestimmten Dauer ausgeübt und müssen dann durch andere Personen(gruppen) neu besetzt werden. Die Regierung soll durch eine „milde Gerichtsbarkeit“83 kontrolliert werden und muss sich durch entsprechende Personengruppen beraten lassen. Zwar wird nicht deutlich, wer diese Beratung vollziehen soll und wie und wo sie sich realisiert, aber sie ist für D. Sternberger zentral. An anderen Stellen bringt er die politische Opposition ins Spiel, die nicht nur die Regierung politisch kontrollieren, sondern auch eine beratende Funktion ausüben soll. Schließlich unterliegt der Aktionsradius der Regierung einer „Kontrolle der Amtsführung“84, wobei hier die zentrale Bedeutung der politischen Opposition liegt. Ohne sie ist diese Kontrolle nicht realisierbar. Das achte Merkmal ist „logisch von anderer Art“85 und bezieht sich auf die räumliche Begrenzung der Regierungstätigkeit. In der
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Antike ist es der Raum der Stadt, in der Moderne dagegen kann es nur der des Nationalstaates sein. Der Begriff der Politik wird von der Stadt abgezogen und nun auf größere räumliche Einheiten, in der Regel den Nationalstaat, aber auch auf föderative Untereinheiten, übertragen. Diese hier prototypisch entwickelten Merkmale – er nennt sie „Urphänomentypen“ – können in immer wieder neuen „geschichtlichen Ausprägungen“86 auftauchen und so verschiedene konkret-historische Ausprägungen realisieren, eine Vielfalt von Verfassungen und politischen Regimen abdecken und eine „tief verwandelte Wiederkehr des Gleichen“87 darstellen. Für die Un-Politik als ein Untertypus von Herrschaft steht Niccolò Machiavelli mit seinem Il Principe Pate und markiert die Praxis einer politischen Herrschaft ohne Verfassung, die Dämonologik. Machiavelli löst die aristotelische Differenz zwischen dem (guten) König und dem (schlechten) Tyrannen auf und führt mit seinem ‚principe nuovo‘, dem neuen Herrscher, eine neue Figur ein, die sich von denen der bisherigen politischen Philosophie unterscheidet. In der Figur des Zentaur verdichtet sich dieser neue Typus. Dem Fürsten wird eine Doppelnatur zugeschrieben, er vereint in sich zwei im Kern gegensätzliche Naturen, die menschliche und die tierische, wobei die menschliche nach Gesetzen, die tierische dagegen mit Gewalt agiert. Aber während der Zentaur immer dieses Doppelwesen ist und bleibt, also halb Mensch und halb Tier, so kann Machiavellis neu konstruierte Figur das eine sein, ohne dass man den anderen Teil ‚sieht‘ bzw. wahrnimmt. D. Sternberger schreibt, dass der Tyrann insofern ein „emblematisches Wesen (ist): nach Art des Zentauren zusammengesetzt aus einem tierischen und einem menschlichen Teil – aber freilich von dem sinnbildlichen Zentauren selbst doch dadurch unterschieden, dass diese beiden Teile fungibel sind, diese beiden Naturen je nach Gelegenheit und Nutzen ‚gebraucht’ werden sollen.“88
Während also der Zentaur sichtbar immer beides zugleich ist und eben nicht fungibel, so verkörpert der neue Tyrann dieses fungible Wesen. D. Sternberger nennt es „künstlichen Dämon.“89 „Ein Dämon ist ein Zwischenwesen, kein Mensch, kein Gott, aber wissend und wollend. Wir wollen uns hier weder einen guten Geist noch auch einen bösen Geist vorstellen, vielmehr einen an sich gleichsam farblosen, der indessen je nach Wissen und Wollen sowohl gut als auch böse sein kann. (...) Solch ein transmoralisches Wesen (...) kann nur ein dämonisches Wesen sein. (...) Der ‚Principe’, zumal derjenige des achtzehnten Kapitels, hat nicht eine menschliche, sondern eine dämonische Existenz.“90
Diese Figur ist eine bloße Abstraktion, eine bloße Konstruktion Machiavellis, aber er skizziert sie dennoch als Möglichkeit. D. Sternberger entrückt ihn dem Menschen, indem er ihn als Dämon bezeichnet, der eine eigene Existenz jenseits des Menschen hat. Aber er verkörpert eine künstliche Existenz, ist also eine literarische Kunstfigur, ein Artefakt – aber ein solcher „Un-Mensch zu werden ist eine Möglichkeit des Menschen“91, ein Potential, das im homo politicus schlum-
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mert. Er stellt fest, dass dieses Potential, die „’teuflische’ Möglichkeit des Menschen als eines Un-Menschen“, in verschiedenen Stadien der Geschichte „in potenzierter Weise erfahren worden ist.“92 Unter die Anti-Politik fällt bei ihm die Eschatologie des Augustinus, die vor allem in seinem Werk „De civitate Dei“ entwickelt wurde. „(E)schatologische Politik zielt – in Erwartung und Vorbereitung von der menschlichen Seite, in Erwählung, Gericht und Erlösung von der Seite Gottes – überall auf die Große Veränderung, die Entgrenzung des Menschen, das ewige Leben. Das gilt nicht allein von ihrer christlichen Gestalt, sie hat (…) nicht-christliche, ja atheistische Nachwirkungen und Abwandlungen gefunden (…).“ 93
Hier verwendet D. Sternberger ebenfalls den Begriff der Politik. Aber eschatologische (Anti)Politik unterteilt die Menschen in die Bösen, die vom Teufel geleitet sind, und in die Guten, die von Gott geleitet sind. Gut und Böse, für alle Gesellschaften selbstverständliche Voraussetzung, werden hier soweit radikalisiert, dass sie sich unversöhnlich gegenüber stehen und keine politische Einheit bilden können. Es gibt allein eine „Gemeinde der Heiligen“, die sich von der Gemeinde der üblichen Menschen so fundamental unterscheidet, dass ein Zusammenleben fast unmöglich wird. Es geht nur unter spezifischen Bedingungen und gilt nur solange, als das Reich Gottes sich noch nicht realisiert hat. Tut es das, sind alle anderen verdammt. Der Staatsbegriff wird an die Religion gebunden und es kann nur eine einzige Gerechtigkeit geben, die sich nur in einem einzigen Staatswesen, dem gerechten Staat Gottes, realisiert. „Die wahre Gerechtigkeit ist einzig in demjenigen Gemeinwesen, dessen Gründer und Leiter Christus ist“ – so zitiert D. Sternberger Augustinus – und sie realisiert sich allein in einer Gottesstadt.94 In ihr haben alle anderen keinen Platz – die Reichen, die Ungläubigen, die Indifferenten etc. Die bürgerlich vereinbarte Gerechtigkeit wird durch eine absolute ersetzt, die keiner Kritik und Variation zugänglich ist, sondern die ‚ewig‘ gilt. Ein weiteres Moment tritt hinzu. Es existieren zugleich zwei Reiche, das irdische Diesseits und das himmlische Jenseits, und die Grenze zwischen beiden ist keine räumliche, sondern eine zeitliche. Das Jüngste Gericht als Abschluss der Geschichte verwischt diese Grenze und dann gibt es nur noch ein einziges Reich: Das der absoluten Gerechtigkeit, das alle anderen Vorstellungen verbannt und die sie vertretenden Gruppen ebenfalls. Das Reich Christi ist dann die Form von Herrschaft, die die Herrschaft Christi mit der der Heiligen oder Gläubigen vereint. Diese Herrschaft, das sieht D. Sternberger scharf, stellt eine „Herrschaft Christi mit den ‚Heiligen‘, das heißt den Gläubigen, und diejenige Herrschaft der Heiligen mit Christus dar, die als das ‚Tausendjährige Reich‘ in der Offenbarung des Johannes geweissagt war.“95 Es ist also Herrschaft, die zusammen mit jemand anderem ausgeübt wird und darin liegt auch der große Unterschied zu der Herrschaft des Fürsten bei Machiavelli, der seine Herrschaft allein ausübt. Aber durch die Mitregierung der Menschen im Reich Gottes werden Menschen und
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soziale Gruppen autorisiert, im Namen und im Auftrag Gottes auf Erden zu handeln. Dies schließt im Extremfall die Unterdrückung, ja Tötung der Menschen ein, die sich dieser Herrschaft – aus welchen Gründen auch immer – widersetzen oder ihr gegenüber auch nur indifferent bleiben. Alle Denkfiguren und Bildersysteme haben es mit „Antagonismen, mit originärer Parteiung der himmlischen und irdischen Kräfte, mit Krieg, Überwindung, Herrschaft, neuem Krieg, Endkampf und letzter Glorie des Sieges zu tun. Solche Metaphern hat Augustinus geordnet, sublimiert, auf den Begriff gebracht.“96
Kennzeichen der ‚eschatologischen ‚Politik‘ ist somit die Feindschaft, der unversöhnliche Kampf der Feinde gegeneinander, und zwar im doppelten Sinne: Einmal als Kampf bzw. Krieg der bösen irdischen Mächte untereinander und dann zweitens als Antagonismus des Bösen und Guten, also der irdischen und himmlischen Gesellschaften bzw. des Weltstaates und des Gottesstaates. Diese Zweiteilung der Menschheit ist für Augustinus ein ewiges Gesetz. Die Eschatologie verschreibt sich der Realisation einer zielorientierten Geschichtsentwicklung, deren Ziel sowohl religiös als auch säkular bestimmt sein und verschiedene historisch-konkrete Ausprägungen annehmen kann. „Die Eschatologie nimmt, als antipolitische, selber eine politische Bedeutung an.“97 Erst die „theologische Polemik Augustins wider den irdischen Staat als solchen (macht) sein Buch auch zu einer der großen Staatsschriften des Abendlandes, erst durch die Verfluchung der ‚irdischen‘ Politik gewinnt auch die verheißene ‚Stadt Gottes‘ einen gewissen politischen Charakter, nämlich den einer Gegengründung.“98
So ist es kein Wunder, dass D. Sternberger auch von der „bolschewistischen Kirche“ spricht, weil in der Grundidee des Kommunismus dieses Heilsmoment enthalten ist, wobei hier der fundamentale Antagonismus ein rein innerweltlicher ist.99 Die kommunistische Partei ist die Besitzerin der reinen Wahrheit, die ebenso unumstößlich ‚wahr‘ gedacht wird wie die Offenbarung des Gottesglaubens. Die Erlösung des Menschengeschlechts vollzieht sich auf der Erde und wird als gesellschaftlicher Vorgang konzipiert, der unter Führung der Kommunistischen Partei und deren Wahrheitsanspruch vollzogen wird – im Zweifelsfall und manchmal auch im Normalfall mit Gewalt, die systematische Tötung von Menschen, konkret von Feinden, eingeschlossen. Abschließend will ich versuchen, die zwei nichtpolitischen Regime im Gegensatz zur Politik zu qualifizieren. Beides sind Negationen der (guten) Politik, aber man könnte in Anlehnung an den norwegisch-US-amerikanischen politischen Philosophen Jon Elster zwischen aktiver und passiver Negation unterscheiden.100 Passive Negation ist eine auf Indifferenz beruhende Ablehnung, die sich auf der Basis einer mehr oder minder bewussten Gleichgültigkeit vollzieht. Aktive Negation dagegen formuliert einen Widerspruch gezielt, direkt und bewusst.
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Überträgt man diese Grundprämissen auf die Un- und die Anti-Politik, so ist die Zuordnung unmittelbar einsichtig. Die passive Negation zur normativ fundierten Politik ist die Un-Politik. Sie zeichnet sich durch weitgehende Indifferenz, ja völliger Gleichgültigkeit gegenüber den Maßstäben einer geschrieben und normativ begründeten Politie bzw. Politea aus. Für den Tyrannen alter oder neuer Ausprägung sind weder die Menschen, noch deren Rechte, noch deren Wohlergehen interessant oder relevant. Selbst der dämonischste Tyrann ist noch von dieser Indifferenz befallen, er will nichts außer der Maximierung seiner Vorteile und Positionen – aber das kann für die von der Tyrannis beherrschten Menschen manchmal sehr viel bedeuten. Die Anti-Politik ist dagegen von ihrer Grundintention her immer aktive Negation einer (bestehenden) Polity und geht auf volle Konfrontation zu ihr. Sie muss beseitigt, ausgelöscht, ja vernichtet werden um ihrer großen Ziele Willen, die die Anti-Politik realisieren muss. Dabei macht es keinen Unterschied, ob das die ‚bolschewistische Kirche‘, die nationalsozialistische Terrorherrschaft oder eine wie auch immer religiös begründete Herrschaftsform ist. Die ‚gute‘ Politik oder die ‚gute‘ Verfassung soll normativ wie faktisch negiert werden. Das schließt im Normalfall – und nicht nur im Ausnahmefall – die Anwendung von Gewalt zur Beseitigung der Widerstände und zur Durchsetzung der eschatologisch begründeten Herrschaftsformation ein. Für D. Sternberger ist (normativ bestimmte) Politik unausweichlich eine Politik des Friedens. Das Ziel, der Grund, das Merkmal und die Norm der Politik ist eben der Friede. Aber welche Politik müsste man im Einzelnen verfolgen, um ihn zu schaffen und stabil zu halten? Wie könnte man Frieden politisch schaffen und welche zentralen Maßnahmen müssten man hierbei entscheiden? Ein anderer Autor, es war Dieter Senghaas, hat versucht, darauf eine Antwort zu geben.
9.3. Die Politik des Friedenmachens: Das zivilisatorische Hexagon und die Probleme seiner Realisation Für moderne politische Gesellschaften stellt sich die grundsätzliche Frage, wie man ein politisches Projekt der Friedensstiftung und -bewahrung angesichts deren unhintergehbarer Fundamentalpolitisierung entwickeln und realisieren kann? Dieter Senghaas hat ein solches Projekt entwickelt und ihm den Namen „zivilisatorisches Hexagon“ gegeben.101 Die Ausgangsprämisse ist klar und wurde oben zu Beginn des Kapitels bereits angedeutet: Politisierte Gesellschaften sind nicht nur konflikt-, sondern auch gewaltanfällig und dies hat seine tiefen Gründe: „Solche nach Interessen und Identitäten zerklüfteten Gesellschaften, die das Ergebnis säkularer Entwicklungsprozesse sind, sind nicht nur konflikt-, sondern potentiell auch gewaltträchtig. Unter modernen Vorzeichen ist deshalb die Herausbildung von dauerhaften,
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9. Die Politik des Friedens: „Si vis pacem, para pacem“ selbstregulativen politischen Gemeinschaften eine bemerkenswerte zivilisatorische Errungenschaft. Man könnte diese Errungenschaft als friedliche Koexistenz trotz Fundamentalpolitisierung definieren.“102
Zu fragen ist dann, welches die notwendigen Voraussetzungen einer dauerhaften ‚friedlichen Koexistenz‘ sind. Diese Voraussetzungen wären in zerfallenden politischen Gesellschaften ebenso zu institutionalisieren wie in stabilen Gesellschaften, die notorisch mit Konflikten intensivster Art konfrontiert und von diesen bedroht sind. Ein Wall gegen diese immanente Bedrohung von friedlichen Gesellschaften besteht nach D. Senghaas aus genau sechs Bausteinen, die nur in ihrer Summe und in ihrem Zusammenwirken diesen Schutzwall, das zivilisatorische Hexagon, bauen können. Entfällt einer der Bausteine, so steigt die Wahrscheinlichkeit, dass der gesamte Wall zum Einsturz kommt und es zu einem Rückfall in den Zustand der nicht-zivilen Konfliktaustragung kommt. Schaubild 3: Das zivilisatorische Hexagon
Quelle: Senghaas 1995: 41
Die erste Bedingung ist die (Rück)Eroberung des staatlichen Gewaltmonopols und eine damit verbundene „Entprivatisierung der Gewalt.“103 Fundamentale politische (und auch andere) Konflikte können nur dann zivilisiert werden, wenn die Gewalt beim Staat monopolisiert ist. Dies fördert die zivile Auseinandersetzung, verhindert Selbstjustiz und die private Anwendung von Gewalt. Aber zugleich hält er fest, dass das Gewaltmonopol nur dann friedensbildend wirkt, wenn es selbst durch die Mechanismen der Gewaltenteilung und der Bindung an (Verfassungs)Recht und Gesetz gezähmt wird. Damit ist die zweite Bedingung bereits angesprochen: Die Rechtsstaatlichkeit. Erst in der engen Verbindung von Gewaltmonopol und seiner rechtsstaatlichen ‚Zähmung‘ wird die staatliche Gewalt zivilisiert, kontrolliert und legitimiert. Drittens ist ein „arbeitsteilig-differen-
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zierter Sozialkörper“104 hilfreich. Ökonomische Arbeitsteilung und gegenseitige Abhängigkeit der wirtschaftlichen Akteure führen zu Interaktionen, in denen sich Berechenbarkeit, Erwartbarkeit und Kompromissfähigkeit ausbilden. Diese in modernen Gesellschaften zunehmenden Interdependenzen können nur unter den Bedingungen einer „erheblichen Affektkontrolle“105 aktiviert und realisiert werden. Destruktive und fundamentalistisch orientierte Konfliktbearbeitung wird unwahrscheinlicher und friedliche Konfliktdynamiken werden begünstigt. Letztere vollziehen sich – viertens – am besten in demokratischen Teilhabeverfahren, weil die wichtigsten gesellschaftlichen und politischen Akteure in diese Verfahren eingebunden sind und ihre Konflikte dort ausgetragen und entschieden werden. Werden demokratische Partizipationsverfahren eingeschränkt oder untergraben, so steigt die Wahrscheinlichkeit der Polarisierung sozialer und politischer Konflikte und damit die der gewalttätigen Austragung. Fünftens ist die Realisation sozialer Gerechtigkeit von großer Bedeutung, weil dadurch die für moderne Gesellschaften unhintergehbare soziale Ungleichheit thematisierbar wird und durch politische Maßnahmen modifiziert oder korrigiert werden kann. Abschließend ist der zivilisierte Umgang mit den für diese Gesellschaften typischen fundamentalen Konflikten zentral. Eine Kultur der „konstruktiven Bearbeitung von Konflikten“106 ist hierbei wichtige Voraussetzung. Toleranz gegenüber widersprüchlichen Positionen und Kompromissbereitschaft bei deren politischer Bearbeitung ist eine „zivilisatorische Errungenschaft mit Eigenwert“107 und wird durch entsprechende institutionelle Vorkehrungen begünstigt. Der innere Friede als politisches Projekt ist ein sehr anspruchsvolles Unterfangen, das die hier dargestellten sechs Faktoren und deren produktive Interaktion zur Voraussetzung hat. Wie schwierig diese Voraussetzungen zu realisieren sind, zeigen die vielen unvollständigen Friedensbemühungen und die zunehmende Anzahl gescheiterter oder stecken gebliebener Friedens- und Demokratisierungsprozesse. Die Herstellung eines äußeren Friedens in den internationalen Beziehungen kann analog zu den oben erwähnten sechs Kriterien konstruiert werden, die eine Friedensordnung im globalen Maßstab hervorbringen könnten. Die Entwaffnung der Staaten und deren Abrüstung entspräche dann der Entwaffnung der Bürger und der Monopolisierung der Gewalt beim Staat. Eine solche internationale Agentur der Entwaffnung müsste zudem, analog zur verfassungs- und rechtsstaatlichen Kontrolle des Gewaltmonopols im Staat, durch ein institutionelles Gefüge auf der Weltebene kontrolliert und begrenzt werden. Für eine demokratische Partizipation auf der Weltebene gibt es vielfältige, aber immer auch unvollständige und problematische Modelle. Was Bürgerbeteiligung auf der globalen Ebene bedeuten könnte, ist sowohl umstritten wie auch unklar. Globale Verteilungsgerechtigkeit ist ebenfalls ein unklares Konzept und die massiven sozialen Differenzen sind weit schwieriger zu glätten als im nationalen Maßstab. Internationale Stabilität und vertrauensvolle Zusammenarbeit von
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Staaten ist bei den gravierenden Unterschieden kaum zu erwarten. Gleiches gilt für die Ausbildung einer Kultur der friedlichen Konfliktbearbeitung. Welche Akteure und welche Rahmenbedingungen hierfür zentral sind, ist unklar und erneut umstritten. Grundsätzlich aber gilt: „Frieden sowohl in inner- als auch zwischenstaatlicher Hinsicht sollte verstanden werden als ein gewaltfreier und auf die Verhütung von Gewaltanwendung gerichteter politischer Prozess, in dem durch Verständigungen und Kompromisse solche Bedingungen des Zusammenlebens von gesellschaftlichen Gruppen bzw. von Staaten und Völkern geschaffen werden, die nicht ihre Existenz gefährden und nicht das Gerechtigkeitsempfinden oder die Lebensinteressen einzelner oder mehrerer von ihnen so schwerwiegend verletzen, dass sie nach Erschöpfung aller friedlichen Abhilfeverfahren Gewalt anwenden zu müssen glauben. Die Bedingungen des inneren Friedens werden durch die Komponenten des ‚zivilisatorischen Hexagons‘ markiert. Um eine Zivilisierung von Politik bzw. Frieden auf internationaler Ebene zu erreichen, sind vor allem anhaltende Bemühungen um Erwartungsverlässlichkeit (Schutz vor Gewalt), Rechtsstaatlichkeit (Schutz der Freiheit/ Menschenrechte), ökonomischer Ausgleich (Schutz vor Not) und Empathie (Schutz vor Chauvinismus) erforderlich.“108
Hierbei sind „politische Zugpferde“109 von großer Bedeutung, die Prozesse der Friedenspolitik auf der nationalen und globalen Ebene initiieren und die Koordination von Gesprächs- und Verhandlungsrunden übernehmen, die gewaltsame Konflikte beenden oder deren Ausbruch zu verhindern suchen. Eine Politik des Friedens ist eine hochkomplexe Angelegenheit, die angesichts der komplizierten und oft verworrenen Interessenlagen scheitern oder erfolgreich sein kann. Die momentanen konflikt- und kriegsträchtigen nationalen wie internationalen Lagen sind ein unwiderrufliche Beleg hierfür.
9.4. Der Friede als unvollendetes Projekt Das 20. Jahrhundert war das Jahrhundert von zwei extrem destruktiven Weltkriegen – und die vielen ‚kleinen‘ Kriege, vor allem an seinem Ende, müssen der Vollständigkeit halber hinzugezählt werden. Wie schwierig die Friedenschlüsse bei den beiden ‚großen‘ Kriegen waren, hat das Kapitel eindrücklich belegt. Wie immer man den Versailler Friedensabschluss bewerten mag, er war für manche politischen Akteure ein wichtiges Motiv für den Beginn eines neuen Krieges, konkret den Zweiten Weltkrieg. Friedensabschlüsse sind nicht von dem Paradox befreit, die Gründe für einen neuen Krieg zu liefern. Die Politik zum Frieden bedarf weitsichtiger und moderater Akteure, die in der Situation eines militärischen Sieges die kurz- und langfristigen Folgen eines Friedensabschlusses auch für den Geschlagenen genügend berücksichtigen und nicht exklusiv ihre eigenen Interessen verfolgen.
9.4. Der Friede als unvollendetes Projekt
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Eine Politik des Friedens ist meist reaktiv, sie wird am Ende eines Krieges bzw. nach der Beendigung von Gewalttätigkeiten ausgehandelt oder von den jeweiligen Siegermächten diktiert. Der Versailler und der Potsdamer Vertrag haben dies in aller Schärfe deutlich gemacht und die Reaktionen der Siegermächte konnten bei den jeweiligen Weltkriegen nicht unterschiedlicher ausfallen. Zugleich ist jeder Friedensabschluss auch proaktiv, weil in ihm immer auch Bemühungen eingehen, eine neue Lage zu schaffen, die zukünftige Kriege unwahrscheinlicher machen oder gar verhindern sollen. Die zukünftigen nationalen oder internationalen Macht- und Kräftekonstellationen sollen so ausbalanciert werden, dass sie eine Art Gleichgewicht bilden und sich selbsttragend stabilisieren. Die menschlichen, militärischen und ökonomischen Kosten von Kriegen sind so immens, dass eine weitsichtige und auf zukünftigen Frieden orientierte Politik zwar nach wie vor ausgesprochen schwierig ist, aber dennoch durch die immensen Kosten von Kriegen begünstigt werden kann. Ein Frieden durch massive Herrschaftsausübung und Unterwerfung ist jedoch eine „entstellte Form“ des Friedens und im Kern „unterdrückter Unfrieden.“110 Tragfähiger innerer wie äußerer Frieden ruhen nach D. Sternberger auf drei Säulen.111 Zum einen auf Vereinbarung, die zwischen den beteiligten Kräften ausgehandelt und dann vertraglich abgeschlossen wird. Sie beinhaltet ein Set von Institutionen und Verfahren, das den Beteiligten Rechte, Ressourcen und Respekt zubilligt und die friedliche Regelung von zukünftig auftretenden Konflikten ermöglichen soll. Dann zweitens auf den Modi der Konfliktbearbeitung, weil auch in vernünftigen Verfahren die Interessen und Leidenschaften eskalieren und im Extremfall zu Gewalttätigkeiten führen können. Schließlich müssen die Politikergebnisse gewissen Anforderungen von Plausibilität und Gerechtigkeit entsprechen und nicht die exklusiven Interessen eines Akteurs bzw. einer Akteurgruppe wiedergeben. D. Senghaas hat diese drei Säulen spezifiziert und weiter differenziert und sein zivilisatorisches Hexagon entwickelt, das eine Fundamentalpolitisierung verhindern und fundamentale politische Konflikte friedlich zum Ausgleich bringen soll. Sind solche Prozesse bereits auf der nationalen Ebene schwierig zu gestalten, so gilt dies erst recht für die internationale. Die Beendigung des Krieges in und um Bosnien-Herzegovina nach dem Zusammenbruch des jugoslawischen Staates hat dies überdeutlich gemacht. Der Krieg konnte erst durch den Eingriff internationaler Akteure, insbesondere der USA, beendet werden und ein Friedensabschluss musste zwischen den Staatspräsidenten Kroatiens, Bosnien-Herzegovinas und Serbiens auf dem Luftwaffenstützpunkt in Dayton durch die USA erzwungen werden. Der Friede ist bis heute nicht selbsttragend und wird durch internationale Akteure in Bosnien-Herzegovina stabilisiert. Dieser Fall verdeutlicht zugleich ein neues Problem, das am Ende des Jahrhunderts markant hervortritt und eine Politik des Friedens schwieriger, wenn nicht gar unmöglich macht. Es ist das Auf-
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9. Die Politik des Friedens: „Si vis pacem, para pacem“
treten von sogenannten ‚neuen Kriegen‘ (vgl. oben Kap. 8.5.). Sie werden durch eine nur schwer durchschaubare Gemengelage unterschiedlichster Akteure ausgelöst und am Laufen gehalten. Es sind zudem keine Staatenkriege mehr, sondern weit mehr Staatszerfallskriege bzw. substaatliche Kriege, deren Beendigung schwierig ist. Es gibt keine klar festzustellenden Gewinner oder Verlierer, weil diese neuen Kriege schwelen und sich wegen der Vielzahl beteiligter Akteure nicht wie ein Staatenkrieg beenden lassen. Entstaatlichung der Gewalt und ihre damit verbundene Privatisierung verhindern dies und Friedensverhandlungen zwischen Gewinnern und Verlierern sind in den neuen Kriegen in der Regel nicht mehr möglich. Verschärft wird diese Situation durch den Drohnenkrieg (vgl. oben Kap. 8.6.). In ihm hat die Drohne eine doppelte Funktion, sie kann individuell beobachten und individuell töten. Krieg und Frieden sind nicht mehr klar zu unterscheiden, sondern verschmelzen zu einem hybriden Zustand, der weder Krieg noch Frieden ist, sondern beides zugleich. Eine Politik zum Frieden ist hier nicht mehr möglich, weil es kein definitives Ende eines Krieges gibt. Wegen der Vielzahl und laufenden Variation der beteiligten Akteure entstehen in der Regel keine stabilen Verhandlungskonstellation, in denen Friedensverträge ausgehandelt, abgeschlossen und durchgesetzt werden können. Eine Politik des Friedens dagegen wird wegen der Zunahme rechtsstaatlicher Demokratien im Weltmaßstab begünstigt, aber zugleich werden auch in den modernen Demokratien die politischen Konflikte intensiver und polarisierter. Dies betrifft nicht nur Verteilungs-, sondern vor allem auch ethnische und nationale Konflikte, die in den Staaten Europas, aber auch anderswo, zunehmen. Meist ist dann eine Politik des Friedens reaktiv, aber prospektive Zielsetzungen sind gleichwohl und vor allem auf internationaler Ebene nicht zu übersehen, aber schwer zu realisieren. Der Friede bleibt ein unvollendetes Projekt. Anmerkungen 1 Suttner 1907: 4. 2 Ebd. 3 Vgl. dazu umfassender Czempiel 1986; Imbusch/Zoll (Hg.) 2006. 4 Der Begriff geht zurück auf Greven 1999; ders. 2000; vgl. dazu auch unten Kap. 1.3. 5 Senghaas 1997a: 12. 6 Senghaas 1997a: 13. 7 Dies ist – wie unschwer zu erkennen – die Position von Carl Schmitt und vielen anderen; vgl. dazu unten Kap. 1. 8 Die sogenannte Operation Deliberate Force war ein militärisches Unternehmen der NATO im Auftrag der UNO, um Bedrohungen für die Mitglieder der UNPROFOR-Truppe und der Bewohner der UN-Schutzzonen
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durch die bosnischen Serben zu verhindern bzw. beenden. Um Tote und Verletzte auf Seiten der NATO zu vermeiden, wurde das militärische Unternehmen vorwiegend durch Luftangriffe mehrerer NATO-Mitgliedsstaaten durchgeführt, die zwischen dem 30. August und dem 20. September 1995 stattfanden. Eine vollständige Liste der Einsätze findet man auf der Homepage der United Nations Peace Operations, vgl. https://www.unmissions.org/. (Zugriff am 02.05.2018). Kolb 2011: 51. Kolb 2011: 57. Kolb 2011: 52. Ebd.
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9.4. Der Friede als unvollendetes Projekt 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26
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Zit. nach Kolb 2011: 73. Kolb 2011: 74. Kolb 2011: 75. Zit. nach Kolb 2011: 74. Zit. nach Krüger 1986: 21. Krüger 1986: 22. Howard 1972: 7. Lüdicke 2008: 26. Ebd. Kennan 1979: 12. Statt vieler vgl. Hahlweg 1960; Haffner 1968. Vgl. etwa Wehler 2008: 152. Das Potsdamer Abkommen wurde nur zwischen den USA, Großbritannien und der Sowjetunion ausgehandelt; Frankreich verpflichtete sich später, die dort festgehaltenen Prämissen ebenfalls umzusetzen. Die Erklärung ist in Teilen abgedruckt bei Kleßmann 1991: 345-347. Zit. nach Kleßmann 1991: 325. Das Abkommen ist abgedruckt in Benz 2005a: 207-225 und Antoni 1985: 340-374, hier 341. Zit. nach Antoni 1985: 341. Dies betont besonders Benz 2005a: 108-109. Benz 2005a: 109. Benz 2005a: 110. Die Daten sind einsehbar auf: http:// ucdp.uu.se/ Brzoska 2007: 32. Brzoska 2007: 33. „Friedenssicherungseinsätze bieten eine Möglichkeit, Staaten bei einem Konflikt zu helfen, die Vorraussetzungen für einen tragfähigen Frieden zu schaffen. Das Personal von Friedenseinsätzen – Soldaten, Polizisten und Zivilkräfte aus vielen Ländern – beobachten Friedensprozesse nach Ende eines Konflikts und helfen den Konfliktparteien, Vereinbarungen umzusetzen. Diese Unterstützung hat viele Formen, darunter die Förderung menschlicher Sicherheit, vertrauensbildende Maßnahmen, Regelungen zur Machtteilung, Wahlhilfe sowie die Stärkung der Rechtsstaatlichkeit und der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung. Die Charta der Vereinten Nationen gibt dem Sicherheitsrat die Befugnis und die Verantwortung, gemeinsame Aktionen zu beschließen, um den internationalen Frieden und die Sicherheit zu bewahren. Deshalb setzt die internationale Gemeinschaft gewöhnlich auf den Sicherheitsrat, um Friedenssicherungseinsätze zu autorisieren. Die meisten Einsätze werden durch die Vereinten Nationen selbst unternommen, mit Truppen unter direktem UNO-Kommando. In anderen Fällen, in denen eine direkte Beteiligung der UNO als ungeeignet eingeschätzt wird, autorisiert der Sicherheitsrat regionale und andere internationale Organisationen wie die Euro-
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päische Union, die Afrikanische Union, die NATO, die Wirtschaftsgemeinschaft der Westafrikanischen Staaten oder Koalitionen von Staaten, die bereit sind, friedenserhaltende oder friedenserzwingende Maßnahmen zu übernehmen.“ Zit. nach https://www.unric.or g/ html/german/pkpngfaq/q1.htm. Brzoska 2007: 33-34. Collier et. al. 2003. Sternberger 1986Ib: 78. Bernhard Vogel hat diesen Sachverhalt in das Reich einer „frommen Legende“ verweisen; vgl. Vogel 2007: 21. Andere Zeitzeugen dagegen halten an dieser Behauptung fest; vgl. etwa Fest 2004; Nonnenmacher 2007. Fest 2004. Zit. nach Vogel 2007: 13. Fest 2004: 90f. Ilse Sternberger schrieb im Übrigen unter dem Pseudonym Peter Menzel in der „Frankfurter Zeitung“ Bildbetrachtungen. Nach dem Krieg schrieb sie keine Zeile mehr, ihre Eltern waren von den Nationalsozialisten umgebracht worden. Sie starb am 4. Juni 1992, drei Jahre nach Dolfs Tod im Herbst 1989. Über sie gibt es kaum Literatur vgl. aber den Nachruf auf sie vom 19. Juli 1992 in der ZEIT von Eckhard Nordhofen. Schirrmacher 2007. Die Umstände sind bis heute unklar, eine „Akte Sternberger“ wurde wohl „seit dem Erscheinen von Sternbergers Artikel Figuren der Fabel in der Weihnachtsausgabe der Frankfurter Zeitung, in der die Fabel vom Lamm, das vom Wolf gefressen wird, als Gleichnis der Judenverfolgung gelesen wurde“, geführt; so jedenfalls Kinkela 2001: 302. Fest 2004: bes. 94. Sternberger 1986Ib. Vgl. etwa 1986Ic; 1986Id; 1986Ie. Sternberger 1986Ib: 70. Sternberger 1986Ib: 71. Sternberger 1986Ib: 72. Sternberger 1986Ib: 75. Sternberger 1986Ib: 76. Sternberger 1986Ic: 110. Sternberger 1986Ic: 103. Sternberger 1986Ia; ders. 1986Ib. Sternberger 1986Id: 111. Ebd. Sternberger 1986Id: 112. Ebd. Ebd. Sternberger 1986Ia: 12. Die entsprechende Stelle im Leviathan heißt: „(...) das Wesen des Krieges (besteht) nicht in tatsächlichen Kampfhandlungen, sondern in der bekannten Bereitschaft dazu während der ganzen Zeit, in der man des Gegenteils nicht sicher sein kann.
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9. Die Politik des Friedens: „Si vis pacem, para pacem“ Jede andere Zeit ist Frieden.“ (Hobbes 1966: 96; Herv. i O.) Sternberger 1986Ia: 17. Sternberger 1986Ie: 126. Ebd. Ebd. Sternberger 1986Ie: 127f; Herv. i. O. Sternberger 1986Ie: 129 Sternberger 1986Ib: 41. Die Leviathan-Übersetzung von W. Euchner übersetzt mit „Übereinstimmung“ (Hobbes 1968: 98), was im Kern einen Konsens bedeutet; die Reclam-Ausgabe, die die Übersetzung von W. Euchner etwas überarbeitet hat, spricht von „Übereinkunft“ (Hobbes 1978: 109), wobei letzteres eher die Intention von D. Sternberger trifft. Sternberger 1986Ia: 15. Sternberger 1986Id: 127f.; Herv. i. O. Sternberger 1996: 170-190. Sternberger 1995: 190. Sternberger 1986a: 229. Sternberger 1986e: 127. Sternberger 1978. Sternberger 1986. Sternberger 1978: 160. Sternberger 1978: 64f. Sternberger 1978: 62. Ebd. Sternberger 1978: 69. Sternberger 1978: 295.
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Sternberger 1978: 402. Sternberger 1978: 214f. Sternberger 1978: 222. Sternberger 1978: 222f. Sternberger 1978: 224. Sternberger 1978: 238. Sternberger 1978: 312. Sternberger 1978: 318f. Sternberger 1978: 322f; Herv. von mir. Sternberger 1978: 328. Sternberger 1978: 331. Ebd. Vgl. dazu das Kapitel „Die bolschewistische Kirche“ in Sternberger 1978: 412-421. Elster 1979. Dieter Senghaas hat dies in verschiedenen Schriften entwickelt und immer wieder neu dargestellt und in gewissem Grad variiert, ohne jedoch seine Grundidee zu verändern; vgl. etwa Senghaas (Hg.) 1995; ders. 1997a; ders. 1997b; ders. 2004. Senghaas 1997b: 560; Herv. i. O. Senghaas 1995: 198. Senghass 1997b: 572. Ebd. Senghaas 1997a: 15. Ebd. Senghaas 1995: 222. Senghaas 1997a: 16. Sternberger 1986Ie: 126. Sternberger 1986Id.
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10. Die Politik der Rationalität und ihr Scheitern: Von der politischen Steuerung über Governance bis zur ‚zeitorientierten Reaktivität‘ Es muss schon immer einen Traum, konkreter: einen politischen Traum, gegeben haben, den möglicherweise auch schon die totalitäre Politik geträumt hat: Die rationale Gestaltung oder zielgerichtete Steuerung der Gesellschaft durch die Politik. Dies hat mindesten eines zur Voraussetzung, nämich die Sichtbarmachung der Gesellschaft auf dem Bildschirm der Politik, in einem engen und einem weiten Sinne. Im engen Sinne die Sichtbarmachung der Gesellschaft auf den Computerbildschirmen der politischen Planer, was immense Verarbeitungskapazitäten von gesellschaftlichen Daten voraussetzt. Im weiteren Sinne als Idee der rationalen und zielgerichteten Steuerung der modernen Gesellschaften in die Zukunft hinein. Was für die politischen Planer ein Traum war, war für andere ein Alptraum: Die vollständige Sichtbarkeit der wichtigsten gesellschaftlichen Dynamiken und damit auch die Vorhersehbarkeit und potentielle Kontrolle dieser Entwicklungen. Möglicherweise weit wichtiger: Die Offenlegung der ‚Gesetze‘ des menschlichen Handelns, seien sie individueller oder kollektiver Natur, die als Grundprämissen in alle Theorien der Gesellschaftssteuerung Eingang finden müssen. Ohne solche Grundprämissen kann die Idee der Steuerung nicht wirklich fundiert werden. Ideen fallen nicht vom Himmel. Woher kamen die vielfältigen und vielschichtigen Ideen der Gesellschaftssteuerung? Historisch waren es leidvolle Erfahrungen, die die Entstehung solcher Ideen begünstigten. Beide Totalitarismen des 20. Jahrhunderts waren von der Idee besessen, einen zielstrebigen Gesellschaftsumbau zu bewerkstelligen, der von den jeweiligen Ideologien inspiriert und geleitet war. Es waren die totalitären Staaten, die diese Ideen mit Gewalt und hunderttausendfachem Mord umsetzten, aber letztlich – wenn auch aus verschiedensten Gründen – scheiterten (vgl. dazu Kap. 7). Auch in abgeschwächten Varianten war die Idee der politischen Steuerung von Gesellschaften am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts präsent. Fortgeschrittene Verwaltungsstrukturen und eine entsprechende Verfasstheit von Staaten waren Faktoren, die eine rationalere Gestaltung dieser Gesellschaften möglich und entsprechende Steuerungsoptionen realistisch erscheinen ließen. In den modernen Demokratien wurde die Planungs- und Steuerungsdiskussion erst Ende der 50er und Anfang der 60er Jahre, vor allem in den USA im Kontext des New Deal, bedeutsam. Die Verwissenschaftlichung der Politik hatte sich im Zweiten Weltkrieg bewährt, den die USA sehr erfolgreich gegen den deutschen und den japanischen Faschismus geführt hatten. Nun drang diese Idee auch in den sozialen und politischen Alltag ein und hatte zwei ‚Probleme‘ in ihrem Zen-
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trum: Wie konnte man erstens die amerikanische Demokratie stabil halten und zweitens zugleich die außerordentlichen Herausforderungen der amerikanischen Gesellschaft bewältigen: Rassenkonflikte, extreme Armut, Bildungsnotstand und die Verslumung von Großstädten, um nur die wichtigsten zu nennen. Der im Jahr 1964 vom US-Präsidenten Lyndon B. Johnson ausgerufene War on Poverty forderte die Sozialwissenschaften massiv heraus und die Bearbeitung dieses Problems wurde vor allem als wissenschaftliches und nicht so sehr als politisches Problem betrachtet.1 Diese Grundidee schlug sich aber schon früher in einer Rede des damaligen Präsidenten der USA John F. Kennedy nieder. Es war sicherlich kein Zufall, dass er gerade diese Rede vor Elitestudenten der Yale Universität in New Haven im Jahr 1962 hielt: „Auf dem Spiel steht nicht etwa eine Auseinandersetzung zwischen rivalisierenden Ideologien, sondern das praktische Management der modernen Wirtschaft. Was wir brauchen sind nicht Schubladen und Klischees, sondern eine grundlegende Erörterung der komplexen und technischen Fragen, die eine große Wirtschaftsmaschinerie am Laufen halten. Wir brauchen technische, keine politischen Antworten.“2
‚Praktisches Management‘ also – und dies muss rein technisch und eben nicht politisch sein, was er auch immer mit politisch gemeint haben könnte. Aber was technisch damals hieß, war klar: Die neuen Entwicklungen in der Computertechnologie und der Datenverarbeitung bargen die Hoffnung in sich, die komplexen und bisher unkontrollierbaren Entwicklungsdynamiken der Gesellschaft sichtbar, analytisch durchschaubar und damit politisch beherrsch- und steuerbar zu machen. Entideologisierung, praktisches Management, politische Steuerung, politische Planung, rationale und/oder aktive Politik waren Schlagworte und zum Teil theoretisch inspirierte Konzepte, die damals eine zentrale Rolle spielten und die Politik- und Sozialwissenschaften dominierten. Sie boten, zum Teil rezeptartig aufbereitet, „Entscheidungshilfen für die Regierung“3 an, wobei formale Entscheidungs- und Computersimulationsmodelle eine große Rolle spielten. Das wichtigste Schlagwort war „aktive Politik“, die von verschiedenen Politik- und Sozialwissenschaftlern eingefordert wurde.4 Den Stein ins Rollen brachte Amitai Etzioni mit seinem in den 60er Jahren erschienenen Buch The Active Society.5 Es entstand im Kontext der radikalen Soziologie, was damals in den USA marxistisch inspiriert bedeutete. Er ließ sich von der Vorstellung leiten, dass eine wissenschaftlich fundierte Policy-Analyse die Politikproduktion rationalisieren könnte. Er gründete das von ihm geleitete Center for Policy Research, das beeinflusst von den Ideen des New Deal an der Verbesserung der Lebenssituation von verschiedenen sozialen Gruppen arbeitete. A. Etzioni hatte enge Beziehungen zum damaligen Senator Walter Mondale, einem der letzten Verfechter von New-Deal-Ideen und späterem Vizepräsidenten unter Präsident Jimmy Carter. Bis zum Wahlsieg von Ronald Reagan im Jahr 1980 war A. Etzioni innenpolitischer Berater des
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Weißen Hauses. 1984 kandidierte Walter Mondale als Gegenkandidat zu R. Reagan für das Präsidentenamt, verlor die Wahl eindeutig und R. Reagan wurde wiedergewählt. Mit dieser Niederlage endeten alle Hoffnungen auf eine verwissenschaftliche Reformpolitik, wie sie in den 60ern ihren Anfang genommen hatte.6 Die Vorstellungen der rationalen Gesellschaftssteuerung und der aktiven Politik hatten endgültig gegen die ideologische Alternative verloren: Die Vermarktlichung und Liberalisierung aller wichtigen gesellschaftlichen Dynamiken und der Rückzug der Politik bzw. des Staates aus den zentralen sozialen und gesellschaftlichen Bereichen. Aber die Idee hatte sich festgesetzt. Politik sollte nicht mehr mittels unkoordinierter Einzelmaßnahmen auf gesellschaftliche Probleme oder gar Krisen reagieren, sondern umfassend und koordiniert, mittels ziel- und zukunftsorientierter Entscheidungen, vorausschauend und aktiv Probleme lösen. Die neue rationale, aktive und steuerungsorientierte Politik sollte die mangelnde Problemlösungskapazität des politischen Systems überwinden. Aber diese Idee ist – trotz anfänglicher Euphorie und gewisser Erfolge – vergleichsweise schnell an den Realitäten moderner Gesellschaften und an den Restriktionen der politischen Systeme gescheitert. Heute dominiert der Governance-Diskurs, der neue und andere Akzente bei einer rationalen Politik der gesellschaftlichen Steuerung bzw. Selbstregulierung setzt. Governance soll den eigendynamischen Auflösungstendenzen von Systemen, Organisationen und Institutionen entgegen wirken, indem man sich auf ordnungsstiftende Strukturen stützt oder solche aufbaut. Dazu gehören in einer extremen Variante von Governance beispielsweise internationale Organisationen, transnationale Strukturen und Nationalstaaten ebenso wie die Familie oder auch kriminelle Organisationen, wie die Mafia.7 Der Kern aber besteht in der Ergänzung oder Ersetzung staatlicher Akteure durch gesellschaftliche und soziale Organisationen, die in Kooperation oder netzwerkartigen Strukturen – jenseits des Staates – Entscheidungen mit regulativer Fähigkeit treffen. Diese Netzwerke sollen alle eine zentrale Aufgabe erfüllen, konkret dem abnehmenden Ordnungsgehalt der modernen Gesellschaften durch kollektive Regelsetzungen und Aufbau neuer Ordnungsmuster entgegenwirken. Die Politik verändert sich in solchen Governance-Konstellationen stark. Ihr Ort verlagert sich aus dem Staat in informelle Netzwerkstrukturen mit zweifelhafter Legitimität, die gleichwohl versuchen, durch Entscheidungen Ordnungsstrukturen aufrecht zu erhaltenen oder neue aufzubauen. Die Akteurkonstellationen ändern sich, weil nun staatliche mit einer Vielzahl nicht-staatlicher Akteure in Governancestrukturen oder Netzwerken agieren und Entscheidungen zur Regelung von Problemen treffen, wobei diese auch die Form der gesellschaftlichen Selbstregulierung annehmen können. Die Zeit spielt bei der Entscheidungsproduktion in Netzwerk- oder Governancestrukturen eine erhebliche Rolle, weil
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in ihnen Aushandlungs- und Koordinationsprozesse außerordentlich zeitraubend sind, während sich zugleich die Dynamiken der gesellschaftlichen und globalen Veränderungen beschleunigen. Schließlich ändern sich die Formen der Interventionen, das Recht als tradiertes Instrument der politischen Gestaltung wird ersetzt durch ‚weichere‘ Formen der Regelung, wie etwa durch „diskursive Praktiken, Argumente und Symbole.“8 Andere Autoren waren dagegen skeptischer. Sie unterstellten – schon seit längerem – die prinzipielle Unmöglichkeit der rationalen oder zielgerichteten Steuerung gesellschaftlicher bzw. ökonomischer Prozesse. Sie fragten – zugespitzt formuliert –, wie man rational mit der Unmöglichkeit von rationaler Steuerung umgehen kann. Charles E. Lindblom hatte hierbei das genuin politische an politischen Entscheidungsprozessen in den Mittelpunkt seiner Theorie gestellt und eine „Science of muddling through“9 entworfen, die den improvisatorischen Charakter des Politiktreibens betont. Noch radikaler hat Niklas Luhmann argumentiert. Bei ihm operiert das politische System als geschlossenes System, das zu zielorientierter Steuerung von gesellschaftlichen Problemdynamiken grundsätzlich nicht in der Lage ist. Seine Systemtheorie geht davon aus, dass Politik von „zielorientierter Rationalität“ auf „zeitorientierte Reaktivität“ umgestellt hat und in einer globalisierten Welt nur noch reaktiv operieren kann.10 Dies ist für mich hier und im gesamten Buch eine leitende Prämisse. Ich gehe wie folgt vor. Ich beginne mit der Rekonstruktion der Grundprämissen einer ‚aktiven Politik‘, wobei ich mich auf einen der interessantesten Texte stütze, der gleichwohl in der politik- und sozialwissenschaftliche Diskussion unterbelichtet blieb: Karl W. Deutschs Nerves of Government. Hier verbinden sich die mit den neuen Informationstechnologien verbundenen Erwartungen mit der Idee der rationalen Steuerung gesellschaftlicher Dynamiken (Kap. 10.1.). Charles E. Lindblom setzte dagegen bereits Ende der 50er Jahren auf eine pessimistischere, vielleicht deshalb auch realistischere Variante der politischen Steuerung. Er bezeichnete sie – wie bereits erwähnt – als „science of muddling through“ und seine pessimistischere Variante dann als „still muddling, not yet through“ (Kap. 10.2.) Im Jahr 1988 fand auf der Jahrestagung der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft (DVPW) in Darmstadt eine Diskussion zwischen Niklas Luhmann und Fritz W. Scharpf statt, in der es um die Steuerungspotentiale des modernen Staates und der Politik ging. Ersterer negierte die Steuerungsfähigkeit prinzipiell, verschärfte den Ton in immer neuen Publikationen und formulierte erst spät seine leitende Prämisse, dass Politik mehr und mehr von zielorientierter Rationalität auf zeitorientierte Reaktivität umstellt (Kap. 10.3.). F. W. Scharpf setzte umgekehrt auf den Willen und die Möglichkeiten des Staates zu zielorientierter Rationalität. Staatliche Politik sollte und konnte moderne Gesellschaften zwar nicht umfassend, aber dennoch nach bestimmten politischen Zielen steuern und eine rationale und zukunftsorientierte Politik realisieren (Kap. 10.4.). Am
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Ende des Jahrhunderts wurden die Steuerungstheoretiker skeptischer. Ein neues Konzept, das der Governance, verabschiedete sich von der Idee der aktiven Politik und der zielgerichteten politischen Steuerung – und doch nicht. Allein ein Akteur wurde entzaubert, der moderne Staat, und die Steuerung sollte sich entpolitisieren und im Extremfall gesellschaftliche Selbststeuerung ein- und staatliche Steuerung ausschließen (Kap. 10.5.). Ein kurzer Ausblick auf das Schicksal der politischen Steuerung in modernen, hochkomplexen und international verflochtenen Staaten schließt das Kapitel ab. Es fundiert die Luhmannsche These, dass Politik weitgehend auf zeitorientierte Reaktivität umstellt und jegliche Hoffnung auf eine zielorientierte und rationale Gesellschaftssteuerung obsolet geworden ist (Kap. 10.6.).
10.1. Politische Macht und politisches Lernen: Karl W. Deutschs „Nerves of Government“ Karl W. Deutschs „Nerves of Government“11 war eines der ersten Bücher, das sich mit einer aktiven Politik der Gesellschaftssteuerung beschäftigte und die damals neuesten Erkenntnisse der Informationstechnik systematisch in eine Theorie der Politik einarbeitete. Karl W. Deutsch war – etwa im Gegensatz zu A. Etzioni – Europäer und das bedeutete für viele der damaligen Lebensverläufe die Konfrontation mit dem Naziregime in Deutschland. Seine Politisierung wurde durch seine Mutter angestoßen: Sie war die erste weibliche Angeordnete im tschechischen Parlament, sie war zudem Sozialdemokratin und während ihrer Wahlkämpfe war Karl des Öfteren mit ihr unterwegs. Das Aufkommen des Faschismus war unübersehbar und 1934, nachdem er seinen ersten Universitätsabschluss hatte, ging er nach Großbritannien, weil er als Mitglied und Sprecher einer antifaschistischen Jugendgruppe zunehmend gefährdet war. Dennoch kehrte er nach Prag zurück, in die Stadt, in der er 1912 geboren wurde und schloss dort sein Studium 1938 mit Auszeichnung ab. Als A. Hitler das Sudetenland okkupierte, war er gerade als Delegierter der Sozialdemokratischen Jugendpartei auf einer antifaschistischen Konferenz in den USA. Auf Anraten von Freunden und seiner Familie kehrte er nicht mehr zurück. So begann seine Karriere in den USA, die ihn durch verschiedene Universitäten führte, ihm viele Preise einbrachte und zu einem der führenden Politikwissenschaftler der USA und weltweit machte. Zugleich arbeitete er während des Zweiten Weltkrieges als Berater der amerikanischen Regierung, indem er Analysen über die Struktur und Stabilität von autoritären und totalitären Staaten anfertigte. In diesen Studien entstanden bereits zentrale Ideen, die er dann später in den „Nerves of Government“ niederlegte: (Politische) Systeme sind nur dann überlebensfähig, wenn sie lernen. Lernprozesse sind abhängig vom Fluss der Informa-
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tionen über die soziale und gesellschaftliche Umwelt, die vom politischen System gesammelt und zur effektiven Informationsverarbeitung genutzt werden müssen. In diesem Kontext ist auch seine berühmte Formel von Macht entstanden:12 „Wenn ‚Wille‘ als Wunsch verstanden wurde, nicht zu lernen, so ist ‚Macht‘ die Fähigkeit, nicht lernen zu müssen. In dieser einfachen Bedeutung sind Wille wie Macht Elemente der Pathologie des sozialen Lernens. (…) Pathologisch ist ein Lernprozess (mit entsprechenden Veränderungen der inneren Struktur), durch den die zukünftige Lernfähigkeit nicht erhöht, sondern vermindert wird. Wille und Macht können leicht in selbstzerstörerisches Lernen umschlagen, wenn sie zur Überbewertung der Vergangenheit gegenüber der Zukunft (…) führen.“13
In etwas anderen Worten reformuliert: „Macht besteht darin, dass man nicht nachgeben muss, sondern die Umwelt oder eine andere Person zum Nachgeben zwingen kann. Macht in diesem engeren Sinn bedeutet Priorität der Leistung (output) gegenüber der Empfänglichkeit (intake), bedeutet die Möglichkeit, zu reden anstatt zuzuhören. Macht hat in gewissem Sinnen derjenige, der es sich leisten kann, nicht lernen zu müssen.“14
Dies ist eine der schönsten und tiefsten Definitionen von Macht, denn die Sensibilität gegenüber der Umwelt, das Zuhörenkönnen, wird für ein politisches System zum wichtigsten Merkmal. Sinkt seine Empfänglichkeit für Informationen aus und über die Umwelt, so ist sein Überleben in Frage gestellt. Im Extremfall bricht es zusammen, weil es nicht auf Veränderungen in der Umwelt reagiert und sich nicht entsprechend anpasst, also nicht lernt. Wer viel Macht besitzt, so glaubte man bisher, kann sich immer an der Macht halten. Deutsch macht das Gegenteil denkbar: Wer zu viel Macht hat, verliert die Macht; er macht sich blind gegenüber den Dynamiken und Veränderungen seiner Umwelt, er schlägt sich selbst mit Blindheit, verneint wichtiges Wissen und verhindert eine kritische Selbstreflexion. Ins Institutionelle übersetzt bedeutet dies, dass Demokratien aufgrund ihrer institutionellen Ausprägung die prinzipielle Möglichkeit, nicht aber die faktische Fähigkeit haben, besser und schneller zu lernen als autoritäre Regime. Und die Geschichte von Aufständen, gewaltsamen Konflikten und Revolutionen ließe sich auch als „Geschichte einer ungenügenden internen Nachrichtenversorgung der gestürzten Regierungen“ schreiben.15 Der historische Kontext seiner Theorie wird von ihm selbst thematisiert. Es sind die Einflüsse seines Freundes Norbert Wiener, mit dem er nach seiner Flucht in die USA ab 1939 zusammen in Harvard mit Hilfe eines Stipendiums der amerikanischen Regierung studierten konnte. N. Wiener beschäftigte sich zu dieser Zeit mit Fragen der Nachrichten- und Informationsverarbeitung und hatte bereits 1948 sein bahnbrechendes Werk darüber verfasst. „Cybernetics or Control and Communication in the Animal and the Machine”16 untersuchte die Analogien bei der Informationsverarbeitung von Tieren und Maschinen. K. W. Deutsch übertrug viele dieser Ideen auf Kommunikationsprozesse in sozialen Organisatio-
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nen, insbesondere im politischen System, und dies fand seinen Niederschlag in seinem wichtigsten Werk, der ‚Politischen Kybernetik‘. Zugleich war ihm klar, dass der „gewaltige Aufstieg der elektronischen Nachrichtentechnik, der Computer und der automatischen Steuerungssysteme“17 die zentralen Anstöße für die Entwicklung seiner Theorie gegeben hatten. Außerdem stellte er fest, dass die herkömmlichen sozialwissenschaftlichen Theorien „im Übergang zu einer ganz andersartigen Epoche“18 an ihre Grenzen gekommen sind. Um nicht auf Irrationalismus oder reines Glück vertrauen zu müssen, gibt es nur einen einzigen Ausweg: Die Anwendung kybernetischer Steuerungsmodelle durch die Politik und eine aktive Gesellschaftsgestaltung. Ein für ihn wichtiges Novum erleichtert, ja ermöglicht erst eine solche Vorstellung – und das sind die Computer. Sie sind „Intelligenzverstärker“ und die gegenwärtige Herausforderung der Politik besteht darin, „unsere künstlich erweiterten Geisteskräfte und geistähnlichen Instrument sowie die Methoden wirkungsvoller Zusammenarbeit (…) zwischen Menschen und Maschinen (zu) verbessern.“19
Politik kann mit Hilfe der Computer ihren Blick erweitern, sie kann mehr, besser und anderes sehen, was sie ohne Maschinen nicht könnte und kann sich Aufgaben stellen, denen sie sich sonst nicht stellen würde. Zum ersten Mal in der Geschichte der politischen Theorien wird von K. W. Deutsch das Problem der Politik explizit als ein Problem der Information und Kommunikation analysiert, die neue Wege für eine rationale und zukunftsorientierte Gestaltung moderner Gesellschaften eröffnen könnten. „Dieses Buch vertritt die Auffassung, dass es nützlich sein könnte, den Regierungsprozess nicht so sehr als ein Problem der Macht, sondern eher als ein Problem der Steuerung zu betrachten, und es versucht zu zeigen, dass Steuerung im Grunde ein Problem der Kommunikation ist.“20
K. W. Deutsch macht sich über Probleme der Übertragung technisch-wissenschaftlicher Kategorien und Modelle auf soziale und politische Organisationen keine größeren Gedanken. Stattdessen stellt er apodiktisch fest, dass zwischen der Steuerung bzw. Selbststeuerung von Schiffen bzw. Maschinen und menschlichen bzw. sozialen Organisationen kein großer Unterschied besteht.21 Insofern wird von ihm das politische System in Analogie zu informationsverarbeitenden Maschinen konstruiert und in der Folge schreibt er alle zentralen Begriffe und Kategorien der Politik bzw. der Politikwissenschaft in dem Sinne um, als er sie informationstheoretisch reformuliert. Seine Sichtweise auf Politik formuliert er wie folgt: „Zur Politik gehört die Steuerung oder Manipulation menschlicher Verhaltensweisen mit Hilfe einer Kombination aus angedrohtem Zwang und gewohnheitsmäßiger Folgeleistung. (…) Politik ist als ein entscheidender Bereich des sozialen Lernens oder sozialer Entscheidungen zu verstehen, dank dieser Macht, andersartige Präferenzen zu verdrängen.
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10. Die Politik der Rationalität und ihr Scheitern Politik ist demnach ein entscheidendes Instrument zur Erzeugung, Erhaltung oder Veränderung sozialer Zweckbindungen.“22
Allen diesen Umkreisungen und kleineren Neuakzentuierungen des Politikbegriffs sind zwei Eigenschaften gemeinsam: Politik kann und soll verbindliche Entscheidungen treffen und diese mittels Macht durchsetzen, aber zugleich auch Lernen und Informationen verarbeiten, die eine laufende Anpassung an sich verändernde gesellschaftliche Kontexte möglich macht. Denn man muss fragen, „welche institutionellen Einrichtungen und welche Anreize vorhanden (sind), um Kritik zu ermutigen, sie an die Entscheidungsstellen heranzutragen und die Empfänglichkeit des Systems für jede Art von Kritik zu gewährleisten. Wie sehen die Lernreaktionen aus? (…) Welche Bestrebungen und Vorkehrungen sind im Gange, um das System vor Abgötterei fernzuhalten, den Rausch des Erfolges und die Vergötzung vergänglicher Verfahrensweisen und Institutionen zu vermeiden? Welche Maßnahmen oder Versuche werden unternommen, um zu gewährleisten, dass das System seine Empfänglichkeit für die Bedürfnisse von Außenstehenden und seine Bereitschaft, aus Veränderungen seiner Umwelt und aus seinen eigenen Quellen der Initiative zu lernen, nicht verliert?“23
‚Empfänglichkeit‘ – das ist ein Schlüsselbegriff bei K. W. Deutsch, denn nur wenn sie ausgeprägt ist kann das politische System seine verschiedenen Funktionen erfüllen und seine Autonomie bewahren. Autonomie eines (politischen) Systems ist bei ihm nicht als statischer Zustand gedacht, sondern als dynamischer Prozess der laufenden Anpassung an sich verändernde Umwelten. Ansonsten kommt es zur Selbstzerstörung des Systems. Dynamische Prozesse werden aber durch Regelkreise in Gang gesetzt und in Gang gehalten und Regelkreise sind auf einen laufenden Fluss von Informationen angewiesen. Drei Arten von Informationen sind für das politische System relevant: Zunächst Daten aus seiner Umwelt, die im System selektiert, verarbeitet und zur Entscheidungsfindung nutzbar gemacht werden. Dann Informationen aus der Vergangenheit, die das ‚Gedächtnis‘ des politischen Systems sind und in computerbasierten Speichern verschiedenster Art zur Verfügung stehen (können). Schließlich und drittens Informationen über den Zustand des politischen Systems selbst und seiner verschiedensten Komponenten. Diese werden von ihm metaphorisch als Bewusstsein des Systems über sich selbst beschrieben. Der Zugriff und die Verarbeitung der letzten zwei Dimensionen ist für das politische System und seine Autonomie zentral, denn sonst würde es in einem einfachen und unterkomplexen Reiz-Reaktions-Schema operieren, das keine Autonomie, sondern triste Abhängigkeit von der Umwelt realisiert. „Tatsächlich können wir Autonomie, die über die Ebene der einfachen Rückkopplung hinausreicht, als einen Prozess definieren, bei dem aus irgendeinem Speicher (und damit aus der Vergangenheit) entnommene Daten in die aktuelle Entscheidungsfindung einbezogen werden.24
Damit wird auch die Selbstorganisation des politischen Systems angesprochen, denn Autonomie bedeutet ebenfalls, seine internen Strukturen, also etwa die Ver-
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teilung der Kompetenzen, den Umfang der Ressourcen, den Modus der Informationsverarbeitung und -speicherung u. ä. zu variieren. Hierbei ist Rückkopplung eingeschlossen, denn die Autonomie ist ein „Kommunikationsnetzwerk, das auf eine Informationseingabe mit einer Tätigkeit reagiert, deren Ergebnis als Teil einer neuen Information auf das weitere Verhalten des Systems selbst zurückwirkt. Ein einfaches Rückkopplungsnetzwerk ist so gebaut, dass es auf ein von außen stehendes Ereignis (…) in bestimmter Weise reagiert (…) bis eine bestimmte Sachlage hergestellt ist (…). Solange die gesuchte Einstellung nicht vollständig erreicht ist, wird die Tätigkeit des Netzwerkes fortgesetzt.“25
Aber das politische System reagiert nicht nur auf Impulse von außen und variiert seine internen Strukturen entsprechend, sondern es kann durch die Erhöhung seiner Sensibilität für Umweltänderungen und durch Rückkopplungsprozesse seinen „Aktionsbereich auf eine wachsende Zahl von Umweltbedingungen ausdehnen“26 und so eine aktive und zukunftsorientierte Politik realisieren. K. W. Deutsch hat hierfür den Begriff des Lernens eingeführt, der genau diese internen Anpassungen zum Inhalt hat. Lernen kann bei ihm zwei Formen annehmen, das schöpferische und das pathologische Lernen. Pathologisch ist eine Lernleistung dann, wenn „eine Organisation etwas gelernt hat, wodurch ihre Fähigkeit, weiterhin zu lernen, und ihr eigenes Verhalten zu steuern, vermindert worden ist. (…) Pathologisch ist ein Lernprozess (mit entsprechenden Veränderungen der inneren Struktur), durch den die zukünftige Lernfähigkeit des Systems nicht erhöht, sondern vermindert wird.“27
Ein pathologischer Lernprozess tritt dann ein, wenn mindestens einer der drei (oben erwähnten) Informationsverarbeitungsprozesse gestört oder unterbrochen ist. Das politische System lernt dann nicht zu lernen, wenn es nicht mehr von einfachen Informationen aus der Umwelt versorgt wird, wenn sein Gedächtnis nicht mehr verlässlich ist oder wenn es über sich selbst keine Informationen mehr hat. K. W. Deutsch zählt insgesamt sechs Funktionsstörungen oder Formen des pathologischen Lernens auf, die hier im Detail nicht wiedergegeben werden müssen.28 Die wichtigste Funktionsstörung aber liegt vor, wenn das politische System seine Fähigkeit zur umfassenden oder fundamentalen Neuorganisation seiner selbst verloren hat. K. W. Deutsch hat hierfür verschiedene Begrifflichkeiten entwickelt – etwa die Fähigkeit zur Umstrukturierung, Persönlichkeitsveränderung, Reformation, Neugeburt, Konversion oder auch Revolution. Schöpferisches Lernen ist damit bereits thematisiert. Hier werden zusätzliche Begriffe eingeführt, wie etwa Kreativität, Schöpferkraft, Erfindungskraft oder schöpferische Intelligenzfunktion, die alle zur Bezeichnung dienen, dass das politische System aufgrund neuer Informationen seine internen Strukturen an äußere Änderungen – autonom – anpasst.29 Lernt das politische System schöpferisch, so steigert es seine Problemlösungskapazität und seine Anpassungsfähigkeit an systemexterne Entwicklungen. Hierbei sind sowohl neue Formen der Informations-
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verarbeitung relevant als auch interne Strukturveränderungen. Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen „der Fähigkeit eines politischen Entscheidungssystems, zur Bewältigung einer neuen Situation von Grund auf neue Verfahrensweisen zu erfinden und durchzuführen, und seiner Fähigkeit, einzelne Informationselemente zu einem neuen Muster zusammenzuführen, wodurch neue Lösungsmöglichkeiten geschaffen werden, die zwar unwahrscheinlich sind, aber relevant werden, sobald sie einmal aufgefunden und angewandt wurden.“30
Damit ist der Ausgangspukt erneut erreicht und der Begriff der Macht kommt wieder ins Spiel. Macht, besser: zu viel Macht hat derjenige oder diejenige Gruppe, die die Fähigkeit besitzt, den Informationsfluss auf allen erwähnten drei Ebenen zu unterbrechen bzw. einzuschränken. Dann dominiert die Fähigkeit, nicht lernen zu müssen und nimmt die verschiedensten Formen des pathologischen Lernens an. Man kann der Ansicht sein, dass bei K. W. Deutsch die Systeminteressen gegenüber den Interessen der Gesellschaftsmitglieder bevorzugt werden und damit eine Theorie der Politik entworfen wird, die die Bedürfnisse der verschiedensten Gruppen der Gesellschaft negiert oder zumindest in einen niedrigeren Rang versetzt.31 Dem steht seine Vorstellung entgegen, dass die politische Kybernetik in der Tradition einer radikalen Macht- und Herrschaftskritik steht, einer Tradition der „unsterblichen Vision einer letzten Endes zwangsfreien Welt“ – wie er selbst ausdrücklich betont.32 Deshalb gehen umgekehrt andere davon aus, dass die Bedürfnisse und Interessen der verschiedensten Gruppen der Gesellschaft im Mittelpunkt stehen, weil immer die Empfänglichkeit des politischen Systems hierfür und seine Fähigkeit, auf diese positiv zu reagieren und in seinen Entscheidungshorizont einzubeziehen, thematisiert werden. Der Ansatz sei deshalb machtkritisch, weil zu viel Macht genau die Fähigkeit der Anpassung an diese Probleme reduziert und das politische System zu machtvoll wird und in seinem eigenen Interesse agiert.33 Wie dem auch sei, K. W. Deutschs Theorie ist die erste, die umfassend und auf dem damals neuesten Stand der Informationstechnologie bzw. der Kybernetik alle Fragen der Politik und der politischen Steuerung neu definiert und zugleich eine optimistische Sicht der Politik formuliert. Sie kann lernen, sie kann die komplexen Probleme der Gesellschaft bearbeiten und sie kann angemessene Entscheidungen treffen, die eine Gestaltung dieser Gesellschaften in die Zukunft hinein ermöglichen. Vielleicht lässt sich K. W. Deutschs Vision in einer Paradoxie reformulieren: Die möglichst weitgehend Zurückdrängung von hierarchischer Herrschaft im Paradigma der totalen Kontrolle der Gesellschaft durch die neuen Informationstechnologien. Zeitgleich haben sich in Europa ähnliche Ideen entwickelt, die jedoch die Politik über Gebühr ent- und die neuen Technologien über Gebühr aufwerteten. Am radikalsten war sicherlich John M. Keynes. Er sprach – und dies nach dem Ende
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des Zweiten Weltkrieges – von der „Euthanasie der Politik“ durch eine umfassende Wirtschaftspolitik. 34 Er deutete – was immer er damit konkret gemeint haben mag – jedenfalls unmissverständlich an, dass die traditionelle Politik zum Sterben verurteilt sei. Der schwedische Politikwissenschaftler Herbert Tingsten vermutet Ähnliches und bezeichnet die Ökonomie bzw. die Technik als ‚Sterbehilfe‘, die die Politik zum Verschwinden bringt. „(D)a der allgemeine Wertestandard auf weitestgehende Zustimmung trifft, werden die Staatsfunktionen so technisch, dass sie die Politik wie eine Art angewandte Statistik aussehen lassen.“35 Damit war das Geheimnis ausgeplaudert: Daten, Informationen, Computersimulationen, rationalistische Gesellschafsmodelle etc., all das macht Politik als einen konflikthaften und umkämpften Prozess um verbindliche Entscheidungen überflüssig. Sie ergeben sich dann von selbst, werden damit technisiert und verlieren ihren Charakter als konflikthaftes Phänomen. Denn entscheiden kann man sich nur, wenn es etwas zu entscheiden gibt, man also den Graben der Ungewissheit überspringen und sich festlegen muss. Weiß man alles, so mutiert Politik zur (Regierungs-)Technik. Gesellschaftliche Probleme ließen sich dann – so die vorschnelle Vorstellung – rein technisch lösen, sofern man nur genügend Informationen und Daten zur Verfügung hat. Dann konvertierte alles auf eine Option: Die technisch eindeutige. Damit veränderte sich auch der Status der Zukunft. Sie wurde in einem bisher nicht gekannten Ausmaß verfügbar. Auch hier waren der Computer und mathematische Modellbildung die zentralen Techniken, um die Zukunft – zumindest auf den Bildschirmen der Computer – sichtbar zu machen. Sofern man den Blick darauf lenkte, konnte man die zukünftigen Situationen sehen, die durch Maßnahme X statt Maßnahme Y bedingt werden. Die Welt schien den Planern nun vollständig verfüg- und gestaltbar. Eine eigentümliche Situation: in dem Moment, in dem die Politik an ihrem Höhepunkt angelangt zu sein schien, wurde sie zu Grabe getragen. Es gibt nur noch Technik, Rationalität und wissenschaftlichen Konsens, keine Politik mehr. Dies ist der Zustand, den Keynes mit „Euthanasie der Politik“ gemeint hatte. Was die Einen als Erfolg, als Fortschritt feierten, das bedauerten die Anderen zutiefst. Diese anderen waren – nicht nur in Deutschland – die Konservativen. Sie sahen in der technologischen Entwicklung nicht den Fortschritt, nicht das Instrument der verbesserten politischen Planung, sondern das Ende des Staates heraufdämmern. Der souveräne Staat war bei ihnen die Instanz, die nicht nur über das Monopol der rechtmäßigen Gewaltausübung verfügte, sondern auch die alleinige Befugnis hat, über Recht und Unrecht zu entscheiden – „und das ohne Sanktionen im Fall eines Missbrauchs.“36 So jedenfalls sah es der konservative Staatsrechtler Ernst Forsthoff Anfang der 70er Jahre. Sanktionen oder gar Kritik am vom Staat gesetzten (Un-)Recht würde das Ende jeglicher Souveränität und damit den Beginn des Bürgerkrieges bedeuten. Souveränität war somit weitgehend
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identisch mit der Fähigkeit, eine Entscheidung, präziser: eine politische Entscheidung, autonom zu treffen. Diese im Kern antidemokratische Vorstellung war immer von der Angst inspiriert, dass der moderne Staat seine Souveränität im Prozess der Modernisierung verlieren könnte. Selbstlaufende gesellschaftliche und soziale Prozesse – bei E. Forsthoff „Realisationen“ genannt – waren nach dieser Sichtweise nicht nur problematisch, sondern geradezu selbstzerstörerisch.37 Insbesondere die soziale Realisation, die darauf ausgerichtet ist, die gesellschaftlichen und sozialen Zustände nach sozialen Aspekten umzugestalten, ist in den modernen Industriegesellschaften weitgehend abgeschlossen. Die technische Realisation dagegen erschien ihm als noch unabgeschlossener und äußerst destruktivter Prozess. Denn „der technische Prozess produziert sich um seiner selbst Willen.“38 Er hat keinen Sinn, kein Telos, erst recht keine politisch-staatliche Bedeutung und er kann nicht – wie die soziale Realisation – durch den Staat mittels politischer Entscheidungen begleitet werden. Stattdessen realisiert sich Technik wegen ihrer „ungeheuren Akzeleration und Intensitätssteigerung“ selbst und wird zur „stärkste(n) innenpolitische(n) Potenz.“39 Der Staat und die Politik können den technischen Prozess nicht mehr in seine Schranken verweisen, sondern sind ihm mehr oder weniger hilflos ausgeliefert.40 Das Zeitalter der Souveränität, besser: Des souveränen Staates, ist zu Ende gegangen. Parallel zu dieser eher düsteren Prognose konnte man eine optimistischere Entwicklung beobachten, die den Staat wieder in den Mittelpunkt rückte und ihm zentrale Aufgaben zumutete. Die Auferstehung des Staates war mit dieser Idee untrennbar verbunden, die zunächst als Planungstheorie startete, sich dann aber schnell zur politischen Steuerungstheorie mit ihren vielen Schattierungen entwickelte. Doch zunächst will ich mich mit einem skeptischen Zwischenruf beschäftigen, der die Politik in hochkomplexen modernen Gesellschaften auf eine des „Sich-Durchwurstelns“ beschränkt, die gleichwohl ein hohes Maß an Rationalität realisieren kann.
10.2. Vom „Sich-Durchwursteln“ zum nur noch „Wursteln“. Charles E. Lindbloms Konzept des „muddling through“ und seine Grenzen Die in der Überschrift verwendeten Formulierungen sind zwei Aufsätzen von Charles E. Lindblom entnommen, die nicht nur sein wissenschaftliches Wirken über einen Zeitraum von 20 Jahren bündeln, sondern zugleich die Veränderungen markieren, die sein Denken durchlaufen hat. Beide Aufsätze erschienen in der einflussreichen Zeitschrift „Public Administration Review“, der erste im Jahr 1959, der zweite 1979.41 Der Titel des ersten Aufsatzes war eine Provokation, weil er zwei auf den ersten Blick unvereinbare Vorstellungen zu einem widerspruchsfreien Paar bündelt. Sich-Durchwursteln ist weder wissenschaftliches
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noch rationales Vorgehen, sondern eher unbeholfen, dilettantisch, spontan oder intuitiv, während Wissenschaftlichkeit sich durch systematische Reflexion, methodisch abgesichertes Vorgehen und empirische Überprüfbarkeit auszeichnet. Aber eine Wissenschaft des Sich-Durchwurstelns? Schwer vorstellbar! Im Titel des zweiten Aufsatzes wird 20 Jahre später eine gewisse Resignation deutlich: Nicht einmal die von ihm analysierte Rationalität des Sich-Durchwurstelns kann die Politik realisieren; sie wurstelt, aber nicht mehr durch. Charles E. Lindblom hat aus der Kritik an den rationalistischen bzw. synoptischen Analysekonzepten eine Idee des politischen Entscheidens entwickelt, die er im Laufe der Zeit erheblich veränderte.42 In verschiedenen Ko-Autorenschaften hat er sie vielfältig erweitert und variiert. Aber immer kreist sein Denken um einen Kern: Wie kann man in modernen Gesellschaften, deren soziale Komplexität nicht mehr durchschaubar ist und in denen man immer unter begrenzter Rationalität entscheiden muss, trotzdem zu vernünftigen Entscheidungen kommen, die demokratisch legitimiert sind und das Potential der Politik trotz ihrer Beschränkungen im Sinne einer ‚guten’ Politik ausschöpfen? Damit stehen zwei grundlegende Fragen im Mittelpunkt. Wie kann man erstens rational damit umgehen, dass man angesichts der Komplexität und Undurchschaubarkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse keine rationalen Entscheidungen treffen kann? Sich Durch-wursteln ist in der Tat nicht einfach, sondern man braucht dazu eine Wissenschaft, weil sie Verfahren und Methoden bereitstellt, mit denen man sich rational durchwurstelt. Die zweite Frage beschäftigt sich damit, wie sich politisches Entscheiden von anderen Formen des Entscheidens abhebt und welche Vernunft ihm innewohnt. Es geht ihm um die „Intelligenz der Demokratie“43 und damit um die Frage, welcher Logik die politischen Entscheidungsprozesse in modernen Gesellschaften gehorchen und welche Form die ‚Vernunft‘ in diesen Entscheidungsprozessen annehmen kann und soll. Mit anderen Worten: Welche Rationalität kann demokratische Politik in ihren Entscheidungsprozessen realisieren? Der politische Entscheidungsprozess – so seine These – folgt einer ihm eigenen politischen Rationalität, die mit der rational-wissenschaftlichen Logik des Problemlösens nicht kompatibel ist. Auch wenn es wünschenswert wäre, den durch verschiedene Akteure mit verschiedenen Interessen und Normen dominierten politischen Entscheidungsprozess durch wissenschaftliche Ziel-Mittel-Analysen rationaler, zielgerichteter und effektiver zu gestalten, so ist Ch. E. Lindblom der Überzeugung, dass der Entscheidungsprozess nicht umstandslos und vollständig rationalisiert werden kann. Das heißt nicht, dass er irrational oder erratisch ist. Aber es heißt, dass es einer eigenen Wissenschaft bedarf, um rational mit der Unmöglichkeit rationalen Entscheidens umzugehen. Dies erfordert eine spezifische politische Vernunft, die im Vergleich zu anderen Entscheidungen eine spezifische Form annehmen muss.44 Damit stellt sich für ihn die grundlegende Frage:
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10. Die Politik der Rationalität und ihr Scheitern „If humans are not forever doomed to live with relatively undemocratic and relatively unintelligent policy making, it makes sense to inquire systematically into what stands in the way. ‘What interferes with intelligence and with popular control in attacking social problems?’ sounds like a straightforward question that ought to be easy to answer. It turns out to be a formidable task, requiring substantial rethinking of what social problem solving is all about.”45
Diese Diskussion führt mitten ins Zentrum seines Denkens, das sich um die kognitiven Grenzen des menschlichen Handelns generell und des politischen Entscheidens im Besonderen dreht. Die Auslösebedingungen für politisches Handeln sind bei Ch. E. Lindblom soziale Probleme, also politikexterne Faktoren. Im Gegensatz zu Konzepten einer aktiven Politik, die präventiv nach möglichen Problemlagen sucht und zukunftsorientiert agiert, ist inkrementalistische Politik stark reaktiv orientiert. Abwarten ist eine rationale Strategie, um aus der unüberschaubaren Anzahl von Ereignissen die zu identifizieren, die sich mit einer gewissen Dringlichkeit bemerkbar machen. Zudem hält Ch. E. Lindblom fest, dass Probleme nicht objektiv oder rationalistisch bestimmbar, sondern mehrdeutig sind. „At some point, the question of how to formulate a problem calls for an act of choice or will. Some ways to formulate complex social questions are surely more useful than others in a given situation, but there never is a single, clearly correct problem definition on which analysis can converge.”46
Und wer mehr Macht hat als andere, kann einem Problem eine höhere Dringlichkeit verleihen. Immer ist Politik damit konfrontiert, dass manche den Status Quo als Erfolg, andere dagegen als Misserfolg betrachten und je nach Position politische Entscheidungen einfordern oder nicht. „(P)oliticians and bureaucrats often serve as lenses through which are refracted diverse pressures, ideas, questions, problems, and policy options, emanating directly and indirectly from countless sources. This is not to deny that government officials have their agenda as well: They protect programs, build careers, increase their autonomy, promote certain visions of public interest, and sometimes enrich the own coffers. These goals they pursue by adopting to and using the flow of problems and policy ideas, information and political opportunities flowing through their domains.”47
Probleme sind Ausdruck spezifischer Interessen von identifizierbaren Gruppen und in modernen Gesellschaften ist die Politik einem endlosen Strom unterschiedlicher Probleme und Optionen ausgesetzt, die sie durch ihre eigene Brille (lenses bei Ch. E. Lindblom) betrachtet und dadurch neu definiert. Andererseits nutzt sie den endlosen Strom für ihre eigenen Ziele, indem sie – je nach Situation – sich bestimmte Probleme, Informationen, Optionen etc. zu eigen macht und in den politischen Entscheidungsprozess einführt. Eine dieser externen Quellen spezifiziert Ch. E. Lindblom und misst ihr eine besondere Bedeutung zu. Es ist die Ökonomie bzw. es sind ökonomische Entscheidungen, die „create certain classes of social problems when they can make a
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profit doing so“ oder „create significant pieces of the agenda for public policy making by government.”48 Diese Entscheidungen, seien es solche über die Wahl des Standortes für Investitionen, die Entlassung von ArbeiterInnen, die Umweltbelastung durch bestimmte Produktionsweisen u. ä., setzen externe Dynamiken in Gang, auf die Politik reagiert – in welcher Form auch immer. Auch soziale Ungleichheit oder der unterschiedlich ausgeprägter Zugang zur politischen Macht sind Faktoren, die bestimmte soziale Probleme hervorrufen. Die Ungleichheit der ökonomischen Ressourcen schlägt sich als Ungleichheit in den Repräsentationsund Einflussmöglichkeiten auf die Politik nieder. Da Politik auch die Interessen von Wählern berücksichtigen muss, muss sie diesen Interessen durch bestimmte Policies entgegenkommen.49 Aber wie geht nun Politik mit den bei ihr angemeldeten Anforderungen – und nicht ‚Problemen’ – um? Wie agieren PolitikerInnen, die angesichts der Komplexität der sie umgebenden (Um)Welt grundsätzlich mit begrenzten kognitiven Kapazitäten operieren? Zunächst geht Ch. E. Lindblom – in enger Anlehnung an Herbert A. Simon50 – davon aus, dass soziale Probleme so komplex sind, dass sie auch mit Hilfe von neuesten wissenschaftlichen Analysemitteln nicht vollständig durchdrungen werden können. Nie können Probleme eindeutig eingekreist, nie alle möglichen Alternativen systematisch zusammengestellt, nie die kausalen Beziehungen zwischen (sozialen) Ursachen und (politischen) Wirkungen exakt ermittelt werden. Die Analyse von ‚Problemen‘ kann bei ihm drei Formen annehmen. Zunächst die der strategischen Analyse, ein Begriff, der zum ersten Mal in seinem 1979er Aufsatz auftaucht. Sie wird als eine Art Meta-Rationalität konzipiert, deren zentrale Differenz zum rationalistischen Konzept darin zu sehen ist, dass sie zwischen „ill-considered, often accidential incompleteness on the one hand, and deliberate, designed incompleteness on the other“51 unterscheidet und sich für letzteres stark macht. Sie versucht eine realistische, gleichwohl erheblich vereinfachte Analyse der Gegebenheiten; aber im Gegensatz zu dem 1959-Artikel akzeptiert Ch. E. Lindblom hier strategische Schwerpunktsetzungen, die jedoch realistisch sein müssen.52 Anstatt einen Problemzusammenhang in seiner vollen Komplexität zu durchdringen, setzt die strategische Analyse darauf, einen zentralen Faktor zu identifizieren und diesen isoliert von allen anderen Faktoren zu analysieren. Der „disjointed incrementalism“ reduziert die Komplexität eines sozialen Problems durch folgende sechs Schritte weiter: •
Begrenzung der Analyse auf nur wenige, möglichst nahe beieinanderliegende Policyoptionen bzw. Sachverhalte, wobei eine mögliche Vorgehensweise die der einfachen inkrementalen Analyse ist (vgl. dazu unten): die Konzentration
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•
• • • •
10. Die Politik der Rationalität und ihr Scheitern
der Analyse auf die Optionen, die nur geringfügig vom Status Quo abweichen; enge Verbindung von normativen Zielsetzungen mit den empirischen Aspekten des Sachverhalts, weil es keine zwingende Notwendigkeit gibt, zuerst die normativ begründeten Ziele festzulegen und dann die möglichen Optionen bzw. Mittel zu ihrer Erreichung abzuwägen; Konzentration auf die Mängel und Korrektur bisheriger Policies statt Konzentration auf aktivistische, neue und weitreichende Ziele; Trial-and-error-Lernen; Begrenzung der Analyse auf nur wenige Optionen und deren wahrscheinlichsten und wichtigsten Folgen; Aufteilung der Analyse auf die verschiedenen Akteure des Policy-Making, wobei jede Partei/jedes Interesse seine spezifische Sichtweise in den Prozess einbringen soll.53
Der zentrale Unterschied zwischen einem rationalistischen Programm und disjointed incrementalism ist der zwischen nicht erwogener, oft zufälliger Unvollständigkeit und der erwogenen, bewussten Unvollständigkeit. Wichtig ist auch die Flexibilität oder „Fehlerfreundlichkeit“54 von ‚kleinen‘ Entscheidungen. Man kann sie ohne größere Kosten schnell korrigieren, sofern sich unerwünschte Folgen zeigen. So kann man auch lernen, das heißt falsche Annahmen korrigieren, neue bisher nicht bedachte Aspekte hinzufügen, unerwünschte Nebenwirkungen entdecken etc. Am politischen Prozess sind viele unterschiedliche Akteure mit unterschiedlichen Sichtweisen beteiligt und alle haben eine andere Auffassung über den zu bearbeitenden Sachverhalt. Diese Differenzen sind durch Argumentation und wissenschaftliches Wissen nicht zu überbrücken. Um entscheiden zu können muss man sich einigen, also das parteiliche Wissen verhandeln oder sich anpassen. In diesem Prozess entsteht neues Wissen, das einzelnen Akteuren auf Grund von Einseitigkeit, Interessiertheit oder auch unvollständigem Wissen nicht zur Verfügung steht. Aber nie werden Probleme wissenschaftlich oder rein sachlich definiert, sondern eingekreist, verhandelt, umdefiniert, neu interpretiert – und zwar solange, bis man sich geeinigt hat: So soll der Sachverhalt aussehen. Schließlich die „simple incremental analysis“, die weitgehend dem entspricht dem, was er in seinem ersten Aufsatz als „science of ‚muddling through’“55 bezeichnet hat. Die Methode, die er dort entwickelt, nennt er „successive limited comparisons.“56 Die für politische Entscheidungen unvermeidliche Vereinfachung „(...) is systematically achieved in two principle ways. First, it is achieved through limitation of policy comparisons to those policies that differ in relatively small degree from policies presently in effect. Such a limitation immediately reduces the number of alternatives to be investigated and drastically simplifies the character of the investigation of each. (...) The second method of simplification of analysis is the practice of ignoring im-
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portant possible consequences of possible policies, as well as the values attached to the neglected consequences.”57
Die Erkenntnis eines ‚Problems‘ geht also Hand in Hand mit seiner inkrementalistischen Bearbeitung durch politische Entscheidungen. (Soziale) Probleme sind selbst notorisch konflikthaft, sie sind immer umstritten und Ausdruck unterschiedlicher Interessen und Normen.58 Was ein politisch zu bearbeitendes Problem sein soll (und was keines), wird im politischen Prozess selbst geklärt, der immer eine Mischung aus Wissen und Macht ist und welches Wissen über ein Problem sich durchsetzt, ist letztlich eine Frage der Macht. Der politische Prozess selbst – dies ist Ch. E. Lindbloms zentrale Prämisse – ist eine eigene Form eines Erkenntnisprozesses, indem verschiedene Aspekte eines Sachverhaltes zusammentreffen, erörtert und abgewogen werden, indem auf die öffentliche Meinung Rücksicht genommen wird und indem man eher konsensorientiert agiert statt einen vorhandenen Plan hierarchisch durchzusetzen. Im Gegensatz zu den in der deutschen Politikwissenschaft prominent gewordenen Verhandlungssystemen setzt Ch. E. Lindblom auf eine andere Form der Interaktion: auf wechselseitige Anpassung bzw. gegenseitige Beobachtung.59 Was ist nun ‚partisan mutual adjustment‘60? Ch. E. Lindblom definiert etwas lose: „A set of decisions is coordinated if adjustments have been made in it such that the adverse consequences of any one decision for other decisions in the set are to a degree and in some frequency avoided, counterbalanced, or outweighed.”61
Hierzu bedarf es keiner hierarchischen Koordination(sstelle), sondern solche Anpassungsprozesse vollziehen sich spontan, ohne Eingriffe von Instanzen, ohne gemeinsamen Zweck, ohne gemeinsame Präferenzen und ohne formale oder informelle Verhandlungssysteme.62 In solchen Situationen können sich die Akteure nur noch gegenseitig beobachten und abschätzen, was die eigenen Handlungen bei den Anderen auslösen und welche möglichen Handlungen als Reaktion auf die eigenen erfolgen könnten. Im Gegensatz zu (formalisierten) Verhandlungen, die zeit- und damit kostenintensiv sind, aber durch verbindliche Vereinbarungen ein hohes Maß an Erwartungssicherheit garantieren, ist gegenseitige Anpassung weniger verbindlich und erwartungssicher. Gleichwohl operieren alle Akteure auf der Basis von einigermaßen robusten Erwartungen. Was bedeutet das aber nun für den Policy-making-Prozess? Zunächst: wenn eine Policy durch wechselseitige Anpassung hervorgebracht wird, kann man sie keinem einheitlichen Akteur mehr zuordnen und sie wird auch nicht kohärent, rational oder problemlösend sein. Stattdessen entstehen Policies „through complex and reciprocal relations among all the bureaucrats, elected functionaries, representatives of interest groups, and other participants. The outcome may be unpredictable, not fully intended by one of the individuals who participated. It nevertheless may be a great deal more intelligent and even more democratic than normally achieved
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10. Die Politik der Rationalität und ihr Scheitern through hierarchical coordination efforts, in the sense that a greater diversity of consideration often are brought to bear, and in the sense that no one set of participants can readily dominate others. Given all the obstacles facing centralized coordination, a high percentage of effective coordination done in any government bureaucracy actually is achieved through decentralized mutual adjustment. That is not to say that sufficient coordination thereby is achieved.”63
In späteren Schriften betont Ch. E. Lindblom jedoch, dass der politische Prozess und damit auch seine Erkenntnismöglichkeiten zu selektiv und einseitig sind, weil bestimmte politische Gruppierungen aus der sozialen Interaktion ausgeschlossen sind und deshalb Macht zu einer zentralen Kategorie wird. Vor allem die großen Interessengruppierungen sind in der Lage, kleinere auszuschließen. Der Begriff der wechselseitigen Anpassung bezeichnet nicht nur einen komplexen Prozess, er umfasst zugleich eine weite Spannbreite verschiedener politischer Praktiken, mittels derer diese Anpassungen erfolgen. Die oben erwähnte Beobachtungskonstellation ist – um dies klarzustellen – allein eine von vielen Möglichkeiten. Aber der grundsätzliche Sachverhalt bleibt unumstritten: Dass der politische Prozess selbst ein Erkenntnisprozess ist, der eine eigene Form der Erkenntnis, nämlich politisches Wissen, produziert, das dem wissenschaftlichen Wissen überlegen und vor allem entscheidungsorientiert ist und mit dem Inkrementalismus als Strategie des politischen Wandels oder von Reformpolitiken übereinstimmen kann.64 In der Regel wird dem „Sich-Durchwursteln“ ein langsames Vorgehen unterstellt, das nur geringe Abweichungen vom Status Quo erlaubt und eine konservative Grundhaltung begünstigt. Aber er betont völlig zu recht, dass „a fast-moving sequence of small changes can more speedily accomplish a drastic alternation of the status quo than can an only infrequent major policy change. (…) Incremental steps can be made quickly because they are only incremental. They do not rock the boat, do not stir up great antagonisms and paralyzing schisms as do proposals for more drastic change.”65
Die Kosten für große Schritte, das wird häufig übersehen, sind erheblich höher und die damit verbundenen Widerstände von Opposition und Interessengruppen ebenfalls. Policy-Making ist deshalb bewusst inkrementalistisch, d. h. schrittweise, vorsichtig, selektiv, sektoral und verzichtet auf den großen Wurf bzw. die Umsetzung eines radikalen Programms des Wandels. Aber der Verzicht auf ein umfassendes Programm des radikalen Wandels schließt radikalen Wandel durch viele kleine Schritte nicht aus. Die Ursachen für politischen Wandel sucht Ch. E. Lindblom nicht nur in externen Faktoren, wie etwa Schocks, dramatischen Ereignissen, ‚focusing events‘ etc., sondern vor allem in den der Politik endogenen Faktoren. Es sind vorwiegend Konstellationen der Machtverteilung, die darüber entscheiden, was auf die politische Tagesordnung kommt und was nicht. Zudem betont er, dass Verbesse-
10.2. Vom „Sich-Durchwursteln“ zum nur noch „Wursteln“
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rungen des politischen Entscheidungsprozesses nicht durch wissenschaftliche Methoden, neue Techniken, den Einsatz von Computersimulationen etc., zu erreichen sind. Politik hat vielmehr ihre eigene, hochkomplexe Handlungslogik, die durch formale Techniken und rationale Analysen nicht außer Kraft gesetzt werden kann. Wenn eine Gesellschaft also „in ihren Problemlösungen stärker von sozialen Interaktionen als vom Intellekt abhängt, dann wird sie bestimmten zentralen Interaktionsmustern einen hohen Wert beimessen – als seien die Interaktionen bereits Ziele an sich, nicht nur Mittel. (...) Eine schlechte Politik (im Sinne einer Policy, F.W.R.) wird dann gut mit dem Argument verteidigt werden können, sie sei das Ergebnis eines Prozesses, in dem jedermann gehört wurde.“66
Ob eine Policy also gut oder schlecht ist, ist eine Frage des Standpunktes und der unterscheidet sich in einer pluralistischen Gesellschaft erneut von Akteur zu Akteur, die jeweils unterschiedliche Maßstäbe anlegen. Eine Policy ist nach Ch. E. Lindblom dann gut, wenn die Meinungsführer einer Gesellschaft sie für gut befinden. Dies ist sicherlich kein klarer, ja sogar ein beunruhigender Maßstab, der hier angelegt wird. Aber da es neben den Meinungsführern immer auch eine oppositionelle Meinung gibt, bleibt die Diskussion darüber prinzipiell unabgeschlossen. Dem Konzept ist erhebliche Kritik entgegengebracht worden, ich will mich allein auf vier zentrale Punkte konzentrieren.67 Zunächst mangelnde oder keine Zielorientierung. Es sei eine reaktive ‚Feuerwehrpolitik’, die nur dann auf den Plan trete, wenn es irgendwo brennt, aber keine Brandverhütung im Sinne einer vorausschauenden und präventiven Politik betreiben kann.68 Diese Positionen übersehen, dass viele kleine Schritte in die gleiche Richtung in ihrer Summe sehr wohl die Realisation eines größeren und zukunftsorientierten Projekts anpeilen können. Dann wird dem Konzept ein inhärenter Konservatismus unterstellt, weil der Inkrementalismus systematisch neue Ideen und progressive Konzepte unterschätzt und eine gegebene Machtverteilung im politischen Prozess begünstigt und andere Interessen benachteiligt.69 Das Gegenargument kommt von Ch. E. Lindblom selbst: Der Inkrementalismus legt sich auf keine politische Richtung fest, weder auf eine konservative noch auf eine progressive, vielmehr „could (it) equally well be used to travel toward complete laissez faire or toward pervasive governmental regulation of the economy.”70 Zudem wird dem Konzept ein Normalismus unterstellt, der nur in einer relativ stabilen Umwelt plausibel ist, aber in krisenhaften und zugespitzten Situationen äußerst gefährlich werden kann. Gerade in Krisensituationen sind politische Entscheider mit der Erwartung von schnellen Entscheidungen konfrontiert und man ist eher bereit, die damit verbundenen Unsicherheiten und hohen (Folge)Kosten zu tragen71. Entscheidungen über Krieg und Frieden (wie etwa nach dem 11. September) oder schnelle Eingriffe bei Finanz- oder ökonomischen Krisen mögen als Beispiele gelten. Dies ist ein wichtiges Argument – aber entschei-
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den dann Regierungen wirklich anders oder sollen sie anders entscheiden? Empirische Beobachtungen legen den Schluss nahe, dass gerade in Krisensituationen Regierungen so lange wie möglich mit ihren Entscheidungen warten und zudem möglichst viele verlässliche Informationen suchen, weil die Unsicherheit und das Risiko erheblich sind. Dann nehmen Entscheidungen doch eher den Charakter von inkrementellen Schritten an.72 Der letzte Einwand ist vielleicht der interessanteste, ja relevanteste: Der Schwellen- bzw. der Schläfereffekt. Das Argument des Schwelleneffekts unterstellt, dass auch inkrementelle Schritte ab einem bestimmten Zeitpunkt zu einem Umkippen in dem Sinne führen können, dass die Wirkungen nicht mehr inkrementell, sondern massiv sind. Oder dass ein inkrementeller Schritt in einem Bereich zu massiven Folgewirkungen in anderen führt. Der Schläfereffekt tritt dann ein, wenn die Wirkungsketten von inkrementellen Veränderungen erst nach langen Zeiträumen sichtbar werden. Man macht dann viele kleine Schritte (womöglich in die falsche Richtung), bevor der Rückkopplungseffekt eintritt, der Lernen, Anpassung und schnelle Korrekturen ermöglichen soll und die Fehlerfreundlichkeit des Konzepts ausmacht.73 Ist diese Sicht bereits außerordentlich skeptisch gegenüber den Möglichkeiten einer plausiblen Gestaltung der Gesellschaft durch Politik, so ist der nächste Autor noch skeptischer.
10.3. Warum man mit der Politik die Zukunft sehen kann und dennoch nicht zu Frauen kommt. Die Verabschiedung der Idee der politischen Steuerung durch die Systemtheorie Politik, so hat Niklas Luhmann einmal festgehalten, ist „kein Vergnügen, hat wenig damit zu tun, wie man Vorräte sammelt, sich wärmt, sich bildet oder zu Frauen kommt. Das politische Handeln hat sich im Großen und Ganzen auf den Umgang mit Worten und Symbolen bestimmter Art spezialisiert.“74 Dies hatte er in einer Vorlesung im Jahr 1968 formuliert, die erst 2010 als „Politische Soziologie“ erschienen ist.75 Zwanzig Jahre später ist N. Luhmann auf diese Frage zurückgekommen. Ich hatte bereits oben erwähnt, dass auf dem Kongress der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft (DVPW) im Jahr 1988 in Darmstadt von deren Vorstand ein Streitgespräch zwischen Niklas Luhmann und Fritz W. Scharpf organisiert wurde. Das Thema: Ist politische Steuerung in modernen und ausdifferenzierten Gesellschaften möglich oder nicht? Welche Bedeutung hat hierbei die Politik und wie wird sie in diesem Kontext thematisiert? Beide Beiträge konnten sich nicht aufeinander beziehen, weil sie dem jeweils anderen im Vorwege nicht zugänglich waren. Aber beiden war die Position des jeweils anderen aus der Literatur bekannt. Luhmann hatte das Privileg (vermutlich wegen seiner alphabetischen Vorrangstellung), mit seinem Beitrag das Streitgespräch
10.3. Warum man mit der Politik die Zukunft sehen kann
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zu beginnen. Wie nicht anders zu erwarten, begann er provokativ und konnte sich deshalb auch extrem kurz fassen. Nur fünf Seiten umfasste sein später gedruckter Diskussionsbeitrag.76 Was waren seine zentralen Argumente? Seine grundlegende Prämisse war selbstverständlich systemtheoretisch-kybernetisch inspiriert. Steuerung kann sich nicht auf ein Außen beziehen, sondern immer nur auf ein Innen, es kann nur von „systeminternen Verhältnissen die Rede (sein).“77 Am Beispiel eines Thermostates erläutert er diese Grundidee: Erreicht die Raumtemperatur die eingestellte Größe, so schaltet der Thermostat die Heizung ab – solange, bis der eingestellte Wert unterschritten und die Heizung erneut einschaltet wird. Was ‚draußen‘ passiert, spielt keine Rolle. Der Thermostat – so meint man normalerweise – kontrolliert die Temperatur. N. Luhmann wendet nun ein: Man könnte mit dem gleichen Recht behaupten, die Temperatur kontrolliert den Thermostat, weil sie das An- oder Abstellen der Heizung veranlasst. Damit kommt es zu einem „zirkulär geschlossenen System“78, sofern man die Perspektive eines Beobachters zweiter Ordnung einnimmt. Aber bei beiden Sichtweisen wird deutlich, um was es geht: Es geht um „Differenzminderung“, um die „Verringerung eines Unterschiedes“79, der sich zwischen einem Soll- und einem Istwert aufgetan hat. Die tradierte Zweckorientierung lässt sich mit diesem Begriffsapparat reformulieren. Ein Zweck kann dann als Differenz gedacht werden, die eintritt, wenn man den Status Quo belassen würde im Vergleich zu der zweckgerichteten Handlung, die ihn verändert und eine Differenz verringert. Das Problem der Zeit, das in seinen späteren Theorien an Bedeutung gewinnen wird, ist bereits hier wichtig. System und Umwelt(en) existieren und operieren gleichzeitig, es gibt in keinem der beiden einen zeitlichen Vor- oder Nachlauf. Will man ein System steuern und dessen Zukunft durch bestimmte politische Maßnahmen verändern, so kann man sich nur auf die aus der Vergangenheit oder der Gegenwart abgeleiteten Maßnahmen stützen, die gleichwohl immer als „Trennereignis“80 fungieren und eine Differenz zwischen Gegenwart und Zukunft markieren. Das Verhältnis zwischen dem (steuernden) System und der Umwelt unterliegt stetigem und unkalkulierbarem Wandel und zukünftige Zustände lassen sich nicht rational ansteuern. Zudem wird die Zukunft mit den Semantiken des Risikos und der Unsicherheit in Verbindung gebracht, die ebenfalls das Unbestimmte und Nichtkalkulierbare der Zukunft verdeutlichen. Daraus ergeben sich zwei grundlegende Steuerungsprobleme. Zunächst ergibt es sich aus der Gleichzeitigkeit selbst, denn „während man steuert, also die entsprechende Operation aktualisiert, passiert gleichzeitig milliardenfach schon etwas anderes, das man, weil gleichzeitig, weder erkennen noch kausal beeinflussen kann.“81 Zweitens ist ein steuerndes System darauf angewiesen, „sich selbst und die Umwelt als zeitlich different, als zukünftig different zu denken. Anderenfalls würde es erlöschen wie das Auge, das Gott ansieht.“82 Denn ohne diese Differenz würden System und Umwelt identisch.
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Gegenüber der Zeitproblematik, die zugleich auch eine Informationsproblematik ist, ist die tradierte Handlungstheorie hilflos. Sie kann auf die System-Umwelt-Dynamiken keine Antwort geben und die hochkomplexen und nicht-kausalen Dynamiken zwischen System und Umwelt nicht abbilden bzw. handlungstheoretisch reformulieren. Auch die Computerisierung der Informationsaufbereitung und -verarbeitung kann hier nicht weiterhelfen, weil immer mehr Daten zu einer „immer größeren Macht der Vergangenheit über die Gegenwart“ führen.83 Insgesamt ist der Handlungstheorie – dies richtet sich bereits explizit gegen F. W. Scharpf – „schlicht vollständiges Versagen vorzuwerfen; (…) sie ist nicht nur angesichts der Komplexität der Kausalverhältnisse hilflos und muss hier auf die Notlüge der unvorhergesehenen Effekte zurückgreifen.“84 Die Idee der Steuerbarkeit unterstellt simple Subjekt-Instrumente-Objekt-Beziehungen, die in modernen und differenzierten Gesellschaften nicht gegeben sind. Am Ende seines Vortrages formuliert er dann explizit gegen F. W. Scharpf. Die Handlungstheorie mag sich zwar als Sprache, als „öffentliche Phrasierung der Politik selbst eignen“85, weil sie zielgerichtete Steuerung vortäuscht und so auf die „Einfachheit“ der Situation des Wählers zugeschnitten ist. Aber diese „politikfähige Sprache, (…) mag sie im Einzelnen auch noch so ‚scharpfsinnig‘ entwickelt werden“, kann zu einer „Theorie gesellschaftlicher oder politischer Steuerung (…) nichts beitragen.“86 Was aber die Semantik der politischen Steuerung kann, ist „Signale zu setzen und Signale zu revidieren und die davon ausgehenden strukturellen Effekte nur noch als Anlass für weitere Signale zu beobachten. Im Grenzfalle befindet man sich damit in einer Disco, in der flackernde Licht- und Geräuschsequenzen über die Anwesenden hinweggleiten, die sich langweilen und nach anderen Ausschau halten.“87
Dieses Bild ist drastisch, aber es gibt seine Auffassung gut wieder: Die Politik (und manche Politik- und Sozialwissenschaftler) mag im Einzelnen noch so ‚scharpfsinnige‘ Steuerungssignale in die Gesellschaft aussenden, die Gesellschaft und ihre jeweiligen Teilsysteme langweiligen sich hierbei und halten nach etwas interessanterem Ausschau. Die hier im Streitgespräch mit F. W. Scharpf auf dem Politologenkongress formulierte Position hat N. Luhmann in vielen Anläufen weiter präzisiert, variiert und die prinzipielle Unmöglichkeit der zielgerichteten Steuerung der modernen Gesellschaften immer neu und verschärft betont. Die Konzeption der (relativen) Autonomie des politischen Systems schwankt in N. Luhmanns Systemtheorie, aber in seinem zuletzt publizierten Werk über die „Politik der Gesellschaft“88 unterstellt er dem politischen System eine operative Geschlossenheit, die eine autopoietische Politik zur Folge hat. Hier hat N. Luhmann, bereits von Krankheit gezeichnet, alle bisherigen Positionen zusammengefasst, zum Teil modifiziert und an vielen Stellen radikalisiert. Er hatte diese Schrift bereits Ende 1996 abgeschlossen, bevor er sein Hauptwerk „Die Gesellschaft der Gesellschaft“ verfasste
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bzw. beendete. Grundlegend Neues enthält seine Schrift über die Politik nur wenig, aber die Zeit des Entscheidens und das Entscheiden in der Zeit erfährt einen völlig neuen Stellenwert, der in dieser Radikalität in den bisherigen Schriften nicht vorkam.89 Zudem bekommt die Diskussion der Zeit eine zeitdiagnostische Schlagseite, während er vor dieser Schrift die Zeit fast immer nur als strukturelles bzw. funktionalistisches Phänomen betrachtete. N. Luhmann konstatiert, dass sich die Bedingungen des politischen Entscheidens aus internen und externen Gründen „radikal“ geändert haben. Und die externen wie internen Gründe sind zeitbedingt und kommen Ende des 20. Jahrhunderts besonders zum Tragen. Die zentrale Passage liest sich wie folgt: „Statt zielorientierter Politik geht es immer mehr um zeitorientierte Reaktivität. Die Entscheidungsprobleme verlagern sich damit aus der Dimension des Sachlich-Richtigen (über das ohnehin nur ‚politisch‘ geurteilt werden kann) in die Zeitdimension. Schnelligkeit und Flexibilität werden zu vorherrschenden Anforderungen, und eben deshalb werden Kompromissbereitschaft und Konsens als Verständigungsformen des Augenblicks großgeschrieben. Die Nichteinlösung von Wahlversprechen ist gleichsam strukturell vorgesehen – allein deshalb schon, weil die Situation vor der Wahl eine andere ist als die nach der Wahl.“90
Es geht ‚immer mehr‘ um zeitorientierte Reaktivität im Vergleich zu früheren Zeitpunkten. ‚Immer mehr‘ heißt nicht ausschließlich, aber dominierend und – in der Zukunft – immer noch mehr als momentan. Die externen wie internen Gründe für eine „opportunistische, prinzipiell prinzipienlose Temporalisierung“91 sind vielfältig, aber er erwähnt einige Beispiele: „Die gesellschaftliche Umwelt des politischen Systems hat sich Dank der Dynamik des globalisierten Wirtschaftssystems, Dank der täglichen Neuigkeitsproduktion der Massenmedien, aber auch Dank der vermehrten Dotierung der Bevölkerung mit anspruchsvollen, langjährig verdienten Bildungsabschlüssen destabilisiert.“92
Das also sind die äußeren Bedingungen, wobei die Erwähnung der Bildungsabschlüsse interessant ist. Man hätte durchaus auch andere Faktoren erwähnen können, wie etwa steigende Ausgaben für wohlfahrtsstaatliche Leistungen, aber offensichtlich impliziert Luhmann mit Bildungsabschlüssen eine gestiegene Renitenz der Bevölkerung, die sich von der Politik nicht so leicht etwas vormachen lässt. Die Umwelt wird nun „als chaotisch, als bestimmt durch nichtlineare Dynamiken und unberechenbare Wechselwirkungen erfahren. Folglich muss man auf unvorhergesehene Konstellationen schnell reagieren können.“93
Auch in solchen Kontexten dominiert das Moment der Geschwindigkeit – man muss schnell sein. Auch das reaktive Moment wird betont: Man muss schnell reagieren, weil sich die Umwelt chaotisch, unvorhersehbar und nicht-linear entwickelt. Diese Dynamiken können von der Politik nicht aktiv und erst recht nicht zielgerichtet gesteuert, sondern nur noch reaktiv bearbeitet werden. Wie reagiert
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nun das autonome und selbstreferentiell operierende politische System auf diese Dynamiken? Auch hier ist N. Luhmann eindeutig. Die innere Unruhe entsteht dadurch, dass nicht mehr der Staat allein, sondern politische Parteien, Interessengruppen, politisch agierende Wirtschafts- und Berufsverbände, Neue Soziale Bewegungen etc., in der Politik ebenso auftauchen wie die politische Presse. Sie alle sorgen für ein „unkoordinierbares Wirrwarr von Impulsen, die Reaktionen herausfordern.“94 Erneut betont er das reaktive Moment des politischen Entscheidens, das zugleich eine Eigendynamik im politischen System erzeugt, das sich „mehr und mehr von der ohnehin nicht kontrollierbaren Umwelt ablöst und selbständig ‚Politik treibt‘.“95 Wieder haben wir die Vorstellung eines in seiner Bedeutung zunehmenden Phänomens, das dann in der Weberschen Formulierung endet, dass Politik sich zunehmend verselbständigt und dann ‚selbständig‘ Politik treibt. Das politische System wird zur Getriebenen der Verhältnisse, aber reagiert gleichwohl immer in seiner eigenständigen Systemlogik. Verständigungen und Kompromisse werden zu „temporären Entscheidungen“, die ein eigenes Davor und Danach haben und mit „Begriffen der rationalen Wahl (kaum) beschrieben werden können.“96 Die prinzipielle Unkontrollierbarkeit der Umwelt muss das politische System „aus der Sachdimension in die Zeitdimension“ übersetzen und die Unkontrollierbarkeit wird dann als „Instabilität der Verhältnisse im Zeitlauf und speziell als Unbekanntsein der Zukunft repräsentiert. Und darauf antwortet das politische System mit der Bereitschaft zur Oszillation.“97
Zeit hat noch eine weitere Bedeutung als Zeitpunkt. Entscheidet man sich zu einem bestimmten Termin, so unterbricht man den kontinuierlichen Lauf der Dinge und trennt Vergangenheit und Zukunft. Man konstruiert eine neue Zukunft, indem man eine Differenz in sie hineinprojiziert, eine Differenz, die den Unterschied ausmacht zwischen dem Laufenlassen der Dinge und der politischen Entscheidung, die den Lauf der Dinge ändert. Die Zukunft und die durch die politische Entscheidung geschaffene Welt ergibt sich nicht einfach so, sondern muss konstruiert werden. Und solche Konstruktionen sind vom politischen System konstruierte Konstruktionen. Jede Entscheidung setzt eine neue Geschichte in Gang, deren Geschichte durch weitere Entscheidungen immer neu geschrieben werden kann. Dadurch wird Geschichte unbestimmt und unprognostizierbar, weil von den vielen und kontingenten Möglichkeiten ihrer Gestaltung über eine entschieden wird, die auch eine andere hätte sein können. Man kann dann – das ist N. Luhmanns Schlussfolgerung – die Zukunft durch die Brille der Politik beobachten. „(…) die Möglichkeit, Politik zu beobachten, (bietet) einen Ersatz für die verbaute Möglichkeit, Zukunft zu beobachten. Das Unbekanntsein, die Unbeobachtbarkeit der Zukunft ist deshalb die Bedingung des hohen Aufmerksamkeitswertes der Politik. Das könn-
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te nicht zuletzt erklären, dass die Beobachtung der Politik zwischen Vertrauen und Misstrauen oszilliert. Keine der beiden Möglichkeiten kann prinzipiell ausgeschlossen werden, da die Politik gleichsam als Statthalter der verborgenen, unerkennbaren Zukunft funktioniert.“98
Politik als Statthalter der Zukunft – dadurch wird bei N. Luhmann die Politik zum Fernglas, durch das man die ansonsten nicht erkennbare und verborgene Zukunft sehen kann. Die unkontrollierbaren Dynamiken der externen Umwelt haben weitere Folgen: Politische Reaktivität führt unvermeidlich zu einer „strukturell bedingten Instabilität von Präferenzen“99, weil beispielsweise Veränderungen der ökonomischen Rahmenbedingungen bestimmte Optionen als nicht mehr finanzierbar erscheinen lassen, die deshalb variiert werden müssen. Politisches Entscheiden ist eine besondere Funktion, eine besondere Tätigkeit (sofern man es nicht-systemtheoretisch, sondern handlungstheoretisch formulieren will) innerhalb eines breiteren Politikbegriffes, den die Systemtheorie in verschiedenen Variationen bereithält. Die Luhmannsche Politikdefinition variiert, aber als Kern aller seiner Definitionen könnte man formulieren, dass Politik die Bereitstellung der Kapazitäten für kollektiv bindendes Entscheiden ist.100 Unter welchen Bedingungen Entscheidungen getroffen werden, ist bereits oben dargestellt worden. Bindung stellt darauf ab, dass diese Entscheidungen zunächst nicht mehr in Frage gestellt werden können, sondern als Grundlage für weitere Entscheidungen gelten, die die vorher getroffenen Entscheidungen dennoch abändern können. Kollektiv bindend heißt zudem, dass die Entscheidung für alle gilt, für die potentiellen Adressaten einer Entscheidung ebenso wie für die Entscheider selbst. Die Bindung muss unabhängig von der Rationalität der Entscheidung, ihrem normativen Gehalt und ihrem ökonomischen Nutzen gelten. Schließlich bedeutet das Bereithalten der Kapazität für Bindung, dass man mit dieser Kapazität rechnen kann, auch wenn sie im Moment nicht benötigt wird. Es bedeutet aber auch – das wird in den neueren Schriften weniger betont – die Bereithaltung von Durchsetzungskapazitäten, letztlich auch den Einsatz legitimer physischer Gewalt, auch wenn diese eher in Ausnahmesituationen und nicht im politischen Alltag angewendet wird. Aber diese Gewalt ist als Kapazität im Hintergrund stets präsent, sie lugt aus den Ritzen der Politik und des Staates. Man bekommt eine etwas breitere Fassung von „Politik“ – N. Luhmann setzt hier die Politik in Anführungszeichen –, wenn man sie „als jede Kommunikation bezeichne(t), die dazu dient, kollektiv bindende Entscheidungen durch Testen und verdichten ihrer Konsenschancen vorzubereiten. Solche Aktivität setzt voraus, dass sie selbst noch keine kollektiv bindenden Wirkungen hat, aber sich gleichwohl dem Beobachtetwerden und damit einer gewissen Selbstfestlegung aussetzt.
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10. Die Politik der Rationalität und ihr Scheitern Meinungsänderungen bleiben möglich, aber sie müssen gegebenenfalls erklärt werden.“101
Politische Kommunikation zum Verdichten und Testen, aber auch zum Lavieren und Fluktuieren, setzt Organisation voraus. Politische Parteien, politische Öffentlichkeit, aber auch Interessengruppen oder die Verwaltung sind hierfür die zentralen Organisationen. Es sind (organisierte) Aktivitäten, die sich an den Dynamiken der politischen und öffentlichen Meinungsbildung orientieren und sie in Bewegung halten. Die Umwelt der Politik entzieht sich der gezielten Steuerung und sie selbst entwickelt sich eher spontan, unkontrolliert, überraschend, wenig zielorientiert und variiert im Zeitverlauf. Politik ist also kein Vergnügen, man kann sich nicht an ihr erwärmen, noch sich bilden, noch zu Frauen kommen, aber man kann durch sie wie in einem Fernglas die Zukunft beobachten; allerdings nur die, die mittels der intern geschlossenen Kommunikationsdynamiken der Politik konstruiert wird – aber immerhin.
10.4. Die Idee der politischen Steuerung und ihr Scheitern Im vorangehenden Kapitel wurde bereits auf das Streitgespräch zwischen N. Luhmann und Fritz W. Scharpf verwiesen, in dem letzterer die Gegenposition zu N. Luhmann formulierte. Was waren damals seine zentralen Argumente für die prinzipielle Möglichkeit der zielgerichteten politischen Steuerung in den modernen, funktional differenzierten Gesellschaften? Zunächst bestätigt F. W. Scharpf die von N. Luhmann angesprochenen Schwächen der Handlungstheorie, hält diese aber für überwindbar. „Politische Steuerung als Chance der zielstrebigen Selbstveränderung des Gemeinwesens lässt sich ohne Rückgriff auf Subjekte des politischen Handelns nicht konzipieren.“102 Hier wird der Steuerungsbegriff eigentümlich verwendet, indem er als Selbstveränderung des Gemeinwesens definiert wird und nicht als der Versuch eines Systems, konkret dem steuernden politischen System, die Dynamiken anderer Systeme (oder auch Akteure) nach bestimmten Zielen bzw. Vorgaben zu verändern. Aber zentral ist nun, dass er vorschlägt, mit einer deutlichen „Unterscheidung zwischen handlungsfähigen personalen oder sozialen Systemen – d. h. Akteuren – auf der einen und handlungsprägenden sozialen Systemen – u. a. gesellschaftlichen Teilsystemen – auf der anderen Seite“ zu operieren.103 Die Identität eines Akteurs, also seine Handlungsfähigkeit, kann nicht umstandslos vorausgesetzt werden, sondern ist das Ergebnis eines komplexen und kontingenten Prozesses des „Selbst-Managements.“104 Was für individuelle Akteure gilt, hat erst recht Bedeutung für kollektive oder korporative Akteure. Aber dies setzt die Steuerungstheorie nicht voraus, sondern betrachtet es als „ungesicherte Handlungsfähigkeit“, die nicht nur immer wieder neu hergestellt werden muss, sondern auch
10.4. Die Idee der politischen Steuerung und ihr Scheitern
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zum Bezugsproblem einer Theoriebildung gemacht werden kann.105 Steuerungsfähigkeit ist demnach das Ergebnis der Interaktion verschiedener, zum Teil konfligierender, zum Teil übereinstimmender Akteure mit unterschiedlichen Interessen und Situationsdeutungen. Wenn also politische Steuerung realisiert werden soll, dann nicht von einem singulären Akteur, sondern allenfalls von „Konstellationen von kollektiven oder korporativen Akteuren, die jeweils über bestimmte Anteile an Steuerungsressourcen verfügen oder mitverfügen, die in ihren Interessen und Situationsdeutungen differieren und dennoch – das ist entscheidend – in der Lage sind, sich wechselseitig zu berücksichtigen.“106
Solche Konstellationen lassen sich durch die Spieltheorie und ihre begrenzte Anzahl an Spielkonstellationen beschreiben bzw. theoretisieren und die „wechselbezügliche Interaktion zwischen strategisch handelnden Akteuren (endet) keineswegs im infinitiven Regress, sondern (bringt) allseits antizipierte Lösungen hervor.“107 Ob das Lösungen im strengen Sinne (und von was eigentlich?) sind, sei dahingestellt, aber es wären verbindliche Entscheidungen, die so und nicht anders entschieden wurden. Ansonsten diskutiert F. W. Scharpf noch Fragen, die im Kontext der Steuerungstheorie immer und immer wieder auftauchen und nachfolgend im Detail dargestellt werden.
10.4.1. Politische Steuerung als politikwissenschaftliches Konzept108 In den Worten von Renate Mayntz, die – zum Teil in Koautorenschaft mit Fritz W. Scharpf – zu den Protagonisten der politischen Steuerung in der Bundesrepublik gehörte, ist diese mit einer aktiven Politik weitgehend identisch. Ihr Ziel ist die „vorausschauende, aktive Regelung und Steuerung jener gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Prozesse, deren ungesteuerte Dynamik die für das Gesamtsystem relevanten Probleme und Krisen hervorbringt.“109
Und an andere Stelle formuliert sie: „Gestaltung ist aktives (statt reaktives) Handeln, Gestaltung ist zukunftsbezogen und sie ist komplex, das heißt, es geht nicht nur um punktuelle Einzelmaßnahmen, sondern um die Verwirklichung umfassender und koordinierter politischer Programme.“110
Politik soll nicht nur die ungesteuerten Dynamiken der anderen gesellschaftlichen Teilsysteme bearbeiten und die durch sie verursachten Probleme situativ lösen. Vielmehr soll sie diese vorausschauend und aktiv bearbeiten und die Entstehung neuer Probleme präventiv verhindern. Die Gestaltung der Zukunft durch aktive Politik, unterstützt durch Planungssysteme, Informationstechnologien, Computersimulationsmodelle und Datenbanken, stand als realisierbare und für die Politik unausweichliche Aufgabe auf der Tagesordnung. Politische Steuerung – so die
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damals vorherrschende Meinung – zielt auf die Änderung von Zuständen ab, die von den politischen Akteuren als problematisch wahrgenommen werden bzw. von bestimmten normativen Prämissen einer aktiven Gesellschaftspolitik abweichen. Im Zentrum der Überlegungen steht dann die Frage, ob, wie und inwieweit gesellschaftliche (Teil-)Systeme und sozio-ökonomische Prozesse durch aktive politische Interventionen zielgerichtet, rational und effizient gelenkt werden können. Der moderne Staat leitet seine Staatsaufgaben nicht mehr vorwiegend aus dem Prozess der politischen Willensbildung ab, der vor allem von den politischen Parteien in Gang gehalten wird. Stattdessen löst er sich als Instanz davon ab und wendet sich einer eigenständigen, zukunftsorientierten und aktiven Gesellschaftsgestaltung zu. Die Vorstellung von politischer Steuerung ist mit dem modernen Wohlfahrtsstaat untrennbar verknüpft und zwar auf doppelte Weise. Zum einen besteht die Aufgabe des Wohlfahrtsstaates darin, die Lebensbedingungen von Individuen und sozialen Gruppen durch politische Maßnahmen laufend zu verbessern. Dies setzt die Annahme voraus, dass Zukunft durch gegenwärtige Entscheidungen aktiv gestaltet werden kann. Aktive Sozialpolitik ist hier ein prominent gewordenes Konzept, das sich der vorbeugenden Heilung und Entschärfung sozialer Konflikte oder sozialer Krisen widmen soll und im Kontext der Steuerungsdiskussion systematisch ausgearbeitet wurde.111 Zum anderen ist der Wohlfahrtsstaat die Institution, die Planung und Steuerung aktiv und zukunftsorientiert bewerkstelligen soll. Das politische System, das begrifflich häufig an die Stelle des Staates tritt, ist für die unterschiedlichsten Interessen und Normen offen, die durch die entsprechenden Interessengruppierungen in den politischen Willensbildungsprozess eingebracht und über die Parteien in Form von Politikentscheidungen durchgesetzt werden können. Schließlich hat das politische System als aktiv operierendes System die Aufgabe, nicht nur die Entscheidungsprozesse zu koordinieren und abzustimmen, sondern vor allem eigenständige und zukunftsorientierte Politikkonzepte zu formulieren. Mit anderen Worten: Es soll und kann politisch steuern. Politische Steuerung ist ein hochkomplexer Sachverhalt, setzt sich aus verschiedenen Bausteinen zusammen und alles beginnt mit einem Steuerungssubjekt. In einem handlungstheoretischen Verständnis ist es eine Person oder ein kollektiver bzw. korporativer Akteur, an manchen Stellen ist allerdings auch von einem ‚System‘ oder gar dem Staat die Rede, aber immer wird es handlungstheoretisch gefasst und ist durch eine Arbeitsteilung zwischen verschiedenen Akteuren charakterisiert. Markt und Solidarität sind keine Steuerungssubjekte, weil sie keinen Akteurcharakter haben, aber sie können gleichwohl zu Steuerungszwecken eingesetzt werden. Steuerung muss einem Akteur zugerechnet werden können, der empirisch identifizierbar sein muss und der erkenn- und analysierbare Steuerungsziele formuliert und zu realisieren versucht. Auf Seiten der Gesellschaft besteht
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ein grundsätzlicher Steuerungsbedarf, der vom politischen System befriedigt werden muss, um Krisensymptomen vorzubeugen. Die Steuerungsziele beziehen sich immer auf ein Steuerungsobjekt, das zum Gegenstand der politischen Steuerung gemacht wird und an dem sich der Wille des Steuerungssubjektes realisiert. Im Konzept der aktiven Gesellschaftsgestaltung sind die Steuerungsziele immer zukunftsorientiert angelegt, sie sollen dem Steuerungsobjekt neue Wege in die Zukunft ermöglichen und so politisch gewollte, bessere gesellschaftliche Zustände realisieren. Dazu benötigt der Staat bestimmte Steuerungsinstrumente, um die erwünschten Zustände auch effektiv erreichen zu können.
10.4.2. Der Instrumentenkasten der politischen Steuerung Die Vielfalt der verschiedenen Steuerungsinstrumente lässt sich auf vier grundlegende Typen reduzieren.112 Rechtliche Interventionsformen zielen auf die Ausformung rechtlicher Grundlagen zur Regelung sozialer Beziehungen und auf die Veränderung des rechtlichen Status von Personen oder sozialen Gruppen ab. Sie beruhen in der Regel auf der Einräumung neuer oder geänderter Rechtspositionen. Ökonomische Interventionen sind all die Maßnahmen, die auf die Modifikation von verfügbaren Einkommenspositionen ausgerichtet sind, wobei die Umsetzung solcher Programme durch hierarchisch strukturierte Bürokratien erfolgen kann. Ökologische Interventionen verändern die Gelegenheitsstrukturen von Individuen oder sozialen Gruppen, wobei hierbei soziale Dienstleistungen oder öffentliche Güter eine besondere Bedeutung haben. Konkret zählen dazu etwa Krankenhäuser, Sport-, Kinderbetreuungs- und Bildungsstätten, sozialer Wohnungsbau, Altenheime, aber auch staatliche organisierte Verkehrsbetriebe oder die Verkehrspolitik. Die Bereitstellung dieser Dienste erfolgt in der Regel nicht zentralstaatlich, sondern auf regionaler oder kommunaler Ebene durch die dafür vorgesehenen Träger. Schließlich zielen pädagogische Interventionen unmittelbar auf die Änderung von Personen, konkret deren Handlungsfähigkeit und -bereitschaft. Der Erfolg beruht auf gelungener interpersoneller Kommunikation zwischen professionellen (und/oder ehrenamtlichen) Anbietern und KlientInnen bzw. Nachfragenden. Die Professionalität der Anbieter ist hier die wichtigste Steuerungsvariable des Staates. Alle diese Instrumente oder Interventionsformen haben ein Steuerungsobjekt im Auge, das in den neu angestrebten und in der Zukunft liegenden Zustand versetzt werden soll. Dieses ‚Objekt‘ ist gleichwohl widerspenstig und R. Mayntz betont ausdrücklich, dass es „eine autonome Existenz besitzt, d. h. dass es sich in Abwesenheit des Steuerungseingriffes selbsttätig weiter entwickeln würde. Man könnte das auch so ausdrücken, dass das
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10. Die Politik der Rationalität und ihr Scheitern Steuerungsobjekt selbst ein System ist; durch die Steuerung soll seine autonome Dynamik gezielt verändert werden.“113
Die ‚gezielte‘ Beeinflussung oder Veränderung der ‚autonomen Dynamik‘ des zu steuernden Systems wird erleichtert, sofern man politische Steuerung handlungstheoretisch fasst. Dann gerinnt Steuerungshandeln zu „sich über Zeit erstreckende Handlungszusammenhänge“, in die immer mehrere Akteure involviert sind und ihr Handeln koordinieren bzw. abstimmen.114 Zwar ist politische Steuerung immer noch hierarchisch konzipiert und legt ihre Ziele weitgehend selbstständig fest, aber bereits hier wird ein kooperatives Moment des Steuerungsprozesses sichtbar. Zu Beginn der Steuerungsdiskussion, v. a. in den 70er und 80er Jahren, wurden politische Interventionen als Eingriffe des Staates in einem Top-down-Prozess verstanden, in dem er mittels verschiedener Interventionsformen ‚von oben‘ in ein gesellschaftliches Regelungsfeld eingreift. Politische Interventionen können häufig nur indirekt erfolgen, sie haben mehrstufigen Charakter und ihre Erfolgsbedingungen sind kontextabhängig bzw. entziehen sich oft dem unmittelbaren Zugriff des Staates. Dies gilt vor allem (aber nicht ausschließlich) bei pädagogischen Interventionen. Politische Steuerung bleibt hier konzeptionell an den Staat gebunden, aber parallel dazu greift der Staat auf kooperative Formen zurück, v. a. bei ökologischen und pädagogischen Interventionen. Aber alle Zentralbegriffe der politischen Steuerung wurden im Lauf der Zeit grundsätzlich hinterfragt. Dies fand seinen Niederschlag zum Einen in der grundsätzlichen Problematisierung der Steuerungsfähigkeit des Steuerungssubjektes, also des Staates und seiner Institutionen. Insbesondere wurde betont, dass das Steuerungssubjekt über ausreichende Informationen und theoretisches Vorwissen verfügen muss, um Problemdiagnosen zu erstellen und um adäquate Lösungsansätze und institutionelle Anreize zu entwickeln. Die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien, auf die gerade K. W. Deutsch so stark gesetzt hatte, konnten das Informationsproblem offensichtlich nicht befriedigend lösen. Zudem sind die Entscheidungskompetenzen des Steuerungssubjektes fragmentiert, wobei auch föderale Strukturen eine erhebliche Rolle spielen, und begrenzen die Steuerungsfähigkeit des Staates und seiner Institutionen. Schließlich sind „gesellschaftliche Probleme“ nicht objektiv und rational zu identifizieren, sondern immer als strategische Repräsentation von spezifischen Interessen zu begreifen. Die Quintessenz dieser Debatte war, dass das Steuerungssubjekt nicht mehr als „unitarischer Staat“ konzeptionalisiert werden konnte, sondern nur noch als „Pluralität“ von konfligierenden Akteur- und Interessengruppen, die nicht aus einer einheitlichen Perspektive handeln können.115 Ferner können Steuerungsziele und Programmstrategien meist nicht mit der notwendigen Präzision formuliert werden, sondern verbleiben häufig abstrakt,
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mehrdeutig und leerformelhaft. Auch sind übergreifende Staatsziele wegen der Parteienkonkurrenz nicht gegeben, sondern notorisch umstritten. Ein von den wichtigsten politischen und interessierten Kräften konsensual vertretenes Gemeinwohl wird im politischen Prozess nicht sichtbar. Auch wurden Fragen nach der Wirksamkeit der Steuerungsinstrumente aufgeworfen und kritisch diskutiert. Deren Einsatz zur effektiven Zielerreichung setzt ein enormes Wissen bzw. gesicherte Annahmen über kausale Zweck-Mittel-Relationen ebenso voraus wie die Gewissheit über die Wirksamkeit der eingesetzten Interventionsinstrumente.116 Jede der oben unterschiedenen Interventionsformen ist mit spezifischen Umsetzungsproblemen konfrontiert. Die Achillesverse der rechtlichen Interventionsform sind die unterschiedlich ausgeprägten Chancen der Mobilisierung des Rechts für die jeweils eigenen Interessen. 117 Bei den ökonomischen Interventionen liegt der Engpass prinzipiell bei der Mittelaufbringung, wobei hier Abgabenwiderstände und Ausweichstrategien bei Steuern und Sozialabgaben ebenso eine große Rolle spielen wie die notorische Finanzknappheit der staatlichen, regionalen und kommunalen Haushalte. Aber auch die Effektivität vieler Maßnahmen ist angesichts beobachtbarer Mitnahmeeffekte, fehlgeschlagener Anreizstrukturen sowie fehlender Kontrollmechanismen bei der Vergabe fragwürdig. Bei ökologischen Interventionsformen ist das Hauptproblem darin zu sehen, dass sich zwischen die Intentionen des Zentralstaates und die Adressaten eine separate, in der Regel kommunale Implementationsstruktur schiebt, in der die Mittelzuweisungen nach anderen, nämlich eigenen Interessenlagen massiv beeinflusst werden können. Die Schaffung oder Veränderung von kommunalen Infrastrukturen ist immer ein komplexer und spannungsreicher Prozess, der sich zielgerichteter Steuerung notorisch entzieht. Schließlich ist die Crux der pädagogischen Intervention die unvermeidliche und aktive Mitarbeit der Klienten und die voraussetzungsvolle Professionalität der Anbieter von Dienstleitungen. Beide Sachverhalte sind extrem politikfern und steuerungsresistent, weil hier Kontexte eine zentrale Rolle spielen, die von der Politik nicht direkt beeinflusst werden können. Seine Fortsetzung fand dieser zunehmend grundsätzliche Skeptizismus in einer weiteren und vertieften Problematisierung des Steuerungsobjektes hinsichtlich seiner Steuerbarkeit. Systemtheoretische Argumentationsmuster (vgl. dazu Kap. 10.3.) wurden in der wissenschaftlichen Steuerungsdiskussion immer einflussreicher und betonten die Autonomie der gesellschaftlichen Teilsysteme und damit deren Resistenz gegenüber zielgerichteter politischer Steuerung.118 Die gesellschaftlichen und sozialen Zusammenhänge wären zu komplex, zu multikausal und zu zirkulär, als dass ein kausaler Zugriff möglich sei. Zugleich machten viele Policy-Analysen die erheblichen Defizite bei der Steuerung und v. a. der Implementation politischer Programme deutlich. Auch die Ergebnisse der Implementationsforschung waren ernüchternd. Der Annahme, dass sich durch einseitig ho-
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heitliches Steuerungshandeln die Adressaten steuern lassen, widersetzte sich die Realität insofern, als dass die Akteure und Organisationen, die die Programme gestalten und durchführen, ein Eigenleben entfalten. Ihre Handlungsmotive sind nur unzureichend steuerbar, sie entwickeln Eigeninteressen und ihre Präferenzen lassen sich im Zeitverlauf nur schwer ändern. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das utopische und mechanistische Modell der politischen Steuerung angesichts der komplexen und interdependenten gesellschaftlichen Realität immer fragwürdiger wurde und dass der traditionelle Begriff der politischen Steuerung trotz konzeptioneller Revisionen problematisch war. In der sich anschließenden Steuerungsdiskussion verwandelte sich dann der steuernde in den „kooperativen Staat.“119 Während er nach innen erweiterte Beteiligungsmöglichkeiten für bestimmte private Akteure einräumt und Aufgaben an diese überträgt, findet er nach außen seinen Ausdruck in einer verstärkten zwischenstaatlichen Zusammenarbeit, die sich in internationalen Vereinbarungen und in der Gründung internationaler Organisationen niederschlägt.120
10.5. Governance als Verlust des Zentrums und Ortes der Politik: Die Entpolitisierung der Politik und ihr Verschwinden im Ortlosen Die Abkehr von der „Gesetzgeberperspektive“121 führte zur Thematisierung neokorporatistischer Strukturen, gesellschaftlicher Selbstregulierung sowie von Policy-Netzwerken. Hierbei wurde das Verhältnis von Staat und Gesellschaft grundlegend reformuliert. Die Erkenntnis, dass Regierungen und deren Institutionen ihre Funktionen angesichts von Informations-, Ressourcen- und Motivationsproblemen nur in einem interaktiven Prozess zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren und den potentiell Betroffenen ausüben können, gewann in der Diskussion an Bedeutung. Einerseits sind wichtige regelungsfeldspezifische Informationen für staatliche Akteure oft nicht oder nur schwer zugänglich, so dass sie auf das Wissen privater Akteure angewiesen sind. Auch sind materielle und personale Kapazitätsgrenzen bei der autonomen Informationsgewinnung und -verarbeitung ein wichtiger Faktor. Andererseits machte die empirische Forschung deutlich, dass gesellschaftliche Selbstregelungsstrukturen in einzelnen Politiksektoren bestehen und die Vorstellung vom autonomen Steuerungshandeln der staatlich-administrativen Institutionen relativieren. Die Einbeziehung der Akteure eines Regelungsfeldes – so zumindest die Erwartung – würde mehr Effektivität und Legitimität bei politisch inspirierten Regelungsbemühungen erbringen.
10.5. Governance als Verlust des Zentrums und Ortes der Politik
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10.5.1. Der Wandel des Staatsverständnisses in der Steuerungstheorie: Vom hoheitlichen zum kooperativen Staat Die zentrale Differenz zwischen politischer Steuerung und kooperativem Staat ist darin zu sehen, dass die Vorstellung der Steuerung der Gesellschaft durch den Staat aufgegeben wird zugunsten der Steuerung in der und durch die Gesellschaft.122 Der Staat gibt seine Position über der Gesellschaft auf und wird zu einem Staat, der „sich der Träger sozialer und ökonomischer Macht zur Umsetzung seiner Ziele bedient und der öffentliche Aufgaben zur öffentlichen Erledigung mit eben diesen Machtträgern ‚vergesellschaftet’. Die Gesellschaft des kooperativen Pluralismus und der kooperative Staat leben nicht im Zustand der Distanz, der Nicht-Einmischung und der Nicht-Identifikation, sondern im Zustand der gegenseitigen Durchdringung und Verschränkung.“123
Hier wird die Grundidee und -struktur des kooperativen Staates deutlich: Staat und Gesellschaft sind keine getrennten Bereiche, sondern untrennbar miteinander verwoben. Sowohl bei der Vorbereitung von Entscheidungen als auch bei deren Umsetzung arbeiten beide zusammen, wobei sich Verhandlungssysteme ausbilden, die als Policy-Netzwerke die permanente Verflechtung von Staat und Gesellschaft realisieren.124 Der Staat wird nicht mehr als einheitlich handelnder Akteur mit einem einheitlichen Staatszweck betrachtet, sondern als zusammengesetzte Organisation, die arbeitsteilig, spezialisiert und mit unterschiedlichen sozialen, ökonomischen und gesellschaftlichen Interessen interagiert. Mit diesen stimmt er sich über Bedarf, Vorbereitung, Entscheidung und Implementation sektoraler Policies ab. Insofern bilden die jeweiligen staatlichen Segmente policy-spezifische Netzwerke aus, was eine übergreifende Koordination erschwert. In diesen Netzwerken hat der Staat eine bestimmte Rolle, die je nach Sichtweise zwischen einer „Führungsfunktion“ und einem (gleichberechtigten) Akteur unter vielen anderen schwankt. Geht man von einer Führungsfunktion aus, so kommen dem Staat vier strategisch bedeutsame Unterfunktionen zu:125 • •
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Eine Orientierungsfunktion im Sinne einer Definitionsmacht über das, was als politisch zu bearbeitender Sachverhalt betrachtet werden soll; eine Organisationsfunktion zur Einbindung der verschiedenen Akteure in ein Verhandlungssystem bzw. ein Policy-Netzwerk und zur Koordination der verschiedenen Tätigkeiten des Netzwerkes; eine Vermittlungsfunktion in der Implementationsphase, die die Tätigkeiten staatlicher und nicht-staatlicher Akteure bzw. Betroffenengruppen aktiviert und koordiniert; und schließlich eine Letztentscheidungsfunktion, weil alle ausgehandelten Vorschläge von den demokratisch legitimierten Institutionen verabschiedet werden müssen; dies schließt das Potential ein, verhandelte Vorschläge zu variieren oder ei-
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genständig zu entscheiden, sofern die Arbeit des Netzwerkes ergebnislos bleibt oder staatlichen Zielen widerspricht. Das, was im Bereich der Politik beobachtet werden kann, wird auf Seiten der Verwaltung nachvollzogen. Man spricht hier – vor allem jenseits der regelmäßigen und massenhaft auftretenden Verwaltungsvorgänge – vom „kooperativen Verwaltungshandeln“, das sich „nicht auf eine bestimmte Handlungsform der Verwaltung reduzieren (lässt), sondern jedwede Gestalt annehmen (kann).“126 Hier sind erneut Policy-Netzwerke wichtig, in denen staatliche und organisierte nicht-staatliche Akteure beim Vollzug politischer Entscheidungen zusammenarbeiten; entsprechend spricht man vom „kooperativen Rechtsstaat“127 bzw. vom „kooperativen Recht.“128 Eine, wenn nicht sogar die wichtigste Besonderheit des kooperativen Staates ist darin zu sehen, dass der Staat für sich nicht mehr das exklusive Recht der verbindlichen Entscheidung über spezifische Sachverhalte reklamiert, sondern Netzwerke oder gar Private im Auftrag oder an Stelle des Staates solche Entscheidungen treffen. Der Politikbegriff löst sich von den staatlichen Akteuren und Politik kann nun jede Form kollektiver bzw. netzwerkartiger Entscheidungsfindung annehmen. Staatliche Steuerung und gesellschaftliche Eigendynamiken lassen sich nicht mehr klar trennen, sondern werden durch Netzwerkstrukturen zu einem miteinander verwobenen Ganzen. Trotz funktionaler Differenzierung der gesellschaftlichen Teilsysteme können diese miteinander interagieren und sich koordinieren. Dies liegt an deren „Gebildecharakter“129 bzw. deren organisatorischer Binnendifferenzierung. Jedes Teilsystem, auch das politische System, bildet für bestimmte Funktionen spezielle Segmente aus, wobei man grundsätzlich drei Organisationsformen unterscheiden kann.130 Die Leistungsorganisation ist vor allem für die Erbringung systemspezifischer Leistungen zuständig (etwa alle Gruppen im Gesundheitssystem, die mit der Wiederherstellung von Gesundheit zu tun haben). Dann Interessenorganisation, die wesentlich auf die Verhaltensregulierung innerhalb des Teilsystems abzielt (z. B. Standards der medizinischen Ausbildung, Verteilung der Honorare an Ärzte etc.). Und schließlich koordinierende Organisationen, die vornehmlich den Außenkontakt des Systems mit anderen Systemen regeln und abstimmen. Hier agieren professionelle Personengruppen, die zwischen den Systemen vermitteln und die Handlungsmuster koordinieren, an die der kooperative Staat bei seinen Regelungsbemühungen anknüpfen kann. Der kooperative Staat ist kein Fixum, sondern ein historisch-spezifisches und vom jeweiligen Politiksektor abhängiges Phänomen. Die staatlichen Eingriffe variieren deutlich in Abhängigkeit von den strukturellen Eigenschaften des betreffenden Teilsystems. Das Verhältnis von Selbstorganisation, Kooperation und Hierarchie ist je nach Politikfeld verschieden ausgeprägt und die spezifischen institutionellen Arrangements wandeln sich zeit-, problem- und interessenabhän-
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gig. Zusammengefasst handelt es sich beim kooperativen Staat um eine Tendenz, die als „Vergesellschaftung des Regierens“131 beschrieben werden kann. In die Governance-Begrifflichkeiten übersetzt handelt es sich beim kooperativen Staat um „governance with government“132, allerdings mit abnehmender Intensität des Letzteren. Aber für den kooperativen Staat sind verschiedene Kombinationen aus staatlichen und gesellschaftlichen Akteuren prägend und realisieren sein – angebliches – Steuerungspotential. Im kooperativen Staat dominiert Governance in der Kombination beider Regelungsinstanzen, während bei Governance die Regierung als beteiligte Regelungs- und Entscheidungsinstanz immer weiter an Bedeutung verliert, ja zum Teil völlig verschwindet.
10.5.2. Vom kooperativen Staat zur staatslosen Governance Der Begriff der „Governance“ wird in der politikwissenschaftlichen Diskussion uneinheitlich gehandhabt, was seine präzise und analytisch sinnvolle Verwendung schwierig macht.133 Zunächst signalisiert der Begriff einen erneuten Wandel des Staats- und auch des Politikverständnisses für moderne Gesellschaften. Er setzt sich vom Begriff der Regierung bzw. des Regierens ebenso bewusst ab wie von dem der Steuerung134, aber auch vom Entscheiden im kooperativen Staat. Die Diagnose lautet, dass sich die bisherigen Regelungsformen weiter verflüssigen bzw. auflösen: „(…) new governance-arrangements have emerged. Such shifts in governance have occured in the privat, semi-privat and public spheres, and at (and in-between) the local, regional, national, transnational and global levels. Changes have taken place in the forms and mechanisms of governance, the location of governance, governing capacities and styles of governance.“135
Government und governing verlieren an Bedeutung und neue Formen des ‚Regierens‘ entstehen, die man jedoch nicht mehr als ‚Regieren‘ bezeichnen sollte. Vielmehr sind es neue Formen der Regulierung, die jenseits des Staates und der tradierten Politik entstehen und nun das Geschäft des Regelns und Ordnungstiftens übernehmen, aber eben nicht mehr ‚regieren‘. Der Begriff der Governance selbst wird nicht einheitlich verwendet und taucht in vielen und vielschichtigen Kontexten auf. Man kann sehr unterschiedliche Dimensionen unterscheiden136 und ich will hier allein die fünf wichtigsten erwähnen:137 Zunächst corporate governance, die all die Praktiken beschreibt, die große und international verflochtene Unternehmen anwenden, um sich in den internationalen Kontexten entsprechend zu organisieren und um aktiv agieren zu können. Dann Governance in den internationalen Beziehungen, die die Herausbildung internationaler Regime138, also ‚governance without governments‘139, vorantreibt und weitgehend durch ‚private Regierungen‘ realisiert wird. Die Tendenz
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zu international agierenden Governanceregimen ohne staatliche Beteiligung ist unübersehbar und gewinnt weiter an Bedeutung, die normativ inspirierten Konzepte von ‚good governance‘140 der internationalen Organisationen wie WTO und IMF sind hierin einbezogen. Die Frage stellt sich jedoch, wie diese Regime durch die nationale und internationale Politik beobachtet und kontrolliert werden können. Drittens werden Konzepte des New Public Management mit Governanceideen identisch, wobei dies vor allem die Einführung von Managementpraktiken in den staatlichen Sektor, aber auch verschiedenste Privatisierungsstrategien ebenso wie neue Public-Private-Mixturen umfasst. Eine weitere Verwendung des Governancekonzepts wird in den verschiedensten Netzwerkkonzepten deutlich. Hier konzentriert sich die Diskussion auf neue Praktiken der Interaktion und (herrschaftsfreien) Kommunikation, die sich angeblich auf den Trümmern der alten Staatlichkeit und den tradierten korporatistischen Strukturen entwickelt haben. Und fünftens Governance als ‚socio-political governance‘, die als Gegenpol zum zielorientierten und hierarchischen Regieren konstruiert wird und nun als Ergebnis der Interaktionen von privaten, halbstaatlichen und – wenn überhaupt noch – staatlichen Akteuren und Organisationen betrachtet wird, die in Strukturen außerhalb der tradierten Politik und des hierarchisch strukturierten Staates operieren.141 Viele dieser Konzepte betonen zudem, dass Governance mehr sei als Regieren.142 Doch worin besteht dieses ‚Mehr‘? Könnte es auch weniger sein als Regieren, weniger Demokratie, weniger Verbindlichkeit, weniger eindeutige Zurechenbarkeit, weniger institutionalisierte Prozeduren und weniger demokratische Kontrolle? Governance – so könnte eine erste Annäherung lauten – wären dann all die Bemühungen von staatlichen sowie vor allem von nicht-staatlichen Akteuren, Regeln zu formulieren und durchzusetzen, die in einem hochkomplexen, hochinterdependenten und hochdynamischen Geflecht der sozialen und gesellschaftlichen Entwicklungen ein Mindestmaß an Ordnungsmustern generieren und stabilisieren sollen. Bei dieser definitorischen Annäherung sind vier Sachverhalte relevant: •
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Governance unterminiert und verändert klare institutionelle Regeln in Politik und Verwaltung und zielt auf deren Verflüssigung und Flexibilisierung.143 Während beim Regieren die Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten durch die Verfassung und andere Institutionen klar zugeordnet und gerichtlich überprüfbar sind, sind Governancestrukturen per definitionem flexibel und informell sowie durch variierende Teilnehmer mit unterschiedlicher Beteiligungsintensität und ungleicher Ressourcenausstattung geprägt. Governancemuster realisieren sich in verschiedenen Netzwerkstrukturen, aber diese verändern sich grundlegend, wobei die Dominanz oder die Beteiligung staatlicher Akteure erheblich abnimmt; stattdessen entwickeln sich
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Netzwerke ohne bzw. mit nur noch rudimentärer staatlicher Beteiligung. Häufig hat Governance einen explizit anti-staatlichen Affekt und richtet sich gegen staatliches Regieren schlechthin. Regelformulierung und -durchsetzung zielen darauf ab, eine relativ dauerhafte Struktur eines Entscheidungsnetzwerkes, also „rules of the game“144, zu konstituieren und zu konfirmieren, die wiederum in der Lage sind, Regeln zur Regulierung bestimmter Sachverhalte zu generieren und zu implementieren. Diese Strukturen verfügen über eine erhebliche Autonomie gegenüber dem Staat und die in ihnen operierenden Akteure bzw. Entscheidungsträger können über demokratische Verfahren politisch nicht verantwortlich gemacht werden. Die politische Opposition, beim Regieren eine Selbstverständlichkeit, ist bei Governance abhanden gekommen. Es gibt weder begrifflich noch faktisch einen systematischen Ort für eine Opposition, vielmehr ist sie aus dem begrifflichen Repertoire und der entsprechenden Praxis verschwunden.145 Governance stellt einen unhintergehbaren Sachverhalt moderner Entwicklungen in den Mittelpunkt, nämlich den laufenden und nicht aufzuhaltenden Verlust von Ordnungsmustern.146 Hierbei stellt Dynamik nicht nur auf die eigendynamischen Prozesse von Teilsystemen ab, sondern auch auf die Veränderungsgeschwindigkeit dieser Prozesse, mit der die Eigenzeit der Politik nicht mehr Schritt halten kann. Der Begriff der Divergenz bezeichnet das durch systemische oder sektorale Eigendynamiken ausgelöste Auseinanderdriften von Systemen oder Strukturen, wobei die Bedeutung einzelner überraschend ansteigen, während andere an Bedeutung verlieren. Asymmetrien sind an der Tagesordnung und stabile Gleichgewichte die Ausnahme. Dekomposition markiert eine zunehmende Pluralisierung von Normen, Interessen, Werten und Intentionen innerhalb von gesellschaftlichen Teilsystemen, Organisationen und Institutionen ab. Immer neu und immer weniger dauerhaft muss nun über Normfragen entschieden werden und alles kann zum Gegenstand solcher Entscheidungen gemacht werden. Durch Denationalisierung von ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Prozessen, die innerhalb von Nationalstaaten zu einer Bedeutungsverschiebung zu regionalen und kommunalen Subeinheiten und nach außen zu transnationalen und internationalen Organisationen und Institutionen führt, werden Dynamik, Divergenz und Dekomposition weiter gesteigert. Bei der Regulierung dieser Entgrenzungsprozesse nimmt die Bedeutung von innerstaatlichen und transnationalen Netzwerkstrukturen zu und die Kraft nationaler Regierungen ab.
Bei diesen nicht linearen, nicht kausalen, nicht vorhersehbaren und nicht kontrollierbaren Entwicklungen ist programmorientiertes Regieren oder zielgerichtete politische Steuerung nicht mehr realisierbar und Governance tritt an deren Stelle – so zumindest die Diagnose vieler Governance-Theorien. Politik als dieje-
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nige Tätigkeit, die der Vorbereitung, Rechtfertigung, Herstellung und Durchführung von verbindlichen Entscheidungen dient, löst sich nun von institutionalisierten Verfahren mit demokratischer Legitimität. Sie verlagert sich auf informelle Netzwerkstrukturen mit zweifelhafter Legitimität, die gleichwohl versuchen, durch Entscheidungen Ordnungsstrukturen aufrecht zu erhaltenen, die den eigendynamischen Auflösungstendenzen von Systemen, Organisationen und Institutionen entgegenwirken sollen.147 Zu solchen ordnungsstiftenden Strukturen gehören in einer extremen Variante von Governance internationale Organisationen, transnationale Strukturen und Nationalstaaten ebenso wie die Familie oder auch kriminelle Organisationen, wie die Mafia.148 Denn alle wollen sie die eine Aufgabe erfüllen: Dem abnehmenden Ordnungsgehalt moderner und international verflochtener Gesellschaften durch kollektiv organisierte Regelsetzungen und dem Aufbau neuer Ordnungsmuster entgegenzuwirken. Ob das ein ‚mehr‘ oder ein ‚weniger‘ an Regieren ist, sei an dieser Stelle dahingestellt. Mit den neuen Regelungsstrukturen ändert sich auch der Charakter des Rechts, welches in und durch diese Regelungsstrukturen erzeugt wird. Statt „hard law“ wird nun „soft law“ produziert, das verschiedenste Formen annehmen kann. Generell arbeitet es mit weichen Vorgaben, wie Direktiven, Leitbildern u. ä. und verlagert die Realisation in die Implementation. Es setzt Prozesse in Gang, deren Ergebnisse nicht von den Instanzen der Regelsetzung vorgegeben werden, sondern sich im Zeitverlauf und je nach Kräftekonstellation ergeben. Es versucht „(...) to avoid the ‚traditional’ modes of governance (...). At the implementation level they use non-hierarchical modes of steering and policy-making based on the creation of incentive structures and non-legal sanctioning methods, such as naming and shaming, as well as learning, arguing, and persuasion.”149
Die Abarbeitung rechtlicher Vorgaben und die damit verbundene Verbindlichkeit bei der Umsetzung werden von prozessorientierten Verfahren mit offenem Ausgang abgelöst. Mit diesen Regelungsstrukturen stellt sich das Problem, wie man Verbindlichkeit generell und im Besonderen über lange Handlungsketten hinweg, also über Raum, Zeit und verschiedene Akteure, ‚transportieren’ kann, so dass Entscheidungsprämissen weitergegeben werden und einen bestimmten Grad an Verbindlichkeit erlangen. Ohne Verbindlichkeit können Ordnungsstrukturen weder stabilisiert noch verändert werden. ,Soft law‘ lässt die Merkmale vermissen, die das alte Recht ausgezeichnet hat, wie etwa klare Verbindlichkeit, Einheitlichkeit, Justiziabilität, Kontrollierbarkeit, sanktionsgestütztes Verhalten und eine professionelle Bürokratie bei der Umsetzung. Der Instrumentenkasten von Governance wird meist nicht detailliert beschrieben, aber es gibt zumindest Versuche. Hierbei wurden drei zentrale Mechanismen bzw. Techniken dieser ‚weichen Steuerung‘ identifiziert.150 Zunächst diskursive Praktiken, in denen bisher unhinterfragte Prämissen hinterfragt und be-
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stimmte Handlungsoptionen thematisiert werden, die bisher nicht Gegenstand des Diskurses waren. Dann Fragen und Argumente, bei denen immer das „Erfordernis der Rechtfertigung“151 verlangt wird. Denn Fragen verlangen nach Antworten und Antworten müssen argumentativ vorgebracht werden, was wiederum neue (Gegen)Argumente provoziert. So kommt es zur Beeinflussung von bestimmten Adressaten. Schließlich Steuerung durch Symbole, die komplexe Sachverhalte verdichten, etwa in Form von Fahnen, die für die Werte eines Gemeinwesens stehen, und so einen sozialen Resonanzboden zum Schwingen bringen. So würden Steuerungs- bzw. Governanceintentionen unmittelbar deutlich werden. Aber auch hier wird man fragen müssen, ob nicht das Diktum von K. W. Deutsch wirksam wird: Macht besitzt derjenige, der es sich leisten kann, nicht zuhören zu müssen.152 Durch die Ignoranz bestimmter Akteure können alle Versuche der ‚weichen Steuerung‘ bzw. der Governance zunichtegemacht werden. Fast alle Governancekonzepte unterstellen eine eindimensionale Entwicklungsdynamik, bei der der Staat und die tradierte Politik immer mehr an Bedeutung verlieren und an deren Stelle nun die neuen Formen von Governance treten. Je mehr Governance, desto weniger Staat und Government, was mit „the hollowing-out of the state“ identisch wird.153. Aber derselbe Autor hat als einer der ganz wenigen eine Parallelentwicklung im Blick: „Although it argues (the governance approach, F.W.R.) there has been a loss of central capacity, there are countervailing trends to the hollow crone, captured by the phrase ‘more control over less’. (…) We know little or nothing about how national governmental traditions shape responses to these (governance, F.W.R.) trends.154
Meine Überlegungen gehen in einen ähnliche Richtung, aber versuchen diesen Sachverhalt begrifflich anders zu fassen: statt der Idee von ‚more conrol over less‘ präferiere ich die der zeitorientierten Reaktivität, die sowohl die zielorientierte Rationalität der tradierten Politik als auch die neu entstandenen Governancestrukturen transzendiert und zu der Form des Regierens wird, die sich am Ende des 20. Jahrhunderts durchsetzt. Zeitorientierte Reaktivität markiert eine sezifische Form der ‚Kontrolle‘, die allein reaktiv orientiert ist und immer nachlaufend statt zukunftsorientiert agiert. Aber die eindimensionale Entwicklungsdynamik wird auf die Spitze getrieben, wenn wie bei manchen Autoren der Governance die Fluchtlinien zum politischen Entscheiden völlig abgetrennt werden. Dann handelt es sich – so diese Positionen – „(...) ganz allgemein um Muster der Interdependenzbewältigung zwischen Akteuren“155, wobei verschiedene Muster dieser Bewältigung denkbar sind: Verhandlung, Koordination, Abstimmung, wechselseitige Beobachtung und Lernprozesse bis hin zur hierarchischen Entscheidungsproduktion.156 Der Bezug zur Politik als Produzentin gesamtverbindlicher Entscheidungen ist aber aufgelöst. Es geht hier nur noch um die Beschreibung oder Analyse von kollektiven Entscheidungen beliebiger Art (und nicht mehr öffentlicher bzw. politischer Entscheidun-
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gen), die in allen gesellschaftlichen Bereichen anzutreffen sind, von der Familie, der Kleingruppe, dem Verein über Verbände bis hin zu (Groß-)Unternehmen und – wie bei James N. Rosenau – auch der Mafia. Der Bezug zu demokratisch legitimierten, politischen Entscheidungen ist endgültig und unwiderruflich abgebrochen. Aber Governance als sozialwissenschaftliches Konzept hatte – so Wolfgang Streeck in einem sehr persönlich gehaltenen Rückblick – den Vorteil, dass „niemand genau sagen konnte, was es bedeuten sollte, außer vielleicht jede Art von lokaler oder globaler Ordnungsbildung mit oder ohne Staat, unter Beteiligung eines ‚Netzwerkes‘ aller irgendwie Beteiligten, ohne Zentrum und Ziel. Wer von governance spricht, kann ohne einen Maßstab auskommen, anhand dessen die jeweiligen Steuerungsleistungen und die von ihr hervorgebrachte Ordnung für unzulänglich befunden werden könnte – es sei denn in Bezug auf ihre ‚Effizienz‘ (…). In jeder anderen Hinsicht ergibt sich der Sinn der Ordnungsstiftung immer erst retrospektiv (…).“157
Governance ist dann die letzte Rückzugsburg, in der sich die Sozialwissenschaften verschanzen und an der Illusion festhalten, dass man die modernen Gesellschaften doch irgendwie in irgendeine Richtung steuern oder wenigstens ‚governancen‘ könnte. Aber wie sich Politik faktisch verhielt, wie sie faktisch ‚steuerte‘, das interessierte weniger und wurde auch nicht weiter thematisiert. Aber was ist theoretisch-konzeptionell und praktisch an die Stelle der zielorientierten politischen Gesellschaftssteuerung und der späteren Selbststeuerung der Gesellschaft getreten?
10.6. Die Logik der verspäteten Politik und das Ausmaß des Zuspätkommens Politik stellt – dies ist in den vorangegangenen Überlegungen bereits entwickelt worden – von zielorientierter Rationalität auf zeitorientierte Reaktivität um.158 Welche Folgen dies hat und wie sich dies in welchen politischen Praktiken äußert, ist bisher kaum thematisiert, geschweige denn empirisch untersucht worden. Allenfalls lassen sich sporadische Hinweise finden, nach welcher Logik sie operiert bzw. in welchen Modi des Regierens sich die neue reaktive Politik niederschlägt. Einige wichtige sollen hier nur knapp, unvollständig und rein summarisch erwähnt werden. Zunächst kann man einen radikalen Opportunismus der Politik beobachten, der sich aus dem Verlust von konsistenten, längerfristig angelegten und programmatischen Handlungsprämissen speist. Politik und PolitikerInnen reagieren oft auf vorschnelle und oft gescheiterte Versuche der Machtmaximierung, vor allem bei anstehenden Wahlen, indem sie die früheren Positionen und Praktiken negieren und sich ohne weitere Begründungen auf neue festlegen. Die Politik des bun-
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desdeutschen Innenministers und Vorsitzenden der bayrischen CSU Horst Seehofer war hierfür prototypisch. Angesprochen auf die schlechten Umfragewerte der Union vor der bayrischen Landtagswahl im Oktober 2018 sagte der Bundesinnenminister der ‚Rheinischen Post‘ am 5. September 2018: „Wir haben erstmals eine Partei rechts der Union, die sich mittelfristig etablieren könnte, ein gespaltenes Land und einen mangelnden Rückhalt der Volksparteien in der Gesellschaft.“ Dies habe „nicht nur“ mit der Migrationspolitik zu tun, sagte Seehofer, aber fügte dann hinzu: „Aber die Migrationsfrage ist die Mutter aller politischen Probleme in diesem Land. Das sage ich seit drei Jahren.“159 Nach der Wahlschlappe der CSU in den bayrischen Landtagswahlen am 14. Oktober 2018, in denen sie Verluste von knapp 10% einfuhr, revidierte er diese Vorwahlprämisse und setzte unmittelbar auf andere politische Schwerpunkte. Politischer Opportunismus ist ein probates Verfahren, schnell auf immer neu sich herausbildende Konstellationen zu reagieren, aber unvermeidlich mit einem Verlust an politischer Glaubwürdigkeit wegen des damit einhergehenden Opportunismus verbunden. Der Verlust von Parteibindungen stärkt bei den Wählern ebenfalls ein situatives bzw. ‚opportunistisches‘ Verhalten, wodurch das Wahlverhalten von Wahl zu Wahl unkalkulierbarer wird. Die Parteibindungen lassen dramatisch nach und situatives Wählen gewinnt immer mehr an Bedeutung. Die Zunahme der Volatilität des Wählerverhaltens lässt sich nicht nur in Deutschland, sondern auch europaweit beobachten.160 Die zunehmende Kurzfristigkeit und Reaktivität des Wählerverhaltens haben nach Russel J. Dalton und Wilhelm Bürklin zur Folge, dass viele Wähler als „Wandervögel“ bezeichnet werden können.161 Die alten Milieus, die manchmal ganze Generationen von Wählern an eine bestimmte Partei gebunden haben, lösen sich unwiderruflich auf. Stammwählerschaften werden nicht nur kleiner, sondern auch unkalkulierbarer und verlieren an Bedeutung. Die Wähler ‚wandern‘ zwischen den Parteien, was einerseits deren Optionsspielräume erhöht und das Wählen zu einer wirklichen Wahl zwischen Parteien macht. Aber andererseits konfrontieren sie die Parteien mit neuen Verhaltensmustern, die deren Operieren auf den Wählermärkten schwieriger macht und sie in einen situativen politischen Opportunismus treibt. Damit untrennbar verbunden ist eine starke Veränderung der Parteiensysteme, bei der die tradierten und bisher dominanten politischen Parteien an Bedeutung verlieren und neue mit großen Erfolgen aus dem Nichts auftauchen. Der Wahlerfolg von Präsident Emmanuel Macron in Frankreich ist hier typisch, weil er nur kurz vor den Wahlen eine neue, besser: eine eigene und auf ihn zugeschnittene Partei gegründet hat, die bei den Präsidentschaftswahlen im April und Mai 2017 dann siegreich war. Die Partei des bisherigen Präsidenten François Hollande, die Sozialistische Partei Frankreichs, stürzte bei der Wahl radikal ab. Ihr Kandidat Benot Hamon erhielt nur noch 6,36 % der abgegebenen Stimmen, ein Tiefpunkt, wie ihn diese Partei noch nie erlebt hatte.
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In fast allen europäischen Ländern traten neue Parteien sehr erfolgreich auf und die tradierten verloren erheblich an Bedeutung. Bereits bei den Parlamentswahlen im Juni 2017 hatte E. Macrons Partei einen unerwarteten Erfolg erzielt, während die Sozialisten noch unter Präsident F. Hollande einen nie dagewesenen Einbruch von minus 22 % erlebten. In Italien konnte man bei den vorgezogenen Parlamentswahlen am 4. März 2018 ähnliches beobachten. Die tradierten Parteien verloren massiv an Stimmen, während vor allem die populistische 5-SterneBewegung einen massiven Zugewinn verzeichnen konnte. Zudem kann man eine Tendenz vom moderaten zum polarisierten Pluralismus erkennen. Letzterer ist durch ein Parteienspektrum charakterisiert, das erstens viele Parteien umfasst, die ideologisch weit auseinander liegen und meist Anti-System-Parteien einschließt, die in Fundamentalopposition zum politischen System stehen. Zweitens wird die Opposition oft von den Anti-System-Parteien ausgeübt und das Parteiensystem ist deshalb bilateral strukturiert, weil sich seine linke und rechte Seite meist unversöhnlich gegenüberstehen. Dadurch wird schließlich ein zentrifugaler Parteienwettbewerb in Gang gesetzt, der die politische Mitte und deren Parteien schwächt.162 Sowohl der Verlust der tradierten Parteibindungen, die Änderungen im Parteiensystem und die Tendenz zum polarisierten Pluralismus machen die Politik situativer. Alle Akteure, also Wähler, Wählergruppierungen, Parteien und die Parteiensysteme, werden variabler, dynamischer und reaktiver. Sie reagieren schneller auf die jeweils wichtigen Impulse, die von den vielfältigen Änderungen ausgehen. Schließlich lässt sich ein Wandel von der gesamtgesellschaftlich ausgerichteten, politischen Steuerung zu neuen Formen der individuell ausgerichteten, sozialen Kontrolle beobachten.163 Solche Entwicklungen kann man ebenfalls unter die Rubrik der zeitorientierten Reaktivität subsumieren. Soziale Kontrolle setzt sich aus vier Bausteinen zusammen, die sich weitgehend selbständig entwickelt haben und – wenn überhaupt – nur lose miteinander verkoppelt sind. Dazu zählt zunächst der Versuch, das Verhalten von Menschen durch bestimmte Anreize, durch ‚nudges‘, zu verändern und die Reaktion von Individuen auf die eingesetzten Anreize zu verbessern.164 Das ist eine Strategie, die sogar Eingang in bestimmte Regierungsstrukturen gefunden hat. In Großbritannien wurde ein Behavioral Insight Team, die sogenannte ‚Nudge Unit‘, und in den USA das White House Social and Behavioral Sciences Team eingerichtet.165 Auch im Bundeskanzleramt wurde unter Kanzlerin Merkel eine solche Einheit aufgebaut. Dann zweitens die Glücksforschung, die nach den psychologischen und sozialpsychologischen Wurzeln des Sich-Wohl-Fühlens sucht. Damit ist die Hoffnung verbunden, neue Wege finden, dass es „weniger anspruchsvolle Mittel zur Zufriedenstellung von Menschen geben müsste als ein ausreichendes Einkommen, soziale Sicherheit, geringe Ungleichheit und demokratische Mitspracherechte.“166
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Parallel dazu gibt es „pharmakologische Techniken der Verhaltenssteuerung“167, die sich vor allem auf leistungssteigernde Drogen oder Pharmazeutika stützen. Der enorm gestiegene Leistungsdruck in den modernen Gesellschaften soll bei den Personen medizinisch abgesichert und unterstützt werden, die diesen nur schwer erfüllen können. Ritalin, Prozac und andere leistungssteigernde Medikamente sind weit verbreitet und finden vielfältige Anwendungen. Aus dem Zusammenspiel von Ärzten und Pharmaunternehmen geht ein großer Markt mit riesigen Gewinnchancen hervor. Schließlich entsteht ein neuer Zweig der neurologischen Forschung, der es sich zum Ziel gesetzt hat, das „Verhalten viel besser als heute physiologisch, pharmazeutisch oder biophysikalisch zu beeinflussen (…).“168 Wie unschwer zu erkennen ist, vermischen sich medizinisch-pharmakologische und sozialwissenschaftliche Forschung zu einer neuen Mixtur, in deren Zentrum der Versuch steht, die Individuen für die Erfordernisse der modernen Leistungsgesellschaften ‚fit‘ zu machen. Je nach Zeitumständen und situativer Lage der jeweiligen Gesellschaften kommt es zu sehr spezifischen Mixturen der hier nur angedeuteten Instrumente der sozialen Kontrolle. Sie werden zeitorientiert und reaktiv angewendet, um in einer spezifischen gesellschaftlichen Situation ‚passgenau‘ reagieren zu können. Zusammenfassend kann man von einem Strukturwandel des Selbstverständnisses der Politik als zentralem gesellschaftlichem Steuerungsmedium sprechen. Die „moderne Gesellschaft (versteht) sich als gesteuerte Gesellschaft“169 – und diese Formulierung charakerisiert das Selbstverständnis der Sozialwissenschaften ab den 70er Jahren grundlegend. Die ‚Systemintegration‘ sollte – so die damalige Terminologie – über verschiedene Mechanismen vollzogen werden, aber die „politische Gesellschaftssteuerung ist einer der wichtigsten.“170 Zwar ist in modernen Gesellschaften die Politik nur ein Teilsystem der Gesellschaft unter vielen anderen, aber differenzierungstheoretisch liegt ihre „gesellschaftliche Funktion“ darin, „diejenigen Probleme der gesellschaftlichen Systemintegration zu bearbeiten, die nirgendwo anders bearbeitet werden“ können. Es ist genau diese „‘Libero‘Aufgabe“, die die Funktion des politischen Systems zwar ‚salopp‘, aber dennoch präzise beschreibt.171 Diese Vorstellung ist den modernen Gesellschaften am Ende des Jahrhunderts verloren gegangen – und den Sozialwissenschaften inzwischen auch. Politisches Lernen im Sinnen von K. W. Deutsch findet nicht statt, dazu fehlten die strukturellen und politischen Voraussetzungen. Politik wandelt sich auch nicht, wie der schwedische Politikwissenschaftler H. Tingsten mutig postulierte, zu einer „Art angewandter Statistik“172, die dann die eigentliche Politik überflüssig macht. Alle diese Voraussagen oder Behauptungen erwiesen sich als falsch, weil sie die Planungs- und Politikpotentiale dramatisch überschätzten. Einer, vielleicht sogar der wichtigste Grund hierfür lag in einem fundamentalen Missverständnis dessen, was Politik ausmacht. Die Politik wurde in der Steuerungsdiskussion durch den
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Staat ersetzt, der sozusagen über der Politik und ihren Konflikten schwebt und deshalb gesamtgesellschaftliche Interessen und die damit verbundenen rationalen Problemlösungen realisieren könnte. Der Steuerungsbegriff verdrängte den der politischen Planung, wobei Steuerung der weit anspruchsvollere und voraussetzungsvollere Begriff war und in der Tat einen „Paradigmenwechsel“173 im Selbstverständnis der modernen Gesellschaften und in den Sozialwissenschaften signalisierte. Skeptische Stimmen wurden von den Steuerungstheoretikern meist überhört, aber sie waren gleichwohl nicht unüberhörbar und wurden bereits früh laut. Ch. E. Lindblom machte in immer neuen Anläufen deutlich, dass soziale und gesellschaftliche Probleme nicht rational oder objektivistisch bestimmbar, sondern hochgradig umstritten, genauer: politisch umstritten sind und im tradierten Sinne nicht lösbar sind. Denn in der Politik spielt Macht – wie vor allem K. W. Deutsch betont hat – eine zentrale Rolle. Wer Macht besitzt bzw. mehr Macht als andere hat, kann ‚Probleme‘ ignorieren oder seinen ‚Problemen‘ eine höhere Priorität einräumen. Erschwerend tritt hinzu, dass die modernen Gesellschaften ‚Probleme‘ hervorbringen, die hochgradig kompliziert und interdependent sind, so dass sie sich nicht ‚lösen‘, sondern allenfalls schrittweise und sporadisch bearbeiten lassen. Allein „Sich-Durchwursteln“ ist machbar. Man kann das mit wissenschaftlichen Methoden plausibler machen, aber es bleibt beim Sich-Durchwursteln. Später wurde diese Sichtweise bei Ch. E. Lindblom pessimistischer. Politik ist jetzt nur noch „still muddling, but not yet through.“174 Aber immer war sein Ausgangspunkt, dass Politik ein umkämpftes und konflikthaftes Phänomen ist, bei der man mit Macht, v. a. der großen Interessengruppen, aber auch der politischen Parteien, bestimmte Optionen negieren und andere privilegieren kann. Zudem wird in den modernen Gesellschaften am Ende des 20. Jahrhunderts deutlich, dass sich die Politik polarisiert und neue (partei)politische Konstellationen entstehen. Die Fragmentierung und Polarisierung vieler Parteiensysteme macht klar, dass nicht nur die Legitimität der alten Parteien abnimmt, sondern zugleich neue, meist populistische Parteien entstehen. Die Parteiensysteme treiben in Richtung eines polarisierten Pluralismus oder haben ihn bereits realisiert. N. Luhmann hat der Idee der gesellschaftlichen Steuerung schließlich den Todesstoß versetzt. In einer sich globalisierenden bzw. globalen Welt sind die technologischen, wirtschaftlichen und sozialen Dynamiken, die wegen der modernen Massenmedien schnellen und variierenden Aufmerksamkeitsstrukturen und das unkalkulierbar gewordene politische Publikum, durch die Politik nicht mehr zu kontrollieren. Nichtlineare Dynamiken, unberechenbare Wechselwirkungen und hohe Komplexität lassen allein schnelle Reaktionen zu, aber keine rationale Steuerung. Politik – so N. Luhmann in einer frühen Formulierung Anfang der 80er Jahre – operiert „im Blindflug nach Maßgabe intern geprüfter Indikato-
10.6. Die Logik der verspäteten Politik und das Ausmaß des Zuspätkommens
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ren.“175 Damit ist – zumindest für ihn – alles gesagt. Statt zielorientierter Rationalität dominiert nun zeitorientierte Reaktivität – so seine mit stilistischer Eleganz formulierte, zentrale Prämisse. Damit kommen auch neue politische Praxen zum Vorschein, die man bisher nur empirisch und fragmentarisch beobachten, aber noch nicht vollständig systematisieren bzw. theoretisieren kann. Einige habe ich oben erwähnt, ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit oder analytische Systematik zu formulieren. Auch das Ausmaß des Zuspätkommens mag sich am Ende des Jahrhunderts verändert haben. Politik verspätet sich immer mehr, ihre Abläufe halten mit der Geschwindigkeit der modernen Welt nicht mehr Schritt. Und wenn, dann nur unter Umgehung zentraler Prämissen demokratischer Politik. Die Reaktionen auf die Finanzkrise 2008/2009 sind ein beredtes Beispiel hierfür. Man kann sich heute nur wundern, mit welcher sturen Ignoranz, verbunden mit einer massiven Selbsttäuschung, am Ende des 20. Jahrhunderts und v. a. seit Beginn des neuen immer noch an der Prämisse der Lösung von Problemen durch die Politik festgehalten wird. Aber irgendwann erwacht jeder aus seinen Träumen. Je länger aber der Traum dauert, desto schmerzhafter wird das Erwachen. Anmerkungen 1 Vgl. dazu umfassend Orleck/Hazirjian (eds.) 2011. 2 Zit. nach Streeck 2015: 67. 3 So der Titel eines nach wie vor lesenswerten Buches von Carl Böhret, der damals an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer den Lehrstuhl für Politikwissenschaft inne hatte und zugleich deren Rektor von 1989 bis 1991 war. C. Böhret war auch lange Zeit Mitglied der Projektgruppe Regierungs- und Verwaltungsreform, die Vorschläge für eine Reorganisation der Bundesregierung, inklusive einer Neuordnung der Geschäftsbereiche der Bundesministerien, erarbeiten sollte; vgl. Böhret 1990; ders. 1995. 4 Böhret 1990. 5 Etzioni 1968. 6 Streeck 2015: 69f. 7 Rosenau 1992; ders. 2000. 8 So der Untertitel eines Buches über „Weiche Steuerung“; vgl. Göhler/Höppner/De La Rosa 2009. 9 Lindblom 1959. 10 Grundlegend hierzu insgesamt Luhmann 2000; das Zitat findet sich auf S. 142. 11 Deutsch 1963. 12 Ich zitiere im Folgenden aus der um ein Vorwort erweiterten deutschen Ausgabe; vgl. Deutsch 1973.
13 Deutsch 1973: 329. 14 Deutsch 1973: 171; in der englischen Fassung lautet der zentrale Satz: „Power is the ability to afford not to learn.“ Deutsch 1963: 111. 15 Deutsch 1973: 227. 16 Wiener 1948; dt. Übersetzung 1968. 17 Deutsch 1973: 26. 18 Deutsch 1973: 27. 19 Deutsch 1973: 28. 20 Deutsch 1973: 31. 21 Deutsch 1973: 255. 22 Deutsch 1973: 323. 23 Deutsch 1973: 324. 24 Deutsch 1973: 284. 25 Deutsch 1973: 142. 26 Deutsch 1973 330. 27 Deutsch 1973: 240, 329. 28 Deutsch 1973: 300f. 29 Die Begriffe sind verstreut, aber bei Deutsch 1973 auf den Seiten 240 bis 244 zu finden. 30 Deutsch 1973: 233. 31 So etwa die Kritik an der Konzeption von K. W. Deutsch von Michael Th. Greven; vgl. Greven 1974: bes. 125ff. 32 Deutsch 1973: 187. 33 Dies sind in etwa die Positionen von Dieter Senghaas und Wolf-Dieter Narr; vgl. etwa Senghaas 1966; Narr 1971. 34 Zit. nach Müller, J.-P. 2013: 243. 35 Ebd.
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10. Die Politik der Rationalität und ihr Scheitern Forsthoff 1971: 12. Forsthoff 1971: 30 und ff. Forsthoff 1971: 41. Forsthoff 1917: 33. Forsthoff 1917: 168. Lindblom 1959; ders. 1979. vgl. etwa Lindblom etwa 1959; ders. 1965; ders. 1968; ders. 1979; ders. 1990. Lindblom 1965. Der Kern des von Lindblom favorisierten Inkrementalismus liegt nach Gregory darin, dass „(…) unlike his critics he has understood very clearly that the political baby is an extremely resilient one, which (…) has a peculiar rationality of its own.” Gregory 1989: 145. Und an anderer Stelle heißt es in demselben Aufsatz: “public policy making has to be understood essentially as a political process rather than an analytical, problem-solving one.“ Gregory 1989: 147. Lindblom 1993: 3. Lindblom/Woodhouse 1993: 11f. Lindblom/Woodhouse 1993: 4. Lindblom/Woodhouse 1993: 8. Lindblom 1983. Simon 1959. Lindblom 1979: 519. In Lindblom’s Worten: „(…) it does not aim for the moon, because it knows it cannot get their, so it sets out deliberately to aim what is possible.” So Lindblom 1979: 519. Lindblom 1979: 517. Schimank 2005: 198. Lindblom 1959. Lindblom 1959: 81. Lindblom 1959: 84f. Lindblom 1990: 36f. U. Schimank unterscheidet drei Konstellationstypen, nämlich Verhandlungs-, Beeinflussungs- und Beobachtungskonstellationen. Erste haben einen hohen Verbindlichkeitscharakter, können hohe Erwartungssicherheit produzieren und sind kosten- und zeitintensiv. Letztere dagegen sind nur flüchtig verbindlich, produzieren nur eine geringe Erwartungssicherheit, sind aber dafür wenig kosten- und zeitgünstig. Die Beeinflussungskonstellationen liegen in etwa zwischen beiden Formen; vgl. Schimank 2005: 139-142. Ch. E. Lindblom schlägt insgesamt 12 solcher Methoden vor, die etwas unsystematisch aufgeführt werden. Ich will mich hier auf die konzentrieren, die unter den Begriff der Beobachtungskonstellationen fallen, also nicht-verhandelt und nicht-koordiniert sind im Sinne von dauerhafter und stabiler, also formalisierter Interaktionen. Lindblom 1965: 154. Lindblom 1965: 3. Lindblom/Woodhouse 1993: 68; Herv. i. O.
64 Gleichwohl sind beide Sachverhalte nicht zwingend übereinstimmend. Ch. E. Lindblom selbst sagt, dass man sich ein Land vorstellen kann, in dem sich inkrementalistische Reformen ohne inkrementalistische Analyse oder „partisan mutal adjusment“ vollziehen; und umgekehrt kann man sich Letzteres auch bei nicht-inkrementalistisches Reformen vorstellen; vgl. Lindblom 1979: 523. 65 Lindblom 1979: 520. 66 Lindblom 1980: 401. 67 Ich stütze ich mich im Folgenden stark auf Weiss/Woodhouse 1992. 68 vgl. statt vieler Dror 1964: 155; Etzioni 1968: 387. 69 Etzion 1968: 387; Dror 1964: 155. 70 Braybroke/Lindblom 1963: 109. 71 Vgl. etwa Lustick 1980: bes. 348f. 72 Vgl. etwa Hayes 1987: 463. 73 Lustick 1980: 345; 438. 74 Luhmann 2010: 265. 75 Luhmann 2010, die von André Kieserling mit einer knappen editorischen Notiz aus dem Nachlass herausgegeben wurde. In dieser Vorlesung bzw. dieser Schrift ist Luhmann auf dem neuesten Stand der damaligen politikund sozialwissenschaftlichen Diskussion, was man bei der „Politik der Gesellschaft“ nicht mehr sagen kann. 76 Luhmann 1989. 77 Luhmann 1989: 13. 78 Ebd. 79 Ebd. 80 Luhmann 1989: 14. 81 Luhmann 1989: 15. 82 Ebd. 83 Luhmann 1989: 14. 84 Luhmann 1989: 15. 85 Luhmann 1989: 16. 86 Ebd. 87 Ebd. 88 Luhmann 2000. 89 Die Sekundärliteratur zu N. Luhmann’s „Politik der Gesellschaft“ hat den Zeitaspekt völlig ignoriert. An keiner Stelle wird das Problem der Zeit diskutiert, geschweige denn als wichtige, vielleicht sogar wichtigste Neuerung thematisiert. Überdeutlich wird dies in den beiden Sammelbänden zu seiner Theorie der Politik, in denen Zeit faktisch nicht vorkommt; vgl. Hellman/Schmalz-Bruns (Hg.) 2002; Hellmann/Fischer/Bluhm (Hg.) 2003. 90 Luhmann 2000: 142f. 91 Luhmann 2000: 143. 92 Ebd. 93 Ebd. 94 Ebd. 95 Ebd. 96 Luhmann 2000: 144. 97 Luhmann 2000: 164.
10.6. Die Logik der verspäteten Politik und das Ausmaß des Zuspätkommens 98 99 100 101 102 103 104 105 106 107 108 109 110 111 112 113 114 115 116 117
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Luhmann 2000: 169. Luhmann 2000: 149. Luhmann 2000: 84. Luhmann 2000: 254. Scharpf 1989: 19. Scharpf zitiert hier Schimank 1988: 21. Schimank 1988: 20. Ebd. Schimank 1988: 22. Ebd. Das Folgende stützt sich – zum Teil wörtlich – auf Seifer/Rüb 2007. Mayntz 1973: 116. Mayntz 1973: 99. Statt vieler vgl. etwa Pfaff/Voigtländer (Hg.) 1978; Widmaier 1970. Vgl. dazu ausführlicher und umfassender Kaufmann/Rosewitz 1983; Windhoff-Heritier 1987: 27-35; Braun/Giraud 2003. Mayntz 1987: 94. Mayntz 1987: 93. Mayntz/Scharpf 1995: 9. Vgl. Kaufmann/Rosewitz 1987. Studien aus dem Bereich der Sozialpolitik zeigten, dass gerade sozial Schwächere, deren Position durch Rechtsänderungen verbessert werden sollte, ihre Rechtspositionen häufig nicht realisieren konnten. Die Dunkelziffer bei der Nichtinanspruchnahme der Sozialhilfe ist nur ein Beispiel von vielen. Vgl. dazu statt vieler Luhmann 1981; Willke 1987; ders. 1996; Wiesenthal 2006. Ritter, E.-H. 1979. Für die Veränderungen, die sich aus der Entgrenzung des Regierens durch Europäisierung und Internationalisierung ergeben, vgl. Zürn 1998. Mayntz/Scharpf 1995a: 9. Mayntz 1995: 165. Ritter, E.-H. 1979: 409. Die ersten Studien kamen von H. Heclo und A. Wildavsky für die USA zu Beginn der 70er Jahre; vgl. Heclo/Wildawski 1974; dann vor allem von R. A. W. Rhodes und D. Marsh/R. A. W. Rhodes für Großbritannien; vgl. Rhodes 1988; Marsh/Rhodes (Hg.) 1992; für die deutsche Diskussion statt vieler Döhler 1990; zusammenfasssend Coleman 2002. Lange 2000: 23. Schuppert 1998: 37f. Treutner 1998. Dose/Voigt (Hg.) 1995. Mayntz 1988: 21. Vgl. Schimank 2000a: 128f. Brozus/Take/Wolf 2003. Zürn 1998: 169f. Vgl. etwa Benz (Hg.) 2004; Kersbergen/Waarden 2004; Kjaer 2004; Pierre (ed.) 2000; Schuppert (Hg.) 2005; Schuppert 2005.
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134 Dies ist nicht immer ganz einheitlich, weil „governance“ und steuern (aber auch regieren) häufig identisch gesetzt werden. Dies liegt u.a. daran, dass das Deutsche keine Verbform bereithält, die das Substantiv aktiviert; es sei denn man versucht es mit „governancen“. Prototypisch etwa der Sammelband von A. Benz, der den Titel trägt: „Governance – Regieren (!!!!) in komplexen Regelsystemen“; vgl. Benz (Hg.) 2004; Herv. von mir. 135 Kersbergen/Waarden 2004: 143. 136 Paul Hirst unterscheidet fünf (Hirst 2000: 14-22), während Rod Rhodes sogar sieben Dimensionen bzw. ‚Versionen‘ unterscheidet (Rhodes 2000: 55-64). 137 Nach Hirst 2000; Rhodes 2000. 138 Krasner (Hg.) 1983. 139 Rosenau/Czempiel (Hrsg.) 1992. 140 Vgl. etwa und statt vieler World Bank 1992. 141 Das Konzept wird prominent und (fast) exklusiv von Jan Kooiman vertreten; vgl. Kooiman 1999; ders. 2000. 142 „(…) that governance refers to something broader than government” oder “something more than government.” Kjaer 2004: 7 bzw. 189; Herv. i. O. 143 Diesen Aspekt betont u.a. Kjaer 2004: 7-11. 144 Kjaer 2004: 7. 145 Das betont vor allem Offe 2009. 146 Die folgenden Überlegungen gegen lose zurück auf Kooiman 1999; ders. 2000. 147 „Tatsächlich sind diese Gesellschaften in mancher Hinsicht bereits außer Kontrolle geraten, und es scheint an der Zeit zu sein, sich nach angemesseneren Formen der Steuerung hochkomplexer Systeme umzusehen.“ Willke 1996: 708. 148 Rosenau 1992; ders. 2000. 149 Peters/Pagotto 2004: 5 150 Das Folgende geht zurück auf Gerhard Göhler, der auch den Begriff der ‚weichen Steuerung‘ statt den der Governance verwendet; vgl. Göhler 2010 151 Göhler 2010: 38. 152 Deutsch 1973: 171. 153 So der Titel eines Aufsatzes von Rod A. W. Rhodes aus den frühen 90er Jahren; vgl. Rhodes 1994. 154 Rhodes 2000: 84. 155 Lange/Schimank 2004: 19. 156 Lange/Schimank 2004: 19-25. 157 Streeck 2015: 74. 158 Wie bereits oben erwähnt, stammen diese Formulierungen von N. Luhmann, vgl. Luhmann 2000: 142. 159 Vgl. dazu Der Tagesspiegel vom 06.09.2018. 160 Vgl. dazu statt vieler Dalton 1998; Dalton/ Bürklin 2003; Rattinger/Gabriel/Falter 2007. 161 Dalton/Bürklin 2003.
534 162 Diese Merkmale gehen unverkennbar zurück auf Giovanni Sartori; vgl. Sartori 1976: bes. Kap. 6 und Kap. 9.1. 163 Vgl. dazu Streeck 2015, auf den sich das Folgende weitgehend stützt. 164 Thaler/Sunstein 2008; Sunstein 2014. 165 Unter Präsident Donald Trump wurde diese Einheit natürlich aufgelöst und sie existiert heute nicht mehr. 166 Streeck 2015: 77.
10. Die Politik der Rationalität und ihr Scheitern 167 168 169 170 171 172 173 174 175
Ebd. Streeck 2015: 78. Schimank 2000c: 11. Schimank 2000c: 13. Edb. Zit. nach Müller, J.-P. 2013: 243. Mayntz 1995: 163. Lindblom 1979. Luhmann 1981: 61.
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11. Die Politik der Parteien: Von den Massen- über die Volksparteien bis zu den Parteien der professionellen Berufspolitiker bzw. den autoritär-populistischen Staatsparteien Die Gesellschaften des 20. Jahrhunderts und deren Politiken sind ohne die politischen Parteien nicht vorstellbar. Sie sind zum zentralen politischen Phänomen aufgestiegen und ohne sie sind die Politiken weder in den demokratischen noch in den sozialistischen Ländern dieses Jahrhunderts zu verstehen. Jede realistische Vorstellung von Politik beruht auf der Omnipräsenz der politischen Parteien und ihrer Repräsentanten, die durch die modernen Medien forciert wird. Politik und Massenmedien sind zu einem untrennbaren Konglomerat verschmolzen und die Kommunikation der Parteien mit dem Publikum verläuft fast ausschließlich über das Mediensystem. Auch die parteiinterne Kommunikation verzichtet weitgehend auf eigene Medien und bedient sich stattdessen ebenfalls der modernen Massenmedien. Politische Parteien kommunizieren laufend mit ihren Mitgliedern und potentiellen Wählern, aber im Lauf des Jahrhunderts haben sich dramatische Änderungen hinsichtlich Programmatik, Mitgliederbasis, funktionaler Bedeutung und Kommunikation mit der Öffentlich vollzogen. Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, zum Teil aber auch schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts, entstand ein Parteientypus, der zumindest den Beginn des 20. Jahrhunderts prägte, aber in dessen Verlauf durch andere Typen abgelöst wurde. Zentral für die Entwicklung des Typus der Massenpartei waren mehrere Faktoren, aber möglichweise war die Entstehung der Demokratie und die damit verbundene Politisierung der Massen am wichtigsten. Während unter dem Klassenwahlrecht und vor der Einführung des allgemeinen Wahlrechts die sogenannten Honoratiorenparteien die politische Landschaft dominierten und in den Parlamenten auch nicht-gewählte Vertreter politisch agieren konnten, änderte sich dies mit der Einführung des allgemeinen Wahlrechts grundlegend. Mit der Novemberrevolution im Jahr 1918 wurde – wenn auch sehr verspätet im Vergleich zu anderen europäischen Ländern – in Deutschland das allgemeine Wahlrecht eingeführt und der Übergang vom autoritären Regime zur Demokratie vollzogen. Nun stellte sich die Frage, wie man die bisher von der politischen Teilnahme ausgeschlossenen Massen organisatorisch erfassen, wie sie sich politisch verhalten und wie sie ihre Ideologien, Ideen und Interessen in den politischen Prozess einbringen könnten. Die Politik der politischen Parteien – neben allen Differenzen im Detail – ist auf zwei zentrale Sachverhalte ausgerichtet. Ein interner darauf, eine mehr oder weniger umfassende politische Programmatik zu formulieren, die innerparteilichen Konflikte zu regulieren und – als vielleicht wichtigsten Punkt – Mitglieder zu gewinnen, zu behalten, in ihrem politischen Verhalten zu beeinflussen und
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11. Die Politik der Parteien
sich als organisierte politische Größe in der Gesellschaft zu verankern, um einen möglichst hohen Anteil an Wählerstimmen zu realisieren. Der externe ist darauf orientiert, die jeweilige Programmatik im Kampf um Anteile an politischer Macht gegenüber anderen Parteien durchzusetzen und Mehrheiten bei Wahlen oder anderen Anlässen zu gewinnen. Die Parteienkonkurrenz entwickelt so eine eigene politische Dynamik, weil der Anteil an Wählerstimmen über den jeweiligen Anteil an politischer Macht entscheidet. Politische Macht drückt sich vor allem in der Besetzung von staatlichen Positionen und Ämtern aus und die politischen Parteien versuchen, diesen Anteil durch diverse Politiken zu maximieren. Hierbei verändern sie nicht nur den Modus der Parteienkonkurrenz, sondern auch sich selbst und es entstehen neue Parteitypen, die sich von ihren Vorgängern deutlich unterscheiden. Politische Parteien agieren sowohl in der Gesellschaft als auch im Staat und man kann die verschiedenen Parteientypen auch daran unterscheiden, ob der Schwerpunkt ihrer Tätigkeit in der Gesellschaft oder im Staat liegt und wie die Beziehung zwischen beiden ausgeprägt ist. Die Massenpartei hat ihren Schwerpunkt im gesellschaftlichen Bereich, konkret bei der Organisation und Führung der Massen bzw. ihrer Mitglieder, auch wenn sie über einen parlamentarischen Arm verfügt, der in der Versammlung agiert und an politischen Entscheidungen beteiligt ist. Während bei ihr die intern orientierte Politik dominiert, kann es Parteien geben, bei denen der Schwerpunkt in der politischen Konkurrenz liegt und die vor allem in den Institutionen des Staates und aus ihm heraus agieren. Hier dominieren dann die externen Faktoren und es kann durchaus Parteien geben, die mit nur wenigen oder gar keinen Mitgliedern an der Parteienkonkurrenz beteiligt sind, deren Tätigkeitsfeld vor allem im Staat liegt und die auch im wesentlichen von ihm und nicht über Mitgliedsbeiträge finanziert werden. Ebenso gibt es Parteien, die umfassende Gesellschaftsentwürfe zu ihrem Programm erhoben haben, während wieder andere sich in ihrer Programmatik von anderen allein bei bestimmten Policies, wie etwa bei der Steuer- oder Sozialpolitik, unterscheiden und konkurrierende Gesellschaftskonzepte ad acta gelegt haben. Moderne Massengesellschaften, das wurde zu Beginn des Jahrhunderts schnell klar, waren mit unterschiedlichen Ideologien und Interessen konfrontiert und die Arbeitermassen waren nur ein, wenn auch schlagkräftiger und politisch gefährlicher Teil der Massen. Denn sie wollten als (Massen)Partei organisiert nicht allein ihre Interessen in den entstehenden kapitalistischen Gesellschaften vertreten, sondern eine neue Gesellschaft errichten, die jenseits des Kapitalismus angesiedelt sein sollte und in dem die Arbeiterklasse selbst die politische Macht ausübt. Russland war diesen Weg gegangen und seit dem Oktober 1917, aber natürlich auch schon zuvor, war in den Arbeiterbewegungen der kapitalistischen Länder diese programmatische und politische Alternative präsent. Der Klassenkampf erforderte selbstverständlich eine spezifische Organisation der entsprechenden
11. Die Politik der Parteien
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Klasseninteressen und dies prägte die Struktur der sozialistischen bzw. Arbeiterparteien in den westeuropäischen Ländern. Dies gilt erst Recht für die an die Macht gelangten sozialistischen Parteien, die folgerichtig ihre Gesellschaften nach der sozialistischen Programmatik radikal umgestalteten und neue Anforderungen an die politischen Parteien stellten. Die Diktatur des Proletariats erfordert völlig neue organisatorische und programmatische Strukturen, weil sie vor und vor allem nach der Machteroberung spezifische Aufgaben zu erfüllen hat. Die sozialistisch-revolutionäre Arbeiterpartei ist – nach W. I. Lenins Worten – eine „Partei neuen Typs“, die in der Geschichte beispiellos geblieben ist. Diese Partei neuen Typs war für die politische Dynamik des 20. Jahrhunderts ebenso wichtig wie die tradierten politischen Parteien in den demokratischen Massengesellschaften, die in freien Wahlen um Anteile an politischer Macht kämpften. Beide Parteitypen, die Massen- und die revolutionäre Partei, waren zum einen mit der Aufgabe konfrontiert, eine flächendeckende und dauerhafte Mobilisierung und Organisierung der Massen bzw. spezifischer Segmente der Masse zustande zu bringen und in den politischen Kämpfen zu führen. Zum anderen stellten die Massengesellschaften ein riesiges Potential an Personen zur Verfügung, die man auf freiwilliger Basis zum Organisieren dieser Organisationen brauchte und deren laufenden ‚Betrieb’ gewährleisten sollten. Sowohl die politischen Parteien in den westlichen Demokratien als auch die an die Macht gelangten revolutionären Parteien waren im Kern mit diesen Aufgaben konfrontiert, bearbeiteten sie allerdings sehr unterschiedlich. Partei ist nicht gleich Partei. Dies gilt zunächst für einen synchronen und noch weit mehr für einen diachronen Vergleich. Die politischen Parteien in den (Massen)Demokratien und die Kommunistischen Parteien ‚neuen Typs‘ haben wenig Gemeinsamkeiten. Die Parteien der Massendemokratien, die Robert Michels und andere vor Augen hatten, und die Parteien, die heute die politische Bühne besetzen, haben außer dem Namen ‚Partei‘ fast nichts mehr gemein. Ihre internen wie externen Politiken unterschieden sich grundlegend. Nicht nur ihre Programmatiken haben sich geändert, sondern auch ihre organisationalen Strukturen und ihre damit verbundenen Vermittlungsmechanismen zwischen Gesellschaft und Staat. Zugleich haben sich die Strategien und Techniken der Wahlkämpfe im Zeitalter der Medialisierung und Computerisierung geändert, was erhebliche Auswirkungen auf die Führung von Wahlkämpfen und auf die Auswahl der KandidatInnen hat. Die politikwissenschaftliche Parteienforschung hat erst in der neueren Zeit eine stärker soziologische, besser: organisationssoziologische Sichtweise auf das Phänomen der politischen Parteien entwickelt. War bislang die Geschichte von Parteien meist die Geschichte ihrer Parteiprogramme, so sind seit den 60er Jahren Forschungen dominant geworden, die sie als organisatorisches Phänomen betrachten und hierbei teilweise – und teilweise sehr selektiv – auf R. Michels zu-
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11. Die Politik der Parteien
rückgegriffen haben. Die anglo-amerikanische Parteienforschung hat sich in den frühen 60er Jahren intensiv mit den beiden „Klassikern“ R. Michels und M. Ostrogorski auseinandergesetzt.1 Aber kaum einer hatte den Ausgangspunkt der Parteienforschung so klar formuliert wie Maurice Duverger bereits 1951 in seinem „Les Partis Politiques“2: „Denn die heutigen Parteien lassen sich weniger durch ihr Programm oder durch soziale Zugehörigkeit ihrer Anhänger bestimmen als durch die Art ihrer Organisation: Eine Partei ist eine Vereinigung von besonderer Struktur. Was die modernen Parteien charakterisiert, ist vor allem ihre Anatomie: Auf die Protozoen der früheren Zeit ist der komplexe und differenzierte Organismus des 20. Jh. gefolgt.“3
Sein Referenzpunkt für diese Sichtweise ist – neben M. Ostrogorski – R. Michels Werk, in dem „in heute noch zutreffenden Begriffen die oligarchischen Tendenzen der Massenorganisation“4 dargestellt sind. Als politische Organisationen haben Parteien eine Besonderheit: sie verknüpfen Gesellschaft und Staat durch ein komplexes System der Delegation und Vermittlung. Das sogenannte „Linkage“Konzept5 geht davon aus, dass die politischen Parteien das zentrale Bindeglied zwischen der Gesellschaft und den Institutionen des Staates sind und in beiden Sphären verankert sein sollten. Die Verankerung in der Gesellschaft erfolgt über Parteimitgliedschaften oder andere, den Parteien nahestehenden Organisationen und die Verbindung zum Staat über (gewählte) Vertreter der Parteien in staatlichen Positionen, insbesondere in Parlament und Regierung, aber auch in der Bürokratie. Dies setzt eine wie auch immer geartete Vorstellung von Delegation voraus, bei der die Delegierten die Interessen und Normen der Delegierenden vertreten und umgekehrt die Delegierenden die Delegierten – in welcher Form auch immer – für ihre Handlungen politisch verantwortlich machen können. In den Worten von Kay Lawson ist Linkage „a substantive connection between rulers and ruled.“6 Die Partei ist ein einzelner Verbindungskanal zwischen Gesellschaft und Staat, während das Parteiensystem mit seinen Konkurrenzmechanismen das Kanalisationssystem ist, ein „system of channelment, propelled and maintained by its own laws and inertia.“7 Für Parteien ist Organisation nötig und die jeweiligen Parteientypen sind als „organisierte Anarchien“8 eine besondere Organisationsform, die wiederum dem Parteiensystem als ‚system of channelment‘ eine spezifische Struktur geben. In der neueren Parteientheorie werden verschiedene Parteitypen unterschieden, die jeweils sehr unterschiedliche Strukturen und Formen dieser Linkages ausprägen. Je besser der Fluss von Interessen und Normen der Gesellschaft in den Staat durch dieses Kanalisationssystem ist, desto besser ist die Verbindung zwischen der plural gedachten Gesellschaft und dem demokratischen Staat ausgeprägt. Anders formuliert: desto demokratischer kann eine Demokratie sein. Sind die Kanäle zwischen Gesellschaft und Staat aus welchen Gründen auch immer verstopft und/oder verfolgen die Delegierten eigene Interessen, dann wird die demokrati-
11. Die Politik der Parteien
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sche Qualität der Demokratie vermindert. Fast gegenläufig dazu steht die revolutionäre Partei. Sie bzw. ihre Führungsgruppe formuliert ein umfassendes politisches Programm, das auf die Realisation einer sozialistischen Gesellschaft zielt. Die Partei selbst ist zentralistisch organisiert, agiert legal oder illegal – je nach historischer Lage –, ist sich der geschichtlichen Wahrheit gewiss, die ihrem Programm zugrunde liegt, und setzt ihr Programm mit Gewalt gegen alle Widerstände durch. Diese ‚Partei neuen Typus‘ hat dann im Oktober 1917 in Russland die Macht ergriffen und ihre Vorstellungen diktatorisch, in bestimmten Phasen totalitär, gegenüber allen Widerständen durchgesetzt. Fast das gesamte Jahrhundert hindurch konkurrierten diese zwei diametral entgegengesetzte Gesellschafts- und Politikmodelle und damit auch zwei diametral entgegengesetzte Vorstellungen von den Funktionen, dem Aufbau und der Politik von politischen Parteien. Ich versuche den Strukturwandel der politischen Parteien und – damit verbunden – den der Politik der Parteien in verschiedenen Schritten nachzuzeichnen. Ich beginne mit den Massenparteien, die den Beginn des Jahrhunderts kennzeichneten und konzentriere mich hierbei auf R. Michels, der das für die damalige Zeit wichtigste Buch über das Parteiwesen geschrieben hat. Ein Seitenblick auf die von Lenin im Kontext der russischen Revolution formulierte Parteientheorie der revolutionär-sozialistischen Partei ergänzt das Kapitel (Kap. 11.1.) Ab den 50er Jahren beginnt in den westlichen Demokratien ein neuer Parteientypus zu dominieren, der von verschiedenen Autoren als Volks- oder Allerweltspartei bezeichnet wird und sich vom Grundmuster der tradierten Massenparteien erheblich unterscheidet (Kap. 11.2.). Mit welchem Parteientypus wir es heute in den modernen Demokratien zu tun haben und durch welche typologischen Merkmale er gekennzeichnet ist, ist umstritten, Es konkurrieren verschieden Begrifflichkeiten, wie etwa Kartellpartei, professionelle Medienkommunikationspartei oder auch professionalisierte Wählerpartei. Alle diese Konzepte beobachten erhebliche organisationelle Änderungen und stellen diese – wie R. Michels – in den Mittelpunkt ihrer Analyse. Schließlich enden diese Konzepte in einer Krisendiagnose der Demokratie, die im Kern dramatischer und beunruhigender ist als bei R. Michels und eine funktionalistische Umdeutung, wie bei der Volks- oder Allerweltspartei, nicht mehr erlaubt (Kap. 11.3.). Parteien operieren heute aus dem Staat heraus und ich versuche zu klären, welche Folgen das für die Parteientheorie bzw. für eine Politik der Parteien hat, wenn sie nicht mehr als gesellschaftliche, sondern als quasi-staatliche Organisationen agieren und wie sich Delegation und politische Verantwortlichkeit verändern (Kap. 11.4.). Von diesen Dynamiken bleibt weder das Konzept der politischen Partei noch das der Demokratie als Staatsform unberührt. Am Beispiel der ungarischen Partei FIDESZ und ihres Vorsitzenden und zugleich Ministerpräsidenten Victor Orbán verdeutliche ich den Wandel von der professionalisierten Wählerpartei zur autoritär-populistischen Staatspartei, die den gesamten politischen Prozess dominiert und sowohl den de-
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11. Die Politik der Parteien
mokratischen Parteienstaat als auch dessen rechtsstaatliche Bausteine schrittweise zu einem hybriden Regime umbaut. Polen ist diesem Beispiel neuerdings gefolgt, so dass man von einer Tendenz zur Aushöhlung demokratischer Strukturen in bestimmten Staaten der EU sprechen kann. Die Politik dieser politischen Parteien steht hierbei erneut im Mittelpunkt (Kap. 11.5.).
11.1. R. Michels „ehernes Gesetz der Oligarchie“ und W. I. Lenins „Partei neuen Typs“ Zu Beginn des Jahrhunderts war die Theoretisierung der politischen Parteien ein gewichtiges Moment in der sozialwissenschaftlichen Diskussion, konkret deren Organisationsstruktur und deren politische Aufgaben. Die Parteien waren zwar in vielen europäischen Ländern, auch in Deutschland, ein bekanntes politisches Phänomen, dessen Theoretisierung aber noch in den Anfängen steckte. Den Grundstein legte sicherlich M. Ostrogorski, aber die wichtigsten Ausformulierungen haben eher R. Michels und W. I. Lenin vorgenommen. Ersterer hatte die deutsche Sozialdemokratie im Blickpunkt und in und mit dieser Partei seine Erfahrungen gemacht, die er nicht unbedingt als positiv betrachtete und in seinen Theoretisierungsversuchen ihren Niederschlag fanden. W. I. Lenin formulierte seine Parteientheorie aus den praktischen Erfordernissen heraus, die sich für ihn und die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands stellten. Sie wurde von ihm als Instrument konzipiert, das in den verschiedensten Phasen der russischen Revolution jeweils unterschiedliche Aufgaben zu erfüllen hatte; aber immer war ihm klar, dass nur mit ihrer Hilfe und mit ihm an der Spitze diese Partei die sozialistische Revolution erfolgreich erkämpfen und den Sozialismus in einem Land einführen konnte.
11.1.1. R. Michels Parteientheorie und sein „ehernes Gesetz der Oligarchie“ Die Massenpartei oder – wie sie Sigmund Neumann bezeichnet hat – die „party of social integration“9 war der Parteientypus, mit dem R. Michels konfrontiert war, dem sein ganzes Augenmerk galt und in dem er in Form der SPD ein idealtypisches Exemplar sah. Er selbst war seit 1903 Mitglied der SPD und hatte verschiedene Kandidaturen für parteiliche und öffentliche Ämter übernommen, unter anderem bei der Reichstagswahl 1903. Er vertrat die Marburger SPD auf verschiedenen Parteikongressen und machte auf diese Weise wichtige Erfahrungen mit ihrer Operationsweise, die er dann in vielen seiner Schriften reflektierte und theoretisierte, insbesondere in seinem zentralen Buch „Soziologie des Parteiwesen“. Es erschien im Jahr 1911 in erster Auflage und 1925 in einer überarbeite-
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ten und erweiterten Auflage, in der die neuere Diskussion, aber auch die neueren politischen Entwicklungen aufgenommen waren.10 Politische Arbeit, insbesondere für die SPD, war in der damaligen Zeit nicht ungefährlich. Während und vor allem nach seinem Studium stürzte sich R. Michels intensiv in verschiedene politische, publizistische und wissenschaftliche Tätigkeiten. Wegen seiner politischen Tätigkeit wurde ihm die Habilitation an der Universität Marburg verweigert. Daraufhin verließ er im Jahr 1907 Deutschland und ging nach Italien. Er lehrte zunächst an der Universität Turin, dann ab 1914 in Basel und schließlich ab 1928 erneut in Italien in Perugia. Seine politische und – immer damit eng verbundene – wissenschaftliche Tätigkeit war von zwei großen Wandlungen geprägt. Zunächst die von einer großbürgerlichen Familie und einem großbürgerlichen Leben zum Sozialisten und dann etwa ab 1911 vom Sozialisten zum Faschisten. Seine Hinwendung zum Sozialismus war durch verschiedene Faktoren bestimmt. Aber die wichtigsten Anlässe waren vermutlich die tägliche Lektüre der erzkonservativen „Kreuzzeitung“ im Haus seiner Familie und die Konfrontation mit den feudalen Ansichten der Marburger Professorenschaft, die ihn zutiefst irritierten und deren Einfluss er zu entgehen versuchte. Er ließ sich dagegen vom neukantianischen Sozialismus einiger Marburger Professoren beeinflussen. Schließlich wurde ihm von seiner Familie ein „altruistisch-ethisches Verantwortungsgefühl“11 mitgegeben, das seine moralische Haltung stark beeinflusste und ihn für die Nöte der unteren Schichten und Klassen der damaligen Gesellschaft, insbesondere aber für die Arbeiterklasse, sensibilisierte. Die wichtigsten Inspirationen für seine Arbeit über die Massenpartei waren sicherlich seine eigenen Erfahrungen mit der sozialdemokratischen Parteiarbeit. Er wusste viel über die Entscheidungsprozeduren in der SPD, über die sozialen und psychologischen Spannungen in der Partei, über die Konflikte zwischen Basis und Führung und über die verschiedenen und widerstreitenden Motivlagen. Dies war die Empirie, aus der er durch radikale Verallgemeinerungen nicht nur eine Theorie, sondern zugleich ein ‚ehernes Gesetz‘ ableitete: Sein ehernes Gesetz der Oligarchisierung der politischen Parteien. Die Motive für seine Hinwendung zum Faschismus, die ab etwa 1911 erfolgte, sind weniger klar. Nach seinem Austritt aus der SPD wandte er sich dem revolutionären Syndikalismus zu, bevor er dann 1928 dem Partito Nazionale Fascista (PNF) beitrat. Benito Mussolini war nicht nur der Vorsitzende dieser Partei, in ihm sah er auch sein Ideal von einem selbstlosen Menschen verwirklicht, der nicht für sich, sondern für die Interessen und Aufgaben einer ganzen politischen Bewegung lebte. Ob B. Mussolini auch dafür gesorgt hat, dass R. Michels 1928 auf den neu eingerichteten Lehrstuhl für Nationalökonomie und Korporationswesen in Perugia berufen wurde, ist dagegen umstritten. An dieser Universität aber entwickelte er seine faschistisch inspirierte Theorie des Korporatismus. Von
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1928 bis 1933 lehrte er zusätzlich an der Fakultät der politischen Wissenschaften in Perugia Geschichte der Wirtschaftstheorie. In dem vorliegenden Kontext liegt mein Augenmerk jedoch auf R. Michels Parteientheorie, wenn man seine Ausführungen denn Theorie nennen darf. Die Massenpartei, die im Zentrum seiner Überlegungen stand, ist durch geschichtliche Evolution entstanden. An ihrem Beginn gab es keine vorgefertigte Blaupause, die dann von den politischen Führern zielstrebig realisiert werden konnte. Vielmehr hat sie ihre Grundzüge in den damaligen politischen Auseinandersetzungen entwickelt. In sie flossen auch ältere Vorstellungen ein, die „bereits bewährte ältere Formen des lokalen Bildungsvereinswesens (…) mit modernen Bürokratieelementen im Zentralbereich“12 mischte und aus denen sich dann die hochgradig durchorganisierte Massenpartei entwickelte. Historisch ist die moderne Massenpartei ein „Produkt der Arbeiterbewegung“13, die den Schwerpunkt ihrer politischen Aktivitäten außerhalb des Parlaments angesiedelt hatte und vor allem dort den Kampf um die Ausgestaltung der kapitalistischen Gesellschaften führte. Dieser Kampf bezog sich nicht nur bzw. nicht vorwiegend auf die Realisation einzelner Policies, sondern strebte eine fundamentale und grundlegende Umgestaltung der Gesellschaft nach umfassenden Gesellschaftsprogrammen an. Daraus leitete sich auch das Selbstverständnis dieser Parteien ab, insbesondere aber das der Arbeiterparteien. Sie verstanden sich als kämpferische, ja als „kriegsführende Partei“, die der „sozialen Kampfesführung der Massen“ dienen sollte14 und – wie die frühe Sozialdemokratie – die revolutionäre Umgestaltung der kapitalistischen in eine sozialistische Gesellschaft anstrebte. Im Zentrum von R. Michels Überlegungen15 stand ein grundlegendes Problem, ja vielleicht ein unentrinnbares Paradox dieses Parteientypus: Nämlich „wie (ist) es zu erklären, dass sie die gleichen, von ihr befehdeten Tendenzen in sich selbst entwickelt.“16 Diese ‚befehdeten Tendenzen‘ sind die Ausbildung und Stabilisierung einer Oligarchie, konkret die Herrschaft einer die Politik der Partei bestimmenden kleinen Gruppe von professionellen Politikern. Von diesem Phänomen waren nicht nur die tradierten, sondern auch die revolutionären und sozialdemokratischen Parteien befallen. Dieses Paradox – so verallgemeinert R. Michels – ist der Ausfluss eines für alle sozialen Gruppen geltenden Gesetzes, ein „besonders triftiger Beleg für das Vorhandensein immanenter oligarchischer Züge in jeder menschlichen Zweckorganisation.“17 Hinzu tritt ein weiteres Phänomen, das er als ebenso relevant betrachtet: Die Unmöglichkeit der direkten Herrschaft der Masse, die sich nicht selbst regieren, führen und zu politischen Aktivitäten antreiben kann. Ein längeres Kapitel seines Buches ist überschrieben mit „Die mechanische und technische Unmöglichkeit direkter Massenherrschaft“18 und zum Beleg dieser Prämisse führt er mehrere Beobachtungen an.
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„Die Masse ist leichter zu beherrschen als der kleine Hörerkreis, weil ihre Zustimmung stürmischer, elementarer und bedingungsloser ist und sie, sobald sie einmal suggestioniert ist, nicht leicht den Widerspruch kleiner Minoritäten oder gar Einzelner zulässt.“19
Zudem ist eine Volksversammlung für „panische Schrecken, sinnlose Begeisterung etc. empfänglicher als eine kleine Zahl“20, die Argumente und Positionen austauschen kann. Schließlich stellt er apodiktisch fest, dass die „souveränen Massen unfähig (sind), auch nur die notwendigsten Beschlüsse auf direktem Weg aus sich selbst heraus vorzunehmen.“21 Aus all dem entsteht ein starkes Bedürfnis nach Repräsentation, bei der bestimmte Personen für die Massen auftreten und in ihrem Namen sprechen. Diese Notwendigkeit bleibt nicht ohne Folgen, denn die politischen Führer, die eigentlich als reine Vollzugsorgane des Massenwillens fungieren sollen, „werden selbständig, indem sie sich von den Massen emanzipieren.“22 Zwar ist ein imperatives Mandat im Prinzip denk- und realisierbar, aber es gibt erhebliche Widerstände von Seiten der Funktionsträger, die nicht zu „Sendboten“ werden, sondern sich selbst darstellen wollen.23 R. Michels geht aber noch weiter, seine Kritik der Masse nimmt fast kein Ende. Er unterstellt die „Interessenlosigkeit der Masse“, eine ihr „inhärente Ohnmacht“, die ohne Führer wie ein „aufgescheuchter Ameisenhaufen“ agieren würde, ein „Bedürfnis nach Führung“ und eine merkwürdige „Dankbarkeit.“24 Dies alles wird durch weitere Faktoren verstärkt. Zunächst verschärft die Professionalisierung der Politik die Bildungsunterschiede, die in den politischen Parteien stark ausgeprägt sind. Mit der reinen Vergrößerung der Organisation und ihrer aufgabenspezifischen Differenzierung steigert sich der oligarchisch-bürokratische Charakter der Parteiorganisation und die weitere berufsmäßige Ausprägung bestimmter Parteipositionen. Auch wenn die Parlamentarisierung der SPD zum damaligen Zeitpunkt noch nicht weit fortgeschritten war, so sieht R. Michels dennoch die damit verbundenen Gefahren. Die Politiker in den Parlamenten sind mit sehr detaillierten Policyfragen beschäftigt und müssen sich hierfür ausbilden. Eine damit verbundene Spezialisierung der Parteielite ist unvermeidlich und treibt die Entfremdung und Professionalisierung der Partei weiter. Denn nun entsteht neben der Elite der Parteipolitiker eine zweite Elite, die im Staat bzw. in staatlichen Institutionen, vor allem in den Parlamenten, operiert und dort ihre Politik betreibt. Ohne Frage ist R. Michels Kritik an den politischen Parteien und an der Demokratie von einer identitären Konzeption von Massen und deren Vertretern inspiriert und geht unverkennbar auf Rousseau zurück. Dies wird besonders deutlich, wenn er davon spricht, dass „(e)ine Masse, die ihre Souveränität delegiert, d. h. einzelnen wenigen Männern aus ihr überträgt, als Souverän ab(dankt); denn der Wille des Volkes ist nicht übertragbar, nicht einmal der Wille des Einzelnen. Der Akt der Wahl ist gleichzeitig Ausdruck und Vernichtung der Massensouveränität.“25
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Dennoch bleibt ein empirisch richtig beobachteter und theoretisch-konzeptionell relevanter Sachverhalt. Delegation birgt ein grundsätzliches Problem in sich: Das der Entfremdung und Entfernung der Delegierten von den Delegierenden. Und die Erfahrungen, die mit dem „Vertretersystem angestellt wurden, (…) trugen dazu bei, die Theorie von den Grenzen der Demokratie zu vertiefen.“26 An anderer Stelle formuliert R. Michels, dass „(…) die Organisation die Mutter der Herrschaft der Gewählten über die Wähler (ist), der Beauftragten über die Auftraggeber, der Delegierten über die Delegierenden.“27 Und weit dramatischer und fatalistischer sagt er an wieder anderer Stelle: „Die Idee von der Vertretbarkeit der Volksinteressen, an der die große Mehrzahl der Demokraten, insbesondere die kompakten Arbeitermassen in den Ländern deutscher Zunge, immer noch mit Zähigkeit und aufrichtigem Glauben festhält, ist eine durch einen falschen Lichteffekt, eine durch einen effet de mirage, hervorgerufene Wahnidee.“28
Das ist natürlich der Todesstoß für jede Idee der Delegation oder Repräsentation, die aber umgekehrt für jede (politische) Organisation wesentlich ist. An anderer Stelle schwächt er die Radikalität dieser Erkenntnis wieder ab. Das Führertum und die Oligarchisierung der Organisation kann durch eine „soziale Pädagogik“29 gemildert werden, die in der Bildung der Arbeiterklasse besteht und die dadurch ihre Kontrollmöglichkeiten und -fähigkeiten gegenüber ihren Führern erhöhen kann. So könnte man die Gefahren der Delegation und (hierarchischen) Organisation zwar nicht verhindern, aber doch vermindern.30 Neben die organisationssoziologischen Faktoren treten (individual)psychologische Ursachen, die die Verselbständigung der Parteieliten weiter vorantreiben. Der Parteiapparat bietet Karrieremöglichkeiten, die zum Gefühl der Überlegenheit der Führer gegenüber ihren Mitgliedern führen und Delegation wird zu einer Art Naturrecht, das die Delegierten dauerhaft für sich beanspruchen.31 Während sich diese Dynamiken in der Partei als gesellschaftlicher Organisation abspielen, tritt ein zusätzliches Problem hinzu. Alle Parteien haben ein „parlamentarisches Objektiv“, das sie auf eine „legalitär-elektionistische Bahn“ führt und der Kampf um die Macht im Parlament wird dann zentral. Treten Vertreter revolutionärer Parteien in das Parlament ein, so verfolgen sie bald ein parlamentarisches Eigeninteresse, das den Endzweck der Partei verwässert und modifiziert. Die „Unantastbarkeit der Abgeordneten“ steigt und sie berauschen sich an dem persönlichen Ruhm, den sie in der Öffentlichkeit durch die parlamentarische Arbeit und den Kampf im Parlament gewinnen können. Dies führt zu einer „psychischen Transmutation der Führer“32, die durch die Anerkennung des jeweils eigenen Wertes erfolgt und die „Wirkung (hat), im Führer die Herrschernatur zu wecken.“33 Zudem bewirkt der „schroffe Übergang“ von der fundamentalen Opposition in staatliche Ämter eine Veränderung in den Führern. In der Opposition, oft verbunden mit Unterdrückung und Verfolgung der Parteimitglieder, war das ethische Niveau der Führer deutlich ausprägt, weil
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egoistische Motive in diesen Situationen nur eine untergeordnete Rolle spielten. In Zeiten der parlamentarischen Arbeit und des politischen Friedens dagegen sinkt das moralische Niveau der Führerschaft und sie wird opportunistischer.34 Die Mitgliedschaft in staatlichen Institutionen führt zu „schlüpfrigen Pfaden einer Kompromißpolitik“35, weil die damit verbundenen Privilegien eine Abkehr von den Massen begünstigen. Aus der „psychologischen Notwendigkeit der Erklärung und Entschuldigung der Wandlungen des Führertums entspringt ein nicht geringer Teil der revisionistischen und reformistischen Strömungen innerhalb der internationalen Sozialdemokratie.“36
Die Ursachen und Dynamiken der funktionalen und sozialen Ausdifferenzierung der (Partei)Organisation sind nach R. Michels unvermeidlich und gehen auf ein grundlegendes und unhintergehbares Gesetz des Sozialen bzw. der Politik zurück. In seiner Grundformulierung lautet es: „Es ist ein unabänderliches Sozialgesetz, dass in jedem durch Arbeitsteilung entstandenem Organ der Gesamtheit, sobald es sich konsolidiert hat, ein Eigeninteresse, ein Interesse an sich selbst entsteht. Die Existenz von Eigeninteressen im Gesamtverband jedoch involviert die Existenz von Reibungsflächen und von Interessengegensätzen zum Gesamtinteresse.“37
Schließlich treten massenpsychologische Ursachen hinzu, deren Kern in der Interessenlosigkeit, Führungsbedürftigkeit und Dankbarkeit der Massen liegt. Die „Verödung der regelmäßigen Parteiversammlungen“38 wird nur durch das Auftreten von großen Rednern aufgebrochen. Zudem konstatiert er eine „inhärente Ohnmacht der Massen“39, die ein Bedürfnis nach politischer Führung hervorbringt und ohne die sie keine eigene Initiative ergreifen kann. Führung aber beruht auf Delegation, die Folgen hat. „Aus der Wahl für einen bestimmten Zweck wird eine Anstellung auf Lebenszeit. Die Gewohnheit wird zum Recht. Der Führer, der eine Zeitlang regelmäßig delegiert wird, beansprucht schließlich die Delegation als sein Eigentum. Wird ihm die Fortsetzung verweigert, droht er alsbald mit Repressalien, unter denen die Einreichung der Demission noch die unschädlichste ist […].“ Sie ist „in den meisten Fällen ein Mittel, sich an der Herrschaft zu halten, sie zu sichern und zu festigen.“40
Zudem nimmt nur eine kleine Gruppe an den Entscheidungen der Partei teil, allein eine „verschwindende Minderheit“ beteiligt sich aktiv und die meisten Beschlüsse werden von dieser „kleinen Minderheit“ gefasst.41 Um an Versammlungen teilzunehmen sind die Arbeiter meist zu erschöpft, zu anstrengend ist die alltägliche Fabrikarbeit. Stattdessen trifft man „allerhand Zwischenexistenzen, Kleinbürger, Zeitungs- und Postkartenverkäufer, Kommis, junge, noch stellungslose Intellektuelle, die Freude daran finden, sich als authentisches Proletariat zu apostrophieren und als Klasse der Zukunft feiern zu lassen.“42
Aus all dem ergibt sich ein ausgeprägtes Führungsbedürfnis der Masse: „Das Führungsbedürfnis, meist verbunden mit einem regen Heroenkult, ist in den
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Massen, auch in den organisierten Massen der Arbeiterparteien, grenzenlos.“43 In den Arbeitermassen entsteht ein „Verehrungsbedürfnis“ und sie bedürfen – hier wird R. Michels radikal – eines „primitiven Idealismus weltlicher Götter“, was zu Verlängerung von politischen Mandaten bis hin zur „Lebenslänglichkeit“ führen kann.44 Aber welche Folgen hat das für die politischen Führer? „Anbetung aber erzeugt im angebeteten Objekt leicht Größenwahn. Die maßlose, bisweilen eines komischen Anstrichs nicht entbehrende Selbstüberhebung, auf die wir bei den Führern moderner Massen so häufig stoßen, hat ihre Quelle außer im Selfmadetum eines Teiles von ihnen, in der dauernd enthusiastischen Aufnahme, die sie bei den Massen finden. Die Selbstüberhebung aber wirkt, da sie eine suggestive Macht ausübt, wieder auf die Massen zurück und bildet so, durch die erhöhte Bewunderung, die sie inspiriert, ein neues Element der Herrschaft.“45
Das Führungsbedürfnis der Massen erzeugt nicht nur die soziale Schicht einer berufsmäßig ausgebildeten politischen Führerschaft, sondern stattet sie mit einer spezifischen Qualität aus. Obwohl sie häufig selbst aus der Arbeiterklasse kommt, entfremdet sie sich von ihr und dies führt zu einem „wahren Klassenunterschied zwischen den ex-proletarischen Führern und den proletarisch Geführten.“46 Einer der Gründe hierfür ist der bereits mehrfach angesprochene und bei R. Michels mehrfach betonte Gedanke der Inkompetenz der Massen, die deren berufsmäßige Führung unumgänglich macht. Diese Führer oder auch Vertreter der Massen sind Berufspolitiker auf den verschiedensten Ebenen der Parteiorganisation und sie bestimmen letztlich deren programmatischen Kurs. „Der Anfang der Bildung eines berufsmäßigen Führertums bedeutet aber den Anfang vom Ende der Demokratie“47 – das ist seine radikale Schlussfolgerung. Die hier skizzierten Probleme sind struktureller Art, die in jeder Parteiorganisation, sei es in der Demokratie oder im Sozialismus, unumgänglich sind: Organisation als Delegationsverhältnis und als (funktionale) Differenzierung führt unvermeidlich zur Herrschaft der Oligarchie. Während dies aber in privatwirtschaftlichen Unternehmen oder staatlichen Bürokratien eher unproblematisch ist, wird es in politischen Parteien und der Demokratie, die beide auf bestimmten normativen Prämissen beruhen, zum Problem. Zusammenfassend ist die Massenpartei in ihrer idealtypischen Form nicht nur durch den Versuch gekennzeichnet, ihre soziale Basis durch die Inkorporation von immer neuen Mitgliedern zu verbreitern, sondern auch diese Massen im Sinne der politischen Programmatik zu durchdringen und zu erziehen. Bei den ‚Massen‘ handelt es sich um bereits durch bestimmte soziale oder Klassenlagen vordefinierte und deutlich abgegrenzte soziale Gruppen, die zugleich durch eine bestimmte, sozio-kulturell definierte Identität geprägt sind, die große Teile des sozialen Lebens bestimmt.48 Umgekehrt war es die Aufgabe der Partei, diese Identität immer wieder neu zu formen. Richard S. Katz und Peter Mair sprechen von einer „strategy of encapsulation“, die hierfür entwickelt wurde.49 Das Spitzenper-
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sonal der politischen Parteien soll der Agent dieser sozialen Gruppen sein, deren Interessen in die Gesellschaft und den politischen Prozess einbringen, entsprechende Forderungen formulieren und diese vor allem im Klassenkampf, aber auch durch die Besetzung von öffentlichen Ämtern, durchsetzen soll. Die Massenparteien und ihre Abgeordneten repräsentierten also nur ein klar abgrenzbares Segment der Gesellschaft und nicht die Gesellschaft als Ganzes. Ihre Programme waren damals meist umfassende Gesellschaftsentwürfe oder Ideologien und nicht eine einfache Ansammlung bestimmter Policies wie heute. Karl Mannheim hat in seiner Wissenssoziologie die ideologischen und parteipolitische Programmatiken der damals relevanten Parteien unübertroffen beschrieben und zugleich auf deren soziale Stellung in der Gesellschaft zurückgeführt.50 Das politische Selbstverständnis, dass die Parteien als Sprachrohr der Massen fungieren, führte dazu, dass sie an der Formulierung der entsprechenden Programmatiken und Aktionen unmittelbar beteiligt sein wollten. Dies erforderte nicht nur ausgefeilte organisatorische Untergliederungen in der Partei (wie Zellen, Orts- und Kommunalgruppierungen etc.), um den laufenden und vor allem ungestörten Einbezug der Parteimitglieder in die Parteiaktivitäten zu garantieren, sondern auch spezifische Formen der politischen Beteiligung, die in dem weit verzweigten Netz von Unter- und Nebenorganisationen der Partei erfolgte. Von dem übergreifenden Ziel der Machteroberung leitete sich unmittelbar der organisatorische Aufbau dieses Parteientypus ab. Um als ‚kriegführende Partei‘ agieren zu können, mussten ihre Organisationsprinzipien der Realisation der (revolutionären) Machtergreifung dienen. Ihre internen Organisationsmuster folgten einer „praktischen technischen Notwendigkeit“ und als „Kampfesorganisation (…) hat sie sich den Gesetzen der Taktik zu fügen. Das Grundgesetz aber der Taktik heißt Schlagfertigkeit.“51 Der Begriff der Schlagfertigkeit ist treffend gewählt, denn er zielt zunächst darauf ab, dass man den politischen Gegner schlagen, ihn also besiegen können muss. Dann setzt Schlagfertigkeit weiter voraus, dass man auf überraschende Ereignisse schnell und unvorhersehbar reagieren kann, also spontan, ohne übergreifende Strategie und ausformulierte Ziele und mittels überraschender Mittel. Um als Kampfpartei agieren zu können, bei der nicht nur die Größe der zu mobilisierenden Massen ausschlaggebend war, sondern auch die Schnelligkeit und Schlagfertigkeit des Agierens, bedurfte es einer umfassenden Organisationstruktur, die nach R. Michels folgende Merkmale erfüllen musste: • •
Eine straffe, hierarchische und gut organisierte Gliederung der Partei; Autorität und Disziplin, um als eine Art einheitlicher Akteur im politischen ‚Krieg‘ agieren zu können;
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zentralisierte Organisationsstrukturen, um nicht nur schnell entscheiden und agieren zu können, sondern auch um umfassend Schlagfertigkeit zu realisieren; hilfreich sind auch autoritäre Befehlsstrukturen oder gar eine „persönliche Diktatur, durch die Befehle im Tageskampf schnell und zielstrebig umgesetzt werden können“; und schließlich ein hoher Grad an sozialer und programmatischer Kohäsion, um die Massen zum einheitlichen Handeln zu bringen.52
Diese Notwendigkeit von Organisation und straffer hierarchischer Führung führt zu dem Paradox, dass, um handlungsfähig zu sein, die Massenpartei eine organisatorische Struktur annehmen muss, die ihren programmatischen Grundsätzen, der Durchsetzung der Demokratie generell und der innerparteilichen im Besonderen, fundamental widerspricht. Schaubild 4 verdeutlicht die hier diskutierten Sachverhalte zusammenfassend. Schaubild 4: Die Massenpartei bzw. Partei der sozialen Integration im Spannungsfeld von Zivilgesellschaft und Staat
Quelle: modifiziert nach Katz/Mair 1995: 10.
Neben dem Typus Massenpartei war in den westlichen Demokratien auch noch die sogenannte Rahmenpartei von großer Bedeutung, die mit der Massenpartei um Anteile an politischer Macht konkurrierte.53 Sie entstand meist ‚von oben‘, also aus dem Staat heraus und sie umfasste Personenkreise, die in der Öffentlichkeit und der Politik bzw. der Wirtschaft eine große Rolle spielten und auch bei Wahlen um Machtanteile kämpften. Einflussreiche und angesehene Persönlichkeiten garantierten eine elektorale Unterstützung und ausreichende finanzielle Ressourcen. Mitgliedsbeiträge, wie bei den Massenparteien, waren die Ausnahme von der Regel und die Mitgliedschaft fußte auf persönlichem Einfluss und Eignung, nicht aber auf der sozialen Position, wie etwa in den Arbeiterparteien. Zwar haben sie sich im Verlauf der Geschichte auch für gewöhnliche Mitglieder geöffnet und später meist auch Mitgliedsbeiträge erhoben, aber sie waren zu Be-
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ginn des Jahrhunderts gleichwohl von grundlegend anderer organisatorischer Struktur als die Massenparteien. R. Michels Parteientheorie ist nicht ohne, ja zum großen Teil nicht ohne harsche Kritik geblieben.54 Ihm wurde unter anderem vorgeworfen, dass er unhistorisch vorgegangen sei und aus dem Beispiel der SPD nicht nur vorschnelle, sondern eskalierende Verallgemeinerungen durch sein ‚ehernes Gesetz‘ formuliert habe. Sein Demokratiebegriff, vor allem aber der der innerparteilichen Demokratie, sei am basisdemokratischen Modell orientiert und unterstelle eine Identität zwischen WählerInnen und Gewählten, die illusionär sei. Stattdessen hätten politische Parteien das Repräsentationsprinzip zu realisieren, bei dem die Gewählten bzw. die Delegierten die WählerInnen bzw. die Delegierenden zu repräsentieren hätten und durch innerparteiliche und allgemeine Wahlen rechenschaftspflichtig gemacht werden können. Gleichwohl sieht R. Michels bestimmte Sachverhalte, die für die Politik der Parteien von größter Bedeutung sind. Die Führer in den Parteien bzw. die von der Basis delegierten Vertreter beginnen ein Eigeninteresse, ein Interesse an sich selbst und ihren Machtpositionen, zu entwickeln, an dem sie sich in ihren Handlungen orientieren. Die Interessen der Massen dagegen werden in einen minderen Rang versetzt. Die Entfremdung von der eigenen Basis ist eben ein ‚Naturgesetz‘, das sich im politischen Prozess unvermeidbar realisiert. Nur die politische Führung kann im eigentlichen Sinne Politik treiben, nicht die Masse selbst. Die Politik der Parteien ist somit nicht eine wie auch immer geartete und direkte Ausführung eines Volkswillens oder der eigenen Parteibasis als ‚Teilvolk‘, sondern realisiert davon abweichende Interessen und folgt einer anderen politischen Logik, die an der Stabilisierung dieser Eigeninteressen orientiert ist. Der Wille des Volkes ist ebenso eine Fiktion wie der angeblich von den Parteien realisierte Wille des Volkes oder bestimmter Teile des Volkes. M. Weber hat dies bereits in einem Brief an R. Michels im Jahr 1908 formuliert: „Aber auch wie viel Resignation werden Sie noch über sich ergehen lassen müssen! Solche Begriffe wie ‚Wille des Volkes‘, wahrer Wille des Volkes, existieren für mich schon lange nicht mehr, sie sind Fiktionen.“55
Die Politik der Parteien, hier im Besonderen der sozialistischen bzw. sozialdemokratischen, konzentriert sich auf den Kampf um Anteile an politischer Macht, um bestimmte Policies allein oder in Koalition mit anderen Parteien durchsetzen zu können. Parallel dazu richtet sich die Politik der Parteien gegen andere Parteien. In der Politicsdimension geht um die Veränderung einer bestimmten Kräftekonstellation in der Parteienkonkurrenz und hier sind andere Politiken erforderlich. Man muss die richtigen Kandidaten aufstellen, schlagkräftige Kampagnen führen, den Gegner diskreditieren, die eigene Partei und andere Ressourcen mobilisieren. Und sicherlich sind auch manche Politiken im Sinne von Policies sinn-
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voll, um die eigenen oder potentielle Wählerklientele mit Wohltaten zur Wahlunterstützung zu bewegen. Bei der Sozialdemokratie wurde diese Orientierung immer wichtiger und R. Michels hat sie mit wachsender Sorge betrachtet. Während das eigentliche oder besser ursprüngliche Ziel der Gesellschaftstransformation zu einer sozialistischen Gesellschaft immer weiter an Bedeutung verlor und weitgehend ad acta gelegt wurde, steht es bei der ‚Partei neuen Typs‘ im Zentrum. Sie will im Zweifelsfall die gewaltsame Realisation einer neuen, sozialistischen Gesellschaftsformation, sie will eine Revolution.
11.1.2. W. I. Lenins „Partei neuen Typus“ und die russische Revolution Als Kritik an den politischen Parteien in den westlichen Demokratien entstand in Russland im Verlauf der russischen Revolution eine Art Gegentypus, die von W. I. Lenin sogenannte „Partei neuen Typus“. Sie war hinsichtlich ihrer Programmatik und ihrer organisatorischen Struktur von den westlichen Parteien, aber auch von den revolutionären Massenparteien, grundlegend unterschieden. Die politischen Aufgaben der Partei neuen Typus waren zwar je nach historischer Gegebenheit im komplizierten Verlauf der russischen Revolution verschieden, aber dennoch kann man eine organisatorische Struktur identifizieren, die diesen Typus grundlegend charakterisiert. Sie war ein komplettes Gegenmodell zu den Parteien der westlichen Demokratien, das sich von der welthistorischen Aufgabe ableitete, den geschichtlich vorgezeichneten Weg von der kapitalistischen zur sozialistischen Gesellschaft zu vollziehen. Lenins zentrale Prämisse war – schon im Jahr 1902, also lange vor der Oktoberrevolution im Jahr 1917 –, dass die Partei zum eigentlichen Akteur des revolutionären Kampfes werden muss. Nur sie allein ist in der Lage, den Weg zur sozialistischen Revolution vorzubereiten, erfolgreich zu gehen und nach der Machtergreifung die Diktatur des Proletariats auszuüben und zu festigen. Die Politik der Partei sollte der Arbeiterklasse das politisch-revolutionäre Bewusstsein vermitteln. „Das politische Klassenbewußtsein kann dem Arbeiter nur von außen gebracht werden, das heißt aus einem Bereich außerhalb des ökonomischen Kampfes, außerhalb der Sphäre der Beziehungen zwischen Arbeitern und Unternehmern. (…) Um den Arbeitern politisches Wissen zu vermitteln, müssen die Sozialdemokraten in alle Klassen der Bevölkerung gehen, müssen sie die Abteilungen ihrer Armee in alle Richtungen aussenden.“56
Während in R. Michels Konzept die revolutionäre Partei mit den Massen identisch sein und sich in den Massen entwickeln sollte, geht Lenin einen anderen, ja entgegengesetzten Weg. Nur eine eigenständige, elitäre und im Kern allwissende Parteielite kann die Arbeiterklasse und andere Klassen führen, ihnen das Klassenbewusstsein geben, sie im Sinne der Revolution politisieren und in die Revolution
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führen. Auch wenn Lenin im Verlaufe der russischen Revolution seine taktischen Konzepte mehrfach änderte, so blieb dieser Kern unbeschadet. Die führende Partei musste politisch-ideologisch als Avantgardepartei konzipiert sein, die zugleich hierarchisch strukturiert ist. An ihrer Spitze steht das Zentralkomitee, dem alle anderen Einheiten untergeordnet sind. Zwischen der Partei und der Gesellschaft sollten zwar enge Verbindungskanäle bestehen, aber immer ist eine Differenz zwischen Partei und Gesellschaft impliziert, zwischen den Wissenden und Führenden und den Nichtwissenden und Geführten. Die Partei war eine geschlossenen Gesellschaft in dem Sinne, als sie eine avantgardistische Gruppe von Berufsrevolutionären war, die gleichzeitig für sich beanspruchte, die Interessen des Proletariats zu vertreten und im politischen und Klassenkampf zur Geltung zu bringen. Diese Vorstellung wurde besonders in der (halb)demokratischen Phase Russlands um 1905 deutlich. In einem Artikel „Über die Reorganisation der Partei“ im November dieses Jahres verwies W. I. Lenin darauf, dass sich die Rahmenbedingungen grundlegend verändert hätten. Er betonte, dass es nun „unbedingt notwendig sei, die jetzige, verhältnismäßig größere Bewegungsfreiheit weitestgehend auszunutzen (und) (...) neben dem konspirativen Apparat immer mehr neue, legale und halblegale Parteiorganisationen (und sich an die Partei anlehnende Organisationen) zu schaffen.“57
Ein konspirativer und professioneller Apparat wird hier herausgestellt, der das Zentrum aller politischen Aktivitäten bildet. Allerdings erkennt Lenin eine spezifische Form der innerparteilichen Demokratie an, die jedoch nicht den professionellen Kern berührt. Aber immerhin betont er, jetzt den „entscheidenden Schritt zur vollen Verwirklichung des demokratischen Prinzips“ in der Partei zu unternehmen und „sofort, unverzüglich (zu) beginnen, das Prinzip Wählbarkeit anzuwenden.“58 Aber das war der konkret-historischen Situation geschuldet und keine Aussage über die prinzipielle Grundausrichtung der kommunistischen Partei. Auch in der Februarrevolution im Jahr 1917 unternahm er eine Neuausrichtung der Partei, weil nun die Machtergreifung in unmittelbare Nähe rückte. Er wollte die neue Regierung nicht unterstützen, ihr „nicht das geringste Vertrauen, nicht die geringste Unterstützung“59 entgegenbringen, sondern das Gegenteil. Er wolle alles tun, um die „Eroberung der Macht durch die Sowjets der Arbeiterdeputierten vorzubereiten“ und das hieß für ihn „bewaffnetes Abwarten, bewaffnete Vorbereitung einer breiteren Basis für eine höhere Etappe“ und neue Formen der Agitation und Propaganda zu entwickeln. So sollte eine „systematische Arbeit für eine Partei von neuem Typus“ entstehen.60 Nach der Machtergreifung im Oktober 1917 und den sich anschließenden (Klassen)Kämpfen ging Lenin noch einen Schritt weiter. Er fragte, wie man die Disziplin, Schlagkraft und Organisationsstruktur der Partei erhöhen könnte. Seine Antwort ist dreifach und soll länger zitiert werden:
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11. Die Politik der Parteien „Erstens durch das Klassenbewusstsein der proletarischen Avantgarde und ihre Ergebenheit für die Revolution, durch ihre Ausdauer, ihre Selbstaufopferung, ihren Heroismus. Zweitens durch ihre Fähigkeit, sich mit den breitesten Massen der Werktätigen zu verbinden, sich ihnen anzunähern, ja (…) bis zu einem gewissen Grad mit ihnen zu verschmelzen. Drittens durch die Richtigkeit der politischen Führung (…), ihrer politischen Strategie und Taktik, unter der Bedingung, dass sich die breitesten Massen durch eigene Erfahrung von dieser Richtigkeit überzeugen. (…) Ohne diese Bedingungen werden die Versuche, eine Disziplin zu schaffen, unweigerlich zu einer Fiktion, zu einer Phrase, zu einer Farce.“61
An mehreren Stellen wird die führende und leitende Rolle der Partei betont, die immer eine Sonderstellung einnimmt, von den Massen getrennt ist und auch von ihnen getrennt operiert, sie aber für diese Operationen gewinnen will. Die Partei neuen Typus ist und bleibt in allen Phasen der russischen Revolution eine professionell organisierte und zum Teil illegal operierende Organisation, die die Gesetze der geschichtlichen Entwicklung kennt und sie in ihrer politischen Praxis mit Gewalt realisieren will. Die Geschichte hat gezeigt, dass dies Lenin und seiner Partei gelungen ist. Dies schließt die stalinistische Verschärfung dieser Prinzipien ein, die dann zu einer spezifischen Form von totalitärer Herrschaft ausartete (vgl. dazu Kap. 7). Die Leninschen Grundideen wurden – wenn auch zum Teil modifiziert – von anderen sozialistischen bzw. kommunistischen Parteien übernommen. Das Avantgardemodell und seine Realisation in einem unterentwickelten, nichtkapitalistischen Land wurden zu einem ‚Exportschlager‘ für entsprechende Länder in der Dritten Welt, am deutlichsten sicherlich in China unter Mao Tse-tung, aber auch in Algerien, Kuba oder Vietnam. Überall hatten wir es mit politischen Parteien zu tun, deren revolutionäres Selbstverständnis zur gewaltsamen Umgestaltung der jeweiligen Gesellschaften führte und – wie in China vor allem während der Kulturrevolution – auch totalitäre Phasen durchlief. In den westlichen Demokratien entstand jedoch eines der Zentralprobleme der modernen Demokratien, mit dem sich bereits R. Michels intensiv beschäftigt hatte. Es ist zugleich ein generelles Problem aller politischen Parteien und der Demokratie: Wie können Delegierte, seien es die des Volkes oder der Partei selbst, so kontrolliert werden, dass sie zwar im Auftrag der Masse, aber zugleich wie die Masse selbst handeln und sich nicht von ihr entfremden? Dieses in der damaligen Zeit ungelöste Problem, ja politisches Paradox, begleitete auch den neuen Parteientypus, der allerdings eine sehr spezifische und zugleich hoch problematische Option zur ‚Lösung‘ dieses Problems realisierte. Diese Option war die sich aus der Massenpartei entwickelnde Volkspartei, die die politische Landschaft seit den 50er Jahren in den westlichen Demokratien prägte.
11.2. Die Volks- oder „Catch-all“-Partei
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11.2. Die Volks- oder „Catch-all“-Partei In Europa und etwas verspätet auch in der Bundesrepublik entwickelte sich nach dem Zweiten Weltkrieg ein neuer Parteientypus, dessen wichtigste Merkmale Otto Kirchheimer in den frühen 60er Jahren systematisch beschrieben hat.62 Zentral für diesen Typus von Partei ist, dass sie „den Versuch auf(gibt), sich die Massen geistig und moralisch einzugliedern, und ihr Augenmerk in stärkerem Maße auf die Wählerschaft (lenkt); sie opfert also eine tiefere ideologische Durchdringung für eine weitere Ausstrahlung und einen raschen Wahlerfolg.“63
O. Kirchheimer sieht die unterschiedlichen Zeitperspektiven der jeweiligen Parteitypen. Während sich die Massenintegrationspartei langfristige Ziele setzen muss (dauerhafte Integration der Massen in die Partei samt Organisation der verschiedenen Vorfeldorganisationen und umfassende Gesellschaftskonzeptionen), zielt die Volkspartei auf kurzfristige Erfolge bei Wahlen und ist den Kontingenzen des politischen Prozesses weit stärker ausgesetzt. Denn die Regeln der Parteienkonkurrenz sind nicht nur kompliziert, weil die Faktoren, die eine Wahl entscheiden, fast unendlich groß und kaum durchschaubar sind.64 Deshalb bevorzugt sie Aktionen, die sich aus den Gegebenheiten und Chancen einer konkreten historischen Situation ergeben, die kurzfristig die Aktionsfähigkeit steigern und deshalb kontingent sind. An Hand von fünf Punkten markiert O. Kirchheimer die zentralen Unterschiede zur Massenpartei:65 •
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Drastische Reduktion des ideologischen Gepäcks der Parteien, was ihre Anpassung an situative Gegebenheiten erleichtert und den Vorrang kurzfristiger taktischer Überlegungen gegenüber dauerhafter ideologischer Standfestigkeit zur Folge hat; Stärkung der Parteielite, was untrennbar mit der weiteren Professionalisierung der Politik bzw. der Politiktreibenden und des Politiktreibens einhergeht. Ihr Handeln richtet sich jetzt weit mehr an den Erfordernissen des Gesamtsystems aus und nicht danach, ob es mit den Zielen der jeweiligen Parteiorganisation übereinstimmt; abnehmende Bedeutung der einzelnen Parteimitglieder, was sich nicht nur in sinkenden Mitgliederzahlen ausdrückt, sondern auch in einer gewissen Autonomisierung der kommunalen und regionalen Parteiuntergliederungen; Abkehr von der Orientierung auf Klassen oder Konfession und stattdessen Wahlpropaganda für den gesamten Wählermarkt; und schließlich Streben nach Zugang zu allen Interessengruppen und damit verbunden die Abkehr von der Vertretung privilegierter und damit selektiver Interessen, wobei der Hauptgrund hierfür die Gewinnung von Wählerstimmen ist, bei der die Interessengruppen als Vermittler dienen.
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11. Die Politik der Parteien
Dies sind die definitorischen Merkmale der Volkspartei und nicht – wie häufig und fälschlicherweise behauptet – ein bestimmter Anteil an realisierten Wählerstimmen. Alles sind unverkennbar organisatorische Veränderungen, allein das erste Kriterium zielt auf ein genuin politisch-programmatisches Moment. Gleichwohl lässt sich dies organisationssoziologisch umformulieren, indem man die Abnahme des ideologischen Gepäcks als Flexibilisierung des Organisationszieles deutet und darunter eine variablere Anpassungsfähigkeit an veränderte Ausgangs- und Rahmenbedingungen versteht. Insbesondere können die Parteien nun einfacher und schneller auf die politischen Strategien der anderen Parteien reagieren und sich so flexibler und situativer in der Parteienkonkurrenz positionieren und im ‚Würfelspiel‘ der Parteienkonkurrenz besser mitspielen. Damit einher geht auch eine neue Beziehung zwischen Partei und Gesellschaft. Die „Allerweltspartei“ lockert, ja verringert ihre Bindungen zu spezifischen Wählersegmenten, meist sozialen Klassen, und zu den einfachen Mitgliedern. Dies drückt sich sowohl in der Stärkung der Parteielite gegenüber den einfachen Mitgliedern als auch in ihrer Konzentration auf den gesamten Wählermarkt statt auf spezifische Wählersegmente aus. Sowohl auf Seiten der Partei als auch auf Seiten der Wähler steigert dies die politische Kontingenz: bei ersterer wegen der Fähigkeit, ideologisch ungebundener auf veränderte Umweltbedingungen zu reagieren und sich situativer in der Parteienkonkurrenz zu positionieren. Auf Seiten der Wähler, weil diese nun verstärkt beginnen, wirklich zu wählen und nicht mehr dominant ‚ihre‘ Partei, der sie durch ihre Position im sozialen Gefüge und durch die soziale Integration in ein bestimmtes Milieu oft lebenslang verbunden waren. Dies hat zur Folge, dass die Parteien ihre Bindungen in der Gesellschaft lockern und die zum demokratischen Staat verstärken. Die Parteielite und vor allem die Partei im Staat gewinnen an Bedeutung, so dass sich ein dynamisches und labiles Gleichgewicht zwischen den beiden Polen herstellt. Die Catch-all-Partei hat die Tendenz, sich von einer „‚bottom-up’ party“ zu einer „‚top-down’ party“ zu wandeln.66 Aber zentral bleibt ihre Funktion als „Schaltstation“67 zwischen Gesellschaft und Staat: Sie muss die Forderungen und Ideen der Gesellschaft als auch spezifischer sozialer Gruppen aufgreifen und in den politischen Prozess einführen. Zugleich aber ist sie moderat, weil sie als gegenwärtige oder zukünftige Regierungspartei Anpassung und Zurückhaltung üben und zentrale gesellschaftliche Konflikte in sich selbst austragen muss. Sofern sie nur eine der beiden Funktionen übernimmt, verkümmert sie; nur wenn sie die immer prekäre
11.2. Die Volks- oder „Catch-all“-Partei
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Balance zwischen beiden Aufgaben ausfüllt, kann sie erfolgreich sein.68 Schaubild 5 verdeutlicht diese Schnittstellenfunktion. Schaubild 5: Die Volkspartei zwischen Staat und Gesellschaft
Quelle: modifiziert nach Katz/ Mair 1995: 11.
Als „‚top-down’ party” besteht ihre wichtigste Aufgabe in der Nominierung von Kandidaten für Wahlen in staatliche Ämter. Während die Massenpartei vor allem die Arbeiterklasse in den Staat integrierte, indem sie ihr als Partei Beteiligung, Schutz, Identität und Zukunftsvisionen anbot (sofern sie keine systemoppositionelle Massenpartei war), verändert die Allerweltspartei die Integrationsmechanismen grundlegend. Sie ist den Bürgern eine verhältnismäßig fernstehende, zuweilen halboffizielle und fremde Organisation69 und die Integration vollzieht sich nicht vorwiegend durch Mitgliedschaft in der Partei, sondern durch regelmäßige Teilnahme an Wahlen. Über die Massenmedien verbreitet sie ihre Botschaften an die Wähler, die diese wiederum in einen ungewissen Input bei Wahlen verarbeiten. Welches sind nun die Faktoren, die für die Entwicklung zu Volksparteien verantwortlich sind? O. Kirchheimer ist nicht eindeutig, aber in seinem gesamten Text finden sich verstreut Anmerkungen, die folgende Schlussfolgerung zulassen: Für die Entstehung der Volkspartei sind nicht exogene Faktoren verantwortlich, sondern vor allem endogene Dynamiken, die sich aus der Parteienkonkurrenz und damit verbundenen Wandlungen im Parteiensystem ergeben. Zunächst formuliert er einen Satz, der eher auf externe Dynamiken schließen lässt: „Unter den gegenwärtigen Bedingungen einer Gesellschaft, die sich in immer größerem Umfang an säkularen Vorstellungen und Massenkonsumgütern orientiert, in der sich die Beziehungen zu den Klassen ändern und weniger scharf in Erscheinung treten, sind die früheren Massenparteien auf Klassen- oder Konfessionsbasis einem Druck ausgesetzt, der sie auf den Weg zur Allerweltspartei führt. Das gleiche gilt für die Reste der ehemaligen bürgerlichen Parteien mit individueller Repräsentation, die eine sichere Zukunft als politische Organisationen anstreben, die von den Zufällen der jeweiligen Wahlgesetze und den taktischen Manövern ihrer Gegner, der Massenparteien, unabhängig sind.“70
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11. Die Politik der Parteien
Während im ersten Teil des Zitates externe Faktoren für die Wandlung zur Volkspartei prominent sind, sind es im zweiten Teil bereits die endogenen Dynamiken der Parteienkonkurrenz, die die Parteien, hier die bürgerlichen Parteien der individuellen Repräsentation, unter Anpassungsdruck setzen. An wieder anderer Stelle verstärkt er die These der endogenen Dynamik, wenn es lapidar heißt: „Die Umwandlung zu Allerweltsparteien ist ein Phänomen des Wettbewerbs. Eine Partei neigt dazu, sich dem erfolgreichen Leben ihres Konkurrenten anzupassen, weil sie hofft, am Tag der Wahl gut abzuschneiden, oder weil sie befürchtet, Wähler zu verlieren.“71
Überhaupt wird die Orientierung an Gruppen- bzw. Klasseninteressen um des Ziels der Stimmenmaximierung willen überschritten. Wenn eine Partei danach trachtet, „einen Appell, der sich zuvor nur an eine besondere Bevölkerungsschicht richtete, auf eine größere Wählerschaft auszudehnen, dann bieten gesellschaftliche Ziele, die über Gruppeninteressen hinausgehen, die besten Erfolgsaussichten.“72 Hinzu kommt, dass die Programmatik der Parteien allgemeiner und mehrdeutiger wird, denn die Unbestimmtheit ihrer Programmatik gestattet es ihnen, als „Sammelpunkt“73 zu fungieren und eine Vielzahl von Interessen zu bedienen. Das ermöglicht es ihnen, „fiktive Interessen“ zu formulieren und zu vertreten, die jenseits der unmittelbaren Interessen ihrer Mitglieder oder ihr nahestehender Interessengruppen liegen. Sie muss auch „als Anwalt, als Schutzorganisation oder wenigsten als Empfänger der Forderungen aller derjenigen (fungieren, F.W.R.), die ihre Stimme nicht so laut erheben können wie diejenigen, die von gut organisierten Interessenverbänden vertreten werden.“74 Aber sobald die Parteien sich von Sonderinteressen entfernen, reduzieren sie die „Intensität der Anhänglichkeit“75 von Mitgliedern und Wählern, was die Wählermärkte unberechenbarer und volatiler macht. Die Parteienkonkurrenz wird nicht nur komplizierter, sondern zunehmend kontingenter und kommt „einem Würfelspiel gleich. Wenn eine Partei eine Wählerschaft, die potentiell die ganze Nation umfasst, besitzt oder umwirbt, wenn hinzukommt, dass diese Wählerschaft in ihrer Mehrheit aus Individuen besteht, deren Verhältnis zur Politik oberflächlich und nicht von Dauer ist, dann ist die Zahl der Faktoren, die das endgültige Wahlergebnis entscheiden können, fast unendlich groß, und sie stehen oft in keiner Beziehung zur Leistung der Partei. Der Stil und die Erscheinung des Parteiführers, der Einfluss eines Ereignisses, das in keinem Zusammenhang mit der Politik des Landes steht, die Ferienordnung, der Einfluss des Wetters auf die Ernte: solche und ähnliche Faktoren sind mitbestimmend für das Wahlergebnis.“76
Auch das Medium der politischen Kommunikation wandelt sich. Während bei den Massenparteien die innerparteiliche Diskussion für die Propagierung ihrer Ziele zentral war, gewinnen nun die Massenmedien an Bedeutung. Die Aller-
11.2. Die Volks- oder „Catch-all“-Partei
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weltspartei lässt von der militanten Massenmobilisierung ab und setzt auf über die von den modernen Massenmedien verbreitete parteipolitische Propaganda. R. Michels These von der Verselbständigung der Elite gegenüber den Mitgliedern, die bei der Realisation von (elektoralen) Eigeninteressen an Dominanz gewinnt, findet hier ihre Bestätigung und Dramatisierung. Denn die Allerweltspartei versucht, die Eigeninteressen ihrer Führungselite maximal zu realisieren und deren Positionen im Staat auszubauen. Ihre Aufgabe besteht nun vorwiegend in der Nominierung und Auslese von Kandidaten für öffentliche Ämter, die – durch demokratische Wahlen legitimiert – in diese Ämter delegiert werden.77 Die Delegationskette, die von der Bindung der Delegierten an die Delegierenden ausgeht, ist extrem lose und häufig unterbrochen, ja sie kehrt sich in gewisser Weise in ihr Gegenteil: Die Delegierten sind nicht mehr dominierend die Agenten ihrer Prinzipale, sondern umgekehrt: Sie werden zu Agenten der staatlichen Bürokratie bzw. des Regierungsgeschäfts. „[…] parties are less the agents of civil society acting on, and penetrating, the state, and are rather more like brokers between civil society and the state, with the party in government (i.e. the political ministry) leading an essentially Janus-like existence. On the one hand, parties aggregate and present demands from civil society to the state bureaucracy, while on the other they are the agents of that bureaucracy in defending policies to the public.”78
Während R. Michels die Entstehung einer Oligarchie in den Parteien, die ihre Eigeninteressen verfolgt und die Partei zu diesem Zwecke instrumentalisiert, als unvereinbar mit der Idee der delegativen Demokratie sieht, betrachtet dies die Parteienforschung der 60er Jahre als funktional notwendig.79 M. Weber betrachtet die „Partei-Maschinen“ Amerikas für die moderne Demokratie als ebenso unvermeidlich wie die „Apparate“-Parteien und die damit verbundene Bürokratisierung in den europäischen Ländern.80 Die damalige Parteienforschung geht jedoch noch einen Schritt weiter. Sie wirft R. Michels nicht nur ein idealistisches oder gar utopisches Demokratieverständnis vor, sondern bringt seine Parteiensoziologie zugleich in Zusammenhang mit seinem erst später erfolgten Übertritt zur faschistischen Bewegung.81 Damit ist sein demokratietheoretischer Impuls ohne weitere Auseinandersetzung nachhaltig diskreditiert. Insgesamt aber – so seine Kritiker – vernachlässige R. Michels die Funktionserfordernisse der modernen Massendemokratie, seine Theorie negiere die Wirklichkeit der Demokratie, er überbetone die innerparteiliche Demokratie auf Kosten der funktionalen Notwendigkeit der Parteieliten. Der Kern der Demokratie ist unter den Bedingungen der modernen Massendemokratie „[…] the formation of a political elite in the competitive struggle for the votes of a mainly passive electorate“82, die Passivität der Parteimitglieder eingeschlossen. Daraus wird dann eine Reduktion der politischen Entscheidung der Massen bzw. der Wähler auf die Auswahl zwischen Personen abgeleitet, weil alle anderen, vor allem sub-
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11. Die Politik der Parteien
stantiellere Fragen, vom Elektorat nicht entschieden werden können. Es kann allein zwischen Personen innerhalb der politischen Elite entscheiden, die dann die Aufgabe haben, die eigentlichen (Policy-)Entscheidungen zu treffen. Die Allerweltspartei wird zum Prototypus der funktional notwendigen Partei in modernen Demokratien und damit kompatibel mit einem bestimmten Konzept der Demokratie: Dem der „elitistischen Demokratie.“83 Was bei R. Michels als Krise der politischen Parteien und der Demokratie thematisiert wird, wird nun zu deren Funktionsvoraussetzung umdefiniert. Die Wirklichkeit der (Catchall-)Parteien und der Massendemokratie wird nicht kritisch hinterfragt, sondern vorschnell als funktional hypostasiert.
11.3. Die Kartellparteien oder die professionalisierten Medienkommunikationsparteien Die These von einem neuen Parteientypus, der sich am Ende des letzten Jahrhunderts ausbildet, ist in der Disziplin weitgehend unumstritten, aber die begriffliche Fassung differiert weit mehr als bei der Massen- bzw. der Volkspartei. Betrachtet man dies nicht nur als Ausdruck der sich intern pluralisierenden Politikwissenschaft, so kann man es auch als Ausdruck einer zunehmenden Unsicherheit über den Gegenstand selbst interpretieren, dessen begriffliche Fassung nicht mehr ohne weiteres möglich ist. Die Vertreter der Begriffe der Kartellpartei,84 der professionalisierten Wählerpartei85 oder der professionalisierten Medienkommunikationspartei86 gehen jedoch alle von erheblichen organisatorischen Änderungen der politischen Parteien aus und stellen diese – wie R. Michels und O. Kirchheimer – in den Mittelpunkt ihrer Analyse. Die Politik der Parteien gegenüber ihren internen Organisationsmustern und ihren Mitgliedern habe sich ebenso verändert wie die Strategien und Taktiken in der Parteienkonkurrenz. Der neue Parteientypus agiert hier grundlegend anders als die Volkspartei und die Verbindungslinien zwischen Partei und Gesellschaft haben sich erheblich verändert. Sie sind nach Ansicht vieler Theoretiker unterbrochen und die Parteien agieren mittels der Medien aus dem Staat heraus in die Gesellschaft, sind aber nicht mehr der ‚verlängerte‘ Arm der Gesellschaft im Staat. Dies ist meist mit einer Krisendiagnose der Demokratie verbunden, deren Kern beunruhigender und dramatischer ist als bei R. Michels und eine funktionalistische Umdeutung wie bei der Allerweltspartei nicht mehr erlaubt. P. Mair beispielsweise spricht vom „hollowing of Western democracy.“87 Was sind nun die wichtigsten empirischen Phänomene, die den Thesen von den Kartell- oder professionalisierten Medienparteien zugrunde liegen? Zunächst der nicht aufzuhaltende Verlust von Parteimitgliedern.88 Er beginnt moderat in den 80er, beschleunigt sich dann dramatisch in den 90er Jahren und
11.3. Die Kartellparteien
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„has been unequivocal and seemingly unstoppable.“89 In Italien und Großbritannien betrug der Mitgliederverlust zwischen 1980 und 2007 mehr als 1 Million, in Italien fast 1,5 Millionen, während er in anderen Ländern Europas geringer ausfiel. Im Schnitt bewegte er sich zwischen 66 % (Großbritannien) und 27 % (Deutschland), in anderen Ländern lagen die Verluste bei etwa 40 % bis 45 % der Mitglieder. Allein in Griechenland und Spanien waren Mitgliederzuwächse zu verzeichnen.90 Die Parteien verlieren zunehmend ihre mitgliederbasierte Verankerung in der Gesellschaft und werden zu „parties without partisans“.91 Statt Abnahme der Bedeutung des einzelnen Parteimitgliedes wie bei der „Catch-all“-Partei haben wir es zunehmend mit Parteien ohne Mitglieder zu tun, wie man es vor allem in vielen Ländern in Mittel- und Osteuropa, aber auch in manchen der neuen Bundesländer, exemplarisch beobachten kann. Für Parteien mit geringer Mitgliederzahl bedeutet dies nicht nur, dass ihre formalen Mitgliedschaften abnehmen, sondern dass sie sie wie ein, gleichwohl mit besonderen Merkmalen ausgestatteter, Teil des Wählermarktes betrachten.92 Dies lässt sich auf verschiedenen Ebenen beobachten. Die Parteien lösen erstens ihre Grenzen zur Außenwelt auf und definieren sich nun häufig als „Netzwerkpartei“, die situativ mit anderen politisch Interessierten zusammenarbeitet und ihren Mitgliedern allein intern besondere Rechte zukommen lässt. Aber sie werden in der Regel wie die Bürger über die Medien angesprochen, was die parteiinterne Kommunikation weiter reduziert. Die Abnahme der Mitgliedschaften wird durch eine zunehmende Atomisierung der Mitglieder begleitet, die immer weniger als Gruppe, sondern immer mehr als isolierte Individuen in der Partei agieren. Hinzu kommt, dass die Mitglieder auf Grund ihrer ungünstigen Altersstruktur ‚aussterben‘, weil alle Parteien mehr oder weniger mit einem eklatanten Nachwuchsproblem konfrontiert sind.93 Schließlich agieren die lokalen (Unter)Gruppierungen immer autonomer von der Parteispitze, was zu einer gewissen Professionalisierung der lokalen Parteieliten führt, ihr Interesse an Autonomie von der Parteispitze stärkt und den Charakter von Parteien als „fragmentierte, lose verkoppelte Anarchie“94 noch deutlicher hervortreten lässt. Mit anderen Worten: Statt hierarchisch organisierter Gebilde werden Parteien zu Stratarchien. Politische Parteien wandeln sich von Organisationen aus und für Mitglieder zu Partnerschaften von professionellen Politikern.95 Parallel dazu nimmt die Loyalität der Bürger gegenüber den politischen Parteien ab. Eine stabile Identifikation mit einer Partei bzw. ein bestimmtes Zugehörigkeitsgefühl zum kulturellen Milieu der Partei ist immer weniger zu beobachten. Parteiidentifikationen sind in den letzten Jahren des Jahrhunderts konstant gefallen und das über alle Länder Europas hinweg.96 Es gibt kein Land mit einem Gegentrend und dies führt umgekehrt dazu, dass die Volatilität bei Wahlen dauerhaft steigt. Dieses Phänomen wurde erst seit den 90er Jahren signifikant und
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11. Die Politik der Parteien
nimmt seither in fast allen europäischen Ländern weiter zu. Die Kombination von sinkender Wahlbeteiligung und zunehmender Volatilität der WählerInnen verdeutlicht nicht allein eine Abnahme in der politischen Beteiligung, sondern auch eine zunehmende Instabilität der politischen Präferenzen. In eine ähnliche Richtung deuten auch Daten, die eine sinkende Wahlbeteiligung anzeigen. Erneut sind die Dynamiken ab den 90er Jahren relevant, denn es beschleunigen sich Phänomene, die bereits zuvor, wenn auch weniger massiv, wirksam waren. In fast allen untersuchten Ländern ist die Wahlbeteiligung seit den 90er Jahren auf den niedrigsten Stand gefallen.97 An diesen Zahlen wird erneut deutlich, dass das politische Interesse und die politische Beteiligung zurückgehen und sich eine Abkehr von der konventionellen Politik der politischen Parteien beobachten lässt. Parallel dazu ändert sich die Politik der Parteien in dem Sinne, dass sie nun weit mehr über die privaten wie öffentlichen Medien mit ihren Mitgliedern und WählerInnen kommuniziert und man einen Wandel von der Parteiendemokratie zur Mediendemokratie beobachten kann.98 Ob allerdings der Rückgang der politischen Beteiligung dafür verantwortlich ist oder umgekehrt die Medialisierung der Politik für die zunehmende politische Passivität, soll hier offen bleiben. Vermutlich ist es ein Prozess der gegenseitigen Beeinflussung, der sich zudem durch die Folgewirkungen der einen auf die andere Dynamik beschleunigt. Abnehmende Mitgliedschaften, sinkende Wahlbeteiligung und zunehmende Volatilität haben auch Auswirkungen auf die Finanzen der politischen Parteien. Sie werden immer mehr von staatlichen Subventionen abhängig, während umgekehrt ihre Ausgaben und die Kosten für Wahlkampagnen immer weiter steigen.99 Damit untrennbar verbunden – auch weil hier mehr Ressourcen des Staates zu Verfügung stehen – ist eine Entwicklung, die zur Dominanz der „party in public office“ gegenüber der „party in central office“ und der „party on the ground“ führt.100 Die „party in public office“ agiert aus dem Staat heraus, wird im Wesentlichen mittels staatlicher Gelder finanziert, ist hochprofessionell und hat starken Einfluss auf die die anderen „Gesichter“ der Partei. Die „party in central office“ agiert zwar ebenfalls professionalisiert und setzt sich aus hohen Parteifunktionären außerhalb des staatlichen Sektors zusammen, aber sie wird von den Dynamiken der Parteienkonkurrenz und der „party in public office“ stark beeinflusst. Die „party in central office“ und die „party in public office“ziehen sich aus der Gesellschaft zurück und die „linkages“ zu ihr sind weitgehend abgebrochen. Die Gesellschafft wird als elektoraler Markt betrachtet, auf dem man um Stimmen konkurriert. Parallel dazu hat der Personalbestand im staatlichen Sektor, vor allem bei den Parlamentsfraktionen, im Vergleich zu den Personalressourcen der „party in central office“ deutlich zugenommen. Auch kann über die neuen elektronischen und Massenmedien aus dem Staat heraus direkt mit den Partei-
11.3. Die Kartellparteien
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mitgliedern und den Wählern kommuniziert werden, ohne dass man dazu einer eigenen Parteipresse bedarf. Die Regierungsmitglieder (oder Oppositionsführer) haben einen privilegierten Zugang zu den Medien. Schließlich dominieren die Auseinandersetzungen der Parteien im Staat bzw. zwischen Regierung und Opposition die politischen Konflikte, was zu einer Parlamentarisierung101 oder „governmentalization“102 der politischen Parteien führt und der „party in central office“ und der „party on the ground“ die politischen Themen vorgibt oder gar diktiert. Die Folgen sind weitreichend: Die politischen Parteien „have become agencies that govern – in the widest sense of the term – rather than represent. They bring order rather than give voice. It is in these sense that we can also speak of the disengagement or withdrawal of the elites. For despite the rhetoric, it seems that they too are heading for the exits, although with obvious difference: while the exiting citizens are often headed towards a more privatized or individual world, the exiting political elites are retreating into an official world – a world of public offices.”103
Im Einklang mit R. Michels Beobachtungen treten die Eigeninteressen der politischen Elite wie Karriere, Status, Einkommen, Reputation etc. immer mehr in den Vordergrund. Eine neuere Studie über die Motive zum Eintritt in die bundesdeutschen Parteien belegt, dass das Eigennutzmotiv gegenüber allen anderen Motiven (wie Geselligkeit, Veränderungswillen, Policy-Orientierung etc.) dominiert.104 Statt der Stärkung haben wir es nun mit der Dominanz der professionellen Parteielite105 gegenüber den Parteimitgliedern bei gleichzeitig horizontaler Ausdifferenzierung der Parteispitze durch Policy-Spezialisten, Wahlkampfexperten, innerparteilichen Managementabteilungen, Finanzakquisatoren etc. zu tun. Außerdem treten zunehmend parteiexterne Akteure hinzu, wie Public-Relations-Firmen, Beratungsfirmen, Organisations- und Unternehmensberatungen, Werbefirmen u. ä., die nicht nur im Vorfeld von Wahlen, sondern im laufenden operativen Geschäft tätig sind. Die Kette der Delegation ist – überspitzt formuliert – unterbrochen bzw. auf den Kopf gestellt: Die Kartellparteien operieren ohne robuste Mitgliederbasis und mit nur noch minimaler gesellschaftlicher Verankerung aus dem Staat heraus, sind hochprofessionelle Organisationen geworden und die Parteielite vertritt nicht mehr die Interessen ihrer Wählerschaft oder ihrer Mitglieder, sondern agiert abgekoppelt von ihnen. Sowohl R. S. Katz und P. Mair als auch K. v. Beyme106 sprechen davon, dass die Parteien in ihren Aktivitäten selbstreferentiell geworden sind. Nicht mehr die Parteimitglieder (und Wähler) kontrollieren die Herrschenden, sondern umgekehrt: Die herrschenden Parteieliten kontrollieren die Parteimitglieder und die Wähler.107 Damit verbunden ist der Aufstieg „of a new form of democracy, one in which the citizens stay at home while the parties get on governing.“108 Wie man diese neue Form der Demokratie begrifflich fassen sollte, ist umstritten, aber die Phase der ‘Parteiendemokratie’ scheint an ihr Ende gekommen zu sein. P. Mair beispeilsweise favorisiert den Begriff der Zu-
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11. Die Politik der Parteien
schauerdemokratie (‚audience democracy‘)109, ein Begriff, der bereits 1986 von Rudolf Wassermann geprägt und ausformuliert wurde.110 Wie lässt sich nun die Idee der Kartellierung bei Beibehaltung, ja häufig verschärft auftretenden Parteienkonkurrenz analytisch fassen? Wie hängt dies mit der damit verbundenen Krisendiagnose der Demokratie zusammen? Zwei Aspekte sind hier zentral. Zunächst führt Kartellierung zu einer Depolitisierung, weil die Konkurrenz der Parteien durch Kooperation und Kollusion ergänzt, ja zum Teil ersetzt wird. Die prinzipielle Koalitions- und Regierungsmöglichkeit, die die „party in public office“ ihrem politischen Gegner anbieten muss, moderiert die politischen Differenzen so weit, dass im Prinzip alle miteinander regieren können. Und umgekehrt tendieren die Parteien bei einer Normalverteilung der Wählerpräferenzen zur politischen Mitte und werden dadurch unterschiedsloser. Dadurch verliert die Opposition ihren Charakter als Opposition, wie O. Kirchheimer bereits 1957 beobachtet hat.111 Trotz medienwirksamer Inszenierung bleiben die Policy-Differenzen häufig gering und oftmals entsprechen die faktischen Policy-Outcomes nicht der zuvor geäußerten Radikalität der Programmatik.112 Manche gehen sogar so weit zu behaupten, dass „es wahrscheinlich (bleibt), dass die Demokratie auch künftig nicht ohne ihre Lebenslüge auskommt, dass die Parteidifferenzen wesentlich sind. Wahlen würden sonst sinnlos.“113 Und die Opposition verliert nicht im Sinne eines Nullsummen-Spiels, sondern bleibt immer im Spiel (z. B. unter bestimmten Bedingungen über zweite Kammern wie den Bundesrat bzw. den Vermittlungsausschuss), so dass die Möglichkeiten für Kooperation und Kollusion zunehmen. Die Parteien als Ganzes versuchen, die Folgewirkungen von Wahlniederlagen gering zu halten, um die durch Wahlen notorisch eingebaute Unsicherheit des Lebens von der Politik zu reduzieren.114 Dazu sind Kartellbildungen verschiedenster Art hilfreich.115 Zum zweiten – und vielleicht beunruhigender – werden Wahlen zu einem professionell und strategisch angelegten Versuch der politischen Manipulation von Wählerpräferenzen.116 Neuere Analysen über die professionellen Techniken und Strategien bei Wahlkämpfen vermitteln einen beunruhigenden Eindruck über die breit angelegten Versuche der zielgerichteten Manipulation von Wählerpräferenzen117, die weit über politisches Infotainment hinausgehen und die damit verbundene Boulevardisierung und Entertainisierung der politischen Kommunikation überschreiten.118 Wahlkämpfe und andere Formen der politischen Kommunikation verlieren den Charakter einer diskursiven und öffentlichen politischen Meinungs- und Willensbildung, indem diese durch Marketing- und Werbestrategien ersetzt werden, die auf politische Manipulation statt auf Überzeugung bzw. Unterhaltung setzen. Das Verschwinden der politisch-programmatischen Differenzen und die Kartellierung zwingt die politischen Parteien zur Dramatisierung, Symbolisierung, Personalisierung und Inszenierung von politischen „Ereignis-
11.4. Die Krise der repräsentativen Parteiendemokratie
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sen“, was eine „kontinuierliche Beobachtung und Beeinflussung von Medientenor und Meinungsverteilung“119 mit sich bringt. Die Idee der Delegation ist somit weitgehend obsolet: Das Delegationsverhältnis ist abgebrochen, die „Delegierten“ haben sich zu einer im und aus dem Staat heraus agierenden politischen Klasse gewandelt, die nur noch über eine minimale Mitgliedsbasis verfügt und diese eher als lästig für das flexible Managen des Wahl-, Politik- und Regierungsprozesses betrachtet. Nicht mehr die Regierten kontrollieren die Regierenden, wie es repräsentative bzw. delegationsorientierte Demokratietheorien unterstellen, sondern umgekehrt kontrollieren die Regierenden die Regierten.120 Schaubild 6 verdeutlicht den Abbruch der intermediären Kommunikation zwischen der Zivilgesellschaft und den Kartellparteien, ihr Agieren im und aus dem Staat heraus und den damit verbundenen Wandel der politischen Willensbildung. Schaubild 6: Die Kartell- bzw. professionalisierte Wählerpartei als „Staatspartei“
Quelle: modifiziert nach Katz/ Mair 1995: 13.
Zusammenfassend sind damit grundlegende Prämissen der repräsentativen Demokratie, in welcher Form auch immer, in Frage gestellt. Der Wille des Volkes, der von den Parteienvertretern als Delegierte des Volkes im Parlament repräsentiert werden soll, ist zu einer Schimäre geworden, die durch strategische Versuche der politisch-manipulativen Herstellbarkeit eines nun imaginären oder fiktiven Volkswillens ersetzt wird.121
11.4. Die Krise der repräsentativen Parteiendemokratie und das Problem der Delegation und der „Accountability“ Kann man moderne Demokratien ohne das Prinzip der politischen Repräsentation denken? Welche Bedeutung sollte es – normativ im Sinne einer bestimmten Qualität einer Demokratie – haben? Ohne auf das Prinzip der Repräsentation ausführlich einzugehen122 stellt sich hier die Frage, ob man es in Kategorien der
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11. Die Politik der Parteien
Delegation reformulieren kann? Dies hätte den Vorteil, dass man umstandslos an die Überlegungen und die Terminologie von R. Michels anknüpfen und sie zudem mit den neueren Demokratietheorien verbinden kann, die die repräsentative Parteiendemokratie in Kategorien der Delegation in der Principal-Agent-Theorie zu analysieren versuchen.123 Die Grundidee der Delegation ist – zumindest in der normativen Dimension der repräsentativen Demokratie – recht eindeutig: Eine Regierung, deren Legitimität nur auf den (souveränen) Willen des Volkes zurückgeführt werden soll, muss diesen (Mehrheits)Willen im Staat repräsentieren und in politische Handlungen im Sinne von bestimmten Policies umsetzen. Die Kette der Delegation ist klar und sie vermittelt sich – zumindest in parlamentarischen Demokratien – nur über die politischen Parteien. Schaubild 7: Kette der Delegationen in der repräsentativen Parteiendemokratie
Quelle: Müller 2000: 312.
Die Kette der Delegation beginnt bei den Wählern, die Kandidaten auf der Basis von Parteiprogrammen oder aufgrund personalistischer Merkmale wählen, die zuvor von den Parteien bestimmt und ausgewählt wurden und die als Abgeordnete in den verschiedenen Versammlungen die Wähler repräsentieren sollen. Diese wählen dann eine (Parteien)Regierung, die den Abgeordneten permanent verantwortlich ist (Misstrauensvotum etc.). Die Regierung besetzt dann entspre-
11.4. Die Krise der repräsentativen Parteiendemokratie
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chende Ministerien mit ihren PolitikerInnen, die wiederum versuchen, bestimmte Positionen in der Ministerialbürokratie nach parteipolitischen Gesichtspunkten zu besetzen. Der Zugriff auf die staatliche Bürokratie ist z. T. gesetzlich geregelt, zum Teil artet dies neben und manchmal auch gegen das Gesetz in parteipolitischer Patronage aus (Italien, Belgien, Griechenland etc. seien hier nur als extreme Fälle erwähnt). Die Principal-Agent-Theorie geht davon aus, dass die Agenten bzw. Delegierten immer und unter allen Umständen ihre eigenen Interessen und nicht die der Prinzipale realisieren wollen. Dadurch entsteht ein fundamentaler Zielkonflikt: Der Agent hat die Motivation und das Interesse, sich so weit wie möglich von den Prinzipalen zu lösen. Sein primäres Interesse ist nicht die Verfolgung der Interessen des Prinzipals, sondern die Maximierung seiner eigenen Position. Dies ergibt sich auch daraus, dass es zweitens prinzipiell unmöglich ist, alle Aufgaben und Pflichten des Agenten ex ante durch Verträge oder andere Formen der Verpflichtung festzulegen, weil die Eventualitäten und Kontingenzen der zukünftigen Entwicklungen nicht vorherzusehen sind. Jeder explizite und erst Recht implizite Vertrag ist unvollständig und lässt Lücken offen, damit diese Beziehung überhaupt funktionieren kann. Immer braucht der Agent Frei- bzw. Spielräume, damit er angemessen agieren und reagieren kann. Und schließlich besteht eine mehr oder weniger stark ausgeprägte Informationsasymmetrie zugunsten des Agenten. Er besitzt Informationen, Kenntnisse, Routinen etc., die er zur laufenden Bewältigung seiner Aufgaben braucht und sich so als ‚Professional‘ gegenüber den Prinzipalen absetzen kann. Bevor ich auf potentielle Kontrollmöglichkeiten der Delegierenden gegenüber den Delegierten eingehe, möchte ich kurz die für die Politik und die politischen Parteien relevanten Formen von „agency control“ bzw. „loss of control“ erwähnen und die zunehmende Intensität, von der Drückebergerei über Sabotage bis hin zu „agency loss“, kurz skizzieren:124 •
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Die erste und niedrigste Stufe des Kontrollverlustes ist „leisure skirking.“ Hier arbeiten die Agenten (Delegierten) nicht für ihren Prinzipal, die „party on the ground“ bzw. die Wähler, sondern für ihre eigenen Interessen. Sie genießen eher „state dinners in interesting and exotic places“125 und kümmern sich nicht um die energische Umsetzung der programmatischen Positionen der Partei bzw. widmen sich nicht den zentralen Herausforderungen ihrer Partei, der Ressorts oder der Regierung insgesamt. Dann „dissent shirking“, indem Delegierte, Abgeordnete oder Minister sich der Parteidisziplin oder programmatischen Prämissen entziehen, um ihre eigenen und abweichenden Positionen durchzusetzen. Parteien und (Koalitions)Regierungen sind keine programmatisch einheitlichen Gebilde, sondern lassen auf Grund der Ambiguität von Programmen bzw. Koalitionsvereinbarungen oder
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11. Die Politik der Parteien
-absprachen Variationen, Uminterpretationen und Abweichungen zu, die Agenten in ihrem Interesse ausnutzen. Eine dritte Form ist „political sabotage“ in dem Sinne, dass ein Akteur versucht, eine bewusste Korrektur programmatischer Vorgaben zu erreichen, indem er z. B. Policies favorisiert, die durch Parteitagsbeschlüsse oder Parteiprogramme nur vage oder nicht abgedeckt sind. Zudem kann er den Informationsvorsprung und die Expertise eines Ministeriums bei der Formulierung von Gesetzentwürfen nutzen, um bspw. von einer Beschlusslage abweichende Korrekturen einzuführen.126 Dies findet etwa dann statt, wenn eine Regierung Policies initiiert, die durch keine programmatischen Beschlüsse der Partei gedeckt sind.127 Weit schlimmer ist „agency capture“, das im Prinzip zwei Formen annehmen kann. Zum einen können Interessenvertreter bestimmte Abgeordnete so massiv beeinflussen, bis hin zur Bestechung, dass sie nicht dem Auftrag der Partei oder den Wählern folgen, sondern dem von Interessengruppen. Zum anderen kann ein Ressort bzw. die Ministerialbürokratie wegen ihres immensen Informationsvorsprungs und ihres bürokratischen Routinewissens den zuständigen Minister an die Wand spielen. Dies ist bei schwachen und indifferenten Ministern eher der Fall als bei tatkräftigen und policy-orientierten. Analoges gilt für ministerielle ‚Verbandsherzogtümer‘ (K. v. Beyme), bei denen Vertreter von Interessengruppen ein Ministerium ‚besetzen‘ und von dort aus ihre Politik – an den Parteien und an der Regierung vorbei – betreiben.128 Für den vorliegenden Kontext zentral ist „Madison’s dilemma.“129 Es realisiert sich dann, wenn Agenten ihre Kompetenzen, ihr Wissen und ihren strategischen Vorteil nicht nur für ihre eigenen Interessen, sondern auch gegen den Prinzipal einsetzen und seine Kontrollmöglichkeiten einschränken bzw. ihn zu manipulieren versuchen. Der politische Handlungsspielraum, den die Prinzipale ihren Agenten zum Agieren eingeräumt haben, wendet sich dann gegen die Prinzipale selbst. Dies ist dann gleichbedeutend mit „agency loss“ und Delegation kippt um in ihr Gegenteil, in „abdication.“
Ähnlich wie bei R. Michels, wenn auch deutlich anders akzentuiert, gibt es bestimmte Kontrollmechanismen, mit denen Prinzipale die Verselbstständigung ihrer Agenten zu verhindern suchen. Ein Ex-ante-Mechanismus ist „police patrol“130, die im Prinzip zwei Formen annehmen kann: Man versucht, den Agenten durch strenge Vorgaben und Aufträge zu binden, wie etwa Parteiprogramme, inhaltliche Policy-Prinzipien o. ä., oder durch laufendes Monitoring zu kontrollieren, wie Berichtspflichten, permanente Rechenschaft, Kommissionen oder Expertengremien, die den Aktionsradius der Agenten überwachen. Bei beiden Formen sind die Transaktionskosten relativ hoch, so dass sich Ex-post-Mechanismen anbieten, genannt „fire alarm.“131 Man wartet ab, bis es brennt und setzt
11.5. Von den Kartellparteien zu autoritär-populistischen (Staats)Parteien?
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dann auf Dritte, die den Brand löschen. Dies sind in modernen Gesellschaften die Medien, insbesondere investigativer Journalismus, oder es sind Gerichte, die gegen Politiker aus den verschiedensten Gründen vorgehen; oder es sind parteiinterne oder allgemeine Wahlen, in denen man die Agenten wegen mäßiger Leistungserbringung abwählt. Die Transaktionskosten sind hierbei geringer, aber man muss sich auf andere verlassen können, die den Feuermelder ‚auslösen‘. Diese Mechanismen können aber das Grundproblem der repräsentativen Demokratie nicht aus der Welt schaffen: Kann man die Ausbildung einer selbstinteressierten politischen Elite in den Parteien und im Staat und deren selbstreferentielle Operationsmodi verhindern? Und wenn nein: wie kann man die Realisation ihrer Eigeninteressen und damit ihre Entfremdung von den Prinzipalen in erträglichen Grenzen halten? Dies ist das Grundproblem der repräsentativen Demokratie bzw. der Qualität dieser Form Demokratie, die ohne die Idee und Praxis der Delegation nicht auskommt.
11.5. Von den Kartellparteien zu autoritär-populistischen (Staats)Parteien? Die Parteien haben ihre Verbindungen zur Gesellschaft zwar nicht völlig abgebrochen, aber die Idee des „Linkage“ als substantieller Beziehung zwischen einer plural gedachten Gesellschaft und dem Staat, bei dem die politischen Parteien als Kanäle und das Parteiensystem als Kanalisation fungiert, ist weitgehend passé. Die Führungen der politischen Parteien haben sich nicht nur weiter von ihren Mitgliedern entfernt und weiter verselbstständigt, das auch. Aber diese Verselbstständigung hat einen Weg genommen, der weg von der Partei als vorwiegend gesellschaftlicher Organisation, hin zum Staat führt und im Parteienstaat132 seine Vollendung findet. Im Zeitalter der Kartell- oder professionalisierten Medienkommunikationsparteien sind die Mitglieder und Wähler keine Subjekte des politischen Prozesses mehr, sondern Objekte der professionell organisierten Politik, die sie mit den neuesten Marketing- und Psychotechniken in ihrem Sinne und zu ihren Zwecken zu beeinflussen sucht. Die heutigen politischen Parteien bleiben zwar weiterhin Kartell-, professionalisierte Wähler- bzw. Kommunikationsparteien, aber in manchen Ländern Europas (und auch anderswo) kann man Entwicklungen beobachten, die nicht nur beunruhigend sind, sondern auch womöglich einen neuen Typus von politischer Partei zum Vorschein bringen. Ich möchte diesen Typus als autoritär-populistische Staatspartei bezeichnen, der sich jedoch von den tradierten Staatsparteien in den sozialistischen Staaten erheblich unterscheidet, aber dennoch manche und erstaunliche Gemeinsamkeiten aufweist. Während die Konzepte der Kartell- oder professionalisierten Medienparteien noch davon ausgehen, dass eine offene und faire Parteienkonkurrenz sowohl während der Regierungsperiode als auch vor
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11. Die Politik der Parteien
den Wahlen existiert, realisiert die Staatspartei ein relatives Monopol während beider Phasen. Sie ist zwar in freien Wahlen an die Macht gekommen, aber im Besitz dieser Macht hat sie sukzessive bestimmte demokratische Garantien abgebaut und alle anderen Parteien in der Parteienkonkurrenz behindert. Durch demokratische Wahlen an die die Macht gelangt, baut sie nun die Demokratie um. Man kann dieses Phänomen am besten in Staaten beobachten, die zwar zur EU gehören, aber sich selbst nicht als Demokratie, sondern maximal als Demokratie mit Adjektiv bezeichnen.133 Ungarn war der erste europäische und demokratische Staat, der diesen Weg unter Ministerpräsident Victor Orbán nach seiner Wahl zum Ministerpräsidenten im Jahr 2010 ging; inzwischen ist ihm Polen gefolgt und hat diese Ideen noch radikaler umgesetzt. Aber kein anderer Minister- oder Staatspräsident hat seine Vorstellungen so klar in einer Rede ausformuliert wie V. Orbán – und die wichtigsten Prämissen dieser Rede sollen hier kurz skizziert werden.134 V. Orbán beginnt damit, sich und seinen Reformen in eine historische Kontinuität einzuordnen, die sich im 20. Jahrhundert als „major world regime changes“ vollzogen hat. Insgesamt sieht er drei große Umwälzungen: Das Ende jeweils des Ersten und dann des Zweiten Weltkrieges und schließlich der Systemwechsel in Mittel- und Osteuropa 1989/1990. Nach allen drei Wechseln lebte man in einer neuen und von der ‚alten‘ unterschiedenen Welt. Heute steht die Welt, aber insbesondere Ungarn, vor einer neuen Umwälzung, die mit der Krise der Finanzmärkte im Jahr 2008 begonnen habe. „We are going to live in a different world from now on. The shift is not that sharp as in the case of the three previous regime changes (…). And if we project these processes for the future (…) we see well that the chances will only have a bigger impact.”
Die liberale Welt vor 2008 würde die heutigen Veränderungen geschockt zur Kenntnis nehmen, denn die internationale Anziehungskraft des liberalen Amerika wird in Frage gestellt, weil „liberal values today incorporate corruption, sex and violence, and with this liberal values discredit America and American modernization.“ Dann folgt eine Aufzählung von Sachverhalten, die Europa und die liberale westliche Welt angeblich völlig diskreditiert hätten: Die Konzentration auf Flüchtlinge statt auf die einheimische Arbeiterklasse, die Zunahme von Trittbrettfahrern des Wohlfahrtsstaates, das Verschwinden der Mittelklasse in den USA und Europa, was zur Folge hat, dass „the rich will be attacked by pitchfork“; Unterklassen und Einwanderer erhalten umfangreichere finanzielle Unterstützung durch den Staat als einheimische Familien mit Kindern; die Christlichen Werte werden durch den Multikulturalismus ausgelöscht etc. Zwar sind die globale Wettbewerbsökonomie und damit verbundenen freien Märkte für eine erfolgreiche Entwicklung wichtig, aber er sieht einen weit wichtigeren Faktor, näm-
11.5. Von den Kartellparteien zu autoritär-populistischen (Staats)Parteien?
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lich eine neue Rolle des Staates. „Yet there is an even more important race. I would articulate this as a race to invent a state that is most capable of making a nation successful.” Es komme darauf an, die Regime zu verstehen, die in der Welt erfolgreich sind, und dies sind „not liberal, not liberal democracies, may not even democracies, and yet making nations sucessful.“ Die internationalen Stars sind Singapur, China, Indien, die Türkei und Russland und er strebe an, dass Ungarn in diese Reihe mit aufgenommen werden kann. Deshalb muss er nun einen Satz formulieren, der in der westlichen Welt auf Kritik stoßen wird, aber der gesagt und vor allem realisiert werden muss: „We needed to state that a democracy is not necessarily liberal. Just because something is not liberal, it still can be democratic. Moreover, it could be and needed to be expressed, that probably societies founded upon the principles of the liberal way to organize a state will not be able to sustain their world-competitiveness in the following years (…).”
Man muss heute die liberalen Werte und Prinzipien aufgeben und mit einem anderen Blick auf die Welt schauen. Denn sie haben nicht verhindert, dass Regierungen ineffektiv regieren, dass Staaten sich überschulden, dass sie Familien unbeschützt lassen und sich das ungarische Gemeinwohl nicht realisieren kann. Die ungarische Nation (hier wird der Begriff des Staates durch den Nation ersetzt) „is not a simple sum of individuals, but a community that needs to be organized, strengthened and developed, and in this sense, the new state that we are building is an illiberal state, a non-liberal state. It does not deny foundational values of liberalism, as freedom etc., But is does not make this ideology a central element of state organization, but applies a specific, national, particular approach instead.” (Herv. von mir)
Dann ergänzt er: „What all this exactly means (…) is that we have to abandon liberal methods and principles of organizing a society, as well as the liberal way to look at the world. (…) Liberal democracy was not able to openly declaring, or even obliging, governments with constitutional power to declare that they should serve national interests. Moreover, it even questioned the existence of national interest. I did not oblige subsequent governments to recognize that Hungarian diaspora around the world belongs to our nation and try to make this sense of belonging stronger with their work.”
Zudem zählt er noch weitere Fehler bzw. negative Folgen des liberalen Prinzips auf. Der Liberalismus hat es angeblich versäumt, die öffentliche Gesundheit zu beschützen, zu wenig staatliches Eigentum bewahrt und stattdessen das Privateigentum bevorzugt, die öffentlichen Schulden zu sehr in die Höhe getrieben und die Familien nicht vor hoher Verschuldung und dem Zwang bewahrt, dass Frauen arbeiten müssen. Auch die verfassungsrechtlichen Regeln der Gewaltenteilung und die Unabhängigkeit der Justiz sieht er problematisch. Er fragt, was würde passieren, wenn – wie etwa gegenwärtig in den USA – der führende Politiker vom Parlament rechenschaftspflichtig gemacht werden könnte oder gar von Gerichten wegen Amtsmissbrauch bestraft werden könnte? Dann folgert er für sich: „For
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11. Die Politik der Parteien
how much time can I stay in power in a situation like this?” Solche kontingenten Situationen müssten unbedingt vermieden werden, es darf in seinem Land nicht alles möglich sein, konkret das parlamentarische Misstrauensvotum oder die verfassungsrechtliche Kontrolle der Regierungstätigkeit, die den Regierungschef in seinem Handlungsspielraum einengen. Eine Abwahl durch Wahlen ist ebenso außerhalb seiner Vorstellung, weil er als Vertreter der Nation die Interesen der Nation vertritt, die ihn dafür in Wahlen bestätigt und ihm für seine Politik dankbar zu sein hat. Hier wird erneut der Zusammenhang zu den politischen Parteien deutlich. Nicht die Partei als Partei ist entscheidend, sondern der Teil der Partei, der im Staat und aus dem Staat heraus agiert und dies weitgehend unkontrolliert tun können muss. Die gegenwärtige Regierung ist durch eine Wahl legitimiert, das nationale Interesse zu realisieren und darf hierbei von keinen oppositionellen Kräften kritisiert, geschweige denn gehindert werden. Die regierende Partei verschmilzt mit dem Staat und zentrale Positionen im Staat werden durch die Partei besetzt, auch in der Justiz und in anderen, eigentlich von der Parteipolitik unabhängigen Bereichen, wie den Medien. Die regierende Partei wird dann zur Staatspartei, weil sie mit dem Staat verschmilzt bzw. sich den Staat unterwirft. Aber über allem steht der Regierungschef, der alle diese Prozesse steuert. Parallel dazu mutiert der Staat zum Parteienstaat, weil er von einer Partei dominiert wird, die sich den gesamten Staat unterwirft und in zur Realisation ihrer politischen Ziele instrumentalisiert. Dies wird insbesondere dadurch deutlich, dass die Staatspartei V. Orbáns mit ihrer Zweidrittelmehrheit im ungarischen Parlament nicht nur die Verfassung außerordentlich häufig änderte, sondern zudem eine komplett neue Verfassung ausarbeitete, die sie mit ihrer Mehrheit allein und ohne Beteiligung anderer politischer bzw. opponierenden Kräfte im April 2011 verabschiedete und am 1. Januar 2012 in Kraft treten ließ. Die neue Verfassung unterminiert das Rechtsstaatsprinzip, weil sie dem Verfassungsgericht untersagt, die Gesetzgebung im Bereich des Rechts, der Steuern und des Haushalts zu kontrollieren. Hier kann die Regierung Wege jenseits des Verfassungsrechts gehen. Hinzu kommt, dass die überlange und ideologisch begründete Präambel sich wie ein nationales Glaubensbekenntnis liest und zum verbindlichen Interpretationsrahmen der Verfassung erklärt wird. Zugleich wird die alte Verfassung für ungültig erklärt und damit Rechtskontinuität abgebrochen. Dies kann (oder soll) weitreichende Folgen haben, weil damit auch die Rechtsprechung des bisherigen Verfassungsgerichts keine Gültigkeit mehr hat und damit bleibt offen, was in Ungarn nun gültiges Verfassungsrecht ist und was nicht. Auch schränkt die neue Verfassung den Handlungsspielraum künftiger Regierungen ein, indem bestimmte Gesetzgebungen, etwa im Steuer- und Rentenrecht, nur noch mit Zweidrittelmehrheiten erfolgen können und somit die Gesetzgebungen
11.6. Gleichzeitigkeit verschiedener Parteitypen
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der Orbán-Regierungen nur schwer zu ändern sind. Im Übrigen hat die politische Opposition die Mitarbeit an der Verfassung verweigert, sie ist das Ergebnis der Tätigkeit der gegenwärtigen Regierung allein, in der Nationalversammlung fand keine ausreichende Diskussion des Entwurfs statt, eben so wenig war ein Referendum oder ähnliches angestrebt. Die neue Verfassung wurde exklusiv von einer Partei, der von Regierungschef V. Orbán, entworfen und verabschiedet, sie war für seine Machtvorstellungen maßgeschneidert. Sie vollendet in gewisser Weise die ‚illiberale Demokratie‘, die er anstrebte. Eine solche ‚illiberale Demokratie‘, in der eine Staatspartei den gesamten politischen Prozess dominiert, den Spielraum der politischen Opposition einschränkt, die Öffentlichkeit in ihrem Sinne durch Einschränkung der Meinungs-, Presseund Medienfreiheit manipuliert und die unabhängige Justiz ihrer Parteikontrolle unterwirft, ist im Kern keine Demokratie mehr. Der demokratische Prozess insgesamt, insbesondere aber vor den Wahlen und oft in der Wahl selbst, ist manipuliert und wird von der herrschenden politischen Partei kontrolliert. Sofern der Prozess der politischen Willensbildung und der der Wahlen von einer Partei dominiert wird und andere Parteien in ihrem Bewegungsspielraum gehindert sind und die Justiz, vor allem die höchsten Gerichte bzw. das Verfassungsgericht, nicht unabhängig von der Regierungspartei sind und die Medien nicht umfassend und ungehindert berichten können, sondern von der regierenden Partei ‚kolonisiert‘ werden135, kann man nicht mehr von einem demokratischen Prozess sprechen. Dann ist eine Bezeichnung plausibler, die den Begriff der Demokratie – auch mit Adjektiv(en) – vermeidet.136 Der Begriff des hybriden Regimes scheint mir analytisch präziser zu sein. Auch der Osteuropaexperte Timothy G. Ash hat in einem neueren Artikel Ungarn als ein solches Regime gekennzeichnet.137 Ein solches Regime kann nicht mehr als verminderter Subtyp der Demokratie gefasst werden, wie etwa als illiberale, elektorale oder defekte Demokratie, sondern als eigenständiger Regimetypus jenseits der Demokratie (und deren Subtypen) und jenseits von autoritären Regimen (und deren Subtypen).138
11.6. Die Gleichzeitigkeit verschiedener Parteitypen in den modernen Gesellschaften Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts haben wir es mit einer bisher nicht gekannten Pluralität und Parallelität verschiedener Parteitypen zu tun. Neben die Parteien mit Volksparteiencharakter treten die Kartell- bzw. professionalisierten Medienkommunikationsparteien, die vom Aufstieg von autoritär-populistischen Typen begleitet werden. Aber bei allen Parteientypen sind die Verbindungskanäle zwischen Gesellschaft und Staat ‚verstopft‘ und die Parteien agieren situativ und mit Ad-hoc-Programmatiken aus dem Staat heraus. Spezifisch für
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11. Die Politik der Parteien
den Anfang des 21. Jahrhunderts aber ist der Aufstieg eines neuen Parteientypus, der autoritär-populistischen Partei. Er entwickelt sich in den modernen Demokratien in Europa, ist aber kein ausschließlich europäisches Phänomen. Interessant ist, dass es in Europa, konkret der Europäischen Union, neue Parteien gibt, die dem ungarischen Modell nacheifern und es in manchen Bereichen hinsichtlich der autoritären Merkmale sogar noch übertreffen. Polen ist seit der Machtergreifung der Regierung unter Beata Szydło das wichtige Beispiel. Die polnische nationalkonservative Partei Prawo i Sprawiedliwość (PiS) gewann in den Parlamentswahlen im Jahr 2015 mit 37,6 % der Stimmen 253 der insgesamt 460 Sitze im Sejm und errang dadurch die absolute Mehrheit; auch in der zweiten Kammer, dem polnischen Senat, verfügt sie über die absolute Mehrheit. Seit dem Rücktritt von Ministerpräsidentin B. Szydło im Dezember 2017 ist das Kabinett von Mateusz Morawiecki an der Regierung und unterwirft weitere zentrale politische und juristische Institutionen der Macht seiner Mehrheitspartei. Allerdings ist das direkt gewählte Präsidentenamt nicht von einem Parteigänger der PiS besetzt, sondern seit 2015 vom (ehemaligen) EU-Parlamentarier Andrzej Duda von der nationalkonservativen Partei Recht und Gerechtigkeit, der in bestimmten Bereichen noch als politischer Gegenspieler der PiS handeln kann. Kommen solche Parteien an die Macht, so wandeln sie ihren Charakter grundlegend. Sie entwickelt sich von einer Partei, die mit anderen im Parteienwettbewerb um politische Macht gekämpft hat, zu einer Partei, die diesen Kampf gewonnen hat und nun alleine oder in Koalition an der Macht ist. Sie wird dann zur autoritär-populistischen Staatspartei, die den Staat und die damit verbundenen Machtpositionen mit ihren Anhängern besetzt und damit den Staat parteipolitisiert. Am Übergang vom 20. zum 21. Jahrhundert wird immer deutlicher, dass die politischen Parteien aus dem Staat heraus operieren und dies gilt für alle die Parteientypen, die nun eine bedeutende Rolle spielen. Die bereits erwähnten autoritär-populistischen Parteien sind mehr oder weniger Staatsparteien, die nicht nur mit vielen staatlichen Institutionen verschmelzen, sondern fast ausschließlich über staatliche Gelder finanziert werden. Sie haben die zentralen Merkmale einer demokratischen Partei weitgehend abgestreift. Die innerparteiliche Demokratie ist noch rudimentärer ausgeprägt als bei den Kartellparteien, ihre innere Struktur ist autoritär und sie agiert – sofern an der Macht – zentralistisch aus dem Staat heraus. Sie setzt alle anderen politischen Parteien in einen minderen Status und baut als Einparteienregierung ihre Position systematisch auf Kosten grundlegender demokratischer Prämissen aus. Sie wird zu einer autoritär regierenden Staatspartei, die gleichwohl eine durch (restriktive) Wahlen legitimierte Partei in einem hybriden Regime ist. Für die Kartellparteien gilt analoges, auch wenn sie – im Gegensatz zu den autoritär-populistischen Parteien – an den Grundprämissen der Demokratie festhal-
11.6. Gleichzeitigkeit verschiedener Parteitypen
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ten und sich in regelmäßigen Wahlen dem Urteil der WählerInnen stellen. Die professionellen Wählerparteien haben viele gemeinsame Merkmale mit den Kartellparteien, aber dieser Typus betont mehr die professionell geführten Wahlkämpfe und die stark ausgeprägte Professionalisierung der Parteielite, die vor allem von der Politik lebt und weniger für die Politik. Der von verschiedenen AutorInnen identifizierte Typus der professionalisierten Medienkommunikationsparteien betont dagegen die mittels des Mediensystems erfolgte Mobilisierung bzw. Politisierung von Teilen der Bevölkerung. Alle Parteitypen nutzen die neuen (und alten) Medien und sie müssen sich – wollen sie von den Medien berücksichtigt werden – an die Medienlogik nicht nur anpassen, sondern sich ihr unterwerfen. Politik wird dann zum „Politainment“139, das durch eine enge Kopplung zwischen Politik und medialer Unterhaltung geprägt ist. Es ist eine „bestimmte Form der öffentlichen, massenmedial vermittelten Kommunikation, in der politische Themen, Akteure, Prozesse, Deutungsmuster, Identitäten und Sinnentwürfe im Modus der Unterhaltung zu einer neuen Realität des Politischen montiert werden.“140
Das Bild der Politik wird durch die Strukturen und Funktionen der neuen Medien geprägt, die vor allem im Modus des Entertainments operieren und „unterhaltende Politik“ und „politisierte Unterhaltung“141 verschmelzen untrennbar. Sicherlich ist der dominierende Parteityp nach wie vor die Kartellpartei bzw. die professionalisierte Medien(kommunikations)partei. Während bei erstem Typus vor allem die Zusammenarbeit der politischen Parteien bei der Bewahrung und beim Ausbau ihrer Privilegien und ihr politisches Agieren aus und mit dem Staat und mittels staatlicher Hilfen im Zentrum steht, liegt der Schwerpunkt bei den anderen Begriffsbildungen eher bei den Modi der politischen Kommunikation. Kernelemente des Typus der professionalisierten Medienkommunikationspartei sind das professionelle Kommunikationsmanagement, die Anpassung von Themen an die Logik der modernen Medien, die Orientierung an einzelnen Issues statt an übergreifenden Programmatiken, die Ausübung wesentlicher Kompetenzen in der Partei durch ein strategisches Zentrum und schließlich der weitere Bedeutungsverlust der Mitgliedschaft.142 Parteipolitiker werden immer mehr durch „Staatsschauspieler“ mit „überzeugender Unverbindlichkeit“ und der „Tendenz zur Halbwahrheit“ ersetzt.143 Diese Parteitypen dominieren die politische Landschaft in Europa und auch anderswo, wobei die Differenzen hinsichtlich ihrer typologischen Merkmale eher gering sind und in eine Richtung deuten. Der bereits erwähnte neue Parteitypus, die autoritär-populistische (Staats)Partei, spielt in bestimmten Ländern Europas (und in der europäischen Politik) eine zunehmend wichtige Rolle und wird sie in Zukunft weiter spielen. Diese Parteien agieren nicht reaktiv, wie die meisten der bisher erwähnten Parteitypen, sondern eher proaktiv. Sie haben eine bestimmte Vorstellung, wie die Gesellschaft unter ihrer Herrschaft aussehen soll und setzen diese konsequent und meist undemo-
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11. Die Politik der Parteien
kratisch durch. Die Volks-, Kartell- und professionalisierten Medienparteien agieren dagegen eher reaktiv, weil sie keine umfassenden Politikvorstellungen ausgebildet haben, die sie proaktiv realisieren könnten. Stattdessen laufen sie den Verhältnissen hinterher. Anmerkungen 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48
Vgl. etwa Lipset 1962; ders. 1964. Duverger 1951; deutsch: 1959. Duverger 1959: XI-XII; Herv. von mir. Ebd. Vgl. Lawson 1980. Duverger 1959: 3; Herv. von mir. Sartori 1968: 21. Wiesendahl 1998. Neumann 1956: 395. Michels 1911; Michels 1925. Pfetsch 1959: XXI. Wiesendahl 1998: 34. Wiesendahl 1998: 35. Michels 1909: 231. Zu Michels Parteientheorie lesenswert ist insbesondere Cook 1971. Michels 1911: 12. Ebd. Michels 1911: 23. Michels 1911: 25. Ebd. Ebd. Michels 1911: 32. Michels 1989: 37. Michels 1911: 55-59. Michels 1989: 130. Michels 1989: 139; Herv. i. O. Michels 1989: 370f. Michels 1989: 371. Michels 1989: 376. Vgl. ebd. Vgl. Michels 1989: 78. Michels 1989: 197. Michels 1989: 204. Michels 1911: 201. Michels 1911: 202. Michels 1911: 200. Michels 1911: 381. Michels 1911: 48. Michels 1911: 52. Michels 1911: 42. Michels 1911: 50-53. Michels 1911: 52. Michels 1911: 53. Michels 1989: 57f. Michels 1911: 68. Michels 1911: 78. Michels 1911: 36. Neumann 1956: 403.
49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64 65
66 67 68 69 70 71 72 73 74 75 76 77 78 79
80 81 82 83
Katz/Mair 2002: 117. Vgl. Mannheim 1952: bes 102-133. Michels 1909: 233. Vgl. Michels 1989: 39, 259, 345. Vgl. dazu und zum folgenden Duverger 1959: 81-89. Als Überblicke vgl. etwa Pfetsch 1959; Lipset 1962; Beyme 1982; Röhrich 1972; Rüb 2012b. Zit. nach Hacke 2012: 119. Lenin Werke Bd. 5, Berlin 1955: 409. Lenin Werke Bd. 10, Berlin 1958: 13. Lenin Werke Bd. 10, Berlin 1958: 17, 14. Lenin, Werke Bd. 4, Berlin 1968: 401. Ebd. Lenin, Werke Bd. 31. Berlin 1959: 9. Kirchheimer 1965. Kirchheimer 1965: 27. Vgl. Kirchheimer 1965: 34. Vgl. Kirchheimer 1965: bes. 32, 39. Zur Diskussion dieses Typus vgl. ausführlich Schmidt 1989; Mair 1990: bes. 4-7; Katz/Mair 1995; dies. 2002. Mair 1990: 6. Kirchheimer 1965: 31. Vgl. Ebd. Kirchheimer 1965: 40. Kirchheimer 1965: 32; Herv. von mir. Kirchheimer 1965: 30. Kirchheimer 1965: 28. Kirchheimer 1965: 38. Kirchheimer 1965: 35. Kirchheimer 1965: 36. Kirchheimer 1965: 34. Kirchheimer 1965: 39f. Katz/Mair 1995: 13. Besonders instruktiv ist hierzu die von S. M. Lipset verfasste Einleitung zur amerikanischen Übersetzung von Michels Parteiensoziologie; vgl. Lipset 1962; aber auch die Einleitung zu Ostrogorskis parteiensoziologischen Schriften; vgl. Lipset 1964. Vgl. Weber 1958; 1992. Vgl. etwa Pfetsch 1964; Röhrich 1972. Lipset 1962: 33; Herv. von mir. Der Begriff taucht – wenn ich das Recht sehe – zum ersten Mal in S. M. Lipset‘s Einleitung zu Michels englischer Übersetzung der Parteiensoziologie auf; Lipset 1962: 33.
11.6. Gleichzeitigkeit verschiedener Parteitypen 84 85 86 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99
100 101 102 103 104 105 106 107 108 109
110 111
Vgl. Katz/Mair 1995; 2002; 2009. Vgl. Panebianco 1988; Beyme 2000. Vgl. Jun 2004. Mair 2013. Vgl. Mair/Bienzen 2001; Bienzen/Mair/ Poguntke 2012; Mair 2013: 37-42. Mair 2018: 38. Mair 2018: 41. Dalton/Wattenberg 2002. Vgl. Mair 1997: 113; Beyme 2000: 104-123. Vgl. Wiesendahl 2003. Wiesendahl 1998: bes. 242ff. Vgl. Katz/Mair 1995: 22. Mair 2018: 35-37. Mair 2018: 22-29. P. Mair beruft sich hier vor allem auf B. Manin (Manin 1997) und G. Sartori (Sartori 2002); vgl. Mair 2018: 43f. In manchen Ländern beträgt die Quote der staatlichen Finanzierung bis zu 80 % (Italien, Finnland und Spanien), in den anderen europäischen Ländern liegt sie bei plus/minus 50 %, zudem sind die Finanzierungsregeln oft vage und bewusst unklar geregelt; Vgl. Puhle 2002: 82, FN 19 m. w. H.; Beyme 2000: 127-144; und etwa die Übersicht bei Katz/ Mair 1992. Zur Begrifflichkeit Müller/Strøm 1999; Katz/ Mair 1993. Vgl. Koole 1996. Müller, A. 1994: 73. Mair 2018: 97. Vgl. Klein, M. 2006. Zur Professionalisierung der Politik und zur Politik als Beruf vgl. die glänzende Studie von Borchert 2003. Vgl. Katz/Mair 1995: 19; dies. 2009: 755; Beyme 2000: 235; ders. 2001: 61. Vgl. Katz/ Mair 1995: 22. Mair 2018: 98. P. Mair ist hier nicht klar und eindeutig, aber aus Fußnoten und kleineren Randbemerkungen ergibt sich diese Präferenz; vgl. Mair 2018: 43f., 83, FN 5. Wassermann 1986. O. Kirchheimer unterscheidet drei Arten der Opposition: Zunächst (a) prinzipielle Opposition, die sich nicht nur gegen die Regierung, sondern das Gesellschaftssystem insgesamt richtet; dann (b) die klassische Opposition, wie sie sich in Mehrheitsdemokratien, vorzugsweise in Großbritannien, herausgebildet hat; und schließlich (c) die politische Opposition, die „various forms of cartel arrangements among political organizations operating within the framework of parliamentary institutions“ annimmt (Kirchheimer 1957: 128). Erstaunlich, dass O. Kirchheimer bereits 1957 das kartellähnliche Arrangement als zentral erwähnt.
575 112 Dies wird besonders deutlich im Bereich der wohlfahrtsstaatlichen Politik, konkret des Um- oder Abbaus von Wohlfahrtsstaaten. Hier liegen ideologische Ankündigungen und faktische Policies extrem weit auseinander; vgl. Pierson 1994. 113 Beyme 2000: 187. 114 Vgl. dazu Borchert 2003: bes. Kap. 1. 115 Für einen guten Überblick vgl. Wiesendahl 1999. 116 Vgl. Horowitz 2000; Riker 1986. 117 Vgl. Althaus/Cecere 2003; Berg 2002; Dörner 2002; Holtz-Bacha 2000; Machnik 2002; Römmele 2002; Kreyher 2004. 118 Diese Tendenzen beschreibt Saxer (2007) sehr überzeugend, aber er übersieht die damit verbundenen manipulativen Tendenzen. 119 Sarcinelli/Geissler 2002: 163. 120 Vgl. Katz/Mair 1995: 22. 121 Dass diese Versuche misslingen können, ist damit selbstverständlich eingeschlossen. 122 Vgl. dazu Pitkin 1967; Manin 1997; 1999; Przeworski et. al. 1999; Strøm 2000. 123 Vgl. Strøm 2000; Müller 2000; Lupia/ McCubbins 1998. 124 Vgl. Andeweg 2000; Brehm/Gates 1997: bes. 50ff.; Müller 2000; Lupia/McCubbins 1998. 125 Laver/Shofield 1990: 40, zit. nach Müller 2000: 320. 126 Welche Bedeutung dies hat kann man u. a. bei der Gesundheitsreform der großen Koalition beobachten, bei der das zuständige Ministerium mehrmals versuchte, seine Positionen gegenüber denen der Regierung bzw. dem Koalitionspartner durchzusetzen; vgl. dazu ausführlich Kirch 2008; Schröder 2009. 127 Die Einführung der Hartz-Reformen durch die Schröder-Regierung ist hierfür ebenso ein typisches Beispiel wie die Erhöhung der Altersgrenzen in der Gesetzlichen Rentenversicherung unter der Großen Koalition von Angela Merkel. 128 Dies war v. a. in der Nachkriegszeit in der Bundesrepublik beim Landwirtschaftsministerium und beim Vertriebenenministerium der Fall; abgeschwächt gilt dies aber auch für Ministerien, in denen ein bestimmter „Denkstil“ vorherrscht und mit bestimmten Policy-Optionen verbunden wird. 129 Dieses Dilemma geht zurück auf Ausführungen von Madison in den Federalist Papers (Nr. 51), wo er betont, dass Regierungen notwendig sind, weil Menschen keine Engel sind, und dass Regierungen mit gewissen Machtressourcen ausgestattet werden müssen, um das ebenfalls nicht engelhafte Volk regieren zu können. Der Kern des Paradoxes besteht darin, dass „resources or authority granted to an agent for the purpose of advancing the interests of the principal can be turned against
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11. Die Politik der Parteien the principal.” So Kiewiet/McCubbins 1991: 26. Zur „police patrol“ wie auch zum „fire alarm“ vgl. McCubbins/Schwartz 1984: 97. Ebd. Der Begriff des Parteienstaats wird sehr unterschiedlich verwendet. Bei E. Holtmann (2012) beispielsweise erfährt er eine positive Konnotation, er wird von ihm als die perfekte Ausformung der gegenwärtigen Parteiendemokratie betrachtet. Dagegen haben bereits sehr früh von K. von Beyme (1993) und W. Hennis (1998) kritisch argumentiert und den Parteienstaat als negative Erscheinungsform der modernen Demokratie charakterisiert. Diese Formulierung geht zurück auf Levitsky/ Collier 1997. Ich zitiere hier nach einer offiziellen englischen Übersetzung, die im Budapest Beacon
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vom 29. Juli 2014 erschienen ist; vgl. https:// budapestbeacon.com/full-text-of-viktorOrbáns-speech-at-baile-tusnad-tusnadfurdoof-26-july-2014; Zugriff am 16.08.2018. Vgl. dazu erhellend und für die aktuelle Situation relevant Bajomi-Lázár 2013. Zu Demokratien mit Adjektiven vgl. den instruktiven Aufsatz von Collier/Levitsky 1997. Timothy G. Ash „Europe must stop this disgrace: Victor Orbán is dismantling democracy”; in “The Guardian” vom 12.07.2019. Vgl. dazu im Detail Karl 1996; Rüb 2002; Diamond 2002; Bogaards 2009; Migell 2009. Dörner 2001. Dörner 2001: 31. Ebd.; Herv. i. O. Vgl. systematisch bei Jun 2004: bes. 113-126. Falter 2003: 427f.
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12. Die Politik und ihre Variationen durch Politikertypen Politik ist ein eigentümliches Geschäft und Max Weber hatte bereits darauf hingewiesen: Wer Politik treibt, tut das nicht ungestraft, weil Politik die Menschen verändert, die sich auf das politische Spiel einlassen. Der Politikbetrieb ‚sozialisiert‘ Menschen, er unterwirft sie bestimmten Anforderungen, gerade in modernen Parteiendemokratien, und die politischen Parteien haben eigene Sozialisationsmuster ausgebildet, die man durchlaufen muss, um erfolgreich zu sein. Der Weg zur Macht verändert die Menschen, die diesen Weg gehen. Umgekehrt gilt: Politik kann und will die Menschen verändern, mit denen sie es zu tun hat und oft zugleich auch deren soziale und gesellschaftliche Kontexte. Politiker wollen und können die Welt und ihre Menschen massiv verändern und die totalitären Herrscher des 20. Jahrhunderts haben dies auf mörderische Weise eindrücklich belegt. Der Drang nach Macht ist ein Drang, den möglicherweise nur bestimmte Menschentypen verspüren und umgekehrt werden nur bestimmte Menschen vom Gebrauch der Macht so verändert, dass sie ihre Macht missbrauchen. Haben Menschen einmal die Stufenleiter der Macht erklommen, so üben sie Herrschaft auf sehr unterschiedliche Art aus, auch wenn die konstitutionellen und sonstigen Kontextbedingungen konstant sind. In einer gegebenen institutionellen Ausprägung der Demokratie können verantwortungsbewusste Staatsfrauen ihre Macht im Interesse der Gesellschaft ebenso ausüben wie populistische Führer in ihrem egoistischen Herrschaftsinteresse. Bestimmte Politikertypen verändern den Modus des Politiktreibens und dies gilt für die verschiedensten politischen Regime. Sowohl Demokratien als auch Diktaturen können ihren Charakter grundlegend variieren, je nachdem, welche Personen wie an die Schalthebel der Macht gelangt sind und wie sie ihre Macht ausüben. Politikertypen beeinflussen die Politik in Demokratien in zwei wesentlichen Dimensionen. Zunächst haben sie erhebliche Auswirkungen auf die Qualität der Demokratie, denn je nach Politikertypus können sich die Prozeduren der Politik massiv ändern. Demagogen beispielsweise verändern nicht allein die politische Landschaft und die Struktur von politischen Parteien, sondern auch die Dynamiken der Parteienkonkurrenz bzw. des Politiktreibens. Zum anderen können bestimmte Politikertypen, erneut sind hier Demagogen und Fanatiker die Hauptverdächtigen, zur Transformation der Demokratie in autoritär-populistische Regime beitragen, wie man gegenwärtig in Ungarn und Polen beobachten kann. Politikertypen bestimmen aber auch über die ‚Qualität‘ von Diktaturen. Je nach Politiker- bzw. Diktatorentyp nimmt eine solche Herrschaftsform diese oder jene Ausprägung an. Manche Diktaturen beruhen auf einer engen Verbindung von Führern und Geführten, während andere sich auf reine Gewaltbeziehungen gründen.
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12. Die Politik und ihre Variationen durch Politikertypen
Umgekehrt können bestimmte Politikertypen Diktaturen in demokratische Regime umwandeln, indem sie mit der politischen Opposition Übergänge aushandeln und sich anschließend in freien Wahlen der politischen Konkurrenz stellen. Dies war – abgeschwächt – in der Sowjetunion unter Michail Gorbatschow ebenso der Fall wie – klassisch – 1989 in Polen unter der Militärdiktatur von Wojciech Jaruzelski, die die Türen zu den demokratischen Transformationen in Mittel- und Osteuropa öffneten. Waren J. Stalin und N. Chruschtschow verschiedene Politikertypen und kann man von ihrem unterschiedlich ausgeprägten Charakter auf unterschiedliche Muster des Politiktreibens schließen? Schränken institutionelle Rahmenbedingungen den Spielraum von Politikertypen ein – und wenn ja, über welche Mechanismen und in welchem Umfang? Auffällig sind sowohl die freiheitszerstörenden wie auch die freiheitserweiternden Handlungsmuster, die von unterschiedlichen Persönlichkeiten bzw. deren Psychostrukturen ausgehen und in der Politik des 20. Jahrhunderts eine große Rolle gespielt haben. Versucht man in der Politik unterschiedlich ausgeprägte Politikertypen zu identifizieren, ist man unvermeidlich mit Psychologie und deren grundlegenden Begrifflichkeiten konfrontiert. In einer der wenigen Untersuchungen, die es zum Thema gibt, gehen Guy Kirsch und Klaus Mackscheidt davon aus, dass die Neurose die wichtigste politische ‚Krankheit‘ ist und verstehen sie nicht im klinischen oder medizinischen Sinn, sondern als eine „aus innerer Unfreiheit begrenzte Begegnungsfähigkeit des Menschen mit sich selbst, mit anderen und mit den Dingen.“1 Die Demokratie – nur um sie geht es bei ihnen – ist nicht allein ein politisches Regime, in dem die „äußeren Freiheiten“2 gewährleistet sein müssen, also die verfassungsrechtlich garantierten individuellen, politischen und sozialen Rechte. Sie beruht ebenso auf inneren Freiheiten und die Demokratie „erweist sich als jener soziale Ort, wo ein Kampf um die innere Freiheit bzw. Unfreiheit ausgetragen wird; wo entschieden wird, ob die Einzelnen in heiterer Souveränität der Welt begegnen können oder aber sich ihr verneinend, verstümmelnd und zerstörend entgegenstellen müssen.“3
Hierzu unterteilen G. Kirsch und K. Mackscheidt den Wähler in einen innerlich freien und einen neurotischen Typus, wobei beide mögliche Endpunkte auf einer polaren Achse markieren. Der freie Mensch ist in der Lage, die Möglichkeiten der Welt nicht nur zu erkennen, sondern auch mit ihnen zu interagieren. Der neurotische dagegen fürchtet die Welt der offenen Möglichkeiten und versucht ihr zu entrinnen. Sie unterscheiden sich aber nicht nur hinsichtlich dessen, was sie erkennen können und was nicht, sondern der freie Mensch kann diese Möglichkeiten ergreifen, er kann neue Wege gehen, neue Optionen erproben und alte Verhaltensweisen verändern, während der Neurotiker innerliche Verbote und Gebote aufrichtet, die seinen Möglichkeitshorizont massiv einschränken. Zusammengefasst besteht
12.1. Politikertypen und deren Modi des Politiktreibens
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„(der) Unterschied zwischen der inneren Freiheit und der neurotischen Unfreiheit in der Blockierung der kognitiven Fähigkeiten und der Versteinerung des Engagements im Falle der neurotischen Unfreiheit. (...) Der neurotische Mensch, dem innere Verbote den Zugang zu den Möglichkeiten der Welt versperren, empfindet diese Möglichkeiten als Bedrohung seiner selbst; in ihnen erschließt sich ihm nicht der Reichtum der Welt, in ihnen breitet sich vielmehr verlockend und gefährlich das Sesam zu jenen Räumen seiner selbst, deren Zumauerung der uneingestandene Zweck der neurotischen Verbote ist.“4
Die inneren Zwänge bzw. deren Kontrollen können durch äußere Verbote stabilisiert werden und das nicht nur in Demokratien, wie bei G. Kirsch und K. Mackscheidt, sondern auch in Diktaturen. Wozu sich der Einzelne nur schwer oder womöglich gar nicht zwingen kann, übernimmt dann eine Instanz oder Institution, sei es die Religion oder der Staatsapparat, und bei letzterem vor allem das Militär oder die Polizei. Wichtig ist, dass bestimmte Politikertypen die Ängste kanalisieren und öffentlich bearbeiten, indem man – je nach Typus – sehr unterschiedlich politisch agiert.
12.1. Politikertypen und deren Modi des Politiktreibens Jeder Politiker kann durch seine Handlungsmotivation und seine dadurch bedingten Handlungsspielräume bzw. -optionen klassifiziert werden. Zentral hierbei ist die Beziehung zwischen Politiker und Wählerschaft bzw. Politiker und Volk, weil jeder Politikertypus eine bestimmte Form der Repräsentation des Volkes impliziert. Anders formuliert: Jeder Typus versucht, eine für ihn typische Beziehung zwischen ihm und dem Volk zu konstituieren, eine spezifische Form der „Begegnung“ oder auch „Interaktion“ zwischen Wählern und Politikern.5 Weitet man diesen Gedanken über die Demokratie hinaus aus und bezieht auch diktatorische Regime mit ein, so wird allgemeiner und abstrakter die Interaktion zwischen Politikertypus und dem Volk bzw. Teilen des Volkes zentral. Fühlen sich beispielsweise Politiker an den Auftrag ihrer Wähler gebunden und versuchen sie, diesen in praktische Politik zu übersetzen, so kann man von einer instrumentellen Beziehung sprechen, bei dem die Wähler das erste und entscheidende Wort haben und die Politiker allein der ‚Mund‘ dieses Wortes sind: Sie vollziehen den Auftrag ihrer Wählergruppierungen. Das gilt in Demokratien gleichermaßen für Regierung und Opposition – so zumindest die idealisierte Vorstellung. Ein geradezu umgekehrter Prozess findet statt, wenn ein politischer Führer seine Vorstellungen, wie die Welt gestaltet werden soll, durch massive Propaganda und Unterdrückung abweichender Positionen zur herrschenden machen will. Dann verläuft die Beziehung zwischen Politiker und Volk umgekehrt: Der Wille des autoritären Führers wird durch verschiedene Formen der Manipulation und Gewalt zum herrschenden gemacht und andere Positionen werden ausgeschaltet.
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12. Die Politik und ihre Variationen durch Politikertypen
Politikertypen unterscheiden sich somit je nach politischem Regime, aber es kann auch Typen geben, die sowohl in demokratischen wie in diktatorischen anzutreffen sind, gleichwohl aber unter verschiedenen Kontexten agieren. Der Demagoge ist ein solcher Typus, er kann in beiden Regimen auftreten und seine Spuren hinterlassen. Er kann beispielsweise eine Demokratie, in der er durch Demagogie an die Macht gelangt ist, zu einer Diktatur umformen. Umgekehrt gilt das gleiche: Diktatoren oder entsprechende politische Parteien können Diktaturen in Demokratien umwandeln, indem sie, ohne Gewalt auszuüben, dem Druck der Massen nachgeben oder sich selbst zurücknehmen und ihre Macht an andere Gruppierungen oder Personen abgeben bzw. mit ihnen teilen – um des Friedens willen. Hans M. Enzensberger hat in den mittel- und osteuropäischen Transformationen zur Demokratie einen solchen Politikertypus identifiziert: Den Helden des Rückzugs.6 Ich ordne im Folgenden die Politikertypen nach der Intensität ihres Politiktreibens. Der Dämon, der bereits von N. Machiavelli beschrieben wurde, verkörpert die Intensität der Politik am dramatischsten. Er will die die Welt massiv verändern und hierbei ist ihm jedes Mittel recht. Die totalitären Herrscher könnte man unter diese etwas außergewöhnliche Kategorie fassen (Kap. 12.1.1). Der Hinterbänkler dagegen ist die harmloseste Ausprägung eines Politikertypus, der jeden eigenen Anspruch an die Gestaltung der Welt durch Variation des politischen Geschehens weitgehend aufgegeben hat und selbstgenügsam und eigeninteressiert seine politischen Privilegien auskostet (Kap. 12.1.5.) Dazwischen liegen – in abnehmender Intensität – der Demagoge (Kap. 12.1.2.), der Staatsmann (Kap. 12.1.3.) und der Amtsinhaber (Kap. 12.1.4.). Bei jedem der hier unterschiedenen Typen kann man noch Untertypen bilden, was hier nur gelegentlich erfolgt, um die Typologie überschaubar zu halten.
12.1.1. Der Dämon als transmoralisches Wese. Zur Erinnerung an eine Denkfigur bei Dolf Sternberger D. Sternberger war (und ist) wohl einer der ganz wenigen, wenn nicht der Einzige, der sich mit dem Phänomen des Dämons ausführlich beschäftigt und in ihm einen bestimmten Typus des Politiktreibenden erkannt hat. Um präziser zu sein: Der Dämon ist ein unpolitisches Wesen in dem Sinne, als er zwar Herrschaft ausübt, Menschen unterdrückt oder tötet, aber sein Treiben nach D. Sternberger nicht als Politik gekennzeichnet werden kann. Der Dämon, oft mit einem Tyrannen oder Diktator identisch gesetzt, muss in seinem Tun jedoch extreme Ausmaße realisieren und sich von ‚normalen‘ Diktatoren bzw. Tyrannen grundlegend unterscheiden. Wie definiert nun D. Sternberger?
12.1. Politikertypen und deren Modi des Politiktreibens
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„Ein Dämon ist ein Zwischenwesen, kein Mensch und kein Gott, aber wissend und wollend. Wir wollen uns hier weder einen guten Geist noch auch einen bösen Geist vorstellen, vielmehr einen an sich gleichsam farblosen, der indessen je nach Wissen und Wollen sowohl gut als auch böse sein kann. Das war es ja, was Machiavelli von seinem ‚Principe‘ verlangt und weswegen wir ihn schon früher als ein ‚transmoralisches‘ Wesen bezeichnet haben.“7
Der Dämon ist bei ihm ein „künstlicher Dämon“ in dem Sinne, als er eine „literarische Kunstfigur, eine Erfindung, ein Artefakt“ ist. Bei Machiavelli hat der ‚Principe‘ keine menschliche, sondern eine „dämonische Existenz“8 und genau das macht aus ihm eine Kunstfigur. Aber das beunruhigende ist, dass diese Figur „viele Nachahmer gefunden (hat) und findet sie noch immer, und sie gehören nicht in die Sage, sondern in die Geschichte. Ein solcher Nachahmer ist und bleibt ein Mensch, aber einer, der die außer- und unmenschliche Position des Dämons mit seiner transmoralischen Unschuld einzunehmen versucht, um alsdann mit den gewöhnlichen Menschen, von denen er eine verächtliche Ansicht hat, nach seinem Herrschaftsinteresse zu schalten und zu walten, sie zu behandeln, zu täuschen, zu beglücken, zu füttern, zu rekrutieren, zu benutzen, zu betreuen, zu vernichten, je nach Lage und Zweck. (…) Ein solcher Un-Mensch zu werden ist eine Möglichkeit des Menschen.“9
Zur Verdeutlichung der dämonischen Existenz gebraucht D. Sternberger das Bild des Zentaur, der aus einem menschlichen und einem tierischen Wesen zusammengesetzt ist und damit das Menschsein transzendiert. Machiavelli – auf den sich D. Sternberger hier beruft – geht noch einen Schritt weiter. Er betrachtet beide Teile als fungibel und beide ‚Naturen‘ kommen, je nach Gelegenheit und Nutzen, beim ‚Principe‘ zum Vorschein und werden im politischen Kampf je nach Lage der Dinge eingesetzt. Damit wird der Fürst zu einem eigentümlichen Wesen, das imstande ist, „mit den ‚magischen‘ Elementen seiner selbst nach Bedarf zu schalten.“10 Der Fürst ist also kein menschliches Wesen, sondern ein Artefakt, ein Kunstwesen, das in der politischen Ideengeschichte als empirisch beobachtbares Phänomen bisher nicht aufgetaucht ist. Gleichwohl liefert Machiavelli verschiedene Anhaltspunkte aus der Geschichte, bei denen sich bei bestimmten Herrschern spezifische Merkmale dieses politischen Typus ausgebildet haben. Aber nie haben sie sich in einer Person so konzentriert, als dass man von einem wirklichen Dämon sprechen könnte. D. Sternberger sieht sich in seiner Auffassung bestätigt, dass der Fürst und der moderne Tyrann kein wirklich vorkommender Typus ist, sondern eine Kunstfigur, eben ein ‚künstlicher Dämon‘. In einem kleinen Passus über „Historische Nachahmung“ beschäftigt er sich mit der Frage, ob Hitler ein solcher Dämon gewesen sei oder nicht. Entgegen landläufigen Vorstellungen insistiert D. Sternberger darauf, dass Machiavellis Typus den „Tötungsfabriken und Gaskammern Hitlers“ keine Rechtfertigung liefert, „da die Menschen, die hier planmäßig vernichtet wurden, überhaupt keine reelle Gefahr für den Bestand der nationalsozialistischen Herrschaft bildeten und da ihre Vertilgung
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12. Die Politik und ihre Variationen durch Politikertypen diese Herrschaft auch nicht zu stärken vermochte. Es hat andere Handlungen Hitlers gegeben, die durchaus nach ‚machiavellistischem‘ Rezept in die Wege geleitet zu sein schienen.“11
Machiavelli hat andere ‚Teufeleien‘ im Blick gehabt, die sich zwischen Personen abspielen und zurechenbare Taten des Kalküls, der Feindschaft und der Grausamkeit sind. „Im Falle Hitlers aber tritt Ideologie ins Spiel“12 und dies wandelt die politischen Machtkämpfe. Die Ideologie macht aus den politisch tätigen Menschen etwas anderes, die ‚machiavellistischen‘ Handlungen verschwinden und werden „beinahe unsichtbar, der personale Ausdruck verlischt, ein Macht-Interesse ist nicht aufzufinden, aus Taten werden halbblinde Vollzüge, eine gnadenlose Funktion tut ihr Werk. Dennoch und gerade darum ist hier die teuflische Möglichkeit des Menschen als eines Un-Menschen in potenzierter Weise erfahren worden.“13
Hier nun bleibt D. Sternberger unklar, er zitiert H. Arendt (unvollständig) mit einer kleinen Passage aus ihrem Totalitarismus-Buch. Er hält fest, dass „Menschen nur das Material (sind), an dem die übermenschlichen Gesetze der Natur (…) vollzogen und das heißt (…) im furchtbarsten Sinne des Wortes exekutiert werden.“14
D. Sternberger zitiert hier nicht vollständig, er lässt u. a. den Hinweis H. Arendts auf die Sowjetunion unter Stalin weg15 und schlussfolgert dann, dass dies kein machiavellistisches Handeln mehr ist, sondern etwas anderes – eben der gnadenlose Vollzug von geschichtlichen Funktionen. Das Dämonologische vollzieht sich seiner Ansicht nach offenbar nur in nicht-ideologischen politischen Konflikten, also in den ‚normalen‘, gleichwohl oft blutigen und Menschen vernichtenden Auseinandersetzungen. Er nennt als Beispiel die Bartholomäusnacht, in der vom 24. auf den 25. August 1572 in Paris viele Tausende getötet wurden und die Mordserie nach dem Röhmputsch am 30. Juni 1934.16 Hier ging es um ‚normale‘ Machtkonflikte, die zwar mit intensiver Gewalt ausgetragen wurden, aber unideologisch in dem Sinne waren, als hier keine Geschichtsphilosophie oder kein Geschichtsdeterminismus wie im Falle Hitlers oder Stalins zum Durchbruch kam und zum Auslöser dieser Gewalt wurde. Im Nationalsozialismus dagegen kam etwas Teuflisches zum Ausbruch: Der Mensch als Un-Mensch trat in potenzierter Form auf die politische Bühne und vollzog seine historische Mission in Form seiner mörderischen Un-Politik. Abschließend muss festgehalten werden, dass D. Sternberger eine Politik der totalitären Tötung von Menschen eben nicht als Politik, sondern als Un-Politik bezeichnet, als eine Form des menschlichen Handelns, die sich nicht als politisch qualifizieren lässt, sondern sich jenseits seines normativ begründeten Politikbegriffs vollzieht. Sie ist zudem extrem asymmetrisch strukturiert, weil in dieser politischen Konstellation einer allein oder eine Gruppe die vollständige Herrschaft über eine andere Gruppe ausübt und sie nicht nur in einen minderen Rang ver-
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setzt, sondern sie total unterdrückt – die vollständige physische Vernichtung wie im Fall der Juden und Kulaken eingeschlossen. In seinen ‚Drei Wurzeln der Politik‘ nennt D. Sternberger allein die aristotelische Vorstellung Politik, die des Augustinus Anti-Politik und die des Machiavelli Un-Politik. Akzeptiert man allerdings die Prämisse, dass auch totalitäre Herrschaftsausübung als Politik qualifiziert werden kann (siehe oben Kap. 7), so sind die Politiken der Tötung Ausfluss des Dämonischen, das in der Politik seinen unvermeidlichen Platz hat und in diesem Jahrhundert eine überragende, wenngleich grausam überragende Rolle gespielt hat. Gerade in totalitären Regimen sind solche Politikertypen anzutreffen und zugleich legitimiert die totalitäre Ideologie eine Politik des Tötens, die genau diese dämonischen Politikertypen voraussetzt. Die beiden ‚großen‘ Totalitarismen brachten genau jene politischen Führer hervor, die alle Züge des Dämon trugen und eine dämonische Politik realisierten – die unvermeidlichen Leichenberge mit eingeschlossen. Die Politik der Tötung ist die Tat dämonischer politischer Führer, auch wenn diese Zuordnung umstritten ist.17 Hier realisiert sich eine Grausamkeit und Unmenschlichkeit, die in nicht-totalitären Regimen unmöglich zu sein scheint und deshalb untrennbar mit diesem Typus verbunden ist. Die Kandidaten des 20. Jahrhunderts sind nicht nur zahlreich, sondern auch bekannt: An erster Stelle stehen unbestritten Hitler und Stalin mitsamt ihren ebenso dämonischen Gefolgsleuten: Pol Pot in Kambodscha, Kim Il-sung in Nordkorea, Idi Amin in Uganda, Sadam Hussein im Irak, Charles Taylor in Liberia und Baschar Hafiz alAssad in Syrien. Eine solche Liste ist sicherlich umstritten, aber alle diese Machthaber haben dämonische Züge, sie sind Politikertypen, die sich von ‚normalen‘ Diktatoren unterscheiden und bei denen das Ausmaß der Greueltaten und Tötungen extreme Ausmaße angenommen hat. Solch ein ‚Un-Mensch‘ – in D. Sternbergers Worten – zu werden, ist im Menschen und deshalb auch im Politiker als Potential angelegt und im 20. Jahrhundert wie in keinem anderen zuvor zum Durchbruch gekommen. Gleichwohl kann man Dämonen auch in politischen Regimen beobachten, die man nicht unbedingt als totalitär klassifizieren kann, aber in denen dämonische Politiker unmenschliche Politik treiben. Die bereits oben erwähnten Idi Amin in Uganda, Sadam Hussein im Irak, Charles Taylor in Liberia und Baschar Hafiz alAssad in Syrien sind hier sicherlich die Prototypen, durch die eine Politik der ungehemmten Tötung realisiert wird. Solche Regime gab und gibt es auch noch am Ende des 20. Jahrhunderts und zu Beginn des 21. Jahrhunderts, so dass man mit solchen Politikertypen auch weiterhin rechnen muss. Dagegen ist das Auftauchen neuer ideologisch inspirierter Dämonen, wie Hitler und Stalin samt Gefolgsleuten, heute eher unwahrscheinlich. Diese Regime waren nur in einer bestimmten historischen Etappe denkbar und der Satz „Nie wieder“, der nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges bei der westlichen politischen Elite unumstrittene Position
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12. Die Politik und ihre Variationen durch Politikertypen
war, hat sich so tief in die politische Kultur und Tradition der europäischen Länder eingegraben, dass ein Wiederaufkommen äußerst unwahrscheinlich erscheint. Analoges gilt für den Stalinismus. Das Auftauchen der Dämonen selbst oder des Dämonischen in vielen der politischen Machthaber ist ein unhintergehbares Kennzeichen der Politik des 20. und auch des 21. Jahrhunderts. Darauf haben verschiedene Autoren eindrücklich und mehrfach hingewiesen.18 Sie haben jedoch nicht zwischen politisch und un-politisch getrennt, sondern das Doppelgesicht der Politik betont, das sowohl das Gute als auch das absolut Böse zu realisieren in der Lage ist. Zugleich ist das Dämonische nicht die Sphäre des völligen Dunkels, sondern eher die des „Zwielichts, der Mehrdeutigkeit, des Ungewissen, des zutiefst Unheimlichen.“19 D. Sternberger hat dies Doppelgesicht der Politik nicht akzeptiert, sondern das Dämonische in den Bereich der Nicht-Politik, konkret der Un-Politik verschoben und von der Politik klar getrennt.
12.1.2. Der Demagoge: Von Webers Typus zu den heutigen Populisten: Das Spiel mit den Leidenschaften20 Zwischen dem Demagogen und seinen Unterstützern herrscht ebenfalls eine asymmetrische Beziehung, die jedoch nicht so radikal einseitig ist wie beim Dämon. Während bei den Wählern die neurotische Ängstlichkeit und Enge durchaus einen Teil ihrer Psyche beeinflussen kann, so übertrumpft sie der Demagoge. Seine Psyche ist weit mehr davon geprägt. Die Psyche der Bürger kann durchaus von Neurosen gekennzeichnet sein, aber der „Demagoge personifiziert diese Neurose: Jene haben Neurosen, er besteht aus Neurosen.“21 Deshalb ist er an einer weiteren Einschränkung der Möglichkeiten oder der Kontingenzen der modernen Welt orientiert und reduziert die politischen Handlungsoptionen, die bisher gegeben und im Reich des Realisierbaren verortet waren. Mit seinen Reden, sei es auf der Straße oder im Parlament, will er die Denk- und Wahrnehmungsmuster seiner potentiellen Unterstützer beeinflussen und weiter in seine Richtung drängen. Er kann nicht mit dem Status Quo leben, sondern muss ihn in Einklang mit seinen neurotischen Wahrnehmungsmustern bringen. Hierbei nutzt er alle Möglichkeiten, die sich ihm in den modernen Gesellschaften eröffnen. In Demokratien das Wahlrecht, die freie Rede, nicht nur bei Wahlkämpfen, die vielen Medien und natürlich das Internet. Nicht jeder Demagoge ist erfolgreich in dem Sinne, dass er eine Massenbewegung initiieren oder eine Massenbeeinflussung über die Medien erzielen kann; viele bleiben in den modernen Gesellschaften eher ein Kuriosum, aber die Zunahme populistischer Politik am Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhun-
12.1. Politikertypen und deren Modi des Politiktreibens
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derts macht überdeutlich, dass der Demagoge ein Politikertypus ist, mit dem man durchaus rechnen muss. Zentral aber: „Ein Politiker ist nicht ein Demagoge (...); vielmehr steht ein Individuum als Politiker mit seinem gesellschaftlichen Umfeld in einer Beziehung, die ihm einen bestimmten Part zuschreibt, eben den Part, den man als den des Demagogen bezeichnet.“22
Als Typus ist er Bestandteil einer sozialen, besser politischen Beziehung, in der er eine spezifische Rolle innerhalb eines komplexen Beziehungsgeflechtes übernimmt und in dem die Bevölkerung oder Teile von ihr eine große Rolle spielen. Der Demagoge ruft sozusagen in die Bevölkerung hinein und sie ist das Echo, das aber fast wie eine eigenständige Antwort eines eigenständigen Akteurs klingt.
12.1.3. Die Staatsfrau und der ‚Held des Rückzugs‘ Was macht nun eine Staatsfrau bzw. einen Staatsmann aus und was einen Helden des Rückzugs? Ich beginne mit der Staatsfrau, die in der hier vorgestellten Typologie auf den ersten Blick nicht nur der wichtigste, sondern auch der normativ wünschenswerteste Politikertypus ist. Doch welche Leistungen soll sie konkret erbringen? Sie soll „die Gesellschaftsmitglieder wenigstens teilweise aus ihrer neurotischen Gebundenheit (…) befreien, ihnen Begegnungsmöglichkeiten mit sich, den Menschen und den Dingen (…) eröffnen, die ihnen bis dahin verschlossen und verboten waren, ihnen Chancen (…) erschließen, die sie bis dahin nicht einmal sahen, geschweige denn nutzen wollten, ihnen die Augen für Risiken (…) öffnen, die sie bis dahin nicht erkennen durften, kurzum: ihre innere Souveränität erweitern und stärken.“23
Die Staatsfrau soll, ja muss einen Blick in die Zukunft haben, sie muss die Aufgaben und Herausforderungen antizipieren, die auf eine Gesellschaft bzw. die Politik zukommen und – wenn irgend möglich – Antworten liefern. Dies erfordert Gaben und intellektuelle Fähigkeiten, die nur wenige Politikerinnen haben. Es erfordert zudem die Fähigkeit, die Wähler zu überzeugen und für diesen Zukunftsentwurf zu gewinnen. Ausgehend von aktuellen bzw. zukünftigen politischen Herausforderungen muss sie versuchen, die Bürger in einer rationalen und offenen Diskussion zu erreichen und ihre Unterstützung zu gewinnen. Zudem muss es ihr gelingen, ihre zukunftsorientierte Politik durch bestimmte Schlagwörter oder Slogans auf den Punkt zu bringen, die zugleich mobilisierend und unterstützend wirken. Das Verhältnis zwischen der Staatsfrau und den Wählerklientelen ist dynamisch und vor allem nicht widerspruchs- und spannungslos, sondern durch Konflikte und Unsicherheiten gekennzeichnet. Nie ist sich die Staatsfrau sicher, ob sie ihre bisherigen Anhänger mobilisieren und neue gewinnen kann, die für ihre Politik – nicht nur, aber auch bei Wahlen – eintreten.
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12. Die Politik und ihre Variationen durch Politikertypen
Solche möglichkeitserweiternden Politiken sind jedoch immer riskant und bedroht. Zum einen kommt es häufig zur „Vernachlässigung der Tagesfragen“ und einem sich daraus ergebendem „Problemstau“24, der mittel- oder langfristig kritisch werden kann. Zum anderen kann jeder Erfolg zur Wiege des Misserfolgs werden: „Sind jene Lebens- und Erleichterungsmöglichkeiten eröffnet, ist das Diktat jener Verbote und Gebote gebrochen, sind jene Wirklichkeitsaspekte in den politischen Diskurs eingeführt, jene Chancen erschlossen und jene Risiken identifiziert, kurz: ist jene innere Freiheit erreicht, um die es ging, dann hat auch die Beziehung ihren Zweck erreicht und sie wird, weil sie erfolgreich war, vielleicht aus nichtigem Anlass zu Ende gebracht.“25
Man muss diese Position nicht unbedingt teilen, um zu erkennen, dass die großen Staatsmänner dann doch oft an Kleinigkeiten scheitern, von ihrem Amt zurücktreten oder von ihren meist innerparteilichen Gegnern zu Fall gebracht werden. Letztere können nicht ertragen, dass auf die Dauer erfolgreiche Staatsmänner das politische Ruder in der Hand halten. Vielleicht war der Anlass des Rücktritts von Willy Brandt als Bundeskanzler und die Amts- und Machtübernahme durch Helmut Schmidt in den 70er Jahren der Bundesrepublik dafür typisch. Der Anlass war nichtig und eigentlich nur ein Vorwand für W. Brandt, etwas zu vollziehen, was er sowieso wollte; man hatte ihn bisher allein durch interne Bitten abgehalten. Innerparteiliche Gegner, vor allem Herbert Wehner, aber auch H. Schmidt, betrieben dann später seinen Rücktritt mit großer Energie und waren dabei erheblich beteiligt. Ein in der politik- und sozialwissenschaftlichen Literatur völlig negierter Typus des Staatsmannes ist der „Held des Rückzugs“, ein Begriff, der Anfang der 90er Jahre von Hans M. Enzensberger geprägt wurde.26 Er ist kein überragender Staatsmann, dem man mit einem heroisch anmutenden Denkmal Respekt zollt, sondern der Gegentypus. Sie sind „Helden einer neuen Art, die nicht den Sieg, die Eroberung, den Triumph, sondern den Verzicht, den Abbau, die Demontage repräsentieren. Wir haben allen Anlass, uns mit diesen Spezialisten der Negation zu befassen; denn auf sie ist unser Kontinent angewiesen, wenn er überleben will.“27
Die Politik des Rückzugs ist eine der schwierigsten Politiken und wird in der Disziplin kaum behandelt. Allenfalls in der Transformationsforschung, bei den friedlichen Übergängen von diktatorischen zu demokratischen Regimen, tauchen sie an manchen Stellen auf, werden aber nicht als Helden bezeichnet, sondern als untypisierte Jemande, die mit der Opposition verhandeln und den Übergang zur Demokratie friedlich gestalten.28 Der Rückzug ist die schwierigste aller militärischen oder politischen Handlungen und das „non plus ultra der Kunst des Möglichen besteht darin, eine unhaltbare Position zu räumen.“29 Die Räumung einer solchen Position hat eine moralische und psychologische Dimension.
12.1. Politikertypen und deren Modi des Politiktreibens
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Wenn man die eigene Machtposition, meist ausgestattet mit einem immensen Gewaltpotential, freiwillig räumt, gibt man nicht nur die Machtposition auf, sondern auch einen Teil seiner selbst, seiner eigenen bisherigen Identität. Man wandelt sich von einem Machthaber zu einem mehr oder weniger gleichberechtigten Verhandlungspartner, der mit der Opposition einen friedlichen Übergang verhandelt oder im Extremfall seine politische Machtposition freiwillig räumt. Dieser Prozess der Selbstentmachtung ist psychologisch hochkompliziert und findet deshalb nur selten statt. Zentral ist auch die moralische Dimension eines solchen Handelns. Die bisherigen Machthaber verzichten auf den Einsatz ihres Gewaltapparates, der ihre Herrschaft weiter sichern und die Opposition niederwerfen könnte, die in solchen Situationen meist auftretenden Gewaltexzesse und die später üblichen Pseudo- oder Schauprozesse eingeschlossen. Sie räumen ihre bisherigen Machtpositionen freiwillig, geben ihre Macht ganz oder zum Teil ab, indem sie sie mit anderen politischen Kräften teilen, und leiten hochkomplexe und immer gefährdete Übergänge von Diktaturen zu Demokratien ein. Aber die Panzer und ihre Besatzungen bleiben in den Kasernen. In Osteuropa, konkret in Polen, ist es dazu gekommen, dass die Gefängniswärter mit den ehemaligen Gefängnisinsassen die Übergänge am Runden Tisch aushandelten. Ungarn ist diesem Beispiel gefolgt und auch in anderen Ländern Mittel- und Osteuropas ist es zu ähnlichen Einrichtungen gekommen, wenn auch mit sehr unterschiedlichen Ausprägungen und Transformationsphasen. Aber Polen und Ungarn waren sicherlich prototypisch und in ihnen haben die Helden des Rückzugs die zentrale Rolle gespielt: General Wojciech Jaruzelski in Polen und János Kádár in Ungarn und vor ihnen, die Lawine ins Rollen bringend, Michail Gorbatschow in der Sowjetunion. Er hat die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass in den Ländern Mittel- und Osteuropas die Demokratisierung auf den Weg gebracht werden konnte.
12.1.4. Der Amtsinhaber als Prototypus des Politikers in der ökonomischen Theorie der Politik In seiner ‚Ökonomischen Theorie der Politik‘ hat Anthony Downs einen Politikertypus entwickelt, der durch sein eigennützig orientiertes Handeln konstituiert wird, welches seine Wählerklientele in ihrem Handeln ebenso zu realisieren versuchen.30 Zwar geht A. Downs in seinem Buch davon aus, dass nicht einzelne nutzenorientierte Politikertypen in der Politik agieren, sondern politische Parteien wie ein individueller Akteur, aber man kann seine Grundprämissen auch auf die Interaktionen zwischen Politiker und Wähler übertragen und so einen spezifischen Politikertypus konstruieren: Den Amtsinhaber. A. Downs schreibt – und das sei hier länger zitiert:
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12. Die Politik und ihre Variationen durch Politikertypen „Aus dem Eigennutz-Axiom ergibt sich unsere Auffassung von den Motiven, denen die politischen Aktionen der Parteimitglieder entspringen. Wir nehmen an, dass sie nur handeln, um das Einkommen, das Prestige und die Macht zu erlangen, die mit öffentlichen Ämtern verbunden sind. Daher streben in unserem Modell die Politiker niemals ein öffentliches Amt an, weil es ihnen ermöglicht, bestimmte politische Konzepte zu verwirklichen; ihr einziges Ziel ist die Vorteile zu genießen, die ein öffentliches Amt an sich bietet. Die Politiker verwenden politische Konzepte und Aktionen einzig und allein als Mittel der Verfolgung ihrer privaten Ziele, die sie nur dadurch erreichen können, dass sie gewählt werden. – Auf dieser Überlegung beruht die Grundhypothese unseres ganzen Modells: Die Parteien treten mit politischen Konzepten hervor, um Wahlen zu gewinnen; sie gewinnen nicht die Wahlen, um mit politischen Konzepten hervorzutreten zu können.“31
Nach A. Downs – er folgt hierbei Joseph A. Schumpeter – sind dann folgerichtig alle Politiken, seien es Wirtschafts-, Bildungs-, Sozial- oder sonstige Politiken, Nebenprodukte der Nutzenmaximierung der politischen Parteien. Umgekehrt wählen die Wähler die Parteien, die in ihrer Programmatik versprechen, ihren Nutzen zu maximieren. A. Downs hat zudem eine detaillierte und komplizierte Wählertypologie entworfen, die die vielfältigsten Wahlmotive einfangen konnte. Auf Seiten der Parteien bzw. der Parteipolitiker fand das keine Entsprechung, sie werden eher stereotyp behandelt. Der Amtsinhaber als Prototyp des Parteipolitikers agiert wie in der ökonomischen Theorie der Politik skizziert und klammert deshalb alle problematischen Sachverhalte aus seiner politischen Praxis aus. „Sein politischer Erfolg gründet auf der Erwartung seiner Wähler, dass er ihnen in seiner politischen Analyse ein Bild der Realität anbietet, in dem alle beunruhigenden und angstmachenden Elemente fehlen, dass er ihnen eine Wertung der Realität präsentiert, die alles, was ihren neurotischen Verboten zu wider ist, im trüben Licht des Unheils, und alles, was ihren neurotischen Geboten entspricht, in der Verklärung der Erfüllung erscheinen lässt; (…) er bietet in den Augen seiner Klientel dafür die Gewähr, dass – ohne dass ein offenes Aufheben darum gemacht wird – jene Gesellschaftsmitglieder, die für die dominanten Neurosen zur Bedrohung werden könnten, ins Abseits, an den Rand, in die Asozialität, letztlich – und dies sind der Sinn und Zweck – in die Unsichtbarkeit gedrängt werden.“32
Dieses längere Zitat verdeutlicht das Grundmuster, das auch der ökonomischen Theorie der Politik entspricht, auch wenn hier mit anderen Begrifflichkeiten argumentiert wird. Der Amtsinhaber maximiert seinen Nutzen dadurch, dass er sich an den Ängsten und Vorstellungen seiner potentiellen Wähler orientiert und sich nicht davon entfernt. Er kommt ihnen in allen Aspekten entgegen und spiegelt in gewisser Weise ungebrochen deren Ängste und Vorstellungen. In einem Punkt allerdings unterscheidet er sich von seinen Wählern und dies macht ihn in deren Augen attraktiv. Seine neurotische Struktur ist robuster und seine psychologischen Abwehrmechanismen sind funktionstüchtiger.33 So kann er eine Art Vorbild für seine Wähler abgeben und deren Vorstellungswelt bündeln und re-
12.1. Politikertypen und deren Modi des Politiktreibens
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präsentieren. Sein politischer Aufstieg und sein Erfolg liegen in seiner „überdurchschnittlichen Durchschnittlichkeit“ begründet.34 Ein solchermaßen geprägter Regierungschef führt seine Amtsgeschäfte in aller Ruhe und Besonnenheit, erledigt sie mit der gebotenen Routine und schart ein Kabinett um sich, das ihm persönlich und psychologisch weitgehend ähnlich ist. So sind alle zentralen Positionen im Regierungssystem von Persönlichkeitstypen besetzt, die ihm in seiner Grundstruktur ähneln und allenfalls graduelle Abweichungen verkörpern. Alle zusammen wehren dann die Vorstellungen und Sachverhalte ab, die in den politischen Prozess Elemente einführen, die diese Form der Politik herausfordern und sowohl sie als Politikertypus als auch die Durchschnittswähler aus ihrer Ruhe bringen könnten. Alle Lernprozess, alle Anpassungen an veränderte Umweltkonstellationen, alle grundlegenden Neuerungen werden unterbunden bzw. verdrängt und Konfrontationen mit dem Neuem vermieden. Alles soll so bleiben, wie es ist, auch wenn die Wirklichkeit neue Fragen aufwirft und neue Antworten erfordert. „Man entgeht der Angst und der Verunsicherung, doch ist die so erhalten gebliebene Gemütsruhe lediglich die andere Seite der Ahnungslosigkeit; und die unerschütterliche (Selbst)Sicherheit ändert nichts an der Tatsache der mit steigendem Realitätsverlust ansteigenden Unsicherheit.“35
Amtsinhaber und Wähler bestätigen sich in ihren Weltsichten und Problemwahrnehmungen und immunisieren sich in einem Prozess der gegenseitigen Anpassung gegen alle Herausforderungen, die die Wandlungen in der nationalen und internationalen Lage im Zweifelsfall hervorbringen.
12.1.5. Der Hinterbänkler (in demokratischen und autokratischen Regimen) Im Gegensatz zum Staatsmann, zum Amtsinhaber oder auch zum Demagogen ist der Hinterbänkler dadurch gekennzeichnet, dass er nur eine untergeordnete Rolle im politischen Prozess spielt. Er steht mit seinem politischen Umfeld nur in einer losen und oft unbedeutenden Beziehung, sei es zu seinem Wählerklientel, sei es zu Vertretern von Interessengruppen oder sonstigen interessierten Verbänden, sei es zu seiner eigenen Partei bzw. seiner Fraktion. Er wird in der Politikwissenschaft bzw. der Parlamentssoziologie und in entsprechenden Untersuchungen meist als Gegenstück zur politischen Elite bzw. zur politischen Prominenz konstruiert, die beide sowohl in der politischen Öffentlichkeit als auch in der eigenen Partei bzw. Fraktion eine gewichtige Rolle spielen. Aber die Gruppe der Hinterbänkler ist nicht unbedeutend, für die Bundesrepublik gehen die Schätzungen von rd. 20 % bis zu über 60 % aller Abgeordneten aus.36 Es gibt nur wenig Versuche, diese spezielle Gruppe von Politiktreibenden definitorisch zu präzisieren und diese Versuche setzen zudem unterschiedliche
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12. Die Politik und ihre Variationen durch Politikertypen
Schwerpunkte. Heinrich Oberreuter hat Anfang der 1970er Jahre eine der ersten Definitionsversuche unternommen: „Es empfehlt sich also, nur solche Abgeordnete als Hinterbänkler zu bezeichnen, die in der Regel keinen positiven Beitrag zur Willensbildung der Fraktion oder des Parlaments leisten, keine oder allenfalls bescheidene Aufgaben in der Parlamentsarbeit übernehmen und höchstens zu untergeordneten und meist lokalen Fragen Stellung nehmen.“37
Diese Gruppe kann man in Untergruppen unterteilen und H. Oberreuter hat hier drei gebildet: Zunächst die eng auf ihr Interessengebiet konzentrierten Politiker, die meist als Verbandsvertreter agieren und dann auftauchen, wenn genau dieses Interesse im Parlament behandelt wird. Dann die Lobbyisten ihres Wahlkreises, deren Aktionsradius sich meist darin erschöpft, die Interessen des Wahlkreises durch Interventionen in den Ministerien oder durch entsprechende Fragen in den Fragestunden zur Geltung zu bringen. Schließlich die aus Faulheit und Überzeugung zu Hinterbänklern gewordenen, also meist Abgeordnete, die mit einem Mandat für ihre vorangegangenen Dienste für die Partei belohnt wurden. Hinterbänkler zu sein ist eine bewusste Entscheidung eines Abgeordneten, der eine verengte Auffassung von seinen Aufgaben und den Pflichten hat. Lutz Golsch definiert den Hinterbänkler anders. Bei ihm sind es die Abgeordneten, die „weder über Ämter im Bundestag, Fraktionsvorstand oder Bundesregierung noch über formelle Führungspositionen im Vorstand der jeweiligen Bundespartei verfügen. Sie sind somit die parlamentarischen Nicht-Eliten.“ 38
Er argumentiert hier funktional und setzt die Hinterbänkler von den Vorderbänklern ab, die wichtige Funktionen in Partei, Fraktion und Regierung übernommen haben. Zwar können erstere Experten für bestimmte Politikbereiche sein oder Exponenten von verschiedenen Parteiflügeln, aber sie haben kaum Einfluss auf die politischen Entscheidungsprozesse von Partei, Fraktion oder Regierung. Wie zu erwarten ist bei den Hinterbänklern der Anteil an hoch professionalisierten Politikern erheblich niedriger als bei den Vorderbänklern, die sich zudem von Partei zu Partei unterscheiden. Für die Bundesrepublik kann man zum Beispiel feststellen, dass deren Anteil in der SPD erheblich höher ist als in der CDU/CSU-Fraktion, weil altgediente Kommunalpolitiker und über Proporzsysteme aufgestiegene Personen von Parteiflügeln eine größere Rolle spielen.39 Wie hoch auch immer ihr Anteil an den Parlamentsmitgliedern sein mag, man kann davon ausgehen, dass dieser Politikertypus eine große Rolle spielt, aber an der Ausformung der Politik nicht wesentlich beteiligt ist. Dies wird von der politischen Elite – im Gegensatz zur politischen Klasse40 – vollzogen und sie ist der aktive Teil des Politikbetriebes. In präsidentiellen Regierungssystemen ist diese Differenzierung möglicherweise weniger sichtbar, weil die Fraktionsdisziplin wegen der unterschiedlichen Bedeutung der politischen Parteien schwächer ausgeprägt
12.2. Der Amtsinhaber als heute dominierender Politikertypus?
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ist und der Präsident für seine Politiken oft parteiübergreifende Konstellationen bilden muss, bei der einzelne Abgeordnete dann ein besonderes Gewicht bekommen. Hinterbänkler gibt es selbstverständlich auch in autoritären politischen Regimen, sofern diese über ein – wie auch immer gewähltes oder bestelltes – Parlament verfügen. Auch hier vollzieht sich die funktionale Arbeitsteilung zwischen den aktiven und passiven Parlamentsmitgliedern ebenso wie in parlamentarischen Demokratien. Oft sind solche Positionen mit bestimmten Privilegien verbunden, wie Geld, Macht, Reputation, Möglichkeiten der Ausbeutung bestimmter sozialer Gruppen etc., die die Loyalität dieser Personen gegenüber der herrschenden Clique(en) gewährleisten sollen.
12.2. Der Amtsinhaber als heute dominierender Politikertypus? Alle hier erwähnten Politikertypen waren im 20. Jahrhundert präsent und haben es mehr oder weniger intensiv geprägt. Am Anfang des Jahrhunderts waren sicherlich die Staatsmänner dominierend, die in den frühen Massendemokratien die Massen nicht nur aufputschen, sondern auch führen wollten. Nur so konnten sie politisches Gewicht in den jeweiligen Machtkonflikten gewinnen und Macht in ihrem Sinne ausüben. Massen und (ihre) Führer bestimmen die politischen Dynamiken in dieser Phase, die sicherlich bis in die 50er oder 60er Jahre des Jahrhunderts reichte. Auch danach konnte man noch Staatsmänner finden, die in den politischen Konflikten der Nachkriegszeit eine bedeutende Rolle spielten. Die Europäisierung wurde von Staatsmännern vorangetrieben, die die Politik der Nationalstaaten zwar nicht aufheben, aber gleichwohl abschwächen wollten und auf eine gesamteuropäische Politik setzten. Konrad Adenauer und Charles de Gaulle, die nach dem Zweiten Weltkrieg die deutsch-französische Freundschaft begründeten und die Nachkriegsordnung zu europäisieren begannen, gehören hier ebenso dazu wie etwa Willy Brandt, der die Phase des Kalten Krieges beendete und die Entspannungspolitik einleitete. Auch der britische Wohlfahrtsstaat wurde von Staatsmännern begründet. Im berühmten ‚Beveridge-Plan‘ von William Beveridge wurden die konzeptionellen Grundlagen eines universalistischen Wohlfahrtsstaates entwickelt, die dann unter der Regierung Clement Attlee zum Teil realisiert wurden. Insbesondere Gesundheitsminister Aneurin „Nye“ Bevan wurde wichtig, weil er den National Health Service einführte, ein alle Staatsbürger erfassendes, weitgehend kostenloses Gesundheitssystem. Es ließen sich sicherlich noch weitere Beispiele finden, aber es wird deutlich, dass in dieser Zeit außergewöhnliche Männer, hier Staatsmänner, außergewöhnliche politische Projekte meist gegen massive Widerstände durchsetzten und die Unterstützung des Großteils der Bevölkerung gewinnen konnten. Danach neh-
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men die Amtsinhaber zu, die das Ende des Jahrhunderts ebenso zu dominieren beginnen wie die populistischen Demagogen. In einer von zunehmender Komplexität und internationaler Interdependenz geprägten Welt werden auch die damit verbundenen Probleme immer komplexer und interdependenter. Kausal orientierte Zugriffe auf Probleme und vor allem zukunftsorientierte Gestaltung werden immer schwieriger, wenn nicht unmöglich. Dadurch ändert auch die Politik ihren Charakter, sie wandelt sich von einer aktiv gestaltenden und steuernden zu einer reaktiven und nachlaufenden Tätigkeit. Hier schlägt dann die Stunde der Amtsinhaber. Die neue Politikergeneration, die v. a. ab den 50er und 60er Jahren die politischen Bühnen bevölkerte, ist überwiegend von Amtsinhabern geprägt. Mehrere Faktoren spielen hierbei eine Rolle.41 Der Wandel der politischen Parteien zu professionalisierten Kartell- bzw. Medienkommunikationsparteien und der damit verbundene Verlust von Parteimitgliedern führt zu einem grundlegenden Wandel der Sozialisation von Berufspolitikern, die immer mehr formalistische Amtsinhaber und farblose Hinterbänkler hervorbringt. Zudem agiert der politisch bedeutsame Teil der Partei immer mehr aus dem Staat heraus, die Partei „in public office“ beginnt die „party in central office“ und vor allem die „party on the ground“ zu dominieren. Die Eigeninteressen der politischen Klasse wie der politischen Elite, also Karriere, Status, Einkommen, Reputation etc., treten immer mehr in den Vordergrund. Eine neuere Studie über die Motive zum Eintritt in die bundesdeutschen Parteien belegt, dass das Eigennutzmotiv gegenüber allen anderen Motiven (wie Geselligkeit, Veränderungswillen, Policy-Orientierung etc.) dominiert.42 Politik wird dadurch ihrer innovativen und zukunftsorientierten Kräfte beraubt. Amtsinhaber agieren eher reaktiv als prospektiv, sie verwalten die zunehmend komplexer werdende Welt und sind auch von ihrer Mentalität her nicht geeignet, zentrale und zukunftsgestaltende Entscheidungen zu treffen. Die Stimmenmaximierung dominiert gegenüber dem Anspruch der politischen Gestaltung der Zukunft. Obwohl die Politik in ihrer Selbstbeschreibung behauptet, sie löse Probleme, ist ihr Tun und Lassen darauf gerichtet, Probleme zu verdrängen, zu verschieben, zu negieren oder reaktiv zu bearbeiten. Die Globalisierung der Welt tut ihr Übriges. Probleme werden an Orten bzw. in Ländern produziert, auf die ein Land, in dem diese Probleme zum Vorschein kommen, keinen bzw. nur sehr geringen Einfluss hat. Dies verstärkt das Amtsinhabertum und reaktive Politik. Auch der Hinterbänkler bleibt durch diese Entwicklungen nicht unberührt. Seine Funktion und seine politische Bedeutung steigen. Bei Zunahme der Komplexität der nationalen und internationalen Politik verbreitet und vertieft sich die funktionale Arbeitsteilung in den politischen Parteien und bringt eine ganze ‚Klasse‘ von Hinterbänklern hervor, die gleichwohl aus funktionalen Gründen eine ganze Palette von spezifischen und funktional unvermeidlichen Aufgaben bearbeitet.
12.2. Der Amtsinhaber als heute dominierender Politikertypus?
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Sie sind trotz ihrer funktionalen Bedeutung von der Parteielite, der „party in central office“ und der „party in public office“ deutlich unterschieden, denn in beiden Segmenten agieren Spitzenpolitiker, die übergreifende Funktionen erfüllen. Hält man nach den ‚Helden des Rückzugs‘ Ausschau, so scheinen sie von der politischen Bühne verschwunden zu sein. Womöglich bleiben sie eine Episode am Ende des 20. Jahrhunderts und konnten nur in den Transformationen in Mittelund Osteuropa auf der Bühne der Politik auftauchen. Aber auch die Auf- und Ablösung des rassistischen Regimes in Südafrika weist mit den mittel- und osteuropäischen Transformationen auf der formalen Ebene sehr viele Ähnlichkeiten auf.43 Man könnte die ehemaligen Rassisten als ‚Helden des Rückzugs‘ bezeichnen, nachdem sie ihren rassistischen Anspruch aufgegeben und eine Machtteilung mit den Vertretern der schwarzen Mehrheit, insbesondere mit Nelson Mandela, in die Wege geleitet haben. Auch hier saßen frühere Gefängniswärter mit früheren Gefängnisinsassen an einem Tisch und handelten die konstitutionellen und andere Rahmenbedingungen des neuen Regimes aus. Die Helden des Rückzugs sind von großer Bedeutung für die Transformationen zur Demokratie, während die Demagogen und Populisten zunächst die Qualität der Demokratie verändern. Im Extremfall aber gehen sie einen Schritt weiter: Sie überführen dann populistische Demokratien in autoritär-populistische Regime, wie man gerade in Ungarn und Polen beobachten kann. Die gegenwärtigen politischen Regime, Demokratien wie Diktaturen, scheinen momentan eher von Amtsinhabern und Demagogen dominiert zu sein, wobei die Hinterbänkler eine zunehmend wichtigere Rolle spielen. Die oben angedeuteten strukturellen bzw. funktionalen Dynamiken sind hierbei ebenso wichtig wie der Wandel der politischen Parteien zur zentralen Sozialisationsinstanz der Klasse der Berufspolitiker. Zudem kann man vermuten, dass ‚Politik als Beruf‘ in den heutigen Gesellschaften kein unbedingt anstrebenswerter Beruf mehr ist, der gleichwohl immer noch so viel Anziehungskraft besitzt, dass die politischen Parteien die zentralen Positionen in ihrer Organisation und im Staat besetzen können. Amtsinhaber, Demagogen bzw. Populisten und Hinterbänkler werden die dominierenden Typen sein, die das politische Geschäft betreiben; dadurch wird es nicht attraktiver, sondern eher langweiliger. Zudem werden die heutigen Herausforderungen, die in der globalisierten Welt noch komplizierter und komplexer geworden sind, immer ungenügender bearbeitet. Von der ‚Lösung‘ von Problemen durch die Politik kann ernsthaft keine Rede sein. Anmerkungen 1 2 3 4
Kirsch/Mackscheidt 1985: 6. Ebd. Ebd. Kirsch/Mackscheidt 1985: 50.
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Kirsch/Mackscheidt 1985: 38. Enzensberger 1997. Sternberger 1978: 222f. Sternberger 1978: 223.
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12. Die Politik und ihre Variationen durch Politikertypen Sternberger 1978: 224. Sternberger 1978: 215. Sternberger 1978: 237. Sternberger 1978: 238. Ebd. Ebd. Das vollständige Zitat bei H. Arendt lautet, dass „in der Verachtung der totalitären Gewalthaber für positives Recht sich eine unmenschliche Gesetztestreue aus(spricht), für welche Menschen nur das Material sind, an dem die übermenschlichen Gesetze von Natur und Geschichte vollzogen und das heißt hier im furchtbarsten Sinne exekutiert werden.“ Vgl. Arendt 2017: 948. Sternberger 1978: 236f. Vgl. dazu oben in Kap. 13.1. die Diskussion über den dämonischen Typus und die Kontroversen zwischen D. Sternberger und H. Ahrendt. Vgl. etwa sehr früh in der Geschichte der Bundesrepublik und als Reaktion auf die nationalsozialistische Herrschaft Ritter, G. A. 1947; grundlegend aber Lüddecke 2010. So Ritter, G. A. 1947: 164. Die folgenden Ausführungen, auch die zum Amtsinhaber und zum Staatsmann, beruhen weit mehr auf dem sehr lesenswerten Buch von Kirsch/Mackscheidt (1985), als dies aus den konkreten Anmerkungen deutlich wird. Ohne ihre Überlegungen hätte ich kein Kapitel zu den verschiedenen Politikertypen verfasst, auch wenn ich deren ‚Trilogie‘ von Typen erheblich erweitere. Vor allem behandle ich auch Politikertypen, die in nicht-demokra-
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37 38 39 40 41 42 43
tischen Regimen Politik treiben, während sich G. Kirsch und K. Mackscheid allein auf Politikertypen in Demokratien konzentrieren. Kirsch/Mackscheidt 1985: 95; Herv. i. O. Kirsch/Mackscheidt 1985: 101; Herv. i. O. Kirsch/Mackscheidt 1985: 90. Kirsch/Mackscheidt 1985: 93. Kirsch/Mackscheidt 1985: 94; Herv. i. O. Enzensberger 1997a. Enzensberger 1997a: 56f. Vgl. dazu etwa Linz/Stephan 1995; Rüb 2001; Merkel 2010. Enzensberger 1997a: 57. Downs 1968. Downs 1968: 27f.; Herv. von mir. Kirsch/Mackscheidt 1985: 84f. Kirsch/Mackscheidt 1985: 85. Ebd. Kirsch/Mackscheidt 1985: 87. Die erste Schätzung stammt von H. Oberreuter und bezieht sich auf die 60er Jahre (1970: 197); letztere Zahl stammt von L. Golsch, der dies Ende der 90er Jahre untersucht und auch den Hinterbänkler anders definiert hat (1998: 82). Oberreiter 1970: 196. Golsch 1998: 81. Golsch 1998: 190. Zum Begriff der politischen Klasse vgl. umfassend Beyme 1993; Borchert 2003. Vgl. dazu auch oben Kap. 11. Vgl. Klein, M. 2006. Zu den Demokratisierungsprozessen in Südafrika vgl. statt vieler Sisk 1995; Bond 2000.
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13. Die Politik mit dem Bild und die Politik des Bildes: Über die Medialisierung der Politik im 20. Jahrhundert Das 20. Jahrhundert ist in seinem Verlauf immer deutlicher auch zum Zeitalter des Bildes geworden. Der Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki ist der Bild gewordene Höhepunkt der technischen Destruktivität des Jahrhunderts ebenso wie die technologisch eher primitiven Gaskammern der Nazis, die aber wie fabrikähnliche Tötungsmaschinen operierten. Diese Bilder der Gewalt haben begonnen, ein Eigenleben zu führen und haben sich tief in das Gedächtnis dieses Jahrhunderts eingegraben. Auch die Terroristen von 9/11 wussten über die Wirkmacht der Bilder, als sie die entführten Flugzeuge bei strahlendem Sonnenschein in die beiden Türme des World Trade Centers steuerten. Auch der Streit um die Mohammed-Karikaturen der dänischen Zeitung Jyllands-Posten und die damit verbundenen Proteste in manchen muslimisch geprägten Ländern sind ein Indiz für die überragende Bedeutung von Bildern und deren Politisierungspotential. Sie sind aus der Politik des 20. Jahrhundert nicht mehr wegzudenken, seien es die Standbilder der Fotografie oder die Bildersequenzen von live übertragenen Katastrophen. Hegel hatte in seiner Philosophie der Weltgeschichte von zwei Bedeutungen der Geschichte gesprochen, der res gestae und der res relatae.1 Das faktische Geschehen wird durch eine zweite Ebene gedoppelt, der Erzählung über die faktische Geschichte. Beide Ebenen konstituieren bei Hegel die Geschichte, aber das 20. Jahrhundert hat eine dritte Ebene hinzugefügt, die res mediae. Es ist die Geschichte des (bewegten) Bildes, die neu hinzu tritt und die beiden anderen Erzählungen ergänzt und im Verlauf des Jahrhunderts womöglich überlagert. Wenn Zeitzeugen nicht mehr erzählen können, wenn die Bibliotheken das Material in die Archive ausgelagert haben, wenn das Gedruckte nur noch wenig zu sagen hat, dann schlägt die Stunde des Bildes. Nicht nur die Tonträger, die statischen Bilder der Fotografie, die schwarz-weißen oder bunten Filme, sondern zunehmend auch das Internet macht das fast unendliche Archiv der Bilder dieses Jahrhunderts aus. Alle Politik vollzieht sich in dieser dreidimensionalen Welt von Begebenheit, Bericht und Bild, wobei das Bild die ersten beiden zu überlagern beginnt. Bebilderte Politik wird immer mehr zur abgebildeten Politik, die man als Bild produzieren und beliebig wiederholen kann. „Kein prominenter Politiker betritt einen öffentlichen Raum, ohne dass sein Auftritt beobachtet, fotografiert und gefilmt wird, ohne im Radio übertragen zu werden – von den Mikrofonen ganz zu schwiegen, die ihm entgegen gehalten werden.“2
Analog verhalten sich die Attentäter: Was immer sie tun, sie wissen um die nach brutalen Ereignissen gierenden modernen Massenmedien, die ihre Attentate in faktischer Synchronität verbreiten bzw. übertragen. Während die Attentäter im
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13. Die Politik mit dem Bild und die Politik des Bildes
19. und dem beginnenden 20. Jahrhundert noch politische Pamphlete schreiben mussten, die nur in einem kleinen Umkreis bekannt wurden, kann sich der heutige Terrorist einer medialen Weltöffentlichkeit sicher sein. Gewalt lohnt sich weit mehr als früher, sie ist sichtbarer und deshalb auch folgenreicher. Keine Regierung kann es sich leisten, nicht ebenso medial inszeniert darauf zu reagieren oder überzureagieren. Das (Selbstmord)Attentat wird zum globalen Ereignis, das in Sekundenschnelle um den Erdball transportiert wird und Abermillionen von Menschen erreicht. Hätte es den 9/11 ohne die globalen Massenmedien gegeben? Man mag es bezweifeln, aber die Täter wussten nur zu genau um die spektakuläre Wirkung der Bilder, die sie mit den Flugzeugen und den Türmen produzierten. Haben sie die Tötung von vielen Menschen um der Wirkung des Bildes willen in Kauf genommen? War die Produktion des Bildes das Primat ihrer politischen Aktion? Dann wäre es eine Politik mit dem Bild. Umgekehrt: Kann ein Bild wie die Tat eines politischen Akteurs wirken? Das wäre dann eine Politik des Bildes, das dann eigenständig agiert und Dinge in Bewegung setzt, die ohne es nicht bewegt würden. Der Kunsthistoriker Horst Bredekamp hat dieser Idee besonderen Ausdruck verliehen, indem er von einem „Bildakt“ spricht.3 Ein Bild agiert nach dieser Sichtweise wie ein Akteur, an dessen Stelle nun das Bild tritt. Genauer: Es tritt nicht an die Stelle seines Mundes, denn der Bildakt ist nicht in Analogie zum „Sprechakt“ der Sprachwissenschaft bzw. der J. Habermasschen Kommunikationstheorie gesetzt. Der Bildakt ersetzt nicht das gesprochene Wort, sondern agiert nach H. Bredekamp wie eine Person selbst. Es gibt eine eigenständige Kraft des Bildes, eine je spezifische Wirkung, die es auf den Betrachter ausübt und dessen Empfinden, dessen Denken und dessen Handeln beeinflusst. Das Bild selbst wird zum (politischen) Akteur und Gerhard Paul spricht von der „BilderMACHT.“4 Er konstruiert sie in Analogie zum Weberschen Machtbegriff und bei ihm ist Macht die Chance, auf das Denken und Handeln Anderer auch gegen deren Willen einzuwirken. In Analogie verfügt das Bild über die Macht, das Wahrnehmen, Denken und Handeln des Betrachters – auch gegen dessen Willen – zu beeinflussen. Bilder haben ein Eigenleben, ein Aktivierungspotential, das sie realisieren können. Hitler beispielsweise wurde von den meisten seiner Gefolgsleuten oder fanatischen Nachfolgern nie wirklich gesehen, sie kannten allein sein Bild, sei es eine Fotografie oder die bewegten Bilder eines Films.5 Aber die Bilder wirkten und entwickelten eine eigene politische Schlagkraft, die seinesgleichen sucht. Zudem haben Bilder eine Art Leben, das die Wirklichkeit ersetzt, und zugleich ein Nachleben, weil Bilder in Erinnerung bleiben oder heute im World Wide Web gespeichert und jederzeit abrufbar sind. Beim Bildersturm werden diese Phänomene überdeutlich: Ein Bild, eine Statue, ein Denkmal wird so vernichtet, als ob es ein lebendiges Wesen sei, dessen ‚Leben‘ nun mit Gewalt zerstört oder ausgelöscht wird.
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Die Bedeutung der Bilder wird im Krieg noch verstärkt, es gibt neben den tradierten militärischen auch „visuelle Schlachtfelder“6 und die Bilder werden im „modernen Krieg selbst zu kriegerischen Akteuren“, die die „Wahrnehmung des Krieges sowie unsere Haltung zum Krieg beeinflussen (…).“7 Schließlich können sie – wie Menschen auch – lügen, sie werden beschnitten, manipuliert, verändert, instrumentalisiert und bilden dann ein ‚falsches‘ Abbild von der Wirklichkeit, das aber ebenso wie die ‚wahre‘ Abbildung eine Abbildung ist. Die ‚wirkliche‘ Welt kann gegen solche Verfälschungen oder Verdrehungen nicht protestieren. Aber gerade die Möglichkeit zur Fälschung ist die Voraussetzung dafür, dass die Abbildungen der Welt durch Manipulation verändert und ein bewusst falsches Bild der Welt produziert werden kann. Gefälschte Fotos begleiten das 20. Jahrhundert wie ein Schatten und wurden gerade im Bereich der Politik mit dem Bild zur gängigen Praxis.8 Die Wirkung eines Bildes ist nicht kausal, sondern vielmehr kontingent. Es löst bei manchen Betrachtern etwas aus und bei anderen nicht. Bei denen es etwas auslöst, ist die Wirkung ebenfalls kontingent. Es kann Ignoranz, Indifferenz oder Abscheu ebenso zum Ausdruck bringen wie aktive Zustimmung, die in einer Handlung kulminieren kann. Man muss die hier erwähnten Positionen nicht teilen, um gleichwohl anzuerkennen, dass es eine Bildwirkung gibt, die von der in der Theorie des Bildaktes unterstellten nicht zu weit entfernt ist.9 Es gibt eine Politik des Bildes, die als eigenständiger Typus des Politikmachens zu analysieren ist und in einer umfassenden Theorie der Politik nicht fehlen darf. Aber das Bild selbst und seine politische Bedeutung sind im Verlauf des 20. Jahrhunderts nicht konstant geblieben, sie haben sich vielmehr erheblich gewandelt.10 An seinem Beginn dominierte das stehende Bild. Während die Zeitungen bis zur Jahrhundertwende meist noch bildlos waren, werden nun Bilder immer bedeutsamer. Auch die Bildpostkarte war damals ein wichtiges Medium und machte deutlich, dass das Bild auf seine Vervielfältigung abzielt. Sie wurde an andere verschickt, an einen spezifischen und beschränkten Personenkreis, nicht an die Öffentlichkeit an sich. Das Plakat ändert dies, denn es erweiterte den Betrachterkreis erheblich und anonymisierte ihn. Zugleich verdichtete es die transportierte Nachricht. Während Postkarten noch diffizile (Bild)Nachrichten übertrugen, muss das Plakat auf einfache und reduzierte Botschaften setzen. Zuerst von der Werbung entdeckt, machte es seinen Siegeszug auch schnell in der Politik. Es entwickelte sich eine eigene „politische Plakatsprache“11, die in Mobilisierungs- und Feindplakaten deutlich wurde. Rekrutierungsplakate für die amerikanische Armee sind hier ebenso typisch wie stereotypisierte Juden in antisemitischen Hetzkampagnen. Die Fotografie gab dem Bild eine völlig neue Bedeutung. Durch sie hielt nicht nur „die Weltgeschichte Einzug in die vier Wände“12, sondern es konnten nun auch bestimmte Situationen festgehalten und beliebig reproduziert werden. Das
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13. Die Politik mit dem Bild und die Politik des Bildes
„Foto ist zugleich Pseudo-Präsenz und Zeichen der Abwesenheit“13, wie etwa das Foto einer geliebten Person im Geldbeutel, das Plakat eines Film- oder Rockstars über dem Bett eines Teenagers oder das Bild eines Politikers auf der Plakette eines Wahlkämpfers. Die Verhaftung der Attentäter von Sarajewo, die den Thronfolger Österreich-Ungarns, Erzherzog Ferdinand und seine Frau Sophie Chotek, Herzogin von Hohenberg, töteten, ist eine der prominentesten und wichtigsten Fotografien zu Beginn des Jahrhunderts ebenso wie das von getöteten Soldaten in den Schützengräben an den Fronten des Ersten Weltkrieges. Susan Sontag vermutet sogar, dass Fotos einprägsamer seien als bewegte Bilder und dass das Bild des vietnamesischen Mädchens (vgl. dazu unten) „vermutlich mehr dazu beigetragen (hat), dass sich die Öffentlichkeit immer heftiger gegen diesen Krieg wandte als hundert Stunden im Fernsehen ausgestrahlte Barbareien.“14 Wie dem auch sei, wichtiger ist der Sachverhalt, dass das Foto kein ‚objektives‘ oder wahrheitsgetreues Bild der Welt ist. Mit ihm tritt nicht allein eine Differenz zwischen Welt und Abbild, sondern auch eine zwischen ‚Original‘ und Fälschung. Denn viele Bilder, die weltpolitisch bedeutsam und Geschichte gemacht haben, sind manipulierte oder gefälschte Bilder. Der Film als bewegtes Bild eröffnet völlig neue Perspektiven und erweitert nicht nur den Kreis der Betrachter, sondern führt auch einen neuen Ort des Sehens ein. Das Kino machte das laufende Bild den Massen zugänglich. In der Zwischenkriegszeit war das Kino das zentrale Medium des Bildes, das auch von der Politik intensiv genutzt wurde. Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten verbunden war eine „tiefgreifende Zäsur in der Medien-, Kommunikations- und Bildgeschichte. Wie nie zuvor und danach wurden die visuellen Medien als Instrumente einer politischen Ideologie gelenkt, missbraucht und mit einem bis dato unbekannten Totalitarismusanspruch ausgestattet.“15
Hier wurde eine Politik mit dem Bild in einer Intensität betrieben, die einmalig war, auch wenn es in der damaligen Sowjetunion durchaus Parallelen gab. Der kommunistische Propagandaparat setzte auf den Film als politisierendes Medium im antifaschistischen Kampf. Aber auch beim Aufbau der Sozialismus in der DDR und den mittel- und osteuropäischen Ländern war der Film ein bedeutendes Medium. Die 50er Jahre waren dann „medien- und bildhistorisch ein Schwellenjahrzehnt“16, in dem neue Medien und -formate auf den Markt und in die Politik drängten. 1952 wurde eine Zeitung gegründet, die explizit mit dem Bild operierte und sich entsprechend BILD(Zeitung) nannte. Viele Zeitschriften wurden gegründet, wie der Spiegel, die Bravo und andere Illustrierte der Regenbogenpresse. Ebenfalls zu Beginn der 50er Jahre wurde die Tagesschau eingeführt, die seither fester Bestandteil in der bundesdeutschen Nachrichtenübermittlung ist und immer mehr – wie das Heute-Journal auch – mit Bildern arbeitet. Die Sprecher ha-
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ben heute eher die Aufgabe, in die dann folgenden Bildersequenzen einzuführen als selbst und direkt Informationen bzw. Nachrichten zu übermitteln. Im Schwellenjahrzehnt und vor allem danach fanden Entwicklungen statt, die das Verhältnis der Politik zu den Medien und der Medien zur Politik grundlegend umgestalteten und neue Begrifflichkeiten provozierten. Ich will hier nur zwei erwähnen, die Mediendemokratie bzw. die Mediokratie17 und das Politainment18, die jedoch beide auf einen gemeinsamen Sachverhalt hinweisen: Die gestiegene Bedeutung der Medien, ja deren Dominanz bei der Politikausübung und die Unterwerfung der Politik unter deren strukturelle Erfordernisse. Die Tendenz zur Visualisierung wird durch die Entwicklung von neuen Medien begünstigt, die sich dann vor allem am Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts vollzieht. Die Übertragungsinstrumente, insbesondere die der Bildaufzeichnung, werden immer kleiner und handlicher. Die Digitalisierung erlaubt eine immer präzisere und schnellere Übertragung über das Internet bzw. Satelliten und das WWW stellt eine Plattform dar, auf die im Prinzip jeder zugreifen kann. Die Informationen sind überall, für jeden und zeitgleich zugänglich. Heute dient jedes mittelmäßige Smartphone nicht mehr nur dem Telefonat, sondern es ermöglicht den Zugang zum Internet und seinem unermesslichen Ausmaß an Informationen. Es ermöglicht zudem die Kommunikation, sei es über Sprache oder (laufende) Bilder, mit einer immer größeren Anzahl von Empfängern und kann selbst beliebig viele Informationen in das Internet stellen. Die bisher getrennten Rollen des Bildproduzenten und Bildkonsumenten fallenzusammen.19 Die Bilder über die politische und soziale Welt werden nun individualisierter, weil im Prinzip jeder zum Produzenten eines Bildes werden kann. Das Privileg der bisherigen Bildproduzenten, konkret der professionellen Fotografen und Kamerafrauen, wird massiv abgebaut. Das Smartphone macht jeden zu jeder Zeit und an jedem Ort auf der Welt zum Fotografen und Filmproduzenten. Zugleich wird das Bild pluralisierter, weil sich die Produktion von Bildern auf alles ausdehnt und in immer neue Bereiche eindringt. Viele Staaten versuchen beides zu verhindern, sei es durch „embedded journalism“20, vor allem bei der Kriegsberichterstattung, oder durch den tradierten Mechanismus der (Bild)Zensur, wie in den klassischen Diktaturen des 20. Jahrhunderts. Aber das Smartphone macht das immer schwieriger und aufwendiger.
13.1. Die Politik mit dem Bild Zu Beginn des Jahrhunderts war die Fotografie noch unterentwickelt und das Attentat von Sarajevo, das als Anlass für die Auslösung des Ersten Weltkrieges diente (vgl. dazu oben Kap. 8.1.), wurde damals in den wichtigsten Zeitungen noch als Zeichnung verbreitet.21 Gleichwohl druckten zwei Zeitungen, das illus-
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trierte Familienblatt Wiener Bilder und Die Hamburger Woche ein Bild ab, das die Verhaftung der vermeintlichen Attentäter zeigt. Zum ersten Mal machte ein Bild Weltgeschichte, auch wenn sein Verbreitungsgrad verglichen mit den heutigen Möglichkeiten des Internets lächerlich gering war. Aber es prägte das Bild des Ersten Weltkrieges so, wie andere Bilder andere Ereignisse symbolisieren. Das (angebliche) Attentat von Sarajevo 1914 Das Attentat selbst ist fotografisch nicht dokumentiert, auch das Bild, das die Verhaftung der Attentäter zeigt, erwies sich als Irrtum. Keiner der tatsächlichen Attentäter ist auf dem Bild zu sehen, es waren unbeteiligte Zuschauer, die von der Polizei festgenommen wurden. Weder der Bombenwerfer Nedjelko Ĉabrinovic´ noch der tatsächliche Todesschütze Gavrilo Princip sind auf dem Bild zu sehen. Gleichwohl wurde das Bild der Verhaftung der vermeintlichen Attentäter in der Weltpresse und später in den Geschichtsbüchern zum Inbegriff des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges. Später wurde dieses Bild auch als Postkarte massenhaft vertrieben. Abbildung 1: Das (angebliche) Attentat von Sarajevo 1914
Quelle: Die Hamburger Woche vom 9. Juli 1914.
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Bereits während des Ersten Weltkrieges wurden Fotos des Krieges und seiner Grausamkeiten immer wichtiger. Handlichere Kameras und Rollfilme machten das Fotografieren leichter und die Bilder von Soldaten begannen eine große Rolle zu spielen. Sie dokumentierten den Heroismus der Soldaten ebenso wie die Grausamkeiten in den Schützengräben. Die militärischen Befehlshaber sahen sich sogar veranlasst, dies durch eine Order einzuschränken. Es sei darauf hinzuwirken, die „Sucht zu photographieren“ beim Militär einzuschränken und die „darauf verwandte Zeit mehr dem Ernst des Krieges zugute kommen“ zu lassen.22 Vielen Soldaten „half es nicht, das Grauen zu leugnen, an dem sie jeden Tag teilhatten. Wie in den Soldatenbriefen (...) zeigen die Privatfotos die Bilder des Krieges von unten. Die Überreste von Soldaten, die aus einem Panzerwagen quellen, die verkohlte Leiche eines abgeschossenen Piloten und geplünderte Tote wurden fotografierbar, weil sie Teil der alltäglichen Erfahrungswelt sind.“23
Viele dieser Fotos verschwanden nach dem Krieg relativ schnell und wurden von der Kriegspropaganda der Regierung und des Militärs in einen minderen Rang versetzt. 1924 erschien jedoch ein Buch des Fotografen Ernst Friedrich, Krieg dem Kriege, das die brutale Wirklichkeit dieses Krieges in bisher nicht gekannten Bildern festhielt.24 Diese „Schock-Fotos der verstümmelten, verbrannten, entmenschlichten Toten und die entstellten Gesichter der Überlebenden“25 hinterließen trotz einer vergleichsweisen geringen Auflage von rd. 50.000 Büchern einen bleibenden Eindruck. Das Buch war explizit gegen die Verherrlichung des Krieges gerichtet und durchbrach mit seinen Bildern bisherige Tabus, um seine AntiKriegspropaganda möglichst eindrucksvoll zu untermauern. E. Friedrich wollte durch seine Bilder eine ‚Objektivität‘ des Krieges dokumentieren, die durch die Kriegspropaganda und die Verherrlichung des Krieges in der ersten Phase der Weimarer Republik negiert wurde. Trotz beginnender Manipulation durch neue Techniken war er von der Unbestechlichkeit der bzw. seiner Bilder, hier von Fotos, überzeugt. Aber letztlich verloren diese Bilder den „gesellschaftlichen Kampf um die Deutung der Kriegserlebnisse.“26 Der Nürnberger Reichsparteitag von 1935 Die massivste Instrumentalisierung des Bildes bzw. des Films fand im Nationalsozialismus statt, wobei die Inszenierung des Nürnberger Reichsparteitages eindeutig der Höhepunkt war.27 Nicht nur das Ereignis selbst, sondern auch seine mediale und massenhafte Reproduktion mittels Foto und Film sprengte alle bisherigen Dimensionen. Angeblich kamen bis zu 400.000 Teilnehmer und dazu noch bis zu 350.000 Zuschauer.
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Abbildung 2: Standbild aus L. Riefenstahls Film „Triumph des Willens“ von 1935
Quelle: Diehl 2008: 471
Das neue an der Inszenierung dieses Ereignisses war, dass es „als Kulisse für einen Film (diente), der sich dann in einen Dokumentarfilm verwandeln sollte. (...) In ‚Triumpf des Willens‘ ist das Dokument (das Bild) nicht nur die Aufzeichnung der Realität, sondern Grund, warum die Realität hergestellt wird; und schließlich wird das Dokument an die Stelle der Realität treten.“28
Der Film „Triumph des Willens“, den Leni Riefenstahl auf dem Parteitag drehte, war keine filmische Nach- oder Aufzeichnung des Ablaufs dieses Parteitages, sondern eine Montage der verschiedensten Szenen und Bilderfolgen zu einer „neuen virtuellen Wirklichkeit.“29 Dieser Montage geht bereits die ‚Montage‘ des Parteitages selbst voraus. Die Position der Kamera ist erhöht, sie nimmt das Bild aus einer Perspektive auf, die den Blick von oben über die gesamte Inszenierung öffnet und im Hintergrund mit den Publikumstribünen abschließt. Die Massen sind uniformiert, es sind SA- und SS-Formationen, wobei man letztere an ihren schwarzen Uniformen erkennen kann. Sie sind in strengen Linien aufgestellt und in der Mitte durch einen breiten und mit weißen Platten ausgelegten Weg getrennt. Die SA und SSFormationen rechts und links des Weges stehen sich gegenüber, während die For-
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mationen in der Mitte ihre Augen auf den Führer gerichtet haben. Er steht im Vordergrund des Bildes auf einem weißen Podium. Vor seinen Augen erstrecken sich die komponierten Formationen und sein Blick endet beim Ehrendenkmal für die gefallenen Soldaten des Ersten Weltkrieges, an dessen Seiten die Zuschauertribünen postiert sind. Die Körper der Soldaten bilden ein streng geometrisch angeordnetes Bild, die Masse ist eine organisierte Masse, wobei sie gesichtslos bleibt und allein als strenge Formation sichtbar wird. Dieses Bild ist das am meisten reproduzierte Bild aus L. Riefenstahls Film und das Regime setzt auf die „Kraft der Massenbilder, um die nationalsozialistische Macht, die Homogenität und Disziplin des ‚Volkskörpers‘ dazustellen.“30 Und weiter: „Es ist die Monumentalität des Parteitages sowie die Verschmelzung der Körper zu einem einzigen Massenkörper, die in den Fotografien sowie im Film thematisiert werden. (...) Die Synchronisierung der Bewegungen und die Homogenisierung der Körper waren in der Massenchoreographie eingebunden, die die Einheit und Homogenität des Massenkörpers betonte und der Machtdarstellung des Nationalsozialismus diente.“31
Der Film, neben Rundfunk- und Zeitungsbeiträgen, war das wichtigste Medium, über das die Botschaften dieses Parteitages in die Bevölkerung getragen wurden. Durch die monumentale Inszenierung dieses Ereignisses wurden sie zu einem Bestandteil derselben, die Distanz zwischen dem Zuschauer und den inszenierten Bildern bzw. dem Abgebildeten wurde so überbrückt und der Betrachter unmittelbar in die Inszenierung miteinbezogen. So konnte eine „Art virtueller ‚Volksgemeinschaft‘“32 entstehen, in der die Masse der Film- und Fernsehzuschauer und die passive Masse auf dem Parteitag selbst miteinander verschmolzen. Solche Inszenierungen sind im Übrigen für die meisten Diktaturen typisch, seien es ‚einfache‘ oder totalitäre Diktaturen. Bei letzteren ist die Wahrscheinlichkeit solcher Inszenierungen größer, wie die Beispiele aus der Sowjetunion unter Stalin, aus China während der maoistischen Phase (aber auch später) und aus Nordkorea verdeutlichen. Die Toten des Zweiten Weltkrieges und des Holocaust Das Bild kann mit Kriegstoten sehr unterschiedlich umgehen. Im zweiten Weltkrieg hat die Tötung von Menschen eine neue Dimension angenommen. Nicht nur hat er die Anzahl der Toten, ziviler wie soldatischer, des Ersten Weltkrieges weit übertroffen. Auch die Mittel der Tötung haben sich gewandelt. Massaker an der Zivilbevölkerung haben hier eine neue, bisher nicht gekannte Dimension bekommen. Die Tötung der Juden in den Gaskammern der Konzentrationslager hat die bisherige Vorstellungskraft von möglichen Verbrechen weit überschritten und eigentlich unmöglich Erscheinendes möglich werden lassen. Die in diesen Kon-
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texten aufgenommenen Bilder vermitteln ein bisher nicht dagewesenes Ausmaß an Grausamkeit, das ich an einem Beispiel verdeutlichen will. Im Jahr 1942, unmittelbar nach dem Rückzug der deutschen Truppen aus der Stadt Kertsch, kehrten die vertriebenen Einwohner zurück und fanden von den deutschen Truppen massenhaft ermordete Zivilisten. Der Fotograf Dmitri Baltermanz hatte Bilder gemacht, die die Toten und die um sie trauernden Angehörigen zeigten. Ein Bild gehörte dann zu den insgesamt über 500 Bildern der Weltausstellung der Photographie, die in den 60er Jahren weltweit gezeigt wurde. Auch russische Fotografen hatten Bilder der dort massenhaft ermordeten Zivilisten gemacht. In der Zeitschrift Ogonjok vom 8. März 1942 war eine Doppelseite mit Bildern der in Kertsch Getöteten zu sehen, die keine Grausamkeit ausließen. Die Bilder waren von einem Artikel begleitet, in dem es unter anderem hieß; „Schaut auf diese Bilder, Kämpfer der Roten Armee. Lies die Beschreibung dieser Bestialitäten. Siehst Du getötete Kinder, zu Tode gequälte Brüder und Schwestern, Väter und Mütter? Sie wurden ausgelöscht, das Hitlersche Gesindel hat sie erniedrigt. Umso besser triff aus Gewehren und Geschützen, aus Maschinengewehren und Granatwerfen das faschistische Gesindel.“33
Die – unbestreitbar grausigen und erschütternden – Bilder werden instrumentalisiert und eine Politik mit dem Bild ist überdeutlich. Sie diente der Mobilisierung der russischen Soldaten und der Stärkung ihrer Kampfmoral im Krieg. Die Bilder der ermordeten Zivilbevölkerung sollten eine politisierende Wirkung entfalten und eine Politik des Krieges in Gang halten, der bereits Jahre angedauert hatte und im Jahr 1942 noch längst nicht entschieden war. Abbildung 3: Tote im KZ Bergen-Belsen nach der Befreiung durch britische Truppen
Quelle: Konzentrationslager Bergen-Belsen im April 1945; Foto: afp/Sharon Ellman
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Parallel dazu kann man eine im Kern gegenläufige Politik mit dem Bild beobachten. Die Bilder aus den Konzentrationslagern, die vor allem von den Alliierten am Ende des Zweiten Weltkrieges in die Öffentlichkeit gebracht wurden, dokumentierten so unvorstellbare Grausamkeiten, dass sich, sowohl bei den Siegermächten als auch bei der neuen deutschen Elite, die Position durchsetzte, dass sich so etwas nie wieder wiederholen dürfe. „Nie wieder“ – auf diesen knappen Nenner konnte das alles gebracht werden und es hat bis heute ein deutsches, aber auch europäisches und globales Selbstverständnis auf den Begriff gebracht. Die Bilder von in den Konzentrationslagern Getöteten waren ein, aber bei weitem nicht das einzige Medium, das diese moralische Prämisse zu formulieren half. Auf dem Bild sind die Toten zu sehen, die im Konzentrationslager Bergen-Belsen verstreut herumlagen und nach der Befreiung durch die britischen Truppen in Massengräbern gesammelt und begraben wurden. Bergen-Belsen war ein vergleichsweise ‚kleines‘ Lager und die Anzahl der dort getöteten Juden umfasste rund 50.000, während die Gesamtzahl der Häftlinge auf rd. 120.000 geschätzt wird. Die Briten fanden bei der Befreiung noch rd. 60.000 Häftlinge vor, von denen anschließend noch rd. 14.000 starben.34 Während Bergen-Belsen eines der kleineren Konzentrationslager war, wurde in den Vernichtungslagern das Töten in weit massiverem Umfang betrieben. Es waren vor allem die Lager Chełmno, Belzec, Sobibor, Treblinka, Majdanek und Auschwitz, in denen schätzungsweise jeweils 150.000, 550.000, 200.000, 750.000, 50.000 und schließlich mit Auschwitz als Höhepunkt rd. 1 Mill. Juden gezielt vernichtet wurden.35 Auch wenn das obige Bild aus einem der kleineren Lager stammt, das Ausmaß der Vernichtung und die damit verbundene Gleichgültigkeit gegenüber den Opfern werden auch hier überdeutlich. Sie vollzog sich vor allem in den Lagern, die in der sogenannten „Aktion Reinhardt“ zum „Kern des Holocaust“36 wurden: Die Vernichtungslager Belzec, Sobibor und Trebklinka.37 Das Bild selbst betreibt Politik, indem es diese Sachverhalte wie kaum andere zum Ausdruck bringt. Hier dient das Bild nicht der Steigerung der Kampfmoral, wie oben am russischen Beispiel verdeutlicht, sondern nach der totalen Niederlage im Zweiten Weltkrieg dem Hervorbringen des totalen Entsetzens, zumindest bei den verantwortlichen politischen Eliten. Der Kniefall des Deutschen Bundeskanzlers Willy Brandt Die Politik mit dem Bild muss keine geplante, sondern kann ebenso eine spontane Aktion sein. Der Kniefall des Deutschen Bundeskanzlers Willy Brandt am 7. Dezember 1970 vor dem Ehrenmal der Helden des Ghettos in Warschau war ein solcher spontaner Akt.38 Nach dem Sortieren der Kranzschleifen trat W. Brandt zurück, sank dann auf seine Knie und verharrte in dieser Position re-
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gungslos etwa eine halbe Minute. Auf dem Bild selbst sieht man viele Kameramänner (und -frauen), die diesen Moment festgehalten haben und der Fotograf des hier abgedruckten Bildes fotografiert die anderen Fotografen bei seiner eigenen Tätigkeit mit. Dies alles gibt dem Bild den Anschein einer bewussten Inszenierung, die aber von W. Brandt und vielen der damaligen Mitarbeiter bestritten wird. Es sei eine spontane Geste gewesen, die der Situation entsprang. Der Journalist Hermann Schreiber, der W. Brandt bei dieser Reise begleitet hatte, schrieb über diese Situation: „Wenn dieser (…) für das Verbrechen nicht mitverantwortliche, damals nicht dabei gewesene Mann nun dennoch auf eigenes Betreiben seinen Weg durch das ehemalige Warschauer Ghetto nimmt und dort niederkniet, dann kniet er da also nicht um seinetwillen. Dann kniet er, der das nicht nötig hat, für alle, die es nötig haben, aber nicht da knien – weil sie es nicht wagen oder nicht können oder nicht wagen können. Dann bekennt er sich zu einer Schuld, an der er selbst nicht zu tragen hat, und bittet um eine Vergebung, derer er selber nicht bedarf. Dann kniet er da für Deutschland.“39
Es war eine spontane Politik mit dem Bild, denn bei aller Spontaneität war allen Beteiligten klar, dass ein solches Bild einen bleibenden Eindruck sowohl beim polnischen als auch beim deutschen Volk hinterlassen würde. Selbstverständlich hatte diese symbolische Geste erhebliche und vor allem positive Auswirkungen auf die Entspannungspolitik der damaligen Bundesregierung, und dies nicht nur gegenüber Polen, sondern auch gegenüber den anderen mittel- und osteuropäischen Ländern, in denen diese Geste sehr positiv aufgenommen wurde. Der Schriftsteller Navid Kermani hat dem im Jahr 2014 bei der Feier zum 65-jährigen Bestehen des Grundgesetzes eine weitere politische Dimension zukommen lassen. Er hatte gefragt, wann Deutschland als Staat, der über 6 Millionen Juden ermordet hatte, jemals wieder seine Würde gefunden habe, und antwortete mit dem Satz: „Wenn ich einen einzelnen Tag, ein einzelnes Ereignis, eine einzige Geste benennen wollte, für die in der deutschen Nachkriegsgeschichte das Wort ‚Würde‘ angezeigt erscheint, dann war es – und ich bin sicher, dass eine Mehrheit im Bundestag, eine Mehrheit der Deutschen und erst recht eine Mehrheit dort auf der heimischen Tribüne mir jetzt zustimmen wird – dann war es der Kniefall von Warschau.“40
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Dieses Bild des knieenden Bundeskanzler war das Bild, das die Versöhnung zwischen Polen und Deutschen bis heute symbolisiert und sich in das historische Gedächtnis tief eingeprägt hat. Abbildung 4: Kniefall Willy Brandts vor dem Ehrendenkmal der Helden des Ghettos
Quelle: Paul 2008: 411; Foto: ullstein bild
Zugleich ist die Wirkung des Bildes ambivalent. Seine Zuordnung als Politik mit dem Bild wird dadurch ergänzt, dass das Bild selbst Geschichte gemacht hat, also eine Politik des Bildes hervorgebracht hat. „Der Kniefall ist nicht nur fotografierte Geschichte, sondern als Bild ein Teil derselben. Hier wird Geschichte durch das Bildmedium gebildet und nicht einfach nur im Bild abgebildet. Dieser Unterschied muss deutlich herausgestrichen werden, auch weil die Geschichtsmäßigkeit des Bildes von der Presse selbst hervorgehoben wurde. So hielt beispielsweise die Zeit in ihrer Rückschau im Jahre 2000 fest: ‚Das Bild ging um die Welt und machte Geschichte.‘“41
Es entwickelte zudem eine eigene Suggestivkraft, die andere Menschen bewegte, veränderte und in ihrer Haltung bestärkte. Die religiös-biblische Dimension des knieenden Bundeskanzlers war hierbei nicht unbedeutend.42 Insgesamt machte es klar, dass Deutschland einen ernsthaften Ausgleich mit den osteuropäischen Nachbarn anstrebt und kein revanchistisches Land mehr sein will.
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Der Handschlag zwischen François Mitterand und Helmut Kohl Ein weiteres Bild, das Geschichte machen sollte, ist der Handschlag zwischen dem französischen Staatspräsidenten François Mitterand und dem deutschen Bundeskanzler Helmut Kohl am 22. September 1984 vor dem Beinhaus von Douaumont bei Verdun. Dort waren die Überreste von etwa 130.000 nicht identifizierten Soldaten aufbewahrt, die während des Ersten Weltkrieges umgekommen waren. Die Schlacht bei Verdun war angeblich die längste Schlacht der Weltgeschichte. Sie begann am 21. Februar 1916 mit dem «Unternehmen Gericht». Die deutsche Offensive dauerte bis zum Juli, danach gingen die Franzosen zum Angriff über. Erst am 19. Dezember 1916 endete die Schlacht. Die Anzahl der bei Verdun gefallenen Soldaten lässt sich nur schwer schätzen; man geht heute davon aus, dass rund 162.000 französische und 143.000 deutsche Soldaten getötet wurden und die Anzahl der Verletzten jeweils 215.000 bzw. 196.000 betrug.43 Abbildung 5: F. Mitterand und H. Kohl in Verdun
Quelle: Paul 2008: 499; Foto: ullstein bild
Während der offiziellen Zeremonie standen Mitterand und Kohl im Abstand von etwa einem Meter nebeneinander, jeder mit starrem Blick zu Boden oder auf den Kranz gerichtet, der den jeweiligen Toten gedenken sollte. Nach vorne versetzt, aber genau zwischen beiden Kränzen, stand ein Sarg, der jeweils zur Hälfte mit
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der französischen und der deutschen Flagge bedeckt war. Es wurde zunächst die deutsche Nationalhymne abgespielt, bei der beide Präsidenten regungslos nebeneinander standen. Als die Marseillaise begann, drehte Mitterand seinen Kopf zu Kohl, der – angeblich spontan – seine Hand ergriff und während der gesamten Marseillaise verharrten sie erneut regelungslos – diesmal Hand in Hand. Beide Politiker betonten, dass dies nicht abgesprochen war, sondern sich spontan entwickelt hatte. F. Mitterand berichtete später, er habe Kanzler H. Kohl ein Zeichen gegeben, der daraufhin sofort seine Hand ergriff und er vermutete, dass Kohl ähnliches zum gleichen Zeitpunkt durch den Kopf gegangen sein muss. 9/11 und der Anschlag auf das World Trade Center Eine zugespitzte Form der Politik mit dem Bild ist sicherlich der 9. September 2001, an dem zwei von Terroristen entführte und dann von ihnen gesteuerte Flugzeuge in die beiden Türme des World Trade Centers in New York flogen. Die Liveübertragung dieses Ereignisses machte aus ihm nicht nur die „längste Nachrichtensendung der Fernsehgeschichte“44, sondern verdeutlichte zudem die überragende Bedeutung der Medien, insbesondere des bewegten Bildes, bei der Politik mit dem Bild. Hier wurde das Bild bzw. die ‚Produktion‘ des Bildes zur eigentlichen Tat. Nicht die Entführung und die dann folgende Tötung der Insassen war das primäre, sondern nur ein abgeleitetes Ziel. Das primäre Ziel der Tat war das Bild. New York hatte die größte Mediendichte von allen Städten der Welt und vermutlich auch die schnellsten Übertragungsnetze, die zur damaligen Zeit existierten. In den zunehmend asymmetrischen Kriegen am Ende des 20. Jahrhunderts wird das Bild für die militärisch unterlegenen Kräfte selbst zur Waffe und die Asymmetrie bei den tradierten Waffen wird „zunehmend durch den Kampf mit den Bildern konterkariert.“45 Das Bild wird nun zur Waffe, mit dem eine der kämpfenden Parteien Krieg führt; entsprechend muss diese Waffe scharf und schlagkräftig sein, um eine gewisse Wirkung beim ansonsten überlegenen Gegner zu zeitigen. Hierbei spielte die symbolische Qualität des Anschlages eine zentrale Rolle. Das World Trade Center verkörperte nicht nur die globale amerikanische Dominanz im weltweiten Handel, sondern vor allem die kapitalistisch-ausbeuterische Seite dieses Handels auf Kosten der Dritten und Vierten Welt. Das Pentagon, auf das ebenfalls ein Anschlag mit einem entführten Flugzeug erfolgte, ist das Symbol der amerikanischen militärischen Überlegenheit, der daraus folgenden Weltherrschaft und der damit implizierten Unverletzlichkeit.46 All das wurde durch 9/11 symbolisch angegriffen und zugleich auch real zerstört. Denn am Ende des Tages lagen die Türme in Trümmern und ihr Zusammenbruch wurde weltweit live im Fernsehen und im Netz übertragen. Die Opfer, v. a. die getöteten Menschen, spielten in den Übertragungen und in der Berichterstattung – wenn
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überhaupt – nur eine untergeordnete Rolle. Einzig das Bild des „falling man“47 konnte eine gewisse Prominenz erlangen, aber auch seine Person blieb ebenso anonym wie zunächst die der insgesamt 2.791 anderen Opfer. Für diese wurde später eine Gedenktafel errichtet und ihre Namen werden von den Familienangehörigen jedes Jahr bei der entsprechenden Gedenkfeier verlesen. Aber an den Tagen der Katastrophe waren die Bilder von Überlebenden wichtiger, die – wie durch ein Wunder – den Zusammenbruch der Türme überlebten oder sich in letzter Sekunde retten konnten. Die Toten wurden damals allein dadurch ‚sichtbar‘, dass bei der Live-Übertragung die in die Türme eingedrungenen Feuerwehrleute bei den dumpfen Aufschlägen der in den Tod Gesprungenen zusammen zuckten. Abbildung 6: Anschlag auf die Türme des World Trade Centers in New York
Quelle: picture allainace/dpa; Fotoreport 5125282.
Bei 9/11 sind wir ebenfalls mit einem doppelten Sachverhalt konfrontiert. Denn die Politik mit dem Bild hat zugleich eine Politik des Bildes provoziert, die womöglich in der Absicht der Terroristen lag. Der Anschlag auf die Türme wurde von der amerikanischen und auch von anderen Regierungen als „Kriegserklärung“ aufgefasst, die nicht nur – wie die amerikanische Regierung unter Georg W. Bush erklärte – eine Kriegserklärung an die USA, sondern zugleich eine „Kriegserklärung an die gesamte zivilisierte Welt“ gewesen war, wie der damalige Bundeskanzler G. Schröder formulierte.48 Aber dieser breit erklärte Krieg hatte damals noch keinen namentlich benennbaren Gegner, es war eine gegnerlose Kriegserklärung. Erst langsam wurde dann der Gegner gefunden bzw. identifiziert und personifiziert: Es war Osama bin Laden und nun konnte man auch hier ein Bild des Gegners liefern. Es war die immer wieder und wieder gezeigte Porträtaufnahme, die alle anderen Informationen, vor allem die seines Aufenthalts-
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ortes, zunächst im Dunkeln ließ. Später dann wurde Afghanistan zum Ort, dem der Krieg galt und gegen den die Amerikaner und ihre Verbündeten militärisch vorgingen.
13.2. Die Politik des Bildes Die Politik des Bildes schreibt dem Bild – wie oben bereits angedeutet – eine eigene Wirkkraft zu, die das Wahrnehmen und Handeln von Menschen und Menschengruppen massiv beeinflussen kann. Es gibt die Macht des Bildes oder auch die „BilderMACHT“49 und dies beinhaltet die Chance, auf das Denken und Agieren von Anderen – auch gegen deren Willen – Einfluss zu nehmen. Die Macht des Bildes ist selbstverständlich geringer als die Macht der Gewaltapparate der Politik, es ist eher eine sanfte Macht, die in der Politik gleichwohl ihren Einfluss geltend macht. Bilder können – und das ist wichtig – nicht nur den Handlungshorizont von Einzelnen beeinflussen, sondern auch von kollektiven Akteuren, seien es politische Parteien, Interessengruppen, soziale Bewegungen oder gar ganze Staaten. Die konkreten Wirkungen der Politik des Bildes sind schwer zu beschreiben, weil sie kontingent sind. Historische Kontexte sind ebenso bedeutsam wie das Medium, das das Bild produziert. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts kann man viele Bilder identifizieren, die eine eigenständige Politik des Bildes ausgelöst und in Gang gesetzt haben. Ich kann hier nur eine äußerst beschränkte Auswahl vorstellen, aber gleichwohl die Grundidee der Politik des Bildes skizzieren. Die Zerstörung des Feliks-Dzierżyński-Denkmals auf dem Lubjanka-Platz Aufschlussreich sind Bilderstürme, die sich zu den verschiedensten Zeitpunkten des Jahrhunderts abgespielt und sich auf Denkmäler konzentriert haben. Deren charakteristisches Merkmal sind Dauerhaftigkeit und Standfestigkeit. Sie wurden geschaffen, um aus dem Fluss der Zeit herauszuragen und einen Sachverhalt bzw. eine Person unveränderlich festzuhalten bzw. die Zeit für dieses spezifische Ereignis anzuhalten. Das Material ist entsprechend: Beton, Stein, Marmor, Bronze, Eisen oder was auch immer das Überdauern in der Zeit ermöglichen soll. Seine Standfestigkeit manifestiert sich zunächst darin, dass es auf einem herausgehobenen Platz situiert und meist auf einem besonderen Sockel verankert ist. Beides verleiht ihm die Erhabenheit und Herausgehobenheit aus dem ansonsten sich laufend vollziehenden historischen und Alltagsgeschehen. Im Denkmalsturz realisiert sich eine politische Dimension insofern, als eine in dem Denkmal zum Ausdruck kommende politische Machtposition negiert wird. Sie wird dann zum Gegenstand politischer Kämpfe, die sich nun gegen die Symbole der Macht richten
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und mit der Zerstörung zugleich die Machtlosigkeit der bisherigen Macht zum Ausdruck bringt. Prototypisch war die Zerstörung des Feliks-Dzierżyński-Denkmals auf dem Lubjanka-Platz in Moskau in der Nacht des 22. August 1991. Ein um die Welt gegangenes Foto zeigt das riesige und gestürzte Denkmal, mit zum Boden gewendetem Gesicht. Vor ihm stehen Männer, wobei einer sein Bein auf den Hinterkopf der Statue stellt und so seine vollständige Missachtung der Person als auch deren völlige Machtlosigkeit zum Ausdruck bringt. Aber die Robustheit solcher Statuen macht den politischen Akteuren oft zu schaffen, in einem spontanen Akt können sie meist nicht gestürzt werden, es bedarf der Organisation. Die Journalistin der FAZ in Moskau, Kerstin Holms, hielt am 24. August 1991 fest: „Am Vortag waren Teilnehmer am großen Triumphzug hierher genommen, hatten der kolossalen Bronzeskulptur Eisentrossen angelegt und versucht, sie umzukippen. (...) Doch die Figur des ‚Eisernen Felix‘ hielt stand. (...) Tatsächlich fuhren am Abend schwere Lastzüge mit einem Kran vor und entfernten das Standbild, bevor der Volkszorn, entfacht durch den niedergeschlagenen Putsch, den der Chef des verhassten KGB mit anführte, sich entladen konnte.“50
Nur auf diese Weise konnte die Statue niedergerissen werden. Abbildung 7: Zerstörung des Feliks-Dzierżyński-Denkmals in Moskau
Quelle: Binder 2008: 615 (AP Photo/Alexander Zemlianichenko).
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Ebenso medienwirksam war der Sturz der riesigen Saddam-Hussein-Statue in Bagdad nach dem Einmarsch der amerikanischen Soldaten Anfang April 2003. Nachdem eine sogenannte „Koalition der Willigen“, die vor allem aus den USA und Großbritannien bestand, in der Nacht vom 19. auf den 20. März 2003 das Bombardement auf die Hauptstadt Bagdad begann, wurde die sogenannte Operation Iraqi Freedom in Gang gesetzt. Als die amerikanischen Truppen dann Mitte April in Bagdad einmarschierten und das Kommando über die Stadt übernahmen, war eine der wichtigsten Aktionen der Sturz der riesigen Saddam-HusseinStatue im Zentrum, die von den größten amerikanischen und anderen TV-Sendern live übertragen wurde. Dadurch sollte das Ende der Macht des bisherigen Machthabers, sichtbar für die gesamte Welt, auch symbolisch beendet werden. Nachdem ein amerikanischer Soldat ihm die US-Flagge über den Kopf gezogen hatte, wurde die Statue von ihrem Sockel gerissen. Umstehende Passanten trampelten dann auf der Statue herum und traten den ehemaligen Machthaber faktisch und symbolisch mit Füßen.51 Wichtig bei fast allen diesen Ereignissen ist ihre bewusste Inszenierung für die weltweite Übertragung durch die modernen Massenmedien. Die an dem aktuellen Ereignis Beteiligten haben meist bereits die Bilder in ihrem Kopf, die dann als ‚richtige‘ Bilder von den Medien übertragen werden. Das Ereignis selbst wird inszeniert, um als Medienereignis bestehen zu können. Oft ist damit auch die Erwartung der politischen ‚Ansteckung‘ verbunden, weil andere dies als Ansporn und Vorbild für eigene Aktionen nehmen könnten. Wie auch immer, das Bild entfaltet seine eigene Politik, denn gestürzte Denkmäler signalisieren der Bevölkerung, dass nun die alte Macht vergangen ist und eine neue Phase im gesellschaftlichen, aber auch im privaten Leben eingetreten ist. Meist ist damit auch ein politischer Kampf verbunden, denn neben dem spontanen Schleifen von Denkmälern muss eine Gesellschaft politisch entscheiden, wie sie mit ihrer in Bildern, Denkmälern, Statuen etc. symbolisierten Geschichte in der Zukunft umgehen will. Der Bildersturz ist für all dies der spontane Impuls, der seine eigene Wirkung entfaltet. Das Napalm-Mädchen von Vietnam Ein weiteres Beispiel für die Wirkmächtigkeit eines Bildes ist das von Kim Phúc, dem sogenannten ‚Napalm-Mädchen‘. Es entstand am 8. Juni 1972 in der Nähe des Dorfes Trảng Bàng in der Nähe und von Saigon.52 Die südvietnamesische Armee hatte in dem Dorf nordvietnamesische Widerstandskämpfer vermutet, aber bei dessen teilweiser Durchkämmung keine Kämpfer gefunden. Der zuständige Kommandant forderte Luftunterstützung an und mehrere Flugzeuge ließen Phosphor- und Napalmbomben auf das Dorf fallen. Sie trafen dabei auch die Straße, die zum Dorf führte, und an deren Rand sich südvietnamesische Soldaten, meh-
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rere Reporter und auch Kinder befanden. Neben Kim Phúc waren auch noch weitere Kinder zugegen, ebenso ihre Großmutter mit ihrem sterbenden Enkel im Arm, die alle nicht die Aufmerksamkeit der Fotografen erheischen konnten. Allein das schreiende und nackte Mädchen, dessen Kleider sich durch die Napalmbombe entzündet und tiefe Brandwunden auf ihrem Rücken hinterlassen hatten, stand im Mittelpunkt – es war das Bild, das die Fotografen im Kopf hatten und das sie haben wollten. Sie wussten, dass sie „das Bild des Tages vor sich hatten. Sie schossen ein Foto nach dem anderen, bis sie keinen Film mehr in der Kamera hatten.“53 Abbildung 8: Das ‚Napalm-Mädchen‘ aus dem Vietnamkrieg
Quelle: Paul 2008: 427; Foto Nick Ut, ap.
Der tiefe Eindruck, den das Bild hinterlässt, verdankt sich mehreren Aspekten.54 Zunächst seiner dynamischen Struktur. Während der erste Junge fast schon aus dem Bild ist (der untere Teil seiner Beine ist bereits nicht mehr sichtbar), folgt ihm in kleinen Abstand das Mädchen und dann die beiden anderen Kinder, sich an der Hand fassend. Außerhalb dieser Dynamik ist der Junge am linken Bildrand und die südvietnamesischen Soldaten bzw. die Uniform tragenden Journalisten. Ein Fotograf, der rechts neben Kim Phúc lief und gerade seinen Film wechselte, wurde aus dem ‚richtigen‘ Bild herausgeschnitten. Dann hat es eine narrative Struktur, die durch die Erzählung des Bildes zu Stande kommt. Der im Hintergrund aufsteigende Rauch verdeutlicht die Ursache der Flucht der Kinder und auch den Zustand der Kinder selbst. Schließlich hat es eine existentielle Struktur, die intensiv an die Gefühle des Betrachters appelliert. Die Nacktheit des Mädchens symbolisiert ihre absolute Schutzlosigkeit, ihr Schmerz ist durch den schreienden und geöffneten Mund fast hörbar, ihr Körper vom Schock des gesamten Vorganges verkrampft und ihr Opferstatus unübersehbar.
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Die Wirkung dieses Bildes ist nicht die Wirkung eines spontan gemachten Bildes. Bereits während der Aufnahmen selbst hatten die Köpfe der Fotografen das ausgewählt, was am ‚fotogensten‘ erschien und dies in den Mittelunkt ihrer Aufnahmen gerückt. Die Großmutter mit dem sterbenden Kind im Arm war offensichtlich kein Bild wehrt. Diese bereits hier beginnende ‚Verbildlichung‘ des Bildes fand seine Fortsetzung in den Redaktionsstuben von AP-Press. Aus vielen anderen Bildern wurde genau dieses wegen seiner erwartenden Wirkung ausgewählt und zudem leicht manipuliert. Der gesamte rechte Bildrand des Originals (mit dem Fotografen und anderen Personen im Hintergrund) wurde weggeschnitten, das Mädchen leicht retuschiert, damit Schatten auf ihrem Körper nicht mit Schamhaaren identifiziert werden sollten. Schließlich war das Ganze ein kalkulierter Tabubruch, weil bisher noch nie in frontaler Aufnahme der Körper eines nackten Mädchens publiziert worden war. Am 9. Juni wurde es dann auf der Titelseite der New York Times zusammen mit einem Bericht über den VietnamKrieg veröffentlicht. Abbildung 9: Bild des Massakers von Mỹ Lai
Quelle: Ronald L. Haberle/Time&Life/Getty.
Eine ähnliche Wirkung hatten die Bilder der Opfer von Mỹ Lai.55 Sie wurden zwar bereits 1968 aufgenommen, aber erst im November 1969 veröffentlicht. Sie zeigen die vielen Toten eines Massakers, das amerikanische Militärs an der Zivilbevölkerung der Stadt Mỹ Lai verübt hatten und bei dem fast nur Frauen, viele Kinder und auch kleine Babys erschossen wurden. Die Bilder zeigen keine Soldaten, keine Waffen, keine Verstecke oder sonstige militärische Hinweise, sondern nur die Erschossenen auf einem Weg liegend, der zwischen zwei Feldern verläuft.
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Das Bild löste weltweit eine große Resonanz aus, es stärkte vor allem die Kriegsgegner, weil die Unmenschlichkeit dieses Krieges in dem Bild versinnbildlicht war. Es unterstützte die amerikanischen und die europäischen Friedensbewegungen und kaum ein anderes Bild hatte eine ähnliche Wirkung. Beide hatten eine große Bedeutung bei der Entscheidung über den Rückzug der Amerikaner aus dem Vietnamkrieg. Denn angesichts solcher Bilder wurde es für die amerikanische Regierung und ihr Militär immer schwieriger, diesen Krieg gegenüber der Bevölkerung zu legitimieren. Der Fall der Mauer im November 1989 Die Mauer, die Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg teilte, war wie kein anderes Symbol im 20. Jahrhundert nicht nur das der Trennung einer Nation, sondern auch der Trennung zweier unvereinbarer Gesellschaftssysteme, die zumindest der zweiten Hälfte des Jahrhunderts ihren Stempel aufprägten. Sozialismus und Kapitalismus standen sich unversöhnlich und durch die Mauer getrennt gegenüber, wobei sich der Sozialismus weit mehr vor dem Kapitalismus bzw. der Ausreise seiner Bürger in den Kapitalismus der BRD schützen musste als umgekehrt der Kapitalismus vor dem Sozialismus. Auch wenn die Reformprozesse in anderen Ländern des ehemaligen Mittel- und Osteruropa bereits begonnen hatten und weit fortgeschritten waren, blieb die DDR als letztes und widerständiges Bollwerk bis in die Novembertage des Jahres 1989 bestehen. Während Ungarn bereits die Grenzen nach Deutschland und Österreich geöffnet hatte und viele DDR-Bürger auf diese Weise in den Westen reisen konnten, war die innerdeutsche Grenze noch geschlossen. Der Zusammenbruch der DDR war zu dieser Zeit vermutlich ein unvermeidbarer Prozess, aber sein konkreter Anlass konnte zufälliger und kontingenter nicht sein. An dem inzwischen berühmt gewordenen 9. November 1989 formulierte das damalige Politikbüromitglied Günter Schabowski am Abend den Satz, dass nach seiner Kenntnis „ab sofort“ eine neue Reisegesetzgebung in Kraft tritt, die zwar einen Antrag bei einer zuständigen Behörde voraussetzt, aber immer gewährt werden sollte. Dies entsprach einer zwar etwas umständlichen, aber faktisch freien Ausreise aus der DDR, was bisher kaum und nur unter sehr widrigen Bedingungen möglich war. Diese neuen Bedingungen sollten zwar erst am 10. November in Kraft treten, aber G. Schabowski formulierte – etwas stotternd – „Das tritt ... nach meiner Kenntnis ist das sofort, unverzüglich.“ Die Nachricht verbreitet sich wie ein Lauffeuer in der DDR und in Ostberlin und bereits kurz nach der Presseerklärung setzte der Ansturm auf die entsprechenden Grenzübergänge ein. Um 23.14 Uhr wurde der erste Übergang offiziell geöffnet und danach gab es kein Halten mehr. Aber in Berlin und anderen Städten waren bereits vor der offiziellen Öffnung der Grenzübergänge die Menschen sowohl im Osten wie
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auch im Westen auf den Straßen und Berlin rückte immer mehr in den medialen Mittelpunkt. Bereits unmittelbar nach der Pressekonferenz von G. Schabowski bezogen nationale und internationale Medienvertreter Position und in den LiveEinblendungen der Nachrichtensendungen standen die westlichen Reporter fast immer vor dem von Scheinwerfern angestrahlten Brandenburger Tor. „Der Bühnenraum des ‚historischen Ereignisses‘ war somit bereits ausgeleuchtet, bevor das ‚Volk‘ als Akteur zu seinem Auftritt kam. (...) Im Unterschied zur Situation an den Grenzübergängen, wo etwas später die in den Westteil der Stadt strömenden Ostberliner von den westlichen Nachbarn mit Jubel und lautem Beifall begrüßt wurden, war die Zusammenkunft der Menschen auf der Westberliner Seite des Brandenburger Tores eher symbolischer Natur – und nicht zuletzt ein Medieneffekt.“56
Dies galt auch für den Mauersturm, der auf dem Bild zu sehen ist. Von den westlichen Medien angezogen kamen immer mehr Ostberliner, die dann nach einigem Zögern begannen, die Mauer zu erklimmen und – nachdem die Ostberliner Grenzschützer und die Polizei keine Gewalt anwendeten – sie von der ostdeutschen Seite aus zu erstürmen. Die Westdeutschen folgten dann ihrem Beispiel und Ost und West vereinigten sich auf der Mauer. Alle waren von der symbolischen Kraft des Brandenburger Tores ebenso magisch angezogen wie von der unübersehbaren Anwesenheit der westlichen und internationalen Medien. Abbildung 10: Mauerfall am Brandenburger Tor am 9. November 1989
Quelle: Paul 2008: 575; Foto: Bundesbildstelle, B145 - Bild-00046833
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Das Bild wurde von einer Kameraposition auf der Westseite und über die Köpfe der anwesenden Menschen hinweg aufgenommen. Diese Perspektive konnte sowohl die Massen auf der westlichen Seite als auch die sich auf der Mauer befindenden Ostberliner einfangen. Zugleich wird eine Vermischung sichtbar, weil von westlicher Seite aus ebenfalls Menschen auf die Mauer klettern und sich mit den Ostdeutschen verbinden. Über allem erhebt sich das Brandenburger Tor und gibt dem Bild seinen Mittelpunkt. Das Brandenburger Tor und seine streng symmetrische Struktur kontrastiert mit den ungeordneten Massen. Sie klettern die Mauer hinauf- und hinab, bevölkern sie ungeordnet und verdeutlichen das Unkontrollierbare der Masse weit mehr als die zur selben Zeit über die geöffneten Grenzübergänge fahrenden Trabant-Kolonnen der DDR-Bürger. In vielen anderen Mauer-Bildern wurden die Massen nicht so ausgeprägt dargestellt wie in obigem. Der Spiegel vom 13.11.1989 hatte auf seinem Titelblatt zwar auch Menschen auf der Mauer, aber es war nur ein kleiner Ausschnitt mit knapp unter zehn Menschen, von denen einer symbolisch mit dem Pickel an der Mauer herumhackte. Dieses Bild vermied die Darstellung der Kraft und Energie der die Mauer stürmenden Massen und konzentrierte sich auf einige wenige Personen. Auf dem hier verwendeten Bild symbolisiert die Mauer nach wie vor Trennung und Abgrenzung der jeweils unterschiedlichen Gesellschaftssysteme. Aber sie ist nun aufgebrochen und beide Bevölkerungen vermischen sich nun ungeordnet auf der Mauer. Der Kapuzenmann von Abu Ghraib Zu Beginn des neuen Jahrhunderts machte eine weitere Bildfolge Geschichte. Hierbei handelte es sich um verschiedene Bilder aus dem Gefangenenlager Abu Ghraib, das die amerikanische Armee im Irakkrieg eingerichtet hatte und in dem Gefangene systematisch gefoltert wurden. Das Bild des sogenannten „Kapuzenmannes“ entstand am Abend des 4. November 2003, das Bild mit der amerikanischen Soldatin Lynndie England, die einen nackten, am Boden liegenden Gefangenen an einer Hundeleine hält, ebenfalls in diesem Zeitraum. Beide Bilder sind symptomatisch für eine neue Funktion des Bildes, die in diesem Krieg deutlich wurde, wobei ich mich auf das Bild mit dem Kapuzenmann konzentriere.
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Abbildung 11: Der Kapuzenmann von Abu Ghraib
Quelle: U.S. Army Criminal Investigation Command: The Abu Ghraib Files; Exclusive to the Washinton Post.
Es gibt mehrere Versionen dieses Bildes, wobei eines auf der rechten Seite zusätzlich Staff-Sgt. Ivan L. Frederick zeigt, der in einer Türöffnung steht und gerade einen neuen Film in seine Kamera einlegt. Auf dem obigen Bild ist dieser nicht zu sehen, sondern es konzentriert sich völlig auf den gefolterten Gefangenen. Nach seiner Schilderung hat sich die Situation so abgespielt: „On the third day, after five o’clock Mr. (Charles) Graner came and took me to room 37, which is the shower room, and he started punishing me. Then he brought a box of wood and he made me stand on it with no clothing, except a blanket. Then a tall black soldier came and put electric wires on my fingers and toes and on my penis, and I had a bag over my head. Then he was saying ‘which switch is for electricity’. And he came with a loudspeaker and he was shouting in my ear. And then he brought the camera and he took some pictures of me, which I knew because of the flash of the camera.”57
Diese und andere Folterpraktiken waren in dem Lager weit verbreitet, weil sie von der Lagerleitung bzw. zum Teil von der amerikanischen Regierung angeordnet waren. Angehörige des Criminal Investigation Command (CID) waren in Abu Ghraib verantwortlich und der hier zuständige Leiter Stg. Ricardo Romero hatte die Anweisung erteilt: „Make his life living hell for the next three days.“58 Die amerikanischen Soldaten handelten entsprechend. Diese Verhörtechniken wiederum gingen auf einen Befehl des damaligen US-Verteidigungsministers Donald Rumsfield vom 2. Dezember 2002 zurück, nachdem bestimmte Folterprak-
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tiken, wie Schlafentzug, ungewöhnliche und schmerzende Körperhaltungen, Anschreien, Kapuzenüberziehen u. ä., nun dem Militär erlaubt worden waren. Lange blieb unklar, wer der Mann unter der Kapuze ist und welche Identität er hat. Er blieb zwar nicht namenlos, aber er blieb bildlos: Es gibt kein (nachträglich) von ihm aufgenommenes Bild. Es handelt sich bei dem Gefangenen um den mit der Nummer 18170, der Abdou Hussain Saad Faleh hieß und aus Mossul kam. Er war beschuldigt worden, an der Entführung und Ermordung von zwei amerikanischen Soldaten beteiligt gewesen zu sein. Wo der Mann sich heute befindet, ist unbekannt.59 Lange wurde der Gefangene Nr. 151716 für den Kapuzenmann gehalten, ein kleiner Beamter und Dorfvorsteher der Gemeinde Al-Madifai in der Nähe von Abu Ghraib. Er soll sich geweigert haben, den Kinderspielplatz seines Dorfes der amerikanischen Armee als Ablageplatz für Chemikalien und Leichenteile zur Verfügung zu stellen. Daraufhin sei er verhaftet, zu einer Gefängnisstrafe verurteilt und wie alle anderen Gefangenen auch erniedrigt und gefoltert worden. Aber dann kamen Zweifel auf, ob es sich tatsächlich um diesen Gefangenen mit Namen Ali Shalal Qaissi handelte. Wie dem auch sei, wie verschiedene Fotos belegen hat es in Abu Ghraib offensichtlich mehrere ‚Kapuzenmänner‘ gegeben und wer nun gerade auf diesem Bild unter der Kapuze steckte, ist bis heute unklar geblieben.60 Erstaunlich ist auch die eigentümliche Umkehrung der Täter-Opfer-Beziehung. In vielen überlieferten Bildern von Hinrichtungen tragen die Henker Kapuzen, um von den Zuschauern nicht erkannt zu werden; auch sollten sie dadurch vor den flehenden oder bösen Blicken der Verurteilten geschützt werden. Hier dagegen wurden die Rollen umgedreht. Die Opfer wurden von den amerikanischen Soldaten als Henker verkleidet und so die Ikonografie von Hinrichtungen in gewisser Weise auf den Kopf gestellt. Aber die Bilder konnten gleichwohl eine ganze Fülle verschiedenster Assoziationen hervorrufen. Eine ist die des gekreuzigten Christus als Sinnbild der Unterdrückung und Erniedrigung. Eine andere dagegen assoziiert damit Hinrichtungen auf dem elektrischen Stuhl, bei denen den Beschuldigten mit einem Tuch der Kopf verhüllt wird.61 Die Rolle des Bildes nahm hier eine besondere, bisher in Kriegen nicht dagewesene Bedeutung an: Das Bild selbst wurde zum Foltermittel. Das Ziel der Folter war „die Zerstörung ihrer Identität (der Opfer, F.W.R.) und die Gewinnung von Informationen“62, wobei die Tötung von Gefangenen billigend in Kauf genommen wurde, aber nicht das eigentliche Ziel war. Das stehende oder bewegte Bild sollte ein jederzeit einsetzbares Druckmittel gegenüber den Gefangenen werden. Im Fall einer Veröffentlichung würde dem entsprechenden Gefangenen der Ausschluss aus den wichtigsten sozialen Lebenszusammenhängen drohen. Neuankommende Gefangene wurden mit den Folterbildern konfrontiert, um sie sofort einzuschüchtern und unter hohen psychischen Druck zu setzen. Der US-Journalist Seymour Hersh machte als einer der ersten darauf aufmerksam, dass diese
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Bilder systematischer Bestandteil eines „de-humanisierenden Befragungsprozesses“ und einer systematischen Folter mit Bildern seien.63 Man kann hier eine neue Bedeutung des Bildes beobachten. Es gibt zunächst eine Politik mit dem Bild, indem das Bild zum integralen Bestandteil einer spezifischen Folterpraktik wird und von den zuständigen Politikern und militärischen Befehlshabern auch systematisch für diesen Zweck eingesetzt wurde. Durch das Öffentlichwerden von Folterbildern entsteht jedoch eine Politik des Bildes, weil es Politisierungsprozesse und Proteste in Gang setzt, die der ursprünglichen Intention der Bildermacher völlig zuwider läuft und sie konterkariert. Die Mohammed-Karikaturen von 2005 Eine bisher nicht vorstellbare Politisierung von Bildern bzw. einer Politik der Bilder konnte man bei den sogenannten „Mohammed-Karikaturen“ beobachten, die am 30. September 2005 von der dänischen Zeitung Jyllands-Posten veröffentlicht wurden.64 Vorangegangen war ein von der Zeitung ausgegangener Aufruf an Karikaturisten, sich mit dem Islam und insbesondere dem Propheten Mohammed auseinanderzusetzen. So wollte die Zeitung herausfinden, wie viel Selbstzensur sich die Zeichner hinsichtlich des Islam auferlegen würden. Die Zeitung druckte dann auf ihrer Titelseite zwölf Karikaturen ab, von denen eine besonders provokativ war. Sie zeigt Mohammed mit einer Bombe im Turban, in der eine brennende Zündschnur steckt. Mehrere europäische Zeitungen druckten die Karikaturen ebenfalls ab, unter ihnen als einzige deutsche Tageszeitung am 2. Februar 2006 Die Welt, während andere Zeitungen nur einen Teil wiedergaben. Spiegel und BILD weigerten sich generell. Erstaunlicherweise hatte eine ägyptische Tageszeitung, die Zeitung Al Fager, bereits am 17. Oktober 2005 einige der Karikaturen, unter anderem auch die des Propheten mit der Bombe im Turban, nachgedruckt und es war weder in Ägypten noch in anderen arabischen Ländern zu irgendwelchen bemerkenswerten Protesten gekommen. Aber im November und Dezember 2005 war von zwei dänischen Imanen, Ahmad Abu Laban und Ahmed Akkari, ein umfangreiches Dossier angelegt worden. Sie überreichten es auf einer Reise durch Ägypten und dem Libanon Vertretern der Arabischen Liga, aber auch muslimischen Klerikern und akademisch ausgebildeten Mitgliedern der religiösen Schichten. In ihm waren nicht nur diese Karikaturen, sondern auch verschiedene Zeitungsartikel und andere Bilder und Karikaturen enthalten. Wie sich später herausstellte und von einem der Imane Jahre später zugegeben wurde, seien manche der zusätzlich beigefügten Bilder Fälschungen gewesen. Eine Politisierungsabsicht wird hier deutlich erkennbar, die in den muslimisch geprägten, arabischen Ländern Proteste auslösen sollte, die dann teilweise in massive Gewalttätigkeiten umschlugen. Aber erst nach dieser Reise und nachdem die norwegische christliche Zeitung
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Magazinet am 10. Januar 2006 die Karikaturen nachdruckte, brachen die Proteste aus. Abbildung 12: Mohammed-Karikatur der dänischen Zeitung Jyllands-Posten
Quelle: www.perlentaucher.de
Der Karikaturenstreit war zudem die „Premiere einer Micromedien-Kampagne“65 die es in dieser Form bisher nicht gegeben hatte und bei der die neuen Medien eine überragende Rolle spielten.66 Sie veränderten den Charakter der Kampagne, weil nun Mikromedien, vor allem Weblogs, Podcasts, Internetforen, SMSKetten u. ä., zu zentralen Kommunikationsinstrumenten wurden, die meist über das Handy bedient werden. Über sie werden größere und zugleich speziellere Personengruppen angesprochen als über die tradierten Medien, wie das Fernsehen oder das Radio. Gerade in der arabischen Welt konnte man darüber spezifische soziale Gruppierungen politisieren und mobilisieren, die von den meist gelenkten Medien nicht erreicht werden. Die Informationen sind weitgehend ungefiltert, aber ermangeln oft den Qualitätsstandards der anderen Medien. Die Kampagne
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wurde von ‚Diaspora-Muslimen‘ initiiert und erst dann von den gezielt angesprochenen Zielgruppen in den arabischen Ländern aufgenommen und verbreitet, bis schließlich auch die staatlich kontrollierten Medien aufsprangen. Erst als das Thema in den jeweiligen „Gesellschaften bereits hochkochte, musste das religiöse und politische Establishment reagieren“ und konnte die Empörung „politisch instrumentalisieren.“67 Zwar hatte es bereits vorher Karikaturen gegeben, in denen bestimmte islamische Personen bzw. Herrscher als Bombe karikiert worden waren, konkret Ayatollah Chomeini und Osama bin Laden. Die Bomben mit den entsprechenden Zündschnüren waren aber immer die Körper gewesen. In der in der Jylland-Posten abgedruckten Karikatur war zum ersten Mal ein Kopf die Bombe mit der Zündschnur. Dadurch fand eine Feinderweiterung statt, weil nun nicht mehr einzelne Personen, sondern die ganze muslimische Bevölkerung zum gefährlichen und bedrohlichen Feind erklärt wurde. Dadurch konnte diese Karikatur als Beleidung aller Muslime und nicht mehr nur von einzelnen Muslimen betrachtet werden. Auch wird Mohammed durch diese Zeichnung stark verdinglicht, er verliert seinen personalen Status und wandelt sich von einem eigentlich nicht abbildbaren Subjekt zur Karikatur. 68 Insofern hatte diese Karikatur ein besonderes Politisierungspotential, das eine Politik des Bildes außerordentlich begünstigt. Dass dann eine Politisierung durch eine Politik mit dem Bild durch interessierte politische Kräfte erfolgte, ist ein Sachverhalt, der hinzutrat und den zwiespältigen Charakter dieser ‚Geschichte‘ ausmacht. Heftig umstritten war die Frage, ob man wegen Rücksicht auf die religiösen Gefühle einer Minderheit diese Karikaturen nicht hätte abdrucken dürfen, oder ob der Abdruck wegen der Meinungsfreiheit der liberal-demokratischen Verfassungen geboten war und ein Nichtabdruck einer Zensur bzw. eine Selbstzensur gleichkäme. Nur eine Minderheit von Kommentatoren ging von der Beobachtung aus, dass bei einem Nichtabdruck die Meinungsfreiheit „seit einiger Zeit in ähnlichem Ausmaß unterbewertet“ worden wäre wie „die Tugenden des Respekts und der Rücksicht auf Empfindlichkeiten überbelichtet“ würden.69 Viele der Kommentatoren betonten jedoch, dass letzteres die plausiblere Sichtweise sei und bewerteten die Veröffentlichung der Karikaturen als „gezielte Provokation.“ Sie hielten fest, dass ein „verantwortlicher Umgang mit der Pressefreiheit dabei von bloßer Selbstzensur deutlich zu unterscheiden (sei). Während Ersterer auf der Anerkennung von ethischen Werten und Normen beruht, ist Letztere durch äußeren Druck motiviert, also gerade nicht Selbstbestimmung.“70
Auch ist nicht uninteressant zu erwähnen, dass die gleiche Zeitung drei Jahre zuvor den Abdruck von Zeichnungen verweigerte, die die Auferstehung Christus karikierten und dabei auf die mögliche Verletzung von religiösen Gefühlen bei der dänischen (Mehrheits)Bevölkerung verwies. Dies legt den Verdacht nahe,
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dass die Herausgeber von einem „vordergründigen Interesse an Provokation und islamophoben Ressentiments geleitet wurden.“71 Aber es sollten zwei Dimensionen der Rezeption unterschieden werden. Im europäischen Kontext wurden die Karikaturen von Muslimen und deren Verbänden vorwiegend als rassistisch bezeichnet. In den afrikanischen und asiatischen Kontexten, vor allem in Indonesien, Iran, Saudi Arabien und dem Sudan, fand die Rezeption in autokratischen und theokratischen Regimen statt, die diese Kontroverse für ihre Interessen instrumentalisierten und zugleich säkulare und freiheitliche Gesellschaften diskreditierten.72 Wie immer man die Veröffentlichung der Karikaturen beurteilen mag, sie verweisen auf eine neue Dimension der Macht der Mikromedien und eine dadurch bedingte Umstrukturierung der Politik des Bildes. Das Bild wird über neue Kanäle transportiert und steigert so seine Bedeutung als beeinflussendes Medium. Die versuchten Mordanschläge auf den Herausgeber von Jyllands-Posten sind nur der zugespitzte Ausdruck dafür. Umgekehrt wurde – wie bei anderen, oben bereits erwähnten Beispielen – zugleich eine Politik mit dem Bild betrieben, die die Massen in vielen Ländern des Nahen Ostens mobilisierte und bei den verschiedensten Protesten zu vielen Toten führte. Anmerkungen 1 Hegel 1986: 83. 2 Schneider, M. 2010: 355. 3 Bredekamp 2010; ähnlich, wenn auch nicht in dieser Radikalität Paul 2008a: bes. 28; ders. 2013. 4 Paul 2013. 5 Das Beispiel stammt von Paul 2013: 630. 6 Paul 2004: 15. 7 Ebd. 8 Eine Übersicht darüber kann man auf der Webseite: http://pth.izitru.com/ 1930_13_00.html, finden, wobei in der Rubrik „Politics“ wichtige Fälschungen aus diesem Bereich zu sehen sind, die einen des Öfteren Staunen lassen. 9 Das wird von Horst Bredekamp im Übrigen durchaus eingestanden; vgl. Bredekamp 2010: 49. 10 Das Folgende stützt sich stark und weit mehr als aus den Fußnoten ersichtlich wird auf Paul (Hg.) 2008. Hier sind auch zu allen wichtigen Phasen dieser Entwicklung die entsprechenden Bilder bzw. Medien abgedruckt. Das kann ich hier v. a. aus Platz- und urheberrechtlichen Gründen nicht machen. 11 Paul 2008a: 16. 12 Ebd. 13 Sontag 1980: 22. 14 Sontag 1980: 24.
15 Paul 2008a: 19. 16 Ebd. 17 Statt vieler vgl. Müller, A. 1994; Jun 2004; Falter 2003; Meyer T. 2001. 18 Dörner 2001a; ders. 2001b; Meyer, T. 2006. 19 Paul 2008a: 22. 20 Vgl. etwa Tuosto 2008; Sehr 2016. 21 Vgl. dazu und zum folgenden Hirschfeld 2009. 22 Zit. nach Wenger-Deilmann 2009: 311. 23 Wenger-Deilmann 2009: 311. 24 Friedrich 1924/1926. 25 Wenger-Deilmann 2009: 311. 26 Wenger-Deilmann 2009: 315. 27 Im folgende stütze ich mich vor allem auf Diehl 2009. 28 Susan Sontag (1974): Faszinierender Faschismus, München/Wien 1974, zit. nach Diehl 2009: 473. 29 Diehl 2009: 473. 30 Diehl 2009: 472. 31 Diehl 2009: 476f. 32 Diehl 2009: 478. 33 Zit. nach Jahn 2009: 596. 34 Zu diesen und weiteren Details vgl. Kolb 2002. 35 Vgl. zu diesen Zahlen die Tabelle bei Kotek/ Rigoulot 2001: 413. 36 So der Buchtitel von Lehnstaedt 2017.
13.2. Die Politik des Bildes 37 Zur sogenannten „Aktion Reinhardt“, die den Kern der Vernichtungspolitik gegenüber den Juden und den Sinti und Roma ausmachte, vgl. umfassend Arad 1987; Lehnstaedt 2017; Snyder 2010: bes. 261-283. 38 Vgl. dazu Schneider, S. 2008. 39 Der SPIEGEL, 14. Dez. 1970: 29 f. 40 Deutscher Bundestag, Rede von Dr. Navid Kermani zur Feierstunde „65. Jahre Grundgesetz“, abgerufen am 26.09.2018. 41 Schneider, S. 2008: 412. 42 Schneider, S. 2008: 414f. 43 Zu dieser Schlacht und ihre Bedeutung für den Verlauf des Ersten Weltkrieges vgl. Werth 1990 auf der Basis v. a. von soldatischen Quellen; genereller dagegen Jessen 2014; Jankowski 2015. 44 Paul 2013: 567. 45 Münkler 2002: 157. 46 Paul 2013: 576. 47 Der „falling man“ war zunächst eine prominent gewordene Aufnahme eines Mannes, der in einer der oberen Etagen des Turmes von den Flammen in den darunter liegenden Stockwerken eingeschlossen war und sich dann aus einem der Türme stürzte. Es führte zu heftigen Auseinandersetzungen in der Öffentlichkeit und viele Zeitungen druckten das Bild nicht ab. Erst 2006 konnte der Fotograf des Bildes, Richard Drew, den Namen dieses Mannes ausfindig machen. Das Bild ist mehrfach im WWW zu sehen, u. a. unter https:// de.wikipedia.org/wiki/The Falling Man. 48 Zit. nach Paul 2013: 581. 49 Paul 2013. 50 Zit. nach Binder 2008: 618. 51 Man kann die ganze Szene auf einem Video sehen, das man auf https://www.theguardian.com/ world/video/2013/mar/09/saddamhussein-statue-toppled-bagdhad-april-2003video findet.
625 52 Das Folgende beruht überwiegend auf der beeindruckenden Analyse von Paul 2008c. 53 So Denise Chong; zit. nach Paul 2008c: 428. 54 Nach Paul 2008c: 429. 55 Vgl. dazu ausführlich Klein, L. 2008. 56 Janzing 2008: 578. 57 Zit. nach Paul 2008d: 704. 58 Zit. nach Paul 2008d: 704. 59 Paul 2008d: 706. 60 Ebd. 61 Paul 2008d: 705. 62 Ebd. 63 Ebd. 64 Das Folgende stützt sich u. a. auf Ata 2011; Link 2007; juristische Aspekte beleuchten Ekardt/Zager 2007; die Karikaturen findet man auf der Webpage von Perlentaucher: https://www.perlentaucher.de/link-destages/im-bild-die-mohammed-karikaturenaus-jyllands-posten.html. 65 Kirchner 2007: 92; vgl. auch Debatin 2007: bes. 14f. 66 Solche durch Mikromedien in Gang gebrachten Bewegungen konnte man zuvor schon 1999 in Seattle und den sich in anderen Städten fortsetzenden Protesten beobachten (wie etwa in Prag, Quebec, Genf und Barcelona), aber auch später bei den Massendemonstrationen in den Philippinen 2001/2002 und den Gewaltausbrüchen in Paris in den Jahren 2005 und 2006. Darauf weist v. a. Debatin 2007: 14 hin 67 Kirchner 2007: 99. 68 Dies betont insbesondere Link 2007. 69 Meier, U. 2007: 33. 70 So Debatin 2006: 149f. 71 Debatin 2006: 152. 72 Darauf verweisen insbesondere Müller/ Özcan/Seizov 2009.
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14. Das ‚Verschwinden‘ der Politik am Ende des 20. Jahrhunderts? Versuch einer Bilanz Welche Änderungen und welche Variationen hat der Politikbegriff im 20. Jahrhundert durchlaufen? Kann man eine Tendenz aus diesen Änderungen ablesen oder sind sie kontingent? Hat der Beginn des 21. Jahrhunderts neue und unübersehbare Aspekte hinzugefügt? Der Ausgangspunkt war jedenfalls klar: Albert E. F. Schäffle hat als erster das Moment markiert und den Politikbegriff von allen feststehenden und vorgegebenen Prämissen gelöst, wie etwa einem aristotelisch inspirierten ‚Guten‘ oder einer Staatsräson, und zu einem Prozessbegriff umgeschmolzen. Politik wird als derjenige Handlungsbereich begriffen, der neue Spielräume schafft, den Status Quo dauerhaft in Frage stellt, neue Optionen und Möglichkeiten kreiert – und diesen Möglichkeitshorizont durch verbindliche Entscheidungen vorübergehend schließt. Diese werden nach ihrer Fällung erneut in Frage gestellt und solange politisiert, bis eine neue Entscheidung gefällt wird – oder auch nicht. Karl Mannheim und Max Weber haben – wenn auch etwas anders akzentuiert – ebenfalls eine solche Position vertreten und zusammenfassend kann man festhalten, dass sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Auffassung ausbildet, dass in den modernen Gesellschaften die Politik der Möglichkeitserweiterung und der Kontingenzsteigerung dient und sie diese Öffnungen durch verbindliche Entscheidungen für eine relative Dauer schließt (vgl. Kap. 2.). Am Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts kann man einen grundlegenden Wandel dieses Politikverständnisses beobachten. Er vollzog sich sowohl im allgemeinen Politikbegriff selbst als auch in den verschiedensten Politikfeldern. Dies ereignete sich nicht zeitlich synchron, sondern jede Policy ging hier ihren eigenen Weg. Die Politik des Sozialen änderte sich zu anderen Zeitpunkten als die des Tötens, und diese sich wieder zu anderen als die des Friedens. Aber in fast allen Politikfeldern war ein Wandel erkennbar, der sich entlang der Eingangs vermuteten Prämissen vollzog und den man nach Niklas Luhmann als Wandel von der zielorientierten Rationalität zur zeitorientierten Reaktivität beschreiben kann.1 Die Politik begann immer mehr, den Verhältnissen hinterherzulaufen statt neue Möglichkeitshorizonte zu öffnen und sie nach vernünftigen Maßstäben zu gestalten. Sie verlor – um in der bisher eingeführten Begrifflichkeit zu verbleiben – ihre Macht über die Verhältnisse und war dazu verdammt, vor allem um Macht in den Verhältnissen zu kämpfen.2 Ein anderer Autor, Wolfgang Fach, hat denselben Vorgang mit einer anderen Begrifflichkeit versehen und vom „Verschwinden der Politik“3 gesprochen, die nach ihm zwei Formen annehmen kann. Das triviale Verschwinden der Politik findet statt, sofern es sich im Dunkeln vollzieht, also hinter verschlossenen Türen, in Geheimgesellschaften, in selektiven Verhandlungssystemen oder auch in den verstaubten Hinterzimmern der Politik.
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Dies konnte man durch das gesamte Jahrhundert hindurch beobachten. Es wäre dann zu fragen, ob man in seinem Verlauf eine grundlegende Veränderung beobachten kann und ob das Hinterzimmer eine neue Bedeutung, eine neue Qualität bekommen hat, die die Rede vom ‚Verschwinden der Politik‘ in diesem trivialen Sinne rechtfertigt. Das komplexe Verschwinden der Politik ist ein sehr anderer Vorgang und nimmt seine Ausgangsprämisse von einem von M. Weber inspirierten Politikverständnis. In seinem Vortrag über „Politik als Beruf“ hatte er zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik unterschieden und betont, dass zwischen beiden ein „abgrundtiefer Gegensatz“ existiert.4 Der Verantwortungsethik räumt er Priorität ein, weil man bei ihr „für die (voraussehbaren) Folgen seines Handelns aufzukommen hat.“5 In der Luhmannschen Terminologie ist dies zielorientierte Rationalität, weil man nicht nur die entsprechenden Ziele zu formulieren hat, sondern auch die rational vertretbaren Mittel und Instrumente. Die verantwortungsvolle Berücksichtigung der potentiellen Folgen einer politischen Entscheidung gehört untrennbar zum Verständnis einer rationalen Politik. Heute aber ist das Aufkommen für die Folgen insgesamt schwieriger, weil Politik es mit einer gesteigerten Kontingenz und Komplexität der Verhältnisse zu tun hat. Zudem kann nationale Politik in einer globalisierten Welt nur schwer oder überhaupt nicht mehr auf die Ursachen von bestimmten ‚Problemen‘ zugreifen noch für die Folgen ihrer Entscheidungen aufkommen, weil es ‚voraussehbare Folgen‘ wie noch bei M. Weber nicht mehr gibt. Auch stellt sich die Frage, ob die Politik zielorientiert oder eher selbstinteressiert operiert und das Eigeninteresse der politischen Klasse an ihren Positionen die Oberhand gegenüber einer zielorientierten Politik gewonnen hat. Der Wandel der politischen Parteien von den Volks- zu den Kartell- bzw. professionalisierten Wählerparteien hat hierbei eine wichtige Rolle gespielt (vgl. Kap. 10.). Ich will das ‚Verschwinden der Politik‘ zusammenfassend darstellen und differenziere hierbei zwischen den Handlungsformen und den -bereichen der Politik bzw. des Politiktreibens (vgl. Einleitung). Die Handlungsformen der Politik umfassen all die Aktivitäten, mit denen sie ihre jeweiligen Ziele zu realisieren versucht. Dazu gehören in der Demokratie unter anderem regelmäßige Wahlen, die mit der Konkurrenz der politischen Parteien um Wählerstimmen untrennbar verbunden sind und eine Partei bzw. Parteienkoalition an die Macht bringen, deren Entscheidungen dann demokratisch legitimiert sind. In autoritären oder totalitären Diktaturen legitimiert sich die Politik selbst bzw. durch die gewaltsame und todbringende Realisation ihrer ideologisch begründeten Großprojekte. Bei den Handlungsformen stehen somit die politischen Prozesse und das Publikum im Mittelpunkt der zusammenfassenden Bemerkungen.6 Bei den Handlungsbereichen geht es dagegen um die zentralen politischen Projekte des 20. Jahrhunderts und um die Personen, die diese im Verlauf
628 14. Das ‚Verschwinden‘ der Politik am Ende des 20. Jahrhunderts? Versuch einer Bilanz dieses Jahrhundes – mit unterschiedlichem Erfolg – zu realisieren versucht haben. Ich beginne mit letzterem. Das 20. Jahrhundert hat in seinem Verlauf eine erhebliche Anzahl von ‚großen‘ Projekten zu realisieren versucht und man könnte das Jahrhundert als das der Projekte bezeichnen. Sie entfalten sich über die Zeit und in die Zukunft hinein und M. Weber hat drei dieser politischen Projekte erwähnt, das Vaterland, der Kampf um den Sozialismus und die internationale Befriedung. Das alles sind ‚große‘ Projekte gewesen und ihre Realisation setzt – neben vielem anderen – ‚große‘ Persönlichkeiten voraus. Die größten politischen Projekte des 20. Jahrhunderts waren dann aber der Nationalsozialismus und der Sozialismus. Die totalitären Machthaber wollten eine komplett neue Gesellschaftsform schaffen und dabei bestimmten Gesetzen zum Durchbruch verhelfen: Dem Rassen- und dem Klassengesetz. Der Preis, den die Geschichte an Toten für diese Projekte zu bezahlen hatte, war immens und moralisch nicht zu vertreten (vgl. Kap. 7.). Dies hätte nicht passieren dürfen – wie H. Arendt immer wieder betont hat. Aber auch die modernen Demokratien hatten und haben ihre Projekte. Sie wollen beispielsweise die soziale Ungleichheit reduzieren und hierzu den Wohlfahrtsstaat ausbauen. Der Klassenkampf sollte durch das Arbeits- und Tarifrecht befriedet und in geregelte Bahnen gelenkt werden. Die Politik des Sozialen war hier – neben anderen Politikbereichen – sicherlich der wichtigste Handlungsbereich und umfasste im Verlauf des Jahrhunderts verschiedene Dimensionen. Die Idee der sozialen Staatsbürgerschaft war hier vermutlich die wichtigste. Am Ende des Jahrhunderts sind gleichwohl viele soziale Probleme weiterhin ungelöst und soziale Exklusion ist heute in Europa und weltweit ein unübersehbarer Sachverhalt geworden (vgl. Kap. 5.). Die Politiktreibenden und die sie unterstützenden Sozialwissenschaftler wollten die vielfältigen und aktuell auftretenden Probleme der modernen Gesellschaften nicht nur ‚lösen‘, sondern diese Gesellschaften auch noch zielgerichtet in die Zukunft hinein steuern. Die politischen Parteien hatten in ihren Partei- und Wahlprogrammen weit in die Zukunft hinein reichende Ideologien und Ideen formuliert, die sie – sofern an die Macht gekommen – unmittelbar realisieren wollten. Aber mit der Zeit schrumpfte auch hier der Zeithorizont. Statt auf große Projekte konzentrierten sich die Parteien immer mehr auf kleine Schritte, wobei Ch. E. Lindblom hierfür eine ‚Science of Muddling Through‘ entwickelt hatte.7 Ende der 70er Jahre sprach er dann angesichts der weiteren Abnahme der Zukunftsorientierung der Parteien und der Zunahme der Komplexität von politischen Entscheidungen resigniert von einer ‚still muddling, not yet through‘-Politik.8 Die Wende von der politischen Steuerung und der Vorstellung einer rationalen Gesellschaftspolitik zur reaktiven und situativen Politik war damit unwiderruflich vollzogen und zukunftsorientierte Projekte waren ihr endgültig verloren gegangen (vgl. Kap. 10.).
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Die politisch gewollte Ausbildung der Europäischen Union und die damit verbundene Verlagerung vieler Entscheidungen auf die europäische Ebene war das letzte große Projekt, das aber seit der Jahrhundertwende immer deutlicher zum Stocken kommt. Neben Ungarn haben dann später auch Polen und andere mittel- und osteuropäischen Staaten eine Abkehr von der europäischen Politik vollzogen und stellen auf eine nationalistische Politik um, die zugleich mit dem Abbau demokratischer und rechtsstaatlicher Positionen verbunden ist. Aber in seltsamer Weise sind diese Politiken wieder ‚große‘ Politik, weil sie eine umfassende Neukonzipierung der demokratischen Gesellschaften nach einem autoritär-populistischen Muster und somit die Realisation eines ‚großen‘ Projekts anstreben (vgl. Kap. 11.5.). Projekte realisieren sich nicht von selbst, sondern bedürfen hierfür bestimmter Personen. Diese präsentieren sich auf der Bühne der Politik und verkörpern manchmal ‚große‘ Projekte oder auch nur ‚kleine‘ Schritte. Sie überzeugen oder mobilisieren die Massen oder operieren lieber aus den Hinterzimmern. M. Weber hat zwischen drei Herrschaftsformen, der traditionalen, der charismatischen und der rational-bürokratischen unterschieden, die jeweils von unterschiedlichen Politikertypen realisiert werden. Ich habe fünf verschiedene Typen vorgestellt und hierbei den Dämon, den Demagogen, den Amtsinhaber, die Staatsfrau und den Hinterbänkler unterschieden und vermutet, dass der Typus des Amtsinhabers und des Hinterbänklers am Ende des 20. Jahrhunderts die dominierenden Politikertypen geworden sind (vgl. Kap. 12.). Diese agieren im Wesentlichen reaktiv und haben alle Ansprüche auf eine zielorientierte und vorausschauende Politik aufgegeben, von der Mobilisierung der Massen ganz zu schweigen. Gleichwohl kann man am Ende des 20. Jahrhunderts eine gegenläufige Tendenz beobachten, die durch das Auftauchen von Demagogen gekennzeichnet ist. V. Orbán in Ungarn, D. Trump in den USA, M. Morawiecki in Polen und die Fünf-Sterne-Bewegung sowie die Lega in Italien, die seit dem 1. Juni 2018 unter dem Kabinett von G. Conte zusammen regieren9, sind wichtige Beispiele hierfür. Aber immer muss man die Frage stellen, ob das Politiker mit weitreichenden Projekten sind und welchen Charakter sie selbst und ihre Projekte haben. Unbestreitbar ist allerdings, dass die oben erwähnten Namen für weitreichende Projekte stehen und den grundlegenden Um- und Aufbau von Gesellschaften mittels einer autoritär-populistischen Politik betreiben wollen. Hierbei muss man immer klären, ob wir es mit einem Wandel von Persönlichkeiten zu Personen in der Politik zu tun haben und welche Auswirkungen dies auf die angestrebten Projekte hat. Meine Überlegungen und empirischen Untersuchungen sind hier nicht eindeutig, aber sie legen einen Wandel zu Personen nahe, die sich vor allem in der Dominanz von populistischen Politikern, von Amtsinhabern und Hinterbänklern in der Politik ausdrückt. Politisch überragende Persönlichkeiten bzw. Staatsfrau-
630 14. Das ‚Verschwinden‘ der Politik am Ende des 20. Jahrhunderts? Versuch einer Bilanz en verlieren dagegen an Bedeutung und werden in der Politik immer weniger sichtbar. Bei den Handlungsformen kann man durch das Jahrhundert hindurch ebenfalls einen erheblichen Wandel beobachten. Die wichtigste Institution zur Regelung von politischen Prozessen ist die Verfassung und sie wird nur in außergewöhnlichen politischen Situationen gegeben. Revolutionen, radikale Umbrüche, staatliche Neugründungen u. ä. sind typische Situationen, in denen sich die souveräne verfassungsgebende Gewalt des Volkes konstituiert und eine Verfassung gibt. Hierbei steht viel auf dem Spiel, denn Verfassungen sind auf zeitliche Dauer angelegt und sollen die grundlegenden politischen Prozesse einer Gesellschaft ebenso regulieren wie das Ausmaß und die Zuteilung der fundamentalen freiheitlichen, politischen, sozialen und ökonomischen Rechte. Auch wird über die Teilung oder Konzentration der staatlichen Gewalten entschieden, mittels derer die jeweiligen Gesellschaften regiert werden (vgl. Kap. 3.). Bei den Prozessen der Verfassunggebung kann man im Verlauf des Jahrhunderts einen grundlegenden Wandel beobachten. Während sie bisher durch das Moment der souveränen verfassungsgebenden Gewalt gekennzeichnet war, hat sich an seinem Ende ein anderer Prozess seinen Weg gebahnt. Zunächst und am deutlichsten in den mittel- und osteuropäischen Transformationen zu Demokratie und Marktwirtschaft, dann aber auch in Südafrika bei der Überwindung des rassistischen Apartheitregimes. Die Runden Tische wurden nicht nur zum Symbol des gewaltfreien Übergangs, sondern führten auch einen neuen Modus der Verfassunggebung ein, den A. Arato als „post sovereign constitution-making“10 bezeichnet hat. Dieser Modus der Verfassunggebung ist charakterisiert durch den Verzicht auf eine souveräne Institution, die souveräne verfassunggebende Versammlung, die durch ein Verhandlungssystem ersetzt wird. In ihm handeln die alten Machthaber und die oppositionellen politischen Kräfte eine neue Verfassung aus. Die alte Verfassung wird nach ihren Regeln zur Verfassungsänderung mittels verfassungsändernder Gesetze Schritt für Schritt variiert, bis eine komplett neue entstanden ist, die die Prinzipien von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Marktwirtschaft verwirklicht. So wird zugleich ein verfassungsloser Zustand verhindert, einen souveränen Moment gibt es nicht mehr. Solche Systemwechsel sind koordinierte Transformationen, die die Idee einer souveränen verfassunggebenden Gewalt aufgegeben haben, sich einer massiven Selbstbindung unterwerfen und einen neuen Modus der Verfassunggebung in die Geschichte eingeführt haben (vgl. Kap. 3.5.). Dagegen verlief am Beginn des Jahrhunderts die Verfassunggebung – sowohl in der Weimarer Republik als auch in der sozialistischen Sowjetunion – nach dem tradierten Muster durch die souveräne verfassunggebende Gewalt des Volkes, auch wenn diese jeweils sehr unterschiedlich aufgefasst und entsprechend unterschiedlich institutionalisiert wurde (vgl. Kap. 3.1.).
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Ist die Verfassung gegeben, so vollziehen sich die politischen Prozesse mehr oder weniger in den von ihr vorgegebenen Bahnen. In Demokratien sind regelmäßige, freie und geheime Wahlen der wichtigste politische Prozess, aber die Regierungsbildung, die laufende Gesetzgebung, die gesellschaftliche Selbstorganisation mittels politischer Parteien, (alter oder neuer) sozialer Bewegungen oder der Vielzahl von Interessegruppen, all das setzt Prozesse in Gang, die für die Politik und den Modus ihres Entscheidens zentral sind. In Diktaturen oder totalitären Regimen verlaufen die politischen Prozesse nach völlig anderen Regeln, wobei die totbringende Realisation von spezifischen Rassen- oder Gesellschaftsgesetzen eine für das 20. Jahrhundert spezifische und grausame Prozessdynamik war (vgl. Kap. 7.). H. Arendt hat dies in ihrer Analyse des Totalitarismus besonders betont: „Das Gesetz des Tötens, wonach totalitäre Bewegungen die Macht antreten, bleibt bestehen als ein Gesetz der Bewegung, selbst wenn es ihnen gelingen sollte, die ganze Menschheit unter ihre Herrschaft zu zwingen. Die Menschheit selbst wird die Verkörperung des Prozesses, also ein ständig sich in seiner Gesamtheit Veränderndes und Bewegendes, in welchem die permanente Ausscheidung des Überflüssigen und Schädlichen nun gleichsam automatisch vor sich geht.“11
Die gesamte Menschheit soll einem Prozess unterworfen werden, der sich der Realisation von Gesetzen verschreibt und alles Hinderliche, in Arendts Worten alles ‚Überflüssige‘ und ‚Schädliche‘, ausscheidet, also tötet. In Demokratien sind politische Prozesse offener oder geschlossener, sie können sich unter intensiver oder weniger intensiver Beteiligung der Bevölkerung bzw. ihrer Repräsentanten vollziehen, aber immer sind Parteien oder Interessegruppen beteiligt. Mit dem Wandel der politischen Parteien von den Volks- zu den Kartell- bzw. den professionalisierten Medienparteien vollzieht sich jedoch ein Wandel, der den politischen Prozess immer weiter einengt. Die Parteien agieren nicht mehr vorwiegend als Vertreter bzw. Repräsentanten bestimmter sozialen Gruppierungen der Gesellschaft, sondern eigeninteressiert und selbstreferentiell im und aus dem Staat heraus. Die Kartellparteien bilden in sich drei ‚Parteien‘ aus, sie untergliedern sich intern in die ‚party on the ground‘, die ‚party in central office‘ und die ‚party in public office‘, wobei sich alle Teile verselbstständigen, aber zugleich von letzterer dominiert werden (vgl. Kap. 11.). Der demokratische Prozess ist damit in gewisser Weise auf den Kopf gestellt, denn die Wahlkämpfe sind hochprofessionell organisiert, die Parteien agieren im Konzert mit den modernen Massenmedien bzw. sind deren Logik unterworfen, die Demokratie wandelt sich zur „Mediokratie“12 und die Politik dient immer mehr der Unterhaltung ihres Publikums und wandelt sich zum „Politainment“.13 Das Publikum beteiligt sich auf sehr verschiedene Weisen an der Politik und die Modi seiner Beteiligung unterliegen ebenfalls einem erstaunlichen Wandel. Es kann die Politiktreibenden auf der politischen Bühne nicht nur zu erstaunlichen
632 14. Das ‚Verschwinden‘ der Politik am Ende des 20. Jahrhunderts? Versuch einer Bilanz Taten anstacheln, sondern selbst auf der Bühne der Politik agieren. Es sind dann die Massen, die in spontanen Aufständen oder als organisierte Massen, als Massenparteien, in die Speichen des Rades der Geschichte greifen und es antreiben (vgl. Kap. 4.2.). Die gefährlichste Form der Beteiligung der Massen ist ihre Verschmelzung mit einem Führer, der sie zu heroischen Taten ebenso antreiben kann wie zu verachtenswerten. Das Amalgam von Masse und Führer im Totalitarismus ist sicherlich das abschreckenste Beispiel, während sie umgekehrt in den Transformationen zur Demokratie in den mittel- und osteuropäischen Staaten weitgehend ohne politische Führer eine außerordentlich positive Rolle gespielt haben. In den 60er und 70er Jahren wurde ihnen dagegen jeglicher politische Charakter abgesprochen und zur unpolitischen Kraft degradiert. Von führenden Soziologen wurden sie als „optische Täuschung“14 bezeichnet, die allenfalls noch als „lonely crowd“15 in den Industriegesellschaften auftaucht und dort als von der Massenproduktion und dem Massenkonsum bestimmte und politisch ungefährliche Vermassung zum Vorschein kommt (vgl. Kap. 4.6.). Durch die modernen Massenmedien wurden sie zudem zur mediatisierten und manipulierten Masse, die kein eigenständiges politisches Subjekt mehr, sondern durch gleichlaufende Massen-, Kauf- und Mediengewohnheiten charakterisiert ist. Allein bei Wahlen werden sie heute von den Parteien aktiviert und aus ihrem politischen Tiefschlaf erweckt. Gleichwohl ist am Ende des Jahrhunderts, vor allem aber zu Beginn des 21., ein gegenläufiger Trend sichtbar, in dem auch neue Formen der politischen Artikulation sichtbar werden. Die sogenannten ‚Gelbwesten‘ in Frankreich und die Schülerbewegungen für den Frieden in der Bundesrepublik sind hierfür typisch. In den sozialistischen Gesellschaften verloren die Massen am Ende des Jahrhunderts ebenfalls massiv an Bedeutung. Sie waren für die kommunistischen Machthaber nur noch als bewegliche und marschierende Kulisse bei geschichtsträchtigen Jahrestagen wichtig, die an die glorreiche Vergangenheit erinnern sollten. Hier fand ebenfalls eine Vermassung statt, indem die Massen nur noch als medial inszenierte Kulisse zur Selbstbespiegelung der Führungselite dienten. Mit der Vermassung verschwanden auch die politischen Führer, die sich an die Spitze der Massen stellten und sie zu Taten wie zu Untaten instrumentalisierten. Obwohl die Massen entgegen mancher Diagnosen bei den Umwälzungen in den mittel- und osteuropäischen Staaten erneut eine weltgeschichtliche Bedeutung erlangten, ist ihre Bedeutung seither und erneut massiv gesunken. Aber ihre Leidenschaftlichkeit, ihre Emotionalität und ihre Bedeutung als politischer Akteur wurden dadurch noch einmal in Erinnerung gerufen und haben sich im Gedächtnis der Geschichte des 20. Jahrhunderts tief eingegraben (vgl. Kap. 4.). Gleichwohl setzen manche Autoren nach wie vor auf die revolutionäre und umwälzende Kraft der Massen, auch wenn sie nun begrifflich neu als „Multitude“16 gefasst wird (Kap. 4.8.).
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Die Macht der Bilder tat ihr Übriges und leitete die Medialisierung der Politik am Ende des 20. Jahrhunderts ein. Die Politik mit dem Bild bekommt eine immer größere Bedeutung und alle wissen darüber. Der Attentäter weiß um die Wirkung des Bildes ebenso wie der Staatspräsident des Landes X, der keine Entscheidung trifft, ohne sie medial zu inszenieren. Das Bild, insbesondere durch die Übertragung in den tradierten und den neuen Medien, wie dem Internet, verdreifacht alle Ereignisse. Die Begebenheit, die zunächst durch den Bericht erweitert und verändert wurde, wird nun zusätzlich durch das Bild ergänzt, das gegenüber der Begebenheit und dem Bericht immer mehr an eigenständiger Qualität gewinnt. Bilder können – ebenso wie die Massen – manipuliert sein, aber beim Bild tritt eine neue Dimension hinzu: Die Fälschung, die allerdings auch beim Bericht bereits eine Rolle gespielt hat. Die Protokolle der Weißen von Zion sind ein beredtes Beispiel hierfür (vgl. Kap. 6.5.). Aber beim Bild sind die Möglichkeiten erweitert und in der politischen Praxis weit verbreitet. Die retuschierten Bilder, die vor allem in der Politik des realen Sozialismus eine große Rolle gespielt haben, sind nur eines von vielen Beispielen. Die Wirkung von Bildern auf das Publikum, seien sie gefälscht oder nicht, war und ist den Machthabern immer klar. Umgekehrt kann sich das Publikum gegen die Macht der Bilder zur Wehr setzten, der Bildersturm ist hierfür ebenso ein Ausdruck wie der Sturz von Statuen. Daneben kann man eine „BilderMACHT“17 beobachten, die das Bild zum Machtproduzenten erhebt und eine eigenständige Politik des Bildes zum Ausdruck, manchmal zum Ausbruch, kommen lässt. Das Bild selbst gewinnt eine spezifische Akteurqualität, die auf das Denken und Handeln von Anderen – im Extremfall auch gegen deren Willen – Einfluss nehmen kann. Das politische Publikum wird dann durch die Macht der Bilder in seinem Verhalten beeinflusst. Das Bild des NapalmMädchens von Vietnam ist ebenso wie die Bilder aus Abu Ghraib ein Musterbeispiel dafür, welche Macht Bilder ausüben. Sie können sogar die Politik einer kriegführenden Weltmacht, bis zum militärischen Rückzug, massiv beeinflussen. Die Macht des Bildes auf das Publikum ist hier ebenso unübersehbar wie umgekehrt das Publikum für diese Macht empfänglich ist (vgl. Kap. 13.2.). Bei den Handlungsformen kann man den Politikbegriff zudem weiter ausdifferenzieren und so neue Aspekte in den Blick bekommen. Politisieren umfasst all die Prozesse, die einen bisher politisch nicht bespielten Gegenstand nun bespielbar machen wollen und in die Politik einführen. Politicking sind all die Tätigkeiten, bei denen die Politiktreibenden auf die reine Performanz setzen und mit Sachverhalten in dem Sinne spielen, als sie opportunistisch eingeführt werden, sich vorwiegend als Status- und Eitelkeitskonflikte äußern und die medial inszenierte Selbstdarstellung begünstigen. Polarisieren setzt auf die Eskalation von politischen Konflikten, die bis zur Gewaltsamkeit führen kann oder soll, während Paralysieren die gesamte Bandbreite der Aktivitäten umfasst, die eine Schwächung des politischen Gegners herbeiführen sollen (vgl. Kap. 1.).
634 14. Das ‚Verschwinden‘ der Politik am Ende des 20. Jahrhunderts? Versuch einer Bilanz In den modernen Nationalstaaten ist das ‚Verschwinden der Politik‘ überdeutlich geworden und führt zur skeptischen und kurzfristig orientierter Politik. Zeitorientierte Reaktivität wird zudem durch einen zweiten, parallel verlaufenden Prozess begünstigt bzw. weiter vorangetrieben. Die Transnationalisierung führt dazu, dass spezifische Probleme und Herausforderungen für die nationale Politik an Orten produziert werden, auf die sie keinen Zugriff hat. Zwar war die Weltwirtschaft auch schon im 18. und vor allem im 19. Jahrhundert verflochten, aber erst am Ende des 20. Jahrhunderts ist das Eingetreten, was die Politikwissenschaft und die Politik als Globalisierung bezeichnet haben.18 Eine – nicht die einzige – Folge ist, dass Problemproduktion und Problembearbeitung räumlich und zeitlich auseinandertreten und Land X mit Problemen konfrontiert wird, die auf einem anderen Kontinent durch Land Y (oder weitere andere Länder) hervorgerufen werden. Hier ist die Politik grundsätzlich auf den reaktiven Modus verwiesen, weil sie allein bestimmte Folgen von bereits eingetretenen Ereignissen modifizieren, abschwächen oder umleiten, aber nicht problemorientiert oder gar problemlösend auf diese zugreifen kann. Erschwerend für moderne Politik werden zudem sogenannte ‚wicked problems‘, die ihrem Charakter nach ebenfalls unlösbare Probleme sind und sich grundlegend von ‚tame problems‘ unterscheiden, die eher für die Mitte des 20. Jahrhunderts typisch waren.19 Generell steigern ‚wicked problems‘ die Nachfrage nach Wissen und Expertise, weil die kognitive Unsicherheit hoch ist, die Komplexität der Probleme kaum zu bewältigen, die Folgen (und Nebenfolgen) von Entscheidungen nicht zu kalkulieren sind und deren Rechtfertigung schwieriger wird. Mit der steigenden Bedeutung der Experten wird jedoch auch der Dissens der Experten unübersehbar.20 Parallel dazu haben wir es mit einer „Selbstschöpfung der Expertise“21 zu tun, bei der sich ein gesteigertes Angebot an Expertenwissen durch die Zunahme von Wissensarbeitern in der wissenschaftlich-technisch geprägten Gesellschaft seine eigene Nachfrage schafft.22 Zielorientierte Politik wird in solchen Kontexten weitgehend unmöglich, weil es keine eindeutigen und logisch kalkulierbaren Mittel bzw. Instrumente gibt, die aber eine rationale Politik voraussetzt. Immer intervenieren Faktoren, die außerhalb der Kontrolle der Politik liegen und rationale Kalkulationen unmöglich machen (vgl. Kap. 10.6.). Mit dem ‚Verschwinden der Politik‘ ist ein weiteres Phänomen verbunden, nämlich das ‚Verschwinden‘ der staatlichen bzw. politischen Akteure. Bei der Produktion von Regulierungen der verschiedensten Art – und nicht mehr von politischen Entscheidungen – treten nun neue Akteure hinzu. Die Disziplin hat dies begrifflich mit dem Wandel vom Regieren bzw. vom Government zur Governance zu beschreiben versucht (vgl. Kap. 10.5.). An die Stelle des Staates und staatlich-politischer Akteure treten nun „private governance regimes“23, die sich aus Expertenkommissionen, ‚communities of practices‘ u. ä. zusammenset-
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zen und die unterschiedlichsten Regulierungsinstanzen ausbilden. Sie alle sind im Kern nicht-staatliche Regulierungsformen, die nun entstehen und außerstaatliches ‚Recht‘ produzieren. National wie international haben wir es mit einer Koevolution von staatlichen Rechtsnormen und nicht-staatlichen Regulierungsnormen zu tun, wobei vor allem auf der globalen Ebene die privaten Regime an Bedeutung gewinnen und die staatlichen nicht nur ergänzen, sondern immer mehr ersetzen. Die Politik verschwindet nicht nur in diesen neuen, vor allem globalisierten Regulierungsformen, sondern sie kommt zudem immer zu spät und operiert grundlegend im „Blindflug nach Maßgabe intern geprüfter Indikatoren.“24 (vgl. Kap. 10.6.) Die zu Beginn des Jahrhunderts von A. E. F. Schäffle, K. Mannheim und M. Weber neu formulierte Vorstellung von Politik, nämlich die Dialektik der Öffnung und Schließung des Möglichkeitshorizonts zu gewährleisten, hat sich am Ende des Jahrhunderts fundamental geändert. Die Verflüssigung und Überschreitung des Status Quo und das Neuschaffen eines gesellschaftlichen Zustandes durch verbindliche Entscheidungen hat sich als obsolet erweisen. Politik ist heute gekennzeichnet durch das Nachlaufen hinter den Verhältnissen und nicht durch deren Neugestaltung. Die Dialektik von Öffnen und Schließen ist nicht mehr die Hauptfunktion der Politik, sondern situatives Reagieren ohne weitreichenden Gestaltungsanspruch. Weitreichende Projekte und weit handelnde Personen verschwinden ebenso aus der Politik wie partizipative Prozesse und ein aktives und engagiertes Publikum. Das Jahrhundert der Politik ist untergegangen und an seine Stelle ist ein neues getreten, dessen Konturen noch undeutlich sind und sich erst in seinem weiteren Verlauf herausschälen werden. Aber es könnte das Jahrhundert des Verschwindens der Politik werden. Anmerkungen 1 2 3 4 5 6
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Luhmann 2000: 142. Meier, C. 1980. Fach 2008. Weber 1992: 70. Ebd. Die beiden Begriffe habe ich von W. Fach übernommen und dies gilt auch für die weiteren zwei Ps, nämlich Projekte und Publikum, die unten eingeführt werden; vgl. Fach 2008: bes. 16-22. Lindblom 1959. Lindblom 1979; insgesamt dazu vgl. oben Kap. 10.2. Diese Koalition ist inzwischen im September 2019 auseinander gebrochen. Arato 2016. Arendt 2017: 953. Meyer, T. 2001; ders. 2002. Dörner 2001.
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König, R. 1965: 463. Riesmann et. al. 1950. Hardt/Negri 2004. Paul 2013. Die Literatur zur Globalisierung ist fast unübersehbar, elementar zu ihr, ihren Dynamiken und Folgen für die Politik: Rodrik 1997; Müller, K. 2002; Behrens (Hg.) 2005; Waters 2009; Beynon/Dunkerley 2014. Zu „(super) wicked problems“ im Vergleich zu „zahmen Problemen“ vgl. Rittel/Webber 1973; Roberts 2001; Brown u. a. (eds.) 2010. Vgl. Bogner/Menz 2010. Stehr/Grundman 2010: 92. Stehr/Grundman 2010: 92-96. Dazu Teubner 2003; Fischer-Lescano/Teubner 2006. Luhmann 1981: 61.
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